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German Pages 267 [284] Year 2002
Wilm Hüffer
Theodizee der Freiheit Hegels Philosophie des geschichtlichen Denkens
Meiner
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 46
Hegel-Studien Herausgegeben von Walter Jaeschke und Ludwig Siep
Beiheft 46
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Theodizee der Freiheit Hegels Philosophie des geschichtlichen Denkens von Wilm Hüffer
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1611-3 ISBN eBook: 978-3-7873-3452-0 ISSN: 0073-1578
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Danksagung Erstatteter Dank hat den mitunter faden Beigeschmack, zur Sache wenig beizutragen. Wo er allzu überschwenglich bekundet wird, zeitigt er obendrein und zum Unbehagen des Verfassers die Begleiterscheinung, unnötig den Argwohn des Lesers zu wecken. Wird sich dieser doch selbst ein Urteil darüber verschaffen wollen, ob die vorliegende Arbeit zum Danken ungetrübten Anlaß gibt oder nicht. Der Verfasser schreibt es den Umständen zu, trotz entsprechender Skrupel nicht an sich halten zu können. Zu groß ist die Freude, der Entstehung der vorliegenden Arbeit immerhin ein Ende bereitet zu haben (womit über ihren Inhalt nichts gesagt sein soll). Bevor daher im folgenden die Maxime »de nobis ipsis silemus« beherzigt sei, möchte ich denen herzlich danken, ohne deren tatkräftiges Zutun ich das Projekt nicht hätte durchführen können. Allen voran meinem Betreuer Prof. Pirmin Stekeler-Weithofer, der die Entstehung dieser Arbeit mit großer Geduld begleitet und dem rastlos Suchenden eine Reihe von Fingerzeigen gegeben hat, ohne die der unternommene Ausflug vermutlich in den Einhegeleien eines rätselreichen Manuskripts ein unvorteilhaftes Ende genommen hätte. Dank schulde ich auch Dr. habil. Ulrich Johannes Schneider und Prof. Werner Krawietz für wichtige Hinweise, nicht minder Prof. Robert Brandom, Dr. habil. Andreas Luckner, Marcus Erb-Szymanski und Dr. Holger Maaß für weiterführende Gespräche. Der Sachkenntnis von Dr. Shigeaki Shibuya verdankt die Arbeit in vielerlei Hinsicht ihr bibliographisches Rückgrat. Für die akribische Korrektur des Manuskripts danke ich Dr. Martin Welk und meiner Frau Angela, für freundschaftlichen Rat Prof. Klaus Oettinger und Prof. Alfred Sproede. Prof. Walter Jaeschke hat mir zur Korrektur des leicht gekürzten Manuskriptes wichtige Hinweise gegeben. Ihm und Prof. Ludwig Siep als den Herausgebern danke ich für die Aufiiahme der Arbeit in die Hegel-Studien. Die Studienstiftung des deutschen Volkes schließlich hat den gelegentlich phlegmatischen Verfasser während einer dreijährigen Förderungszeit immer wieder geistig wachrütteln können. Meinen Eltern, Renate und Dr. Anton Wilhelm Hüffer, ist die Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Mainz, im Februar 2002
Inhalt
Zur Einführung I.
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Die Wiederkehr der geschichtsphilosophischen Frage § 1. Die Verdeckung des Philosophischen in Hegels Geschichtsphilosophie § 2. Hegels Kritik am unreflektierten Selbstverständnis der Geschichtsschreibung §3. Aporien des metaphysischen Hegel-Bildes § 4. Probleme des hermeneutischen Hegel-Bildes § 5. Ansätze zu einer Destruktion der Hegel-Historisierung § 6. Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Zweck geschichtlichen Denkens
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis § § § §
7. 8. 9. 10.
Das Problem der »Vernunft in der Weltgeschichte« Grundbegriffe »vernünftigen« Denkens Formale Charakteristika handlungsleitenden Wissens Das hermeneutische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen § 11. Die narrative Struktur geschichtlicher Rekonstruktionen § 12. Die Post-hoc-Erklärung geschichtlicher Entwicklungen
43 47 55 64 73 86
III. Die Konstitution geschichtlichen Denkens § 13. Geschichtsphilosophie als Frage nach dem Zweck geschichtlicher Praxis § 14. Die Abbildung der »vernünftigen« Welt im geschichtlichen Erfahrungsraum § 15. Die Konstruktion handlungsleitender Erwartungen aus der Geschichte § 16. Substitution der >Erwartung< durch »Machbarkeit« der Zukunft? § 17. Kontinuität als Substrat handlungsleitender Erwartungen § 18. Geschichte als >Rechtfertigung< des »vernünftigen« Willens zur Kontinuität
103 109 119 132 136 146
VIII
Inhalt
IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens § 19. § 20. § 21. § 22. § 23.
Geschichte und die Autonomisierung individuellen Handelns Aporien des subjektivistischen Autonomieverständnisses Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse Autonomes Handeln als »Selbstzweck« Die Verschränkung von Selbstinteresse und Willen zur Kontinuität § 24. Geschichtliche Orientierung vs. abstraktes Gewissen § 25. Geschichtliche Orientierung als Motor realer Kontinuität § 26. Die Verfassung als flexibler Rahmen geschichtlicher Orientierung
155 159 164 172 180 186 192 200
V. Das Ende der »Weltgeschichte« § 27. Freiheit als geschichtlich entwickeltes Autonomiebewußtsein § 28. »Weltgeschichte« als praktizierte Selbstbefreiung § 29. Der Abschied vom >weltgeschichtlich< fundierten Autonomiebewußtsein § 30. Abschied von Hegel - Aporie der Geschichtswissenschaften .... Siglen-und Literaturverzeichnis
213 219 232 239 251
Zur Einführung
»libertä va cercando.« Dante (Purgatorio I, 71)
Die Rezeptionsgeschichte des bedeutungsschweren Begriffs der »Theodizee« ist eine Geschichte des philosophischen Mißkredits. Spätestens seitdem das Erdbeben von Lissabon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts den rationalistischen Glauben ins Wanken gebracht hatte, die Welt gleich einer Maschine in ihren ewigen Gesetzmäßigkeiten beschreiben zu können, gab es an der Worterfindung von Leibniz nur noch wenig Erfreuliches zu entdecken. Die geschichtlichen Katastrophen des zurückliegenden Jahrhunderts waren schon gar nicht mehr erforderlich, um seinen Klang in aufgeklärten Ohren zur Verbalinjurie herabsinken zu lassen. Daß alles Unglück auf Erden am guten Willen >Gottes< und an der Vollkommenheit seiner Schöpfung letztlich nichts ändere, daß auch die erlittenen »Übel«, das geschehene »Böse« in den Heilsplan dieser Schöpfung hineingehörten und damit letztlich >gerechtfertigt< seien - all dies charakterisiert eine Lehre, die bereits aus dem Mund der von Voltaire geschaffenen Kunstfigur des Doktor Pangloß aberwitzig geklungen hatte und seither der zweifellos nicht unberechtigten Entrüstung aller Leidenden gegen die Verharmlosung ihres Leidens sicher sein darf.' Der offenbare Anachronismus, daß gleichwohl noch Hegel seine Geschichtsphilosophie mit dem obskurantistischen Leibniz-Wort geschmückt hat, ist ihm mindestens als Fauxpas ausgelegt worden und hat nicht unbeträchtlich dazu beigetragen, nach der rationalistischen Weltausdeutung nun auch die zentrale philosophische Disziplin des neunzehnten Jahrhunderts, die Geschichtsphilosophie, zu diskreditieren. Gerade der Titel der »Theodizee« schien es zu sein, der das wahre Antlitz dieser philosophischen Verirrung zum Vorschein brachte, der ihren ebenso radikalen wie verfehlten Anspruch sichtbar zu machen half, daß man den Begebenheiten der »Weltgeschichte« einen höheren Zweck, den Geschehnissen auf Erden einen letzten Sinn abgewinnen könne.^ Nicht zuletzt aufgrund dieses Verdachts ist ' Vgl. Francois-Marie Voltaire: Candide oder der Optimismus, in: Sämtliche Romane und Erzählungen in zwei Bänden, Bd. 1, Köln 1992, S. ISOff. sowie S. 259ff.; Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicie über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Übers, u. m. Anmerkungen vers. v. A. Buchenau, Hamburg 1996, S. 345ff. ^ So zuletzt Herbert Schnädelbach: »Sinn« in der Geschichte? Über Grenzen des Historis-
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Zur Einführung
schließlich die klassische Geschichtsphilosophie mit ihren Wurzeln bis zu Vico insgesamt als hypertrophe Form der Geschichtsdeutung wahrgenommen worden, als überzogener Versuch, zur Erklärung der historischen Geschehnisse eine alles unter sich begreifende Teleologie zu erfinden. Bestand nicht der Unterschied zwischen Leibniz und Hegel lediglich darin, daß letzterer den Versuch einer umfassenden Welterklärung aus einer statischen Kosmologie in den Prozeß der Geschichte selbst verlegt hatte?’ War die Geschichtsphilosophie so gesehen nicht letztlich nur ein metaphysischer Ausflug in das angestammte Geschäft des Historikers, in den Bereich einer geschichtlichen Erforschung der Vergangenheit? Nicht von ungefähr ist die Geschichte der Geschichtsschreibung immer wieder als Prozeß einer wissenschaftlichen Emanzipation von der metaphysischen Erblast der Geschichtsphilosophie beschrieben worden. Nachdem selbige offenbar den letzten Zweck allen Geschehens auf Erden zu ergründen versucht hatte, wollte man ihre vermeintlich metaphysische Teleologie verabschieden und auf das bescheidenere Ziel einschwenken, zunächst einmal die einzelnen historischen Epochen für sich genommen zu untersuchen.'* Mit dem Einbruch des Historismus schien insofern die Geschichtsphilosophie bereits an ihr begriffliches Ende gelangt, ihre weitere Wirkungsgeschichte allenfalls noch ein Appendix von »Schwundstufen« zu sein.’ Die vorliegende Untersuchung bedeutet den Versuch, diese mittlerweile fest etablierte Bewertung der Geschichtsphilosophie insgesamt in Frage zu stellen und von Hegels Projekt einer »Theodizee« der Geschichte ein neues und womöglich ungewohntes Bild zu entwerfen. Sie beruht auf dem Verdacht, daß es voreilig sein könnte, Hegels »Theodizee« von vornherein als bloßen Beitrag zur Geschichte, als bloße teleologische Erklärung eines »Endzwecks« zu bestimmen, auf den die Menschheit zugesteuert sei. Diese Interpretation erscheint nicht zuletzt deshalb als zu einfach, weil sie die Geschichtsphilosophie allzu offensichtlich auf das Programm einer Geschichtsschreibung reduziert, ihrem philosophischen Anspruch wenig mehr abgewinnen kann, als daß er offenbar nur die verbale Bemäntelung einer verfehlten Geschichte darstellt. Sollte sich Hegel tatsächlich nur auf das Geschäft einer solch geschichtlichen Weltausdeutung, einer geschichtlichen mus, DZPhil 48. Jg, Hft 1 (2000), S. 53 (Den Begriff der »Weltgeschichte« verwendet Hegel selbst). ’ Vgl. dazu Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1990 (8. Auf!.), S. 60. ^ Vgl. Schnädelbach: »Sinn« in der Geschichte?, S. 53. ® Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt 1992 (3. Aufl.), S. 23ff. Vgl. auch Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?, in: Nagl-Docekal (Hg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt 1996, S. 7ff.
Zur Einführung
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Begründung der These kapriziert haben, daß alles Geschehene seinen >guten< oder »vernünftigen« Zweck gehabt habe? Hat er tatsächlich nicht anders als Leibniz erklären wollen, weshalb die >Welt< so sein müsse, wie sie ist, und dabei zur Erklärung statt des mechanischen Modells einer >Weltmaschine< lediglich das teleologische Modell der »Weltgeschichte« gewählt? Die Erörterung seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen, die wesentlich eine Klärung seines »Theodizee«-Begriffs zum Ziel hat, soll zeigen, daß dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil, statt lediglich selbst eine bestimmte »Theodizee« zu erfinden, hat Hegel wesentlich danach gefragt, was überhaupt das seltsame Bestreben, sich an einer solchen »Theodizee« zu versuchen, für einen Sinn haben soll. Daß es einen >Gott< gibt, der gegen die »Übel« und das »Böse« der >Welt< >gerechtfertigt< werden soll, betrachtet er gerade nicht als Behauptung, deren Bedeutung unbesehen klar ist, so daß auf die Frage nach der Möglichkeit von »Theodizee« nur noch eine passende Antwort gegeben zu werden braucht. Alle entsprechenden Lösungen, die ein fertiges Verständnis der Begriffe mehr oder minder voraussetzen und vor dem Hintergrund eines unterstellten Wissens über >Gott< nunmehr für beziehungsweise gegen die Möglichkeit seiner >Rechtfertigung< plädieren, bezeichnet er ganz ausdrücklich als »abstrakt«, als Begriffsrochaden, deren eigentliche Bedeutung ganz im dunkeln bleibt. Wie sich zeigen wird, will Hegel statt dessen ergründen, wie der seltsame Gedanke, >Gott< gegen die geschehenen »Übel« verteidigen zu wollen, überhaupt in die Welt kommt, was sich hinter entsprechenden Erklärungen oder >Rechtfertigungen< faktisch verbirgt. Mit einem Wort, Hegel will »Theodizee« nicht machen, sondern auf ihren Begriffbringen. Folgt man dieser ünterstellung, die fi-eilich für sich genommen ungewohnt genug erscheinen muß, so wird auch deutlich, daß und weshalb Hegels Frage nach dem Begriff von »Theodizee« keine genuin theologische Frage ist. Versteht man unter Theologie im allgemeinsten Sinne die Explikation eines konkreten Gottesglaubens oder eines konkreten Gottesbildes, dann wird ersichtlich, daß »Theodizee« das Problem des Glaubens beziehungsweise Nichtglaubens weder berührt geschweige denn zu lösen vermag. Bereits Odo Marquard hat zu Recht darauf verwiesen, daß erlittenes ünrecht, erlittene Schmerzen oder Qualen immer nur die Frage nach dem Glauben selbst hervorrufen, die Frage also, ob der Gottesglaube an sich sinnvoll sei oder nicht. Das Problem der >Rechtfertigung Gottes< dagegen spielt für die Frage nach Glauben oder Nichtglauben keine Rolle.^ Wer seinen Glauben aufgrund des Erlittenen verliert, wird sich durch eine >Recht‘ Marquard: Bemerkungen zur Theodizee, in: Willi Oelmüller (Hg.): Theodizee - Gott vor Gericht?, München 1990, S. 213.
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fertigung Gottes< noch lange keines Besseren belehrt fühlen, während umgekehrt der Gläubige, der sich trotz seines Leidens zu >Gott< bekennt, nach dessen >Rechtfertigung< gar nicht verlangen wird/ Allein aus diesem Grund aber muß fragwürdig erscheinen, was mit dem seltsamen Versuch, einen nicht näher besehenen >Gott< gegen nicht näher besehene »Übel« verteidigen zu wollen, eigentlich bezweckt wird. Wenn ein solcher Versuch der >Rechtfertigung Gottes< auf den Glauben selbst keinen erkennbaren Einfluß hat, welche Bedeutung hat er dann überhaupt? Diese Frage kann letztlich keine Untersuchung beantworten, die sich nur auf der Ebene vorgefaßter, nicht näher erläuterter Begriffe mit dem »Theodizee«-Problem auseinandersetzt. Solange der Streit lediglich der Frage güt, ob der Versuch einer »Theodizee« das geschehene »Böse« auf irgendeine Weise verharmlost oder nicht, beziehungsweise ob >Gott< das >Gute< tatsächlich nicht anders bewirken kann, als daß er »Böses« zuläßt® - mit einem Wort: solange die begriffliche Ebene des Problems selbst gar nicht ins Blickfeld gerät, umgibt die Untersuchungen zur »Theodizee«-Problematik beinahe zwangsläufig die Aura einer offenbar irrelevanten und insofern sophistischen Gelehrtheit. Der Zugang, den Hegel gegenüber solch »abstrakten« Fragestellungen zum »Theodizee«-Problem gewinnt, ist ein ganz anderer, und es ist angezeigt, die entsprechende Hauptthese der vorliegenden Untersuchung kurz zu skizzieren: Hegel erkennt, daß der Versuch einer >Rechtfertigung Gottes< keine für den Glauben konstitutive, sondern gleichsam eine explikative, praxisbezogene Bedeutung besitzt. Wer eine »Theodizee« erfindet, sucht nicht nach einer >Rechtfertigung< für den Glauben selbst, für sein spezifisches religiöses Bekenntnis oder nach einer >Rechtfertigung< seines Willens, in Gemeinschaft zu leben und die eigene Existenz in dieser Gemeinschaft zu erhalten. Er sucht vielmehr de facto nach einem spezifischen Horizont von Erwartungen, der ihm entsprechende Formen der Lebensführung überhaupt erst erschließt. In diesem Sinne verteidigt »Theodizee« keinen »abstrakten« - und das heißt: als Person aufgefaßten - >Gott< gegen die »Übel« der >WeltWeIt< leben läßt, welche spezifischen Erwartungen sich ob der Vergangenheit eröffnen. ’’ Karl Rahner bezeichnet den Verzicht auf eine solche >Rechtfertigung< sogar ganz ausdrücklich als wesentliches Merkmal des Glaubens. Vgl. Karl Rahner: Warum läßt Gott uns leiden?, in: Schriften zur Theologie. In Sorge um die Kirche, bearb. v. R Imhof SJ, Bd. 14, Zürich/Einsiedeln/Köln 1980, S. 462f. * Vgl. zu diesen Fragen zuletzt Christian F. R. Illies: Theodizee der Theodizeelosigkeit. Erwiderung auf einen vermeintlichen Einwand gegen jede Verteidigung des Welturhebers angesichts des Bösen in der Welt, in: Phil. Jahrb., 107. Jg., Bd. 2 (2000), S. 428; sowie Richard Swinburne: Theodicy, our well-being, and God’s rights, in: Int. Journal for the Phil, of Rel., Hft. 38 (1995), S. 75ff.
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Ihrem Begriff nach entspricht die Frage nach der >Rechtfertigung Gottes< folglich der Frage, wie der Wille zu einem >gottgemäßen< Leben mit der jeweiligen >Welt< und ihren »Übeln« zusammengeht, wie sich dieser Wille in der konkreten Lebensgestaltung überhaupt (noch) manifestieren kann. Schon das Leibnizsche »System der prästabilierten Harmonie« erbringt in dieser Hinsicht zumindest implizit eine bemerkenswerte Leistung: Indem es die geschehenen »Übel« als unvermeidliche Entäußerungen eines an sich >gut< eingerichteten >Weltmechanismus< charakterisiert, bewirkt es auch, daß ein praktischer ümgang mit diesen »Übeln« möglich wird.’ Wer das Erlittene nicht von vornherein als Einwurf gegen das eigene Leben auffaßt, als Anlaß zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, sondern es mit Leibniz als notwendiges Widerfahrnis begreift, das insgesamt zur Stabilität des >Weltganzen< beiträgt - etwa indem es Schlimmeres verhindert -, der wird de facto über einen möglichen Weg der Lebensführung orientiert: Er lernt auf gewisse Weise, das Geschehene als Präjudiz für Künftiges zu begreifen, lernt eine Erwartung zu artikulieren, die ihm entweder trotz erlittener »Übel« die Option einer Fortgestaltung seines Lebens offeriert oder aber die Chancen skizziert, die aus einem positiv bewerteten Verlauf der Geschehnisse resultieren.'“ Schon die »Theodizee« Leibniz’ ist in diesem Sinne eine »Theodizee« in praktischer Absicht: Was sie gegen die »Übel« >rechtfertigtGottesWelt< entschädigen zu können. Hegel vielmehr begreift es als die eigentliche Schwierigkeit dieses Glaubens, daß Leibniz entsprechende Erklärungen offenbar zum Bild einer in sich abgeschlossenen >Welt< zu runden versucht. Was den Weg zu Hegels Geschichtsphilosophie ebnet, ist wesentlich die Einsicht, daß es eine solche >WeltWeltmechanik< erscheinen, schlechterdings nicht gibt. Hegel erkennt, daß sich die >Rechtfertigung GottesRechtfertigung< des Glaubens an eine Kontinuität ge’ Vgl. Leibniz; Versuche in der Theodic6e, S. 40. '“Vgl. ebd., S. 130f.
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meinschaftlichen Lebens, statt dessen immer in einem geschichtlichen Horizont vollzieht. Wo Leibniz noch der Auffassung ist, das »Übel« als Bestandteil eines in sich abgeschlossenen >Weltganzen< erklären zu können, begreift Hegel, daß sich entsprechende Urteile auf eine rekonstruierte geschichtliche Entwicklung der Lebensformen beziehen. »Übel« und »Böses« sind nicht an sich in der >WeltWeltmechanikWelt< orientieren zu können. Auf solche Weise aber »versöhnt« Geschichte tatsächlich die »Vernunft« mit sich selbst: In ihrem Spiegel wird die Gegenwart trotz der erlittenen »Übel« und trotz des geschehenen »Bösen« auf bestimmte Weise als Basis einer möglichen Fortdauer gemeinschaftlichen Le-
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bens, damit aber auch als Basis für eine autonome Planung und Gestaltung des eigenen Lebens sichtbar. Geschichte, so läßt sich mit Hegel zugespitzt formulieren, ist praktizierte »Theodizee«. Damit deutet sich an, welches veränderte Bild von der Hegelschen Geschichtsphilosophie insgesamt entworfen werden soll. Statt sich der etablierten Bewertung anzuschließen, daß Hegel lediglich die realen Geschehnisse in ein bestimmtes Schema habe pressen wollen, soll veranschaulicht werden, daß es sich um eine Philosophie im genuinen Sinne des Wortes handelt: um den Versuch, Geschichte als ein Phänomen des Denkens auf den Begriff zu bringen. Pointiert gesagt: Hegels Geschichtsphilosophie ist keine Philosophie der Geschichte als bloße Deutung der realen Geschehnisse, sondern sie ist wesentlich Philosophie des geschichtlichen Denkens. Der Begriff, den sie sich vom genuinen Zweck der Geschichte macht, ist kein anderer als der Begriff der »Theodizee«: Indem sie zeigt, daß geschichtliche Praxis darauf entworfen ist, die »Vernunft« mit sich selbst zu >versöhnenSelbstbewußtwerdung< des »Geistes« in der »Weltgeschichte« beschreiben zu wollen, der skizzierten begrifflichen Einsicht keinen Abbruch tut. In bestimmter Hinsicht bedeutet dieses Programm lediglich eine Vervollständigung der vorausgegangenen Betrachtung. So begreift Hegel die »weltgeschichtiiche« Entwicklung als einen Prozeß von Anerkennungen, in dessen Verlauf der Beitrag autonomen, geschichtlich konstituierten Denkens zur Fortgestaltung der gemeinsamen Lebensformen selbst ins Bewußtsein der Akteure rückt und sich in einer entsprechenden Lebensverfassung niederschlägt. Hinter dieser Darstellung verbirgt sich eine unverkennbar didaktische Absicht: Der realgeschichtliche Nachweis, daß allein autonomes, geschichtlich konstituiertes Denken die
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gemeinschaftliche >Welt< im Innersten zusammenhält, soll den einzelnen ermutigen, sich zu seiner Autonomie zu bekennen und sein Handeln an eigenen, geschichtlich gestützten Erwartungen zu orientieren. Hegels »Weltgeschichte« erweist sich insofern als >Theodizee der Freiheitc Sie vermittelt dem einzelnen ein geschichtlich fundiertes Bewußtsein seiner Autonomie und verschafft ihm in diesem Sinne ein freies Verständnis seiner selbst. Im Selbstbewußtsein der geschichtlichen Konstitution »vernünftigen« Denkens wird er frei, sein Leben nach Maßgabe eigener, geschichtlich gestützter Erwartungen zu gestalten, und zwar in Absetzung von allen Lebensentwürfen, die auf der bloßen Subordination unter vorgeprägte Erwartungen beruhen. Daß diese didaktische Funktion der »Weltgeschichte« aus bestimmten Gründen überholt ist, ja daß hierin auch die moderne Skepsis gegenüber der Geschichtsphilosophie gründet, ändert nichts an der Bedeutung der skizzierten Einsicht Hegels. Die These, daß der Ertrag der Hegelschen Geschichtsphilosophie primär nicht in ihren Geschichtsdeutungen, sondern in ihrer Frage nach dem Zweck geschichtlichen Denkens besteht, verlagert die Diskussion um das Erbe der Geschichtsphilosophie auf ein Terrain, das ihrem Gegenstand ein neues und allgemeines Interesse gibt: das Terrain der Auseinandersetzung um die Bedeutung geschichtlicher Praxis selbst. Gegenüber dem, was die Kritik vornehmlich in ihr gesehen hat, erweist sich Hegels Geschichtsphilosophie als unüberholte reflexive Leistung, welche die Bedeutung geschichtlichen Denkens und geschichtlicher Praxis insgesamt verortet und somit eine Aufgabe bewältigt, die erst in jüngster Zeit als eigentliche Aufgabe der Geschichtsphilosophie entdeckt worden zu sein schien."
" Die philosophischen und philologischen Auseinandersetzungen um die Erstellung eines Korpus, das als gesicherte Textgrundlage der nur als Vbrlesungsmitschrift überlieferten Hegelschen Werke gelten darf, sind noch lange nicht abgeschlossen. Um daher die Untersuchung nicht mit editorischen Problemen zu überfrachten, werden fast ausschließlich Hegels originale Vorlesungsmanuskripte sowie die bereits zu Lebzeiten veröffentlichten Hauptwerke herangezogen. Vgl. dazu Walter Jaeschke: Probleme der Edition der Nachschriften von Hegels Vorlesungen, in: Allgem. Zeitschr. f. Phil., Bd. 5, Hft. 3 (1980), S. 51-63; Wolfgang Henckmann: Fichte - Schelling - Hegel, in: Jaeschke; Jacobs; Krings; Schepers (Hg.): Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte, Hamburg 1987, S. 99-115; Andreas Grossmann: Hegel oder »Hegel«? Zum Problem des philosophischen und editorischen Umgangs mit Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen, in: Weisser-Lohmann; Köhler (Hg.): Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bonn 1998, S. 51-70; sowie: Franz Hespe: Geist und Geschichte. Zur Entwicklung zweier Begriffe in Hegels Vorlesungen, in: Weisser-Lohmann; Köhler, S. 71-93.
I. Die Wiederkehr der geschichtsphilosophischen Frage
§1. Die Verdeckung des Philosophischen in Hegels Geschichtsphilosophie Die Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie steht am Ende einer Erfolgsgeschichte. Diesen Eindruck erweckt zumindest die weitgehende Einhelligkeit, in der die Interpreten ihr Urteil sprechen und gesprochen haben. Dieses Urteil ist dabei wenig schmeichelhaft. Denn es lautet letztlich, Hegels Geschichtsphilosophie sei zwar vielerlei, im Grunde aber keine Philosophie. Diese Gewißheit eint die vielen Kritiker. Gleichwohl ist der Gewinn nur kärglich, den philosophische Kritik daraus zieht, dieses Urteil stets von neuem zu untermauern und zu deklamieren. Nicht nur erschöpft sich solch folgenloser Kritizismus. Auch überzieht er seinen Gegenstand im Laufe der Zeit mit dem Dickicht einer Rezeptionsgeschichte, in welchem sich mehr oder minder unbemerkt manche Voreingenommenheit zur Gewißheit entwickelt. Solche Schwierigkeiten kennzeichnen auch die Auseinandersetzung um Hegels Geschichtsphilosophie. Der lange Weg ihrer Auslegung läßt kaum noch an den Ausgangspunkt zurückschauen. Hervorgegangen sind Interpretationen von mittlerweile bleierner Autorität. Sie anzuzweifeln erscheint als wenig opportun und schon beinahe deshalb als abwegig. Ein Bild ist dabei einprägsamer als andere: daß nämlich Hegels Geschichtsphilosophie vielerlei sei, keinesfalls jedoch eine heute noch haltbare Philosophie. Allenfalls könne man sie als - nicht minder zweifelhafte, ja verfehlte - Form der Geschichtsschreibung bezeichnen. Kurz, Hegels Geschichtsphilosophie sei nicht Philosophie, sondern normativ-theoretisch oder gar politischpraktisch motivierte Geschichte. Dieses Bild hat die Vorstellung einflußreicher Hegel-Kritiker bis heute beherrscht, angefangen bei Rudolf Haym bis hin zu Popper.' Daß es für die Beurteilung der Hegelschen Geschichtsphilosophie allein maßgeblich sei, wäre zwar übertrieben. Gleichwohl spricht aus diesem Bild eine allgemeine Tendenz der Hegel-Kritik: der ungebrochene Wille zu dem Kunstgriff nämlich, das Philosophische der Geschichtsphilosophie als vornehmlich Ge-
' Vgl. Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Werth der Hegelschen Philosophie, Darmstadt 1962 (2. Aufl.); Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Tübingen 1992 (7. Aufl.).
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
schichtliches, als bloße Bemäntelung fertiger Ideen mit selbstgezimmerten geschichtlichen Bestätigungen zu entlarven und sich mit der Bescheinigung des philosophischen >non sufficit< der Verpflichtung zu entledigen, derlei Treiben überhaupt noch anders denn unter philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten beurteilen zu müssen. Wie weit der Prozeß bereits gediehen ist, der Hegelschen Geschichtsphilosophie letztlich ihren philosophischen Gehalt abzusprechen, dokumentiert das Ergebnis, zu welchem zuletzt die analytische Philosophie in ihrer Auseinandersetzung mit der geschichtsphilosophischen Tradition gekommen ist. So bezeichnet Arthur Danto Geschichtsphilosophien wie diejenige Hegels als »substantialistisch« und befindet, »daß substantialistische Geschichtsphilosophen, gleich den Historikern, damit befaßt sind, eine Beschreibung dessen zu geben, was in der Vergangenheit geschehen ist«, um zu der Folgerung zu gelangen: »Die substantialistische Geschichtsphilosophie hat in Wirklichkeit überhaupt keine Beziehung zur Philosophie, jedenfalls in keinem höheren Maße als die Geschichte selbst.« Es sei der analytischen Philosophie Vorbehalten geblieben, aus der Geschichtsphilosophie eine tatsächlich philosophische Disziplin zu formen, deren Gegenstand nunmehr »begriffliche Probleme« der Geschichte seien.^ Ähnlich äußert sich William Dray, wenn er sich davon überzeugt zeigt, daß das Ziel der »spekulativen«, »substantialistischen« Geschichtsphilosophie nicht etwa darin bestanden habe, den Begriff der Geschichte oder die Methoden geschichtlicher Forschung, sondern allein die Vergangenheit selbst zu deuten.’ Dieses Urteil freilich kann nicht unwidersprochen bleiben, weshalb das Augenmerk zunächst einer nicht unwesentlichen Unterstellung gelten soll, die Danto selbst in Parenthese einführt: Nicht nur sei Hegel allenfalls ein verkappter Geschichtsschreiber, eo ipso kein Geschichtsphilosoph, sondern es sei auch gar nicht seine Absicht gewesen, in philosophischer Form über Geschichte nachzudenken. Statt philosophisch zu ergründen, was Geschichte eigentlich sei, was es also bedeutet, geschichtlich zu denken, habe Hegel lediglich selbst eine Geschichte schreiben wollen. Keinen Begriff von Geschichte habe er zu artikulieren versucht, sondern lediglich den realen Geschehnissen selbst einen bestimmten geschichtlichen Sinn unterstellt. Auch wenn sich diesen Substantialismus-Vorwurf keineswegs alle Kritiker zueigen gemacht haben, bleibt die Frage, wie es zu derart tiefgreifenden Zweifeln an den philosophischen Absichten eines Geschichtsphilosophen hat kommen können. Hegels schwer verständliche Sprache wird kaum den alleinigen ^ Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1980, S. 11. ’ William Dray: Philosophy of History, Englewood Cliffs 1993 (2. Auf!.), S. 5: »Because their goal is to make the past itself, not the study of it, intelligible, speculative philosophers of history in fact resemble historians as much as they do other philosophers ...«
§ 1. Die Verdeckung des Philosophischen
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Grund für den Vorbehalt von Kritikern wie Danto oder Dray darstellen, ein philosophisches Bemühen in Hegels Geschichtsphilosophie bis heute nicht ausmachen zu können. An beharrlichen Versuchen der Exegeten zur Aufklärung hat es schließlich nicht gefehlt. Eher drängt sich die Vermutung auf, daß in jenem Vorbehalt - einmal unterstellt, er sei unberechtigt - auf bestimmte Weise die Vordergründigkeit bestimmter Interessen zum Ausdruck kommt, welche die Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Philosophie selbst geprägt haben. Hatte Hegel überhaupt anders denn als gescheiterter Geschichtsschreiber im Urteil seiner Interpreten erscheinen können, wenn kaum von anderem als seiner fraglos umstrittenen Deutung der »Weltgeschichte« die Rede gewesen war? Wirft das Resümee, daß die Geschichtsphilosophie eine verfehlte Form der Geschichtsschreibung darstelle, womöglich viel eher ein Licht auf die eingefahrenen Wege der Rezeptionsgeschichte denn auf die Geschichtsphilosophie selbst? Ein Indiz hierfür soll im folgenden noch näher betrachtet werden: So ist in vielen geschichtsphilosophischen Debatten vom Verlauf der Geschichte die Rede, von ihren Akteuren und Ergebnissen, von ihrem angeblichen Ende und ihrer Auflösung, dies jedoch zumeist, ohne dabei von Geschichte eigens einen Begriff zu entwickeln, ohne zu klären, wie sie sich als konkrete Leistung des Denkens verorten läßt und wie sie im Leben verankert ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund aber hat sich auch der Großteil des Interesses an der Hegelschen Geschichtsphilosophie seit jeher auf deren vermeintliche Hypothesen über die realgeschichtliche Entwicklung von Staat und Gesellschaft konzentriert, verbunden mit einem zumeist harschen Urteü über ihre scheinbaren sittlichen oder rechtlichen Konsequenzen, etwa für die Selbstbestimmung des Individuums.^ Die genuine Frage der Geschichtsphilosophie dagegen - die Frage zumindest, die man heutzutage als Ausdruck für ein legitimes geschichtsphilosophisches Interesse bezeichnen würde -, ist selten mit Hegel auch nur in Zusammenhang gebracht worden: die Frage nämlich, worin die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens, das genuine Interesse an einer Rekonstruktion der Vergangenheit, überhaupt besteht. Nicht nur ist man bei Hegel auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage kaum fündig geworden. Ein Großteil der Kritiker, angefangen mit den Historisten, hat überdies ausgeschlossen, daß es Hegel überhaupt um eine solche Antwort zu tun gewesen sei.'^ Im Spiegel ihres Urteils erscheint er durchweg als Geschichtsschrei* Vgl. Emil Angehrn: Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Geschichtsphilosophie, in: Zeitschr. für philos. Forschg., Bd. 35, Hft. 3/4 (1981) S. 346; Ernst Topitsch; Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München 1981,5.69. 5 Vgl. repräsentativ Johann Gustav Droysen: Historik. Rekonstruktion der ersten vollstän-
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
her, als dilettierender Alleswisser, dessen universal angelegte »Weltgeschichte« vor allem in bezug auf ihre politischen und gesellschaftlichen Folgen zu untersuchen als opportun erschienen war. Entweder entlarvte man ihn dabei als vermeintlichen Verfechter einer autoritären Weltanschauung, als apologetischen Historiker, der dem Primat des Staates über das Individuum das Wort geredet hatte, oder aber man erhob ihn mit weglobender Geste in den Rang eines »historischen Genies«, das freilich trotz aller Ingeniosität für seine Beschreibung der Ereignisse eine inadäquate Form der Darstellung gewählt hatte.*' Eine genuin geschichtsphilosophische Absicht im skizzierten Sinne hat kaum ein Kritiker in Hegels Werk je zu finden vermocht und sie dem Geschichtsphilosophen daher auch nicht zugebilligt. Derlei zu beklagen, mag den Eindruck unnötiger Aufgeregtheit erwecken. Wo kein Rauch zu sehen ist, so wird man einwenden wollen, wird auch kein Feuer sein. Kaum etwas scheint ferner zu liegen, als daß Hegel versucht haben könnte, den Titel Geschichtsphilosophie tatsächlich beim Wort zu nehmen, zu ergründen, was geschichtliches Denken selbst ist. Welcher Art jedoch ist diese Evidenz? Ist sie wirklich von jener Unbezweifelbarkeit, die immer wieder suggeriert wird? Erinnert sie nicht doch ein wenig an einen Wanderer, der den belustigten Blick auf Potemkinsche Dörfer wirft und für gewiß hält, daß er leere Kulissen vor sich sieht? Die maßgeblichen Fragen, die Hegels Geschichtsphilosophie provoziert hat, scheinen zumindest mit solch voreingenommenen Blicken vergleichbar: Ob es überhaupt eine determinierte Entwicklung in der Geschichte gebe? Ob nicht die Existenz ominöser Kollektiv-Subjekte in der Geschichte abwegig sei? Ob nicht in Hegels Geschichtsphilosophie die sittliche Ordnung unter die Räder der Geschichte gerate? Ob es die Geschichte in der Moderne überhaupt noch gebe? - Diese Fragen bedeuten auf sublime Weise, allenfalls die äußeren Umrisse der jeweils prätendierten Topoi der Hegelschen Geschichtsphilosophie in Augenschein zu nehmen. Was sich offenbart, ist die Unterstellung, die Geschichtsphilosophie greife unbesehen zur Geschichte, um über dieselbe irgendetwas auszusagen. Die genuin geschichtsphilosophische Frage dagegen, was Geschichte überhaupt sei, gerät ins Hintertreffen. Beinahe entsteht der Eindruck, man dürfe vorab als klar unterstellen, worum es sich bei Geschichte handelt, so daß dieselbe überhaupt erst in den Händen der Geschichtsphilosophen zum Spielball haltloser Projektionen zu verkommen drohe. Wo aber der Begriff von Geschichte als mutmaßlicher Gegenstand digen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hrsg. v. P. Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, S. 52. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Einl. V. M. Riedel, Frankfurt 1993 (4. Aufl.), S. 116.
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geschichtsphilosophischen Interesses von vornherein nicht näher untersucht wird, ist es auch nicht verwunderlich, daß sich dem selbstgewissen Betrachter beim Anblick der Geschichtsphilosophie eine leere Kulisse darzubieten scheint. Damit zeichnet sich der Einwand ab, der im folgenden gegen Dantos These entwickelt werden soll: Wo sich philosophische Kritik darauf beschränkt, für Geschichte zu nehmen, was auf den ersten Blick wie Geschichte aussieht, ist es die Gewißheit selbst, die sich als trügerisch erweisen könnte. Es steht zu fragen, ob es statt der Geschichtsphilosophie womöglich der Kritiker ist, der das Geschichtsphilosophische der Geschichtsphilosophie beim Wort zu nehmen versäumt. In medias res der Geschichtsphilosophie zu gehen, würde dann nicht bedeuten, nach den vermeintlichen Konsequenzen ihrer geschichtlichen Inhalte, sondern nach ihrem Begriff von Geschichte zu fragen. Die Frage nach einem solchen Begriff mag sich dabei später immer noch als unberechtigt erweisen. Wenn sie aber von vornherein nicht aufgeworfen, Geschichtsphilosophie mit der Fassade ihrer realgeschichtlichen Interpretationen gleichgesetzt und somit die vordergründige Perspektive der Betrachtung für das Phänomen selbst genommen wird, kann ein adäquates Urteil über die Geschichtsphilosophie gar nicht erst gelingen.
§ 2. Hegels Kritik am unreflektierten Selbstverständnis der Geschichtsschreibung Die Vermutung, daß Hegels Geschichtsphilosophie keine »materiale« Geschichtsphilosophie im pejorativen Sinne, sondern Philosophie des geschichtlichen Denkens ist, wird nur unter einer Voraussetzung gegen die Autorität der Rezeptionsgeschichte reüssieren: Es muß deutlich werden, daß nicht Hegel versäumt hat, die Frage nach der Bedeutung geschichtlichen Denkens zu stellen, sondern die meisten Kritiker ihm diese Frage zu stellen nicht zugetraut haben. Erforderlich sind Hinweise darauf, daß nicht der Philosophie das Philosophische abgeht, sondern der Appell an ein vorgefaßtes, mehr oder minder deutlich artikuliertes Geschichtsverständnis zu genügen scheint, um offenbare Fehlleistungen Hegels zu attackieren, mit einem Wort: daß die Frage nach der Philosophie in Hegels Geschichtsphilosophie letztlich durch die Hintertür der Rezeptionsgeschichte selbst verabschiedet worden ist. Wie sich zeigen wird, lassen sich tatsächlich verschiedene Strömungen der Kritik insofern unterscheiden, als der Hegelschen Geschichtsphilosophie jeweils eine mehr oder minder naive Geschichtskonzeption unterstellt wird. Daß gerade diese Strömungen der Hegel-Kritik die Verdeckung der philo-
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sophischen Diktion der Geschichtsphilosophie bewirkt haben, vermag eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den zentralen Vorbehalten allerdings nur schwerlich vor Augen zu führen. Gerade weil sich diese Vorbehalte gleichsam wie ein rezeptionsgeschichtliches Netz um die Geschichtsphilosophie gelegt haben, gerade weil die Zitation einzelner Bemerkungen der Geschichtsphilosophie bereits genügt, um ganz heterogene Vorbehalte aufzurufen, wird das Wechselspiel einer Widerlegung der Kritiker durch Interpretation sowie einer Interpretation durch Widerlegung der Kritiker zu einem uferlosen und daher beinahe aussichtslosen Unterfangen. Statt einer unvermittelten Konfrontation der Hegelschen Überlegungen mit der Kritik empfiehlt es sich daher, zunächst das Augenmerk auf die zeitgeschichtliche Situation zu richten, in der Hegels Geschichtsphilosophie entstanden ist. Ein entsprechender Überblick verschafft, wie sich zeigen wird, nach und nach die erforderlichen Mittel, um wesentliche Vorbehalte der Rezeptionsgeschichte zu entschärfen. Bereits die Art der Behandlung der geschichtsphilosophischen Thematik in den nachgelassenen Vorlesungsmanuskripten läßt dabei vermuten, daß Hegel anderes als die bloße Abfassung einer Geschichte im Sinn gehabt hat. Er betritt das Feld der geschichtsphilosophischen Auseinandersetzung nicht mit konkreten Behauptungen zur »Weltgeschichte«, ganz zu schweigen von einem fertigen Entwurf ihres Verlaufs. Im Mittelpunkt seines Interesses steht zunächst die methodologische Entwicklung der Geschichtswissenschaft selbst, die sich um 1822, als er in seinen Berliner Vorlesungen erstmals Grundzüge seiner Geschichtsphilosophie entwickelte, längst als selbständige wissenschaftliche Disziplin verstand. Das Urteil, das Hegel über das Erscheinungsbild der jungen Wissenschaft fällt, ist so außerordentlich kritisch, daß man von einer Provokation sprechen darf. Einerseits handelt es sich um ein Resümee der methodischen Fortschritte, welche die Geschichtsschreibung seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gemacht hatte, noch mehr jedoch um den Vorwurf bestimmter Versäumnisse, die ihr dabei unterlaufen seien. Zwar hatte bereits die Göttinger Schule den Bruch mit der Tradition vollzogen, theologische Deutungen der Historie zu rekapitulieren oder Geschichte lediglich als propädeutisches Mittel anderer Wissenschaften zu betrachten. Zwar hatte man damit begonnen, Zeugnisse der Vergangenheit systematisch zu ordnen, das erforderliche Instrumentarium zu deren kritischer Auswertung auszubilden und auf diese Weise die Voraussetzungen geschaffen, um Geschichte als gesonderten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung behandeln zu können. Auch hatten Niebuhr und Ranke auf dieser Grundlage Methoden der Quellenkritik entwickelt, der unreflektierten Nacherzählung historischer Autoren ein Ende bereitet und damit das Tor zu einer Geschichtswissenschaft aufgestoßen, die ihre Rekonstruktionen der historischen Vergangen-
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heit erstmals systematisch zu begründen wußte. Hatte historia bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als das Gegenteil von scientia, als Inbegriff ungesicherten empirischen Wissens gegolten, so schien es, als habe sich die kritische Geschichtsschreibung Niebuhrs und Rankes nunmehr als ordentliche Wissenschaft etabliert. Die Skepsis aber, mit der Hegel diese Entwicklung rekapituliert, ist mehr als nur ein Indiz dafür, daß er die Geburt der neuen Wissenschaft mit zwiespältigen Gefühlen verfolgt hat. Es zeigt sich vielmehr, daß es für seinen Widerwillen einen bestimmten Grund gibt, der Hegels verstärkte Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie erst ausgelöst haben dürfte. Hegel hat der jungen Geschichtswissenschaft angekreidet, bis dato schlechterdings kein schlüssiges Selbstverständnis ausgebildet und sich somit keinen Begriff davon gemacht zu haben, zu welchem Zweck Geschichte überhaupt geschrieben werde. Ungeachtet ihrer methodischen Fortschritte stellt er der gerade etablierten Wissenschaft in dieser Hinsicht ein vernichtendes Zeugnis aus. So beklagt er in seiner Vorlesung den heillosen Streit zwischen den Geschichtsschreibern und ihren Rezensenten, verweist darauf, »daß beinahe jede Rezension mit einer eigenen Theorie über die Art, wie Geschichte geschrieben werden soll, anfängt«, während wiederum der Geschichtsschreiber selbst eine eigene Theorie darüber habe.^ Hegels Schlußfolgerung lautet daher lakonisch: »Wir sind auf dem Standpunkt, immer uns zu bestreben und noch zu suchen, wie die Geschichte geschrieben werden soll.«* Sein Schüler Droysen hat eine ähnliche Einsicht dreißig Jahre später - wenngleich wie so häufig ohne Bewußtsein für ihre Verwandtschaft mit Hegelschen Überlegungen - in die Worte gefaßt, daß die Geschichtsschreibung, wenn man sie »nach ihrer Rechtfertigung, nach ihrem Verhältnis zu anderen Formen und Richtungen menschlicher Erkenntnis, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und nach dem Wesen ihrer Aufgabe fragt«, letztlich »nicht in der Lage [ist], genügende Auskunft zu geben.«’ Dieser Befund, der Droysen noch aus heutiger Sicht als den eigentlichen Begründer der »Historik«, als den Propädeuten einer methodologisch reflektierten Geschichtsschreibung ausweist, findet sich bei Hegel vorgezeichnet. Mochte sich die Geschichte methodisch fortentwickelt haben, so war gleichwohl der Streit um die Erkenntnisziele der Geschichtsschreibung das beste Indiz für die Unklarheit, die noch immer über die Frage herrschte. ' Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, ln Verbdg. m. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. V. d. Rheinisch-Westfalischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1995, Band 18: Vorlesungsmanuskripte II (1816 - 1831), hrsg. v. W. Jaeschke, Hamburg (i.f.GWlS), S. 130. "Ebd. ’ Droysen: Historik, S. 11.
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welchem Zweck die Rekonstruktion der historischen Vergangenheit überhaupt dienen sollte. Es war fraglich geblieben, über welchen Sitz Geschichte im gemeinschaftlichen Leben verfügt, welche Bedeutung sie für Denken und Handeln besitzt. Die Historiker, so Hegels maßgebliche Erkenntnis, hatten sich im Grunde keinen Begriff davon gemacht, was sie überhaupt tun, wenn sie Geschichte schreiben. Dieser ernüchternde Befund ist es, der den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Geschichtsphilosophie markiert. Betrachtet man diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund als Auslöser für die Hegelschen Bemühungen um eine eigene Geschichtsphilosophie, dann zeichnen sich auch erste Konturen der geschichtsphilosophischen Überlegungen ab, welche durch die Rezeptionsgeschichte verdeckt worden sind. Zugleich wird deutlich, auf welche Weise sich diese Verdeckungen beiseiteräumen lassen. Der ümstand, daß Hegel der Geschichtswissenschaft zunächst ihr unreflektiertes Selbstverständnis angelastet hat, darf als erstes Indiz dafür gewertet werden, daß er sich für den Zweck geschichtlicher Praxis, die Art ihrer Verankerung im Leben selbst, interessierte. Das Ziel seiner Geschichtsphilosophie dürfte darin bestanden haben, genau das zu tun, wovon er behauptet, daß es die Geschichtsschreiber seiner Zeit versäumt hatten: anschaulich zu machen, weshalb und in welcher Hinsicht eine methodisch ausgeformte geschichtliche Praxis überhaupt von Interesse ist. Noch einmal in Hegelscher Terminologie gesagt: Das geschichtsphilosophische Projekt besteht darin, Geschichte nicht bloß zu schreiben, sondern auf ihren Begriff zu bringen.'“ Was auf solche Weise hinter den Verdeckungen der Rezeptionsgeschichte hervorschaut, ist ein ünterfangen, das den gängigen ünterstellungen diametral entgegengesetzt ist. Wenn die Hegel-Kritiker einen allzu ambitionierten Historiker seiner geschichtlichen Irrtümer überführen zu können vermeint haben, ihm Positivismus, einen verfehlten Wahrheitsanspruch oder ein säkularisiertes Streben nach heilsgeschichtlicher Prognostik unterstellen, verdeckt die Kritik womöglich ein Projekt, das zu entdecken ihre kritische Rolle grundsätzlich in Frage stellen würde. Läßt sich nämlich zeigen, daß Hegels Polemik gegen die vordergründigen Selbstrechtfertigungen der Geschichtswissenschaft darauf zielt, die Bedeutung geschichtlicher Praxis selbst zu klären, die Bedeutung von Geschichte als einem Phänomen des Denkens, dann wird offenbar, daß Hegel just um jene begrifflichen Grundlagen von Geschichte bemüht ist, die viele Kritiker umstandslos voraussetzen, wenn sie seine vermeintliche Geschichtslehre attakkieren. Vgl. Hoo-Nam Seelmann: Weltgeschichte als Idee der menschlichen Freiheit. Hegels Geschichtsphilosophie in der Vorlesung von 1822/23, Saarbrücken 1986 (Diss.), S. 8.
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Damit aber ist der Weg vorgezeichnet, den die Untersuchung nehmen wird, um den unverstellten Blick auf das Hegelsche Projekt wiederzugewinnen. Es soll gezeigt werden, daß Hegel die wichtigsten, gegen seine vermeintliche Geschichtslehre gerichteten Vorwürfe, und zwar im einzelnen die Vorwürfe des Positivismus, eines pragmatischen Objektivismus und auf bestimmte Weise auch des säkularisierten Eschatologismus, selbst schon als defiziente Formen eines geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses attackiert hat, als Formen einer geschichtswissenschaftlichen Selbstrechtfertigung also, die den eigentlichen Zweck geschichtlicher Praxis noch keineswegs widerspiegeln. Gegenüber diesen defizienten Formen konzipiert er seine Geschichtsphilosophie explizit als den Versuch, das Versäumte nachzuholen, Geschichte in ihrer Bedeutung als Phänomen des Denkens auf den Begriff zu bringen. Die erste seiner Vorlesungen über die »Philosophie der Weltgeschichte« enthält eine Übersicht verschieden entwickelter Formen der Geschichtsschreibung, die verdeutlichen soll, daß das wissenschaftliche Selbstverständnis der Geschichtsschreibung insgesamt, wie Hegel behauptet, »abstrakt« geblieben war.“ Die Geschichtsschreiber hätten, statt die Bedeutung von Geschichte für Denken und Handeln zu ergründen, ihre methodischen Arbeitsweisen oder auch bestimmte Forschungserkenntnisse für eine Art Selbstzweck ausgegeben. Gegen jene Defizite und somit gegen eine insgesamt »abstrakte« Selbstbemäntelung geschichtswissenschaftlicher Praxis betont er das Erfordernis, den »konkreten« Zweck der Geschichtsschreibung zu erläutern, also eine Antwort darauf zu suchen, was mit geschichtlichem Wissen grundsätzlich anzufangen sei.“ Mit dem Aufweis, daß er die wichtigsten der später auf seine Geschichtsphilosophie projizierten Einwände selbst schon gegen die Geschichtsschreibung seiner Zeit geltend gemacht hat, wird daher nicht nur die Position vieler seiner Kritiker hinfällig, sondern es öffnet sich zugleich auch wieder der Blick auf das genuine Projekt seiner Geschichtsphilosophie, das bis dato von rezeptionsgeschichtlichen Projektionen verdeckt wird. Um mit Hegel die Positionen seiner eigenen Kritiker einholen zu können, ist zur Orientierung allerdings ein kurzer Aufriß dessen erforderlich, welches Bild er von der Geschichtsschreibung seiner Zeit entwirft, ein Überblick also, wie sich das Spielfeld der Auseinandersetzung aus seiner Sicht
" Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, hrsg. V. J. Hoffmeister, Hamburg 1994 (i./ VPW1), S. 22 (Ergänzung von G. Lasson aus Nachschriften). Vgl. den kryptischen Satz in VPW 1, ebd.: »Der allgemeine Gesichtspunkt der philosophischen Weltgeschichte ist nicht abstrakt allgemein, sondern konkret und schlechthin gegenwärtig; denn er ist der Geist, der ewig bei sich selber ist und für den es keine Vergangenheit gibt.«
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darstellt. Er versieht die Geschichtsschreibung mit dem Gesamttitel einer »reflectirten« oder auch »reflectirenden Geschichte« und kennzeichnet mit diesem Begriff das hermeneutische Problem, vor das sich der Historiker gestellt sieht, die historische Vergangenheit nicht mehr aus der eigenen Lebenserfahrung beurteilen zu können.'’ Da »deren Darstellung über das dem Schriftsteller selbst Gegenwärtige ... hinausgeht«, reichen vertraute Bewertungsweisen nicht mehr aus, um über die Bedeutung entsprechender Quellen unbesehen urteilen zu können."' Damit fokussiert Hegel letztlich auf eine Geschichtsschreibung, die seit dem Humanismus das Problem, wie »historiam narrare« möglich sei, auf eine methodische Weise zu lösen versucht hatte.'’ Aus den Einsichten und methodischen Fortschritten, welche sie in dieser Hinsicht verzeichnet, sucht er systematisch Rückschlüsse auf ihr Selbstverständnis zu ziehen und die darin verborgenen Defizite aufzudekken. Dabei wendet er sich zunächst gegen die geschichtliche Praxis, bloße »Compilationen« historischer Quellen anzufertigen, umfassende Sammlungen historischer Ereignisse und Periodisierungen anzulegen, ohne sich die Frage nach dem geschichtlichen Interesse an solchem Tun überhaupt zu stellen (§ 3). Zweitens kritisiert er die sogenannte »pragmatische« Geschichtsschreibung, die den Anspruch erhebt, aus der Interpretation der Historie Lehren ziehen zu können, welche sie freilich aus den historischen Geschehnissen selbst abzuleiten vermeint und damit eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, woraus ein solcher Lehr- und Lernerfolg überhaupt resultiert (§ 4). Drittens verweist Hegel auf die Aporie, die damit grundsätzlich entsteht, sofern das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung allein auf einer Reflexion ihrer Methoden beruht. Denn selbst bei einer (quellen-) kritischen Sichtung des Materials lassen sich letztlich beliebige Gründe für die Berechtigung dieser wie auch jener Interpretation der Historie nennen, ohne daß es möglich sein würde, zumindest bestimmten Formen der Deutung aufgrund eines spezifizierbaren Interesses den Vorzug zu geben (§ 5). Wenngleich die vierte der »reflectirenden« Geschichten, die sogenannte »Spezialgeschichte«, in dieser Hinsicht wenigstens empraktisch zu einem verbesserten Verständnis der Bedeutung geschichtlichen Denkens beiträgt, nämlich als Zeugnis dafür gelten darf, daß das geschichtliche Interesse wesentlich der Entwicklung von Institutionen gilt, so gibt doch auch sie keinerlei Auskunft darüber, weshalb dies so ist. Mit diesem Befund aber gelangt Hegel tatsächlich zu dem Ergebnis, daß sich die Historiker seiner Zeit trotz aller methodischen Fortschritte vom Zweck ihres Tuns selbst keinen Begriff ”GW 18., S. 122bzw.S. 129. Ebd., S. 129 (Ergänzungen von mir, W. H.). " Vgl. dazu Eckhart Kessler: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978, S. 24.
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gemacht hatten. Nicht nur muß insofern sein Vorhaben gerechtfertigt erscheinen, die Geschichtsschreibung überhaupt erst auf ein begriffliches Fundament zu stellen. Daß seine Geschichtsphilosophie der begrifflichen Frage folgt, worauf geschichtliche Praxis als solche zielt, bedeutet vielmehr auch den wichtigsten Einwand gegen alle Versuche, seine Geschichtsphilosophie zum substantialistischen Bestand einer philosophisch verbrämten Geschichtsdeutung zu rechnen. Dieser Nachweis bereitet folglich den Weg, ungeachtet der rezeptionsgeschichtlichen Verstellungen mit Hegel den genuinen Zweck geschichtlichen Denkens und seine praktische Relevanz für das gemeinschaftliche Leben erschließen zu können (§6).
$ 3. Aporien des metaphysischen Hegel-Bildes Nachhaltigen Einfluß auf die Kritik der Geschichtsphilosophie übt noch heute der Befund aus, Hegel habe sich als Entdecker historischer Entwicklungsgesetze ausgegeben. Es ist eine Ironie der Geschichte des Hegelianismus, daß der mit diesem Urteil einhergehende Abschied von der Philosophie in der Geschichtsphilosophie geradewegs zu Hegels Verherrlichung hatte gereichen sollen. Denn es waren nicht Hegels Kritiker, sondern ausgerechnet seine Apologeten, denen die Geschichtsphilosophie zum ersten Mal als bloße Geschichte, als rekonstruktive Leistung erschienen war, deren intendiertes Ziel offenbar in einer umfassenden Erklärung der historischen Vergangenheit bestand. Rosenkranz und Michelet, später auch Lasson, hatten sie insofern sogar als heimliche Krönung des Hegelschen »Systems« angesehen, als nachträgliche humangeschichtliche Bestätigung dafür, daß dieses »System« die relevanten philosophischen Probleme tatsächlich gelöst hatte.Die Geschichtsphilosophie wurde damit zur geschichtlichen Apologetik. Der Gang des ominösen »Weltgeistes«, der in Gestalt einzelner »Volksgeister« verschiedene Stufen bis zum Bewußtsein seiner Freiheit durchläuft, schien die geschichtliche Bewußtwerdung der von Hegel verfochtenen philosophischen Einsichten zu verkörpern, lieferte also gleichsam den geschichtlichen Beweis für die Wahrheit des Hegelschen »Systems«. Die Geschichtsphilosophie geriet damit, wie Nietzsche später erkannt hat, zum »Monumentalismus«, schlüpfte in die RoUe einer Geschichte, deren Aufgabe in der geschichtlichen Rechtfertigung vorgefaßter Anschauungen zu beste-
"■ Vgl. Karl Rosenkranz: Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Darmstadt 1973 (Nachdruck d. Ausg. V. 1870), S. 164; Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel, Bd. 2, Hildesheim 1967 (Nachdruck d. Ausg. V. 1838), S. 791; Georg Lasson: Hegel als Geschichtsphilosoph, Leipzig 1920, S. 72.
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hen schien.'^ Zwangsläufig führte solche Apologetik zur Diskreditierung der Geschichtsphilosophie, wenngleich sie noch in der Gegenwart die Fortsetzung erfahren hat, daß Hegel den Sieg der liberalen Demokratie als Ordnungsmacht der Weltgeschichte vorausgesehen habe.'* Um einer solchen Reduktion Hegels zum Chronisten des wahren Weltlaufs noch eine positive Bedeutung abgewinnen zu können, blieb nichts übrig, als seine scheinbar genuin historiographischen Verdienste hervorzuheben. So anerkannte man ihn vor allem als Vater des Historismus, als Entdecker der historischen Singularität, wobei es freilich galt, sich von den Gesetzmäßigkeiten loszusagen, die er der historischen Vergangenheit aufgepropft zu haben schien.'’ Was die Apologeten noch gelobt hatten, erntete bei den selbsterklärten Gegnern, angefangen bei Haym bis hin zu Popper, beißende Kritik: die scheinbare Bemäntelung der eigenen Philosophie mit einer Erfolgsgeschichte. Deutlich wurde sichtbar, wofür man die Geschichtsphilosophie hielt: für den fehlgeleiteten Versuch, die historischen Ereignisse mit einem seltsamen inneren Sinn aufzuladen, welcher jedem gewissenhaften Empiriker verborgen bleiben mußte.^“ Die Geschichtsphilosophie schien eine Geschichte zu erzählen, von der im dunkeln blieb, woraus sich ihre Behauptungen und Versicherungen speisten. Es blieb schlicht rätselhaft, wovon die Rede sein mochte, wenn bei Hegel wie selbstverständlich vom »Gang des Weltgeistes« oder den verschiedenen »Volksgeistern« die Rede war. Der Eindruck entstand, es seien real handelnde Subjekte damit gemeint, gleichsam ein »Geist« als eine Art Person?' Die Geschichte dieses »Geistes«, der laut Hegel obendrein zum »Bewußtsein seiner Freiheit« gelangen sollte, mußte insofern wie eine Gespensterprozession überindividueller historischer Mächte anmuten. Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Nietzsche Werke, Kritische Studienausgabe hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 1, München 1988, S. 255ff. Eine Erneuerung dieses Vorwurfs findet sich bei Jacques D’Hondt: Les lecons hägäliennes de l’histoire, in: Lucas; Planty; Bonjour (Hg.): Logik und Geschichte in Hegels System, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, S. 20ff. '* Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 17ff. Zur Kritik vgl. Mihäly Vajda: Ende der Geschichte oder Wiederkehr der Geschichte?, in: Bubner; Gramer; Wiehl (Hg.): Wiederkehr der Geschichte? Neue Hefte für Philosophie, Hft. 34 (1984), S. 19. ” Vgl. Ernst Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke, Göttingen 1958, S. 125; Theodor Litt: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1961, S. llff., sowie S. 32. “ Haym: Hegel und seine Zeit, S. 362. Vgl. V. a. Popper: Die offene Gesellschaft, S. 57; Ralph-Rainer Wuthenow: Subjekt und Subjektivität. Beitrag zu einer Begriffsgeschichte, in: Hahn; Sandkühler (Hg.): Subjekt der Geschichte. Theorien gesellschaftlicher Veränderung, Köln 1980, S. 59; Miguel A. Guisti: Hegels Kritik der modernen Welt. Über die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen und systematischen Grundlagen der praktischen Philosophie, Würzburg 1987, S. 322ff.; Adrian Peperzak: Logic and History in HegeTs Philosophy of Spirit, in: Fulda; Horstmann (Hg.); Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1993, Stuttgart 1994, S. 613.
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deren angebliches Tun und Treiben von vornherein ins Reich der Phantasie zu gehören schien. Gerade die Verwendung des Begriffs »Geist« erzeugte den Eindruck, Hegel habe die historische Realität durch die Erzeugung diffuser Kollektividentitäten erklären wollen und sich auf solche Weise nicht nur über differenziertere Interpretationen der Historie hinweggesetzt, sondern auch der autoritären Doktrin in den Sattel geholfen, individuelle Lebensäußerungen in der Geschichte zu ignorieren.^^ Alles schien dem Ziel zu dienen, den an sich planlosen historischen Ereignissen einen teleologischen Verlauf unterschieben zu können. Damit aber sei Hegel zum Vater des Historizismus geworden, des Glaubens an die Planbarkeit der Geschichte durch die teleologische, gesetzförmige Beschreibung der Historie.“ Von Hegel entstand auf solche Weise das Bild eines Metaphysikers. Es entstand der Eindruck, er habe Geschichte gleichsam als Reihe von Geschehnissen betrachtet, auf die man lediglich mit dem Finger zu weisen brauchte, um eine darin ablaufende Entwicklung zu entdecken.^“ Zur Widerlegung dieser in der Tat absurd erscheinenden Auffassung schien ein einziger Hinweis zu genügen, der denn auch von seiten der Kritiker mit beinahe reflexartiger Häufigkeit geäußert worden ist, daß nämlich die historische Realität schlechterdings viel komplexer sei, als die Konstruktionen Hegels den Anschein erweckten. Weil eine solche Bloßstellung freilich allzu brüskierend wirkte, als daß Hegels philosophiegeschichtliche Bedeutung noch irgend einsehbar gewesen wäre, hat die einschlägige Kritik nicht von ungefähr einen Großteil ihrer interpretativen Mühen darauf verwandt herzuleiten, wie es zu derlei geistigen Verirrungen überhaupt hatte kommen können. Der berüchtigte Vorwurf Hayms, Hegel habe lediglich die preußische Verfassungswirklichkeit geschichtlich rechtfertigen wollen, von Popper nachträglich zu vorauseilendem Gehorsam vulgarisiert,“ mündete in das Urteil der marxistisch-kritischen Tradition, der alternde Hegel habe die revolutionierenden, emanzipierenden Konsequenzen seiner eigenen Philosophie beschwichtigen und die Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft und Freiheit des Individuums durch die geschichtliche Rechtfertigung einer autoritären “ Topitsch: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, S. 19f. “ So der bekannte Vorwurf Poppers: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1987 (6. Auf!.), S. 34ff.; Berlin: Geschichte als Wissenschaft, in: Baumgartner; Rüsen (Hg.): Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt 1982 (2. Aufl,), S. 214ff. Dieser Gebrauch des Begriffs der »Metaphysik« entspricht hier wie auch im folgenden Hegels eigener Verwendung in der »Enzyklopädie«, vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 20: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), unter Mitarb. v. U. Rameil hrsg. v. W. Bonsiepen u. H. C. Lucas, Hamburg 1992 (i. f. GW 20), S. 69f.: »In diesem Glauben geht das Denken geradezu an die Gegenstände, reproducirt den Inhalt der Empfindungen und Anschauungen aus sich zu einem Inhalte des Gedankens und ist in solchem als der Wahrheit befriedigt. « (Hervorhebungen von mir, W. H.) “ Haym: Hegel und seine Zeit, S. 358f.; Popper: Die offene Gesellschaft, S. 39ff.
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Ordnung wieder kassieren wollen.^* Auch die durch Karl Löwith ausgelöste »Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie«” gilt letztlich den vermuteten Motiven Hegels für die Abfassung seiner geschichtlichen Lehre, wobei ihm freilich nunmehr statt des politischen ein religiöser Impetus unterstellt wurde.^® Löwith ging von der Annahme aus, daß Hegel die historische Realität in einer säkularisierten Selbsterlösungsabsicht gewaltsam in eine teleologische Konstruktion gezwängt habe.” So verschiedenartig diese gegen Hegel erhobenen Vorwürfe sind, so deutlich ist die ihnen gemeinsame Unterstellung: Stets spricht aus den verschiedenen Kritiken die Auffassung, Geschichte als etwas an sich Gegebenes auffassen zu können, als an sich vorhandene Reihe von Geschehnissen in bestimmter Zeitfolge, die nun Hegel unberechtigterweise und bar jeder empirischen Verifizierbarkeit mit der Projektion eines »Planes« überfrachtet habe. Der Eindruck entstand, daß Hegel die Geschichte zu etwas gemacht habe, was sie an sich gar nicht sei. Der Metaphysik-Verdacht, der sich auf solche Weise erhob, läßt sich gleichwohl entkräften, wenn man die Vorwürfe mit der Kritik vergleicht, die Hegel selbst gegen die Geschichtsschreibung seiner Zeit äußert. Tatsächlich finden sich bereits in seinem frühen Vorlesungsmanuskript Einwände genau gegen jenes skizzierte Bild, das ihn der Metaphysik überführen soll. Unmißverständlich weist er auf die Vordergründigkeit der Vorstellung hin, daß es an sich eine historische Realität von Ereignissen gebe, die sodann durch die Entwicklungsbeschreibungen des Historikers in ihrer Ursprünglichkeit verfälscht werde. Ja, er versucht sogar zu zeigen, daß die implizit mit diesem Bild verknüpfte Vorstellung, das Ganze der Geschehnisse lediglich empirisch Zusammentragen zu müssen, um die Geschichte zu kennen, gleichbedeutend damit sei, Geschichte als Leistung des Denkens gar nicht zu begreifen. Obwohl eine Reihe biographischer Umstände darauf hindeutet, daß Hegel mit der Geschichtsschreibung seiner Zeit vielfach allenfalls oberflächlich vertraut gewesen ist, gibt es wenig Zweifel an der grundsätzlichen Berechtigung dieser Kritik.®“ Auch wenn sich “ Stellvertretend für viele andere: Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied/Berlin 1962, S. 22ff.; Jürgen Habermas: Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: Habermas (Hg.): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt 1988 (5. Auf!.), S. 136ff.; Habermas: Zu Hegels Politischen Schriften, in: Habermas (Hg.), S. 168; ähnlich, wenngleich ohne politische Wertung, Charles Taylor: Hegel, Frankfurt 1993 (2. Auf!.), S. 477. Vgl. zur Kritik Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976, S. 116f. “ Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1990 (8.Aufl.), S. 13f. Zur Kritik vgl. Michael Gans: Das Subjekt der Geschichte. Studien zu Vico, Hegel und Foucault, Hildesheim/Zürich/New York 1993, S. 115f. * Vgl. Stefan Jordan: Hegel und der Historismus, in: Weisser-Lohmann; Köhler (Hg.): He-
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Hegel zur Illustration der entsprechenden Versäumnisse nicht gerade solcher Gegner bedient, die man als standesgemäße Repräsentanten der Geschichtsschreibung seiner Zeit ansehen würde, auch wenn die Polemik gegen von Müller, Scott oder Hugo vordergründig wirken muß, wo zugleich Humboldt, Savigny, Niebuhr und Ranke entweder keine oder nur geringe Beachtung erfahren, wäre es voreilig, aus diesem Umstand den Schluß zu ziehen, daß Hegels Urteil über die Geschichtsschreibung als Meinung eines Exoten einzustufen sei, der von der Disziplin nur wenig Ahnung gehabt habe. Betrachtet man seine Kritik vor einem vertieften Hintergrund dessen, was heute über die Entstehung und Entwicklung der neueren Geschichtsschreibung bekannt ist, so werden seine Vorwürfe nicht entkräftet, wie man erwarten könnte, sondern erhärtet. Auch wenn sich Hegels Kritik gegen ein Geschichtsverständnis richtet, als dessen Protagonisten von den neueren Historikern lediglich von Müller und Ranke genannt werden, und das vornehmlich sogar anhand von Beispielen aus Schriften des römischen Annalisten Livius veranschaulicht wird,^' geht es doch letztlich um eine Form der Geschichtsschreibung, deren jüngere Tradition bis auf Christian Wolff zurückreicht und für die vor allem das wissenschaftliche Selbstverständnis der späteren Göttinger Schule charakteristisch ist. Hegel selbst hat den Bezug zu dieser Tradition freilich nicht hergestellt. Sie dürfte ihm unbekannt gewesen sein. Gleichwohl kommen seine Einwände in bezug auf diese Tradition zu voller Deckung, so daß es sinnvoll ist, den entsprechenden Hintergrund heranzuziehen, um die Berechtigung der Kritik deutlich zu machen. Als maßgebliches Ziel dieser ersten Form der »reflectirenden« Geschichtsschreibung bezeichnet Hegel es, »die Übersicht der ganzen Geschichte eines Volkes, oder Landes, oder der ganzen Welt überhaupt zu haben; ... Solche Historienbücher sind ... nothwendig Compilationen aus schon verfertigten Berichten ursprünglicher förmlicher Geschichtsschreiber aus fernem einzelnen Nachrichten und Berichten.«” Mochte Hegel mit dieser Beschreibung vor allem auf das annalistische Werk von Livius samt seinen schematischen Überblicken und Zusammenfassungen gezielt haben, so haben gleichwohl noch die Göttinger Geschichtsschreiber Gatterer und Schlözer einen entsprechenden Ansatz zum Zentrum ihres wissenschaftlichen Programms erkoren. Ihr Ziel bestand in der Erstellung einer universalen Geschichtsenzyklopädie, die alle bekannten Völkerhistorien umfassen sollte.” Dieses Projekt ging auf eine Vorstellung zurück, die sich bereits bei Wolff formuliert fand, und derzufolge Geschichte eine gels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bonn 1998, S. 213f. Vgl. GW 18, S. 131ff. “Ebd.,S. 130. ” Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke, S. 4.
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Sammlung realer Geschehnisse darstellte, also eine katalogartige Zusammenfassung dessen, welche Taten sich zu welcher Zeit ereignet hatten.^“* In diesem Sinne sprach Gatterer davon, eine »Historie von der Historie« anfertigen zu wollen, eine Übersicht, was aus welcher Zeit von welchem Historiographen überliefert worden war. Seine Schrift über den »teutschen Livius« kürte den römischen Geschichtsschreiber sogar zu einem idealen Repräsentanten dieses Verfahrens, so daß es zumindest mittelbar gerechtfertigt erscheint, die Hegelsche Kritik an Livius auch auf das Programm der Göttinger Schule zu übertragen.” Worauf aber zielt die Kritik an solcher Geschichtsschreibung? Hegel räumt ein, daß es »für die Übersicht nothwendig« sei, »sich mit solchen reflectirten Vorstellungen zu helfen«.” Gleichwohl verrate diese Form der Geschichtsschreibung ein unaufgeklärtes und daher »abstraktes« Selbstverständnis. Denn weil sie, um einen enzyklopädischen Überblick der Geschichte zu bieten, den Inhalt historischer Quellen zwangsläufig »epitomiren[,] abkürzen, ... viele Begebenheiten und Handlungen weglassen« muß,” stellt sich laut Hegel ebenso zwangsläufig die Frage, aufgrund welcher Gesichtspunkte historische Ereignisse Teil einer Geschichte, weshalb diese Ereignisse selektiert und in der geschichtlichen Enzyklopädie aufgeführt werden. Wer legt fest, wann historische Ereignisse zugleich von geschichtlicher Bedeutung sind? Diese Frage wird, wie Hegel erkennt, in einer kompilierenden Geschichtsschreibung nur auf mystifizierende Weise beantwortet, nämlich so, als entscheide über die Berücksichtigung historischer Überlieferungen die Bedeutung der jeweiligen Ereignisse selbst - eine Bedeutung also, über welche die Ereignisse scheinbar an sich verfügen. Es entsteht der Eindruck, die Ereignisse selbst seien die Geschichte. Der Historiker hat vermeintlich nichts anderes zu tun, als diese Ereignisse empirisch zusammenzulesen.” Dies entspricht dem metaphysischen Geschichtsverständnis, das die verschiedenen Kritiker Hegel zum Vorwurf gemacht haben, und er selbst ist es, der es kritisiert. Er beschreibt sogar zwei verschiedene methodische Verfahrensweisen, die sich unter diesem metaphysischen SelbstChristian Wolff; Vernünfftige Gedanken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniß der Wahrheit den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilet, Halle 1727, §1,2. ’’ Johann Christoph Gatterer: Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers oder der teutsche Livius (1768), in; Blanke; Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1990, S. 452 - 466; vgl. auch Gatterer; Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen (1767), in: Blanke; Fleischer (Hg.), Bd. 1, S. 656; sowie August Ludwig Schlözer; Vorstellung seiner Universal-Historie (1772), in: Blanke; Fleischer (Hg.), Bd. 2, S. 672. “GW 18, S. 134. ’'Ebd.,S. 133. “Vgl. ebd.,S. 131.
§ 3. Aporien des metaphysischen Hegel-Bildes
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Verständnis ausgebildet haben: einerseits die erwähnte »trockene« Zusammenfassung, die Livius vorexerziert und welche die Göttinger Schule nachgeahmt hatte, andererseits aber auch den Versuch der kritischen Schule, schlechthin alle greifbaren historischen Ereignisse in die geschichtliche Überlieferung aufzunehmen und so den Eindruck geschichtlicher Vollständigkeit zu erwecken.’’ Das Beispiel des Livius markiert dabei das originäre Selbstverständnis einer metaphysischen Geschichte. Hegels Kritik des römischen Historiographen ist dabei wohl drastischer, als sie in bezug auf dessen selbsterklärte Nachfolger aus der Göttinger Schule gerechtfertigt wäre. Livius nämlich hat aus Hegelscher Sicht überhaupt das Problem der Bewertung der Historie übersehen, hat nicht bemerkt, daß der historische Kontext nicht an sich eine Geschichte darstellt, sondern daß der Geschichtsschreiber die Historie im nachhinein auf bestimmte Weise beurteilt. Livius habe nicht beachtet, daß »der Verstand« des Geschichtsschreibers selbst »der mächtigste Epitomator« sei.““ Wollten daher Schriftsteller wie er unmittelbar »den Geist der Zeiten schildern«, so Hegel ironisch, »pflegt es der eigne Geist der Herrn zu seyn«.“' So lasse Livius zum Beispiel »die alten Könige Roms[,] die Consuln und Heerführer alter Zeiten Reden halten, wie sie nur einem gewandten Advocaten ... der Livius’schen Zeit zukommen konnten«.“^ Auf solche Weise aber bleibe natürlich auch die Frage nach dem Begriff geschichtlichen Denkens müßig. Die metaphysische Fehleinschätzung, man lasse in der Geschichte die Ereignisse für sich selbst sprechen - die Folge einer Verwechslung von historischer Realität und geschichtlicher Bewertung -, entledigt sich vielmehr eo ipso der Frage, welchen Zweck es haben solle, Geschichte zu schreiben. Das metaphysische Bild, Geschichte sei die unmittelbare Realität der Ereignisse, der »res gestae«, wird an die Stelle eines Begriffs von Geschichte gesetzt. Statt eines solchen Begriffs appelliert es an die vermeintlich unmittelbare Anschaulichkeit des Geschehenen. Die Geschichtsschreibung aber verzichtet damit, wie Hegel später auch gegenüber Görres hervorgehoben hat, auf eine Begründung ihres historischen Interesses an entsprechenden Rekonstruktionen.“’ »Vgl. ebd.S. 134. “Ebd.,S. 133. Ebd.,S. 131. “ Ebd. {Ergänzung von mir, W. H.). Die Altertumsforschung hat inzwischen richtiggestellt, daß römischen Hofhistoriographen wie Livius oder Sallust derlei vermeintliche Fehler keineswegs aus bloßer philologischer Naivität unterlaufen sind, sondern daß sich im Gegenteil der bewußte Wille dahinter verbarg, die Geschichtsschreibung für politische Zwecke zu instrumentalisieren und daher entsprechend rhetorisch zu präsentieren. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rezension. Über Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte. Drei Vorträge, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität in München von J. Görres, in: Werke. Auf der Grundl. d. Werke v. 1832-1845 neu edierte
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
Es genügen nur wenige Hinweise, um zu zeigen, daß dieses metaphysische Bild auch für das Geschichtsverständnis der deutschen Aufklärung und der Göttinger Schule charakteristisch und damit noch zur Zeit Hegels für das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung nicht ohne Bedeutung gewesen ist. Obschon man hier das Problem der Perspektivität geschichtlicher Bewertung im Gegensatz zum Hegelschen Livius freilich erkannt hatte, glaubte man es doch auf eine formale, technische Weise lösen zu können. So unterschied zwar der Wolff-Schüler Chladenius zwischen Historiographie und ihrer historioskopischen Aneignung durch den Geschichtsschreiber, war jedoch der Auffassung, diese Differenz in Anlehnung an Leibniz gleichsam wie ein optisches Problem behandeln zu können, nämlich lediglich die verschiedenen Blickwinkel der Historiographen in bezug auf bestimmte Ereignisse, deren verschiedene »Sehepunkte«, vergleichen zu müssen, um aufgrund dieses Vergleichs einen idealen Ereignisverlauf rekonstruieren zu können.'*^ Diese Vorstellung projizierte Gatterer auf das Verfahren der Quellenkritik, indem er glaubte, den unmittelbaren Inhalt von Geschehnissen von ihrer partialen Bewertung durch einen Historiographen exakt unterscheiden zu können. Darin äußerte sich die Vorstellung, es gebe jenseits kontingenter Bewertungen der Ereignisse die eine historische Realität, die zwar von Griechen, Römern oder Mönchen verschiedenartig dargestellt worden sei, sich jedoch aus dem Gerüst ihrer kontingenten Betrachtungsweisen lösen lasse, um in unmittelbarer Reinheit angeschaut zu werden."’’ Wenn daher Gatterer und Schlözer für das entsprechende Projekt einen methodischen Rahmen zu liefern können glaubten, nämlich den »Plan« einer kompletten Weltgeschichte, einen skizzenartigen Überblick aller historischen Epochen sowie der jeweils einschlägigen Zeugnisse, so hatte dieser »Plan« den Zweck, als Folie der geschichtlichen Ausarbeitung jener historischen Gesamtrealität zu dienen.^*’ Ein solcher »Plan« wurde zum Muster der metaphysischen Geschichte schlechthin. Von einem solchen Versuch, eine Enzyklopädie der vermeintlichen historischen Gesamtrealität zu schaffen, unterscheidet sich in Hegels Augen der Ausgabe, hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Bd. 11: Berliner Schriften 1818-1831 (i. f. TW 11), Frankfurt 1986, S. 487-513, hier v. a. S. 493. ■''' Vgl. Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit einer Einl. v. Ch. Friedrich u. einem Vorw. v. R. Koselleck, Wien/Köln/Graz 1985 (Nachdr. d. Ausg. v. 1752), S. 7ff. sowie S. 363f.; vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990 (6. Aufl.), S. 186f.; Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Aus dem Nachl. hrsg. v. J. Boilack u. H. Stierlin, Frankfurt 1975, S. 27ff. Vgl. Gatterer: Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers, S. 453f., sowie Gatterer: Vom historischen Plan, S. 627. “ Vgl. ebd., S. 623 sowie S. 634; sowie Schlözer: Vorstellung seiner Univeral-Historie, S. 663.
§ 3. Aporien des metaphysischen Hegel-Bildes
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Ansatz Rankes allenfalls insofern, als letzterer das Gewicht statt auf eine allgemeine Übersicht eher auf die »einzelnen Züge« der Historie gelegt habe. Anders als Livius oder auch noch von Müller habe er zwar »nicht durch eigene Verarbeitung die alte Zeit reproduciren ... [,] sondern durch sorgfältige Treue ein Bild derselben geben« wollen, doch sei »die bunte Menge von Detail, von kleinlichen Interessen, Handlungen, ... Privatsachen« in seinen Werken nicht dazu geeignet, »ein Ganzes«, einen »allgemeinen Zweck« der Geschichtsschreibung zu vermitteln.'*^ Es sei unklar, welchem Zweck die »Ausmahlerey in Detail mit den kleinen Zügen der Zeit« überhaupt dienen solle. Auch hier tritt die Suche nach der einen historischen Realität, gekleidet in Rankes Frage, »ob eine völlig wahre Geschichte möglich ist«, an die Stelle der Frage nach dem Begriff der Geschichte, nach dem Zweck geschichtswissenschaftlichen Tuns.'** Dabei ist es gerade der Rankesche Anspruch auf eine möglichst vollständige Rezeption der Historie, der die Aporie des metaphysischen Geschichtsbildes deutlich werden läßt. Wenn es die eine historische Realität gab, wie wollte man sie auf eine rekapitulierbare Zahl von Ereignissen beschränken? War die Menge zu berücksichtigender Ereignisse nicht unerschöpflich, zerfiel nicht die Geschichte - mochte auch, wie Hegel bemerkt, alles »historisch richtig« sein - »in die vielen zufälligen Einzelheiten«? Weshalb man Geschichte betreiben solle, werde auf solche Weise »um nichts klarer, [sondern] im Gegenteil verworren«.^’ Man solle derlei daher, so Hegel, »den Walter Scottschen Romanen überlassen«.’" Damit äußert er dieselbe Kritik, als deren scheinbar originäre Protagonisten später Schopenhauer und Nietzsche aufgetreten sind, die Kritik an einem selbstvergessenen historischen Sammlertum, welches Nietzsche mit Blick auf den Historismus seiner Zeit von der »antiquarischen Manier« der Geschichtsschreiber sprechen ließ, den »Staub bibliographischer Quisquilien« fressen zu wollen.’* Mit Nietzsche aber ist es Hegel als der vermeintliche Vater des Historismus, der erkannt hat, daß das metaphysische Bild von Geschichte als einer an sich existierenden historischen Realität und Singularität, den Begriff von Geschichte nicht faßt, sondern auflöst.
" GW 18, S. 134; zu Johannes von Müller vgl. Otto Pöggeler: Der Geschichtsschreiber Johannes von Müller im Blickfeld Hegels, in: Jamme; Pöggeler (Hg.): Johannes von Müller Geschichtsschreiber der Goethezeit, Schaffhausen 1986, S. 302. “ Leopold V. Ranke: Aus Werk und Nachlass, hrsg. v. W. P. Fuchs u. Th. Schieder, Bd 1, München/Wien 1964, S. 240. "GW 18,S. 135 (Ergänzung von mir,W. H.). “Ebd. Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. L. Lütkehaus, Bd. 2, Zürich 1988, S. 510ff.; Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 264.
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$ 4. Probleme des hermeneutischen Hegel-Bildes Im Vergleich zum geäußerten Metaphysik-Verdacht hat die These, daß Hegels Geschichtsphilosophie eine fragwürdige Form der Geschichtsschreibung sei, in der Tradition Heideggers eine weitaus differenziertere Ausgestaltung erfahren. Vor allem Hans-Georg Gadamer hat den Eindruck revidiert, daß Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie eine metaphysische historische Realität und Ereignisentwicklung habe abbilden wollen. Es wurde richtiggestellt, daß Hegel keiner Geschichtsmystifizierung Vorschub geleistet, sondern im Gegenteil erst das hermeneutische Fundament für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung der historischen Schule gelegt hat. Daß Geschichte nicht darauf zielt, eine Chronik an sich gegebener Tatsachen aus den historischen Überlieferungen herauszuschälen, sondern anhand der Überlieferungen eine spezifische Verfassung und Entwicklung der historischen Lebensformen rekonstruiert, - dies erkannt zu haben, ist ein Verdienst, das Gadamer mit vollem Recht Hegel zuschreibt.” Lob und Tadel freilich halten sich die Waage, denn in bezug auf die Ausführung entsprechender Rekonstruktionen hat Gadamer zugleich auch das aus seiner Sicht wesentliche Hegelsche Versäumnis moniert. So lautet der zentrale Vorwurf, daß Hegel, anstatt sich auf die Rekonstruktion historischer Lebensformen zu beschränken, mit seiner These von der Selbstbewußtwerdung des »Weltgeistes« über die Grenzen der ürteilsfähigkeit des Historikers hinausgeschossen sei. Statt im Rahmen der eigenen, selbst schon historisch begrenzten Perspektive Geschichte zu schreiben, habe er für seine These einen gleichsam übergeschichtlichen Wahrheitsanspruch eingefordert und somit schlicht mehr zu wissen vorgegeben, als ein Historiker wissen könne. Die ürsache des geschichtsphilosophisch Fabulösen war schnell gefunden: die Installierung des ominösen Hauptakteurs der Hegelschen Geistesgeschichte, eben des »Weltgeistes«. Nicht nur wisse man, mit Ranke gesprochen, nicht, »wer dies eigentlich gewesen«.” Auch der seltsame Vorsatz, die Absichten dieses »Weltgeistes« zu erkennen, lasse sich nicht anders begreifen, als daß der Verfechter dieser Absicht offenbar von einem übergeschichtlichen Blickpunkt aus das Weltgeschehen habe betrachten wollen. Die These der angeblichen Selbstbewußtwerdung des »Weltgeistes« sei eine Behauptung jenseits aller möglichen geschichtlichen Erkenntnis, die offenbar durch ihren überhöhten Blickwinkel gegen mögliche geschichtliche Einwände habe immunisiert werden sollen.” Gegen diese Selbstüberschätzung des “ Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 202f. ” Richard Wilhelm Schmidt: Die Geschichtsphilosophie G. B. Vicos. Mit einem Anhang zu Hegel, Würzburg 1982, S. 179. ■’’ Gadamer: Hegel und der geschichtliche Geist, in: Gadamer: Neuere Philosophie II, Pro-
§ 4. Probleme des hermeneutischen Hegel-Bildes
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alten Hegel sei der junge Hegel ins Feld zu führen, der in der »Phänomenologie des Geistes« der Einsicht in die Bewegtheit geschichtlichen Verstehens, der Einsicht in die perspektivische Begrenztheit geschichtlichen Wissens den Weg bereitet habe.®^ Hegels spätere Geschichtsphilosophie dagegen mache den frühen Einblick in das Wesen geschichtlichen Verstehens zunichte. Sie entführe dieses Verstehen von der Ebene seiner kommunikativen Genese, von der Ebene des Fragens und Antwortens, der Gadamerschen »Dialogik« des Seins,’*' auf die hybride Ebene einer geschichtlichen Wahrheit jenseits aller subjektiven Bewertung, um so schließlich, wie schon Heidegger kritisiert hatte, zum hohlen Bildungsgebäude einer angeblichen Tradition zu verkommen.” War Hegel zunächst als metaphysischer Geschichtsschreiber erschienen, so markierte er nunmehr einen unkritischen Adepten der Geschichtswissenschaft, der jenseits des Forschungsbetriebes, jenseits einer unausgesetzt fortschreitenden Interpretation der Vergangenheit, ein wahres Ganzes von Geschichte habe entwerfen wollen.’* Mit welchem Recht, so mußte zwangsläufig die Frage lauten, ließ sich ein solcher Wahrheitsanspruch erheben, wo doch per defmitionem jede Geschichte selbst geschichtlich, selbst vergänglich war? Hätte nicht Hegel in seiner »Weltgeschichte« beachten müssen, daß sein Urteil in ein fortschreitendes »Überlieferungsgeschehen« eingebettet blieb und eine Geschichte über den angeblichen »Weltgeist« diesen Rahmen dialogischen Verstehens und Überlieferns sprengen mußte? Offenbar war auch er einem metaphysischen Geschichtsbild insofern verhaftet geblieben, als er in eine letzte geschichtliche Wahrheit zu dringen versucht hatte. Er hatte scheinbar nicht mehr getan, als die Wunschvorstellung einer an sich gegebenen historischen Tatsachenwahrheit durch das nicht minder metaphysische Ideal der Wahrheit seiner eigenen geschichtlichen Bewertungen zu ersetzen. Auch in diesem Falle gibt es jedoch Indizien dafür, daß sich die Kritiker in Hegels Absichten getäuscht haben könnten. Schon er selbst gibt Hinweise darauf, daß die bloße Berufung auf den Inhalt einer Geschichte gar nicht ausreicht, um das eigene Interesse an Geschichte, ja um die geschichtliche Praxis als ganze zu rechtfertigen. Um zu begreifen, »was [der] Geschichtschreiber im Allgemeinen sich vorsetzt«, müsse man vielmehr, so Hegel ausdrücklich, dessen »gegenwärtiges Interesse« in Augenschein neh-
bleme. Gestalten, Tübingen 1987 S. 388f. ” Ebd., S. 389f. “ Gadamer: Das Erbe Hegels, in: Gadamer: 1987, S. 470. ” Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993 (17. Aufl.), S. 21; vgl. auch Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt 1968, S. 2f. '* Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 295.
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
men.“’ Die geschichtliche Rekonstruktion der Historie sei als besondere und eigenständige Leistung zu begreifen, als Leistung des Denkens, die in einem originären Interesse wurzelt. Hegel charakterisiert diese Einsicht als allgemeine Voraussetzung einer »pragmatischen« Geschichte, von der auszugehen sogar derart selbstverständlich sei, daß eine solche Geschichte keines eigenen Namens bedürfe.“ Sein Hinweis gilt folglich der Tatsache, daß sich der Zweck von Geschichte eben nicht in bestimmtem geschichtlichem Wissen erschöpft - und sei es auch, daß dieses Wissen als Maximum des geschichtlich Wißbaren inszeniert werde. Er selbst firagt nach den »pragmatischen« Gründen, weshalb eine Interpretation der Vergangenheit überhaupt als wissenswert erscheint. Die nominell »pragmatische« Geschichtsschreibung kritisiert er dabei insofern, als diese ihre Rekonstruktionen zwar anders als die metaphysische Geschichtsschreibung dezidiert als Produkt eines eigenen Interesses ausweist, für dieses Interesse jedoch voreilige Begründungen liefert. Statt der Frage nachzugehen, worin dieses Interesse grundsätzlich besteht, beschränke sie sich darauf, ein spezifisches Interesse an den historischen Tatsachen oder Geschehnissen als solchen geltend zu machen. Die Geschichtsauffassung, die Hegel in dieser Hinsicht kritisiert, ist die Vorstellung einer »historia magistra vitae« samt ihrer aufgefächerten Wirkungsgeschichte vom Humanismus und der Renaissance bis hin zu Herder.** Hegel erkennt, daß die »pragmatische« Geschichtsschreibung in ein metaphysisches Bild von Geschichte zurückfällt, wo immer sie ihr Interesse an der Historie mit Lehren begründet, die man aus den Geschehnissen als solchen ziehen könne, so daß diese Lehren als inhärente Konsequenz der Geschehnisse selbst erscheinen. Diese Vorstellung, so Hegel, kennzeichne zum Beispiel den »kleine[n] psychologische[n] Geist«, der »den Triebfedern der [historischen] Subjecte aus keinem Begriff [als dem] von besondren Neigungen und Leidenschaften nachgeht«, der also vorgibt, zwar mit Interesse, doch gleichsam von außen zu beobachten, was in der Historie vor sich gegangen ist, und damit wie der metaphysische Geschichtsschreiber »ebenso fort compilierend erzählt, und den Begebenheiten und Individuen [lediglich] von Zeit zu Zeit mit einem moralischen Einhauen in die Flanke fällt, mit erbaulichen christlichen und andern Reflexionen aufwacht aus dieser tröselnden Erzählerey«.*^ Dieses polemisch charakterisierte Geschichtsverständnis, das an frühe humanistische Schrift-
® GW 18, S. 135 sowie S. 136 (Ergänzung von mir, W. H.). “ Vgl. ebd. die< Geschichte - gleichgültig, was das eigentlich sei - in das Schema ihrer Projektionen habe pressen wollen. Daß das »Treiben der Philosophie« insofern mit dem Zweck der Geschichtswissenschaft »in Widerspruch zu stehen« schien, war kaum mehr als eine Trivialität - eine Trivialität allerdings, die Hegel selbst bereits als Ausdruck eines offenkundigen Mißverständnisses zurückgewiesen hat.'"^ Daß sein Interesse in Wirklichkeit der Frage gegolten hat, auf welchen Zweck geschichtliche Praxis überhaupt angelegt ist, worum es sich bei dem »Gegebenen« der Geschichte überhaupt handelt, verrät eine Reihe von Fingerzeigen in seinem späten Vorlesungsmanuskript, welche in der Wahrnehmung der Kritiker zu offenbar vernachlässigenswerten Petitessen geschrumpft sind. Hegels Hinweis, daß das historisch »Gegebene« der Geschichtswissenschaft gar »nicht so unmittelbar darliegt«, wie es die Historiker in der Selbstgewißheit des Praktikers verkünden mochten, sondern »mannichfaltige, auch mit Denken verbundene Forschungen erfordert«, wirkte aber offenbar zu blaß, als daß jemand den Anspruch dahinter vermutet hätte, das genuine Interesse eben jenes geschichtlichen Denkens zu klä”GW 18, S. 139. ™ Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. v. R. Marx, Stuttgart 1978, S. 4 sowie S. 6. ■”'GW 18, S. 139. Ebd.
§ 6. Der Zweck geschichtlichen Denkens
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ren.'"' Daß man letzteres nun einmal nicht unterlassen könne, daß »[in] allem, was menschlich ist, Empfindung, Kenntniß und Erkenntniß, Triebe und Wille« ein »Denken« enthalten sei, welches »hiemit auch«, wie Hegel hinzusetzt, »in jeder Beschäftigung mit Geschichte enthalten« sein müsse, all das schien kaum mehr als ein Allgemeinplatz zu sein, von dem man sich allenfalls fragen mochte, weshalb Hegel so nachdrücklich mit ihm aufwartete.'"^ Der Hinweis, daß das »Gegebene« der Geschichte »nicht so unmittelbar« daliege, sondern »mannichfaltige, auch mit Denken verbundene Forschungen« erfordere, war aber tatsächlich alles andere als eine beifällige Bemerkung darüber, daß es sich bei Geschichte um etwas Gedachtes handelt. Daß es um wesentlich mehr ging, führt vollends eine Bemerkung vor Augen, die den vorausgegangenen Sätzen auf dem Fuße folgt. Wenn es demnach »einer Erläuterung oder wohl vielmehr einer Rechtfertigung zu bedürfen« scheine, »daß wir die Geschichte philosophisch behandeln wollen«, so lautet diese Rechtfertigung aus Hegelscher Sicht, daß »die Philosophie der Geschichte nichts anderes als die denkende Betrachtung derselben« sei.'“ Und obwohl auch der Inhalt dieser Bemerkung zunächst sehr allgemeiner Natur zu sein scheint, so ist doch unzweifelhaft, daß Hegel dem Wort von der »denkendejnj Betrachtung« der Geschichte eine besondere Bedeutung beigemessen hat. Der gesamte Passus seines Vorlesungsmanuskripts, der auf diese Formulierung zusteuert, stellt nämlich samt den scheinbar darin enthaltenen Allgemeinplätzen ein fast wörtliches Selbstzitat aus der Einleitung in die »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« dar. Die vermeintlich vernachlässigenswerte Bemerkung erhält dort überraschend scharfe Konturen, wenn Hegel analog zum geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript klarstellt, daß schlechterdings die Philosophie selbst »im allgemeinen als denkende Betrachtung der Gegenstände bestimmt werden« könne.'“ Hegel präzisiert diese Bemerkung in der »Enzyklopädie« sodann mit dem Hinweis, daß mit »denkender Betrachtung« die der Philosophie »eigentümliche Weise des Denkens« gemeint sei. Diese Präzisierung ist für das Verständnis seiner Geschichtsphilosophie von programmatischer Bedeutung. Sie erinnert daran, daß die Philosophie die Gegenstände ihres Denkens nicht auf der Ebene der bereits als gegeben unterstellten Bedeutungen behandelt, sie also nicht so auffaßt, wie sie aus dem üblichen Gebrauch unmittelbar vertraut sind, sondern die begrijfliche »Form« der Gegenstände reflektiert. Während gewöhnlich der »durchs Denken begründete, menschliche Gehalt des Bewußtseins zunächst nicht in Ebd. (Hervorhebung von mir, W. H). Ebd., S. 138 (Einschübe im Originaltext). Ebd. (Hervorhebungen im Originaltext). GW 20, S. 40 (Hervorhebung im Originaltext).
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
Form des Gedankens erscheint, sondern als Gefühl, Anschauung, Vorstellung«, als Gehalt folglich, der in seiner Unmittelbarkeit gar nicht reflektiert wird, gilt die »denkende Betrachtung« eben jener »Form« der unmittelbar präsenten Gedanken.'“^ Hegel stellt daher unmißverständlich fest, daß von den »Formen« des Denkens, wie sie in ihrer Unmittelbarkeit bestimmte Vorstellungen, Anschauungen oder Gefühle hervorrufen, jenes Denken zu unterscheiden sei, das sich selbst »als Form« zu begreifen vermag.'“* Das unscheinbare Wort von der »denkende[n] Betrachtung« bezeichnet nicht mehr und nicht weniger als diesen grundlegenden philosophischen Anspruch. Was dies in bezug auf die philosophische Behandlung der Geschichte bedeutet, tritt nun unmittelbar vor Augen. Es wird deutlich, daß Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie genau gegen jenes Vorurteil des Praktikers anzugehen versucht, welches zugleich das Verständnis seines Werkes am meisten behindert. Letztlich wendet er sich gegen den Glauben, Geschichte als Praxis nehmen zu können, deren genuine Bedeutung sich gleichsam von selbst versteht. Wo die historische Überlieferung an sich als Geschichte ausgegeben wird beziehungsweise die gängigen Methoden der Rekonstruktion als geschichtliche Praxis figurieren, ohne daß über den Zweck dieser Praxis Näheres verlauten würde, dort ist es Hegel, der die Frage nach der »Form« entsprechender Vorstellungen oder Anschauungen von Geschichte aufwirft. Tatsächlich versucht er, sich von der geschichtlichen Praxis selbst einen Begriff zu machen, die unmittelbare Vorstellung davon, was Geschichte sei und wie sie geschrieben wird, nicht als Gegebenheit zu unterstellen und zu akzeptieren, sondern zu ergründen, weshalb diese Vorstellung so ist, wie sie ist, mit einem Wort: die verborgene »Form« geschichtlichen Denkens »als Form« zu begreifen. Daß sie »die denkende Betrachtung« der Geschichte sei, erweist sich als Programm der Geschichtsphilosophie, welches sich dem kritischen Vorbehalt gegen ihre »substantialistischen« Deutungen entzieht. Was Hegel an der Forschungspraxis der Geschichtsschreiber vermißt, ist erklärtermaßen ein »begreifendes Erkennen« ihres Tuns, welches im konkreten Fall impliziert hätte, sich nicht an das >Gegebene< der historischen Fakten oder einer eingespielten Forschungspraxis zu klammern, sondern die eigene Vorstellung von Geschichte als spezifische »Form« des Denkens zu begreifen."” Die Einsicht, daß Hegel nach dem Zweck der geschichtlichen Praxis selbst gefragt hat, bedeutet daher die Wiedergewinnung seiner geschichtsphilosophischen Frage, ja die Wiederkehr der geschichtsphilosophischen Problematik überhaupt, sofern diese durch rezeptionsgeschichtliche
Ebd. (Hervorhebungen im Originaltext). Ebd. Vgl. ebd.
§ 6. Der Zweck geschichtlichen Denkens
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Vorbehalte verdeckt worden ist. Es handelt sich um eine Einsicht, die den Weg frei macht, um Hegels »denkende Betrachtung« der Geschichte, seinen Versuch, die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens auf den Begriff zu bringen, angemessen würdigen zu können. Freilich aber läßt auch ein solcher Zugriff auf Hegels Geschichtsphilosophie zunächst eine ganze Reihe von Fragen offen. Die Art dieses Zugriffs spricht sogar zum Teil derart gegen alle äußere Evidenz, daß der annoncierte Weg der Interpretation kaum minder abgründig erscheint als die ausgetretenen rezeptionsgeschichtlichen Pfade selbst. Wie, so möchte man vor allem fragen, läßt sich die These aufrecht erhalten, daß Hegel wesentlich den genuinen Zweck geschichtlichen Denkens habe ergründen wollen, wenn doch der bei weitem größte Teil der Geschichtsphilosophie zweifelsohne eine Geschichtsdeutung ist? Worauf gehen selbst die theoretisch gehaltenen Bemerkungen der Einleitung der Geschichtsphilosophie aus, wenn nicht auf die Präsentation jenes Projekts der »Weltgeschichte«, das bekanntlich den Prozeß einer Selbstbewußtwerdung des »Weltgeistes« abbilden soll? Wenn Hegel programmatisch bemerkt, der überhaupt »einzige Gedanke« der Geschichtsphilosophie sei »der einfache Gedanke der Vernunft«, nämlich die Überzeugung, »daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist«, - was ist dann anderes mit dieser Formulierung gemeint als der Bauplan zu einer Geschichte?"“ Daß sich hinter Hegels Rede von der »Vernunft« in der Geschichte gleich eine ganze Reihe prätendierter Erkenntnisse verbirgt, deren letzte und wichtigste über eine geschichtliche Form verfügt, läßt sich nicht leugnen. Es ist jedoch etwas anderes, ob man Hegels Geschichtsphilosophie als bloße Geschichtsdeutung aufifaßt, welche eine bereits gegebene Geschichte mit sachfremden Projektionen verfälscht, oder ob man erkennt, daß sein Begriff der Geschichte anstelle bloßer Geschehnisse oder deren Deutung wesentlich die geschichtliche Praxis als solche bezeichnet. Setzt man letzteres voraus, dann wird schnell deutlich, daß sich hinter der Rede von der »Vernunft« in der Geschichte eine viel komplexere Struktur verbirgt als jene des metaphysischen Vorhabens, auf scheinbar an sich gegebene Geschehnisse irgendeine Entwicklungsbeschreibung zu projizieren. Es läßt sich zeigen, daß der Begriff der »Vernunft« statt dessen gleich auf mehreren Ebenen zur Charakterisierung des Phänomens der Geschichte dient und die Frage, inwiefern die realen Geschehnisse Ausdruck einer »vernünftigen« Entwicklung sind, erst auf der obersten dieser Ebenen behandelt wird. Bevor diese Ebene daher überhaupt zugänglich wird, müssen mehrere systematische Schritte rekapituliert werden, die Hegel zuvor unternimmt und welche begreiflich machen. GW 18, S. 140 (Hervorhebung von mir, W. H.).
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
in welche verschiedenen Bedeutungen sich die Rede von der »Vernunft« in der Geschichte auffächert. Die entscheidende Voraussetzung ist dabei immer dieselbe: Statt als bloße Häufung von Ereignissen begreift Hegel Geschichte als das Produkt einer entsprechenden rekonstruktiven Praxis und damit als spezifizierbare Leistung des Denkens. Bei seiner Behauptung, daß die Geschichte »vernünftig« ist, handelt es sich nicht um ein Attribut, das einer an sich gegebenen, an sich >unvernünftigen< Geschichte zugeschrieben werden würde, sondern es handelt sich um den Versuch, Geschichte als Phänomen zu charakterisieren, das eben deshalb, weil es eine Leistung des Denkens ist, eine spezifische »vernünftige« Leistung darstellt. Es handelt sich um den Versuch zu zeigen, worauf geschichtliches Denken angelegt ist, worin seine praktische Bedeutung besteht. Und so zweifelhaft es zunächst erscheinen mag: dieser Anspruch charakterisiert tatsächlich das gesamte Projekt der Geschichtsphilosophie, mithin selbst noch jenen Teil, der sich scheinbar kaum als Philosophie, sondern allenfalls als Geschichtsschreibung bezeichnen läßt. Daß die »denkende Betrachtung« der Geschichte schließlich in die »Weltgeschichte« führt, liegt in der Betrachtung der Verfaßtheit des geschichtlichen Denkens selbst begründet. Wehalb es erforderlich ist, dieses geschichtliche Denken in seinen konkreten Emanationen und damit in der realen Geschichte gemeinschaftlicher Lebensformen zu veranschaulichen, wird sich noch näher zeigen. Auch die »Weltgeschichte« gehört zum Hegelschen Projekt, den genuinen Zweck geschichtlicher Praxis auf ihren Begriff zu bringen, fügt sich also in die Konzeption des Ganzen. Derlei dem Gehalt nach tentative Behauptungen bedürfen freilich einer Begründung. Wenn die Interpretation im folgenden der Hegelschen These nachgehen wird, daß es »in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen« sei, so wird daher die Aufmerksamkeit maßgeblich der Frage gelten müssen, weshalb und inwiefern mit der »Vernunft« in der Geschichte tatsächlich eine spezifische Leistung des Denkens charakterisiert wird. Im weiteren Gang der Untersuchung werden vier verschiedene Ebenen unterschieden, auf denen sich die »vernünftige« Konstitution geschichtlichen Denkens manifestiert vier Ebenen, die Hegel in seiner Geschichtsphilosophie einführt und voneinander unterscheidet. Nur aus ihrer Gesamtheit wird Hegels philosophische Konzeption begreiflich. Daß »Vernunft« in der Geschichte ist, bezieht sich dabei zunächst auf die Konstitution der Geschichtsschreibung als solche: Eine Praxis der Rekonstruktion historischer Lebensäußerungen kann es nur geben, wenn man unterstellt, daß sich aus historischen Zeugnissen das Bild einer bestimmten gemeinschaftlichen Lebensverfassung zusammensetzen läßt. Wie sich noch genauer zeigen wird, markiert daher »Vernunft« gleichsam eine unverzichtbare Arbeitshypothese des Historikers, bedeutet
§ 6. Der Zweck geschichtlichen Denkens
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die zentrale Voraussetzung, in der sich die geschichtliche Praxis konstituiert (Teil II). Fragt man nun nach dem genuinen Zweck einer solchen Praxis, so wird deutlich, daß Rekonstruktionen gemeinschaftlicher Institutionen und ihrer Entwicklung nicht nur insofern »vernünftig« sind, als sie entsprechend konstituiertes Leben abbilden, sondern daß sie zur Möglichkeit eines solch »vernünftig« verfaßten Lebens zugleich selbst einen wesentlichen Beitrag leisten. Es zeigt sich, daß nur der Aufweis einer bestimmten Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen die Voraussetzungen dafür schafft, sich von der Gestaltung des eigenen Lebens eine bestimmte Erwartung zu bilden, ja daß sich im geschichtlichen Denken wesentlich die artikulierte Hoffnung auf entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten konstituiert (Teil III). Die praktische Relevanz dieser Leistung wird schnell deutlich: Anders als durch die geschichtlich vermittelte Erwartung bestimmter, gemeinschaftlich gegebener Handlungsoptionen ist der einzelne nicht in der Lage, sein Handeln selbständig zu orientieren. Geschichte ist für ihn Bedingung der Möglichkeit, um bestimmte Handlungsvorsätze fassen zu können und damit schlechthin die konstitutive Bedingung seiner Autonomie (Teil IV). Dies vorausgesetzt, wird schließlich auch klar, weshalb Hegel eine »Weltgeschichte« als notwendig erachtet, um das geschichtliche Denken auf seinen Begriff zu bringen. Die Einsicht, daß autonomes Urteilen und Handeln geschichtlich bedingt ist, bedeutet nämlich noch nicht, sich dieser Bedingtheit auch bewußt zu sein. Das entsprechende Bewußtsein, das Wissen um die Möglichkeit der »vernünftigen« Selbstbestimmung, hat sich vielmehr, so Hegel, selbst erst geschichtlich entwickeln müssen. Was die »Weltgeschichte« daher leistet, ist nichts anderes, als den entprechenden Prozeß der Selbstbewußtwerdung der »Vernunft« zu rekonstruieren. Sie liefert den realgeschichtlichen Beleg für die Bewußtwerdung der Einsicht, daß die Kontinuität des gemeinschaftlichen Lebens nicht auf bloßem Gehorsam oder moralischer Prinzipientreue, sondern auf der »vernünftigen« Fähigkeit beruht, das eigene Handeln geschichtlich zu orientieren. Indem er dies erkennt, verschafft sich der einzelne das Bewußtsein der schlechthin gemeinschaftskonstitutiven Bedeutung seiner Autonomie und wird damit frei. Er wird fähig, sich zur eigenen Autonomie zu bekennen, zu begreifen, daß auch im Interesse einer Kontinuität des gemeinschaftlichen Lebens primär kein Regelfolgen, kein Gehorsam, sondern seine »Vernunft« gefragt ist. Mit einem Wort, die Geschichte >rechtfertigt< seine Autonomie, und genau dies ist es, was sich als Hegelsche >Theodizee der FreiheiU erweisen wird (Teil V). Mit der Einsicht, daß allein geschichtliches Denken die gemeinschaftliche »Welt« gleichsam im Innersten zusammenhält, findet sich auch der genuine Zweck geschichtlicher Praxis auf seinen Begriff gebracht. Es offenbart sich, worauf geschichtliche Praxis in letzter Konsequenz immer entworfen ist.
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I. Die geschichtsphilosophische Frage
Eine Rekonstruktion der Entwicklung jeweiliger gemeinschaftlicher Lebensformen oder Institutionen leistet nichts anderes, als daß sie dem einzelnen in seiner je konkreten Situation eine spezifische Erwartung verschafft, welche es ihm gestattet, sein Handeln selbständig zu orientieren. Geschichtliche Praxis erweist sich als Instrument der Emanzipierung, ermöglicht dem Handelnden, sich in spezifischen Situationen für konkrete Optionen des Handelns selbständig zu entscheiden. Hegels Geschichtsphilosophie aber, die den genuinen Zweck geschichtlichen Denkens auf den Begriff bringt, ist damit nichts weniger als eine »substantialistische« Geschichtsphilosophie. Wenn Popper als Impetus der letzteren zutreffend den Glauben bezeichnet, »daß >die Geschichte selbst< oder >die Geschichte der Menschheit< durch ihre inhärenten Gesetze uns, unsere Probleme, unsere Zukunft und sogar unseren Gesichtspunkt bestimmt«, so setzt sich Hegels Geschichtsphilosophie das genaue Gegenteil zum Ziel."' Statt nach der Determination des Menschen durch die Geschichte zu fragen, versucht sie zu klären, inwiefern das Denken selbst die Geschichte bestimmt und welchen Zweck es mit geschichtlicher Praxis verfolgt. Die Freilegung dieser genuin geschichtsphilosophischen Problematik bedeutet die entscheidende Voraussetzung, um Hegels Projekt einer »Philosophie der Weltgeschichte« begreifen zu können.
Popper: Die offene Gesellschaft, S. 316.
II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
§ 7. Das Problem der »Vernunft in der Weltgeschichte« Hegels Behauptung, »daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen« sei,' genießt den zweifelhaften Ruf eines philosophischen Skandalons. Mehr als andere Reizworte der Geschichtsphilosophie hat gerade diese Behauptung den Verdacht hervorgerufen, daß Hegels Werk allenfalls eine fehlgehende Geschichte sei. Der Befund freilich, daß statt dessen eine Ergründung des geschichtlichen Denkens selbst den Gegenstand der Hegelschen Bemühungen darstellt, setzt auch das Wort von der »Vernunft in der Weltgeschichte« in ein anderes Licht. Während eine erste Betrachtung den Eindruck hatte erwecken können, Hegel habe lediglich die historische Realität in ein starres geschichtliches Schema gepreßt und offenbar gleichsam an die >unsichtbare Hand< der »Vernunft« in den realen Geschehnisse geglaubt, legt der Zugriff auf seine genuin philosophische Fragestellung eine andere Vermutung nahe. Hegels Wort von der »Vernunft in der Weltgeschichte« bezeichnet demnach keinen deus ex machina hinter den realen Geschehnissen, sondern verweist auf die geschichtliche Praxis als solche, welche auf bestimmte Weise eine »vernünftige« Leistung darstellt. Daß sich in der Geschichte »Vernunft« äußert, ist also keine bloße Behauptung über die Ereignisse beziehungsweise deren spezifischen Verlauf, sondern eine Charakterisierung, die das Ganze der geschichtlichen Praxis bezeichnet. Erst wenn man daher begreift, inwiefern diese Praxis als solche »vernünftig« ist, inwiefern sie zur Konstitution eines »vernünftig« verfaßten Lebens gehört und dazu einen spezifischen Beitrag leistet, wird auch Hegels wesentlich komplexere Behauptung verständlich, daß sich eine »Weltgeschichte« rekonstruieren läßt, in der sich eine »vernünftige« Entwicklung vollzieht. Daß Hegel tatsächlich eine dementsprechende Verschränkung von »Vernunft« und Geschichte vor Augen hat, »Vernunft« sich nicht hinter den Geschehnissen als solchen verbirgt, sondern geschichtliche Praxis als Phänomen eines »vernünftig« konstituierten Lebens auf ihren Begriff gebracht werden soll, signalisiert bereits eine kurze und unscheinbare Hegelsche Bemerkung. Mit dem Gestus, etwas geradezu Selbstverständliches zu äußern. GW 18.S. 140.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
erläutert er im geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript von 1830 seine Behauptung, daß es »in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen« sei, mit den Worten: »Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Geschichte als solcher überhaupt.«^ Mit anderen Worten, es ist aus Hegelscher Sicht gar nicht möglich, Geschichte anders denn als »vernünftiges« Phänomen zu begreifen. Einer solch rigiden Behauptung aber läßt sich nur dann eine sinnvolle Bedeutung abgewinnen, wenn sie nicht einfach als Bemerkung über »Vernunft« als inhärente Eigenschaft der Geschehnisse, sondern als Einsicht in die »vernünftige« Konstitution geschichtlicher Praxis insgesamt verstanden wird. Wenn Hegel erklärt, daß »in Ansehung der Geschichte als solcher« stets »Vernunft« vorausgesetzt werden müsse, bedeutet dies folglich, daß sich Geschichte überhaupt nur als spezifische Leistung eines »vernünftigen« Denkens begreifen läßt. Abseits der »Vernunft«, abseits einer »vernünftigen« Konstitution des gemeinschaftlichen Lebens, gibt es schlechterdings keine Geschichte, wie auch immer man sie als Phänomen beschreiben mag. Folgerichtig besteht die entscheidende Frage auch nicht darin, ob es in der Geschichte »vernünftig« zugeht - dies ist vielmehr, soweit man Hegel folgt, eine Selbstverständlichkeit -, sondern worin die spezifische »vernünftige« Leistung von Geschichte besteht. Worin besteht das spezifisch geschichtliche Denken und worauf zielt es ab? Dies ist Hegels eigentliche geschichtsphilosophische Frage, und dieser Frage gilt es nachzugehen. Daß tatsächlich Hegels gesamte Geschichtsphilosophie auf die Beantwortung dieser Frage angelegt ist, die verschiedenen Ebenen dieser Philosophie dazu dienen, Geschichte als Phänomen »vernünftigen« Denkens zu bestimmen, mag gleichwohl fragwürdig wirken, da doch Hegel vornehmlich das Projekt einer »Weltgeschichte« zu verfolgen scheint, die ausdrücklich auch vom Gang der realen Geschehnisse selbst handelt. Der Widerspruch, der zwischen der skizzierten These und der äußeren Gestalt der Geschichtsphilosophie zu entstehen scheint, ist jedoch vordergründig. Es wird sich zeigen, daß auch die »Weltgeschichte«, auch die scheinbar so problematische Behauptung einer geschichtlichen Selbstbewußtwerdung des »Weltgeistes« zu dem Programm gehört, das geschichtliche Denken selbst auf seinen Begriff zu bringen. Die Aufgabe der »Weltgeschichte« lautet dabei, dasjenige, was sich als genuine Leistung geschichtlichen Denkens erweist, seinen spezifischen Beitrag zur »vernünftigen« Konstitution eines gemeinschaftlichen Lebens, als tatsächlich vorhandenen, realen Bestandteil des Denkens auszuweisen. Es soll gezeigt werden, daß Geschichte nicht bloß in der grauen Theorie des Philosophen ein Phänomen »vernünftigen« Denkens darstellt. Ebd. (Hervorhebung im Originaltext).
§ 7. Das Problem der »Vernunft in der Weltgeschichte'
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sondern daß sie zu einem entsprechend konstituierten Leben tatsächlich einen maßgeblichen Beitrag leistet. Dieser spezifische Beitrag ist es, der »in der Weltgeschichte« als »vernünftige« Leistung sichtbar gemacht, nämlich ins Bewußtsein gehoben tvird. Das Verständnis einer solchen Rekonstruktion aber setzt freilich voraus zu wissen, worin der Begriff geschichtlichen Denkens überhaupt besteht, worauf geschichtliche Praxis angelegt ist, mit einem Wort: was Geschichte als »vernünftiges« Phänomen ihrem Zweck nach ist. Ohne solche Vorüberlegungen bleibt auch das Projekt der »Weltgeschichte« selbst unverständlich. Tatsächlich versucht Hegel in seinem geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript von 1830 verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen sich die spezifische »vernünftige« Leistung geschichtlichen Denkens manifestiert. Eine entscheidende Voraussetzung für die Bestimmung des genuinen Zwecks von Geschichte bedeutet dabei die Einsicht, daß die geschichtliche Praxis als solche in der »vernünftigen« Konstitution der Gemeinschaft ihren eigentlichen Forschungsgegenstand findet. »Vernunft« ist bereits insofern in der Geschichte, als diese die historischen Zeugnisse der Vergangenheit als Niederschlag einer bestimmten »vernünftigen« Lebensverfassung bewertet und interpretiert. Diese faktische Konstitution der geschichtlichen Praxis aber ist von entscheidender Bedeutung für die Frage nach dem genuinen Zweck geschichtlichen Denkens selbst. Wie sich später noch zeigen wird, liegt in der Rekonstruktion der Verfaßtheit und Entwicklung »vernünftigen« Lebens zugleich auch der maßgebliche Beitrag verborgen, den Geschichte dazu beisteuert. Indem Geschichte rekonstruiert, wie sich die jeweils gegenwärtigen Lebensformen entwickelt haben, schafft sie die Voraussetzungen, die dem einzelnen eine Abwägung seiner Handlungsoptionen und damit »vernünftiges« Handeln überhaupt erst ermöglichen. Sie leistet folglich einen konstitutiven Beitrag zum Bestand der »Vernunft« als solcher, der sich dann auch im realen Wirken der »Vernunft«, in rekonstruierbaren Geschehnissen und damit in der »Weltgeschichte« selbst niederschlägt. Die spezifische Bedeutung geschichtlichen Denkens für die »Vernunft« kommt so schließlich auch in einer bestimmten »weltgeschichtlichen« Entwicklung zum Ausdruck. Während jedoch diese Hinweise auf den eigentlichen Zweck geschichtlichen Denkens zunächst nur als Richtungsangaben zu verstehen sind, die den weiteren Gang der Interpretation andeuten, gilt es an erster Stelle die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der spezifische Beitrag geschichtlichen Denkens zur »vernünftigen« Konstitution des Lebens überhaupt greifbar wird. Wie angedeutet besteht die maßgebliche Voraussetzung hierfür in der Einsicht, daß Hegel »Vernunft« nicht etwa von außen auf die historischen Ereignisse projiziert, sondern umgekehrt bereits die Konstitution ge-
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
schichtlicher Praxis selbst als etwas >Vernünftiges< begreift. Um freilich zeigen zu können, daß »Vernunft« bereits als genuiner Forschungsgegenstand in der Geschichte ist, sind zunächst einige formale Erläuterungen zum Hegelschen Vernunftbegriff erforderlich (§ 8). Diese sollen noch keine umfassende Vorstellung von der Hegelschen Bestimmung »vernünftigen« Denkens geben, sondern dienen zunächst zum Beleg der These, daß »vernünftig« verfaßtes Leben in der Tat den Gegenstand von Geschichte darstellt. Ein umfassender Einblick in Hegels Vernunftbegriff ist eingangs deshalb noch nicht möglich, weil die spätere Bestimmung des Zwecks geschichtlicher Praxis selbst ja erst einen vertieften Einblick in die Konstitution »vernünftigen« Denkens vermitteln wird. Dessen ungeachtet läßt sich unter Zuhilfenahme eines vorläufigen, auf bestimmte Weise formalen Vernunftbegriffs zeigen, daß die hermeneutische Leistung der Geschichte tatsächlich in der Rekonstruktion »vernünftig« konstituierter Lebensformen besteht. Es ist das kohärente Bild bestimmter, aufeinander bezogener Zwecke innerhalb einer Gemeinschaft, das den strukturellen Boden jeder geschichtlichen Betrachtung darstellt (§ 9). Auch narrative Erklärungen, die bestimmte historische Geschehnisse in einen kausalen Zusammenhang bringen, dienen wesentlich zur Aufhellung dieser »vernünftigen« Struktur, denn sie zeigen das Ganze der jeweiligen Zwecke in ihrem prozessualen Zusammenhang (§ 10). »Vernunft« jedoch ist nicht allein insofern Gegenstand der geschichtlichen Praxis, als letztere aus historischen Geschehnissen eine gemeinschaftliche Lebensverfassung rekonstruiert. Geschichte fragt überdies nach dem Beitrag der jeweiligen Geschehnisse zur Entwicklung der jeweiligen Lebensverfassung. Sie versucht zu klären, weshalb sich in dieser Verfassung ein bestimmter Wandel vollzogen hat, ja sucht zu ergründen, weshalb sich dieser Wandel vollziehen mußte. Entsprechende Post-hoc-Erklärungen zeigen folglich, weshalb sich »Vernunft« jeweils in bestimmten Formen kontinuiert (§ 11). Überdies wird deutlich, daß sich verschiedene Verlaufsformen einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens in bezug auf die Frage bewerten lassen, ob die konkrete Entwicklung längerfristig auch zum Erhalt der gemeinschaftlichen Lebensverfassung beigetragen hat. Geschichtliche Posthoc-Bewertungen, die in dieser Hinsicht bestimmte Fortschritte beziehungsweise einen Verfall konstatieren, haben in der Frage nach der >Selbstkontinuierung< der »Vernunft« ihren eigentlichen Gegenstand. Als gerafftes Fazit einer geschichtlichen Entwicklung bilden sie zugleich die äußere Grenze dessen, was im Rahmen der geschichtlichen Praxis zu leisten möglich ist (§ 12). Sie prätendieren dabei jenen spezifischen Beitrag, den Geschichte selbst für ein »vernünftig« verfaßtes Leben leistet, also den genuinen Zweck geschichtlicher Praxis. Denn wie sich zeigen wird, versucht Geschichte die Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen genau deshalb zu re-
§ 8. Grundbegriffe »vernünftigen Denkens'
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konstruieren und zu bewerten, weil allein entsprechende Rekonstruktionen bestimmte Handlungsoptionen und damit die Voraussetzung dafür schaffen, das eigene Handeln selbständig orientieren zu können. Bevor sich dieser Zweck geschichtlichen Lebens jedoch erschließen kann, gilt es, die Formen geschichtlicher Praxis selbst zu untersuchen, mit deren Hilfe dieser Zweck verwirklicht wird. Ohne daß »Vernunft« mit Hegel als genuiner Gegenstand geschichtlicher Praxis begriffen wird, läßt sich auch der genuine Zweck geschichtlichen Denkens nicht ermitteln.
$ 8. Grundbegriffe »vernünftigen« Denkens Es erschwert das Verständnis seiner Überlegungen nicht unbeträchtlich, daß Hegel es an jeder Erläuterung hat fehlen lassen, welchen Status »Vernunft« in seiner Geschichtsphilosophie überhaupt besitzt. Im Rahmen seiner Vorlesungen über die »Philosophie der Weltgeschichte« hat er nicht nur auf eine ausführliche Erläuterung dieses Begriffs verzichtet, sondern den Wunsch nach einer solchen Erläuterung mit der geradezu barschen Bemerkung zurückgewiesen, daß er es nicht als Aufgabe betrachte, sich an dieser Stelle mit solch allgemeinen philosophischen Problemen näher zu befassen. Was »Vernunft« sei, so Hegel kurz und bündig, werde »in der PhUosophie bewiesen und hier so als bewiesen vorausgesetzt«.’ Mit einem Federstrich wurde damit eine Erläuterung der zentralen systematischen Voraussetzungen für das Verständnis der Geschichtsphilosophie weitgehend in den Bereich der Fußnoten verbannt. Es mochte dabei den praktischen Notwendigkeiten, insbesondere der zeitlichen Begrenzung des Vorlesungsbetriebs, entsprochen haben, die Diskussion grundlegender Begriffe wie »Vernunft« aus dem Spezialgebiet der Geschichtsphilosophie herauszuhalten. Freilich aber ist für den späteren Leser auf diese Weise das Problem entstanden, den Gehalt der zumeist nicht hinreichend ausformulierten Vorlesungsmanuskripte Hegels nicht durchdringen zu können, wenn er sich nicht zugleich an die Lektüre dessen hielt, was Hegel in seiner obigen Bemerkung unter Verwendung des bestimmten Artikels schlicht die Philosophie genannt hatte, und womit unbescheidenerweise seine eigenen systematischen Hauptwerke gemeint waren, nämlich die »Wissenschaft der Logik« und die »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«. Im Grunde aber stand vermutlich der Hörer der geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels selbst bereits vor dem Problem, daß er, wenn er verstehen wollte, was mit »Vernunft« gemeint war und inwiefern sie für das spezifisch geschichtliche Denken den Rahmen ’Ebd.,S. 141.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
lieferte, gezwungen war, jene Hegelschen Hauptwerke, die »Logik« und die »Enzyklopädie«, zu konsultieren. Obwohl sich der grundlegende Status dieser Werke für Hegels Philosophie an dieser Stelle kaum näher erläutern lassen würde, ohne dies mit einem Ausufern der gesamten Untersuchung zu bezahlen, ist doch evident, daß die Bedeutung sämtlicher kategorialen Begriffe beziehungsweise der von Hegel so genannten »Reflexionsbestimmungen«, welche in den Vorlesungen über die »Philosophie der Weltgeschichte« Verwendung finden, allein in jenen beiden Werken ausführlich erläutert wird.'* Wenngleich daher auch eine Erläuterung des werk-immanenten Zusammenhangs, in dem die jeweiligen Begriffe in der Hegelschen »Logik« beziehungsweise »Enzyklopädie« erörtert werden, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, ist es doch unumgänglich, diesen Werken zumindest die jeweils unmittelbare Gebrauchserläuterung der in der Geschichtsphilosophie verwendeten Begriffe zu entnehmen. Dies betrifft nicht nur den umfassenden Begriff der »Vernunft«, sondern, wie sich noch zeigen wird, überhaupt sämtliche »Reflexionsbestimmungen«, die für die Interpretation der Geschichtsphilosophie eine maßgebliche Rolle spielen, zum Beispiel »Substanz«, »Macht« oder »Wirklichkeit«. Zur Erläuterung dieser Begriffe allerdings lediglich die jeweils für einschlägig deklarierten Versatzstücke aus »Logik« und »Enzyklopädie« heranzuziehen, mag den Verdacht auslösen, der Interpretation durch willkürliches Zitieren die gewünschte Richtung geben zu wollen. Hier entsteht ein für Hegel-Interpretationen typisches Problem, das im Rahmen einer Monographie tatsächlich kaum zu lösen sein dürfte. Da nämlich in einer entsprechenden Darstellung der Rückverweis vom Teil aufs Ganze notwendig fragmentarisch bleiben muß, wenn die Interpretation nicht in den unendlichen Regreß einer Gesamterläuterung des Hegelschen »Systems« geraten will, ist insbesondere auch das Urteil des Lesers gefragt, der sich selbst darüber vergewissern wird, ob die Rückverweise von der Geschichtsphilosophie auf »Logik« und »Enzyklopädie« der Grundlage entbehren oder nicht. Es ist in dieser Hinsicht von beschwichtigender Wirkung, daß auch Hegel selbst sich offenkundig schwergetan hat, die systematische Bedeutung der in der Geschichtsphilosophie verwendeten »Reflexionsbestimmungen« aus * Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992; sowie Christoph Menke: Der »Wendungspunkt« des Erkennens. Zu Begriff, Recht und Reichweite der Dialektik in Hegels Logik, in: Demmerling; Kambartel (Hg.): Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frankfurt 1992, S. 9-66; Christoph Demmerling: Philosophie als Kritik. Grundprobleme der Dialektik Hegels und das Programm kritischer Theorie, in: Demmerling; Kambartel (Hg.), S. 67-99; Thomas Rentsch: Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik, in Demmerling; Kambartel (Hg.), S. 100-138.
§ 8. Grundbegriffe »vernünftigen« Denkens
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dem komplexen Zusammenhang der »Logik« und »Enzyklopädie« zu rezitieren. Entgegen seinem schroffen Hinweis, daß die Bedeutung jener Begriffe grundsätzlich »in der Philosophie bewiesen und hier so als bewiesen vorausgesetzt« werde, hat er doch zumindest ansatzweise, wenngleich in allzu gedrängter Terminologie, versucht, eine knappe Übersicht dessen zu vermitteln, weshalb »Vernunft« gemäß seinen Überlegungen den aUgemeinen Rahmen zur Bestimmung von Geschichte als einer bestimmten Form des Denkens abgeben mußte. Die entsprechende Eingrenzung des Begriffs der »Vernunft« im Vorlesungsmanuskript war in wesentlichen Zügen der »Logik« entnommen, lieferte jedoch leider ein besonders prägnantes Beispiel für den mitunter kryptischen Stil, der für Hegels Vorlesungsmanuskripte charakteristische ist. Die entsprechende Bemerkung bestand aus nur einem einzigen Satz, der sich allerdings über gut eine Manuskriptseite erstreckte. Was »Vernunft« sei, wurde hier mit einem Wust verschiedener Begriffe immer neu umschrieben, so daß insbesondere jener Leser, dem die Herkunft dieser Umschreibungen nicht bekannt war und der daher wohl auch keine Veranlassung dazu sah, sich in »Logik« oder »Enzyklopädie« der Bedeutung dieser Begriffe zu versichern, in völliger Ratlosigkeit Zurückbleiben mußte. Die »Vernunft«, so hieß es da, sei »die Substanz, [ebenso] wie die unendliche Macht, [sie sei] sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens - wie die unendliche Form, die Bethätigung dieses ihres Inhalts ist«.’ Es folgten noch eine Reihe weiterer Bestimmungen, die das Gesagte präzisieren sollten, die zu zitieren hier jedoch nur in einzelnen Schritten möglich ist, wenn sich nicht sogleich die verwirrende Wirkung des Originaltextes einstellen soll. Hatte Hegel dabei »Vernunft« zunächst als ein wechselseitiges Verhältnis von »Substanz« und »Macht« beziehungsweise von »Stoff« und »Form« bezeichnet - was auch immer das heißen mochte -, so versuchte er nunmehr, diese chiffrenartigen Bestimmungen durch weitere Erläuterungen verständlicher zu machen: »Substanz« sei demnach dasjenige, »wodurch und worin alle Wirklichkeit ihr Seyn und Bestehen hat«, während »Macht« bedeute, »daß die Vernunft nicht so unmächtig ist, um es nur bis zum Ideal, bis zu[m] Sollen zu bringen, und nur außerhalb der Wirklichkeit, wer weiß wo, - wohl nur als etwas Besonderes in den Köpfen einiger Menschen vorhanden zu seyn«.'' Die verwirrende Wirkung dieses Bestimmungsgeflechts hindert nicht daran, sich die Bedeutung jedes einzelnen der von Hegel eingeführten Begriffe zu vergegenwärtigen. Nicht nur basiert auf den Begriffen »Substanz«, »Macht« und »Wirklichkeit« wesentlich der Hegelsche Vernunftbegriff, GW 18, S. 140 (Hervorhebungen im Originaltext, Einschübe von mir, W. H.). ‘ Ebd., S. 140f. (Einschub und Hervorhebungen von mir, W. H.).
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
sondern das Verständnis dieser Termini bedeutet auch die maßgebliche Voraussetzung dafür, begreifen zu können, dass und weshalb »Vernunft« den eigentlichen Gegenstand geschichtlicher Praxis darstellt. Ihren Ausgangspunkt nimmt die entsprechende Interpretation bei den Begriffen »Substanz« und »Macht«, deren wechselseitige Beziehung laut Hegel für die Bedeutung des Begriffs der »Vernunft« konstitutiv ist. Hegel selbst war sich dabei offenkundig der Tatsache bewußt, daß insbesondere die Verwendung des Begriffs »Substanz« vielerlei irreführende Assoziationen auszulösen geeignet war.^ Hatte es bereits im geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript in bezug auf »Substanz« recht kryptisch geheißen, sie sei »der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens«, so war auch die entsprechende Erläuterung in der »Wissenschaft der Logik« kaum minder rätselhaft. Hier erklärt Hegel, die »Substanz« sei »das Sein, das ist, weil es ist, das Sein als die absolute Vermittlung seiner mit sich selbst«, oder kurz gefaßt: »das Sein in allem Sein«.* Obwohl diese Bemerkung zunächst beinahe noch verwirrender als jene aus dem Vorlesungsmanuskript anmutet, hilft sie doch zu verstehen, weshalb die »Substanz« laut Hegel der »unendliche Stoff des natürlichen und geistigen Lebens« ist. Daß die »Substanz« ein »Sein« darstellt, nämlich das »Sein« als »absolute Vermittlung seiner mit sich selbst«, läßt sich dabei am ehesten nachvollziehen läßt, wenn man diese Behauptung als implizite Kritik an empiristischen Theorien begreift: Demnach ist ein beliebiges Urteil darüber, daß etwas Bestimmtes ist, nicht etwa deshalb verständlich, weil sich dieses Urteil unmittelbar auf eine Wahrnehmung oder etwas Wahrgenommenes beziehen würde und man deshalb nur vergleichen müßte, ob Wahrgenommenes und Urteil übereinstimmen. Vielmehr ist die Beschreibung einer Wahrnehmung genau deshalb nachvollziehbar, weil sie, wie Hegel sagen würde, von vornherein mit bestimmten anderen Wissensinhalten »vermittelt« ist. Nicht als solche trägt sie einen bestimmten Namen, sondern als Repräsentation, die auf bestimmte begriffliche Differenzierungen und somit auf ein bestimmtes gemeinsames Wissen paßt. Ebenso wie zum Beispiel das Wissen über einzelne Himmelskörper eine Grobunterscheidung zwischen Himmelskörpern und sonstigen Wahrnehmungen am Himmel voraussetzt, läßt sich wiederum der Bereich der optischen Wahrnehmung insgesamt nur deshalb in seiner Bedeutung spezifizieren, weil er sich von anderen Wahrnehmungsbereichen unterscheidet. Eine solche Verweisstruktur aber, in der das einzelne Versatzstück durch seine Differenz zu anderen Inhalten bestimmt wird, ist daher, wie Hegel ' Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen (i.f. TW8), Frankfurt 1986, S. 299. * TW 6, S. 219 (Hervorhebungen vom Herausgeber).
§ 8. Grundbegriffe »vernünftigen Denkens'
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sagt, »absolut« oder »unendlich«: sie hat keinen festliegenden End- oder Ausgangspunkt; sie ist ein System der Wissensinhalte, in dem sich die begrifflichen Differenzierungen potentiell immer weiter fortführen lassen. »Substanz« heißt folglich bei Hegel, daß jedes Urteil darüber, daß etwas Bestimmtes ist, immer bereits in ein Netz anderer Urteile über Seiendes verwoben und daher ohne die entsprechenden Differenzierungen auch nicht verständlich ist. Wer eine beliebige Äußerung verstehen will, muß in der Lage sein, sie in den Rahmen bereits vorhandener »Vermittlungen« einzubetten, muß sie in das System bereits vorhandener Unterscheidungen von Wissensinhalten einordnen, ihr eine bestimmte Bedeutung zuweisen können. »Substanz« ist nichts anderes als ein Titel für entsprechende, bereits gegliederte Wissensinhalte. Sie bezeichnet die allgemeine Struktur des Wissens überhaupt. Auch private Wissensinhalte, persönliche Erfahrungen oder Einsichten müssen auf einen solch allgemeinen Kontext vorhandener Wissensinhalte bezogen sein, um überhaupt artikuliert werden zu können. »Substanz« markiert insofern den Titel für den Inhalt allen allgemeinverständlichen Redens und Denkens. In diesem Sinne ist sie tatsächlich »der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens«, den man anstelle Hegels heute vielleicht eine Art semantischen Gesamtfundus all dessen nennen würde, was zu bestimmter Zeit auf bestimmte Weise ausgedrückt werden kann. Ungeachtet der metaphysischen Tradition des Wortes umschreibt Hegel also eine Erkenntnis, die später als Grundeinsicht des linguistic turn von Wilfried Sellars in seiner Kritik an sensualistischen Theorien oder von Wittgenstein in seinem Privatsprachenargument wieder aufgegriffen worden ist: daß es nämlich eine materiale Determiniertheit der Dinge oder Gegenstände nicht gibt.’ Was sie sind, sind sie allein in der »Substanz«, als »vermittelter«, stets öffentlicher Inhalt des Wissens, als Inhalt einer Beurteilung, was sie seien und in welchen Kontext die Rede über sie gehört. Setzt man diesen Begriff von »Substanz« voraus, so läßt sich der Hegelschen »Logik« nunmehr auch entnehmen, was mit »Macht« gemeint ist und weshalb Hegel diesen Begriff in seinem geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript als zweite maßgebliche Komponente »vernünftigen« Denkens charakterisiert. Betrachtet man die Verweisstruktur der »Substanz«, die gegliederten Inhalte des Wissens, so fragt sich nämlich, wie ein spezifischer Inhalt des Wissens in Abgrenzung zu anderen Inhalten überhaupt entsteht. An welche Voraussetzungen knüpfen sich also die Unterscheidungen und ’ Vgl. zum Begriff der »Substanz« auch Stekeler-Weithofer: Hegels analytische Philosophie, S. 305f.; sowie zur Thematik Wilfried Sellars: Empiricism an the Philosophy of Mind, wiÄ an Intr. by R. Rorty and a Study Guide by R. Brandom, Cambridge/London 1997 (2. Aufl.), S. 48ff.; Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 1, Frankfurt 1997 (11. Aufl.), S. 271 ff.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
»Vermittlungen«, auf denen die Struktur der verschiedenen Wissensinhalte beruht? In dieser Hinsicht besagt der Begriff »Substanz« tatsächlich nichts weiter, als daß es strukturierte Inhalte des Denkens schlechterdings gibt, daß alle Urteile über Seiendes mit jeweils anderen »vermittelt« sind. Worauf jedoch diese »Vermittlungen« beruhen und weshalb folglich unterscheidbar ist, wann von einem bestimmten Inhalt die Rede ist und wann von einem anderen, wird so noch keineswegs klar. Daß entsprechende Überlegungen tatsächlich auf »Macht« beruhen, zeigt eine Überlegung, die Hegel im folgenden entwickelt. Da es dabei faktisch um die Frage geht, was in bezug auf eine konkrete Differenzierung der Fall beziehungsweise was nicht der Fall ist, sieht er den »Inhalt« eines begrifflich bestimmten Gegenstandes durch seine »Form« charakterisiert.'“ Anders gesagt, der »Inhalt« des jeweiligen Begriffs läßt sich laut Hegel nur dann zuverlässig bestimmen, wenn die Grenzen seiner Bedeutung sichtbar gemacht werden. Dies aber geschieht in der Tat mit Hilfe von »Macht«, wobei Hegel in einer stufenförmigen Reflexion zu zeigen versucht, worin diese »Macht« besteht. Daß ein Begriff durch die Grenzen seiner Bedeutung bestimmt wird und »Macht« hierbei eine besondere Rolle spielt, veranschaulicht er zunächst ex negative: Wo immer vorhandene Differenzierungen unreflektiert vorausgesetzt werden, spricht Hegel dementsprechend von einer noch »formlose[n] Substanz des Vorstellens«, die »als an einem Absoluten an solcher unbestimmten Identität festhält«." Mit anderen Worten, wer darauf besteht, dass zum Beispiel der Mars nun einmal der Mars, die Venus eben die Venus und der Jupiter Jupiter sei, ohne die hierfür konstitutiven begrifflichen Voraussetzungen zu nennen, setzt die entsprechende Verweisstruktur oder »Substanz« absolut Er beharrt darauf, daß jeder Begriff mit sich identisch sei, nimmt jedoch, wie Hegel anmerkt, in Kauf, daß diese »Identität“ völlig unbestimmt bleibt. Es bleibt unklar, worauf die ünterscheidung der verschiedenen Himmelskörper beruht; die »Substanz« als solche bleibt, wie Hegel sagt, »formlos«. Es fehlt auf noch unbestimmte Weise die »Macht«, in strittigen Fällen die erforderlichen ünterscheidungen selbständig treffen zu können. Das leere Beharren auf den bereits unterstellten Bedeutungen nennt Hegel daher eine bloße »Aktuosität der Substanz«, ein »ruhiges Hervorgehen ihrer selbst«: »Sie ist nicht tätig gegen Etwas, sondern nur gegen sich als einfaches widerstandsloses Element.«" Anders gesagt, die emphatische Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, Bd. 11: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813), hrsg. v. F. Hogemann u. W. Jaeschke (i. f. GW 11), Hamburg 1978, S. 219: »Das unmittelbare Etwas hat einen Inhalt-, seine Unmittelbarkeit ist zugleich reflektierte Gleichgültigkeit gegen die Form.« " Ebd., S. 220 (Hervorhebung im Originaltext). Ebd. (Hervorhebungen im Originaltext).
§ 8. Grundbegriffe »vernünftigen Denkens^
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Behauptung, daß x nun einmal x bedeute, ist nichts weiter als ihre eigene Reproduktion, sagt nichts darüber, weshalb der entsprechende »Inhalt« über eine spezifische »Form« verfügt, weshalb er sich in Abgrenzung zu anderen Inhalten auf bestimmte Weise konstituiert. Der allgemeinste Umstand, auf den nun Hegels Begriff der »Macht« in dieser Hinsicht verweist und der insofern lose auch an die alltägliche Frage anknüpft, was es bedeutet, »Macht« zu haben, >mächtig< zu sein, ist nun im Bewußtsein dafür zu suchen, daß der Inhalt bestimmter Begriffe stets mit der Beurteilung praktischer Folgen verknüpft ist. Wallenstein zum Beispiel hat kein interesseloses Wohlgefallen daran, die verschiedenen Himmelskörper unterscheiden zu können, sondern knüpft daran die Hoffnung, aus der Konstellation der Planeten sein künftiges Schicksal ersehen zu können. Des Aberglaubens weniger verdächtige Seeleute oder Wanderer nutzen das Wissen über die Sterne zur räumlichen Orientierung, und in der Raumfahrt wird es zur unentbehrlichen Grundlage überhaupt aller Handlungsentscheidungen. Die verschiedenen Möglichkeiten einer praktischen Verwendbarkeit astronomischen Wissens implizieren daher auch, daß die Auffächerung einer entsprechenden Verweisstruktur oder »Substanz« in verschiedene Inhalte überhaupt auf nichts anderem als der daraus erwachsenden praktischen Kompetenz beruht. Zu wissen, wie ein Gegenstand seinem Begriff nach bestimmt ist und wie er sich von anderen Gegenständen unterscheidet, bedeutet demnach, beurteilen zu können, wie er verwendet wird, was sich mit ihm tun läßt, mit einem Wort: worin sein praxisbezogener Zweck besteht. »Macht« bedeutet folglich, die verschiedenen Inhalte beziehungsweise deren Differenzierungen aus der Art der verfolgten Zwecke erschließen zu können. Nicht nur entspricht diese Verwendung des Begriffs dem griechischen Wort »dynamis«, das Hegel bei Aristoteles entlehnt und das im lateinischen Wort »potentia«, Vermögen, seine Entsprechung findet.'^ Daß »Macht« tatsächlich zu wissen bedeutet, was man mit einem bestimmten Gegenstand vermag, daß verschiedene Differenzierungen durchweg ein je verschiedenes Können bezeichnen, hilft vielmehr auch zu erklären, wie die »Form« der jeweiligen Begriffe und somit die spezifische Struktur der »Substanz« überhaupt zustande kommt. Es zeigt sich, dass die begrifflichen Differenzierungen innerhalb der »Substanz« niemals an sich Bestand haben, sondern daß ihre spezifische Konstitution immer auf die Gewährleistung bestimmter ” Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel; Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg, Bd. 8: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte der Philosophie. Teil 3. Griechische Philosophie II. Plato bis Proklos, hrsg. v. P. Garniron u. W. Jaeschke (i. f. VOR 8), Hamburg 1996, S. 69ff.; vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1047a, b; Stekeler-Weithofer; Hegels analytische Philosophie, S. 307f.
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Zwecke abzielt, also praktische Optionen hersteilen soll. Genau aus diesem Grund kann es auch kein ewiges Wissen geben, dessen »Vermittlungen« endgültig beschreibbar wären. Weil »Macht« statt dessen bedeutet, die Inhalte nach Maßgabe daraus erwachsender Vermögen zu strukturieren, resultiert aus jedem Versuch einer Ausweitung der eigenen »Macht« zwangsläufig auch eine Umgestaltung der Wissensinhalte selbst. Nichts anderes ist gemeint, wenn Hegel davon spricht, daß »Macht« immer zugleich »schaffend« wie auch »zerstörend« ist.‘^ Der Versuch, einen Sachverhalt mit Hilfe einer Theorie besser zu beschreiben als zuvor, zielt nicht darauf, dem metaphysischen Ideal einer endgültigen Beschreibung der Realität ein Stück näher zu kommen, sondern soD de facto eine Verbesserung der praktischen Kompetenz als solcher bewirken. Es ist die Zielsetzung, auf bestimmte Weise mehr bewirken zu wollen als zuvor, den Bereich der eigenen »Macht« zu vergrößern, die neue Wissensinhalte >schafft< und dabei frühere »Vermittlungen« zugleich >zerstörtwirklicher< werde, trifft offenkundig nicht zu.‘^ Hegel bemerkt ausdrücklich, daß auch »Wirklichkeit« nur als Bestandteil der »Substanz« denkbar ist, also nur als spezifische Form gemeinschaftlichen Wissens und entsprechender Lebensformen. Daß »Wirklichkeit« dezidiert handlungsleitendes Wissen bezeichnet, zeigt dann die zweite Bemerkung: »Vernunft« ist, so Hegel, genau deshalb kein bloßes »Ideal« oder »Sollen«, das allenfalls »in den Köpfen einiger Menschen« herumgeistert, weil eine »Wirklichkeit« vorhanden ist, in der sie sich manife“ GW 18, S. 140f. (Hervorhebungen von mir, W. H.). " Gegenteiliger Meinung ist Burckhard Liebsch: Diesseits eines »neuen Ursprungs«. Überlegungen zu Ricoeurs Verhältnis zu Hegel, in: Weisser-Lohmann; Köhler (Hg.): Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bonn 1998, S. 272f. Vgl. TW 8, S. 48.
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Stiert. Allein der Umstand, daß es eine »Wirklichkeit« tatsächlich gibt, belegt aus seiner Sicht, daß »Vernunft« keine bloße Chimäre, sondern die reale gestaltende »Macht« des Lebens ist. Diese Argumentation aber ist in der Tat nur dann nachvollziehbar, wenn der Begriff des >WirklichenM'irklich< so verhalte, sieht Hegel dabei durch modale Zuschreibungen der Form erläutert, daß es »möglich«, sei, dies anzunehmen, oder daß man mit »äußerer«, ja vielleicht sogar »absoluter Notwendigkeit« davon ausgehen müsse, daß es so sei.'* Hegel zufolge haben diese modalen Erläuterungen keinen anderen Sinn, als daß sie die Art der praktischen Folgerungen charakterisieren, die sich im Falle entsprechender begrifflicher Differenzierungen ergeben. Während der etwaige Handlungsspielraum im Bereich der »Möglichkeit« nur sehr vage bestimmt ist, prätendieren die Stufen der »äußeren« und der »absoluten Notwendigkeit« tendenziell beziehungsweise eindeutig, welche praktischen Folgen aus der Art der jeweiligen begrifflichen Differenzierungen resultieren. Damit aber konstituieren sie nicht nur ein Wissen, das in bezug auf seine praktische Verwendung kohärent ist. Es zeigt sich vielmehr zugleich, daß Hegel die spezifische Konstitution »vernünftigen« Wissens in der Tat an den »Endzweck« geknüpft sieht, Orientierung über die eigenen Handlungsoptionen und somit immer ein spezifisches Können herzustellen. »Wirklichkeit« ist folgerichtig jedes Wissen, in dem sich Praxis konstituiert. Daß dabei die erste der modalen Begründungsformen, die »Möglichkeit«, noch keinen bestimmten Handlungsspielraum offeriert, ja als Begriff einer gleichsam leeren »Modalität« kaum mehr besagt, als daß der entsprechende Wissensinhalt überhaupt irgendeine praktische Bedeutung haben dürfte, erläutert Hegel gleich zu Beginn.” Daß aufgrund einer bestimmten Differenzierung eine »Möglichkeit« entsteht, ist demnach noch kein praktischer Grund, der die »Form« der jeweiligen Begriffe, ihre spezifische gegenseitige Abgrenzung, rechtfertigen würde. Daß dieses oder jenes, eine bestimmte Bedeutung von x vorausgesetzt, >möglich< erscheint, ist kaum mehr als die Unterstellung der Bedeutung als solcher, die bereits erwähnte Behauptung, daß X nun einmal x sei. Hegel bemerkt denn auch: »Unter dem Denken ... wird hier nur das Auffassen eines Inhaltes in der Form der abstrakten Identi'* Vgl. dazu und zum folgenden GW 11, S. 380-392. Vgl. auch Dieter Henrich: Logische Form und reale Totalität. Über die Begriffsform von Hegels eigentlichem Staatsbegriff, in: Henrich; Horstmann (Hg.): Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 432ff. ” Vgl. GW 20, S. 166f.
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tät verstanden. Da nun aller Inhalt in diese Form gebracht werden kann und dazu nur gehört, daß derselbe von den Beziehungen, worin derselbe steht, getrennt wird, so kann auch das Absurdeste und Widersinnigste als möglich betrachtet werden. Es ist möglich, daß heute abend der Mond auf die Erde fällt, denn der Mond ist ein von der Erde getrennter Körper und kann deshalb so gut herunterfallen wie ein Stein, der in die Luft geschleudert worden; - es ist möglich, daß der türkische Kaiser Papst wird, denn er ist ein Mensch, kann als solcher sich zum Christentum bekennen, katholischer Priester werden usw.«^“ Mit solch drastischen Worten erinnert Hegel daran, daß die bloße Erwägung von »Möglichkeiten« in der Tat noch keine Auskunft darüber gibt, ob derjenige, der sie anstellt, schon beurteilt hat, welche Möglichkeitserwägungen sinnvoll sind. In gewissem Sinne weiß er (noch) nicht, wovon er spricht, worin also der Inhalt der Urteile besteht. Weil nicht klar ist, welche relevanten Normalfolgen sich aus diesen begrifflichen Bestimmungen ergeben, tritt auch der Inhalt der Begriffe selbst nicht deutlich hervor. Vielmehr findet er sich, wie Hegel bemerkt, »von den Beziehungen, worin derselbe steht, getrennt«, und das bedeutet: Die bloße Erwägung rein formaler Möglichkeiten führt nicht vor Augen, worin der relevante Inhalt und somit die praktische Bedeutung besteht, auf der die »Form«, seine Beziehung zu anderen Inhalten und die Abgrenzung von ihnen, beruht. Diese Feststellung impliziert nun ihrerseits einen wichtigen Hinweis. Hegel nämlich macht darauf auftnerksam, daß dort, wo etwas sinnvollerweise für >möglich< befunden wird, faktisch immer ein Abgleich verschiedener Wissensinhalte stattfindet. Ob der Mond auf die Erde stürzen könne, ist überhaupt nur deshalb eine nachvollziehbare Erwägung, weil sie bereits im Rahmen bestimmter begrifflicher »Vermittlungen«, im >substantiellen< Kontext der Rede über Himmelskörper, Planetenbewegungen, Gravitation etc., angesiedelt ist. Allein im Rahmen dieses Kontextes läßt sich beurteilen, ob eine solche Möglichkeit besteht oder nicht. Sie ist daher, wie Hegel formuliert, ihrerseits an die »Möglichkeit eines Anderen« geknüpft, an einen »Kreis der Bestimmungen der Möglichkeit« oder auch an eine »Vermittlung derselben durcheinander«.^' Mit anderen Worten, ob eine bestimmte »Möglichkeit« tatsächlich auf die spezifische praktische Bedeutung des jeweiligen Inhalts rückverweist, läßt sich nur erkennen, wenn es andere Inhalte gibt, deren praktische Bedeutung durch die entsprechende Unterstellung ebenfalls konkretisiert wird. Die Unterstellung muß folglich einen inneren Zusammenhang zwischen verschiedenen Inhalten herstellen. Wie nun Hegel ausführt, entsteht dieser Zusammenhang genau dadurch, daß sich die prak20
^ 5 283 (Hervorhebungen und Ergänzungen von mir,W. H.). GW 20, S. 167 (Hervorhebung im Originaltext). 3
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tische Bedeutung eines begrifflichen Inhalts x, bestimmte Folgen zu bewirken, ihrerseits als Folge eines anderen Inhalts y darstellen läßt. Wer es also für >möglich< hält, daß der Mond auf die Erde stürzen könnte, muß zeigen, daß diese »Möglichkeit«, nämlich die unterstellte Folge der Mondbewegung, ihrerseits als Folge einer anderen begrifflichen Bestimmtheit darstellbar ist. So mag zum Beispiel mancher Zeitgenosse Galileis, dem zwar das heliozentrische Modell des Planetensystems, nicht jedoch das Trägheitsgesetz und die darauf beruhende These der inertialen Bewegung der Planeten bekannt gewesen ist, tatsächlich der Ansicht gewesen sein, daß der Mond wie ein in die Luft geworfener Ball früher oder später wieder auf die Erde fallen müsse, wenn der Kraftimpuls aufgebraucht sei, der ihn bislang auf seiner Bahn gehalten hatte. Die »Möglichkeit« als solche ergibt sich mithin als Folge der Unterstellung, daß sich der Mond aufgrund äußerer Krafteinwirkungen bewegt. Auf solche Weise aber ist die Behauptung, daß er irgendwann auf die Erde stürzen werde, keine bloße »Möglichkeit« mehr. Da die Erwägung vielmehr selbst, wie Hegel formuliert, in einen »vollständige[n] Kreis von Bedingungen«, hier also in einen Kreis bestimmter Annahmen über die Bewegung von Himmelskörpern eingebettet wird, da die unterstellte Folge der Mondbewegung ihrerseits als Folge eines bestimmten Bewegungsprinzips erscheint, läßt sich das Votum für die entsprechende Möglichkeit inhaltlich begründen}^ Die bloße »Möglichkeit« spezifischer Folgen, die aus der Bestimmung des Begriffs resultieren, wandelt sich damit, so Hegel zu einer »äußeren Notwendigkeit«. Mit anderen Worten, gerade weil die unterstellte praktische Bedeutung des Begriffs nunmehr selbst als Folge einer anderen Bestimmung darstellbar ist, gibt es einen Grund, sie als solche nicht nur zu erwägen, sondern tatsächlich zu verwenden. Damit aber erhält auch die »Form« des Begriffs selbst eine klare »Vermittlung«: Wenn genau beschrieben werden kann, wie sich der Mond bewegt, ist dies eine praxiskonstitutive Auskunft darüber, was er ist und inwiefern er sich von andere Himmelskörpern unterscheidet. Seine Stellung am Himmel läßt sich erklären, Vorhersagen etc. Die »äußere Notwendigkeit« der begrifflichen Bestimmung impliziert, über den Mond etwas Verläßliches sagen zu können, annonciert ein spezifisches Vermögen und somit »Macht«. Freilich wird zugleich deutlich, daß eine solch »äußere Notwendigkeit« beileibe noch kein kohärentes und damit handlungsleitendes Wissen hervorbringt. Daß der Mond tatsächlich auf die Erde stürzen könnte, wird allenfalls derjenige als »Notwendigkeit« und damit zugleich als Begriff des Mondes selbst akzeptieren, wer die unterstellten Folgebeziehungen unbese-
Ebd., S. 168 (Ergänzung von mir, W. H.).
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hen akzeptiert.“ Zieht man hingegen in Zweifel, daß die konkreten »Vermittlungen« tatsächlich praktische Bedeutung haben, daß zum Beispiel, wie schon Galilei vermutet hatte, die Bewegung eines Himmelskörpers gar keiner äußeren Kraftimpulse bedarf, sondern auf einer inertialen Grundbewegung beruht, fallen die begrifflichen Differenzierungen in sich zusammen. Die »äußere Notwendigkeit« erweist sich gerade deshalb als >äußerlich< oder, wie Hegel sagt, »beschränkt«, weil die unterstellten Voraussetzungen des postulierten Wissens oder Könnens nicht ihrerseits auf ihre praktische Begründbarkeit hinterfragt werden.“ Es bleibt also ungeklärt, ob sich die Unterstellung einer äußeren Krafteinwirkung auf den Mond ihrerseits als Folge einer anderen begrifflichen Bestimmung darstellen läßt. Sie bleibt selbst nur eine »Möglichkeit«, ohne als solche begründet zu werden. Zur Schaffung eines handlungsleitenden Wissens, zur Konstituierung von »Wirklichkeit«, reicht eine solche Unterstellung in der Tat nicht aus. Statt dessen setzt handlungsleitendes Wissen eine strukturelle Bedingung voraus, die sich mit Hegel nunmehr wie folgt umschreiben läßt: Damit sich einem Begriff ein bestimmter Inhalt dezidiert zuweisen läßt, damit klar wird, daß dieser Begriff >notwendig< bestimmte Folgerungen und damit ein bestimmtes Können prätendiert, muß nicht nur dieser Inhalt als Folge bestimmter anderer Differenzierungen darstellbar sein, sondern diese Voraussetzung muß auch für jene Differenzierungen selbst gelten. Keine begriffliche Bestimmung darf darauf beschränkt bleiben, bestimmte Folgerungen zu implizieren. Auch sie selbst muß immer als Inhalt erscheinen, der seinerseits durch andere begriffliche Bestimmungen und entsprechende Folgerungen hergestellt wird. Genau dies ist es, was Hegel als »absolute Notwendigkeit«, als konstitutive Voraussetzung einer handlungsleitenden »Wirklichkeit«, bezeichnet. Gemeint ist gleichsam ein System von Wissensinhalten, in dem jede begriffliche Differenzierung auf eine andere rekurriert, jede spezifische Folgerung und jedes daran geknüpfte Können selbst schon das Ergebnis einer anderen Folgerung und eines anderen bestimmten Könnens ist. Mit Newton läßt sich in diesem Sinne zum Beispiel eine »absolut notwendige«, auch für eine heutige »Wirklichkeit« noch konstitutive Begründung liefern, daß der Mond nicht auf die Erde stürzen kann. Es ist dafür nicht mehr erforderlich als der Hinweis auf die Entdeckung des Physikers, daß sich unter Voraussetzung einer inertialen Bewegung des Mondes seine reale Beschleunigung, für die Kepler bereits die erforderliche kinematische Beschreibung geliefert hatte, durch die Einwirkung der irdischen Schwer“ Vgl. ebd.: »In sofern diese drei Momente die Gestalt selbstständiger Existenz gegeneinander haben, ist dieser Proceß als die äußere Notwendigkeit.« (Hervorhebungen im Originaltext). « Ebd.
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kraft erklären läßt. Gemessen an der Entfernung des Mondes zur Erde entspricht seine Beschleunigung exakt der allgemeinen Schwere, die man auf der Erde durch Pendelbeobachtungen gemessen hatte. Bleibt diese Konstellation unverändert, so gilt in der Tat, daß der Mond potentiell unbegrenzte Zeit um die Erde kreisen muß. Dieses Fazit aber darf im Hegelschen Sinne tatsächlich »absolute Notwendigkeit« für sich beanspruchen: Die Behauptung, daß der Mond durch die Schwerkraft in eine fixe Umlaufbahn gezwungen werde und deshalb nicht herunterstürzen könne, resultiert aus einem System begrifQicher Differenzierungen, in dem jeder konkrete Inhalt samt den daraus gezogenen Folgerungen seinerseits als Folge anderer Bestimmungen darstellbar ist. So läßt sich die These der allgemeinen Gravitation mit Keplers Berechnung unterbauen, welche Beschleunigung ein um seinen Bezugspunkt kreisender Himmelskörper erreicht. Die Beschleunigung nämlich ist im Falle des Mondes, gemessen an seiner Entfernung zur Erde, mit der irdischen Gravitation identisch. Die Gravitationstheorie wird in ihrer begrifflichen Bedeutung also durch die mathematische Beschreibung Keplers unterbaut. Umgekehrt aber stützt die Gravitationstheorie auch die kinematischen Berechnungen Keplers. Hatte letzterer lediglich beobachtet, daß die Beschleunigung eines Himmelskörpers proportional zu seiner Entfernung vom Bezugspunkt zu- beziehungsweise abnimmt, so liefert Newton nunmehr eine stichhaltige Erklärung für diesen Sachverhalt, die über eine mathematische Darstellung der Tatsache als solcher hinausgeht. Die Beschleunigung des Himmelskörpers läßt sich nunmehr als Folge der Gravitation verstehen, da sie zunimmt, desto enger der Himmelskörper seinen Bezugspunkt umkreist. Die Inhalte der verschiedenen begrifflichen Differenzierungen ergeben auf solche Weise einen systematischen Zusammenhang, in dem jeder Begriff und die daraus resultierenden Folgerungen seinerseits auf den Folgerungen aus anderen Differenzierungen beruhen. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von einer »Thätigkeit des Aufhebens«, davon, daß »die Sache mit sich selbst zusammengegangen« sei. >Notwendig< ist in diesem Sinne alles, was »vermittelt durch einen Kreis von Umständen« ist. Der jeweilige Inhalt ist folglich, wie Hegel formuliert, allein deshalb notwendig, »weil die Umstände so sind«.^^ Es ist offensichtlich, daß »absolute Notwendigkeit« daher genau dasjenige umschreibt, was man heute als Kohärenz des Wissens bezeichnen wird, und worin Hegel zufolge das formale Kriterium für die >Vernünftigkeit< überhaupt allen Denkens besteht: Wissen ist genau dann kohärent, damit aber auch handlungsleitend und somit konstitutiv für »Wirklichkeit«, wenn jede Differenzierung bestimmte Folgerungen und damit ein bestimm® Ebd., S. 169 (Hervorhebungen im Originaltext).
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tes Können prätendiert, ohne daß jene einander widersprechen würden. Auch Widerspruchsfreiheit selbst wird demnach nicht etwa durch formale Gesetze der Logik als solche hergestellt. Diese vielmehr sind selbst nur das begriffliche Raster für die praxisbezogene Forderung, daß jeder Begriff ein bestimmtes Können begründen und dieses wiederum mit anderem Können zusammenstimmen muß. Nur wenn es zutrifft, daß sich mit Kepler die Beschleunigung eines Planeten berechnen lässt, der um einen bestimmten Bezugspunkt kreist, kann man mit Newton auch die entsprechende Gravitation ermitteln. Umgekehrt aber ist es gewiß, die Planetenbeschleunigung mit Kepler berechnen zu können, weil sie sich mit Newton als Ausdruck einer bestimmten Gravitationseinwirkung deuten läßt. Es erleichtert das Verständnis dieses Begriffs der »Wirklichkeit« nicht unbeträchtlich, schlaglichtartig auch seine Beziehung zum Begriff der »Wahrheit« selbst zu skizzieren. Denn nicht nur ist es der metaphysische Glaube, »Wahrheit« als inhärente Eigenschaft der Objekte beziehungsweise als Attribut der weltabbildenden Sätze betrachten zu können, der ein Verständnis der Hegelschen Überlegungen behindert. Vielmehr ist es gerade dieser Glaube, den Hegel in seinen logischen Hauptwerken zu entkräften versucht. Die Einsicht, daß »Wirklichkeit« immer auf eine Praxis, auf entsprechende Lebensformen Bezug nimmt und sich folglich in einem bestimmten Können, bestimmten Handlungsmöglichkeiten manifestiert,^* darf hier als Indiz für die Behauptung ausreichen, daß auch der Begriff der »Wahrheit« selbst über eine modale, praxisbezogene Bedeutung verfügt.” Daß etwas >wahr< sei, ist demnach nichts anderes als ein Urteil darüber, wann und weshalb bestimmte Differenzierungen tatsächlich eine kohärente »Wirklichkeit« hersteilen. Gerade weil aber somit die Frage nach »Wahrheit« faktisch mit der Frage identisch ist, welche »Wirklichkeit« einen realen Handlungsspielraum offeriert, ist im Hegelschen Sinne nur folgerichtig, daß grundsätzlich neue >Wahrheiten< an die Stelle alter treten können. Es mag naheliegen, einen solch handlungsbezogenen Wahrheitsbegriff als Verrat an der »Wahrheit«, als Relativismus oder Dezisionismus zu brandmarken. Allenfalls sind es jedoch die übersteigerten Erwartungen an einen metaphysischen Wahrheitsbegriff, deren Desillusionierung sich in derlei Klagen äußert. Wie allein das ausgeführte Beispiel ahnen läßt, gibt Hegel sehr präzise die reale Bedeutung wider, die sich mit dem Gebrauch der Begriffe >wahr< und >wirklich< “ Vgl. ebd., S. 164. Hegel spricht hier, wieder in Anlehnung an Aristoteles, von der »Energie« der entsprechenden »vernünftigen« Leistung, die sich in dem Urteil äußert. Während »potentia« lediglich die praktische Möglichkeit bezeichnet, speist sich aus der »energeia« das >wirkliche< Können. Vgl. TW 6, S. 281 (Mündliche Zusätze); sowie Aristoteles; Metaphysik, 1043a. Vgl. Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie, S. 139f.
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verbindet. So wird man in bezug auf ihre maßgeblichen Voraussetzungen kaum noch davon sprechen, daß Newtons Gravitationstheorie nach heutigem Stand die »Wahrheit« über die Bewegungsgesetze der Planeten enthält. Das globale Wissen der Forschung hat sich zu weit fortentwickelt, als daß es noch unter dem Dach der Gravitationslehre zu einer kohärenten Theorie geformt werden könnte. Gleichwohl kann Newtons Modell in kleineren praktischen Zusammenhängen sehr wohl noch immer handlungsleitend und somit konstitutiv für eine »Wirklichkeit« sein, und sei es nur im Schulunterricht, der eine vereinfachte Beschreibung des Planetensystems als spezifisches Können vermittelt. Setzt man einen solchen Begriff von »Wirklichkeit« voraus, so ist es nur folgerichtig, daß Hegel das geschilderte Spezifikum »vernünftigen« Denkens, die verschiedenen Inhalte zu einer kohärenten, handlungsleitenden Verweisstruktur zu formen, wie eingangs angedeutet als allgemeinen Zweck der »Vernunft« überhaupt, oder, wie er selbst formuliert, als »Endzweck« der »Vernunft« bezeichnet. Er betrachtet es als eigentlichen Inhalt des Begriff der »Entelechie« von Aristoteles,“ daß die »Vernunft« nicht, wie er im geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript bemerkt, »der Bedingungen äusserlichen Materials [bedarf], gegebener Mittel, aus denen sie Nahrung und Gegenstände ihrer Thätigkeit empfinge«.“ Statt daß es materiale Voraussetzungen dafür gäbe, »vernünftig« zu denken, bestimmte reale Fakten, eine Entsprechung zwischen realer und noumenaler Welt oder beliebige andere metaphysische Voraussetzungen vorhanden wären, welche »Vernunft« berücksichtigen muß, um >vernünftig< zu sein, ist sie sich selbst ihr eigenes Gesetz. Sie ist der Selbstzweck, im Interesse eines eigenen Handlungsspielraums kohärentes Wissen zu schaffen. Die »Vernunft« zehrt, wie Hegel sagt, »aus sich, und ist sich selbst das Material, das sie verarbeitet, wie sie sich nur ihre eigene Voraussetzung, ihr Zweck, der absolute Endzweck ist«.’“ Dieser Selbstzweck der »Vernunft« läßt sich tatsächlich nicht anders als durch sich selbst erklären, durch den per se vorhandenen Willen der »Vernunft«, Orientierung darüber zu schaffen, was auf der Grundlage eines “ Der Begriff der »Entelechie« bezeichnet laut Hegel nichts anderes als die ausgeführte Erkenntnis, daß »vernünftiges« Wissen ein handlungsleitendes Ganzes bestimmter Lebensformen begründet. Platon habe zu dieser Erkenntnis zwar die Voraussetzung geliefert, nämlich erkannt, daß die »Substanz« der Rede über Dinge überhaupt das Produkt von Ideen und damit nicht material determiniert sei, habe jedoch die praxiskonstitutive »Vermittlung« der Inhalte als dynamisches Ganzes nicht ausreichend gewürdigt. Vgl. VOR 8, S. 71f.; Aristoteles, Met. 1071b. Vgl. Hespe: Geist und Geschichte. Zur Entwicklung zweier Begriffe in Hegels Vorlesungen, in: Weisser-Lohmann; Köhler (Hg.), S. 71-93. Hespe überträgt m. E. den EntelechieBegriff ohne Berücksichtigung dieses Hintergrundes und damit zu schnell auf die Darstellung der Realgeschichte. Vgl. S. 75f. sowie S. 90ff. ”GW 18, S. 141 (Einschub von mir, W. H.). ” Ebd. (Hervorhebung von mir, W. H.).
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gemeinschaftlichen Wissens zu erkennen, zu tun und zu erwarten möglich ist. Diese brennpunktartige Charakterisierung der wesentlichen Eigenschaften »vernünftigen« Denkens im »Endzweck« der »Vernunft« bildet den allgemeinen Rahmen, in welchem Hegel nunmehr die spezifische Bedeutung geschichtlichen Denkens auszufiihren versucht. Wie bereits angedeutet, zeigt sich dabei, weshalb »Vernunft« tatsächlich den genuinen Gegenstand von Geschichte darstellt. Anders nämlich, als daß historische Zeugnisse und Überlieferungen stets als Niederschlag einer bestimmten »Wirklichkeit« aufgefaßt werden, als Versatzstücke von Lebensformen, die nach dem »Endzweck« eines handlungsleitenden Wissens organisiert sind, gibt es gar keinen Maßstab für eine Methodologie geschichtlicher Rekonstruktionen. Der Anspruch Rankes, lediglich wissen zu wollen, wie es »wirklich« gewesen sei, läßt sich geradezu wörtlich als Reformulierung dieser Forderung verstehen und findet sich in diesem begrenzten Sinne bei Hegel prätendiert.^' Damit sich freilich dieser erste Bestandteil des Zwecks geschichtlicher Praxis dem Verständnis überhaupt erschließen kann, gilt es zunächst, »Vernunft« als eigentlichen Gegenstand geschichtlicher Rekonstruktionen begreiflich zu machen.
§10. Das hermeneutische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen Vor dem Hintergrund der allgemeinen Charakterisierung »vernünftigen« Denkens wird deutlich, weshalb Hegel in seinen Vorlesungen über die »Philosophie der Weltgeschichte« mit Vehemenz hatte behaupten können, daß sich die Geschichtsschreibung seiner Zeit von ihrem Tun keinen Begriff gemacht hatte. Um jedoch den genuinen Zweck geschichtlichen Denkens zu bestimmen, war ein reflektiertes Bewußtsein darüber erforderlich, mit welchem Gegenstand sich die geschichtliche Rekonstruktion der Vergangenheit überhaupt auseinandersetzte. Wenn Hegel zu Beginn seiner Vorlesung geradezu beschwörend darauf hingewiesen hatte, daß es »in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen« sei, so läßt sich dieses berüchtigte Diktum zunächst ganz wörtlich als Einsicht in die Konstitution des geschichtlichen Forschungsgegenstandes selbst begreifen. Geschichte bedeutet demnach, die historischen Zeugnisse und Überlieferungen als Niederschlag einer bestimmten »Wirklichkeit« aufzufassen, als Niederschlag gemeinschaftlicher ” Vgl. die entsprechende Bemerkung im §143 der Enzyklopädie, die sich explizit an den Geschichtsschreiber richtet; GW 20, S. 165f.
§ 10. Das hermeneu tische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen
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Lebensformen, deren spezifische »vernünftige« Konstitution auf noch unbestimmte Weise rekonstruiert werden soll. »Vernunft« ist folglich nicht insofern in der Geschichte, als alles Geschehene von vornherein in einem normativen Sinne »vernünftig«, nämlich gut und anerkennungswürdig, gewesen wäre. Sie ist vielmehr in grundlegender Weise für Geschichte insofern konstitutiv, als es ohne die Unterstellung einer »vernünftigen« Organisation vergangenen Lebens gar keine Möglichkeit geben würde, von der historischen Vergangenheit überhaupt ein Bild zu entwerfen. Sobald Geschichte mehr zu verkörpern trachtet als eine Chronik, eine bloße Anhäufung historischer Fakten, ist sie notwendig dazu aufgerufen, die einzelnen Lebensäußerungen als Niederschlag bestimmter Zwecke und entsprechender Lebensformen zu deuten, deren »Endzweck« die Orientierung des einzelnen im gemeinschaftlich verfaßten Leben ist. Genau aus diesem Grund, so Hegel, dürfe er an seine Hörer appellieren, »mit dem Glauben an die Vernunft, mit dem Verlangen, mit dem Durste nach ihrer Erkenntniß, zu diesem Vortrag der Weltgeschichte hinzutreten; - und es ist allerdings das Verlangen nach vernünftiger Einsicht, nicht bloß nach einer Sammlung von Kenntnissen, was als subjectives Bedürfhiß bey dem Studium der Wissenschaften vorauszusetzen ist.«’^ Hegels Behauptung beruht erkennbar auf einer einzigen Voraussetzung, nämlich auf der Unterstellung, daß die skizzierten Charakeristika »vernünftigen« Denkens tatsächlich für jegliche Form menschlicher Gemeinschaft konstitutiv sind, daß die »Natur« dieses Denkens, wie Hegel formuliert, »Eine und immer dieselbe« ist.” Wenn sich also historische Geschehnisse als Niederschlag eines »vernünftig« konstituierten Lebens verstehen lassen, dann offenbar deshalb, weil das Denken und Handeln der historischen Akteure zwangsläufig in denselben »vernünftigen« Formen aufgefaßt wird wie die Zwecke und Handlungen des eigenen Lebens. Diese Unterstellung ist weniger spektakulär oder gar fragwürdig, als es der zuletzt etwa von der narrativistischen Geschichtsphilosophie geäußerte Vorwurf suggeriert, Hegel habe mit der Unterstellung einer offenbar durchgängig bestehenden »Vernunft« ein metaphysisches Substrat in die Geschichte geschmuggelt.” Ironischerweise ist die narrativistische Gegenthese, daß Geschichte einzig auf der >freien< Konstruktion des Historikers beruhe, sogar geeignet, Hegels Auffassung indirekt zu bestätigen. Zum Beleg dieser Behauptung genügt ein historisches Beispiel, das der These einer >bloßen< Konstruktivität von Geschichte möglichst weit entgegenkommt. So scheinen etwa die nebulösen “ GW 18. S. 141. » Ebd., S. 142. ^ Vgl. Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt 1997 (2. Aufl.), S. 74.
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Umstände, unter denen Boris Godunow an der Wende zum siebzehnten Jahrhundert den russischen Zarenthron bestiegen hat, ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für die These abzulegen, daß der Historiker das Geschehene letztlich auf jede erdenkliche, ja letztlich beliebige Art und Weise konstruieren könne. Der rechtmäßige Thronfolger war ermordet worden, die alte Herrscherdynastie der Rurikiden damit erloschen. Die näheren Umstände des Mordes lagen im Dunkeln, so daß der Spekulation darüber, wer die Tat aus welchen Gründen veranlaßt haben mochte, Tür und Tor geöffnet waren. Obgleich der Verdacht nahelag, hat man nie eindeutig belegen können, daß Godunow selbst die Ermordung des Thronfolgers angeordnet habe. Nichts scheint insofern gegen die These Baumgartners, Hayden Whites und anderer Vertreter der narrativistischen Geschichtsphilosophie zu sprechen, daß eine entsprechende geschichtliche Deutung, die den früheren Reichsverweser zum Zarenmörder stempelte, eine mehr oder minder willkürliche Deutung des Historikers darstellt.” Der konstruktive Charakter geschichtlicher Interpretationen läßt sich in der Tat nur schwerlich von der Hand weisen. Wird damit zugleich jedoch Baumgartners Auffassung gerechtfertigt, den Deutungsspielraum des Historikers mit dem pejorativen Vorzeichen des >bloß< Konstruktiven versehen zu können? Unschwer läßt sich zeigen, wie fragwürdig diese Auffassung ist. Daß mit dem durchaus berechtigten Verweis auf die Konstruktivität geschichtlicher Interpretationen zugleich die Unterstellung einer »Vernunft« in der Geschichte entbehrlich gemacht werde, ist zumindest vordergründig. Die Einsicht, daß historische Geschehnisse niemals für sich selbst sprechen, sondern der Historiker den Versuch machen muß, ihre spezifische Bedeutung zu konstruieren, ist nämlich gerade kein Argument gegen, sondern ein Argument für Hegels These, daß mit geschichtlichen Interpretationen eine in den Ereignissen manifeste »Vernunft« unterstellt wird. Die Vermutung, Godunow könne den Mord an dem Zarensohn veranlaßt haben, ist einzig deshalb plausibel, weil diese Konstruktion gleich auf einer ganzen Kette anderer konstruktiver Vermutungen beruht, welche allesamt die historische »Wirklichkeit« betreffen, die für das Leben im russischen Zarenreich bestimmend gewesen ist. Anders als daß zum Beispiel die Existenz eines Erbfolgerechts unterstellt wird, das Godunow von einer natürlichen Erbfolge ausschloß, wäre es abwegig, bei ihm den Drang zur Beseitigung des Thronfolgers auch nur vermuten zu wollen. Nur weil die entsprechende Konstruktion selbst schon Teil eines Systems von Unterstellungen ist, das darauf zielt, das Bild einer »vernünftig« konstituierten, in bestimmten gemeinschaftlichen Le’’ Vgl. ebd., S. 322ff; Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des Diskurses, Stuttgart 1991, S. 95ff.
§ 10. Das hermeneutische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen
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bensformen gründenden »Wirklichkeit« zu entwerfen, ist sie für den Historiker überhaupt von Interesse. Die Unterstellung einer in den Geschehnissen manifesten »Vernunft« ist folglich kein metaphysisches Substrat, sondern die conditio sine qua non für die Konstruierbarkeit von Geschichte selbst. Ließen sich historische Überlieferungen nicht auf eben dieselbe Weise wie die Zwecke und Orientierungen der eigenen Gegenwart als Niederschlag einer »vernünftigen« Organisation des Lebens begreifen, so wären geschichtliche Konstruktionen gar nicht möglich. Der geschichtsphilosophische Narrativismus greift daher zu kurz, wenn er sich auf das Diktum der >Freiheit< der Konstruktion zurückzieht, dessen formbildende Prinzipien allein Metaphern, Symbole oder Tropen der jeweiligen Erzählung seien.’* Selbst historische Phänomene, die prima facie gar nicht unter die Kategorie eines institutionell geformten Lebens zu fallen scheinen und deren Behandlung daher vor allem Michel Foucault zum Programm gegen eine >vernunftorientierte< Institutionengeschichte erhoben hat, zum Beispiel individuelle Verhaltensdispositionen oder auch Massenerscheinungen, sind in ihrer spezifischen Bedeutung nicht anders als vor dem Hintergrund »vernünftig« strukturierter Lebensformen faßlich. Auch sie lassen sich gleichsam nur als Schatten entsprechender institutioneller Rahmenbedingungen einordnen und begreifen.’^ Auf solche Weise aber wird auch verständlich, weshalb sich mit Hegel in bezug auf Geschichte nicht allein von einer Konstruktion, sondern wesentlich von einer Rekonstruktion historischer Lebensformen sprechen läßt. Dieser Behauptung steht vor allem der bereits von Dilthey geäußerte Vorbehalt entgegen, daß Rekonstruktionen letztlich gegenwartsmotivierte Projektionen seien, die ein Verständnis der realen Lebensäußerungen nicht etwa ermöglichten, sondern verhinderten.’* Setzt man jedoch voraus, daß bereits geschichtliche Konstruktivität als solche immer auf das Bild einer »vernünftig« konstituierten »Wirklichkeit« abzielt, so läßt sich auch der Verdacht entkräften, dieses Bild könne die Ausgeburt einer bloß projektiven Phantasie darstellen. Die Einsicht, daß Geschichte nicht einfach auf der Kohärenz ihrer narrativen Metaphorik gründet, sondern jede ihrer konstruktiven Behauptungen zur Herstellung eines Bildes bestimmter Lebensformen beiträgt, führt deutlich vor Augen, worin der Maßstab geschichtlicher Kohärenz tatsächlich besteht: Es sind die konkreten historischen Lebensäußerun* Vgl. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte, S. 255ff.; White: Auch Klio dichtet, S. 129ff. ” Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt 1996 (6. Aufl.), S. lOff. * Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Einl. v. M. Riedel, Frankfurt 1993 (4. Aufl.), S. 182f.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
gen selbst, die jeweiligen Überreste und Überlieferungen, welche in einem kohärenten Bild zu integrieren die Aufgabe des Historikers darstellt. Seine konstruktiven Behauptungen erschöpfen sich nicht in Projektionen, sondern sind rückbezogen auf jene historischen Versatzstücke, aus deren zweifellos vielseitigen Deutungs- und Verwendungsmöglichkeiten gleichwohl insgesamt ein kohärentes Bild »vernünftig« konstituierten Lebens entstehen muß. So liegt es zwar durchaus im {re-)konstruktiven Ermessen des Historikers, ob tatsächlich Godunow die Ermordung des Zarensohnes angeordnet haben soll. Das entscheidende Kriterium für die Plausibilität dieser Vermutung jedoch besteht in der Frage, ob sich die unterstellte Handlung mit den einschlägigen historischen Zeugnissen insgesamt zum Bild einer spezifischen »Wirklichkeit« vereinigen läßt. Daß sich in dieser Hinsicht der Deutungsspielraum des Historikers verkleinert, je größer die Zahl der zu berücksichtigenden Quellen ist, daß zugleich seine Möglichkeiten weniger werden, den jeweiligen Zeugnissen divergierende Bedeutungen abzugewinnen, sollte dabei als hermeneutisches Argument gegen den narrativistischen Glauben verstanden werden, den historischen Versatzstücken letztlich beliebige Bedeutungen überstreifen zu können. Die relativ >freie< konstruktive Unterstellung, daß Godunow die Ermordung des Zarensohnes veranlaßt habe, wirkt gerade deshalb plausibel, weil das Netz der entsprechenden VoruntersteUungen umso enger geknüpft ist. Nur weil das Bild der historischen »Wirklichkeit« des Zarismus derart konturiert ist, daß sich einem Akteur mit dem Versuch, das Prinzip der autokratischen Erbfolgeregelung außer Kraft zu setzen, eine bereits sehr spezielle Absicht zuschreiben läßt - nur deshalb ergibt sich überhaupt die spezifische Möglichkeit der Konstruktion als solche. Nur aus der Voraussetzung, eine große Menge historischer Überlieferungen vergleichen zu können, erwächst das Vermögen, bestimmte konstruktive Optionen erkennen und abwägen zu können. Damit aber wird deutlich, daß die Konstruktion der Vergangenheit immer eine Rekonstruktion der Bedeutung konkreter historischer Zeugnisse ist. Selbst wenn man einem Historiker eine gelegentlich überschießende produktive Phantasie attestieren wollte, so ist es doch der historische Kontext, an dem sich diese Phantasie allein entzünden kann, und es ist zugleich die Frage nach einer kohärenten Ausdeutung der jeweiligen Lebensäußerungen, welche die Rekonstruktion als solche überprüf- und anfechtbar macht. Diese rekonstruktive Leistung von Geschichte vorausgesetzt, wird nun auch klar, weshalb sich die augenscheinlich zunächst so sachfremde Unterstellung einer »Vernunft« in der Geschichte problemlos mit dem Umstand verträgt, daß Hegel immer wieder die Bedeutung der empirischen Forschungsarbeit verteidigt und hervorgehoben hat: »die Geschichte aber haben wir zu nehmen wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren.
§10. Das hermeneutische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen
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Unter anderem auch müssen wir uns nicht durch Historiker vom Fache verführen lassen, denn wenigstens unter den deutschen Historikern, sogar solchen, die eine grosse Autorität besitzen, auf das sogenannte Quellenstudium sich alles zu Gute thun, gibt es solche, die das thun was sie den Philosophen vorwerfen, nämlich ä priorische Erdichtungen in der Geschichte zu machen.«” Wo man Hegel unterstellte, den Bestand der »apriorische[n] Erdichtungen« mit seinem Postulat der »Vernunft« in der Geschichte selbst nicht unbeträchüich vergrößert zu haben, mußten derlei Äußerungen geradezu als Heuchelei erscheinen. Die Einsicht hingegen, daß die adäquate, ja einzig mögliche Form einer empirischen Bearbeitung der Historie gerade darin besteht, nach der »Vernunft« in den historischen Zeugnissen zu fragen, löst den scheinbaren Widerspruch zwischen Hegels Bekundungen und seinem Tun auf. Daß die interpretative Arbeit des Historikers genau darauf abzielt, aus den historischen Versatzstücken der Überlieferung bestimmte Lebensformen zu rekonstruieren, nimmt der Unterstellung einer »Vernunft« in der Geschichte ihre vermeintlich anti-empirische Spitze. Zum leeren Raisonnement verkommt geschichtliche Praxis nicht etwa, weil sie »Vernunft« zu ihrem genuinen Gegenstand erklären würde, sondern ironischerweise, sobald sie sich von diesem Grundprinzip ihrer Forschung verabschiedet. Sie wird zum Zerrbild von Projektionen und somit konstruktiv im schlechten Sinne, wenn sie die empirische Komponente ihrer Aufgabe vernachlässigt und die jeweils konstruierte »Wirklichkeit« handlungsleitender Zwecke nicht mehr aus konkreten historischen Zeugnissen zusammensetzt. Als Beispiel für entsprechende Projektionen nennt Hegel vorzugsweise die romantische Geschichtsschreibung Schellings, Schlegels oder Herders, etwa die Hypostasen eines vollkommen weisen Urvolks oder eines römischen UrEpos."" Die Fragwürdigkeit solcher Behauptungen resultiert schlicht aus ihrer fehlenden empirischen Grundlage. Wenn es keine realen Lebensäußerungen gibt, auf die sich eine geschichtliche Konstruktion bezieht, so läßt sie sich von Fiktionen nicht mehr unterscheiden. Hegel hatte dies bereits mokant als gelegentlichen Ausflug der »kritischen Geschichte« in die »höhere Philologie« kritisiert. Betrachtet man nun die geschichtliche Praxis als solche, so wird deutlich, daß sich Hegel keineswegs auf eine Charakterisierung ihres konstruktiven Grundprinzips beschränkt. Zumindest in Ansätzen versucht er statt dessen auch zu zeigen, wie sich die Rekonstruktion einer »vernünftig« verfaßten »Wirklichkeit« im einzelnen vollzieht. Diese Frage bestimmt den gesamten weiteren Gang seiner Überlegungen zur Konstitution geschichtlicher Praxis. ” GW 18, S. 142 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert). “ Vgl. ebd.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
Es geht ihm darum zu veranschaulichen, wie sich die »vernünftige« Konstitution vergangenen Lebens samt deren spezifischer Entwicklung vom Historiker beschreiben läßt. Sein allgemeiner Hinweis gilt in dieser Hinsicht zunächst dem methodologischen Problem als solchem: »auch der gewöhnliche und mittelmässige Geschichtschreiber, der etwa meynt und vorgibt, er verhalte sich nur aufhehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene«.'" Mit dieser Bemerkung bringt Hegel nicht nur den konstruktiven Charakter von Geschichte noch einmal deutlich zur Sprache. An diese Bemerkung knüpft sich zugleich auch die konkrete methodologische Frage, welche spezifischen Aspekte bei einer Rekonstruktion historischer Lebensäußerungen zu beachten sind, oder mit anderen Worten, auf welche Weise sich das kohärente Bild einer historischen »Wirklichkeit« tatsächlich ergibt. Die Begrifflichkeit, die Hegel zur Erörterung dieses Problems verwendet, wird wiederum nur durch einen Rückgriff auf seine »Logik« verständlich. Daß sich erst vor dem entsprechenden Hintergrund ein Verständnis für die hermeneutischen Anforderungen geschichtlicher Rekonstruktionen eröffnet, geht aus einer Bemerkung im geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript hervor, deren komprimierte Form prima fade ganz verschiedenartige Assoziationen zuläßt. Hegel formuliert knapp: »Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an; beydes ist in Wechselbestimmung.«" Dieser Satz mag zunächst den Eindruck erwecken, mit »Welt« werde der Erdkörper als eine Art Bühne der »Weltgeschichte« bezeichnet.''^ Die Tatsache freilich, daß Hegel in seiner »weltgeschichtlichen« Betrachtung gleich vier »Welten« voneinander unterscheidet, die »orientalische«, eine »griechische«, die »römische« und schließlich die »germanische Welt«, - dieser Umstand zeigt deutlich, daß mit »Welt« etwas anderes als der Schauplatz einer metaphysischen Geschichte umschrieben wird. »Welt« verkörpert statt dessen einen Titel für die prima facie Struktur- und zusammenhanglose Menge historischer Überlieferungen und Lebensäußerungen, deren geschichtliche Interpretation noch aussteht. »Welt« ist gleichsam der unbelassene Gesamtfundus einer Epoche, das rohe Arbeitsmaterial, aus dem der Historiker ein Bild der Lebensformen jener Zeit erst noch entwickeln muß. Gegenüber Hegels Begriff der »Wirklichkeit« und seiner handlungsbezogenen Bedeutung für das eigene Leben markiert der Begriff »Welt« folglich eine einschneidende hermeneutische Differenz.
GW 18, S. 143. « Ebd. " Vgl. Angehrn: Freiheit und System bei Hegel, Berlin/New York 1977, S. 245.
§ 10. Das hermeneutische Prinzip geschichtlicher Rekonstruktionen
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Diese Differenz zwischen den überlieferten Inhalten von »Welt« und einer als gegenwärtig erfahrenen »Wirklichkeit« besteht darin, daß im Gegensatz zum »wirklichen« Wissen in Ansehung einer »Welt« noch nicht klar ist, wie deren tradierte Inhalte miteinander »vermittelt« sind. Hegel erläutert, daß jeder Inhalt von »Welt« in anderen Inhalten lediglich »seine negative Reflexion« hat.'*'' Aus der Betrachtung einer solchen »Welt« ergibt sich demnach noch keine zweck- und handlungsbezogene Struktur, nach der die verschiedenen Inhalte gegliedert sind. Daß von verschiedenen Inhalten die Rede ist, vermag der Rezipient statt dessen überhaupt nur daraus zu ersehen, daß, wie Hegel sagt, jeder Inhalt »in einem Anderen sein Bestehen« hat,^’ und das heißt: Jeder Inhalt a ist nur dadurch, was er ist, weil es schlechterdings noch andere Inhalte b, c, d etc. gibt. Diese anderen Inhalte sind seine »negative Reflexion«. Wo b, c, d etc. gemeint sind, kann offenbar von a nicht mehr die Rede sein. »Welt« besagt lediglich, daß es diese verschiedenen Inhalte gibt, daß sie zum Beispiel Bestandteil einer bestimmten Überlieferung und als solche zu berücksichtigen sind. Hegel nennt dies die »positive Identität« der Inhalte und folgert daraus, daß diese Identität erst die »innere Einheit« der Wissensinhalte sei, »welche des Beweises und der Vermittlung bedarf«.^*' Die spezifischen »Vermittlungen«, auf denen die begrifflichen Inhalte beruhen, die entsprechenden handlungsleitenden Differenzierungen, müssen folglich als solche erst rekonstruiert werden. Genau darin aber besteht denn auch das hermeneutische Problem, vor das sich der Historiker im allgemeinen gestellt sieht: Während er Geschehnisse der eigenen Gegenwart aus der »Wirklichkeit« der jeweiligen, bereits handlungsleitenden Differenzierungen beurteilt, also entsprechende Zwecke oder Folgen abzuschätzen und bestimmte Erwartungen zu artikulieren vermag, ist er auf historischem Auge zunächst gewissermaßen blind. Er sieht sich zwar einem Ganzen offensichtlich verschiedenartiger Inhalte gegenüber, ist jedoch unmittelbar nicht in der Lage, deren handlungsbezogene Bedeutung und somit die in ihnen manifeste historische »Wirklichkeit« zu verstehen. Die Lektüre jeder hinreichend entlegenen historischen Quelle führt diese hermeneutische Differenz vor Augen. So berichtet etwa Sueton über Augustus, dieser habe während der Zeit seines Prinzipats nicht nur das Augurium, das Amt des Flamen Dialis und schließlich das Luperkalienfest wieder eingeführt - wobei junge Männer ohne Bart am Festlauf nicht hätten teilnehmen dürfen -, sondern auch verfügt, daß die Laren an den Straßenkreuzungen zweimal jährlich mit Frühlings- und Sommerblumen bekränzt wer-
11,S. 347. « Ebd. “ Ebd., S. 157 (Hervorhebungen vom Herausgeber).
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
den sollten. Soweit der Leser noch kein geschichtliches Wissen mitbringt, um diese vom römischen Biographen wie selbstverständlich dargebotenen Einzelheiten einordnen zu können, wird ihm ihre Bedeutung schlechterdings rätselhaft bleiben. Zwar wird deutlich, daß es offenbar um die Wiedereinführung verschiedener Festbräuche geht, aber während noch der Biograph voraussetzen durfte, daß seinen römischen Lesern nicht nur die Bedeutung der Bräuche selbst, sondern auch die politische Bedeutung ihrer Wiedereinführung unbesehen klar sein würde, vermag der Historiker dies alles aus seiner eigenen »Wirklichkeit« nicht zu beurteilen. Hegels Behauptung, man müsse die »Welt« »vernünftig« ansehen, um auch von ihr selbst »vernünftig« angeschaut zu werden, erweist sich vor diesem Hintergrund geradezu als eine hermeneutische Arbeitsanweisung. Eine historische »Welt«, die mit »vernünftigen« Augen angesehen wird, ist demnach das Ganze verschiedener historischer Zeugnisse, deren offenbarer Inhalt auf seine Bedeutung für entsprechende Lebensformen befragt und somit als Niederschlag einer spezifischen »Wirklichkeit« bewertet wird. An dem skizzierten Beispiel läßt sich dabei veranschaulichen, daß eine erste Möglichkeit, die erforderliche Kohärenz herzustellen, im Abgleich der verschiedenen Begriffsbedeutungen durch eine Textexegese oder Quellenanalyse besteht. Die handlungsbezogene Bedeutung einer einzelnen Lebensäußerung wie zum Beispiel eines Festbrauchs läßt sich womöglich allein schon dadurch ermitteln, daß der Vergleich verschiedener historischer Quellen eine bestimmte Bedeutung eindeutig prätendiert. Wenn zum Beispiel neben Sueton auch noch andere Chronisten übereinstimmend berichten, daß es sich beim Luperkalienfest um das altrömische Fest des Fruchtbarkeitsgottes Faunus handele, eine andere Bedeutung hingegen nicht auftaucht, so darf man annehmen, daß dieser Brauch samt den Zwecken und Erwartungen, die daran geknüpft sein mochten, tatsächlich auf die geschilderte Weise Bestandteil einer spezifisch römischen »Wirklichkeit« gewesen ist. Freilich aber ist es der Ausnahmefall, daß sich das Ganze der handlungsleitenden Orientierungen einer bestimmten Epoche aus dem bloßen Abgleich der Bedeutungen verschiedener Begriffe ergibt. Der Normalfall geschichtlicher Praxis ist, daß sich die reale Orientierung der Akteure nicht anders beschreiben läßt als durch die Rekapitulation der Folgen, die bestimmtes Handeln in spezifischen Situationen gezeitigt hat. Statt der bloßen Rekonstruktion einzelner Wortbedeutungen ist daher zumeist ein wesentlich komplexerer Vergleich der Quellen in bezug auf die Frage erforderlich, welche spezifischen Zwecke dem Handeln der Akteure zugrunde gelegen haben, oder anders gefragt: durch welche handlungsleitenden Differenzierungen das jeweilige Wissen konkret bestimmt war. Wie sich nunmehr zeigen wird, läßt sich die entsprechende Struktur der handlungsbezogenen
§11. Die narrative Struktur geschichtlicher Rekonstruktionen
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»Vermittlungen« des Wissens nicht anders als durch die Beschreibung der inhärenten Kausalität der Ereignisse selbst aufdecken. Erforderlich sind narrative Erklärungen, die das spezifische, an bestimmten Zwecken orientierte Handeln der Akteure schildern, so daß die entsprechende Ereigniskausalität ein Bild der faktischen Orientierung vermittelt, die für die Konstitution der jeweiligen Lebensformen charakteristisch gewesen ist. §11. Die narrative Struktur geschichtlicher Rekonstruktionen Viele Rekonstruktionen historischer »Wirklichkeit« vermitteln bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck einer statischen Strukturbeschreibung. Die Titel so verschiedener Darstellungen wie etwa über das >alte RomvernunfivernunftwirklichkeitsVerfallStagnationFortschrittDurchbruch der ModerneEntstehung des frühneuzeitlichen EuropaEntfaltung der Industriellen Revolution< ” Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986, S. 37. Vgl. auch S. 55. Vgl. Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?, in: Nagl-Docekal (Hg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt 1996, S. 7f.
§12. Die Post-hoc-Erklärung geschichtlicher Entwicklungen
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oder von >Krise und Niedergang der römischen Religion< die Rede ist, wo immer sich Geschichte mit >sozialer Schichtbildung< oder dem >Untergang der Feudalwirtschaft< befaßt, beschreibt und erklärt sie Entwicklungen. Sie beschränkt sich gerade nicht auf eine Erzählung dessen, wie ein Geschehnis das andere ergeben hat, sondern versucht den Wandel der jeweiligen Lebensformen immer und wesentlich dadurch zu erklären, daß sie ihn als Entfaltung spezifischer, zuvor angelegter Keime darstellt. Wenn die Geschichtstheorie die Teleologie insgesamt aus der Geschichte austreiben zu müssen glaubt, beraubt sie letztere nicht nur um einen ihrer konstitutiven Bestandteile, ignoriert sie die reale Verfaßtheit geschichtlicher Praxis. Sie verkennt vielmehr auch Hegels eigentliches Vorhaben, da er den Begriff der Entwicklung nicht von außen in die Geschichte einfuhren, sondern als konstitutiven Teil geschichtlicher Praxis begreiflich machen will. Konfrontiert man die Kritik mit diesem Gegenentwurf, so läßt sich nun auch jenen Hegelschen Überlegungen eine sinnvolle Bedeutung abgewinnen, die prima fade den Verdacht einer metaphysischen Verirrung der Geschichtsphilosophie mehr als deutlich zu bestätigen scheinen. Der Eindruck einer metaphysischen Geschichtsteleologie drängt sich dabei bereits auf, wenn Hegel es als eine Form der »religiösen Wahrheit« bezeichnet, »daß die Welt nicht dem Zufall und äusserlichen, zufälligen Ursachen preisgegeben sey, sondern eine Vorsehung die Welt regiere.«''^ Und weil er mithin tatsächlich an eine in den Geschehnissen selbst waltende »Vorsehung« zu glauben scheint, bedient er sich dieses Begriffs nicht nur mit einer aufreizenden Selbstverständlichkeit, sondern spricht obendrein sogar davon, daß man grundsätzlich »an den Glauben ... in dieser religiösen Form« appellieren dürfe.'*' Wie anders lassen sich solche Bemerkungen begreifen, wenn nicht als Ausdruck eines metaphysischen Begriffs geschichtlicher Teleologie? Als was erscheint »Vorsehung« hier, wenn nicht als Glaube an eine den Geschehnissen selbst inhärente Prozeßhaftigkeit, als Glaube gar an einen personenhaften >Gottvorgesehenes< Resultat ausgerichtet ist, dann findet sich zunächst beschrieben, worum es sich bei einem solchen Resultat überhaupt handelt. Das >vorgesehene< Ergebnis einer Post-hoc-Erklärung ist demnach genau dasjenige, was Hegel als die »Macht« bezeichnet, »welche ihre Zwecke, d. i. den absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt verwirklicht«. Damit nämlich wird nichts anderes gesagt, als daß eine geschichtliche Entwicklung faktisch stets in eine neue Form »vernünftig« konstituierten Lebens mündet. Am Ende dieser Entwicklung findet sich der »Endzweck der Welt« auf neue Weise »verwirklicht«, und das bedeutet: Die jeweiligen Akteure haben sich auf bestimmte Weise die »Macht« verschafft, das eigene Handeln im Rahmen der gemeinschaftlichen Lebensformen anders als zuvor zu orientieren. Das Resultat der geschichtlichen Entwicklung besteht folglich in der Etablierung einer veränderten »Wirklichkeit«, und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob und aus welchen Gründen die Etablierung dieser »Wirklichkeit« gegenüber den ursprünglichen Lebensformen als Fortschritt oder als Verfall, als anerkennungswürdig oder als verurteilenswert erscheint. Dieses Zwischenergebnis ist gleich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Daß nämlich geschichtlichte Entwicklungsbeschreibungen stets darauf zielen, die Genese einer >vorgesehenen< »Wirklichkeit« zu erklären, ist nicht nur eine Bemerkung über den Gegenstand, dessen Entstehung durch die teleologische Struktur der Geschichtserzählung verständlich gemacht werden soll. Es ist zugleich auch der entscheidende Hinweis darauf, wie diese teleologische Struktur der Post-hoc-Erklärungen selbst überhaupt verfaßt sein muß. Es wird deutlich, wie der bislang allenfalls verschwommene Anspruch, die entstandene »Wirklichkeit« als Entfaltung bestimmter historischer Keime zu deuten, in einer entsprechenden Beschreibung eigentlich umgesetzt wird. Hegels Bemerkung läßt sich in dieser Hinsicht sinngemäß als Forderung begreifen, die sich wie folgt umschreiben läßt: Wenn es erklärlich werden soll, daß im Zuge bestimmter historischer Geschehnisse ausgerechnet jene spezifische »Wirklichkeit« entstanden ist, dann muß die entsprechende Post-hoc-Erklärung zeigen, daß der »Endzweck der Welt« in dieser spezifischen Lebensverfassung >wirklich< werden mußte, ja daß er sich überhaupt nur in dieser Lebensverfassung >verwirklichen< konnte. Mit anderen Worten, es muß deutlich werden, daß die entsprechenden Lebensformen gerade deshalb >wirklich< geworden sind, weil situativ gesehen offenbar nur dadurch eine Fortsetzung des »vernünftig« verfaßten Lebens möglich war, oder anders gesagt: weil sich der »Endzweck« einer »vernünftig« konstituierten Gemeinschaft in der spezifischen Situation nur durch die Etablierung jener Lebensformen kontinuieren konnte. Die Teleologie kommt somit überhaupt erst dadurch in die Geschichte hinein, daß vorausgesetzt wird, was Hegel als den »Endzweck« der »Vernunft« bezeichnet hat-
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
te: Nur weil die Kontinuität eines gemeinschaftlich verfaßten Lebens per se als »Endzweck«, ja als »Selbstzweck« unterstellt wird, hat eine Unterstellung wie jene, daß sich ein bestimmter Wandel der Lebensformen vollziehen mußte, einen nachvollziehbaren Sinn. Denn erst durch die Unterstellung dieses »Endzwecks« ist ein Angelpunkt vorhanden, an dem nun der Wandel selbst - im Bild der geschichtlichen Darstellung - wie ein Hebel zu greifen vermag. Er wird als Wandel erklärlich, weil er sich zum Beispiel als Behebung einer Notlage darstellen läßt, in der die Kontinuität des »vernünftig« verfaßten Lebens auf dem Spiel stand. Ebenso wird er als Wandel erklärlich, weil er etwa eine Vergrößerung des Handlungsspielraums mit sich gebracht hat, so daß er für die meisten Beteiligten von praktischem Vorteil gewesen ist. Damit aber wird nun auch ersichtlich, wie teleologische Entwicklungsbeschreibungen im einzelnen verbißt sein müssen, um der skizzierten Erklärungsleistung gerecht zu werden. Es ist offensichtlich, daß sie anders als narrative Erklärungen nicht einfach nach der ereigniskausalen Bedeutung von Geschehnissen oder Handlungen fragen, sondern daß letztere unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, was sie zur Veränderung der gemeinschaftlichen »Wirklichkeit« insgesamt beigetragen, inwiefern sie den Wandel der entsprechenden Lebensformen herbeigeführt haben. Eine Entwicklung zu beschreiben bedeutet nichts anderes, als daß nach der Bedeutung der jeweiligen Geschehnisse oder Handlungen für das >vorgesehene< Ergebnis der gewandelten »Wirklichkeit« gefragt wird. Die Intentionen der beteiligten Personen sind nicht an sich von Interesse, sondern in bezug auf die Wirkung, welche die Handlungen, post hoc betrachtet, auf die gemeinschaftliche Lebensverfassung ausgeübt haben. Auf diese Weise aber wird die »Wirklichkeit« und damit die »vernünftige« Konstitution gemeinschaftlichen Lebens, tatsächlich zum genuinen Gegenstand geschichtlicher Entwicklungsbeschreibungen. Wenn die einzelnen Begebenheiten nicht an sich von Interesse sind, sondern an ihrem Beispiel gleichsam der Umbau der jeweiligen »Wirklichkeit« verfolgt wird, wenn die eigentliche Frage lautet, wie sich die Geschehnisse auf den »Selbstzweck« der »vernünftigen« Konstitution gemeinschaftlichen Lebens ausgewirkt, ob sie zu seiner Gefährdung oder aber zu seiner erneuten Kontinuierung beigetragen haben, dann wird von vornherein die Entwicklung der gemeinschaftlichen »Wirklichkeit« als »vernünftiges« Ganzes beschrieben und erklärt. Daß die Geschichtsschreibung auf solche Post-hoc-Erklärungen notwendig angewiesen ist, letztere daher einen unverzichtbaren Bestandteil geschichtlicher Praxis bilden, läßt sich besonders deutlich am Beispiel jener berühmten Erklärung veranschaulichen, die Christian Meier für den Untergang der römischen Republik gefunden und die er - bezeichnend für den
§ 12. Die Post-hoc-Erklärung geschichtlicher Entwicklungen
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Erklärungsmodus der Notwendigkeit - mit dem Titel einer »Krise ohne Alternative« versehen hat.“ Anders als im Falle der »natürlichen« Erklärungen wird hier gar nicht erst versucht, lediglich eine kausal bestimmte Ereignisfolge zu rekonstruieren oder aber die Geschehnisse auf die Intentionen der handelnden Akteure zurückzuführen. Meiers bekannte These, daß der Untergang der Republik das Ergebnis eines Verfassungsdilemmas sei, in das die Adelspartei sich selbst hineinmanövriert habe, ist geradezu der Idealfall dessen, was Hegel als geschichtliche Erklärung sui generis bezeichnet hätte: Um das >vorgesehene< Resultat der Veränderungen, den Zusammenbruch der Republik und die Etablierung der diktatorischen Regime Cäsars und später Augustus’ erklären zu können, orientiert sich Meier durchgängig am »Selbstzweck« einer Kontinuität »vernünftig« verfaßten Lebens. Es wird gezeigt, daß die Republik notwendig untergehen mußte, weil die »Wirklichkeit« der verfassungskonstitutiven Institutionen zuletzt restlos unterminiert war, die Akteure ihr Handeln an der vorhandenen Verfassung also faktisch nicht mehr orientierten und am Ende auch nicht mehr orientieren konnten. Ursächlich hierfür hält Meier die Tatsache, daß der römische Senat gezwungen war, im gewachsenen Reich immer mehr Aufgaben an Amtsträger zu delegieren, die sich nicht mehr in die gegenseitige aristokratische Herrschaftskontrolle einbinden ließen. Das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der Nobilität wurde dadurch zusehends ausgehöhlt. Dem Senat erwuchsen mächtige Gegner, die durch willkürliche Ausdehnung ihrer Amtsbefugnisse den Staat in ihre Gewalt zu bringen drohten. Alle Anstrengungen, diese Bedrohung abzuwenden, trugen zur weiteren Verschärfung bei: Der Versuch, die Machtambitionen Cäsars mit der Hilfe von Pompeius einzudämmen, führte lediglich zur Erstarkung eines weiteren potentiellen Diktators. Die Usurpation des Staates durch die Gegner der Senatspartei war die zwangsläufige Konsequenz dieser ausweglosen Situation. Das bereits ausgehöhlte Verfassungsgefüge wurde beseitigt und an die Stelle der republikanischen eine diktatorische Verfassungs-»Wirklichkeit« gesetzt. Eine solche Beschreibung leistet erkennbar mehr als jede kausale oder intentionale Erklärung auf der Ereigniseben, leistet folglich mehr als jede abstrakte Erklärung geschichtlichen Wandels. Statt lediglich das eine Ereignis auf ein anderes zurückzuführen, erklärt sie den Wandel aus seiner Notwendigkeit für die Kontinuität eines »vernünftig« konstituierten Lebens selbst. Sie erklärt, weshalb in der spezifischen Situation der Endphase der römischen Republik tatsächlich ein spezifischer Wandel eintreten mußte, und zwar ganz unabhängig davon, ob man die eingetretene Entwicklung als grundsätzlich anerkennungswürdig bewerten wird oder nicht. Daß der äuVgl. Christian Meier: Cäsar, Berlin 1986, S. 422ff.
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II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
ßere Bestand der Verfassung den Akteuren eine Orientierung ihres Handelns realiter nicht mehr gestattete, daß der Staat de facto in ein Konglomerat einander bekämpfender Interessengruppen auseinandergefallen war, für deren Streitigkeiten die vorhandene Verfassung nur noch die juristische Hülle bildete - all dies ließ nur einen Ausweg offen; Der Zerfall der gemeinschaftlichen Ordnung konnte nur durch eine Erneuerung der Verfassung selbst verhindert werden. Da aber das römische Recht wesentlich Gewohnheitsrecht war, jede der verfeindeten Parteien auf den ihr zugefallenen Privilegien kompromißlos beharrte, war der Konflikt in der Tat nur lösbar, indem einer der Akteure die volle Rechtsgewalt auf sich vereinigte und damit dem Widerstreit der Interessen ein Ende machte.®'* Eine solche Entwicklungsbeschreibung ist es, welche Hegel als konkret gefaßtes Gegenstück einer abstrakten Erklärung geschichtlichen Wandels betrachtet: Sie unterwirft die Geschehnisse einer teleologischen Struktur, indem sie zeigt, wie bestimmte Geschehnisse zur Kontinuität eines »vernünftig« verfaßten Lebens beigetragen haben. Sie liefert so die Gründe, welche die spezifische Veränderung der »Wirklichkeit« begreiflich machen. Erklärt wird nicht der Ereignisverlauf an sich, sondern die Entwicklung der »vernünftigen« Konstitution der Gemeinschaft selbst. Eine solche Beschreibung geschichtlicher Post-hoc-Erklärungen freilich ist geeignet, ein nicht ungefährliches Mißverständnis heraufzubeschwören. Da sich nämlich der Sinn solcher Erklärungen auf den bloßen Nachweis zu beschränken scheint, daß alles, was geschehen ist, tatsächlich auch geschehen mußte, so entsteht zwangsläufig der Verdacht, Geschichte solle in apologetischer Manier auf das Gesundbeten jeden beliebigen Geschehens verpflichtet werden. Wenn sich überhaupt jeder geschichtliche Wandel dadurch erklären läßt, daß er auf irgendeine Weise zu gegebener Zeit eine Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens möglich gemacht hat, ja daß sich dem Geschehenen insofern gar noch eine »vernünftige« Bedeutung zusprechen läßt, dann hat offenbar nicht allen der Umbruch von der römischen Republik zum Kaiserreich seinen >gutenvorgesehenen< Explanandum bestimmter gemeinschaftlicher Lebensformen orientiert und deren Entwicklung zu erklären sucht, so versieht Hegel diesen für sich genommen rein deskriptiven Befund zugleich mit der seltsamen Patina einer religiösen Metaphorik. Dezidiert spricht er in seinem geschichtsphilosophischen VorlesungsmanuGW 18, S. 148.
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III. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
Skript statt von bloßer »Vorsehung« von einer »göttlichen Vorsehung« und erläutert die Verwendung dieser merkwürdigen Metapher mit einer Bemerkung, welche die bisherige Interpretation auf den ersten Blick auf den Kopf zu stellen scheint. Mit bemerkenswerter Beiläufigkeit erklärt er, daß er »mit der Erwähnung der Erkenntniß des Planes der göttlichen Vorsehung überhaupt an eine in unsern Zeiten an Wichtigkeit obenan stehende Frage« habe erinnern wollen, nämlich an »die Möglichkeit ..., Gott zu erkennen, - oder vielmehr - indem es aufgehört hat, eine Frage zu seyn [-], an die zum Vorurtheil gewordene Lehre, daß es unmöglich sey, Gott zu erkennen«.Was dieser, gelinde gesagt, verblüffende Anspruch mit der zuvor skizzierten Form geschichtlicher Erklärungen zu tun haben soll, geschweige denn mit dem apostrophierten Anliegen der geschichtsphilosophischen Untersuchung, den genuinen Zweck geschichtlicher Praxis zu ergründen, ist mindestens rätselhaft. Schnell entsteht der Eindruck, die bisherige Interpretation sei schlicht auf Abwege geraten: Hegel habe eben doch keinen Einblick in die Verfaßtheit geschichtlichen Denkens liefern, sondern lediglich eine metaphysische Geschichte schreiben wollen und dabei offenbar den kuriosen Versuch gemacht, gleichsam offenbarungstheologisch aus einer realgeschichtlichen Entwicklung auf die Existenz >Gottes< zu schließen. In bezug auf den Geschichtsbegriff selbst scheint so gesehen allenfalls der Rückfall in eine vorkritische Ontologie zu beklagen zu sein - ein philosophiegeschichtlich ebenso traditions- wie folgenreicher Verdacht, der Hegels Geschichtsphilosophie aus theologischer Sicht seit Schleiermacher ebenso als Anmaßung hat erscheinen lassen, wie sie von atheistischer Seite seit Feuerbach für eine Absurdität ausgegeben worden ist.'" Verschiedene Bemerkungen verraten, daß auch Hegel selbst die Mißverständlichkeit geahnt hat, die dem ominösen Zusammenhang zwischen Geschichte und >Gotteserkenntnis< innewohnt. Bei näherer Betrachtung allerdings wird nicht minder deutlich, daß er unter diesem Zusammenhang etwas anderes versteht als die Möglichkeit, die Existenz eines gleichsam als Akteur oder als Person gedachten >Gottes< aus seinem geschichtlichen Wirken zu beweisen. Auch in diesem Abschnitt seiner Geschichtsphilosophie betreibt Hegel das Gegenteil einer vorkritischen Ontologie. Daß die Tatsache einer »göttlichen Vorsehung« Anlaß zu der Frage sein müsse, ob es ” Ebd. (Ergänzung von mir, W. H.) Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt, in: Kritische Gesamtausgabe, hrsg. V. J. Birkner u. G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle, K.-V. Selge, Erste Abt., Bd. 7, Berlin/New York 1980, S. 211ff. und S. 224f.; sowie Ludwig Feuerbach: Über Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. W. Schuffenhauer, Bd. 8, Berlin 1982 (2. Auf!.), S. 219-292, hier insbesondere S. 245f. sowie S. 270ff.
§14. Der geschichtliche Erfahrungsraum
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möglich sei, »Gott zu erkennen«, läßt sich ganz allgemein zunächst als Versuch verstehen, etwas bislang Verdecktes im Wesen geschichtlicher Praxis offenbar zu machen. Die bisherige Erläuterung geschichtlicher Praxis, so läßt sich Hegel verstehen, darf noch keineswegs als vollständig erachtet werden. Eher ist das Umgekehrte der Fall: Daß die skizzierte Form geschichtlicher Erklärungen Anlaß zu der Frage nach weiterer Erkenntnis eröffnet, weist sie als insgesamt noch Unbegriffenes aus. Der Grund hierfür aber ist bereits mehrfach angedeutet worden. Weshalb nämlich Geschichte vergangene Geschehnisse überhaupt unter dem Prinzip der »Vorsehung« und damit als Entwicklung »vernünftig« konstituierter Lebensformen erklärt, ist an sich rätselhaft. Es ist unklar, welches Interesse sich mit diesem Projekt verbindet. Versteht man daher Hegels seltsame Bemerkung zunächst als Hinweis auf den unbegriffenen Status geschichtlicher Praxis, erweist es sich als legitimer Anspruch, erkennen zu wollen, welchem Zweck diese Praxis überhaupt dienen mag. Was fi'eilich bei einem solchen Zugriff auf den Hegelschen Text zunächst unbeantwortet bleibt, ist die Frage, weshalb Hegel zur Einlösung jenes Anspruchs ausgerechnet von Begriffen wie jenem der »göttlichen Vorsehung« beziehungsweise der >Gotteserkenntnis< Gebrauch macht. Die Verwendung dieser Begriffe bedarf zweifellos einer tieferreichenden Begründung. Doch auch ohne daß diese begrifflichen Unklarheiten sofort ausgeräumt werden, erweist sich die Vermutung als gerechtfertigt, daß Hegels Bemühungen grundsätzlich dem Ziel dienen, den verborgenen Zweck geschichtlicher Praxis ffeizulegen. Ein wichtiger Hinweis darauf verbirgt sich hinter einer Reihe von Bemerkungen, in deren Verlauf Hegel zunächst darauf hinweist, daß er die teleologische Form geschichtlicher Erklärungen nicht ohne Grund ausgerechnet unter den Titel des »religiös« konnotierten Begriffs der »Vorsehung« gefaßt habe. Zwar, so Hegel, hätte er die Erwähnung, daß eine geschichüiche Erklärung »in religiöser Form so ausgesprochen wird, daß die Vorsehung die Welt beherrsche, [auch] unterlassen können, um nicht an jene Frage von der Möglichkeit der Erkenntniß Gottes zu erinnern. «'^ Gleichwohl jedoch habe er »nicht unterlassen wollen, ... bemerklich zu machen, womit solche Materien weiter Zusammenhängen«.“ Was an dieser Rechtfertigung sofort ins Auge fällt, ist die Behauptung, geschichtliche Erklärungen würden, wo sie mit dem Titel der »Vorsehung« unterlegt werden, gleichsam in eine »religiöse Form« gefaßt. Damit ist keineswegs allein gemeint, daß die geschichtliche Rede von »Vorsehung« zumeist in einem religiös konnotierten Rahmen, etwa in einer Heilsgeschichte, ihren Platz findet. ” Ebd., S. 149 (Ergänzung und Hervorhebungen von mir, W. H.) “ Ebd.
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III. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
Vielmehr geht es Hegel zunächst um eine begriffliche Abhebung der Fälle, in denen die Bedeutung geschichtlichen Denkens verdeckt bleibt. Er will darauf aufinerksam machen, daß es verschiedene Formen gibt, den Zweck geschichtlicher Praxis zu reflektieren. Daß Geschichte eine »religiöse Form« annehmen kann, hat in diesem Sinne nicht allein mit ihrer Verwurzelung in einem konkreten Religions- oder Gottesverständnis zu tun, sondern bezeichnet auch die Art der Gewißheit darüber, worin die Leistung geschichtlicher Praxis besteht. Mag auch die faktische Leistung eines Geschichtsschreibers, wie Hegel erkannt hatte, darin bestehen, daß er teleologisch die Entwicklung eines bestimmten >vorgesehenen< Resultats von Geschehnissen rekonstruiert, so erweckt seine verbale Berufung auf die »Vorsehung« gleichwohl stets den Eindruck, als sei die Erklärung der Geschehnisse nicht etwa seine eigene Leistung, sondern als hätten sich die Geschehnisse an sich auf bestimmte Weise entwickelt oder als habe >Gott< den Gang dieser Geschehnisse gelenkt. Die ausdrückliche Berufung auf eine »Vorsehung« in der Geschichte verdeckt also gerade, wer der Urheber der »Vorsehung« ist. Sie verdeckt die Tatsache, daß »Vorsehung« keine Eigenschaft der Geschehnisse, sondern ein strukturelles Merkmal geschichtlicher Erklärungen ist. Wo es zu einer solchen Verdeckung kommt, kann aber freilich auch nach dem Zweck geschichtlichen Denkens nicht mehr gefragt werden, da der Gegenstand selbst als Leistung des Denkens nicht mehr kenntlich ist. Dies sind Voraussetzungen, unter denen geschichtliche Rede tatsächlich im Sinne eines unreflektierten Vertrauens eine »religiöse Form« annimmt. Die Entwicklung von Lebensformen wird rekonstruiert, ohne daß ergründbar wäre, worin das Instruktive einer solchen Beschreibung eigentlich besteht. Es bleibt unklar, weshalb man einer entsprechend verfaßten Geschichtsschreibung ein dezidiertes Interesse entgegenbringen sollte oder gar müßte. Deren Selbstverständnis vermag sich daher allenfalls auf die emphatische Selbstbestätigung der eigenen Interpretationsarbeit zu gründen, auf die Behauptung also, daß die eigene Darstellung schlechterdings >richtig< und daß es somit gelungen sei, die >wahre< Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen aufzuzeigen. Auf solche Weise aber erschöpft sich Geschichte tatsächlich in einer Art Glauben. Anstatt den genuinen Zweck geschichtlicher Praxis sichtbar zu machen, rechtfertigt sie sich mit dem fragwürdigen Verweis auf die Evidenz ihrer empirisch gestützten Versicherungen. Betrachtet man die Rede von einer »Vorsehung« daher zunächst als bloß emphatische Bekräftigung dessen, wie geschichtliche Entwicklungen faktisch geschildert werden, als ein unreflektiertes und in diesem Sinne »religiöses« Vertrauen in die Form geschichtlicher Post-hoc-Erklärungen, so erhält auch der ominöse Anspruch Hegels einen systematisch verständlichen
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Hintergrund, man dürfe jene unreflektierte Form »göttlicher Vorsehung« nicht einfach auf sich beruhen lassen, sondern müsse den dahinter verborgenen »Gott erkennen«. Es handelt sich um den Versuch einer Beschreibung dessen, worauf das unbestimmte Vertrauen in die skizzierte Form geschichtlicher Praxis überhaupt beruht, oder anders gesagt: worin die effektiven Folgen dieses Vertrauens für Denken und Handeln bestehen. Was der Begriff >Gott< in diesem Kontext bedeuten soll, mag dabei zu Recht noch als völlig unklar erscheinen. Gleichwohl trifft zu, daß Hegel das Erkenntnisproblem als solches richtig gefaßt hat. Wie gesagt, es ist zunächst rätselhaft, weshalb es von Interesse sein sollte, die Bedeutung vergangener Geschehnisse unter dem Aspekt der Kontinuität »vernünftig« konstituierter Gemeinschaft zu bewerten. Wenn Hegel die verheißene Lösung dieses Erkenntnisproblems in die Worte faßt, »Gott erkennen« zu wollen, muß daher wenigstens versuchsweise unterstellt werden, daß es dabei um anderes geht, als aus der Realgeschichte Rückschlüsse auf die Pläne einer >Gott-Person< ziehen zu wollen. Weshalb aber Hegel zur Umschreibung dieses Versuchs zum Begriff der >Gotteserkenntnis< greift, zeigen verschiedene Bemerkungen seines geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskripts, welche zwar später noch einer vertiefenden Erläuterung bedürfen, bereits an dieser Stelle jedoch bis in die Wortwendungen hinein verraten, an wessen Überlegungen sich Hegel in religionsphilosophischer Hinsicht wesentlich orientiert, nämlich an denen Hamanns.'^ Folgt man den begrifflichen Voraussetzungen, die Hamann seinen Schriften zugrundelegt und die von Hegel offensichtlich übernommen werden, so erhält dessen ominöser Anspruch, »Gott erkennen« zu wollen, einen systematischen Hintergrund, der zumindest die Voraussetzungen schafft, um den Gegenstand jener Erkenntnis verständlich zu machen. Was im Modus einer geschichtlichen Entwicklungsbeschreibung verdeckt bleibt und durch eine Reflexion auf >Gott< erkannt werden soll, ist demnach keine >Gott-Person< , sondern die Leistung von Geschichte selbst. Diese Leistung aber besteht, wie hier zunächst im Vorgriff behauptet werden soll, darin, die Konstitution gemeinschaftlichen Lebens überhaupt sichtbar zu machen. Daß diese Leistung ausgerechnet mit dem Titel der >Gotteserkenntnis< unterlegt wird, mag befremden und die Interpretation fragwürdig erscheinen lassen. Wirft man jedoch einen Blick darauf, wie Hamann und später auch Hegel den Begriff der >Gotteserkenntnis< umschreiben, wird diese Behauptung nachvollziehbar. Beide nämlich verwenden diesen Begriff für die Bedingung der Möglichkeit von Gemeinschaft, nämlich für die Ein'' Vgl. dazu beispielsweise GW 18, S. 149, Z. 1- 3 mit Johann Georg Hamann: Tagebuch eines Christen, in: Sämtliche Werke, hrsg. v, J. Nadler, Bd. 1, Wien 1949, S. 6.
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sicht, über Sprache beziehungsweise »Vernunft« zu verfügen. Der Beleg für diese Behauptung findet sich bei Hamann in der Einleitung zu seinem »Tagebuch eines Christen«. Dort erörtert er die Frage, worin sich >Gott< dem Menschen >offenbart< . Hamanns verblüffend einfache These lautet, daß die »Offenbarung Gottes« nicht etwa in der biblischen Schöpfung oder im Kreuzestod Jesu ihren Anfang nimmt, sondern im »Wort« des »Geistes«. Die »Offenbarung Gottes« vollziehe sich zuerst darin, über dieses »Wort« zu verfügen - und damit meint Hamann: der Sprache mächtig zu sein. Sprache bedeutet den »Schlüssel«, um sich der anderen Werke Gottes, der Schöpfung der Natur sowie seiner Menschwerdung, überhaupt erst bewußt werden zu können. »Der Gipfel der Atheisterey und die größte Zauberey des Unglaubens«, so Hamann, »ist daher die Blindheit, Gott in der Offenbarung [durch das Wort] zu erkennen, und der Frevel, dies Gnadenmittel zu verschmähen.«'* Drastisch nennt er Gott gar einen »Schriftsteller«, den Schöpfer des Wortes, dessen »Offenbarung« sich folgerichtig im Sprechen selbst vollzieht, gleichsam in dem unmittelbaren Bewußtsein, in die Sprache geworfen zu sein.'^ Dieses Bild von »Offenbarung« ist es, das den systematischen Hintergrund für die von Hegel behauptete Möglichkeit darstellt, »Gott zu erkennen«. Beide Metaphern bilden einen begrifflichen Zusammenhang, wobei Hegels Rede von der >Gotteserkenntnis< das Hamannsche Bild notwendig voraussetzt. Wo letzterer von »Offenbarung« als der gleichsam unmittelbar gegebenen Konstitution des sprachlich geformten oder auch »vernünftig« konstituierten Lebens spricht, wo »Offenbarung« bedeutet, der Sprache mächtig zu sein, versucht nun Hegel selbst mit dem Begriff der >Gotteserkenntnis< die Möglichkeit zu umschreiben, jene im Hamannschen Bild nur unmittelbar gegebene Konstitution des Daseins als solche auch evident zu machen. »Gott zu erkennen« bedeutet in diesem formalen, noch zu vertiefenden Sinne, sich die >offenbare< Konstitution gemeinschaftlichen Daseins bewußt vor Augen zu führen, ihre faktischen »vernünftigen« Formen als solche auch zu reflektieren. Das erforderliche Instrument solcher Reflexion aber ist aus Hegelscher Sicht tatsächlich kein anderes als die Geschichte. Allein Geschichte, so Hegel, verfügt über die erforderliche Struktur, die »vernünftige« Konstitution des gemeinschaftlichen Daseins nicht bloß zu postulieren, sondern sie im spezifischen Modus ihrer Erklärungen sichtbar zu machen. Genau dies ist gemeint, wenn er fordert, daß »die Entwicklung des denkenden Geistes, welche aus ... der Offenbarung des göttlichen Wesens« hervorgegangen sei, »endlich dazu gedeihen« müsse, »das, was dem fühlenEbd., S. 5 (Ergänzung von mir, W. H.). Vgl. ebd., sowie S. 9.
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den und vorstellenden Geiste zunächst vorgelegt worden, [nun] auch mit dem Gedanken zu erfassen.«^“ Unter der »Offenbarung des göttlichen Wesens« versteht er dabei genau das, wovon auch Hamann spricht, wenn er den Begriff der »Offenbarung« verwendet: die unmittelbar sprachlich oder »vernünftig« konstituierte Verfassung gemeinschaftlichen Daseins. Diese gleichsam unmittelbar >offenbare< Verfaßtheit der Gemeinschaft aber, dies ist Hegels eigene und zugleich maßgebliche Erkenntnis, kann tatsächlich nur »mit dem Gedanken« erfaßt werden, wo sie aus der »Entwicklung des denkenden Geistes« hervorgeht. Die Konstitution gemeinschaftlichen Lebens läßt sich also nur dann als etwas tatsächlich >Vernünftiges< erkennen, wo sie geschichtlich entwickelt wird. Genau dies entspricht der genuinen Leistung von Geschichte und bedeutet eine zentrale Voraussetzung, um den Zweck geschichtlichen Denkens veranschaulichen zu können. Daß es die »vernünftige« Konstitution gemeinschaftlichen Lebens selbst sei, die anhand von Geschichte sichtbar gemacht werde, hat Hegel dabei in vielfältigen Formulierungen zum Ausdruck gebracht. Zugleich aber hat er freilich zu veranschaulichen versucht, weshalb diese Behauptung gerechtfertigt ist, weshalb der Modus eines unreflektierten Glaubens an die »Vorsehung« tatsächlich auf jene genuine Leistung verweist. Er erläutert die Bedeutung einer entsprechend verfaßten Geschichte unter anderem mit den Worten: »ob es an der Zeit ist, zu erkennen, muß davon abhängen, ob das, was der Endzweck der Welt [ist], endlich auf allgemeine, bewußte Weise in die Wirklichkeit getreten [ist]«.^' Obwohl die zuvor entwickelte Behauptung in dieser kryptischen Bemerkung auf den ersten Blick nur reformuliert zu werden scheint, bedient sich Hegel zur Verdeutlichung des Gesagten hier doch genau jener Begriffe, mit denen er bereits die Konstitution »vernünftigen« Denkens im allgemeinen charakterisiert hatte. Demnach wird es durch Geschichte zum reflektierten Bestandteil der »Wirklichkeit«, also zum reflektierten Bestandteil handlungsleitenden Wissens, daß dieses Wissen (»Substanz«) samt den daraus gezogenen Folgerungen sowie potentiellen Modifikationen (»Macht«) tatsächlich auf dem vorgestellten »Endzweck« beruht. Es wird also in einem vorläufigen, noch zu vertiefenden Sinne durch Geschichte überhaupt erst sichtbar, daß sich Gemeinschaft in dem Selbstzweck eines kohärenten Wissens und daran geknüpfter Lebensformen tatsächlich konstituiert. Erst durch Geschichte tritt dieser »Endzweck der Welt«, wie Hegel formuliert, »auf allgemeine, bewußte Weise in die Wirklichkeit«. Mit anderen Worten, erst im Bild einer geschichtlichen Entwicklung läßt sich zeigen, daß es eine gemeinschaftliche »Welt« mit bestimmten Konventionen, “ GW 18, S. 149 (Ergänzungen von mir, W. H.). Ebd., S. 149f. (Ergänzungen und Hervorhebung von mir, W. H.).
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Zwecken und Normen überhaupt gibt. Geschichte ist die exemplarische Form des Denkens, die diese »vernünftige« Verfassung des Daseins zuallererst ins Bewußtsein rückt. Die Bedeutung geschichtlichen Denkens, die hier in einer zunächst abstrakten und daher noch erläuterungsbedürftigen Form vorgeführt wird, ist vor allem deshalb so schwer zu veranschaulichen, weil sie geradezu unmittelbar vertraut ist. Wie nun gezeigt werden soll, kommt sie bereits in einem Umgang mit Wissen zum Ausdruck, dessen wesentlich geschichtliche, nämlich einerseits narrative und später dann auch teleologische Form nur selten bemerkt wird und dabei doch ebenso alltäglich wie unentbehrlich ist. Demnach läßt sich allein die >Vernünftigkeit< eines bestimmten Urteils zunächst nur dadurch veranschaulichen, daß die dazugehörigen »Vermittlungen«, die begrifflichen Differenzierungen innerhalb der entsprechenden »Wirklichkeit«, narrativ erläutert werden. Genauso wie sich die Handlungszusammenhänge historischer Lebensformen nur durch entsprechende Rekonstruktionen auf der Ereignisebene erschließen lassen, genauso werden auch das gegenv^ärtige Wisssen und die daraus erwachsende praktische Kompetenz durch den narrativen Aufweis der entsprechenden begrifflichen Differenzierungen begründet. Dieser Aspekt einer geschichtlichen Erschließung der »vernünftig« konstituierten »Welt« soll im folgenden genauer ausgeführt werden. Später wird sich dann zeigen, daß auch die teleologische Erklärung der Genese der eigenen »Wirklichkeit« zu jener >Welterschließung< einen unverzichtbaren Beitrag leistet. Betrachtet man nun zunächst die narrativen Voraussetzungen für eine Erschließung der gegenwärtigen »Wirklichkeit«, so fallen die Defizite der entsprechenden Ausführungen in der »Wissenschaft der Logik« ins Auge. Dort nämlich war völlig offen geblieben, in welcher Form sich die Begründung der >Vernünftigkeit< eines Urteils vollzieht. Erst vor dem Hintergrund der Hegelschen Erläuterungen zur Narrativität geschichtlicher Rekonstruktionen wird deutlich, daß jede Explikation von »Wirklichkeit« tatsächlich geschichtlichen Charakter hat. In dieser Hinsicht hatte Hegel in seiner »Logik« lediglich darauf verwiesen, daß entsprechende Begründungen die begrifflichen Differenzierungen aufdecken müssen, die durch ein Urteil geknüpft werden, um so zu zeigen, daß »wirkliches«, handlungsleitendes Wissen vorliegt. Daß eine solche Argumentation in der Tat jedoch stets über eine narrative Struktur verfügt, macht der Umstand anschaulich, daß jedes Urteil notwendig auf einen vorhandenen Kontext, auf bereits bestehende begriffliche Differenzierungen und Wissensinhalte Bezug nimmt. Der Versuch, ein solches Urteil als »vernünftig« zu rechtfertigen, läuft immer darauf hinaus, den eigenen Gedanken innerhalb der entsprechenden Tradition zu situieren, zu zeigen, inwiefern die Struktur der tradierten Wissensinhalte
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übernommen beziehungsweise zu einer neuen Struktur modifiziert wird. Daß ein Urteil »wirkliches« Wissen herstellt, bedeutet somit immer, daß dieses Urteil in die Tradition eingebettet wird. In diesem Sinne hat jede Argumentation, gleichgültig ob wissenschaftlichen oder allgemeinen Charakters, eine narrative Struktur. Wo immer sie auf »Vermittlungen« verweist, die den jeweiligen Urteilen zugrunde liegen, setzt sie sich in ein implizites Verhältnis zur Tradition, rekonstruiert sie den eigenen Standpunkt, setzt ihn in ein spezifisches Verhältnis mit dieser Tradition. Damit wird auch besser begreiflich, weshalb Hegel die Bedeutung geschichtlichen Denkens mit den Worten umreißt, daß Geschichte den »Endzweck der Welt« in die »Wirklichkeit« treten läßt. In der Tat nämlich besteht deren wesentliches Merkmal darin, daß sie die >Vernünftigkeit< des Denkens nicht einfach in ihrer »Vermittlung« mit traditionellem Wissen rekonstruiert, sondern eine solche Rekonstruktion als Aufgabe sui generis begreift: Geschichte als Disziplin basiert auf der reflektierten Einsicht, daß sich »vernünftiges« Wissen überhaupt nur aus der Tradition gewinnen läßt. Solange die reklamierte Bedeutung eines bestimmten Urteils nicht aus der dazugehörigen Tradition entwickelt wird, solange dieses Urteil keine in diesem Sinne »vernünftige« Begründung erfährt, sind schlechterdings keine Kriterien vorhanden, um handlungsleitendes Wissen von kontingenten Einbildungen überhaupt unterscheiden zu können. Ohne ihre geschichtliche Entwicklung aus der astronomischen Tradition, ohne Berücksichtigung der Keplerschen Berechnung der Planetenbahnen, ohne Galileis Überlegungen zum Prinzip der Inertialbewegung, läßt sich zum Beispiel zwischen der Newtonschen Gravitationstheorie als wissenschaftlicher Leistung und den Einbildungen eines Wahnsinnigen, wie ihn Gogol beschreibt, gar nicht differenzieren. Geschichte leistet somit genau das, worauf die Begründung eines als »vernünftig« deklarierten Standpunktes nur implizit verweist: Sie setzt die Traditionsbezüge dieses Standpunktes nicht argumentativ voraus, sondern erkennt es als Leistung sui generis, diesen Standpunkt durch die Einbettung in seine Tradition begreiflich zu machen. Sie benennt die traditionellen Voraussetzungen, auf welche eine Argumentation immer nur ausschnittweise Bezug nimmt: Indem sie die Tradition des entsprechenden Wissens rekonstruiert, indem sie zeigt, daß Newtons Theorie die »Wirklichkeit« der Astronomie verändert und bis dahin zusammenhanglose Wissensinhalte in einer kohärenten Struktur integriert, macht sie den »Endzweck« dieses Wissens überhaupt erst sichtbar - daß es nämlich eine Orientierung des eigenen Handelns in gemeinschaftlichen Lebensformen ermöglicht. So aber wird offenbar, daß die Leistung von Geschichte, den »Endzweck der Welt« in die »Wirklichkeit« zu heben, eine Aufgabe darstellt, die maßgeblich aus der Gegenwart selbst motiviert ist. Es zeigt sich, daß bereits nar-
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rative Rekonstruktionen unverzichtbar sind, um die aktuale »Welt« überhaupt als »Wirklichkeit« begreifen zu können. Die je vorhandenen, an sich unreflektierten Lebensformen werden nur dann als strukturierte »Wirklichkeit« erkennbar, eröffnen somit nur dann bestimmte Handlungsoptionen, wenn die dazugehörigen »Vermittlungen« narrativ veranschaulicht werden. Erst Geschichte macht explizit, daß der je aktualen »Welt« ein sogenannter »Endzweck« des Denkens zugrundeliegt, konkrete Lebensformen Ausdruck des »vernünftigen« Selbstzwecks sind, durch Wissen Orientierung zu schaffen. Wie zuletzt Robert Brandom als genuin Hegelsche Erkenntnis ausgewiesen hat, läßt sich die »vernünftige« Konstitution der jeweiligen Lebensformen allein durch die Rekonstruktion ihrer Tradition begreifen.“ Koselleck hat für dieses Phänomen den Begriff des geschichtlichen »Erfahrungsraums« geprägt, aus dem die Gegenwart erklärbar wird. Später wird sich zeigen, daß entsprechende Rekonstruktionen auch noch über eine weitere wesentliche Bedeutung verfügen. Als unverzichtbare Vorleistung für die geschichtliche Post-hoc-Erklärungen sind sie erforderlich, um sich überdies die Entwicklung der eigenen Gegenwart erklären zu können. Ungeachtet der in dieser Hinsicht noch ausstehenden Vertiefungen vermittelt die skizzierte Bedeutung geschichtlichen Denkens einen ersten Eindruck, wie geschichtliche Praxis im Horizont gemeinschaftlichen Lebens verankert und wo folglich der genuine Zweck dieser Praxis anzusiedeln ist. Indem Geschichte die jeweils gegenwärtige »Wirklichkeit« rekonstruiert, ist sie die unverzichtbare Voraussetzung für die Fortgestaltung der Gegenwart selbst. Erst mit Hilfe eines geschichtlichen Erfahrungsraums läßt sich ein »vernünftiger« Standpunkt des Argumentierens und Handelns beziehen, wird eine Grundlage zur Gestaltung der Gegenwart geschaffen. Geschichte ist in diesem zunächst ganz allgemeinen Sinne Orientierung über die Konstitution der eigenen »Wirklichkeit« und die daraus resultierenden Optionen des Handelns. Ohne geschichtliche Explikation der Gegenwart läßt sich das eigene Handeln nicht als »vernünftig« ausweisen oder begründen. Dieser Zweck freilich ist noch in hohem Maße allgemein und daher unbefriedigend. Mögen sich in der jeweiligen »Welt« Handlungsoptionen allein aus der Geschichte entwickeln lassen, so findet dies doch in der argumentativen Entwicklung »vernünftiger« Standpunkte implizit bereits statt, ohne daß es dazu eigens einer Geschichtsschreibung bedürfte. Wozu also das Projekt einer eigenständigen Geschichte, einer selbständigen Disziplin der Geschichtsschreibung? Neben dieser Frage wartet auch eine andere noch auf
“ Vgl. Robert Brandom; Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, in: DZPHü., 47. IG., Hfl. 3 {1999), S. 376 sowie S. 380f.
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Antwort; Noch ist nämlich nicht klar geworden, weshalb Hegel zu der mißverständlichen Metapher von der >Gotteserkenntnis< greift, um eine reflektierte von einer unreflektierten geschichtlichen Rede zu unterscheiden. Die Einsicht, daß sich erst durch narrative Rekonstruktionen die >wirkliche< Konstitution der Gemeinschaft offenbart, ist ein interpretatives Ergebnis, das für diese Entscheidung noch keinen zureichenden Grund abgibt. Vielmehr wird sich zeigen, daß eine Lösung dieses Problems nunmehr die Berücksichtigung auch der zweiten geschichtlichen Erklärungsform, der Entwicklungsbeschreibung erfordert. Indem letztere die Gegenwart als Resultat einer Entwicklung darstellt, verschafft sie dem einzelnen den erforderlichen Erwartungshorizont, um eigene Handlungsoptionen ausloten zu können. In diesem Sinne >rechtfertigt< sie den Willen zu einer »vernünftigen« Lebensgestaltung überhaupt. Sie vollbringt damit eine Leistung, die nicht nur Hegels religiöse Metaphorik verständlich macht, sondern als deren genuine Umschreibung nun auch der zentrale Begriff der Hegelschen Geschichtsphilosophie begreiflich wird: der Begriff der »Theodizee«.
§15. Die Konstruktion handlungsleitender Erwartungen aus der Geschichte Hinter dem Begriff der »Theodizee« verbirgt sich das begriffliche Zentrum der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Mit diesem traditionsbelasteten Reizwort, das die meisten Hegel-Kritiker zum wesentlichen Anlaß ihrer diversen Vorwürfe genommen haben, umschreibt Hegel, worin er geschichtliches Denken auf seinen Begriff gebracht sieht - worin also der genuine Zweck dieses Denkens besteht. Daß sich die Bedeutung dieses scheinbar anachronistischen Terminus tatsächlich aus dem bis hierher rekonstruierten Gedankengang ergibt, daß dieser Begriff statt eines Rückfalls in eine vorkritische Ontologie den Angelpunkt in der Hegelschen Betrachtung geschichtlichen Denkens darstellt, scheint dabei einem Offenbarungseid der bisher geleisteten Interpretation gleichzukommen. Anspruch und Wirklichkeit dieser Interpretation wirken auf den ersten Blick auch hier wieder unvereinbar. Mag sich auch als eine erste Leistung geschichtlichen Denkens erwiesen haben, daß es die »vernünftige« Konstitution der je aktualen »Welt« sichtbar und somit erst gestaltbar macht, so ist doch unklar, was das um den »Theodizee«-Begriff gruppierte Hegelsche Vokabular mit diesem Zweck geschichtlicher Praxis zu tun haben soll. Wenn auf einmal von der »Rechtfertigung Gottes« die Rede ist, wenn Hegel ferner postuliert, mit Geschichte solle »das Übel in der Welt überhaupt« begriffen werden - wobei »das Böse mit inbegriffen« sei -, wenn schließlich
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der Anspruch erhoben wird, daß »der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden« soll, so entsteht wiederum allenfalls der Eindruck, die vorausgegangene Interpretation sei auf Abwege geraten, während der wahre, nämlich metaphysische Charakter der Hegelschen Überlegungen aus derlei Äußerungen nunmehr ungetrübt hervortrete.” Die Explikation der »vernünftigen« Konstitution der »Welt«, die geschichtliche Entwicklung eines Horizonts von Handlungsmöglichkeiten aus der Tradition, erhält scheinbar eine anachronistische Grundierung, derzufolge die »Übel« der »Welt« mit dem Hinweis auf eine letztlich »vernünftige« Gesamtentwicklung abgegolten werden sollen. Wo all dies nun auch noch unter den Titel einer »Rechtfertigung Gottes« gestellt wird, scheint sich unversehens ein metaphysisches Bild nicht unähnlich der »Theodizee« von Leibniz abzuzeichnen. Auch in der Geschichte nämlich gehe es, so die Lesart, offenbar insofern >sinnvoll< zu, als die Leistungen des Menschen insgesamt geeignet seien, über die geschehenen »Übel« sowie das geschehene »Böse« hinwegzutrösten.” Mit Geschichte lasse sich scheinbar die optimistische Vorstellung bemänteln, das menschliche Erdendasein könne jederzeit »vernünftig« entwickelt und geplant, ja die prätendierten Entwicklungen könnten sogar mit Gewißheit verwirklicht werden. Mit einem Wort, Geschichte gerät scheinbar zur Apotheose der Vorstellung, daß der Mensch totale Kontrolle über die Gestaltung seines Daseins auszuüben vermag, daß die Geschichte schlechterdings >machbar< ist. Diese Interpretation bedeutet den maßgeblichen Beweggrund für die Abkehr von der Geschichtsphilosophie, wie sie Löwith, Odo Marquard oder Herbert Schnädelbach vorexerziert haben. Die »Theodizee« Hegels wird zur säkularisierten, anthropozentrischen Variante ihrer theozentrischen Vorläufer, zum bornierten Glauben an eine schöpferische Omnipotenz des Menschen.” Ungeachtet ihrer nachhaltigen Wirkung auf die Rezeptionsgeschichte ist diese Auslegung des »Theodizee«-Begriffs womöglich in bestimmter Hinsicht voreilig. Wie zunächst nur angedeutet werden soll, bedeutet sie auf subtile Weise, Hegel einen zweiten argumentativen Schritt zu unterstellen, bevor er den ersten überhaupt getan hat. Selbst wenn er dem Glauben erlegen wäre, die Geschichte als Nachweis der >Machbarkeit< oder Kontrollierbarkeit des Daseins betrachten zu können, so setzt dies doch seinerseits eine Frage voraus, die als solche kaum weniger herausfordernd ist als der Glaube an die >Machbarkeit< der Geschichte selbst. Es handelt sich um die Frage, wie eine Erwartung des Künftigen, oder anders gesagt: wie eine Grundlage Ebd., S. 150 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, W. H.). Vgl. Leibniz: Versuche in der Theodic^e, S. 345ff. “ Vgl. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 59f.; Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 18f.; Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel, S. 17f.
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für gegenwärtige Handlungsentscheidungen, überhaupt geartet ist. Genau aber diese Frage ist es, der Hegels eigentliches Interesse gilt und die den Zusammenhang zum Vorausgegangenen herstellt: Wer das Kommende vorherzusehen oder gar in einem prätendierten Sinne >machen< zu können behauptet, wird zunächst einmal anfuhren müssen, woher er überhaupt die Erwartung nimmt, die eigene »Wirklichkeit« fortgestalten zu können. Die »Wirklichkeit«, wie sie an sich erscheint, bleibt sich gleich, heute wie morgen. So gesehen ist sie zeitlos. Damit aber deutet sich in Umrissen an, welche Rolle die teleologischen Post-hoc-Erklärungen in der Tat spielen dürften: Die Gegenwart in ihrer Veränderlichkeit und Unwägbarkeit nämlich vermag nur zu begreifen, wer sie als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung auffaßt. Nur im geschichtlichen Bild einer solchen Entwicklung wird die eigene »Wirklichkeit« greifbar als das, was sie de facto immer ist, nämlich Keim zu neuem Wandel, Ausgangspunkt einer potentiellen Fortentwicklung der jeweiligen Lebensformen. Ja, noch mehr als das: Indem Geschichte die eigene Gegenwart als Ergebnis einer solchen Entwicklung begreiflich macht, eröffnet sie selbst den Blick für die Gestaltbarkeit dieser Gegenwart, so daß eine Abschätzung des Kommenden möglich wird. Hegel selbst hat nichts anderes getan, als auf diese Voraussetzung zu verweisen. Sein geschichtsphilosophischer Anspruch lautet nicht, die Zukunft aus der Geschichte vorherzusagen, sondern zu zeigen, inwiefern Geschichte Bedingung der Möglichkeit dafür ist, das eigene Handeln auf eine Fortdauer der Gegenwart hin entwerfen zu können. Genau dies wird sich als maßgebliche Erkenntnis in bezug auf die Frage erweisen, worin der genuine Zweck geschichtlichen Denkens besteht. Mit Hegel wird sich zeigen, daß geschichtliche Praxis letztlich stets darauf zielt, die Voraussetzungen zu schaffen, um sich von der potentiellen Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens ein konkretes Bild machen zu können. Die Aufgabe von Geschichte besteht folglich darin, aus der vergangenen Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen Aufschluß über eigene Handlungsoptionen und in diesem Sinne über eine mögliche Gestaltung des eigenen Lebens zu gewinnen. Daß Geschichte den »denkenden Geist«, wie Hegel sagt, »mit dem Negativen versöhnt«, wird sich wesentlich als Umschreibung eben dieser Leistung erweisen.^* In Absetzung von allen Interpretationen, die dem Hegelschen Begriff der »Versöhnung« oder »Aussöhnung« den rein kontemplativen Sinn beimessen, das Vergangene als ein Vergangenes verstehen oder auch begreifen zu können, gleichsam einen Schlußstrich unter das Geschehene zu ziehen, zeigt sich, daß dieser Begriff statt dessen eine notwendig Urteils- und handlungsbezogene Bedeutung besitzt. Das Vergangene ist nicht an sich um sei“GW 18, S. 150.
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ner Vergangenheit oder Fremdheit willen von Interesse, sondern deshalb, weil es für die Gestaltung der eigenen Gegenwart eine orientierende Bedeutung besitzt. »Versöhnung« mit der Vergangenheit bedeutet nicht zu verstehen, weshalb es so kommen mußte, wie es gekommen ist, und mit der entsprechenden Entwicklung seinen Frieden zu schließen, sondern es bedeutet, aus dieser Entwicklung eigene Gestaltungsoptionen zu ersehen. Anders als daß »Versöhnung« implizieren würde, gerade aufgrund der vergangenen Entwicklung eigene Handlungsspielräume abschätzen zu können, wäre daher gar nicht klar, worin der Sinn einer »Versöhnung« mit der Vergangenheit überhaupt bestünde. Worauf nämlich würde sich dieser Begriff beziehen, wenn nicht darauf, daß durch geschichtliche Praxis eine gegenwartsbezogene Urteils- und Handlungsfähigkeit hergestellt wird? Hegels entsprechende Erläuterungen lassen sich auf besondere Weise veranschaulichen, wenn man sie aus dem Zusammenhang eines konkreten geschichtlichen Beispiels entwickelt. Daß sich der von ihm skizzierte Zweck von Geschichte nicht unterlaufen läßt, daß Geschichte, indem sie die Entwicklung des Gegenwärtigen rekonstruiert, zumindest implizit bestimmte Handlungsoptionen eröffnet, läßt sich besonders gut am Beispiel einer Verfallsgeschichte veranschaulichen, die den von Hegel beschriebenen Modus geschichtlicher Rede expressis verbis bestreitet. Der wohl radikalste und noch immer zeitgenössische Idealtypus einer solchen Geschichte, angelegt als verdeckte Polemik gegen Hegels Geschichtsphilosophie, ist Adornos Kritik der »bürgerlichen Gesellschaft nach Auschwitz«.^^ Hier wird versucht, eine geschichtliche Entwicklung zu beschreiben, deren angeblicher Modus nicht darin besteht, eine bestimmte - sei es optimistische, sei es düstere - Option gegenwärtigen Urteilen- und Handelnkönnens zu eröf&ien, sondern die Möglichkeit einer bewußten Gestaltung der Gegenwart ausdrücklich auszuschließen. Die Quintessenz der geschichtlichen Entwicklung der Moderne besteht laut Adorno gerade darin, daß sie jegliche Erwartung eigener Gestaltungsoptionen zerstört. Als maßgebliche Tendenz dieser Entwicklung betrachtet er den Prozeß der Individualisierung, in deren Verlauf sich der einzelne insofern emanzipiert habe, als er immer stärker aus ursprünglichen Traditionen herausgerissen worden, zugleich jedoch desto auswegloser an Diktatoren und »Liquidatoren« ausgeliefert worden sei. Als Höhepunkt dieser Entwicklung betrachtet er den Holocaust, den Massenmord an Namenlosen, die Verwandlung des Individuums in das bloße Exemplar, mit einem Wort: »die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt.«^* In dieser Gleichgültigkeit werde Überleben ^'Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1992, S. 354ff. ® Ebd., S. 355.
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zur Kontingenz, für das es keine Rechtfertigung mehr geben könne. Der einzelne werde zum ohnmächtigen Zuschauer, dem das Leben nur erträglich bleiben könne, solange er sich eine Vergegenwärtigung der gemeinschaftlichen Lebensverfassung versage. Das Individuum sei zum reflexionslosen Vegetieren in den Mühlen der »Kulturindustrie« verurteilt, zum dumpfen Verharren im »common sense«, an den laut Adorno auch Philosophie nur insofern rührt, als sie das kritische Bewußtsein für die Ausweglosigkeit dieser Situation zu wecken vermag.” »Verzweiflung« wird so zur »letzten Ideologie«.’“ Adornos Kerngedanke besteht somit keineswegs im bloßen Fazit eines Verfalls der gemeinschaftlichen Lebensformen, sondern in der viel radikaleren Behauptung, daß die moderne Entwicklung der Gestaltbarkeit des eigenen Lebens als solcher den Faden abschneidet: Die geschichtliche Rekonstruktion eröffnet keine Optionen künftigen Lebens, ermöglicht keine »Versöhnung«, indem sie Urteils- und Handlungsfähigkeit herstellt, sondern zeigt umgekehrt, daß es unsinnig wäre, die jeweilige »Welt« überhaupt noch gestalten, kurzum: das eigene Handeln überhaupt noch an bestimmten Zielen und Zwecken orientieren zu wollen. Daß dieses Bild ungeachtet seiner Radikalität die genuine Leistung geschichtlichen Denkens nicht wirklich aufeuheben vermag, wird deutlich, wenn man gegen Adornos These die einschlägigen Hegelschen Überlegungen ins Feld führt. Adorno erweist sich dabei gleichsam als moderner Antipode Hegels, als jener Denker, der die zentrale Einsicht der Geschichtsphilosophie bis heute am radikalsten in Frage gestellt hat. Gerade indem er das geschichtliche Denken ad absurdum zu führen versucht, sofern dieses angeblich den »denkenden Geist mit dem Negativen« >versöhntversöhnt< sie doch den einzelnen insofern, als sie ihm eine Erwartung dessen offeriert, wie er aufgrund oder sogar trotz dieser Geschehnisse sein Leben zu gestalten vermag. Im Modus der geschichtlichen Entwicklung selbst liegt folglich die »Versöhnung« beschlossen, und genau diese Einsicht ist es, die auch Adorno nicht zu widerlegen vermag. Daß geschichtliche Post-hoc-Bewertungen letztlich immer darauf angelegt sind, Möglichkeiten der Gestaltung der Gegenwart aufzuzeigen, eine Option künftigen Lebens zu entwerfen, geht dabei wesentlich aus der bereits zitierten Bemerkung Hegels hervor, daß Geschichte »das Übel in der Welt überhaupt« begreiflich mache, wobei überdies »das Böse mit inbegriffen« sei.’' Denn gerade indem nach den Folgen bestimmter Geschehnisse für die gemeinschaftliche Lebensverfassung gefragt wird, gerade indem solche Geschehnisse etwa als »Übel« bewertet werden, konturiert sich der Rahmen der aktualen Lebensformen, wird deutlich, was man von der entwicklungsbedingten Verfassung dieser Lebensformen erwarten kann. Damit sich diese Hegelsche Einsicht aus seinem Vorlesungsmanuskript rekonstruieren läßt, bedürfen freilich die Begriffe des »Übels« und des »Bösen« einiger zusätzlicher Erläuterungen. Was die Definition beider Begriffe angeht, so folgt Hegel, formal gesehen, wie auch einschlägige Passagen in der »Enzyklopädie« oder den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« zeigen, den Bestimmungen Kants: Demnach ist das »Böse« das »schlechthin Zweckwidrige, was weder als Zweck, noch als Mittel, von einer Weisheit gebilligt und begehrt werden kann«. Das »Übel« hingegen ist das »bedingt Zweckwidrige, welches zwar nie als Zweck, aber doch als Mittel, mit der Weisheit eines Willens zusammen besteht.«’^ Diese beiden Kantischen Definitionen haben in bestimmter Hinsicht eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Fast immer nämlich ist Hegels Bemerkung, daß Geschichte die »Übel« und auf bestimmte Weise auch das »Böse« begreiflich mache, als Behauptung aufgefaßt worden, daß die konkreten »Übel« samt dem »Bösen« aus einer geschichtlichen Notwendigkeit geschehen seien und dabei letztlich einem guten Zweck gedient hätten. Fast immer ist daraus der Vorwurf erwachsen, Hegel wolle mit dem Jubel über eine bestimmte »vernünftige« Entwicklung der Geschichte das erlittene Leid vergessen machen.” Betrachtet man nun jedoch die Definitionen Kants vor dem Hintergrund dessen, was Hegel zur Leistung geschichtlicher Rekonstruktionen bereits ausgeführt hatte, daß nämlich Geschichte die »vernünftige« Konstitution GW 18, S. 140. “ Kant: Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, A 198. Vgl. TW 7, S. 260ff.; GW 20, S. 494. “ Repräsentativ für diesen Verdacht gegenüber Geschichtsphilosophie und Theologie Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt 1995 (3. Aufl.), S. 205f.
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der gemeinsamen »Welt« überhaupt erst sichtbar macht, so wird deutlich, daß hier eine andere, viel grundlegendere Einsicht artikuliert werden soll. Was nämlich »Übel« sind, was das »Böse« eigentlich ist, - dies steht keineswegs von vornherein so klar fest, wie es die Kantischen Definitionen suggerieren. Daß Geschichte »Übel« und zum Teil auch das »Böse« begreiflich macht, soll gerade bedeuten, daß es zuallererst einer geschichtlichen Perspektive bedarf, um klären zu können, daß etwas von »Übel« oder daß etwas >böse< gewesen ist. Ebenso wie die Verfassung der gemeinschaftlichen Lebensformen nur aus ihrer Entwicklung erklärt zu werden vermag, kann auch nur eine Entwicklungsbeschreibung zeigen, welche Geschehnisse für den einzelnen sowie für die gemeinschaftliche Lebensverfassung von »Übel« oder auch >böse< gewesen sind. Kant selbst spricht in diesem Zusammenhang lediglich von der »Weisheit«, die das Geschehene als ein entweder »bedingt« oder »schlechthin Zweckwidriges« nicht »billigen« kann. Was mit dieser »Weisheit« gemeint ist, führt er nicht näher aus. Die Betrachtung der Konstitution geschichtlicher Praxis dagegen hatte bereits gezeigt, daß es sich dabei faktisch um eine geschichtliche Form der Bewertung handelt. »Weisheit« bedeutet, wie gesehen, die Entwicklung bestimmter gemeinschaftlicher Anerkennungen post hoc unter dem Gesichtspunkt ihrer Folgen für die Kontinuität »vernünftig« verfaßten Lebens zu bewerten. Tatsächlich aber ist es diese geschichtliche Perspektive der Bewertung, welche überhaupt erst die Kriterien liefert, um von einem »Übel« beziehungsweise vom »Bösen« sprechen zu können. »Übel« und »Böses« sind in diesem Sinne nichts anderes als kriteriale Formen der Bewertung einer geschichtlichen Entwicklung. Der Historiker bewertet etwas als »Übel«, wenn sich die Akteure aus seiner Sicht zwar legitimer Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, der verfolgte Zweck selbst jedoch längerfristig negative Folgen in bezug auf die gemeinschaftliche Lebensverfassung zeitigt. Von einem »Bösen« dagegen wird man in bezug auf Geschehnisse sprechen, die bereits mit den jeweils aktualen Grundlagen der gemeinschaftlichen Ordnung, Konventionen, Regeln, Gesetzen, unvereinbar sind, mit einem Wort: sämtliche Handlungen, denen weder ein legitimes Mittel noch ein post hoc »vernünftig« erscheinender Zweck zugrunde liegt. Auch die Bewertung solcher Handlungen läßt sich nur geschichtlich treffen, da erst eine narrative Rekonstruktion und Bewertung der entsprechenden Folgen deutlich macht, ob tatsächlich von zweck- wie auch mittelwidrigen und somit >bösen< Handlungen die Rede ist. So aber wird klar, weshalb Hegel ernsthaft davon sprechen kann, daß sich durch Geschichte »das Übel in der Welt überhaupt« - »das Böse mit inbegriffen« - begreiflich machen läßt. Es wird deutlich, daß es ihm dabei nicht um die Frage geht, weshalb ein bestimmtes »Übel« oder weshalb bestimmtes
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»Böse« geschehen muße, daß also geschehenes Leid mit geschichtlichen Rechtfertigungen lediglich übertüncht werden würde. Die landläufige Überzeugung, Hegel habe die »Übel« und das »Böse« der historischen Vergangenheit lediglich mit der Belohnung einer >Vernunftabwicklung< abgelten wollen, erweist sich gerade deshalb als unzutreffend, weil Geschichte, statt lediglich nach Rechtfertigungen für das Geschehene zu suchen, die Bedeutung dieser Geschehnisse überhaupt erst faßlich macht. Es gibt schlechterdings kein Bewußtsein eines erlittenen »Übels« wie auch eines erlittenen »Bösen« jenseits einer geschichtlichen Bewertung. Schon das Bewußtsein eines widerfahrenen »Bösen« setzt voraus, das Geschehene als >zwecklos< und auch die eingesetzten »Mittel« als illegitim beurteilen zu können, sich also gleichsam der >Vernunftwidrigkeit< des Geschehenen innezusein. Dies jedoch ist nur möglich, wenn entsprechende Handlungen nach ihren Folgen bewertet werden können und somit das Ganze einer »vernünftigen« Struktur vorausgesetzt wird, in der mögliche Zwecke und Folgen des Handelns bestimmt sind. Erst vor dem Hintergrund einer solch geschichtlichen Strukturbeschreibung läßt sich die >Zweck-< und >Mittelwidrigkeit< des »Bösen« überhaupt artikulieren, wird gleichsam als Schatten der gemeinschaftlichen »Welt« sichtbar, worin deren Zwecke ad absurdum geführt werden. Aus diesem Grund spricht Hegel auch davon, daß im geschichtlichen Begreifen dieser »Welt« das »Böse« lediglich »mit inbegriffen« ist. Genaugenommen wird nämlich nicht das »Böse« selbst begriffen, sondern lediglich der Rahmen, in dem es als >Vernunftwidriges< sichtbar wird. Daß neben solchem »Bösen« auch das »Übel« ausschließlich durch geschichtliche Bewertungen greifbar wird, ergibt sich demgegenüber beinahe von selbst. Denn daß sich ein Akteur zwar legitimer Mittel bedient, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, dieser Zweck jedoch selbst jedoch in der Folge zur Relativierung oder gar zum Verfall der gemeinschaftlichen Lebensverfassung beigetragen hat, läßt sich per definitionem erst aus der Rekonstruktion einer entsprechenden Entwicklung erschließen. Auch hier ist es die geschichtliche Bewertung der jeweiligen Geschehnisse, die ein Bewußtsein für das, was in den Geschehnissen erlitten worden ist, überhaupt erst artikuliert. Daß nun solche Bewertungen, indem sie das Geschehene in eine geschichtliche Entwicklung einbetten und damit in seiner konkreten Bedeutung begreiflich machen, immer eine Orientierung des Handelnden in seiner eigenen Gegenwart zum Ziel haben, ja daß selbst eine deutlich negative Bewertung jener Entwicklung den Akteur mit der Vergangenheit insofern >versöhntvorgesehenes< Resultat der Geschichte aus der Entwicklung der gemeinschaftlichen Anerkennungen erklärt. Daß der Prozeß der Individualisierung in die Gleichgültigkeit des einzelnen umgeschlagen sei, erscheint als notwendiges Resultat einer entsprechenden Kontinuität: Gerade weil die Individualisierung stetig vorangeschritten sei, gerade weil man die Selbstbestimmungsrechte des einzelnen beständig ausgebaut habe, sei jenes institutioneile Vakuum entstanden, in welchem der isolierte Akteur zum hilflosen Opfer einer terroristischen Staatsmacht und Wirtschaftsmaschine habe werden können. Daß die genuine Leistung einer solchen Post-hoc-Bewertung immer darin besteht, sich ein Urteil darüber machen zu können, was aufgrund und trotz des geschehenen »Übel« zu tun möglich bleibt, liegt nun im Modus der geschichtlichen Post-hoc-Bewertung selbst begründet. Gleichgültig, welche konkreten Geschehnisse dabei in den Mittelpunkt der Aufinerksamkeit gerückt werden, signalisiert bereits die Form der Bewertung als solche stets eine Urteils- und handlungsbezogene Involvierung des Betrachters. Wo immer das von Hegel skizzierte Prinzip der »Weisheit« zur Grundlage der geschichtlichen Rekonstruktion gemacht und folglich nach dem konkreten Beitrag der jeweiligen Akteure gefragt wird, die Möglichkeit von »Macht« und damit die Kontinuität des gemeinschaftlichen Lebens zu sichern, verweist die geschichtliche Rekonstruktion über sich und den rekonstruierten Spielraum von Handlungsmöglichkeiten hinaus. Die Frage, inwiefern das Handeln der Akteure, der Gebrauch ihrer »Macht«, grundsätzlich zum Er-
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halt eines Rahmens gemeinschaftlicher Lebensformen beigetragen hat, so daß die Möglichkeit »vernünftigen« Urteilens und Handelns gewährleistet geblieben ist - diese Frage ist überhaupt nur dann sinnvoll gestellt, wenn sich der Fragende selbst als Adressaten der Antwort begreift. Worin besteht der Zweck einer entsprechenden Untersuchung, wenn die Entwicklung, welche durch die »Macht« der Akteure in Gang gesetzt worden ist, keine Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Gegenwart selbst hat? Indem geschichtlich bewertet wird, auf welche Weise die vergangenen Geschehnisse den Gestaltungsspielraum eines »vernünftig« verfaßten Lebens beeinflußt haben - ob mehr oder eben weniger günstig -, macht sich der Betrachter eine Erwartung darüber, was ihm im Rahmen der herausgebildeten Lebensformen zu tun möglich bleibt. Die Vorstellung, daß Geschichte lediglich auf eine kontemplative Durchdringung der Vergangenheit angelegt sei, ist daher mindestens genauso fragwürdig wie die Auffassung, daß Hegel selbst einem bloß kontemplativen »Mitteilungssinn« von Geschichte das Wort geredet habe.’“' Seine Erkenntnis besteht vielmehr darin, daß Geschichte die Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen deshalb rekonstruiert, weil der spezifische >Machtgebrauch< der jeweiligen Akteure die historischen Voraussetzungen für die eigenen Handlungsmöglichkeiten schafft. Nur das geschichtliche Wissen um die Folgen, die bestimmtes Handeln für die allgemeinen Rahmenbedingungen gemeinschaftlichen Lebens gezeitigt hat, erlaubt eine Abschätzung dessen, welche Folgen das eigene Handeln in der geschichtlich herausgebildeten gemeinschaftlichen »Welt« zeitigen wird. Eine Bewertung wie jene, daß eine bestimmte Entwicklung für die Kontinuität gemeinschaftlicher Lebensformen von »Übel« gewesen sei, zeigt dem Betrachter bestimmte Grenzen auf, denen sein Handeln unterworfen ist, führt ihm vor Augen, womit er rechnen muß, beziehungsweise nicht rechnen darf, wenn er die Ziele und Zwekke seines eigenen Tuns abwägt. Der konstatierte Verfall impliziert immer eine Einschränkung des gegenwärtigen Handlungsspielraums, die die Akteure gewärtigen müssen, um sich in ihren Erwartungen nicht zu täuschen. Umgekehrt ist die Bewertung einer geschichtlichen Entwicklung als Fortschritt immer Ausdruck eines Zugewinns an Handlungsmöglichkeiten, veranschaulicht dem Betrachter neue Chancen, die sich seinem Handeln eröffnen, führt ihm vor Augen, womit er rechnen kann und darf, wenn er die Ziele und Zwecke seines Tuns abwägt. Gleichgültig aber, welcher Modus für die geschichtliche Bewertung als solche charakteristisch ist, die genuine Leistung dieser Bewertung ist immer dieselbe: Geschichte schafft durch die Rekonstruktion und Bewertung der jeweiligen Entwicklung de facto die Vgl. Schnädelbach: »Sinn« in der Geschichte?, S. 57.
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Erwartung bestimmter Handlungsmöglichkeiten und bewirkt so tatsächlich, wie Hegel formuliert, eine »Versöhnung« der Gegenwart »mit dem Negativen« der Vergangenheit: Selbst wenn sich viele Geschehnisse auf die Gesamtverfassung des gemeinschaftlichen Lebens >negativ< ausgewirkt haben, post hoc betrachtet die Kontinuität dieses Lebens einschränken oder sogar gefährden, so entwirft doch die konkrete Geschichte, gerade indem sie das Geschehene als »Übel« und »Böses« rekonstruiert, einen bestimmten Handlungsspielraum, der sich trotz und aufgrund des Geschehenen eröffnet und eine Option zur Ausgestaltung des eigenen Lebens impliziert. Es ist nicht übertrieben, diese substantielle Leistung mit den Worten zu umschreiben, daß Geschichte das Vergangene um der Zukunft willen bewältigt, daß ihre geradezu kathartische Bedeutung darin besteht, durch die Beschreibung der Entwicklung des Vergangenen eine Möglichkeit von Zukunft zu erschließen. Damit aber wird deuüich, weshalb es Adorno nicht gelingt, »Versöhnung« als maßgebliche Leistung geschichtlichen Denkens ad absurdum zu führen. Es wird deutlich, daß Geschichte die Entwicklung der eigenen Gegenwart nicht deshalb zu rekonstruieren sucht, weil sie realiter von dem fatalistischen Bedürfnis geleitet werden würde, sich das Scheitern der eigenen Handlungsmöglichkeiten, die Ohnmacht des modernen Menschen erklären zu wollen. Daß Adorno den Versuch macht, dieses Bemühen sogar als einzig verbliebene Möglichkeit geschichtlichen Denkens zu charakterisieren, bedeutet allenfalls, daß er das handlungsbezogene geschichtliche Interesse mit einem anderen Etikett versieht. Wenn er seine Deutung der Moderne mit der Einsicht beschließt, daß der einzelne in der »bürgerlichen Gesellschaft nach Auschwitz« keine Möglichkeit mehr habe, auf die Gestaltung der Gemeinschaft einen selbstbestimmten Einfluß zu nehmen, dann erweist sich vielmehr selbst noch die darüber bekundete »Verzweiflung« entgegen ihrer performativen Selbstdeutung als spezifische Form, »Versöhnung« zu stiften und durch die geschichtliche Rekonstruktion der Vergangenheit die spezifische Erwartung eines bestimmten Handlungsspielraums zu eröffnen. Auch wenn Adorno verbal darauf insistiert, daß der Holocaust das Überleben an die Wahrscheinlichkeitsrechnung deligiert habe und die damit verknüpfte Schuld »mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen« sei, auch wenn er die Möglichkeit einer »Versöhnung«, die Aussicht auf eine bewußte Gestaltbarkeit des eigenen Lebens gerade unter Verweis auf die geschichtliche Entwicklung expressis verbis bestreitet, schafft er paradoxerweise selbst noch mit diesem Befund die Voraussetzungen, sich von den eigenen Handlungsoptionen ein bestimmtes Bild machen zu können.“ Gerade indem er die scheinbar desillusionierende Konsequenz zieht, sich künftig nur noch im ’’ Adorno: Negative Dialektik, S. 357 (Hervorhebung von mir, W. H.).
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Widerstreit »zwischen unfreiwilliger Ataraxie ... und der Vertiertheit des Involvierten« einrichten zu müssen, gerade indem er die Option entwirft, nach Auschwitz gleichsam nur noch im ohmächtigen Aufbegehren gegen die »Kulturindustrie« leben zu können, orientiert er über die verbliebenen Möglichkeiten einer selbständigen Lebensgestaltung.’^ Diese Diagnose gilt ganz unbeschadet der Frage, ob seine Analysen und Orientierungen anerkennungswürdig sind. Anstatt das reale Ende eines gemeinschaftlich konstituierten Lebens zu verkünden, skizziert er faktisch eine Option dessen, wie dieses Leben vom einzelnen noch gestaltet werden kann. Daß diese Option aufgrund ihrer intellektuellen Konzeption nur wenigen Auserwählten Vorbehalten und insofern einem elitistischen Gestus verhaftet bleibt, tut dabei zunächst nichts zur Sache. Auch wenn nur wenige tief genug dringen, um sich als Rädchen wider Willen im Getriebe der »Kulturindustrie« begreifen und dadurch einen letzten Rest menschlicher Würde bewahren zu können, verschafft ihnen die Rekonstruktion der geschehenen »Übel«, des geschehenen »Bösen«, eine spezifische, gegenwartsbezogene Urteils- und Handlungsfähigkeit. Die entsprechende Option ist karg, aber gleichwohl vorhanden: Mag auch der Holocaust das Leben in eine interesselose Zufälligkeit verwandelt haben, so ist es gleichwohl konstitutiv für Gemeinschaft und eine entsprechende Handlungsorientierung, um diese Aussichtslosigkeit zu wissen. Sie ist mindestens konstitutiv für ein ausgeprägtes Elitenbewußtsein. Auch Adornos Geschichte leistet somit >Versöhnung< im Hegelschen Sinne. Der einzelne leitet aus ihrem >Erfahrungsraum< de facto nicht die Vergeblichkeit seines Handelns ab, sondern verschafft sich - auch im verbalen Modus der Selbstverleugnung - eine geschichtlich gespeiste Orientierung, die Koselleck mit den Worten umschreibt, sich durch Geschichte einen bestimmten »Erwartungshorizont« zu bilden.’^ Es wird deutlich, daß geschichtliche Post-hoc-Erklärungen und -Bewertungen im Hegelschen Sinne immer darauf angelegt sind, aus der Vergangenheit einen solchen »Erwartungshorizont« zu schöpfen, daß folglich die spezifische Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen einen bestimmten eigenen Handlungsspielraum prätendiert und insofern über eigene Handlungsmöglichkeiten orientiert. Es erweist sich als projektiver Zweck geschichtlicher Praxis, diesen »Erwartungshorizont« durch konkrete Rekonstruktionen immer wieder neu herzustellen. Anders als aufgrund eines solchen, handlungsbezogenen Interesses würde es geschichtliche Praxis vermutlich gar nicht geben. Nur deshalb erhebt Geschichtsschreibung auch den Anspruch darauf, ein eigenständiges Projekt zu sein - weshalb es nicht ausreicht, daß in den jeweiligen PraxisEbd., S. 356. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 349ff.
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formen ein bestimmtes geschichtliches Wissen bereits implementiert ist. Denn gerade weil Fortschritte den gegenwärtigen Handlungsspielraum der Akteure erweitern beziehungsweise Rückschritt und Verfall ihn einschränken können, sind auch die eigenen Erwartungen höchst fallibel, solange sie nicht zu einem Mindestmaß auf die geschichtlich rekonstruierte Entwicklung der jeweiligen Lebensformen zurückgeführt werden. Die Orientierung des eigenen Handelns, eine Erwartung dessen, was sich künftig (noch) tun läßt, erweist sich als Ertrag, der aus der Geschichte regelrecht errungen werden muß. Weder ist eine stabile gemeinschaftliche Entwicklung selbstverständlich, noch gibt es die Sicherheit bestimmter Erwartungen. Die genuine Leistung geschichtlichen Denkens, wie sie in Hegel Begriff der »Versöhnung« zum Ausdruck kommt, ist damit gleichwohl nur vordergründig bestimmt. Denn zwar mag Geschichte im skizzierten Sinne einen »Erwartungshorizont« hersteilen. Die »Versöhnung« jedoch, die auf solche Weise bewirkt wird, steht und fällt zunächst mit den bloßen Versicherungen des Geschichtsschreibers. Sie beruht auf narrativen Rekonstruktionen, Posthoc-Erklärungen und -Bewertungen, deren Inhalt nicht angezweifelt werden darf, wenn der offerierte »Erwartungshorizont« überhaupt zur Orientierung taugen soll. Eine entsprechend unreflektierte Anerkennung der geschichtlichen Rekonstruktion selbst jedoch steht offenkundig in Widerspruch mit der Tatsache, daß Zweifel an der Erklärungskraft einer Geschichte nicht nur grundsätzlich möglich sind, sondern solche Zweifel geradezu ein konstitutives Merkmal der institutionalisierten Erforschung der Vergangenheit selbst darstellen. Weshalb aber sollte man eine geschichtliche Posthoc-Bewertung akzeptieren und zum Anlaß für eine bestimmte Erwartung nehmen, wenn viele andere Bewertungen oder Geschichten mit ihr konkurrieren können, wenn sich anstelle der einen ebensogut eine andere Option vertreten läßt? Tatsächlich wird sich zeigen, daß »Versöhnung« im Hegelschen Sinne nicht schon automatisch mit dem Projekt der geschichtlichen Entwicklung eines beliebigen Erwartungshorizontes zur Deckung kommt. Daß die konkrete Geschichte das Geschehene zu bewältigen hilft, ist keine unmittelbare Folge einer kontingenten, von ihr erzeugten Erwartung. Die Erwartung ist vielmehr ihrerseits nur unter bestimmten Voraussetzungen handlungsleitend. Ebenso wie sie sich aus der Rekonstruktion der Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen speist, sind auch die von ihr offerierten Gestaltungsspielräume nur dann geeignet, eine Orientierung des eigenen Handelns zu gewährleisten, wenn diese Optionen ihrerseits als potentielle Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen insgesamt gedacht werden. Eine reale »Versöhnung« mit der Vergangenheit ist nur möglich, wenn sich die durch Geschichte hergestellte Urteils- und Handlungsfähigkeit auf
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das Ganze einer möglichen Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens bezieht. Diese Einsicht Hegels gilt es im folgenden anhand jener Begriffe zu erläutern, mit denen er selbst den genuinen Zweck geschichtlichen Denkens zu artikulieren versucht hat und deren Bedeutung nach wie vor unklar ist: die Begriffe der >Erkenntnis< und der >Rechtfertigung GottesErwartung< durch »Machbarkeit« der Zukunft? Hegels Suche nach dem genuinen Zweck geschichtlichen Denkens steht vor dem Ziel. Die bisherigen Ergebnisse prätendieren den weiteren Gang der Untersuchung: Wenn Geschichte aus dem Vergangenen eine Erwartung des Künftigen erschließt, so steht zu fragen, welcher Art diese Erwartung sein muß, um tatsächlich - wie behauptet - Orientierung schaffen zu können. Geschichtsphilosophie fragt nach den Voraussetzungen, unter denen die geschichtlich gespeiste Option bestimmter Handlungsspielräume tatsächlich handlungsleitend wird. Scheint jedoch diese Frage den weiteren Gang der Untersuchung vorwegzunehmen, so bedeutet sie zugleich den Anlaß, für einen Moment innezuhalten. Keinesfalls nämlich erfreut sich jene Prätention der Übereinstimmung mit verschiedenen Kritikern der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Das Gegenteil ist der Fall. Auf Hegels Geschichtsphilosophie ist immer wieder ein Verdacht projiziert worden, der eingangs bereits erwähnt worden ist und fraglos einen der wichtigsten Vorbehalte gegen die Geschichtsphilosophie überhaupt darstellt, vor allem aber geeignet erscheint, jene Prätention zu widerlegen. Ihm zu begegnen ist daher unausweichlich, wenn die vorgeschlagene Interpretation Plausibilität für sich beanspruchen möchte, und so ist an dieser Stelle ein vermittelnder Einschub geboten. Es handelt sich grob gesagt um den Verdacht, »daß die Geschichtsphilosophie kein ewiges Ressort der fundamentalphilosophischen Branche ist, sondern daß sie - was ihre Zeugung, ihre Geburt und ihren Lebenslauf betrifft - ein datierbares Phänomen ist«. Mit dieser These der Datierbarkeit verbindet Odo Marquard - zugleich neben Koselleck ihr profiliertester Vertreter - die Auffassung, daß Geschichtsphilosophie der zeitgeschichtlich bedingte, nämlich aufklärerische Versuch sei, mehr aus der Geschichte zu machen, als sie eigentlich sei.’* Geschichtsphilosophie wolle sich nicht mit geschichtlich gestützten Optionen einer auf bestimmte Weise gestaltbaren ^ Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 67.
§ 16. Substitution der >Erwartung< durch »Machbarkeit«?
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Gegenwart zufriedengeben, sondern Garantien dafür schaffen, daß die jeweiligen Optionen tatsächlich eintreten. Anstatt sich mit der Formulierung von Erwartungen, statt sich mit Orientierung zu begnügen, gehe es der Geschichtsphilosophie darum, das Erwartete als Wirklichkeit vorauszusagen. Mit einem Wort: Es gehe der Geschichtsphilosophie nicht einfach um Optionen, sondern um die Machbarkeit der Geschichte - nicht um eine geschichtlich gestützte Erwartung der Zukunft, sondern um die Machbarkeit dieser Zukunft.” Es ist hier nicht der Ort, die philosophiegeschichtlichen Bewertungen zu ergründen, die im einzelnen zu diesem Urteil geführt haben. Gleichwohl stünde grundsätzlich zu fragen, ob nicht der Versuch voreilig ist, die klassische Geschichtsphilosophie als geistesgeschichtliche Wurzel eines Phänomens darzustellen, das erst in der revolutionären Zuversicht Lenins einen wirklich paradigmatischen Ausdruck gefunden hat.“ Sollte der Glaube an die Machbarkeit der Zukunft tatsächlich aus der Aufklärung erwachsen sein, wo er sich doch in der Aufklärung selbst nur schwerlich beobachten läßt? Selbst Condorcet, fraglos einer der fortschrittsgläubigsten aller Aufklärer, spricht vom potentiellen Fortschritt nirgends in der Gewißheit, daß an der Verwirklichung entsprechender Optionen kein Zweifel bestehen könne. Zwar ist er der Auffassung, daß dem Fortschritt prinzipiell keine Grenze gesetzt sei, daß er sich befördern und beschleunigen lasse. Wo jedoch von der Erreichbarkeit konkreter Optionen die Rede ist, da spricht auch Condorcet stets nur von den »Hoffnungen«, die sich mit dem Gedanken an die Zukunft verbinden.“ Und auch Kant, der laut Koselleck mit seiner »Frage nach der Geschichte apriori« trotz aller eigenen Skepsis faktisch »das Modell ihrer Machbarkeit gesetzt« habe, hat nirgends behauptet zu wissen, wie es kommen werde.“ Wo vom »Plane der Natur« die Rede ist, »der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung« abziele, ist weder von einer Zukunftsvision geschweige von deren Machbarkeit die Rede. Daß es einen solchen Plan gibt, schließt Kant allein aus der Vergangenheit. Als wesentliche Eigenschaft einer entsprechenden Fortschrittsgeschichte aber bezeichnet er bemerkenswerterweise, daß sie »eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet«.“ Anstelle eines Plädoyers für die Machbarkeit der Zukunft wird hier genau jenes Merkmal von Geschichte namhaft
” Ebd., S. 70. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 264ff. * Wladimir I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, Berlin 1974 (14. Aufl.), S. 59. ■" M.-J.-A.-N.-C. Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. v. W. AlfF, Frankfurt 1976, S. 36. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 267. ’’ Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 407 und 409.
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gemacht, das Hegel später als >versöhnende< Leistung geschichtlichen Denkens begreift. Sofern man überhaupt von einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus der Aufklärung sprechen kann, zeigt er sich doch immer nur als das in hellen Farben gemalte Bild eines bestimmten Erwartungshorizontes, das geschichtlich aus dem Erfahrungsraum eines Jahrhunderts der politischen und sozialen Revolutionen gespeist wird. Solche Einwände geben nun keinerlei Anlaß, den Inhalt der begriffsgeschichtlichen Analysen Kosellecks als solchen in Zweifel zu ziehen. Es ist unstrittig, daß die Geschichtsphilosophie seit Vico immer wieder darauf verwiesen hat, daß die Geschichte oder auch - mit Vicos eigenen Worten »die politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist.«** Koselleck und Marquard jedoch profitieren fraglos von der semantischen Zweideutigkeit der Rede vom >Machenmachen< möglich erscheint. Koselleck hat in diesem Sinne völlig Recht, wenn er davon spricht, daß Geschichte »politische Planungshorizonte« erschließt. Weshalb jedoch auf Geschichte gestützte Planungen oder >Erwartungen< gleichbedeutend damit sein sollten, daß man die künftige Geschichte tatsächlich »voraussehen« oder exakt im prätendierten Sinne »hervorbringen« kann, ist keineswegs so klar wie von ihm behauptet.Was man sich von der Zukunft >erwartetwahren< Gang der Geschichte vorzustellen bemüht ist, versucht Geschichtsphilosophie die Bedingungen freizulegen, unter denen der Anspruch einer Geschichte, eine Option künftigen Lebens zu entwickeln, tatsächlich als handlungsleitend erscheint. Es zeigt sich, daß sich in der geschichtsphilosophischen Erkenntnis keineswegs die Verwandlung des gleichsam kontemplativen Geschichtsschreibers in einen aktivistischen Geschichts->Macher< vollzieht. Geschichtsphilosophie vielmehr versucht zu begreifen, was jener Geschichtsschreiber macht, wenn er Geschichte schreibt - oder anders gesagt; was er tut, wenn er mit Hilfe von Geschichte Erwartungshorizonte künftigen Lebens skizziert. Die entsprechenden begrifflichen Voraussetzungen gilt es nunmehr zu entwickeln. Die Untersuchung kehrt damit zum Ausgangs" Zur historischen Kritik dieser These vgl. Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976, S. 131f.; sowie Hans Blumenberg; Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt 1996, S. 38.
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punkt der bis hierher rekonstruierten Überlegungen Hegels zurück; zur Frage nach der Bedeutung jener diskreditierten Begriffe der >Erkenntnis< und >Rechtfertigung Gottesversöhnenden< Bedeutung geschichtlicher Post-hoc-Bewertungen den Eindruck allzu großer Allgemeinheit, als daß sie diese Unklarheit ausräumen könnten. Noch viel undeutlicher ist nach wie vor, weshalb Hegel die genuine Leistung geschichtlichen Denkens mit dem Begriff der >Gotteserkenntnis< umschreibt. War der Begriff >Gottes< ohnehin bislang nur in einer negativen Bedeutung vorgestellt worden, als verbale Bemäntelung einer unbegriffenen geschichtlichen Praxis, als Versuch, die jeweiligen Versicherungen über die »Vorsehung« einer geschichtlichen Entwicklung metaphysisch zu überhöhen und damit dem Zugriff einer begreifenden Beurteilung zu entziehen, so muß seine Verknüpfung mit dem angeblich Urteils- und handlungsbezogenen Interesse geschichtlichen Denkens noch weitaus rätselhafter erscheinen. Entgegen allen Vorbehalten zeigt sich jedoch, daß Hegels Anspruch, >Gott< allen Ernstes >erkennen< zu wollen, keine Verirrung auf metaphysische Abwege bedeutet, sondern ausgerechnet auf die Schließung jener begrifflichen Lücke zielt, die sich bis hierher aufgetan hat. Tatsächlich greifen der Anspruch der >Gotteserkenntnis< und die offene Frage nach dem Maßstab einer handlungsleitenden, geschichtlich konstituierten Erwartung auf bestimmte Weise ineinander. Hegels scheinbar absurder Anspruch erweist sich genauer gesagt als Chiffre für die Einsicht, daß die durch Geschichte gewährte Erwartung stets eine Option der Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens selbst offerieren muß. Eine wirklich handlungsleitende Orientierung gewähren geschichtlich gespeiste Erwartungshorizonte also nur dann, wenn die rekonstruierte Entwicklung der jeweiligen Lebensformen einen Ausblick
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auf die potentielle Fortgestaltung dieser Lebensformen insgesamt gestattet. Anders als daß Geschichte eine solche Option offeriert, anders als daß sie vor Augen führt, welche Formen einer gemeinschaftlichen Gestaltung der Gegenwart möglich sind, müßte sich jede beliebige Erwartung, etwas Bestimmtes tun zu können, als Trugbild erweisen. Nur wenn die eigenen Urteils- und Handlungsmöglichkeiten auf das Ganze einer potentiellen gemeinschaftlichen Entwicklung bezogen werden, die Möglichkeit einer solchen Entwicklung von vornherein unterstellt wird, gibt es für Erwartungen überhaupt einen Anhaltspunkt. Der einzelne muß sich gleichsam zur Möglichkeit einer Fortgestaltung der Gegenwart bekennen, muß letztere als entwicklungsfähiges Ganzes begreifen, um sein Handeln orientieren zu können. Daß Hegel die geschichtliche Artikulation einer entsprechenden Erwartung damit gleichsetzt, >Gott< zu >erkennenGott< überhaupt besteht. Worin sind die Auswirkungen eines solchen Bekenntnisses zu suchen, wenn nicht in dem Glauben an die Kontinuität eines gemeinschaftlichen Lebens selbst? Tatsächlich wird sich zeigen, daß nicht eigentlich die Anerkennung bestimmter Regeln oder Gesetze für den Glauben an >Gott< konstitutiv ist, sondern statt dessen die Erwartung einer Möglichkeit zur gemeinsamen Gestaltung der Gegenwart wie auch die gegenseitige Versicherung dieser Erwartung. Auf ganz allgemeine Weise ist das Bekenntnis zu >Gott< damit identisch, sich zur Möglichkeit einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu bekennnen. Weil sich aber nur mit Hilfe eines geschichtlich gestützten Erwartungshorizontes klären läßt, worin die entsprechende Option einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens überhaupt besteht, weil nur eine solche Klärung vor Augen führt, was sich von der gemeinsam gestaltbaren Gegenwart erwarten läßt, ist tatsächlich auch Hegels Behauptung gerechtfertigt, daß Geschichte >Gott< als solchen >erkennbar< macht. Denn erst wenn mit Hilfe von Geschichte zum Ausdruck gebracht, welche Option gemeinschaftlichen Lebens sich überhaupt eröffnet und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben, wird anschaulich, was es überhaupt bedeutet, sich zu dem bestimmten jeweiligen >Gott< zu bekennen. Anders als daß dieses Bekenntnis eine konkrete Handlungsorientierung implizieren würde, hätte es keinen erkennbaren Sinn. Diese zunächst nur tentative Einsicht läßt sich am ehesten ex negativa veranschaulichen. Die entsprechende rhetorische Frage lautet, wie man sich von Kontinuität überhaupt eine Erwartung machen und an dieser das eige-
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ne Handeln orientieren könnte, wenn diese Erwartung nicht aus der Rekonstruktion und Bewertung der Entwicklung der eigenen Lebensformen resultieren würde. Eine solche Alternative scheint einzig ein dogmatisches Moraloder Religionsverständnis zu offerieren. Die entsprechende Vorstellung lautet, daß Kontinuität aus der Stabilität eines Normen- und Regelgebäudes resultieren müsse, aus der moralischen Disziplin der Akteure, die dank ihrer Einsicht in die Erfordernisse der gemeinschaftlichen Ordnung stets das >Böse< unterlassen und das >Gute< tun, so daß sich im starren Rahmen der entsprechenden Normen Gemeinschaft reproduzieren kann. Genau dieses Bild ist es, gegen das sich Hegel wendet und welches auch durch ein gleichsam ungeschichtliches Gottesverständnis repräsentiert wird. Dem Glauben, daß Kontinuität durch die Stabilität der normativen Ordnung geschaffen werde, entspricht die Vorstellung von >Gott< als einem Garanten der ewigen Geltung von Regeln und Normen. Es handelt sich um die Vorstellung eines anthropomorphen Gesetzgebers, der über die Einhaltung der von ihm verfügten Regeln, Gebote und Gesetze wacht und ihre Übertretung mit Strafen ahndet. Um ein solches Verständnis von Kontinuität und ihren Voraussetzungen in Frage zu stellen, genügen wenige Hinweise auf Hegels bisherige Überlegungen. Gegen das statische Kontinuitätsverständnis und das anthropomorphe Gottesbild spricht demnach bereits die hinlänglich erörterte Tatsache, daß auch Regeln, Normen, überhaupt Geltungsansprüche, das Ergebnis einer Geschichte von Anerkennungen sind und in ihrer spezifischen Bedeutung daher ebenfalls nur aus der entsprechenden Entwicklung begriffen werden können. Absolute Normen, deren Verständnis sich jenseits aller Geschichte erschließen würde und welche von einer geschichtsunabhängigen Instanz lediglich eingesetzt zu werden brauchten, um gültig zu sein, stellen einen Widerspruch in sich selbst dar. Eine Antwort auf die Frage, weshalb jene Normen überhaupt Anerkennung genießen, erfordern statt dessen immer den Verweis auf die Geschichte der Entstehung dieser Normen, bedeutet, auf die Entwicklung zu verweisen, in der sich die spezifischen Bräuche, Regeln und Gesetze als Garanten einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens etabliert haben. Die zentrale Frage freilich, die aus der Diskreditierung eines statischen Kontinuitäts- oder Gottesverständnisses resultiert, ist kaum besser geeignet, den Hegelschen Überlegungen gerecht zu werden. Sie lautet, ob mit der Verdrängung des anthropomorphen Gottesbildes nicht der Gottesbegriff als solcher jede greifbare Bedeutung verloren haben, ob nicht der Glaube an >Gott< als den Schöpfer einer festgefügten Ordnung durch Geschichte letztlich vollständig substituiert worden sei. Versuche, Hegels Überlegungen diese Auffassung beizumessen, könnten sich
§17. Kontinuität als Substrat von Erwartungen
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als voreilig erweisen.''* Auch wenn zunächst der Eindruck entsteht, als ob seine Rede von einer >Gotteserkenntnis< durch Geschichte Ausdruck der allenfahs aus politischen Opportunitätsgründen kaschierten Auffassung sei, daß in Wirklichkeit Geschichte gerade die Hinfälligkeit jeglichen Gottesglaubens demonstriere, auch wenn eine solch heimliche Substitution für die Geburtsstunde des Historismus genommen werden mag, so ist Hegels Absicht gleichwohl eine andere.""* Wenngleich eine ausführliche Darlegung des Hegelschen Gottesbegriffes einer Auseinandersetzung mit seiner Religionsphilosophie Vorbehalten bleiben muß, so geht doch soviel aus den Bemerkungen des geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskripts hervor, daß es Hegel statt um eine vordergründige Religionskritik umgekehrt um ein besseres Verständnis dessen zu tun gewesen ist, worin religiöser Glaube überhaupt besteht. Wenn die Vorstellung, gemeinschaftliches Leben auf das Fundament ewiger Normen und Gesetze gründen zu können, dem Bild einer geschichdichen Beweglichkeit der gemeinschaftskonstitutiven Orientierungen Platz machen muß, so ist dies keineswegs der Auftakt zu einem kulturrelativistischen Atheismus. Es handelt sich vielmehr um die Korrektur eines metaphysischen Selbstmißverständnisses in bezug auf die Frage, worin der eigendiche Gegenstand religiösen Glaubens besteht.*“ Hegel entwirft in seinem geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript eine deudiche Antwort: Religiöser Glaube hat nicht eigentlich fertige Gedankeninhalte, fixe Begriffe zum Gegenstand wie zum Beispiel >gottgegebene< Normen, Regeln oder Gesetze, richtet sich nicht auf einen metaphysischen >GottGottgerechtfertigt< werden würde [2]. Ebenso wie Hegel die >Erkennbarkeit< der »Übel« auf die Form geschichtlicher Post-hocBewertungen zurückfiihrt, begreift er auch die Figur der >Rechtfertigung Gottes< aus ihrer spezifischen Bedeutung für Urteilen und Handeln, nämlich als genuine Leistung jenes geschichtlichen Denkens. Der religiöse Glaube erhält ungeachtet des konkreten Bekenntnisses nur dann eine sinnvolle Bedeutung, wenn er als Bekenntnis zur Möglichkeit der Fortdauer eines gemeinschaftlichen Lebens aufgefaßt wird. Dieser Zusammenhang ist es, in dem das geschichtliche Denken seine eigentliche Leistung entfaltet. Geschichtliche Post-hoc-Bewertungen charakterisieren den entsprechenden Handlungsspielraum, indem sie geschichtlich auf den Verfall dieses Spielraums aufmerksam machen beziehungsweise den Fortschritt neuer Urteilsund Handlungsoptionen erschließen. Anders läßt sich das religiöse Bekenntnis zur Fortdauer des gemeinschaftlichen Lebens nicht in eine konkrete, handlungsbezogene Orientierung ummünzen. Daß Geschichte auf eine >Rechtfertigung Gottes< angelegt ist, erweist sich insofern als Einsicht in die handlungsbezogene Bedeutung geschichtlichen Denkens: »Theodizee« ist die geschichtliche Artikulation des »vernünftigen« Willens, trotz allen Scheiterns menschlicher Bestrebungen, trotz allen Leides, das sich Menschen immer wieder gegenseitig zufügen, an der Möglichkeit eines Lebens in Gemeinschaft festzuhalten. Allein Geschichte vermag diesen »vernünftigen« Willen zu artikulieren. Was zu erwarten und was zu tun möglich ist, erschließt sich nur aus dem geschichtlich gespeisten Erwartungshorizont. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist insofern immer als »Theodizee« angelegt. Sie drängt zum Forschungsstreit aller geschichtlich konstituierten Wissenschaften, nämlich zum Streit um die Gestaltung des künftigen Lebens. Auch Hegels Begriff der »Versöhnung« erhält so seine volle Bedeutung. Jetzt nämlich wird klar, welcher Art die Erwartung ist, durch welche die »Vernunft« mit dem Geschehenen >ausgesöhnt< wird. Die »Erkenntnis des Ajfirmativen«, von der Hegel behauptet, daß sie die »Versöhnung« herbeiführt, besteht darin, daß jede auch noch so deprimierende Bilanz der geschichtlichen Entwicklung selbst schon Ausdruck des »vernünftigen« Willens ist, trotz des Geschehenen an der Möglichkeit der Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens festzuhalten.^^ Daß jenes »Negative«, wie Hegel behauptet, »zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet«, daß also die Vergangenheit tatsächlich bewältigt zu werden vermag, bedeutet, daß die geschichtliche Bilanzierung des »Übels« oder des »Bösen« selbst schon Ausdruck der »vernünftigen« Kompetenz ist, die Bedeutung des Geschehenen *'GW 18, S. 150.
§ 18. Die >Rechtfertigung< des Willens zur Kontinuität
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für eine Fortsetzung der »vernünftig« konstituierten Tradition beurteilen zu können.“ Aus diesem Grund kommt Hegel auch zu dem Ergebnis, daß sich das »Böse« nie in derselben Weise Geltung zu verschaffen weiß wie jener »Endzweck« einer Orientierung in gemeinschaftlichem Wissen und entsprechenden Lebensformen.“ Wo das »Böse« konstatiert wird, erscheint es als Negation des eo ipso vorhandenen Willens zu einer »vernünftigen« Gestaltung der »Welt«, wird also gerade, indem es Teil einer Geschichte wird, als Phänomen erkannt und bewältigt. Sein Platz in der Geschichte ist gleichsam vakant Indem es als Teil einer geschichtlichen Entwicklung sichtbar wird, spricht sich der »vernünftige« Wille bereits gegen das »Böse« aus. Auch wenn dies nicht bedeutet, daß das »Böse« damit aus der »Welt« geschafft werden würde, bleibt es doch, wie Hegel schreibt, auf die Rolle eines bloß »Negativen« beschränkt, das sich in der Entwicklung der gestaltenden »Macht« der »Vernunft« nur insofern zeigt, als sich in seiner Bewertung als »Böses« diese »Macht« bereits manifestiert. Die >VersöhnungrechtfertigenGottes< gegen die »Übel« der »Welt«, sondern unter dem Deckmantel des traditionellen Titels eine vehemente Kritik und Korrektur dieses metaphysischen Bildes. Hegel geht es nicht um die Verteidigung >Gottes< als einer Person, der zu diesem Zweck beliebige Attribute, Pläne oder geheime Absichten zugeschrieben werden, sondern er begreift »Theodizee« als genuinen Zweck der geschichtlichen Praxis als solcher. Auch wenn heute ernsthaft kein Historiker mehr davon sprechen wird, mit seinen Forschungen >Gott rechtfertigen< zu wollen, so “ Ebd. ® Ebd. ™ Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1998 (6. Auf!.), S. 978f. Vgl. Augustinus: De civitate Dei, Buch 12, Kap. 20.
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III. Die Konstitution geschichtlicher Praxis
zielen doch alle Anstrengungen in dem arbeitsteiligen Projekt einer Rekonstruktion der Vergangenheit genau auf das, was Hegel als faktische Bedeutung einer >Rechtfertigung Gottes< aufgefaßt hat, nämlich die Entwicklungschancen der Gegenwart selbst auszuloten, zu ergründen, inwiefern das Vergangene seinen Schatten auf das Künftige vorauswirft. Dieser eigentliche Ertrag geschichtlicher Praxis, die Verknüpfung geschichtlichen Denkens mit dem Bereich der Religion, wird durch Hegels Bemäntelung seiner Überlegungen mit dem traditionsbelasteten Reizwort der »Theodizee« allenfalls verdeckt. Hegels Einsicht, daß sich religiöser Glaube nur artikulieren und damit in die »Welt« tragen läßt, wenn er mittels geschichtlich gestützter Erwartungshorizonte einen greifbaren Gegenstand der Orientierung erhält, trägt zugleich zu einer Entmystifizierung von Religion bei. Daß Geschichte >Gott rechtfertigtweltrechtfertigt< - eine Frage bleibt dabei völlig offen: Implizieren solche Einsichten, daß es für unser Handeln tatsächlich erforderlich wäre, sich geschichtliches Wissen bewußt anzueignen? Ist Geschichte als offenbares Gestaltungsmedium eines gemeinschaftlich verfaßten Lebens deswegen zugleich ein obligatorischer Bestandteil auch der individuellen Lebensführung, der Reflexion auf die geschichtiiche Bedingtheit und Entwicklungsfähigkeit des eigenen Lebensentwurfs? Würde sich durch eine solche Reflexion an der eigenen Situation, am eigenen Handlungsspielraum, an den eigenen, impliziten Erwartungen überhaupt irgendetwas verändern? Mit einem Wort: Besitzt intendiert erworbenes geschichtliches Wissen überhaupt praktische Relevanz^ - Wo die Geschichtsphilosophie mit dieser Frage konfrontiert wird, genügt es nicht mehr, auf die Leistung geschichtlichen Denkens als solche zu verweisen. Geschichtsphilosophie wird vielmehr dazu aufgerufen, nun auch die Bedeutung zu klären, die das geschichtliche
§ 18. Die >Rechtfertigung< des Willens zur Kontinuität
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Denken für das Urteilen und Handeln des einzelnen besitzt. Ist es letztlich irrelevant, aus welchen Formen geschichtlichen Wissens die eigenen Erwartungen gespeist werden? Oder hat die spezifische Form dieses Wissens besondere Rückwirkungen auf die Handlungskompetenz des einzelnen? Hegel votiert, wie sich zeigen wird, für die Annahme des letzteren. Wie er deutlich zu machen sucht, entscheidet die spezifische Form geschichtlichen Wissens über nichts Geringeres als die Möglichkeit der Autonomie überhaupt. Erst durch eine geschichtliche Ausdeutung seiner je gegenwärtigen Lebensbedingungen verfügt der einzelne über die Möglichkeit, seine Rolle im gemeinschaftlichen Leben selbständig zu bestimmen.
IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
§19. Geschichte und die Autonomisierung individuellen Handelns Die Betrachtung der Konstitution geschichtlichen Denkens hat gezeigt, worin der genuine Zweck geschichtlicher Praxis besteht. Geschichte >rechtfertigt< den Willen, an der »vernünftigen« Konstitution des gemeinschaftlichen Lebens festzuhalten. Sie eröffnet einen Erwartungshorizont, in dem potentielle Formen einer Fortdauer der gemeinsamen »Welt« beschlossen liegen. In diesem Sinne ist sie »Rechtfertigung Gottes«, Bekenntnis zur Möglichkeit von Gemeinschaft als solcher. Eines ist gleichwohl bis hierher unklar geblieben. Zugespitzt lautet die Frage, an wen die entsprechenden Überlegungen überhaupt adressiert sind. Für wen hat Hegels Begriff der Geschichte praktische Konsequenzen, und welche Konsequenzen sind dies? Soll der Umstand, daß Geschichte Optionen einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens entwickelt, den Schluß nahelegen, daß der einzelne im Interesse eines hypostasierten Gemeinwohls auf die Befolgung von Regeln oder Gesetzen verpflichtet werden müsse? Ist Hegels Geschichtsphilosophie also gleichsam als historisierende Moralphilosophie zu verstehen? Verkörpert der Historiker um auf das bekannte Bild von Otto Neurath anzuspielen - eine Art Ingenieur der Ethik, dessen Aufgabe darin besteht, auf hoher See den beständig fortschreitenden Umbau des Schiffs der humanen Kultur zu koordinieren? Wäre dies die Auffassung Hegels, so würde sie fraglos beträchtliche Einwände nach sich ziehen. Es müßte zwangsläufig die Frage entstehen, welches persönliche Interesse der einzelne überhaupt daran haben sollte, sein Handeln an einem entsprechenden Erwartungshorizont auszurichten. Die Forderung, das eigene Handeln derart zu orientieren, würde geradezu als idealistischer Hochmut gegenüber dem Dasein der einzelnen Person erscheinen, da der Adressat solch hochfliegender Gedanken sehr viel eher darum bemüht sein wird, zunächst einmal für sein eigenes Leben denn für einen abstrakten »Endzweck der Vernunft« zu sorgen. Weshalb sollte es ihm um die Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu tun sein, wo es doch zunächst einmal die Voraussetzungen für die Fortdauer der eigenen Existenz zu schaffen gilt? Wenn der genuine Zweck geschichtlicher Praxis, wenn das geschichtliche Interesse tatsächlich in der >Rechtfertigung< des Willens zu einem gemeinschaftlichen Leben bestehen soll, dann muß folglich geklärt werden, wer diesen Willen überhaupt mitbringt und weshalb. Welche persönlichen Gründe mag es für den einzelnen geben, ein scheinbar so hoch-
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
idealistisches Ziel wie die Fortdauer des gemeinschaftlichen Lebens wirklich zu wollend Gibt es einen solchen Willen überhaupt als den Willen einer einzelnen Person, oder handelt es sich hierbei um eine Hegelsche Fiktion? Es wird sich zeigen, daß Flegel entgegen anderslautenden Vermutungen die Bedeutung dieser Frage von Anfang an erkannt, ja daß er sie zum Kulminationspunkt aller vorausgegangenen Überlegungen gemacht hat. Alle Vorbehalte, er habe einen diffusen >Allgemeinwillen< über das Interesse des einzelnen stellen wollen, die Fortdauer der Gemeinschaft über den Wert der singulären Existenz, den Staat über die Person und die Herrschaft des Rechts über die individuelle Freiheit, sind zwar Ausdruck der Reaktion auf eine Reihe in der Tat äußerst mißverständlicher Bemerkungen. Sie treffen jedoch, wie eine nähere Betrachtung zeigt, nur die Oberfläche Hegels geschichtsphilosophischer Überlegungen. Wenn es um die Frage geht, wer an der geschichtlichen >Rechtfertigung< bestimmter Optionen gemeinschaftlichen Lebens Interesse hat, wer mithin den »vernünftigen« Willen zum geschichtlichen Denken mitbringt, so ist seine Antwort eindeutig: Der Träger dieses Willens ist kein unpersönliches Kollektivsubjekt, kein »Geist« als kollektives Bewußtsein, sondern es ist die einzelne Person, der Handelnde selbst.' Anstatt daß Geschichte darauf angelegt wäre, von den selbstbezogenen Interessen dieses einzelnen zu abstrahieren, sie auf irgendeine Weise zu überwinden oder gar zu leugnen, ist sie gerade Ausdruck dieser Interessen. Geschichtliches Denken distanziert ihn nicht von sich selbst, veräußert seinen subjektiven Willen nicht an eine >höhere< »Vernunft«, sondern beruht auf seinen eigenen Bedürfnissen, seinen Bemühungen um Selbsterhalt. Hegel weist mehrfach in aller Deutlichkeit darauf hin, daß beides nicht getrennt werden dürfe. Wo der »vernünftige« Wille, Optionen der Fortdauer des Lebens aus der Geschichte zu entwickeln, nicht zugleich als Ausdruck eines individuellen Selbstinteresses aufgefaßt werde, bleibe er notwendig eine leere Behauptung. Dasjenige, »was wir Princip, Endzweck« oder - bezogen auf den »Geist« - »seine Natur, seinen Begriff genannt haben«, sei an sich »nur ein Allgemeines, AbstractesAußenwelt< abzukoppeln, befähigt sie nur noch wie bei Adorno zu dem hilflosen Bekenntnis, an der »Welt« und ihrem unbeeinflußbaren Gang »verzweifeln« zu müssen. Wenn daher Hermann Lübbe die Vermutung äußert, Hegel habe durch seine »Geschichtstrauer« die Erfahrung des Fortschritts, der über das Schicksal des einzelnen achtlos hinwegschreitet, ästhetisch kompensieren wollen, so ist das Gegenteil der Fall.“ Hegel bezeichnet den Versuch, im Interesse der Autonomie einen irreduziblen Kern des Bewußtseins vor der geschichtlichen Entwicklung retten zu wollen, als den sichersten Weg, die Autonomie des einzelnen preiszugeben. Wer Freiheit ” Ebd. (Erste Ergänzung im Originaltext, zweite Ergänzung sowie Hervorhebungen von mir, W. H.). '* Ebd., S. 156f. (Ergänzungen von mir, W. H.). ”Ebd.,S. 157. Vgl. Hermann Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Zur Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 28 If.
§ 20. Aporien des subjektivistischen Autonomieverständnisses
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als unveräußerlich erachtet, weil sie sich in einem angeblich an sich gegebenen Willen manifestiert, stilisiert lediglich die >Außenwelt< zur unüberwindlichen Schranke dieses Willens, zum Hindernis, an dem er aufläuft und zerbricht. Was die subjektivistische Selbstbeschreibung und damit auch eine subjektivistisch gewendete Geschichte eröffnet, ist die Gleichgültigkeit des Willens in der »Welt«, die Bedeutungs- und Folgenlosigkeit des Handelns, die Gleichgültigkeit der individuellen Existenz. Auch die Geschichte selbst wird damit zum bedeutungs- und folgenlosen Unterfangen. Wo sie lediglich feststellt, daß sich der Wille des einzelnen seit jeher vergeblich an der »Welt« abgearbeitet hat und schließlich noch immer von den jeweiligen Entwicklungen verschlungen worden ist, bewirkt sie allenfalls, daß wir, wie Hegel bemerkt, »aus der Langeweile, welche uns jene Reflexion der Trauer machen kann, zurück in unser Lebensgefühl, in die Gegenwart unserer Zwecke und Interessen ... [und so] auch in die Selbstsucht zurücktreten, welche am ruhigem Ufer steht, und von da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermasse genießt.«^' Wo Freiheit zur Ohnmacht des Willens gegenüber der »Welt« degeneriert, wird auch die Beschäftigung mit Geschichte selbst läßlich, verwandelt sich die »Trauer« über das Scheitern des einzelnen in bloße »Langeweile«, welche die Summierung der Einzelverhängnisse zuletzt bereiten muß. Hat sich die Gewißheit verdichtet, daß das Scheitern unausweichlich ist, hat sich der Fatalismus erst etabliert, so ist auch das Interesse an Geschichte geschwunden. Diese seltsame Koinzidenz ist ein erstes Indiz dafür, daß sich ein adäquater Autonomiebegriff gar nicht diesseits der Geschichte, also nicht mit Hilfe einer subjektivistischen, intuitionistischen Bewußtseinslehre, sondern nur im Rahmen des geschichtlichen Denkens selbst gewinnen läßt - im Rahmen der Frage also, wie der einzelne die Möglichkeiten seines Urteilens und Handelns aus der Geschichte bestimmt. Wenn sich die Beurteilung der je individuellen Handlungsmöglichkeiten vom geschichtlichen Denken nicht separieren läßt, wenn das eine nicht vorhanden sein kann, wo das andere fehlt, dann vermag auch ein artikuliertes Autonomiebewußtsein nicht anders gewonnen zu werden, als daß der einzelne auf die geschichtliche Konstitution seiner Urteile und Handlungen reflektiert. Die Auffassung, Geschichte ein autonomes Bewußtsein gleichsam vorlagern zu können, ist demnach eine fehlgehende Selbstbeschreibung. Wie Hegel bündig erklärt, sei es denn auch gar nicht im Interesse einer solchen Beschreibung, »sich wahrhaft über jene Ansichten«, über den Fatalismus sowie die damit verbundenen »Empfindungen zu erheben ..., sondern vielmehr in den leeren, GW 18, S. 157 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, Ergänzung und Hervorhebung von mir, W. H.).
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
unfruchtbaren Erhabenheiten jenes negativen Resultat[s] sich trübselig zu gefallen.«^^
$ 21. Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse Hegels Bemühen, die unreflektierte, subjektivistische Haltung zur Konstitution von Autonomie durch ein reflektiertes Verständnis derselben abzulösen, manifestiert sich in einer Reihe seltsamer Bemerkungen, deren Sinn zunächst nicht recht deutlich werden will. Unter anderem spricht er kryptisch von einem »innerste[n,] bewußtlose[n] Trieb«, mit dem zunächst »der Begriff des Geistes« - und das heißt hier wesentlich: die Freiheit des »Geistes« - »befriedigt werde« und den es explizit zu machen gelte.” Mit solchen Bemerkungen ist keineswegs gemeint, was oft als Quintessenz der angeblich metaphysischen Geschichtslehre Hegels ausgegeben worden ist, daß nämlich ein anonymer »Geist« gleich einem deus ex machina von den Handelnden Besitz ergreift und sie ungeachtet ihrer eigenen Intentionen dazu benutzt, Freiheit als determiniertes Geschichtsziel hervorzubringen. Stellt man solche Vermutungen, stellt man überhaupt die Frage nach der Bedeutung der »Weltgeschichte« noch zurück, von der Hegel in der Tat behauptet, daß sie »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit« sei, dann läßt sich seine Rede vom »bewußtlose[n] Trieb« des »Geistes« zunächst als Umschreibung des einfachen Umstands begreifen, daß der einzelne in der Tat autonom zu handeln vermag, ohne daß ihm bewußt ist, woraus diese Fähigkeit resultiert.” Solange sich sein Handeln unmittelbar vollzieht, wie in einem »noch im Fortschreiten begriffenen Gange«, solange ist auch »die subjective Seite, das Bewußtseyn [,] noch [nicht] im Besitze zu wissen, was der reine letzte Zweck der Geschichte, der Begriff des Geistes sey«.” Doch auch wenn dieser Begriff »ebendamit ... [noch] nicht der Inhalt seines Bedürfnisses und Interesses« ist, obwohl der Akteur also noch nicht weiß, weshalb er autonom und - im Bewußtsein seiner Autonomie - frei ist, so steckt gleichwohl das »Allgemeine« einer solchen Autonomie laut Hegel bereits »in den besondern Zwecken und vollbringt sich durch dieselbe[n].«“ Der einzelne reflektiert die Voraussetzungen seiner Möglichkeit, autonom zu handeln, nicht, und doch sind die Zwecke seines Handelns Ausdruck dieser Möglichkeit. Es bedarf daher lediglich einer Reflexion auf jene Voraussetzungen, in denen sich das Ver”Ebd.,S. ”Ebd.,S. ” Ebd. Ebd., S. “ Ebd., S.
157f. 161. 162f. (Zweite Ergänzung im Originaltext, erste Ergänzung von mir, W. H.). 163 (Ergänzungen von mir,W. H.).
§21. Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse
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mögen, selbständig bestimmte Zwecke zu setzen und danach zu handeln, als solches konstituiert. Daß sich ein defizitäres Autonomieverständnis allein überwinden läßt, wo die Möglichkeit der Autonomie auf die Leistungen geschichtlichen Denkens zurückgeführt wird, versucht Hegel nun mit einer Reihe äußerst mißverständlicher Bemerkungen zu verdeutlichen, die einiger vorausgehender Erläuterungen bedürfen. Hegel nämlich widmet dem skizzierten Problem keine begriffliche Betrachtung, sondern kleidet seine Überlegungen in das schillernde Gewand einer scheinbaren geschichtlichen Evidenz. Obwohl es um die rein begriffliche Frage geht, wie sich der einzelne ein autonomes Selbstverständnis zu erwerben vermag, erweckt Hegel den irreführenden Anschein, als brauche man lediglich den Gang des »Weltgeistes« als eines historischen Akteurs zu rekapitulieren und werde bereits durch die entsprechende Geschichte aufgeklärt. Charakteristisch für diesen Zugriff ist die scheinbare Verdinglichung des handelnden Subjekts: Statt daß Hegel zeigen würde, wie sich der einzelne seiner Autonomie bewußt und somit frei werden kann, scheint er behaupten zu wollen, daß die »Weltgeschichte« an sich dieses Bewußtsein herbeiführt. Der Handelnde selbst wird zum bloßen »Werkzeug« in dieser Geschichte, zum bloßen »Mittel«, durch das sich »die Freyheit zu einer Welt hervorbringt«.^^ So entsteht der Eindruck einer Betrachtung sub specie aeternitatis, der Eindruck des Irrtums, einen generisch konstituierten Gegenstand des Denkens für eine historische Tatsache nehmen zu können. Dieser Eindruck ist es, der die Rezeptionsgeschichte geprägt und zur Verdeckung des Philosophischen in der Geschichtsphilosophie geführt hat. Daß Hegel seine begriffliche Einsicht zur Konstitution autonomen Denkens und Handelns in einer geschichtlichen Darstellungsweise präsentiert, darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, daß er von vornherein zwei verschiedene Gedanken ins Spiel bringt, die lediglich deutlicher voneinander abgehoben werden müssen, als er selbst dies - zumindest verbal - getan hat. Es handelt sich einerseits um die skizzierte begriffliche Frage, weshalb sich autonomes Handeln allein im geschichtlichen Denken konstituiert. Die zweite Frage dagegen ist in der Tat bereits geschichtlicher Natur, setzt jedoch eine Beantwortung der ersten voraus. Sie lautet, ob sich eine Entwicklung rekonstruieren läßt, in deren Verlauf jene Konstitution von Autonomie gesetzt man akzeptiert Hegels entsprechenden Begriff - zu einem reflektierten Bestandteil der gemeinschaftlichen Lebensformen geworden ist. Während sich hinter der ersten Frage die eigentliche begriffliche Einsicht Hegels verbirgt, verweist die zweite auf einen gesonderten und ganz eigenständigen Ebd., S. 155, vgl. auch S. 162.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
Komplex, nämlich auf das Konzept der »Weltgeschichte«, in der post hoc eine Entwicklung rekonstruiert wird, die laut Hegel zu einem entsprechenden Autonomiebewußtsein geführt hat.^® Obwohl nun Hegel seine Erkenntnis, daß sich Autonomie im geschichtlichen Denken konstituiert, immer bereits als Ergebnis dieser konkreten Entwicklung vorstellt, obwohl »Weltgeschichte« und Autonomiebegriff in seinem geschichtsphilosophischen Vorlesungsmanuskript zu einem undurchdringlichen Ganzen zusammenzufallen scheinen, ruht doch das eine längst auf dem anderen. Die »Weltgeschichte« ist keine metaphysische Autopoiese des »Weltgeistes«, eine Bewußtwerdung seiner selbst, die er über alle Köpfe hinweg zur Ausführung bringt. Hinter der mißverständlichen Metapher vom »Weltgeist« verbirgt sich eine geschichtliche Rekonstruktion, die zeigen soll, wie das Bewußtsein für die Konstitution von Autonomie überhaupt entstanden ist. Der Autonomiebegriff selbst liegt dieser Geschichte bereits zugrunde.^’ Er markiert das >vorgesehene< Resultat, das wie gesehen notwendig vorausgesetzt werden muß, wenn eine geschichtliche Post-hoc-Erklärung des Geschehenen überhaupt möglich sein soll.’" Trifft man daher - zugegeben anders als Hegel selbst - eine klare Unterscheidung zwischen dem Begriff der Autonomie und der rekonstruierten Entwicklung des analogen Autonomiebewußtseins, setzt man voraus, daß die Frage, weshalb Autonomie allein im geschichtlichen Denken gründet, mit der Frage nach der Entwicklung des entsprechenden Bewußtseins prima fade gar nichts zu tun hat, dann läßt sich auch der Metaphysik-Verdacht entkräften, der die entsprechenden Überlegungen zu diskreditieren scheint. Wenn Hegel vom Handelnden als einem »Mittel« oder »Werkzeug« des »Geistes« bei der Bewußtwerdung von Autonomie spricht, dann ist dies kein Bild für die Selbstkreation des »Geistes«, sondern eine Metapher der geschichtlichen Rekonstruktion, welche die Entwicklung des Bewußtseins für die Konstitution autonomen Handelns schildert. Der Handelnde ist nicht an sich der blinde Exekutor irgendeines >höheren< Willens. Derlei Attribute erhält er vielmehr immer nur im bildlichen Rahmen der Hegelschen Rekonstruktion, die den Handlungen historischer Akteure post hoc bestimmte Anteile an der geschichtlichen Entwicklung zuschreibt. Die begriffliche Einsicht, worau/Autonomie des Handelns gründet, bleibt von der Frage der Angemessenheit solcher Zuschreibungen völlig unberührt, muß also vom Vgl. zum Problem der Abgrenzung von geschichtlichem Denken und Realgeschichte sehr instruktiv Jaeschke: Die Geschichtlichkeit der Geschichte, in: Arndt; Bai; Ottmann (Hg.): Hegel-Jahrbuch, Berlin 1995, S. 363-373. ’’ Gegenteiliger Ansicht ist Seelmann [1986]: Weltgeschichte als Idee der menschlichen Freiheit, S. 4. ’"Vgl.§ 12.
§21. Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse
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Kontext entsprechender Post-hoc-Bewertungen strikt unterschieden werden. Im folgenden wird daher immer wieder zu differenzieren sein zwischen Hegels begrifflichen Überlegungen zur Frage, weshalb sich Autonomie im geschichtlichen Denken konstituiert, und den Artikulationsweisen, welche lediglich die geschichdiche Entwicklung, die zu dieser Einsicht geführt hat, charakterisieren sollen. Bereits für das Verständnis der Überlegungen, mit deren Hilfe Hegel das subjektivistische Autonomieverständnis durch seinen eigenen Autonomiebegriff zu substituieren sucht, sind entsprechende Differenzierungen unerläßlich. Die einschlägigen Bemerkungen nämlich kreisen sämtlich um jenes berüchtigte Bild von der »List der Vernunft«, das seit jeher entschiedensten Vorbehalten Nahrung gegeben hat. Obwohl auf die tatsächliche Bedeutung dieses Bildes erst später einzugehen sein wird, muß daher geklärt werden, in welcher Hinsicht die dazugehörigen Überlegungen Teil der begrifQichen Einsicht Hegels sind und inwiefern sie zur Metaphorik der geschichtlichen Rekonstruktion der »Weltgeschichte« gehören. Schnell wird deutlich, daß sie mit der begrifflichen Einsicht selbst in einem anderen Zusammenhang stehen, als die verbreitete Kritik vermuten läßt. Allerdings empfiehlt sich, diese Einsicht zunächst aus den weniger verfänglichen Formulierungen zu entwickeln, die Hegel selbst an den Anfang seiner einschlägigen Überlegungen stellt. Daß Autonomie in dem Vermögen wurzelt, das Urteil über eigene Handlungsoptionen geschichtlich zu entwickeln, verdeutlicht er dabei anhand einer Bemerkung, deren Bedeutung sich beinahe unmittelbar aus der Konstitution geschichtlichen Denkens ergibt. Er verweist auf den einfachen Umstand, »daß in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas Anderes überhaupt heraus komme, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen«, mit anderen Worten: »sie vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zu Stande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewußtseyn und ihrer Absicht lag.«” Diese Bemerkung bedeutet den entscheidenden Hinweis darauf, weshalb jedes subjektivistische Autonomieverständnis defizitär bleibt. Hegel tut dabei kaum mehr, als darauf hinzuweisen, daß Handlungen nicht nur Ausdruck bestimmter Intentionen, Interessen oder »Leidenschaften« sind und scheinbar allein insofern das originäre Produkt eines autonomen Willens darstellen, sondern immer auch Folgen haben können, die als solche gar nicht im Willen oder in der Absicht des Handelnden gelegen haben, ja aus seiner Sicht vielleicht noch nicht einmal absehbar waren. Bereits das erste Beispiel, mit dem Hegel diesen Hinweis illustriert, hilft dem Verdacht entgegenzuwirken, daß mit solch unbeabsichtigten Folgen auf GW 18, S. 163 (Hervorhebungen von mir, W. H.).
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
den metaphysischen Plan eines »Weltgeistes« angespielt werden würde. Von vornherein wird deutlich, daß es Hegel um ein begriffliches Problem zu tun ist, sein Beispiel eine unabdingbare Voraussetzung autonomen Handelns charakterisieren soll. Er schildert den Fall, daß jemand aus Rache Brandstiftung begeht und dabei eine Feuersbrunst auslöst, bei der noch andere Personen als das eigentliche Opfer zu Schaden kommen. Diese Handlung, so konstatiert Hegel, hat eine weiterreichende Bedeutung als bloß jene der Rache im Zwist zweier Personen. Bewertet man sie nach ihren Folgen, so bewirkt sie nicht nur, was der Täter erreichen wollte, verschafft nicht nur Genugtuung über den bezweckten Schaden des anderen, sondern bedeutet in ihrer Bewertung post hoc zugleich einen Verstoß gegen gemeinschaftliches Recht.Dies genügt vollauf, um zu veranschaulichen, daß die Berufung auf den subjektiven Willen nicht als Urteil darüber ausreicht, was im eigenen Interesse zu tun sei. Obwohl der Verfechter eines subjektivistischen Autonomieverständnisses behaupten mag, daß es die Frage nach der Autonomie gar nicht berührt, welche Folgen eine Handlung zeitigt, liegt doch auf der Hand, daß diese Folgen die Existenz des Handelnden nicht unbeträchtlich beeinflussen und ihm somit keineswegs gleichgültig sein können. Im konkreten Fall des Brandstifters, der die Bestrafung seiner Tat zu gewärtigen hat, ist dies evident: »die Handlung selbst«, so Hegel, »kehrt sich hier ... gegen den selbst, der sie vollbrachte; sie wird ein Rückschlag gegen ihn, der ihn zertrümmert... und das Recht in sein Gelten wiederherstellt.«” Wenngleich solch dramatische Konsequenzen bemüht erscheinen mögen, wird doch das Wesentliche deutlich: Solange das Handeln nicht auf potentielle Folgen entworfen ist, die über das unmittelbar Bezweckte hinausreichen, kann es tatsächlich kein autonomes Handeln sein. Wo sich der einzelne weigert, seine Handlungen nach ihren potentiellen Folgen zu beurteilen, wo er darauf beharrt, die bloße Authentizität des Willens als Beleg für die Selbstbestimmtheit seiner Entschlüsse auszugeben, redet er dem Fatalismus das Wort, für die Konsequenzen seines Handelns keine Verantwortung tragen zu können. Entsprechende Konsequenzen müssen ihm als Schicksal erscheinen, das rücksichtslos in seine Autonomie eingreift, so daß letztere wieder in das Paradox der Ohnmacht umschlägt. Das spezifisch geschichtliche Beispiel, das Hegel gegenüber solchem Fatalismus für die Autonomie des Handelns anführt, ist ausgerechnet das der berüchtigten »welthistorischen Individuen«.” Obwohl diese von der Kritik spätestens seit Burckhardt beargwöhnten »großen Männer« oder »Heroen«
”Vgl.ebd.,S. 163f. ” Ebd., S. 164. ” Ebd., S. 165.
§21. Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse
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beileibe nicht das einzige Hegelsche Exempel dafür sind, daß sich Autonomie allein im geschichtlichen Denken konstituiert, sich bei näherer Betrachtung vielmehr zeigt, daß auch die Vita geschichtlich wenig exponierter Personen jederzeit autonomes Handeln zu dokumentieren vermag, so geben die »welthistorischen Individuen« doch statt einem angeblich von Hegel geschürten »Bedürfnis der Unterwürfigkeit« ein besonders anschauliches Beispiel geschichtlich konstituierter Selbstbestimmtheit.” Seine entsprechenden Ausführungen sind freilich von jener skizzierten Doppeldeutigkeit, die eine Unterscheidung zwischen der begrifflichen Einsicht in die Konstitution von Autonomie und der geschichtlichen Entwicklung eines entsprechenden Autonomiebewußtseins erforderlich macht. Erst wenn man die Frage, weshalb die »welthistorischen Individuen« tatsächlich autonom sind, von der Frage unterscheidet, was diese Persönlichkeiten zur Entwicklung des entsprechenden Bewußtseins beigetragen haben, tritt der eigentliche Sinn der Hegelschen Ausführungen hervor.” Hegel bezweifelt dabei ausdrücklich nicht den Aspekt, der einen Bestandteil auch des subjektiven Autonomieverständnisses ausmacht - daß es nämlich einer Persönlichkeit wie Cäsar vornehmlich um die Befriedigung der eigenen Interessen zu tun gewesen sei. Er hebt im Gegenteil hervor, daß gerade dieser ehrgeizige Feldherr wohl ausschließlich persönliche Ziele und Zwecke verfolgt haben dürfte.” Was Hegel jedoch kritisiert, ist die Vorstellung, daß deren Befriedigung wie im Falle des Brandstifters eine bloße Referenz an Gefühlsäußerungen oder plötzliche Eingebungen darstellen soll, daß also nicht die potentiellen Folgen des eigenen Handelns ebensogut einen Gegenstand des Selbstinteresses darstellen können, ja müssen. Als adäquates Beispiel zur Illustration des Gegenteils betrachtet er das Handeln Cäsars im Bürgerkrieg. Obwohl dessen Kampf gegen die Parteigänger des Senats, die »auf der Seite ihrer persönlichen Zwecke die formelle Staatsverfassung und damit die Macht des rechtlichen Scheins für sich hatten«, allein dem Selbstinteresse gedient habe, »sich seine Stellung, Ehre und Sicherheit zu erhalten«, obwohl er diesen Kampf im Bemühen um eine Verwirklichung dieses »zunächst negativen Zwecks« geführt habe, sei sein Selbstinteresse durchweg auf die potentiellen Folgen des eigenen Handelns orientiert gewesen: »Cäsar hatte die richtigste Vorstellung von dem, was die römische Republik hieß, daß nämlich die seinsollenden Gesetze von der auctoritas und dignitas erdrückt waren, und daß es sich gehörte, dieser als der partikularen ” Vgl. VPW 1, S. 101 bzw. S. 97 (Ergänzungen von G. Lasson aus Nachschriften). Vgl. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 207f. ” GW 18, S. 165. Vgl. repräsentativ bereits Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 510ff. ”Vgl. GW 18, S. 164f.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
Willkür ein Ende zu machen. ... [Er] wußte, daß die Republik die Lüge war ... und daß eine andere Gestalt an die Stelle dieser hohlen gesetzt werden müsse, daß die Gestalt, die er hervorbrachte, die notwendige sei.«’* Wenngleich nun Hegel mit solchen Bemerkungen fast den Eindruck erweckt, als ob Cäsar mit prophetischen Gaben gesegnet gewesen wäre und mit Bestimmtheit gewußt hätte, daß ihm eine bestimmte historische Aufgabe bestimmt sei, - wenngleich er vermutlich besser mit vorsichtiger Einschränkung davon gesprochen hätte, daß der römische Politiker die Optionen seines Handelns geahnt haben dürfte, so geht daraus doch im Ansatz hervor, worauf die Autonomie von Willen und Handeln beruht. Autonom ist demnach, wer bestimmte Optionen seines Handelns zu erschließen versteht und damit zwar beileibe nicht sicher weiß, was die Folge seines Handelns sein wird, wohl aber abschätzen kann, worin sie bestehen könnte.^'* Nur wer den Gegenstand seines Wollens als potentielle Folge des eigenen Handelns begreift, weiß tatsächlich, was er will. Wer nicht auf entsprechende Weise abwägt, kann dagegen auch nicht wissen, ob das Gewollte in der Folge dem eigenen Willen entspricht, wird sich also schnell der Aporie ausgesetzt finden, gar nicht zu wissen, was er überhaupt will. Cäsar als »welthistorisches« Individuum darf insofern als erstes Beispiel dafür gelten, daß nur die Reflexion der potentiellen Folgen des eigenen Handelns ein autonomes Selbstverständnis ermöglicht. Zugleich geht aus dem Beispiel hervor, worauf dieser Hinweis abzielt. Wenn es bei Hegel über Cäsar heißt, daß er »der partikularen Willkür« der Republik ein Ende habe machen, »eine andere Gestalt« an deren Stelle habe setzen wollen - eine Beschreibung, die über Cäsars selbstbezogenen Machtkalkül nicht hinausgehen dürfte -, dann können solche politischen Ziele nur fixiert werden, wenn es für die potentiellen Folgen der eigenen Politik eine Bewertungsgrundlage gibt.^“ Eine solche Bewertungsgrundlage aber gewährt nur eine geschichtliche Post-hoc-Bewertung vorausgegangener Entwicklungen. Politische Pläne vermag eine Person wie Cäsar nur zu fassen, indem sie die Optionen des eigenen Handelns aus den Folgen der vorausgegangenen Geschehnisse entwickelt. In bezug auf den Begriff der Autonomie als solchen ist es dabei ganz unerheblich, ob der einzelne mit seinem Handeln eine »weltgeschichtliche« Umwälzung auslöst oder nicht. Zwar hat im Falle Cäsars die autonome Entscheidung, auf die Zerstörung der Senatsoligarchie hinzuarbeiten, Hegels Urteil zufolge eine »weltgeschichtliche« Bedeutung. Für die Erläuterung der geschichtlich bedingten Struktur einer solchen Entscheidung jedoch ist dies 38 VPW 1, S. 104f. (Ergänzungen von G. Lassen aus Nachschriften, Textergänzung und Hervorhebungen von mir, W. H.). ” Vgl. GW 18, S. 167. Vgl. Meier: Caesar, S. 431 ff.
§21. Das geschichtlich artikulierte Selbstinteresse
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ohne Belang. Von Bedeutung ist hier allein, daß ein politischer Entschluß wie derjenige Cäsars ohne einen geschichtlich entwickelten Erwartungshorizont nicht möglich wäre. Betrachtet man die entsprechenden Voraussetzungen, so fällt es nicht schwer, über die geschichtlichen Vorannahmen des Feldherrn zu mutmaßen. Sein Entschluß zum Bürgerkrieg dürfte letztlich auf einer Post-hoc-Bewertung der Geschehnisse seit der Diktatur Sullas beruhen, die insgesamt etwa lauten mochte, daß der Senat nicht mehr fähig war, politische Krisen aus eigener Kraft zu bewältigen, seine Bewegungsunfähigkeit den Staat dagegen bei der Verteidigung seiner Interessen zu lähmen drohte. Die Erwartung, daß sich die führungsschwache und unentschlossene Aristokratie letztlich einem gezielten Ausbau der eigenen Macht durch die Übertragung von militärischen Kommandos und Sondervollmachten nicht werde widersetzen können, - eine solche Erwartung konnte sich nur aus einer Post-hoc-Bewertung der Entwicklung der staatlichen Institutionen selbst speisen. Das Beispiel verdeutlicht zugleich, weshalb die »welthistorischen Individuen« nicht als Rädchen im Uhrwerk einer Geschichte zu verstehen sind, die einem metaphysischen Subjekt namens »Weltgeist« zur Selbstbewußtwerdung verhelfen würde. Unterscheidet man zwischen den skizzierten, allgemeinen Voraussetzungen für autonomes Handeln einerseits und der Post-hoc-Bewertung dessen, was die Handlungen der »grossen Menschen in der Geschichte« konkret bewirkt haben, so verschwindet jeder metaphysische Schein, öffnet sich der Blick auf eine begriffliche Beschreibung, die später lediglich um eine geschichtliche Rekonstruktion ergänzt wird. Wenn es über die »welthistorischen Individuen« heißt, daß »deren eigene, particuläre Zwecke das Substantielle enthalten, welches [der] Wille des Weltgeistes ist«, daß allein dieser »Gehalt ... ihre wahrhafte Macht« und »in dem allgemeinen, bewußtlosen Instincte der Menschen« bereits angelegt sei, so mag zwar zunächst der Eindruck entstehen, als ob sie zu bloßen Marionetten der >höheren< Geschichtsmacht des »Weltgeistes« erklärt werden sollten.^' Tatsächlich jedoch sind solche Bemerkungen metaphorische Umschreibungen im Rahmen des Hegelschen Projekts der »Weltgeschichte«. Daß Cäsars »Arbeit ein Instinct war, der das vollbrachte, was an und für sich an der Zeit war«, bedeutet lediglich, daß sich seine Leistung post hoc in einem bestimmten Sinne bewerten, nämlich als Beitrag zu einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung verstehen läßt. Mit anderen Worten: Cäsar ist einerseits ein ausgewiesener Repräsentant autonomen Handelns. Überdies jedoch wird ihm post hoc auch Anteil an der Entwicklung des entsprechenden Autonomiebewußtseins zugesprochen - ein Anteil, von dem er selbst freilich nichts GW 18, S. 165 (Ergänzung und Hervorhebung von mir,W. H.).
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
wissen konnte. Allein insofern erscheint sein Handeln als »Instinct«, als Leistung im historischen Kontext, deren weitreichende Folgen für die spätere Entwicklung weder aus seiner eigenen noch aus der Sicht seiner Zeitgenossen absehbar waren. Klammert man daher die Frage nach der Berechtigung der Hegelschen Bewertungen in seiner »Weltgeschichte« zunächst aus, so bestätigt sich am Beispiel der »welthistorischen Individuen«, was sich als Einsicht in die Konstitution autonomen Denkens bereits angedeutet hatte. Um autonom zu sein, muß der einzelne die Gegenstände seines Willens, die Ziele seines Handelns selbst bestimmen. Dies vermag er nur, indem er die Folgen solchen Handelns anhand geschichtlicher Post-hoc-Bewertungen abzuschätzen sucht. Nur indem er aus den Entwicklungen der Vergangenheit auf potentielle Folgen seines eigenen Handelns schließt, vermag er autonom zu entscheiden. An welchen Post-hoc-Bewertungen vergangener Geschehnisse er seine Erwartungen und folglich auch sein Handeln orientiert, ist in diesem Sinne Sache seiner eigenen »vernünftigen« Erwägung und damit unveräußerlicher Teil seiner persönlichen Existenz. Autonomie ist keine Berufung auf einen subjektiven Willen, sondern bedeutet, sich zu vergewissern, was überhaupt im Selbstinteresse liegen kann. Sie bedeutet, die eigenen Optionen aus dem geschichtlichen Kontext der jeweiligen Lebensformen zu entwickeln. Hegel verteidigt diese These im folgenden gegen zwei Auffassungen, die verfochten zu haben ihm von seinen Kritikern häufig selbst angelastet wird, nämlich gegen eine dogmatische Theologie oder normative Ethik einerseits, sowie gegen eine altruistische, späterhin utilitaristische oder konsensuelle Morallehre andererseits. Da deren fragwürdige Implikationen häufig genug als Irrtümer Hegels betrachtet werden, damit aber der gesamte geschichtsphilosophische Kontext, der Zusammenhang zwischen individueller Selbstbestimmung und dem Zweck geschichtlichen Denkens, verdunkelt zu werden droht, empfiehlt es sich, den Blick auf Hegelsche Bemerkungen zu richten, die eine kritische Distanzierung von diesen Vorstellungen dokumentieren.
$ 22. Autonomes Handeln als »Selbstzweck« Die Behauptung, daß geschichtliches Denken konstitutiv sei für autonomes Urteilen und Handeln, verträgt sich nur schlecht mit den Vorbehalten, die man Hegels allgemeinen Überlegungen zur Moralphilosophie, etwa zur Bedeutung der Person im Staat, gemeinhin entgegenbringt. Vor allem aber scheint sie in deutlichen Widerspruch mit jener Einsicht zu geraten, die sich in der Betrachtung der Konstitution geschichtlichen Denkens als genuiner
§ 22. Autonomes Handeln als »Selbstzweck«
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Zweck geschichtlicher Praxis erwiesen hatte. Wie nämlich, so möchte man fragen, verträgt sich der Anspruch des einzelnen auf Autonomie mit jenem konstatierten Zweck, den »vernünftigen« Willen zu einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu artikulieren? Dürfte es nicht eher den üblichen Vorstellungen entsprechen, daß eine solche Kontinuität vom einzelnen statt einer prononcierten Artikulation seines Selbstinteresses gerade eine Einschränkung seiner persönlichen Ziele und Zwecke verlangt? Sind nicht Autonomie und Kontinuität in dieser Hinsicht geradezu kontradiktorische Begriffe? Die eingangs erhobene Behauptung jedenfalls, daß es der einzelne selbst ist, der den »vernünftigen« Willen zu einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens mitbringt, läßt sich aufgrund der vorausgegangenen Überlegungen allein noch keineswegs rechtfertigen. Daraus geht allenfalls hervor, daß es ein vitales Selbstinteresse darstellt, sich mit den geschichtlichen Voraussetzungen eigener Handlungsoptionen zu befassen. Daß dieses Selbstinteresse zugleich den »vernünftigen« Willen zu einer Kontinuität der gemeinschaftlichen Lebensformen implizieren würde, scheint zunächst allenfalls ein frommer Wunsch zu sein. So kann es auch nicht verwundern, daß der Versuch, die beiden disparaten Thesen in Übereinstimmung zu bringen, gemeinhin auf ganz andere Wege geraten ist. Viel eher nämlich, als daß man der These der Autonomisierung zustimmen würde, ist Hegels emphatische Rede von Freiheit für eine bloße Kaschierung des Umstands genommen worden, daß seine geschichtlich bemäntelte Moralphilosophie die Autonomie des einzelnen tatsächlich einem hypostasierten Gemeinwohl unterordnet. So hat man Hegel den Vorwurf gemacht, die Rechte der Person den Belangen von Institutionen, etwa dem Wohl des Staates, unterworfen und somit statt einer wirklichen Emanzipierung dem Obrigkeitsglauben, etwa dem Monarchismus, kurz: der Etablierung einer Dienermoral Vorschub geleistet zu haben.'*^ Es ist beinahe tragisch, daß sich diese Auffassung letztlich bereits seit dem Verdikt Rudolf Hayms zur scheinbar unumstößlichen Gewißheit verdichtet hat, wird doch auf diese Weise der Zusammenhang verschleiert, wie ihn Hegel in bezug auf die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens zwischen Autonomie und Kontinuität tatsächlich aufeudecken versucht. Im folgenden wird es darum gehen, den skizzierten Vorbehalt mit einem Gegenentwurf zu konfrontieren. Demnach zielt Hegel nicht darauf, den einzelnen im Interesse einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens auf die Anerkennung bestimmter Regeln oder Gesetze und damit auch - soweit erforderlich - auf eine Überwindung seiner subjektiven Interessen zu verpflichten, sondern er möchte umgekehrt zeigen, daß autonomes Handeln im skizzierten, ge“ Vgl. Popper; Offene Gesellschaft, S. 67f.
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schichtlich gestützten Sinne nur möglich ist, wenn sich der einzelne ein Urteil über die potentielle Entwicklung der relevanten Lebensformen insgesamt bildet. Die anonyme Institution eines Staates oder »Weltgeistes« verlangt vom Handelnden nicht, seine Autonomie zugunsten des Ganzen einzuschränken. Überhaupt ist bei Hegel von einer solchen Einschränkung keine Rede. Der »Endzweck der Vernunft«, die Orientierung durch relativ stabiles Wissen und daran geknüpfte Lebensformen, ist kein »Selbstzweck« eines anonymen Kollektivs, das um seines Selbsterhaltes willen dem einzelnen bestimmte Verpflichtungen auferlegen würde. Vielmehr liegt der »Endzweck« im Interesse der handelnden Personen selbst. Autonomie und Kontinuität schließen einander nicht aus, sondern eines bedingt das andere. Geschichte aber übernimmt im Spannungsfeld dieser Begriffe eine zentrale Rolle: Sie leistet nicht weniger, als daß sie dem einzelnen den Rahmen zur Planung seines eigenen Handelns verschafft. Sie ist kein Steigbügelhalter einer Dienermoral, sondern praktisches Instrument der Emanzipierung. Dieser Überlegung nachzugehen, erfordert zunächst eine Verschiebung der Beweislast auf die Seite des Vorwurfs, daß Hegel die geforderte Autonomie der Idee eines hypostasierten Allgemeinwohls geopfert habe. Eine solche Verschiebung der Beweislast ist zweifelsohne möglich. Hegel nämlich macht keinerlei Anstalten, die angedeutete praktische Relevanz geschichtlichen Denkens auf die Verwirklichung altruistischer Zwecke zuzuschneiden. Er verteidigt sogar expressis verbis das Selbstinteresse des einzelnen gegen die »hohem Berechtigungen« der Allgemeinheit eines Staates oder der Gesellschaft."’ Seine Einsicht in die Grundlagen der Autonomie erweist sich dabei als das beste Argument gegen den Versuch, allgemeine Normen in sittlicher Absicht zur Beschneidung individueller Interessen zu instrumentalisieren."" Die entsprechende Erkenntnis hat sich im Ansatz aus der Betrachtung des Handelns der »welthistorischen Individuen« bereits ergeben. Ihre Implikationen für den noch genauer zu betrachtenden Moralbegriff Hegels sind ebenso offensichtlich wie klar. Weil nämlich ein artikuliertes Selbstinteresse und somit Autonomie auf einer Folgenabschätzung des eigenen Handelns beruht, bedeutet jeder Versuch, das Handeln des einzelnen an den potentiellen Folgen für die Gesamtgemeinschaft zu orientieren, eine Kontradiktion der Idee der Moralität selbst. Wenn der Fähigkeit zur »vernünftigen« Selbstbestimmung erst die erforderlichen Winke gegeben werden müssen, damit sie ihre Legitimität unter Beweis stellen kann, ist offenkundig ein paradoxes Verständnis von Moralität im Spiel, demzufolge Autonomie nur unter Auf-
"’ GW 18, S. 168. "" Vgl. repräsentativ zu den entsprechenden Vorwürfen Angehrn: Vernunft in der Geschichte?, S. 350f.; sowie Litt: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, S. 122f.
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läge ihrer mchtigeru Handhabung gestattet werden kann. Daß ein solches Verständnis der Idee der Autonomie nicht etwa adäquate Grenzen setzt, ihr zu ihrem Recht verhilft, sondern sie ad absurdum führt, hat Hegel zweifelsohne erkannt. Unmißverständlich weist er darauf hin, daß die Freiheit der Akteure ein »schlechthin nicht untergeordnetes, sondern ein ... an ihm selbst Ewiges« sei. Die »subjektive Seite« des Handelns, »ihr Interesse überhaupt, das ihrer Bedürfnisse und Triebe« lasse sich gerade nicht überwinden oder dem Anspruch eines hypostasierten Gesamtwohls beugen, sondern habe schlechterdings ein »unendliches Recht, befriedigt [zu] werden«. In diesem »Recht«, so Hegel nachdrücklich, sei es »selbst über die äussere Nothwendigkeit und Zufälligkeit an sich erhoben«.^’ Damit wird klar, daß die Fähigkeit zur Selbstbestimmung weder an äußere Bedingungen geknüpft ist, noch daß sie in paternalistischer Manier auf die Maßstäbe eines hypostasierten Gesamtwohls zugeschnitten werden kann. Die handelnden Personen sind keine Demiurgen kollektiver Zielsetzungen, sondern, wie Hegel unmißverständlich deutlich macht, »Selbstzwecke« - und dies läßt sich ganz wörtlich verstehen: Der einzelne ist sich in seinem Handeln sein eigener Zweck. Seine Persönlichkeit entsteht durch die Fähigkeit, konkrete Ziele oder Absichten selbständig zu formulieren und danach zu handeln. Was dies »dem Inhalte des Zweckes nach« bedeutet, worin dieser >Selbstzweck< gründet, daran läßt Hegel keinen Zweifel aufkommen;“ »Zweck in ihm selbst ist der Mensch nur ... durch das, was von Anfang [an als] Vernunft, und als sie thätig in sich, selbstbestimmend ist, Freyheit genannt worden ist«.^^ Wird auf solche Weise die Beweislast der Behauptung, Hegel habe die Autonomie des einzelnen dem >höheren< Zweck einer Kontinuität des Ganzen opfern wollen, an ihre Verfechter zurückdelegiert, so ist auch ein Perspektivwechsel in der Frage der Beurteilung möglich, wie er Kontinuität und Autonomie tatsächlich verschränkt wissen will. Daß er die Selbstbestimmung des einzelnen ausdrücklich gegen jede andere »Berechtigung« verteidigt, bedeutet dabei die entscheidende Voraussetzung für eine Vermutung, die im weiteren Verlauf der Darstellung als Quintessenz jenes Perspektivwechsels gerechtfertigt werden und von der hier ein erster Eindruck vermittelt werden soll. Hegel nämlich begreift autonomes Urteilen und Handeln als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es Kontinuität überhaupt geben kann. Eine stabile sittliche Ordnung, die eine Planung individuellen Handelns gestattet, entsteht nicht dort, wo die Akteure aus altruistischen Erwägungen von ihren eigenen Interessen zurücktreten. Sie existiert vielmehr " GW 18, S. 167 (Ergänzung von mir, W. H.); sowie ebd., S. 167 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, W. H.). ’^Ebd., S. 167. Ebd. (Ergänzung von mir,W.H.).
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dort, wo der einzelne ein »vernünftiges« Se/forinteresse artikuliert. Worauf nämlich würde eine sittliche Ordnung beruhen, worauf die Geltung bestimmter Gesetze oder die Verbindlichkeit von Normen, wenn der einzelne nicht wesentlich ein persönliches Interesse damit verbinden würde, diese Gesetze oder Normen anzuerkennenl Wie sollte sich eine solche Ordnung in den Augen der beteiligten Akteure anders legitimieren, worauf ihre mehr oder minder reflektierte Anerkennung gründen, wenn nicht darauf, daß der einzelne im Rahmen der entsprechenden Konventionen, Regeln, Vorschriften und Verbote sein eigenes Leben relativ sicher planen kann und somit weiß, was im Bereich seiner eigenen Möglichkeiten liegt? Der Perspektivwechsel wird damit andeutungsweise ersichtlich: Statt daß aus der Unantastbarkeit einer sanktionierten Ordnung Autonomie erwachsen würde, erkennt Hegel, daß es umgekehrt das autonome Urteil des einzelnen ist, in welchem »Religiosität, Sittiichkeit u. s. f. ... ihren Boden und [ihre] Quelle haben«.“® Es beruht nicht die Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens auf der Überwindung der eigenen Interessen, sondern die Artikulation solcher Interessen ist Bedingung der Möglichkeit einer sittlichen Ordnung. Daß Autonomie für die Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt, wird noch deutlicher, wenn man sich neben den allgemeinen Voraussetzungen sittlich verfaßten Lebens auch die spezifischen Bedingungen moralischen Handelns genauer vor Augen führt. Denn ebenso wenig, wie es Normen geben kann, ohne daß der einzelne sie anerkennt, gibt es auch keine Moralität, wenn der Handelnde nicht selbst darüber urteilt, was im Sinne der Normen zu tun ist. Die Möglichkeit, zwischen »Gutem« und »Bösem« zu wählen, würde nicht existieren, wo die Entscheidung selbst mit der bloßen Befolgung oder Nichtbefolgung von Regeln identisch wäre. Eine reflektierte und damit moralisch bewertbare Entscheidung verlangt vielmehr eine Abschätzung der potentiellen Folgen des eigenen Handelns ex ante. Nur wer vorsätzlich handelt, nur wer abschätzt, worin die potentiellen Folgen seines Handelns bestehen, ist, wie Hegel erkennt, im rechtlichen wie auch im begrifflichen Sinne des Wortes verantwortungs- und damit schuldfähig.“’ Wüßte er nicht, was er womöglich bewirkt, so wäre es sinnlos, sein Handeln unter moralischen Gesichtspunkten bewerten zu wollen. Hegel erklärt daher, es sei »das Siegel der hohen[,] absoluten Bestimmung des Menschen, daß er wisse, was gut und böse ist, und daß eben das Wollen ... entweder [ein Wollen] des Guten oder des Bösen [ist], — mit einem Wort, daß er Schuld haben kann,... Schuld an dem seiner
“* Ebd. (Ergänzung von mir, W. H.). “’Vgl.GWlS, S. 167.
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individuellen Freyheit angehörigen Guten und Bösen.«’“ Der entsprechend reflektierte Wille, der aus einer geschichtlich gespeisten Folgenabschätzung des eigenen Handelns resultiert, ist unverzichtbar für die Anerkennung einer sittlichen Ordnung überhaupt. Auch dies bestätigt Hegels These, daß individuelle Selbstbestimmung in ihrer bewußten Orientierung auf die potentiellen Folgen des eigenen Tuns, als eigentliche »Quelle« der »Sittlichkeit«, als schlechthin gemeinschaftskonstitutives Element des Denkens zu begreifen ist. Die letzten Zweifel an dieser These beseitigt schließlich Hegels offene Kritik einer sentimental-altruistischen Morallehre, welche an die Stelle des skizzierten »Selbstzwecks« und somit einer autonomen Gestaltung des eigenen Lebens den sogenannten »Weltzweck« eines hypostasierten Gesamtwohls zu setzen versucht.” Das moralphilosophische Bild, welches Hegel in dieser Hinsicht offenkundig zu kritisieren unternimmt, ist das der Kantischen Ethik: der Versuch einer moralischen Selbstverpflichtung, die »Glückseligkeit anderer Menschen« zum gesetzesartigen Maßstab des eigenen Handelns zu machen, »indem der subjektive Zweck (den jedermann hat) dem objektiven (den sich jedermann dazu machen soll) untergeordnet wird.«’^ Indem er sich implizit gegen diese Konzeption wendet, versucht Hegel zu zeigen, daß alle entsprechenden Handlungsentwürfe, alle praktischen Versuche, das formale Prinzip des kategorischen Imperativs zur moralischen Selbstverpflichtung des Willens zu stilisieren, von vornherein »beschränkter Art«, ja daß sie mit Notwendigkeit »vergänglich, der Verkümmerung und Verletzung ausgesetzt« sind.” Der Grund hierfür liegt in der skizzierten Autonomie der Akteure selbst. Zwar repräsentiere die altruistische Idee eines Gesamtwohls scheinbar all das, »was als die Bestimmung der Vernunft, als absoluter Zweck angegeben worden, als die ihrer selbst bewußte Freyheit«, so daß eine Auseinandersetzung »unter dem Titel solcher höhern Berechtigungen« gelegentlich als »Kampf berechtigender Gedanken untereinander« wahrgenommen werde. Gleichwohl jedoch, so Hegel, könnten »ihre Gestaltungen, [ihr] Inhalt und [ihre] Entwicklung zur Wirklichkeit..., indem das Innere, Allgemeine derselben unendlich ist«, allenfalls »beschränkter Art seyn«.” Dieser Einwand wiederholt letztlich nur das, was Hegel zur Konstitution individueller Selbstbestimmung bereits ausgeführt hatte: Gerade weil die >Gestaltung< der jeweiligen »Wirklichkeit« eine Sache des freien Willens der Handelnden, das »Innere« der entsprechenden »Ent“ Ebd. (Hervorhebungen im Originaltext, Ergänzungen von mir, W. H.). ”Ebd., S. 168. Kant: Metaphysik der Sitten, A 17, A 19. ”GW 18, S. 169. ” Ebd. (Hervorhebung und Ergänzungen von mir, W. H.).
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Wicklung«, wie er sagt, »unendlich« ist, gerade weil die Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens von mannigfaltigen und unüberschaubaren Koinzidenzen im Handeln der Beteiligten abhängt, sind allgemeine Handlungsempfehlungen per se >beschränkter< Natur. So wird man schon deshalb von niemandem verlangen können, im Interesse eines hypostasierten Gesamtwohls zu handeln, weil grundsätzlich nicht absehbar ist, ob die aktualen Voraussetzungen, unter denen bestimmte Handlungsmaximen verallgemeinerbar erscheinen, im Zuge der Gesamtentwicklung überhaupt maßstäblich bleiben. Niemand vermag abzusehen, ob der intendierte moralische Gehalt der entsprechenden Handlungen am Ende nicht doch wirkungslos verpuffen wird. Zumal wo die entsprechenden Folgen vornehmlich auf die handelnden Person selbst zurückfallen, droht eine altruistisch motivierte Moral in Donquichotterie umzuschlagen. Überdies versucht Hegel zu zeigen, daß sich eine altruistische Morallehre auch in bezug auf den Begriff der Moral selbst ad absurdum führt. Diese Kritik betrifft den Zusammenhang von Autonomie und Ethik. Wie Hegel mit zum Teil drastischen Bemerkungen herausarbeitet, trägt der sentimentale Altruismus eher zu einer verächtlichen Haltung gegenüber der (vermeintlich amoralischen) Gemeinschaft bei, ja hilft womöglich moralische Selbstgerechtigkeit und Selbstdispensierung zu entschuldigen, als daß er zu adäquatem Handeln anleiten würde. Dieser provozierende Vorwurf gewinnt an Plausibilität, wenn man ihn auf Hegels eigenen Moralbegriff zurückführt. Denn gerade weil nur derjenige moralisch handelt, der die absehbaren und möglichen Folgen beurteilt und folglich auch das »Gute« und »Böse« seines Handelns selbst abwägt, hat es keinen Sinn, die adäquate Maxime zu einer Pflicht stilisieren zu wollen, welche im moralisch relevanten Fall gegen den subjektiven Willen durchzusetzen sei. Nach der Verfahrensethik kritisiert Hegel nun also auch die Pflichtethik Kants, also die Entgegenstellung von Freiheit und Pflicht. Er macht geltend, daß der moralische Gehalt einer Entscheidung gerade darin besteht, aus freiem Entschluß für eine bestimmte Maxime zu votieren und danach zu handeln. Eine Entscheidung, die nicht selbständig getroffen wird, ist demnach weder autonom noch moralisch. Da aber eine altruistische Morallehre dem einzelnen seinen Entschluß folglich gar nicht abnehmen kann, besteht zumindest tendenziell die Gefahr, daß die Verwendung des Begriffs der Pflicht einem ganz anderen Anspruch Vorschub leistet als jenem einer moralischen Selbstverpflichtung. Obwohl zweifellos auch Kant in dieser Hinsicht lediglich hat behaupten wollen, daß sich der einzelne selbst in die Pflicht nehmen muß, suggeriert doch das Bild einer prinzipiellen Verallgemeinerbarkeit subjektiver Handlungsmaximen eine Verläßlichkeit des Urteils, die es gestattet, ebensogut auch andere in die Pflicht nehmen zu können.
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Wird aber die Befähigung zur Autonomie und moralischen Selbstbeurteilung erst als übertragbar mißverstanden, so fördert dies nicht nur den paternalistischen Impetus, den Beitrag des einzelnen zum Gesamtwohl kalkulieren zu wollen. Auch die Autonomie selbst pervertiert zur Autorität, die das Selbstinteresse der anderen unter ihre Vormundschaft gestellt wissen will. Genau dies moniert Hegel als eine moralische »Unzufriedenheit«, deren Verfechter sich darin gefallen, »allgemeinere Zwecke, welche sie für das Rechte und Gute halten, insbesondere heutzutage Ideale von Staatseinrichtungen, ... Ideale zu erfinden und an dergleichen sich ein Hochgefühl zu geben«.''^ Statt daß Moralität dafür genommen werden würde, sich Rechenschaft über das eigene Handeln abzulegen, wird sie als eine Art »Geschmack« aufgefaßt, welcher »die Gegenwart« - gemessen an jenen Idealen - »nicht entsprechend findet« und daher »nicht nur unzufrieden über den Weltzustand und [bestimmte] Weltbegebenheiten[,] sondern [sogar] empört dagegen« ist.^*^ Eine daraus mitunter recht schnell erwachsende »Litaney der Klagen«, »daß es den Guten und Frommen in der Welt ... meist schlecht, den Bösen und Schlechten dagegen gut gehe«, darf in der Konsequenz als Vorbote jener Selbstdispensierung vom moralischen Handeln gelten, welche sich in dem Glauben widerspiegelt, daß der Mensch nun einmal zu schlecht für die angeblichen Anforderungen einer gerechten »Welt« sei.^^ Auf diese Weise verkehrt sich der Anspruch, allgemeine Prinzipien moralischen Handelns formulieren zu können, nicht nur in das Gegenteil der Idee der Moralität, sondern auch in einen Zynismus, der sich als selbsterklärte Skepsis allenfalls mit einem guten Namen versieht. Weist man mit Hegel all diese Versuche einer Aushöhlung der individuellen Autonomie zurück, ihre offene Desavouierung durch den autoritären Gesetzgeber ebenso wie die schleichende Bevormundung durch eine das angebliche Gesamtinteresse vertretende Ethik, so wird der Weg frei für den angedeuteten Perspektivenwechsel, der in der Beurteilung der praktischen Relevanz geschichtlichen Denkens erforderlich ist. Der »vernünftige« Wille zur Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens, den der einzelne im Selbstinteresse artikuliert, erweist sich als die eigentliche Bedingung der Möglichkeit jener Kontinuität. Wenn der einzelne sein Urteilen und Handeln nicht im Selbstinteresse an der Option einer Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens orientiert, ist auf Dauer auch keine reale Kontinuität möglich. Die Metapher freilich, mit deren Hilfe Hegel diese Einsicht nunmehr zu veranschaulichen sucht, ist gemeinhin gänzlich anders konnotiert, als es der skizzierte Zu-
''Ebd.,S. 168. Ebd. (Ergänzungen von mir, W. H.). ” Ebd.
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sammenhang erwarten läßt. Es handelt sich um das berüchtigte Bild vom »Weltgericht« der Geschichte. § 23. Die Verschränkung von Selbstinteresse und Willen zur Kontinuität Hegel hat deutlich gemacht, daß der »vernünftige« Wille zur Kontinuität nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis zur Autonomie des einzelnen steht. Das aber ist noch zu wenig. Es gilt überdies zu zeigen, daß die Autonomie selbst es ist, die den »vernünftigen« Willen zur Kontinuität in sich schließt. Tatsächlich versucht Hegel deutlich zu machen, daß der einzelne, gerade indem er nach Autonomie strebt, immer auch mit einer Kontinuität des gemeinschaftlichen Lebens rechnet, auf die sein Handelns projektiv entworfen ist. Sein Wille zur Autonomie erweist sich folglich, wenngleich prima fade verborgen und somit implizit, immer auch als »vernünftiger« Wille zur Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens. Beide Begriffe bilden eine innere Einheit. Hegels Argument für diese Behauptung ist ebenso bündig wie verblüffend und läßt sich am einfachsten begreifen, wenn man den Konsequenzen nachgeht, die sich aus der Negation der Behauptung ergeben. Denn wäre es nicht der Fall, daß der einzelne bei der Formulierung eigener Handlungsoptionen zugleich mit einer Fortdauer der jeweiligen Lebensformen rechnet, so wäre gar nicht klar, welchen Grund er dafür hat, sich auf die eigenen Erwartungen wirklich zu verlassen. Mit anderen Worten, es wäre nicht klar, weshalb er sich durch den jeweiligen Erwartungshorizont überhaupt orientiert fühlen sollte. Hegel versucht dies mit Hilfe eines Begriffs zu verdeutlichen, der gemeinhin andere Assoziationen auslöst, als es der skizzierte Zusammenhang vermuten läßt. Es handelt sich um den Begriff des »Weltgerichts«, den er aus Schillers Gedicht »Resignation« übernommen hat. Da auch dieser Terminus zumeist als Indikator einer metaphysischen Konstruktion gilt, die den einzelnen an die >höhere< Macht eines anonymen Geschichtsprozesses auszuliefern scheint, bedarf es ähnlich wie schon in bezug auf die »welthistorischen Individuen« auch hier wieder einer Unterscheidung zwischen dem Begriff als solchem sowie seiner Verwendung im Rahmen der »Weltgeschichte«. Obwohl unbestritten ist, daß Hegel unter »Weltgericht« einerseits den Gesamtprozeß eben dieser »Weltgeschichte« versteht, die Entwicklung des Autonomiebewußtseins also, deren Prinzip die Aufeinanderfolge bestimmter »Volksgeister« ist, so besagt dies noch keineswegs viel über die Bedeutung des Begriffs selbst.^* Wieder gilt es, Hegels Ausführungen statt als metaphysiTW 7. S. 503. Vgl. GW 20, S. 523f.
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sehen Kommentar zur Realgeschichte als begriffliche Einsicht in die Bedeutung geschichtlichen Denkens zu verstehen. Der Begriff des >Gerichts< ist keine metaphysische Chiffre dafür, daß der Geschichtsprozeß über das Schicksal des einzelnen richten würde, sondern Ausdruck der handlungsbezogenen Einsicht, daß der einzelne durch seine ^Ausrichtung< an jener potentiellen Entwicklung in seinem Handeln überhaupt erst einen Sinn sieht. Mit anderen Worten, »Weltgericht« ist die Geschichte nicht als Schicksal der Handelnden, sondern als Rekonstruktion der Vergangenheit, die das eigene Handeln ausrichtet oder eben orientiert. Die Projektion der entsprechenden Erwartungen aber richtet sich immer auf die potentielle Gesamtentwicklung der jeweiligen Lebensformen. Die Gründe für diese Behauptung lassen sich zunächst nur andeuten. Geschichte markiert demnach schon deshalb eine >RichtinstanzGerichtGerichts< nämlich hat bei näherer Betrachtung vor allem die Orientierung selbst, die aus einem entsprechenden Erwartungshorizont erwächst, also die >Ausrichtung< des eigenen Handelns an einer potentiellen Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens. Wodurch diese >Ausrichtung< charakterisiert wird und worin ihre spezifische Leistung besteht, läßt sich gerade daraus ersehen, daß der einzelne in ihrem Falle immer nur aufgrund seiner Erwartung, nicht hingegen in der erfahrungsbedingten Gewißheit des Erfolges handelt. Daß sie ihn orientiert, besagt nichts anderes, als daß es der Handelnde der realen Entwicklung überlassen muß, ob seine Erwartung erfüllt und seinem Handeln Erfolg beschieden sein wird oder nicht. Dieser scheinbar unbefriedigende Umstand, abwarten und auf einen günstigen Ausgang hoffen zu müssen, mag nun den Eindruck erwecken, als ob mit einer geschichtlich gespeisten Orientierung kaum allzu viel gewonnen sei. Tatsächlich jedoch verbirgt sich hinter der Metapher vom >Gericht< eine der tiefsten Einsichten Hegels in die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens. Seine entscheidende Erkenntnis nämlich besteht darin, daß überhaupt nur aus einer geschichtlich artikulierten Erwartung die Hoffnung erwächst, welche projektives Handeln möglich macht. Daß Geschichte den Handelnden orientiert, besagt gerade, daß sie seinem Handeln eine bestimmte Richtung zu geben vermag, obwohl er selbst über die Folgen dieses Handelns gar nichts Verläßliches weiß und auch nicht wissen kann.
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Eine solche Orientierung an der Geschichte ist also dann erforderlich, wenn sich die Folgen des eigenen Handelns nur im Kontext einer Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen abschätzen lassen. An die Stelle einer erfahrungsbedingten Gewißheit tritt die geschichtlich gestützte Erwartung, daß eine bestimmte Folge eintreten könnte, wenn auch eine bestimmte Lebensform oder Institution auf bestimmte Weise fortdauert. Solches Handeln aber ist projektiv: Es hat keinen anderen Halt als die Projektion der Erwartung selbst. Es beruht auf der Hoffnung, daß die Erwartung nicht trügen wird. Ohne solche Hoffnung, ohne das Vertrauen in die geschichtlich gestützte Projektion, die eine Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens als möglich suggeriert, hat »vernünftiges« Handeln keinen Sinn. Ohne sich auf die Option einer wie auch immer gearteten Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu verlassen, kann der einzelne keine eigenen Zwecke, Projekte und Lebensziele formulieren. Die Hoffnung, die daraus erwächst, sein eigenes Leben an jener potentiellen Fortdauer >auszurichtenRichtinstanzGericht< in Hegels Vorlesungsmanuskript erfährt. Das »Weltgericht«, dessen »Werkzeuge« oder »Mittel« die »welthistorischen Individuen« sind, erweist sich nämlich als nur eine von insgesamt zwei Möglichkeiten, Geschichte als >Gericht< aufzufassen. Mit demselben Titel versieht Hegel zugleich auch die »einfache Region des Rechts der subjectiven Freyheit«, den »Herd des Wollens, Entschließens und Thuns, ... das, worin Schuld und Werth des Indivi-
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duums ... eingeschlossen ist«.*’ Bereits aus dieser Bestimmung geht hervor, daß es bei der Rede vom >Gericht< nicht um eine Interpretation der Geschehnisse, sondern um die handlungsbezogene Bedeutung geschichtlicher Praxis geht. Hegels Rede über das »Gericht« wie auch das »Weltgericht« ist aus dieser handlungsbezogenen Bedeutung zu begreifen. Mit Hilfe beider Begriffe läßt sich zwischen verschiedenen Formen der Orientierung differenzieren, die aus der Formulierung geschichtlich gestützter Erwartungen erwächst. Bevor sich allerdings klären läßt, auf welche Weise Hegel eine geschichtliche Orientierung qua bloßem »Gericht« von einer Orientierung qua »Weltgericht« unterscheidet, muß zunächst die Frage beantwortet werden, weshalb er eine solche Orientierung überhaupt mit dem Titel eines >Gerichts< versieht. Der bloße Hinweis jedenfalls, daß sich im geschichtlichen Denken der subjektive »Herd des Wollens, Entschließens und Thuns« konstituiert, damit aber auch »der abstracte Inhalt des Gewissens«, dasjenige, »worin Schuld und Werth des Individuums, sein ewiges Gericht[,] eingeschlossen ist«, läßt die Rede vom >Gericht< selbst als unnötig aufgesetzt erscheinen.*“ Weshalb ausgerechnet dieser Begriff? Eine Antwort auf diese Frage läßt sich zwar unmittelbar weder dem Hegelschen Vorlesungsmanuskript noch jenen Hauptwerken entnehmen, in denen dieses Wort Verwendung findet. Wohl aber findet sie sich dort vorgezeichnet, wo auch Hegel selbst den Begriff entlehnt, nämlich in Schillers Gedicht »Resignation«. Wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, kommt der Hegelsche Gebrauch des Wortes »Weltgericht« mit jener von Schiller prätendierten Bedeutung genau zur Deckung. Das als »Phantasie« betitelte Lehrgedicht darf daher als Schlüssel zum Verständnis der Hegelschen Überlegung betrachtet werden.*' Sein lyrisches Ich, das über den planvollen Entwurf des eigenen Lebens plötzlich Reue empfindet und sich in sentimentaler Manier nach unreflektiertem Lebensgenuß zurücksehnt, stilisiert den Versuch einer Selbstentbindung von den eigenen Plänen zu einer Klage vor dem »Thron« der »Ewigkeit« und appelliert in diesem Sinne an sie als seine »Verhüllte Richterin«. Die Anrufung dieser verborgenen >Richtinstanz< endet mit deren Selbstoffenbarung, mit der Erkenntnis dessen, worin das >Gericht< als solches überhaupt besteht. Der Unglückliche, der über seiner Selbstbestimmung, über der Erwartung des »Weltplans« seine Jugend geopfert zu haben glaubt, der statt der »Zeit«, welche er nach den »Ufern« der »Ewigkeit« »fliegen« sieht, das >arkadische< Sein mit der Geliebten zurückbegehrt, erhält die berühmte Antwort, daß es ihm GW 18, S. 170 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, W. H.). “Ebd. Vgl. zum folgenden den Wortlaut bei Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1988(8.Aufl.),S. 130ff.
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die eigene Erwartung selbst unmöglich macht, sich von ihr zu entbinden. Gerade weil er sich statt für den »Genuß« dafür entschieden hat zu >entbehrenarkadischer< Sorglosigkeit notwendig unerfüllt, ja dokumentiert sogar eine gravierende Fehleinschätzung der Bedeutung, welche die Erwartung für sein eigenes Leben besitzt. »Zwei Blumen« nämlich, so das berühmte Wort des Dichters, »blühen für den weisen Finder, / Sie heißen Hoffnung und Genuß. / Wer dieser Blumen eine brach, begehre / Die andre Schwester nicht.« Mochte dem fiktiven Ankläger der Abschied von der eigenen Jugend zunächst als nutzlose Entsagung erschienen sein, so findet sich in diesen Zeilen mehr als deutlich ausgesprochen, was ihm die Projektion einer gemeinschaftlichen Zukunftsperspektive einträgt. Was er aus ihr zieht, ist schlechterdings die »Hoffnung« zum Leben selbst. Indem das lyrische Ich der Schillerschen »Phantasie«, mit Hegel gesprochen, an die Stelle eines unreflektierten, die Folgen seines Handelns nicht bedenkenden Wollens ein »vernünftiges« Selbstinteresse und damit einen artikulierten Willen setzt, erleidet es keinen unkompensierten Verlust seiner natürlichen Unbeschwertheit, sondern gewinnt im Gegenteil die »Hoffnung«, welche das eigentliche Fundament seines Lebensentwurfs darstellt. In unmißverständlicher Klarheit heißt es in den letzten Zeilen der Phantasie: »Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen, / Dein Glaube war dein zugewognes Glück. / Du konntest deine Weisen fragen, / Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine Ewigkeit zurück.« Diese Schillerschen Zeilen sind es, die Hegel zum Anlaß genommen haben dürfte, die Formel von der Autonomisierung durch Geschichte auf den Begriff des »Weltgerichts« zuzuspitzen. Überdeutlich wird nun, weshalb die Orientierung durch geschichtlich gestützte Erwartungshorizonte tatsächlich den Charakter eines >Gerichtes< hat. Anders als daß der einzelne einen geschichtlich gestützten Erwartungshorizont als >Richtinstanz< seines Handelns akzeptiert, anders als daß er in Gestalt seiner Erwartungen gleichsam Vertrauen faßt, von dem er nicht wissen kann, ob es berechtigt ist, vermag er ein autonomes Selbstverständnis nicht zu entwickeln. Um in seinem Handeln einen Sinn sehen zu können, muß er auf die Fortentwicklung des Ganzen vertrauen: er muß hoffen. Hoffnung ist die conditio sine qua non autonomen Handelns. Die artikulierte Hoffnung aber, die sich in bestimmten Erwartungen konkretisiert, ist damit in der Tat der eigentliche Ertrag geschichtlichen Denkens für die Selbstbestimmung des einzelnen. Nichts anderes als dies ist gemeint, wenn Schiller seinen >unsichtbaren Genius< die berühmte Empfehlung aussprechen läßt: »Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre / Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre. / Die Weltgeschichte ist
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das Weltgericht.« Diese drei ZeUen nehmen die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens vorweg, wie Hegel sie auf den Begriff zu bringen sucht, und wesentlich ihretwegen übernimmt er von Schiller den Begriff des »Weltgerichts«. Wer autonom sein will, muß glauben oder eben hoffen können, daß seine Erwartung ihn nicht trügen wird. Zu glauben aber bedeutet, auf die geschichtlich gespeiste Option gemeinschaftlichen Lebens als maßgebliche >Richtinstanz< des eigenen Handelns zu vertrauen. Niemand anderer als die Geschichte ist das >GerichtHoffnungsankerEntsiegelung< eines Schriftstücks, zur Umschreibung für die Hingabe des Gläubigen an >Gott< gewandelt hat. Der >Resignierende< ist hier keineswegs jener Schopenhauersche Pessimist, dessen höchste Erkenntnis in der wenig hoffnungsfrohen Einsicht besteht, daß er im besten Falle gar nicht existiert hätte.“ Genau umgekehrt ist es der hoffnungsvoll Handelnde, dessen Akt der »Resignation« gleichsam in der >Entsiegelung< des eigenen Lebens besteht, in der >Unterzeichnung< oder >Verschreibung< seiner Existenz an die Möglichkeit einer Kontinuität der Gemeinschaft. Berücksichtigt man diese traditionelle Bedeutung des Begriffs, so fällt es nicht schwer zu erkennen, daß Schiller und auch Hegel diese Bedeutung lediglich bei ihrem Namen zu nennen und zu zeigen versuchen, worin eine solche >Verschreibung< besteht und wie es zu ihr kommt, weshalb also der Handelnde den »vernünftigen« Willen zu jener Kontinuität überhaupt aufbringt. Daß »Resignation« in diesem traditionellen Sinne aus dem Willen zur Autonomie resultiert, daß der einzelne allein mithilfe geschichtlich gespeister Erwartungen die Hoffnung auf einen “ Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 700ff. Vgl. ebd.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
bestimmten Lebensentwurf zu artikulieren vermag, erweist sich als praktische Relevanz geschichtlichen Denkens. Diese Relevanz besteht, so paradox es zunächst erscheinen mag, in der >resignativen< Bedeutung von Geschichte: Um autonom werden zu können, muß der einzelne sein Handeln der Möglichkeit einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens >verschreiben< - er muß >resignierenGerichts< in seinem Vorlesungsmanuskript erfährt: Wie gesehen spricht nämlich Hegel einmal vom »Gericht«, dann aber auch wieder vom »Weltgericht« der Geschichte. Wie bereits deutlich geworden war, läßt sich diese Differenzierung anders als vor dem Hintergrund der Phantasie des Dichters nicht begreifen. Daß es auch Hegel in bezug auf beide Begriffe wesentlich um die Frage der geschichtlichen >Ausrichtung< oder Orientierung individuellen Handelns geht, zeigt schon die Erläuterung, mit der er seinen Gebrauch der Metapher des >Gerichts< versehen hatte. Daß dieser Begriff die »einfache Region des Rechts der subjectiven Freyheit« bezeichnet, jenen »Herd des Wollens, Entschließens und Thuns«, der vom »lauten Lärm der Weltgeschichte« gänzlich »unangetastet« bleibt, annonciert dabei seine nähere Bedeutung.'^“ Es geht offenbar um solches Handeln, das zwar durch Geschichte orientiert wird, selbst jedoch über keine »weltgeschichtliche« Bedeutung verfügt. Auch wenn zunächst unklar bleibt, worin diese »weltgeschichtliche« Bedeutung überhaupt bestehen könnte, verdeut« GW 18, S. 170.
§ 24. Geschichtliche Orientierung vs. abstraktes Gewissen
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licht die grundsätzliche Bezugnahme auf den Bereich des »Wollens, Entschließens und Thuns«, daß auch der Begriff des »Weltgerichts« über eine handlungsbezogene Bedeutung verfügen muß. Dies vorausgesetzt, zeichnet sich der Rahmen ab, in den Hegels Rede über »Gericht« und »Weltgericht« gehört und der sodann auch ein Verständnis der Begriffe »Volks-« und »Weltgeist« eröffnet. Die Differenzierung, die Hegel vor Augen hat, findet sich dabei implizit bereits in den vorausgegangenen Betrachtungen dargelegt. Er unterscheidet eine geschichtliche Orientierung, die sich der einzelne selbständig bildet, von solcher Orientierung, deren je konkrete Erwartungen der einzelne mehr oder minder unreflektiert aus seiner »sittlichen« und »religiösen« Selbstverpflichtung im Rahmen der Gemeinschaft bezieht. Während es somit im ersmuliert, an denen er sein Handeln ausrichtet, beschränkt er sich im zweiten Falle wesentlich darauf, Erwartungen zu teilen, die andere bereits formuliert haben und als Grundlage einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens sanktioniert wissen wollen. Wie sich zeigt, ist es die selbständige Entwicklung eines bestimmten Erwartungshorizonts, welche Hegel als Voraussetzung für den Lebensentwurf der bereits erwähnten »welthistorischen Individuen« ansieht, während er in bezug auf den zweiten Fall - ausdrücklich ohne jede Wertung - von der »Religiosität« und »Sittlichkeit eines beschränkten Lebens«, etwa »eines Hirten« oder »Bauern«, spricht.*’ Wirkliche Autonomie gewährt allerdings nur der selbst formulierte, nicht der von anderen übernommene Erwartungshorizont, und diese Unterscheidung ist es denn auch, die sich hinter der Hegelschen Differenzierung zwischen »Gericht« und »Weltgericht« verbirgt und dem Schillerschen Entwurf eine deutlichere Kontur verleiht. Daß Autonomie im begrifflichen Sinne allein aus der selbst artikulierten, nicht aus einer bloß geteilten Erwartung erwächst, ist dabei eine Präzisierung, die vor allem die Frontstellung des Hegelschen Autonomieverständnisses gegen altruistische Moralvorstellungen besser begreiflich macht. Hegel nämlich kritisiert letztlich die Vorstellung, daß alle sich von ihrem Leben dasselbe erhoffen und gerade deshalb bereit sein müßten, entsprechende Handlungsempfehlungen anzuerkennen. Tatsächlich ist es die Differenz zwischen vermeintlicher und wirklicher Autonomie, die Hegel zu umschreiben versucht, wenn er »Gericht« und »Weltgericht« als verschiedene Möglichkeiten einstuft, das eigene Handeln auf einen Erwartungshorizont auszurichten. Daß der Begriff des »Gerichts« dabei eine Orientierung umschreibt, die sich aus vorgeprägten Erwartungen speist, signalisiert der Umstand, daß Hegel den entsprechenden Horizont als den »abstracte[n] Inhalt des Gewissens« bezeichnet, als dasjenige, »worin “ Ebd.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
Schuld und Werth des Individuums, sein ewiges Gericht[,] eingeschlossen ist«.“ Diese Umschreibung bringt deutlich zum Ausdruck, daß die Erwartungen, nach denen sich der Akteur richtet, die potentiellen Folgen, die er seinem Handeln zuschreibt, als solche von ihm nicht (oder nicht mehr) reflektiert werden. Der »Inhalt« seines »Gewissens« bleibt, wie Hegel formuliert, abstrakt, und das bedeutet: dieser Inhalt wird festgehalten als das, was er ist; er steht außer Zweifel. Entsprechendes Handeln orientiert sich an einem Erwartungshorizont, der sich als solcher mehr oder minder in Schematismen verfestigt, mit Unveränderlichem rechnet, sich an Unverändertes klammert. Was auf diese Weise, mit Hegel gesprochen, »in der individuellen Seele vorhanden« ist, sind Erwartungen, wie sie sich in »Religion und Sittlichkeit« zu konkreten normativen Vorstellungen über sittliche Grenzen des Handelns, etwa sogenannten >Wertvorstellungen< verdichten, welche jedoch, wie Hegel im selben Atemzug hinzufügt, im Denken des einzelnen »nicht die Ausdehnung der Bildung, nicht die Anwendung auf entwickelte Verhältnisse haben.«''^ Wenn es daher zu einer Entwicklung kommt, die mit den vorgeprägten Erwartungen nicht mehr vereinbar ist, so äußert sich dies allzu häufig in der schlichten Hilflosigkeit, mit der das abstrakte »Gewissen« den Klageruf »o tempora, o mores« anstimmt. Die Erfahrung, daß die Zeitläufte den eigenen Erwartungen nicht mehr entsprechen, birgt zugleich die Gefahr in sich, sich als einen Betrogenen zu betrachten, eigene Interessen nicht mehr formulieren zu können oder gar zu wollen, und damit der eigenen Autonomie verlustig zu gehen. Dieser Grund dürfte es sein, dessentwegen Hegel zwischen selbständig formulierten und vorgeprägten, verfestigten Erwartungen unterscheidet und als praktischen Schritt zur Emanzipierung jene Orientierung ansieht, die sich immer wieder neu aus der geschichtlichen Rekonstruktion und Bewertung der jeweils relevanten Entwicklung speist. Zweifelsohne ist es eine solche Form geschichtlicher Orientierung, als deren Manifestation Hegel das Handeln jener Personen vor Augen hat, die er als eigentliche Repräsentanten gelebter Autonomie betrachet: die »welthistorischen Individuen«. Daß sich im geschichtlich orientierten Handeln dieser »großen Männer« das »Weltgericht« vollzieht, erweist sich jenseits allen Pathos, das aus solchen Bemerkungen zu tönen scheint, als nüchterne Einsicht in die Konstitution der Autonomie. Daß der einzelne sein Leben an das »Weltgericht« der Geschichte verschreibt, ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit seiner Autonomie. Weshalb dies so ist, veranschaulicht der Kontrast einer entsprechenden Orientierung zum Handeln desjenigen, der “ Ebd. (Hervorhebung von mir, W. H.). Ebd., S. 169f. (Hervorhebung von mir, W. H.).
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sich lediglich nach seinem abstrakten »Gewissen« richtet: Während die Erwartungen des letzteren den Anschein vermitteln, als ob allein der Gleichklang mit anderen und somit eine kollektive Überzeugung eine im eigenen Handeln manifeste Orientierung erzeugen könne, dokumentiert der Lebensentwurf des »welthistorischen« Individuums das Gegenteil: Jegliche Orientierung resultiert in letzter Konsequenz daraus, die eigene »Vernunft« zu gebrauchen, sein Leben an Erwartungen zu setzen, die auf die eigene Situation, die eigene Rolle im Ganzen der jeweiligen Lebensformen bezogen sind. Wer tatsächlich autonom ist, bedarf daher zu seiner Orientierung keiner Vergewisserung über einen wie auch immer gearteten kollektiven Willen. Seine Autonomie ist das Ergebnis der Fähigkeit, sich von den potentiellen Folgen seines Handelns ein eigenes Bild machen, sich dabei sogar gegen die jeweils vorgeprägten Erwartungen stellen zu können, und zwar durchaus bis hin zur Absicht einer Bekämpfung dieser Erwartungen. Daß er nicht das abstrakte »Gewissen« vorgeprägter >Wertvorstellungen< zum »Gericht« seines Handelns macht, sondern sich an der »Welt« als solcher ausrichtet, bedeutet nichts anderes, als daß er die »vernünftige« Kompetenz beansprucht, die potentielle Fortentwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen selbst abzuschätzen. Er überläßt es in radikaler Weise dem Gang der »Welt«, dem Urteil einer von ihm projizierten Zukunft, ob seine Erwartung trügen wird oder nicht. Sofern sein Handeln in dieser radikalen Weise an den eigenen Erwartungen orientiert ist, erweist es sich als originäre »vernünftige« Leistung, als Ausweis der eigenen Autonomie und in diesem Sinne als Selbstverschreibung an das »Weltgericht«. Zugleich macht diese Charakterisierung deutlich, worin die Besonderheit der »welthistorischen Individuen«, die Voraussetzung für das >Welthistorische< ihrer Existenz, besteht. Ihr Beispiel führt anschaulich vor Augen, daß nur derjenige, der statt vorgeprägter Erwartungen die eigenen Projektionen zur >Richtinstanz< seines Handelns zu machen bereit ist, auf den Gang der »Welt« Einfluß nehmen, ja die »Welt« verändern kann. Der Entschluß zur Anerkennung vorgeprägter Erwartungen und der damit verbundenen sittlichen Ausrichtung des eigenen Gewissens wird mit dieser Feststellung keineswegs verunglimpft. Hegel verteidigt im Gegenteil wie gesehen ausdrücklich die >sittliche< und >religiöse< Berechtigung entsprechender Lebensentwürfe. Ungeachtet dessen jedoch ist der Entschluß zur Orientierung am abstrakten »Gewissen« immer auch der Entschluß gegen das Wagnis, sich >Besseres< vom eigenen Leben zu erhoffen. Dieses Wagnis einzugehen, die Bedeutung der eigenen Hoffnung höher zu veranschlagen als die >sittliche< Verpflichtung bestimmter vorgeprägter Erwartungen, ist der eigentliche Ausweis autonomen Handelns und als solcher auch die Visitenkarte der »großen Männer« der »Weltgeschichte«. Gleichgültig, ob man den im Ge-
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
fängnis ausharrenden Sokrates, Alexander den Großen, Cäsar am Rubicon oder Napoleon als Verfassungsreformer betrachtet - ihr Handeln ist unabhängig von seiner je konkreten Post-hoc-Bewertung aus Hegelscher Sicht für eines beispielhaft: Jede dieser Persönlichkeiten hat sich in ihren maßgeblichen Entscheidungen und Handlungen von ihren eigenen statt von vorgeprägten Erwartungen leiten lassen, den Anspruch, die potentiellen Folgen des eigenen Handelns selbst abschätzen zu können, über die jeweilige Sittlichkeit gestellt. Ob die entsprechenden Leistungen post hoc betrachtet anerkennungswürdig sind, ist dabei zunächst ohne Belang. Es genügt Hegels Hinweis, daß entsprechende »Gestaltungen, [ihr] Inhalt und [ihre] Entwicklung« durchaus »beschränkter Art« sein können, in einem »äusseren Naturzusammenhang« und damit »unter der Zufälligkeit stehen«, so daß sie »nach dieser Seite auch vergänglich, der Verkümmerung und Verletzung ausgesetzt« sind.** Die Möglichkeit des Irrtums, des Scheiterns der eigenen Erwartungen ist also, wie sich noch genauer zeigen wird, keineswegs ausgeschlossen. Unter diesen Voraussetzungen aber fügt sich auch Hegels Rede vom »Volks-« und »Weltgeist« in den handlungsbezogenen Rahmen der Gesamtüberlegung - unbeschadet der problembehafteten romantischen Tradition dieser Begrifflichkeit. Denn nun wird deutlich, daß »Geist« nicht, wie zuletzt etwa noch bei Dürkheim, als metaphysischer Titel für ein kollektives Bewußtsein herhalten müßte. Er wird vielmehr begreiflich als Titel für jene geschichtlich entwickelten Erwartungen, dank derer der einzelne um die potentiellen Folgen seines Handelns weiß.*’ In einer entsprechenden Urteilskompetenz erweist er sich gleichsam unmittelbar, wie Hegel formuliert, als »Sohn seiner Zeit«, der sich über Ziele und Zwecke seines eigenen Handelns im Rahmen der jeweiligen Lebensformen, Institutionen oder Projekte zu orientieren vermag.™ Er gehört einem bestimmten »Volksgeist« nicht insofern an, als damit ein Urteil über seine Person gefallt geschweige denn seine individuelle Besonderheit bestritten werden würde. Die Projektion eines solchen »Volksgeistes« ist umgekehrt Teil seiner eigenen, geschichtlich gestützten Erwartungen. Er selbst verfügt über einen Erwartungshorizont, der sich in bezug auf die Folgenabschätzung des eigenen Handelns im Rahmen der jeweiligen Lebensformen als »Geist« einer bestimmten geschichtlichen »Zeit« ausweist. Hegels »Volksgeist« als Resultat der geschichtlichen Reflexion auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten ist in seiner emanzipativen Bedeutung also das genaue Gegenteil kollektivistischer Bewußtseins-
** Ebd., S. 169 {Rechtschreibung geringfügig modifiziert, W. H.). *’ Vgl. fimile Dürkheim; Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 286ff. ™GW 18, S. 172.
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pflege. Versuche zur Begründung eines Selbstverständnisses von Geschichte, die das Bildungsziel einer »Identitätssteigerung« im Sinne der »sozialen Gemeinsamkeiten« propagieren, sind das Werk neuerer Geschichtstheorien, nicht jedoch Hegels.^' Analog zu der begrifflichen Differenzierung zwischen »Gericht« und »Weltgericht« ist nun auch Hegels Unterscheidung zwischen »Volksgeist« und »Weltgeist« zu verstehen. Der »Weltgeist« erscheint dabei als Chiffre der Möglichkeit, das eigene Handeln nicht nur an den bereits implementierten Erwartungen der jeweiligen »Sittlichkeit« und »Religion« zu orientieren, sondern auch an solchen, welche den aktualen Formen nicht entsprechen. »Weltgeist« bezeichnet die Option, in Erwartung einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu handeln, welche als >Erhofftes< keiner bloßen Permanenz der Gegenwart entspricht, sondern eine Projektion bestimmter Entwicklungsmöglichkeiten darstellt. Indem sich der einzelne dabei bewußt über die sittlichen Standards seiner Zeit hinwegsetzt und trotz möglicher Sanktionen an den eigenen Erwartungen festhält, dokumentiert sich in seinem Handeln die Hoffnung auf eine Möglichkeit »vernünftig« konstituierten Lebens jenseits der aktualen gemeinschaftlichen Verfassung. Sein Lebensentwurf manifestiert gleichsam die Hoffnung auf die Entwicklungsfähigkeit der »Vernunft« selbst, auf ihre gestaltende »Macht« jenseits der konkreten Lebensformen. Diese Art geschichtlicher Orientierung ist es, welcher die Bedeutung des Begriffs »Weltgeist« entspricht und in der sich die »Vernunft« als historisch ungebunden erweist Es wird sichtbar, daß »vernünftiges« Denken und Handeln über die eigene »Zeit« hinauszugreifen vermag, »Vernunft« nicht im Ganzen der jeweiligen Lebensformen und deren wissenschaftlicher und philosophischer Reflexion aufgeht, in einen kulturellen Käfig eingesperrt ist, sondern sich in eigenen Erwartungen und dem daran orientierten Handeln neu zu entwerfen vermag. Im Gegensatz zum »Volksgeist«, der die Orientierung des Handelns an fertigen Erwartungen repräsentiert, in dessen Rahmen also dasjenige als »vernünftig« aufgefaßt wird, was als reale Geltung in den jeweiligen Praxen, Institutionen und Projekten bereits verankert ist, verweist der Begriff des »Weltgeistes« gleichsam auf das kreative Potential der »Vernunft«, auf ihre bewegende »Macht« in den konkreten Gestaltungen, auf die Kontinuität »vernünftigen« Denkens in den geschichtlichen Epochenwenden und Umbrüchen. Wenn daher später im Hegelschen Projekt der »Weltgeschichte« vom »Gang des Weltgeistes« die Rede ist, so meint dies nicht den deus ex machina einer metaphysischen
" Vgl. Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 115f.; zur Kritik entsprechender Konzepte vgl. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte, S. 296ff.
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Kraft hinter dem Rücken der handelnden Akteure, sondern jene skizzierte Kontinuität, in welcher sich »vernünftiges«, autonomes Denken als Schöpferin der geschichtlichen Entwicklung selbst verkörpert und als deren maßgebliche Voraussetzung sich eine geschichtlich gespeiste Orientierung erwiesen hat. Wollte man nun meinen, die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens, die in der Artikulation solcher Hoffnung besteht, werde zu einer aUzu großen und darin wiederum idealistisch anmutenden Apotheose des autonomen Menschen gesteigert, so hält Hegel für einen entsprechenden, später vor allem durch Nietzsche kultivierten Überschwang einen wichtigen begrifflichen Dämpfer bereit. Mag bis hierher auch deutlich geworden sein, zu welcher Befähigung geschichtliches Denken dem einzelnen verhilft, so beschwichtigt Hegel gleichwohl alle Erwartungen, daß sich der autonome Mensch, der im eigenen Interesse etablierte Formen der »Sittlichkeit« zu überwinden vermag, dank solcher Selbsterkenntnis zum absoluten Herrn über das eigene Dasein aufschwingen könnte. Entgegen dem schon früher skizzierten Verdacht, daß die Geschichtsphilosophie einem blinden Fortschrittsoptimismus das Wort rede, sieht Hegel den Ertrag der errungenen Autonomie keineswegs im Pathos des Glaubens, sich von der eigenen Existenz alles erwarten zu können. Der eigentliche Ertrag geschichtlicher Orientierung samt der daraus erwachsenden Selbstbestimmung besteht aus seiner Sicht vielmehr in dem schlichten Umstand, daß überhaupt nur durch entsprechendes Handeln eine reale Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens möglich wird. Selbst wenn die Erwartungen des einzelnen enttäuscht werden, selbst wenn sein Handeln nicht die erhofften Folgen zeitigt, bleibt es Beitrag zu einer gemeinschaftlichen »Welt«, die ihm und anderen die Möglichkeit einer selbständigen Gestaltung des eigenen Lebens, die Möglichkeit autonomen Handelns verschafft. Diese Verschränkung von individueller Selbstbestimmung und Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens erweist sich nun als eigentlicher Inhalt der Metapher von der »List der Vernunft«.
§ 25. Geschichtliche Orientierung als Motor realer Kontinuität Der zweifellose Reiz, der von der Verheißung ausgeht, allein den eigenen Willen und somit die eigenen Erwartungen zur Grundlage seines Handelns zu machen, ist trügerisch, denn er speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Wo er aus einer beileibe nicht erst modernen, sondern - wie Isaiah Berlin gezeigt hat - geradezu zeitlosen Zuversicht erwächst, die eigenen Hoffnungen für die Gewißheit des Erfolgs, die eigene Erkenntnis für das Präjudiz einer wunschgemäßen »Welt« nehmen zu können, täuscht er sich über den
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eigentlichen Gewinn autonomen Denkens und Handelns hinweg.^^ Gleichgültig, ob sich dieser Utopismus mit Thomas Morus, Marx oder Lenin als gemeinschaftsbezogene Verheißung oder mit Nietzsche als elitistische Verkündigung des Übermenschen begreift, unterläuft seine Gleichsetzung von Hoffnung und Zukunft jene reale Bedeutung, über welche die im geschichtlichen Denken konstituierte Autonomie Hegel zufolge erst verfügt. Der Gewinn besteht nicht darin, das Erhoffte dank hinreichender Einsicht in ein Tatsächliches ummünzen zu können. Für die Hoffnung vielmehr ist es charakteristisch, daß sie immer wieder enttäuscht wird. Schon allein deshalb ist es mehr als fragwürdig, das Erhoffte selbst als den Gewinn des Höffens anzusehen. Vielmehr dürfte Hoffnung auf bestimmte Weise ihren Zweck in sich selbst haben. Dies bemerkt bereits Schiller, wenn er schreibt: »Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen«. Auch die Hegelsche Einsicht, daß der einzelne erst durch die geschichtlich gestützte Artikulation bestimmter Erwartungen ein autonomes Selbstverständnis entwickelt, reicht noch nicht aus, um jenen Gewinn adäquat zu charakterisieren. Mag auch Hoffnung daraus erwachsen, das eigene Handeln selbständig orientieren zu können, so wird doch im Falle eines Scheiterns kein Grund ersichtlich, weshalb der Handelnde seine Hoffnung nicht verlieren sollte. Welchen Grund behält er zu hoffen, selbst wenn ihn seine Hoffnung trügt? Dieser Grund tritt offensichtlich in den konkreten Erwartungen und Fehleinschätzungen des einzelnen allein, in seinen spezifischen Hoffnungen und Enttäuschungen, nicht zutage. Offenkundig hat er von seiner Hoffnung noch anderen Gewinn, als daß er sich in ihr lediglich bestätigt beziehungsweise getäuscht sehen würde. Statt diesen Gewinn daher in der Folge konkreter Entscheidungen und in der Bewältigung einzelner Situationen finden zu wollen, wird man ihn mit Hegel und Schiller auf bestimmte Weise im Lebensentwurf des Hoffenden insgesamt suchen müssen. Der Gewinn, den dieser von seiner Hofftmng hat, besteht demnach in einem Dasein, in dessen Verlauf er sich zwar immer wieder in seinen Erwartungen getäuscht sieht, gleichwohl jedoch durch sein »vernünftiges« Handeln zugleich zur Kontinuität der gemeinschaftlichen »Welt« und so zum Weiterbestehen jener Lebensformen beiträgt, welche ihm eine Projektion des eigenen Handelns auf bestimmte Erwartungen erst gestatten. Mag also die eigene Hoffnung oft auch trügen, so findet sie sich doch bestätigt in der Kontinuität der Gemeinschaft selbst, an deren Entwicklung der einzelne sein Handeln grundsätzlich zu orientieren vermag. Dieser Zusammenhang ist es, in welchem Hegels Bild von der »List der Vgl. Isaiah Berlin: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frankfurt 1990, S. 37ff.
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Vernunft« seine eigentliche Bedeutung entfaltet, auch wenn die angedeutete Interpretation den verbreiteten Vorbehalten ein weiteres Mal diametral entgegensteht. Der Metaphysik-Verdacht, mit dem auch das Wort von der »List der Vernunft« behaftet ist, erfordert es daher wiederum, die begriffliche Einsicht herauszuarbeiten, welche sich hinter Hegels Metapher verbirgt, und davon eine realgeschichtliche Entwicklung zu unterscheiden, die durch das Bild der »List der Vernunft« vor allem betitelt zu werden scheint. Tatsächlich ist Hegels berüchtigte Formulierung zumeist so verstanden worden, als ob sie eine insgesamt fortschrittliche Entwicklung und damit auch eine »List« insofern kennzeichnen würde, als das Handeln der einzelnen Akteure ohne deren bewußtes Zutun zu einem >guten< Ende geführt hat.^’ Noch einmal mag so das Bild vom »Weltgeist« als einem Schachspieler aufscheinen, der nach einem ausgeklügelten Plan seine Figuren zieht, allerlei taktische Tricks, Finten und Täuschungen einstreut, letztlich aber unbeirrt auf die Verwirklichung eines bestimmten Zieles hinarbeitet. Unterscheidet man jedoch abermals zwischen begrifflicher Einsicht und der später noch zu zu betrachtenden >weltgeschichtlichen< Rekonstruktion, dann wird deutlich, daß sich Hegels Rede von der »List der Vernunft« auf eine andere Frage bezieht, nämlich darauf, wie sich autonomes Urteilen und Handeln im skizzierten Sinne auf die Konstitution der Gemeinschaft als ganze auswirkt. Die Radikalität, mit der Hegel seine diesbezügliche Einsicht formuliert, läßt an ihrem Inhalt keinen Zweifel. Nicht nur ist demnach persönliche Autonomie allein durch geschichtliches Denken möglich. Der Gewinn vielmehr, der ihm aus der geschichtlich gespeisten Orientierung an der erhofften Fortdauer bestimmter Lebensformen, Institutionen und Projekte erwächst, ist schlechterdings die reale Kontinuität dieser Lebensformen selbst. Gerade indem er und auch andere Akteure ihr Handeln an der Erwartung einer Kontinuität der Lebensformen, Institutionen oder Projekte ausrichten, gerade indem sie ihre eigenen Ziele und Zwecke an solchen Erwartungen orientieren, steuern sie jenen Einsatz bei, der zur Fortdauer jener Lebensformen tatsächlich erforderlich ist. Indem der einzelne sein Handeln im eigenen Interesse an der potentiellen Fortdauer der Lebensformen orientiert, sorgt er selbst überhaupt erst dafür, daß eine solche Entwicklung tatsächlich möglich wird, daß es für den Fortbestand jener Lebensformen eine reale Aussicht gibt. Genau dies meint Hegel, wenn er in bezug auf die Erwartungen der handelnden Personen wie auch die damit verbundenen Enttäuschungen in unnötig martialischer Wortwahl bemerkt, daß aus dem »Untergange des Besondern« stets das »Allgemeine« resultiert. Mag sich demnach auch die er” Vgl. Lübbe; Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 58.
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hoffte Folge des eigenen Handelns nicht einstellen, der >besondere< Vorsatz des einzelnen, sein persönliches Ziel scheitern, so hat sein Handeln doch gleichwohl eine übergeordnete Bedeutung, die von der Frage des Scheiterns unabhängig ist: Auch wenn die selbstgesteckten Ziele oder Zwecke verfehlt werden, reicht doch der bloße Verfolg solcher Ziele und Zwecke aus, damit die Institution, auf welche sie bezogen beziehungsweise deren wesentlicher Inhalt sie sind, eine handlungsleitende und damit gemeinschaftskonstitutive Bedeutung entfalten kann. In diesem Sinne trägt selbst das Scheitern der eigenen Vorsätze auf sublime Weise zur Kontinuität gemeinschafdichen Lebens bei, nämlich insofern, als im zielgerichteten Handeln immer zumindest die Anerkennung der jeweiligen Institutionen oder Projekte zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Hegel ausfuhrt: »Das besondere Interesse der Leidenschaft ist ... unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen ... Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich [vielmehr] unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund und schickt das Besondere der Leidenschaft in den Kampf, sich abzureiben. Man kann es die List der Vernunft nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.«^^ Keiner Geschichtsmacht hinter dem Rücken der Akteure wird hier das Wort geredet, sondern der schlichten Einsicht, daß sich im Handeln der Akteure, ungeachtet seines personenbezogenen Erfolgs, immer das »Allgemeine« der Lebensformen selbst kontinuiert, und zwar bestimmte, innerhalb einer Institution verfolgbare Zwecke ebenso wie das Gesamtziel der Institution selbst. Gleichgültig daher, ob die entwicklungsbezogenen Erwartungen der Akteure bestätigt oder enttäuscht werden: das an ihnen orientierte Handeln ist schlechterdings die Bedingung der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen »Welt«. Der Wissenschaftler, der einen bestimmten Gegenstand erforscht, der Politiker, der sich auf parlamentarischem Wege um eine Reform bestimmter Gesetze bemüht, der Börsenspekulant, der aus seinem Kapitaleinsatz möglichst hohe Gewinne zu ziehen versucht - sie alle verfolgen primär persönliche Ziele und Zwecke. Indem sie jedoch die potentiellen Folgen und somit den Erfolg des eigenen Handelns im vorhinein abzuschätzen suchen, der Wissenschaftler den Erfolg bestimmter Forschungsmethoden, der Politiker die Möglichkeit eines Interessenabgleichs mit seinen politischen Gegnern, der Börsenspekulant Kauf- und Verkaufsstrategien, erkennen sie implizit zugleich die jeweiligen Institutionen und Projekte selbst an. Ihr HanVPW 1, S. 105 (Ergänzung von G. Lasson aus Nachschriften, Hervorhebungen und Einschub von mir, W. H.).
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dein, dessen primäres Ziel der persönliche Erfolg ist, trägt insofern immer auch zur Kontinuität der entsprechenden Lebensformen selbst bei, und zwar unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg. Noch im Eingeständnis des eigenen Scheiterns anerkennt der Wissenschaftler die wissenschaftlich institutionalisierten Wahrheitskriterien, noch im Fehlschlag der politischen Reform kontinuiert sich das institutionalisierte Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung und noch im beklagten Verlust des eigenen Börsenkapitals manifestiert sich die Anerkennung der Spielregeln für den Kapitalmarkt. Selbst wer sich wie Cäsar im Hegelschen Beispiel beim Ausbau seiner Machtstellung über etablierte Anerkennungen hinwegsetzt, prima fade also die »vernünftige« Konstitution der Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen scheint, leistet unter bestimmten Voraussetzungen einen Beitrag zur Fortschreibung der Tradition und damit zur Kontinuität. Das entsprechende Prädikat des »welthistorischen« Akteurs freilich wird man nicht ohne weiteres vergeben. Wenn sich der einzelne über gemeinschaftliche Anerkennungen aus blinder Selbstsucht hinwegsetzt oder gar den >bösen< Vorsatz einer gezielten Zerstörung jener Anerkennungen verfolgt, wird man dies kaum als Beitrag zur Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens bezeichnen. Von einem »welthistorischen« Individuum wird man erwarten, daß sein Handeln auf die Modifikation der gemeinschaftlichen Ordnung, damit aber grundsätzlich auf den Erhalt überhaupt irgendeiner Ordnung zielt, und man wird überdies bewerten wollen, ob sich diese Hoffnung als realistisch erwiesen und zu einem anerkennungswürdigen Wandel tatsächlich beigetragen hat. Dies alles aber vorausgesetzt, markiert auch und gerade das Handeln desjenigen, der statt der bereits vorgepräten Erwartungen und Geltungen den Gang der »Welt« selbst zu seinem >Richter< erklärt, sich dem »Weltgericht« verschreibt, einen Beitrag zur Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens. Auch sein Lebensentwurf kann zum Eckstein einer Fortentwicklung von Institutionen oder Projekten, ja im Zweifelsfall sogar zum Angelpunkt eines Fortschritts in der Gestaltung der gemeinschaftlichen Lebensformen insgesamt werden. Gleichgültig aber, ob die Akteure ihr Handeln an der potentiellen Entwicklung einer bestimmten Institution lediglich orientieren oder diese Entwicklung obendrein durch ihr Handeln beeinflussen oder hervorrufen: Die begriffliche Einsicht, die sich in der Metapher von der »List der Vernunft« ausgedrückt findet, ist dieselbe. Allerdings ist die »List der Vernunft« dabei das Gegenteil eines Zaubertricks, der die Interessen und Taten der handelnden Akteure unversehens und unabhängig von den ihnen zugrundeliegenden Absichten in den Beitrag zu einer stabilen »Welt« gemeinschaftlicher Institutionen ummünzen würde. Weder betitelt sie ein Zufallsprodukt, noch
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bedeutet sie eine begriffliche Vorwegnahme der Theorie des jungen Adam Smith, derzufolge die »unsichtbare Hand« der Natur den Menschen durch den Betrug einer vorgeblichen Befriedigung seines Bereicherungs- und Anerkennungsdrangs in die Fesseln einer stabilen und obendrein gerechten Gesellschaft legen würde.” Folgt man Hegel, dann erwachsen Kontinuität und Fortentwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen nicht daraus, daß der einzelne beliebigen Interessen nachgehen und sein Handeln somit schlechterdings in jedem Falle einen konstruktiven Beitrag zur gemeinschaftlichen »Welt« darstellen würde. Betrachtet man in dieser Hinsicht noch einmal Cäsar als Beispiel, so wird deutlich, daß sich dessen ausgeprägter Machtwille allein in der Projektion einer bestimmten Entwicklung des Staates und einzelner Institutionen adäquate Handlungsmaximen zu schaffen wußte. Daß die Eroberung Galliens und der Sieg in dem äußerst riskanten Bürgerkrieg nicht möglich gewesen wären, wenn nicht Cäsar mit jedem seiner Schachzüge die geschichtlich gewachsenen Interessen ausbalanciert und jede seiner Maßnahmen als Baustein einer späteren, auch durch das römische Volk anerkennbaren Ordnung aufgefaßt hätte - dies wird allzu deutlich, wenn man sein Handeln mit dem des zeitweilig viel mächtigeren und reicheren Crassus vergleicht. Konnte den Galliern ein dauerhafter Sieg nur abgetrotzt werden, weil der römische Friede zugleich auch ihre Stammesfehden eindämmte und somit den unterworfenen Völkern größere Sicherheit gewährte, konnten die innenpolitischen Auseinandersetzungen und schließlich der Bürgerkrieg nur gewonnen werden, weil Cäsar ausgeschaltete Gegner für seine eigene Sache einzunehmen und in sein Bündnissystem einzubinden verstand, so markiert den Gegensatz zu einem entsprechend orientierten Handeln das Hasardspiel des Crassus, der seine gesamte Macht in der unreflektierten Hoffnung auf persönliche Bereicherung in einen Feldzug warf und alles, Macht, Reichtum und Leben, verlor. Mit anderen Worten, Hegels »List der Vernunft« vergoldet nicht Unvernunft mit dem Lohn einer stabilen Ordnung, den eine >unsichtbare Hand< der Gemeinschaft gewährt, sondern ist wörtlich zu verstehen als Beschreibung der Ergebnisse ausschließlich »vernünftigen« Urteilens und Handelns, als Ausdruck für ein Phänomen, das allein aus der geschichtlichen Orientierung des eigenen Lebens erwächst. Aus diesem Grund wäre es auch eine zu kurz greifende Ehrenrettung der berüchtigten Hegelschen Metapher, wenn man sie mit Lübbe als bloßen »Indikator« für die Komplexität des Handelns in Institutionen verstehen wollte, als Erinnerung daran, daß »Geschichten ein Ende haben können, das
V.
” Vgl. Adam Smith: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, hrsg. E. Grünfeld u. H. Waenting, Bd. 1, Jena 1923, S. 89ff.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
zustimmungsfähig ist, obwohl dieses Ende sich keines Handelnden Willen und Plan verdankt.«^* Zwar kommt diese Erläuterung dem Bild von der »List der Vernunft« insofern entgegen, als der eigentliche Gewinn autonomen Handelns - oder mit Lübbe: das »zustimmungsfahig[e]« Ende der entsprechenden Geschichte -, keineswegs in der Erfüllung jener Hoffnungen bestehen muß, die sich die beteiligten Akteure gemacht haben. Lübbe übersieht jedoch, daß Hegel für die Möglichkeit eines solch »zustimmungsfähig[en]« Endes gleichwohl eine konkrete Voraussetzung nennt - daß nämlich die beteiligten Akteure ein artikuliertes Selbstinteresse zur Grundlage ihres Handelns machen müssen. Nur wenn der einzelne seine eigenen Interessen im Rahmen einer potentiellen Entwicklung der gemeinschaftlichen Lebensformen auslotet, vermag sich die »Vernunft« tatsächlich, wie Hegel formuliert, »in Existenz« zu setzen.” Weder ist Kontinuität eine Laune des Zufalls, noch ist das Ergebnis einer Entwicklung bloß zufällig »zustimmungsfähig«. In beiden Fällen ist das »vernünftige« Handeln der Beteiligten eine notwendige, wenngleich noch nicht hinreichende Voraussetzung. Allenfalls Hegels drastische Ausdrucksweise vermag noch Mißverständnisse hervorzurufen. So erfahrt seine gesamte Überlegung eine unnötige Dramatisierung durch den Hinweis, daß das genaue Schicksal der Handelnden für den Hintertüreffekt der »List der Vernunft« unerheblich ist. Mehrfach glaubt er besonderes Gewicht darauf legen zu müssen, daß der einzelne seine persönlichen Ambitionen durchaus verfehlen, sich in der Abschätzung der potentiellen Folgen seines Handelns täuschen und somit Rückschläge, die Zerstörung der eigenen Existenzgrundlagen, ja den Tod erleiden kann daß aber dies alles gleichwohl nichts daran ändert, daß er mit seinem Handeln zur Fortentwicklung der jeweiligen Institutionen oder Projekte einen Beitrag leistet, der durch sein persönliches Scheitern nicht tangiert wird. Wenngleich daher zum Beispiel Cäsar selbst mit dem Leben dafür bezahlt habe, markierten doch bestimmte doch bestimmte seiner Handlungen einen notwendigen Bestandteil der Entwicklung von der Republik zum Kaiserreich, deren geschichtliche Bedeutung durch das persönliche Scheitern nicht in Frage gestellt werde. Auch wenn er selbst im Zuge dieser Entwicklung »aufgeopfert« worden sei, auch wenn die Senatsgegner seinen persönlichen Ambitionen zuletzt ein gewaltsames Ende gesetzt hätten, so sei doch die von ihm herbeigeführte Reform des Staatswesens letztlich irreversibel gewesen.^* Das grelle Kolorit, das Hegel der »List der Vernunft« auf solche Weise verleiht, mag den Eindruck erwecken, daß er die Fragilität individueller Le-
Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 38. ”VPW l.S. 105. Vgl. dazu noch einmal VPW 1, S. 105 (Ergänzung von G. Lassen aus Nachschriften).
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bensentwürfe billigend in Kauf genommen, ja daß er der Kontinuität des Ganzen einen normativen Vorrang gegenüber dem Schicksal des einzelnen eingeräumt habe. Die drastische Ausdrucksweise darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Erkenntnis eine begriffliche Einsicht und keine normative Forderung darstellt. Daß der einzelne beim geschichtlich orientierten Verfolg persönlicher Ziele zugleich zur Kontinuität der Institutionen und Projekte selbst beiträgt, soll nicht bedeuten, daß seine persönlichen Interessen unerheblich wären, ja daß seine >Aufopferung< ziun Wöhle des Ganzen der eigentliche >Vernunfttribut< sei, den Hegel entrichtet zu wissen wünschte. Die Metapher von der »List der Vernunft« bedeutet allenfalls, den Beitrag der autonomen Person zur Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens auf die Spitze der Veranschaulichung zu treiben: Im Zweifelsfall verliert der Handelnde alles, schafft jedoch Voraussetzungen, die anderen eine neue Zukunft eröffnen. Es ist ein Grenzfall, mit dem Hegel für seine Einsicht eine provokative, begrifflich aber kaum anfechtbare Werbung macht. Selbst wenn es allerdings gelingt, Hegels begrifflichen Überspitzungen die Schärfe zu nehmen, so bleibt das skizzierte Bild von der »List der Vernunft« zunächst unvollständig. Es entwirft gleichsam nur einen idealen Zustand gemeinschaftlichen Lebens, der daraus resultiert, daß alle Akteure nach Autonomie streben, sagt jedoch nichts über die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit dieser Zustand tatsächlich eintritt. Selbst wenn jeder einzelne den Willen zur Autonomie mitbringt, selbst wenn man unterstellt, daß alle ein Interesse daran haben, die potentiellen Folgen ihres Handelns abschätzen zu können, so bleibt doch zu fragen, weshalb sich der einzelne darauf verlassen sollte, daß auch die anderen dieses Interesse mitbringen und somit die entscheidende Voraussetzung für die Planbarkeit des eigenen Handelns erfüllt wäre, nämlich das Autonomiestreben aller. Das Bild von der »List der Vernunft« beschreibt wie gesagt nur den Zustand als solchen. Es sagt nichts darüber aus, wie der einzelne wissen kann, daß es überhaupt aussichtsreich ist, das eigene Handeln an einer projizierten Entwicklung von Lebensformen und Institutionen zu orientieren. Die bisherigen Hegelschen Überlegungen bedürfen insofern einer Ergänzung. Zum Streben nach Autonomie wird sich nur derjenige bemüßigt fühlen, der - ohne gleichwohl über die Garantie einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu verfügen - doch immerhin für die Hoffnung auf eine entsprechende Entwicklung berechtigten Anlaß sieht. Erforderlich ist also eine Instanz, welche die Möglichkeit zu einer autonomen Lebensgestaltung sicherstellt. Dies ist aus Hegelscher Sicht die eigentliche Aufgabe des Staates. Nur wenn eine allgemeine Bereitschaft zur gemeinschaftlichen Lebensgestaltung unterstellt werden darf, nur wenn Gewalt und Willkür als Einwürfe gegen diese Übereinkunft rechtlich sanktio-
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niert werden, verfugt der einzelne über die Möglichkeit, sein eigenes Leben im skizzierten Sinne planen und damit Autonomie erlangen zu können. Das Vorurteil, Hegel habe den Staat vergotten und den Erhalt der Gemeinschaft über das Recht des einzelnen stellen wollen, erfährt durch den hier entwikkelten, geschichtsphilosophischen Zusammenhang eine wirkungsvolle Revision. Denn es zeigt sich, daß Hegel mit seiner emphatischen Verteidigung der Bedeutung des Staates nicht etwa der Suppression, der Einschränkung der individuellen Autonomie Vorschub leisten will, sondern den Staat umgekehrt als unverzichtbaren Garanten der Selbstbestimmung des einzelnen begreift.
$ 26. Die Verfassung als flexibler Rahmen geschichtlicher Orientierung Der Hintertüreffekt, den Hegel als »List der Vernunft« bezeichnet, stellt sich nur unter bestimmten Voraussetzungen ein. Einen Sinn, das eigene Handeln geschichtlich zu orientieren, wird der einzelne nur dann sehen, wenn er den entsprechenden Willen auch bei den anderen Akteuren voraussetzen darf. Eine reale Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens als Ergebnis autonomen Handelns wird es folglich nur geben, wenn jeder einzelne über die Gewißheit verfügt, daß der Rahmen bestimmter Lebensformen, Institutionen, Projekte tatsächlich eine gemeinschaftskonstitutive Tatsache ist, oder anders gesagt: daß dieser Rahmen auch von den anderen anerkannt wird. Diese Voraussetzung schließt ein, was sich als Ergebnis geschichtlicher Orientierung bereits ergeben hatte; daß nämlich der einzelne, sofern er über einen geschichtlich entwickelten Erwartungshorizont verfügt, die jeweiligen Lebensformen kennt und daher weiß, womit er rechnen kann oder muß. Dieses allgemeine Bewußtsein versieht Hegel mit dem Titel der »Sittlichkeit« und führt darunter alles auf, was als kulturelles Gut in den Bereich gemeinschaftlicher Institutionen und Projekte fallt und von den Akteuren insofern als gemeinsamer »Besitz« angesehen wird: »der Staat, seine Gesetze, seine Einrichtungen«, mit einem Wort: die anerkannten »Rechte« aller, »ihr auch äusserliches Eigenthum in seiner Natur, [in] seinem Boden, Bergen, Lufft und Gewässern«.” Alle, die innerhalb dieses Ganzen eine selbstbestimmte Rolle suchen, sind zugleich Teil des Ganzen: »Alles ist ihr Besitz, ebenso wie sie von ihm besessen werden; denn es macht ihre Substanz, ihr Seyn aus«.®“
Ebd., S. 172 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, Hervorhebung und Ergänzung von mir, W. H.). *" Ebd. (Hervorhebungen von mir, W. H.).
§ 26. Die Verfassung als Rahmen geschichtlicher Orientierung
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Hegel nennt dies auch die »Lebendigkeit des Staates in den Individuen«. Die Kenntnis der konkreten Lebensformen und ihrer Bedeutung, ein entwickeltes >sittliches< Bewußtsein, - dies ist die allgemeinste Voraussetzung für die Gewißheit, sich in diesem Ganzen tatsächlich orientieren zu können. Dieses Bewußtsein als »geistige Gesamtheit« bezeichnet Hegel noch einmal als den »Geist eines Volkes«, und wiederum darf dies nicht dazu verleiten, hinter seinen Bemerkungen die Wunschvorstellung eines Kollektivglaubens oder gar einer geistigen Gleichschaltung zu wittern. Daß der »Wille« der beteiligten Akteure wesentlich »das Wollen dieser Gesetze und dieses [ihres] Vaterlandes« sei, bedeutet nicht, daß alle dasselbe wollen müßten.*' Daß keiner hinter seiner Zeit Zurückbleiben noch dieselbe überspringen kann, bedeutet wie gesehen lediglich, daß der einzelne nur durch die Abwägung der potentiellen Folgen seines Handelns im Rahmen gemeinschaftlicher Lebensformen ein Selbstinteresse artikulieren kann. Was nicht im Bereich der Folgen liegt, die er sich vorzustellen vermag, kann er schlechterdings auch nicht wollen. Sein >sittliches< Bewußtsein für die konkrete Ausformung der gemeinschaftlichen »Welt« ist der unhintergehbare Rahmen seines Handelns. Die Gewißheit fi-eilich, daß der Rahmen der jeweiligen Lebensformen auch von den anderen anerkannt wird, ist etwas anderes, als diesen Rahmen in seiner aktualen Ausprägung bloß zu kennen. Genauer gesagt ist jene Gewißheit sogar die Bedingung der Möglichkeit dafür, sich im Rahmen der gemeinschaftlichen Lebensformen orientieren zu können. Wie nämlich sollte der einzelne über ein bestimmtes >sittliches< Bewußtsein verfügen, das Bild eines bestimmten »Volksgeistes« vor Augen haben und so sein eigenes Handeln planen können, wenn gar nicht klar wäre, ob die entsprechende Ordnung für alle verbindlich ist? Hegels Versuch, dieses Problem zu lösen, hat in seiner scharfen Diktion auf die Kritiker seit jeher mehr als herausfordernd gewirkt. Die Gewißheit einer gemeinschaftskonstitutiven »Sittlichkeit« setzt aus seiner Sicht voraus, daß Versuche, die Partizipation am gemeinschaftlichen Leben zu unterlaufen, sanktioniert werden können. Daß auch die anderen zur Kontinuität von Institutionen und Projekten einen Beitrag leisten werden und so die Planbarkeit des eigenen Handelns sichergestellt ist, vermag der einzelne nur dann mit einiger Sicherheit vorauszusetzen, wenn alles, was diese Aussicht untergräbt und damit die Hoffnungen der Akteure zunichte macht, prinzipiell geahndet werden kann. Dafür aber ist es erforderlich, gleichsam einen Schiedsrichter zu delegieren, der über die entsprechende Kompetenz der Sanktionierung verfügt und somit gleichsam
®‘ Ebd. (Hervorhebungen von mir, W. H.). Diesem Verdacht begegnet wirkungsvoll auch Horstmann; Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: Hegel-Studien, Bd. 9 (1974), S. 209ff.
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das >sittliche< Bewußtsein für die gemeinschaftlichen Lebensformen selbst repräsentiert. Genau dies ist es, was Hegel als eigentliche Aufgabe des Staates betrachtet und weshalb er mit einer zunächst reichlich irritierenden Selbstverständlichkeit davon spricht, »daß der Staat die Verwirklichung der Freyheit sey«.®^ Schon diese karge Bemerkung zeigt, daß die Emphase, mit der er in seinen einschlägigen Werken immer wieder auf die Bedeutung des Staates hinweist, einen anderen Hintergrund hat, als es der Vorwurf des Obrigkeitsglaubens vermuten läßt. Wird hinter Hegels Bemerkungen zur Staatslehre häufig genug das vormoderne Bestreben gewittert, den Erhalt des Staates in einem normativen Sinne über die Bedeutung des einzelnen stellen zu wollen, so ist es umgekehrt der moralische Impetus zur Verteidigung der Integrität des Individuums, der Hegels eigentliche Einsicht verstellt. Die moderne liberale Skepsis gegenüber dem Staat macht häufig vergessen, daß ohne staatliche Verfassung gar kein >sittliches< Bewußtsein für die gemeinschaftlichen Lebensformen entstehen würde. Individuelles Streben nach Autonomie wäre sinnlos, wenn für die erforderlichen Rahmenbedingungen niemand garantieren würde. Geschichtliches Denken vermag seine Relevanz daher tatsächlich nur im Medium einer staatlichen Verfassung zu entfalten, im Medium des Bewußtseins für die gemeinschaftlich anerkannten und zugleich staatlich protegierten Lebensformen. Daß der Begriff des Staates für Hegels Geschichtsphilosophie diese ebenso allgemeine wie grundlegende Bedeutung hat, eine Bedeutung also, die der Frage nach der konkreten Gestaltung des Staates vorausliegt und über eine Bewertung der verschiedenen möglichen Verfassungsformen noch gar nichts aussagt, geht schon aus den Passagen hervor, in denen Hegel mögliche Alternativen der Gewährleistung einer autonomen Lebensgestaltung erörtert. In seiner bekannten Kritik der Rousseauschen Naturrechtsphilosophie wendet er sich dabei zunächst gegen jenes Autonomieverständnis, das den freien Blick auf die Bedeutung seiner Einsicht seit jeher erschwert.*’ Der Glaube, daß Freiheit ein naturgegebenes Gut des einzelnen sei, das durch den Staat nicht etwa protegiert, sondern zugunsten allgemeiner Interessen allenfalls eingeschränkt werde, korrespondiert zwar einer auch heute noch verbreiteten Polarisierung zwischen Staat und Autonomie. Hegel braucht sich aber noch nicht einmal grundsätzlich gegen die These als solche zu wenden, daß »der Mensch von Natur frey ist«, um durch ihre vorsichtige Modifikation gleichwohl die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß die natürliche »Bestimmung« des einzelnen zur Freiheit mit realer Autonomie keineswegs
Ebd., S. 174. “Vgl. ebd., S. 174ff.
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identisch ist.*'* Daß der Staat seine Aufgabe, die Möglichkeit einer autonomen Lebensführung zu gewährleisten, durchaus auch mißbrauchen kann, will er dabei gar nicht in Abrede stellen. Daß es jedoch ohne einen Staat nicht möglich ist, der Fähigkeit des einzelnen zur Selbstbestimmung überhaupt zu ihrer Verwirklichung zu verhelfen, daß es reale Autonomie nicht ohne die Gewißheit geben kann, daß die eigene Selbstbestimmung im Zweifelsfall gegen Anfechtungen geschützt wird, - diese institutioneile Bedeutung der staatlichen Verfassung für jede Form der Autonomie bleibt von den Vertretern des Naturrechts unbeachtet. Die Unverzichtbarkeit des Staates dokumentiert auch die zweite Alternative, die Hegel als Modell einer >sittlichen< Lebensgestaltung erörtert. Diese Alternative bezeichnet eine Form gesellschaftlicher Organisation, die zwar anders als Rousseau eine >sittliche< Ordnung zur Voraussetzung gemeinschaftlichen Lebens macht, jedoch ihrerseits die Forderung nach Autonomie unberücksichtigt läßt. Es handelt sich um die zum »patriarchalische [n] Zustand« stilisierte Gesellschaftsform der altorientalischen Reiche, in denen der Herrscher dem Hegelschen Bild zufolge die Rolle eines autoritären Familienoberhauptes ausfüllt, so daß ungeachtet aller tradierten Sitten in letzter Instanz kein anderes Gesetz gilt als der subjektive Wille des Herrschers selbst.*" Während sich die Naturrechtstheorie über das Erfordernis einer >sittlichen< Ordnung hinwegsetzt, das der propagierten Autonomie allein Wirkungskraft verleihen kann, ist folglich der »patriarchalische Zustand« umgekehrt für eine >sittliche< Ordnung charakteristisch, die keine Autonomie zuläßt. In einer allenfalls quasi-staatlichen Gemeinschaft, deren Akteure sich als Verbandszugehörige, als Klientelen eines Patriarchen begreifen und in seinen Diensten stehen, hat der einzelne, wie Hegel beobachtet, seine »Persönlichkeit« und damit »das Rechtsverhältnis [einer autonomen Person zu anderen] wie auch die fernem particulären Interessen und Selbstsüchtigkeiten« zugunsten des Herrschers »aufgegeben«.** Statt seinen Willen geltend machen und sein Handeln selbständig orientieren zu können, ist es der Wille des Herrschers, der sowohl die Lebensverhältnisse wie auch das Handeln der Verbandszugehörigen bestimmt. Gleichgültig daher, ob Naturzustand oder »patriarchalischer Zustand«: Es gibt keine nicht-staatliche Lebensverfassung, die reale Autonomie garantieren könnte. Die Emphase, mit der Hegel die Bedeutung einer staatlichen Verfassung für die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung hervorhebt, darf freilich nicht den Eindruck hervorrufen, als ob es ihm um eine leere Beschwörung
«Ebd.,S. 174. Vgl. VPW 2, S. 270ff., sowie S. 289ff. “ GW 18, S. 176 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, Ergänzung von mir, W. H.).
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von Staatlichkeit als solcher zu tun gewesen sei. Daß der einzelne geschichtlich nur zu denken, autonom nur zu handeln in der Lage ist, wenn sich all dies im Medium einer staatlich garantierten »Sittlichkeit« vollzieht, bedeutet nicht, daß Hegel jede mögliche Form von Staatlichkeit hätte rechtfertigen wollen, ja daß er dem Erhalt einer (konkreten) Staatsmacht Priorität gegenüber dem Recht des einzelnen eingeräumt hätte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich deutlich, daß der im Autoritären verwurzelte Glaube, der Staat müsse in jedem Falle stark genug sein, um jedes beliebige Recht durchsetzen zu können, Hegels Sache nicht ist. Hegel dürfte im Gegenteil wie kein anderer Rechtsphilosoph zuvor - von seinen späteren rechtskonservativen Adepten ganz zu schweigen - begriffen haben, daß sich eine Verfassung gerade nicht wie eine Schablone auf die Gemeinschaft legen läßt und mithin lediglich verabschiedet und staatlich durchgesetzt zu werden braucht, um automatisch bestimmte Rechte zu garantieren. Eine seiner wichtigsten staatstheoretischen Einsichten dürfte sein, daß eine Verfassung, gerade weil sie grundsätzlich auf die Gewährleistung geschichtlichen Denkens und autonomen Handelns zielt, so konzipiert sein muß, daß sie an jene Formen der Selbstbestimmung anknüpft, die bereits gemeinschaftlich anerkannt und von den Akteuren kulturell eingeübt sind. Sie wird mithin nur dann erfolgreich sein, wenn sie dasjenige garantiert, was der einzelne als institutionellen Rahmen für seine eigenen Entscheidungen zu verstehen und zu beurteilen gelernt hat. Genauso ist sie umgekehrt zum Scheitern verurteilt, wenn sie bereits etablierte Formen der Selbstbestimmung und der politischen Partizipation entweder unterdrückt oder aber Formen einführt, mit denen (noch) niemand umzugehen versteht. Der Staat ist also kein voraussetzungslos agierender Platzhalter, der dem einzelnen dank der Weitsicht eines einsamen Verfassunggebers den erforderlichen Handlungsspielraum verschaffen würde, sondern er muß berücksichtigen, was die Akteure selbst bereits als Teil ihrer autonomen Lebensgestaltung zu begreifen gelernt haben. Wenngleich sich geschichtliches Denken daher in der Tat nur im Medium einer staatlichen Verfassung vollziehen kann, so ist es doch zugleich die reale Autonomie der Akteure selbst, welche die Form der Verfassung ihrerseits bestimmt und fortentwickelt. Diese Einsicht ist es, welche Hegels Überlegungen endgültig vom Verdacht der Staatsapologetik befreit. Eine staatliche Verfassung ist zwar unverzichtbar, wenn das individuelle Streben nach Autonomie überhaupt einen Sinn haben soll, doch zugleich ist es auch die spezifische Befähigung des einzelnen, sein Leben autonom zu gestalten, welche die Voraussetzung für die jeweilige Form von Staatlichkeit darstellt. Die Rolle, welche der Staat für die Entfaltung geschichtlichen Denkens spielt, zeichnet sich damit deutlich ab. Als Repräsentant der sittlichen Ordnung ist er keine absolute Instanz, die als rechtsetzende Kraft vom Handeln
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der Akteure selbst unabhängig wäre. Wäre der Staat immun gegen die Anfechtungen der sittlichen Ordnung, die aus dem Autonomiestreben der Akteure resultieren können, wäre also die Geltung des jeweiligen Rechts ebenso unverrückbar festgelegt, wie es zwangsläufig dann auch die Erwartung der potentiellen Folgen des eigenen Handelns sein müßte, so gäbe es gar keine Autonomie im Hegelschen Sinne. An die Stelle der geschichtlichen Artikulation eines eigenen Erwartungshorizonts träte der rein fiktive Zustand, daß der Staat kraft der unverbrüchlichen Wirkkraft seiner Gesetze die Erwartungen der Akteure planen und somit eindeutig bestimmen könnte, was der einzelne im »vernünftigen« Selbstinteresse tun sollte. Das Selbstinteresse würde einer Art >Vernunftdiktat< des Gesetzgebers Platz machen. Obwohl aber eine solche Fiktion der Wunschtraum von Diktatoren und Despoten sein mag, wird sie der Wechselbeziehung von Staat und individueller Selbstbestimmung nicht gerecht. Kaum irgendeinem anderen Staatstheoretiker als dem vermeintlich staatsgläubigen Hegel dürfte deutlicher bewußt gewesen sein, daß noch nie ein Staat dem Drängen seiner Bürger nach einem Ausbau ihrer Selbstbestimmungsrechte auf Dauer hat standhalten können. Gleichwohl ist auch für die Ausführungen, mit denen Hegel derlei Vorstellungen zu begegnen und das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Autorität und individueller Selbstbestimmung auszuloten versucht, die Schwierigkeit charakteristisch, mit der Unverzichtbarkeit einer staatlichen Ordnung einerseits und deren Abhängigkeit von den Autonomisierungsversuchen der einzelnen Akteure andererseits zwei dem Anschein nach disparate Gegebenheiten in Einklang bringen zu müssen. Dieses Erfordernis ist es, das Hegel zu vermeintlich widersprüchlichen Bemerkungen treibt und ihn zunächst als Verteidiger eines autoritären Staates erscheinen läßt, der energisch auf dem »Unterschied von Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« beharrt, und dann wieder, in scheinbarem Widerspruch zu dieser rigiden Haltung, als relativistischen Historisten, der gegen den Mythos einer »beste[n] Verfassung« zu Felde zieht.*^ Die vermeintlichen Widersprüche seiner Überlegungen erweisen sich jedoch durchgängig als Ausdruck der Notwendigkeit, einerseits die Verfassungsbedingtheit autonomen Handelns aufzuzeigen und andererseits deutlich zu machen, daß die Verfassung ihrerseits von konkreten Formen der autonomen Lebensgestaltung der Akteure abhängt. Weder der Vorwurf einer Apologie des Obrigkeitsstaates noch der Verdacht eines staatsrechtlichen Relativismus erweisen sich vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte als tragfahig. So wird man Hegel als Apologeten der Obrigkeit nur dann bezeichnen können, wenn man den ersten Aspekt isoliert und über den zweiten, nicht Ebd., S. 178f. sowie S. 179 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, W. H.).
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minder wichtigen, hinwegsieht. Die Art und Weise, mit der Hegel das Erfordernis einer staatlichen Verfassung einklagt, ist freilich derart drastisch, daß eine solche Verzerrung fraglos begünstigt wird. Um nämlich den Glauben an eine voraussetzungslose Autonomie des Individuums zu erschüttern, den Glauben an eine naturgegebene Freiheit, welche einer staatlichen Verfassung scheinbar nur zur angemessenen Berücksichtigung des »einzelnen Willens« bedarf, schreckt Hegel auch vor dem rhetorischen Mittel einer reichlich groben Antithese nicht zurück. Schlechterdings jeder denkbare Staat, und sei es eine Diktatur, ist demnach wünschenswerter als der von Rousseau in seiner Schrift über den Gesellschaftsvertrag angedeutete Zustand der natürlichen Freiheit. Hegel übersieht dabei freilich, daß dieser Zustand auch im Werk des Aufklärers kaum mehr als die metaphysische Begründung einer Rechtslehre darstellt, die trotz ihrer pathetischen Diktion keineswegs die prähistorischen Zustände einer Naturgemeinschaft wiederherstellen will.** Er kultiviert einen rhetorischen Gestus, der den Eindruck erweckt, das Erfordernis einer Verfassung solle gegen die individuelle Selbstbestimmung ausgespielt werden, so daß die Hegelsche Überlegung als ganze in Mißkredit zu geraten droht. Hegel will jedoch nicht die Forderung nach der Autonomie des einzelnen selbst in Frage gestellt wissen, sondern wie gesagt zeigen, daß es keinen Sinn hat, auf der Forderung nach individueller Freiheit zu beharren, ihr gar eine natürliche Berechtigung zuzusprechen, wenn sie staatlich nicht durchgesetzt wird. Wenn, wie Hegel ausführt, »das Princip des einzelnen Willens als einzige Bestimmung der Staatsfreyheit zu Grunde gelegt« werde, daß also »zu allem, was vom Staat und für ihn geschehe, alle Einzelnejn] ihre Zustimmung geben sollen, so ist eigentlich gar keine Verfassung vorhanden«, und das bedeutet: Der einzelne wird niemanden finden, der ihm für seine individuellen Wünsche oder Forderungen Rechtsbeistand verschaffen oder gar Garantien geben kann. Die Freiheit seines Wünschens und Wollens bleibt insofern ein leeres Wort, das kaum mehr verheißt als die anarchischen Verhältnisse, in denen der Verfolg persönlicher Ziele und Zwecke ein Glücksspiel und deren Verwirklichung ein Zufall bleibt. In diesem Sinne aber, so dürfte Hegel zu verstehen sein, ist selbst ein diktatorischer Staat noch immer besser als überhaupt kein Staat. Denn selbst wenn eine entsprechende Verfassung zunächst nur ein Minimum an Selbstbestimmungsrechten gewährleistet, selbst wenn sie den Akteuren Autonomie nur insofern gestattet, als diese bestimmten Gesetzen Folge leisten müssen und die Beurteilung der Rechtsfolgen ihres Handelns beinahe die einzige ** Vgl. ebd., S. 178. Vgl. Jean-Iacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstübertr. v. E. Koch, D. Leube, M. Walz u. H. Zischler sowie bearb. u. erg. Übers, aus dem 18. u. 19. Jhdt., München 1981, Kap. 1,1 sowie 1,2.
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Leistung ihres geschichtlichen Denkens bleibt, so ist doch immerhin gewährleistet, daß der einzelne die für sein Leben erforderliche Orientierung findet. Auch wenn die entsprechende Rechtssicherheit zunächst durch den strikten »Unterschied von Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« erkauft wird, »Gehorchen aber ... der Freyheit nicht gemäß zu seyn« scheint, so ist doch der »Unterschied von Befehlen und Gehorchen notwendig ..., weil die Sache sonst nicht gehen könne«.*’ Hegels Anliegen ist folglich keineswegs, die Bedeutung staatlicher Macht höher bewertet wissen zu wollen als jene der Autonomie des einzelnen, sondern er verweist lediglich auf den Staat als Garanten dieser Autonomie. Daß der Staat in seiner Rolle als Garant des Rechts keineswegs über eine absolute Legitimität verfügt, daß der Rahmen, den er für die Lebensgestaltung der Akteure setzt, nicht an sich gerechtfertigt ist, sondern seinerseits durch autonomes Handeln ausgestaltet werden muß und modifiziert werden kann, ist der zweite Aspekt der Hegelschen Überlegung, und dieser Gedanke setzt auch das geschichtliche Denken in sein Recht. Es zeigt sich, daß Hegel die praktische Relevanz dieses Denkens, seine Bedeutung für die Autonomisierung des einzelnen, gegen das obrigkeitliche Diktat einer unverrückbaren Ordnung ganz ausdrücklich verteidigt. Er durchschaut nämlich, daß der Glaube an die absolute Legitimität einer bestimmten Verfassung, der Glaube an ihre unbedingte Menschenwürdigkeit, Effizienz oder Gerechtigkeit, wie er auch heute noch vielfach den Motor moderner Staats- und Gesellschaftstheorien abgibt, der Verwirklichung individueller Freiheit nicht etwa die geeigneten Instrumente liefert, sondern trotz aller Humanitätsrhetorik, trotz allen Eintretens etwa für Demokratie, Liberalität und Menschenwürde, der Idee der Autonomie letztlich widerspricht. Auch wenn seine Einsicht provokant erscheinen mag, so bemerkt er, daß ein unbedingtes Votum für eine bestimmte Verfassung nicht etwa auf den Drang nach Autonomie, sondern sehr viel eher auf den patriarchalischen Wunsch zurückzuführen sein dürfte, das glückliche Schicksal aller einigermaßen verläßlich geplant sehen zu wollen. Der Glaube an das Ideal einer »beste[n] Verfassung« erweckt aus seiner Sicht den fatalen Eindruck, »als ob nicht nur die Theorie hierüber eine Sache der subjectiven, freyen Überlegung sey, sondern auch die wirkliche Einführung einer ... [solchen] Verfassung eine Folge eines ... ganz theoretisch gefaßten Entschlusses, - die Art der Verfassung eine Sache ganz freyer, weiter nichts als durch die Überlegung bestimmter Wahl seyn könne.«’" Die Konsequenzen einer solchen Auffassung liegen auf der Hand: Gerade weil klar zu sein scheint, worin die idealen Bedingungen der ”GW 18, S. 178f. *>Ebd.,S. 180.
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Autonomie bestehen, weil mithin eine »abstract gehaltene Bestimmung der Freyheit« zur unbedingten Voraussetzung gemacht wird, ohne daß das reale Selbstverständnis der Akteure, deren bereits anerkannte und kulturell eingeübte Formen der Selbstbestimmung für die Überlegung als solche überhaupt eine Rolle spielen würden, - gerade deshalb spiegelt paradoxerweise der Glaube, die Autonomie des einzelnen rechtlich erzwingen zu können, kein liberales, sondern ein patriarchalisches Rechtsverständnis wider.®' Hegel hebt hervor, daß in dieser Hinsicht sogar zwischen dem liberalen Pathos, mit dem die Republik zur besten Verfassungsform erklärt wird, und der weltmännisch verkleideten Skepsis, mit der konservative Verfassungstheoretiker ihr Votum für autoritäre Staatsformen begründen, gar kein Unterschied besteht: Gleichgültig, ob »in der Theorie die Republik für die einzig gerechte und wahrhafte Verfassung gilt« oder ein selbsterklärter Skeptiker wie Lafayette mit dem Gestus milder Abgeklärtheit zu dem Schluß kommt, daß man »[,] wie die Menschen nun einmal seyen[,] ... mit weniger Freyheit vorlieb nehmen müsse ... [und] die monarchische Verfassung unter diesen gegebenen Umständen und dem moralischen Zustande des Volkes die nützlichste sey«, - aus jeder dieser Selbstrechtfertigungen spricht der Glaube, bereits zu wissen, was im Sinne der Akteure das Beste ist.®^ An die Stelle einer staatlichen Garantie für autonomes Handeln tritt der paradoxe Impetus, für ein bestimmtes Maß an Autonomie sorgen zu wollen. Daß der Staat über ein solch absolutes Bestimmungsrecht gar nicht verfügt, daß vielmehr die Formen der von ihm garantierten Autonomie von den Akteuren als Grundlage eigener Erwartungen und Lebensentwürfe anerkannt werden müssen und auch modifiziert werden können, dürfte in dieser Hinsicht die bedeutendste Einsicht Hegels sein. Überspitzt gesagt: Eine Verfassung kann nur dann dauerhafte Rechtskraft entfalten, wenn sie den geschichtlich geprägten Erwartungen der Akteure korrespondiert, ihren geschichtlich geformten Erwartungshorizont berücksichtigt, der sie über die Ziele und Zwecke des eigenen Lebens orientiert. Hegel erkennt, daß die jeweilige staatliche Verfassung in dieser Hinsicht sogar immer erst zu spät kommt. Sie proklamiert Recht nicht in der solonischen Manier eines Gesetzgebers, der den Rahmen für das Handeln des einzelnen voraussetzungslos herstellen würde, sondern setzt lediglich neues Recht an die Stelle des alten. Sie legitimiert nicht die Idiosynkrasien eines weisen Erfinders, sondern garantiert den Erwartungshorizont, den die Akteure selbst mittlerweile als Gestaltungsspielraum ihres autonomen Lebens zu beurteilen gelernt haben. Wo sie folglich staatliches Leben dauerhaft in bestimmte gesetzliche ®' Ebd. Ebd. (Ergänzungen von mir, W. H.).
§ 26. Die Verfassung als Rahmen geschichtlicher Orientierung
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Formen faßt, ist die Verfassung nur noch ein formeller Akt, mit dem die faktisch bereits erreichte Autonomisierung der Akteure, bekräftigt und sanktioniert wird. Sie ist Ausdruck dessen, was der einzelne als eigenen Erwartungshorizont begreift und zugleich auch als Handlungsspielraum der anderen anerkennt. Wie sehr der Glaube an eine Verfassung trügt, welche nicht in diesem Sinne an die Formen geistiger Selbstreflexion angelehnt wird, zeigen nicht allein Beispiele aus der Tradition einer autoritären Staatsrechtstheorie. Es wird immer deutlicher, daß auch die großen liberalen Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts wie zum Beispiel der Versuch, ehemalige Kolonien in demokratisch verfaßte Nationalstaaten umzuformen, anstelle des liberalen Glaubens an das Unbezwingliche der individuellen »Vernunft« eher das Vertrauen in die unbedingte Wirkkraft eines bestimmten Verfassungsmodells widerspiegeln. Es steht daher zu fragen, ob es nicht anstelle der vermeintlichen Verteidiger individueller Selbstbestimmung der ungleich vorsichtigere Hegel ist, der die Bedeutung der staatlichen Verfassung für die autonome Lebensgestaltung ins rechte Licht rückt. Klarer zumindest als mancher liberale Wirtschaftstheoretiker hat Hegel erkannt, daß die staatliche Verfassung keinen ungeschichtlichen Rahmen für »vernünftiges« Handeln verkörpert, sondern selbst ein »Moment in der Geschichte des Ganzen« ist, - ja daß in ihrer Geschichtlichkeit gar »die höchste Sanction der Verfassung so wie deren höchste Notwendigkeit« besteht.” Sie ist nur gerechtfertigt und damit als solche notwendig, wenn der einzelne den gesetzlichen Rahmen als rechtliche Gewähr seiner eigenen Hofftiungen anerkennt. Sobald diese Anerkennung ins Wanken gerät, sobald die Akteure aufgrund der Entwicklung der jeweiligen Lebensformen selbst ihre Erwartungen revidieren, etwa auf eine Erweiterung ihres Handlungsspielraumes drängen, kann auch die Verfassung als solche ihre rechtliche Legitimität verlieren. Sie ist keine absolute Rechtsinstanz, sondern lediglich Garant der jeweils verwirklichten Autonomie des einzelnen. Der Rahmen, in dem das geschichüiche Denken seine praktische Relevanz entfaltet, ist damit vollständig beschrieben. Geschichtliche Praxis, die letztlich immer daraufhin entworfen ist, den Erwartungshorizont einer möglichen Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu eröffiien, hat sich als maßgebliches Mittel zur Autonomisierung des einzelnen erwiesen. Nur wer das eigene Handeln an einem geschichtlich entwickelten Erwartungshorizont orientiert, vermag zu beurteilen, was im eigenen Interesse zu tun ist. Diese emanzipative Leistung geschichtlichen Denkens steht dem Hegelschen »Endzweck« einer Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens nicht entgegen. ” Ebd.
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IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens
sondern ist seine unabdingbare Voraussetzung. Indem der einzelne sein Handeln an einer potentiellen Fortdauer der gemeinschaftlichen Lebensformen >ausrichtetRechtfertigung< des Willens zur Kontinuität gemeinschaftlich verfaßten Lebens, so wird nunmehr ersichtlich, welche praktische Relevanz dieser Zweck im Leben selbst besitzt, mit einem Wort; was sein Sitz im Leben ist. Die begriffliche Einsicht, daß die »Theodizee« eines als Person verstandenen >Gottes< in Wirklichkeit immer die >Rechtfertigung< des Umstands ist, trotz aller geschehenen »Übel« an einer gemeinschaftlichen Lebensverfassung festhalten zu wollen, - diese begriffliche Einsicht erhält ihre praktische Bedeutung darin, daß geschichtliches Denken dem einzelnen eine autonome Lebensführung ermöglicht. Anders als daß er die Option der Kontinuität gegen das geschehene »Übel« und »Böse« >rechtfertigt< und sich in diesem Sinne mit der Vergangenheit aussöhnt, anders als daß er die Möglichkeit einer Fortschreibung der gemeinschaftlichen Lebensformen entwickelt, findet er selbst nicht die für sein Handeln erforderliche Orientierung und Hoffnung. Jede geschichtliche Post-hoc-Erklärung der Vergangenheit ist insofern eine »Theodizee« in praktischer Absicht: Sie ist eine >Rechtfertigung< des individuellen Wunsches, autonom werden beziehungsweise bleiben zu können. »Theodizee« ist ihrem eigenen Begriffe nach eine >Rechtfertigung< des Willens zur Selbstbestimmung, mit einem Wort: Sie ist eine >Theodizee der Autonomiesittlich< verfaßten Lebens ein relativ stringenter Prozeß der Selbstbewußtwerdung der Autonomie vollzieht, in deren Verlauf der einzelne die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung seiner Autonomie zu erkennen und zu begreifen lernt. Die »Weltgeschichte« erweist sich als »Entwicklung des Bewußtseyn[s] des Geistes von seiner Freyheit«.^^ Indem sie zeigt, daß sich das >weltgeschichtliche< Geschehen als realer Prozeß der Autonomisierung deuten läßt, liefert sie einen realgeschichtlichen Beweis dafür, daß die Kontinuität gemeinschafüichen Lebens wirklich auf dem Autonomiestreben des einzelnen beruht. Sie wird selbst zu einem Instrument der Befreiung: Indem sie veranschaulicht, daß nicht Gehorsam oder Sittlichkeit, sondern autonomes Urteilen und Handeln die gemeinschaftliche »Welt« im Innersten zusammenhält, befreit sie den einzelnen, der sich zu seiner Autonomie nunmehr uneingeschränkt bekennen darf. Sie wird damit zur »Theodizee der Freiheit«.
“ Ebd., S. 196 (Ergänzung von mir, W. H.).
V. Das Ende der »Weltgeschichte«
§ 27. Freiheit als geschichtlich entwickeltes Autonomiebewußtsein Mit der Freilegung der begrifflichen Einsichten Hegels erfährt die Rezeptionsgeschichte seiner Geschichtsphilosophie eine grundlegende Revision. Der Verdacht, sie stelle nur das Potemkinsche Trugbild einer Philosophie dar und sei in Wirklichkeit bloßes Exempel einer fehlambitionierten Geschichtsschreibung, hat sich als unbegründet erwiesen. Hegel hat nicht nur den Zweck geschichtlichen Denkens auf seinen Begriff gebracht und gezeigt, daß die Rekonstruktion der Vergangenheit auf eine »Versöhnung« der »Vernunft« mit sich selbst angelegt ist, auf ihre >Rechtfertigung< gegen die »Übel« der Vergangenheit. Er hat auch die praktische Relevanz dieser Leistung geschichtlichen Denkens erkannt, daß es nämlich anders als durch die geschichtliche Bewältigung der Vergangenheit keine Erwartungen gibt, an denen der einzelne sein Handeln orientieren und damit autonom werden könnte. Daß diese begrifflichen Einsichten von der Rezeptionsgeschichte nahezu unbemerkt geblieben sind, hat seinen Grund offensichtlich in dem ambitionierten Projekt der »Weltgeschichte«, für das die begrifflichen Überlegungen auch nach Hegels eigenem Bekunden lediglich einen Vorgriff darstellen.' Seit jeher ist die »Weltgeschichte« als das eigentliche Hauptstück der Hegelschen Geschichtsphilosophie wahrgenommen worden, und es sind ihre teleologischen Zuspitzungen und unleugbaren Vereinfachungen, die maßgeblich den rezeptionsgeschichtlichen Glauben hervorgerufen haben, Hegels Werk sei lediglich eine verfehlte Form der Geschichtsschreibung. Mehr als nur gelegentlich erweckt sogar Hegel selbst den irreführenden Anschein, als ob er nur eine Geschichte habe erzählen, die Selbstbewußtwerdung des »Geistes« habe schildern wollen, wie sie in ihrer inhärenten Dynamik aus den Geschehnissen ablesbar sei.^ Es soll abschließend gezeigt werden, daß diese Gleichsetzung der Geschichtsphilosophie mit dem Projekt der »Weltgeschichte« dem begrifflichen Aufbau der Hegelschen Überlegungen nicht gerecht wird. Der eigentli'Vgl. GW 18, S. 138. ^ Vgl. repräsentativ die bereits mehrfach zitierten Passagen über die Akteure als »Werkzeuge« des »Weltgeistes«, ebd. S. 162.
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V. Das Ende der »Weltgeschichte'
che Gehalt der »Weltgeschichte« läßt sich statt dessen nur begreifen, wenn der von Hegel entwickelte Begriff geschichtlichen Denkens bei einer entsprechenden Betrachtung vorausgesetzt wird. Tatsächlich ist es nicht zuviel behauptet, daß Hegels >weltgeschichtliche< Rekonstruktionen seinem Geschichtsbegriff subordiniert sind und nur als notwendige Weiterung dieses Begriffs aufgefaßt werden können. Letztere schließt dabei nicht nur eine begriffliche Lücke, welche sich in den bisherigen Hegelschen Überlegungen auftut. Die Art dieser Weiterung erweist sich zugleich als das eigentlich problematische Erbe der Geschichtsphilosophie, nämlich als Form einer geschichtlichen Darstellung, die zwar keinen grundsätzlich verfehlten Geschichtsanspruch dokumentiert, jedoch aus moderner Perspektive in bestimmter Hinsicht einem pragmatischen Bedeutungsverlust unterliegt. Wie sich zeigen wird, ist es dieser - selbst als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung zu begreifende - Bedeutungsverlust der Hegelschen »Weltgeschichte« - nicht hingegen ihr vermeintlich logisch-begrijfliches Scheitern -, aus welchem sich die moderne Skepsis gegenüber der Geschichtsphilosophie ergibt. Teilt man folglich den Befund dieses Bedeutungsverlustes und relativiert in dieser Hinsicht Hegels Ausführungen, so lassen sich seine begriffliche Einsichten vor einem generellen Verdikt retten. Das tatsächlich zu konstatierende Ende einer »Weltgeschichte« im Hegelschen Sinne ändert also nichts an der prinzipiell zutreffenden Charakterisierung, welche Hegel für die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens geliefert hat. Dieser kryptisch erscheinende Vorgriff gewinnt an Deutlichkeit, wenn man die Art der Weiterung betrachtet, die Hegel mit Hilfe der »Weltgeschichte« an seinem Begriff geschichtlichen Denkens vornimmt. Die entsprechenden Ergänzungen sind insofern notwendig, als sie eine Unzulänglichkeit der bisherigen Betrachtung bereinigen. Keinem Verfassungsrechtler oder Ethiker nämlich wird entgehen, daß der von Hegel bis hierher skizzierte Autonomiebegriff nur über eine begrenzte Bedeutung verfügt. Die skizzierte Konstitution geschichtlichen Denkens, von der Entwicklung der jeweiligen Lebensformen auf eigene Optionen der Lebensgestaltung zu schließen und sich an entsprechenden Erwartungen zu orientieren, impliziert zwar, sich einen Begriff vom eigenen Handlungsspielraum machen zu können. Diese praktische Bedeutung geschichtlichen Denkens jedoch ist keineswegs identisch mit dem Begriff politisch definierter Freiheit, wie er heute oftmals als Synonym für den Begriff der Autonomie verwendet wird. Das geschichtlich begründete Wissen um die eigenen Handlungsmöglichkeiten hat im Gegenteil zum Begriff der Freiheit ein mehr als ambivalentes Verhältnis, aus dem zunächst gar nicht hervorgeht, wie geschichtliches Denken mit einer nun auch rechtlich garantierten Selbstbestimmung Zusammenhängen, ja sogar als Voraussetzung solcher Selbstbestimmung gelten
§ 27. Freiheit als geschichtlich entwickeltes Autonomiebewußtsein
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soll. Schließlich ist in dem skizzierten vorläufigen Sinne selbst autonom, wer in einer Diktatur lebt und sein Augenmerk daher ganz auf die Frage konzentrieren muß, was im eigenen Interesse zu tun ist, ohne etwa mit der Staatsmacht in Konflikt zu geraten. Noch der Untertan ist autonom insofern, als er sich durch den Rückblick auf die Entwicklung seiner Lebensformen Erwartungen verschafft, an denen er sein Handeln orientiert; auch er verfügt über eine artikulierte Hoffnung, die für sein Handeln grundlegend ist. Obwohl er folglich in bezug auf seine persönlichen Rechte unfrei ist, erscheint er doch aus der bis hierher skizzierten Sicht als selbstbestimmter Akteur, und diese vermeintliche, skandalös erscheinende Identifizierung der bloßen Planbarkeit des eigenen Lebens mit einer Freiheit im Sinne politischer Selbstbestimmung ist es denn auch, die das Mißtrauen gegenüber der Hegelschen Überlegung erzeugt. Glaubt Hegel, das eine mit dem anderen gleichsetzen zu können, glaubt er - um es mit heute gebräuchlichen Termini zu umschreiben -, daß die bloß negative Freiheit des Wissens um bestimmte Handlungsmöglichkeiten mit der positiven Freiheit identisch ist, das Mögliche als solches auch zu wollen! Die Unbestimmtheit seiner Überlegungen in bezug auf diese Frage ist es, die Hegel mit seiner Konzeption der »Weltgeschichte« zu entschärfen versucht. Schon ein näherer Blick in seine geschichtsphilosophischen Vorlesungsnotizen reicht dabei aus, um zu erkennen, daß der skizzierte Verdacht nicht gerechtfertigt ist. Hegel dürfte im Gegenteil der erste Geschichts- und Rechtsphilosoph sein, der den Unterschied zwischen der - wie er selbst es nennt - »formellen« und »reellen Freiheit« der Akteure erkannt und als solchen kenntlich gemacht hat.’ Die seltsame Unbestimmtheit, mit der er die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens zunächst in die Autonomisierung des einzelnen setzt, ohne die Frage nach dessen »reeller Freiheit« eigens zu erörtern, hat ihre Ursache nicht in dem Bemühen, die Bedeutung einer rechtlich garantierten Selbstbestimmung des einzelnen nivellieren zu wollen. Vielmehr spricht es für die tiefere Einsicht Hegels in die Natur der »reellen Freiheit«, daß ein selbstbestimmter Wille, der sich in den jeweiligen Verhältnissen als solcher bewußt geltend zu machen vermag, gar nicht per se vorhanden ist. Hegel bemerkt nicht nur, daß die Behauptung eines naturgegebenen Prinzips individueller Freiheit, wie sie von den Naturrechtstheoretikern verfochten wird, eine mehr als voreilige Annahme darstellt. Sein Projekt der »Weltgeschichte« hebt ja gerade darauf ab, daß zwischen der zweifelsohne an sich vorhandenen Möglichkeit zur freien Selbstbestimmung und ihrem bewußten, verfassungsrechtlich garantierten Gebrauch ein entscheidender Unterschied besteht. Die zentrale These seiner »Weltgeschichte« be’Vgl.VPW2,S. 926f.
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V. Das Ende der »Weltgeschichte-
Steht darin, daß der einzelne zu Beginn des >sittlich< verfaßten Lebens und Hamit gleichsam am historischen Nullpunkt der Humangeschichte noch gar nicht weiß, daß die >sittliche< Ordnung um seiner eigenen Autonomie halber existiert, - daß er sich dieses Bewußtsein vielmehr erst erwerben muß und erst auf der Grundlage dieses Bewußtseins das Recht auf die Integrität seiner Persönlichkeit einfordern kann. Aus diesem Grund aber ist es aus Hegelscher Sicht auch nicht sinnvoll, unabhängig von dem jeweils erreichten Entwicklungsstadium auf die verfassungsrechtliche Anerkennung der angeblich unbedingten Freiheit des Individuums zu drängen. Es ist das Bewußtsein für die geschichtliche Bedingtheit der entsprechenden Verfassung, für deren außerordentlich komplexe geschichtliche Voraussetzungen, deretwegen er von einer allgemeinen, kultur-unabhängigen Empfehlung eines solchen Verfassungsmodells Abstand nimmt. Seine maßgebliche Erkenntnis besteht darin, daß es ohne den Vergleichsmaßstab einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung aussichtslos ist, den Grad der jeweils verwirklichten Autonomie überhaupt beurteilen zu wollen. Nicht der autoritäre Vorbehalt gegen die Freiheit des einzelnen ist die Wurzel seiner »Weltgeschichte«, sondern die Entdeckung, daß sich das Vermögen der freien Selbstbestimmung erst als solches geschichtlich entwickeln, die reale Verfaßtheit autonomen Denkens und Handelns zum Bewußtsein ihrer selbst gelangen muß, damit die rechtliche Garantie der Freiheit des einzelnen zur Grundlage einer gemeinschaftlichen Ordnung werden kann. Damit findet sich ein erster wichtiger Grund umschrieben, weshalb sich Hegel mit der historischen Überlieferung auseinandersetzt und seine begrifflichen Überlegungen um das Konzept der »Weltgeschichte« ergänzt. Seine Behauptung, daß sich das Bewußtsein für die Autonomie des einzelnen selbst erst geschichtlich habe entwickeln müssen, erweist sich als notwendiges Komplement seines Autonomiebegriffs, ohne dessen Einschaltung die Geschichtsphilosophie als Rechtfertigung einer Herrschaftsideologie mißverstanden werden könnte. Dies aber ist noch nicht der eigentliche Grund für den Ausbau der Geschichtsphilosophie zur Realgeschichte. Vielmehr ist das Programm dieser Geschichte, die Selbstbewußtwerdung der individuellen Autonomie, für Hegel zugleich von pragmatischem Interesse. Sein Ziel besteht darin, der begrifflichen Einsicht in die Geschichtsgebundenheit autonomen Urteilens und Handelns eine nun auch realgeschichtliche Evidenz zu verleihen. Er will nun gleichsam auch die Realgeschichte selbst als Zeugen für die Einsicht bemühen, daß Autonomie nur durch geschichtliches Denken gewonnen wird und nur eine derart konstituierte Autonomie - kein Altruismus, >sittlicher< Gehorsam oder kategorischer Imperativ - eine Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens garantiert. Die »Weltgeschichte« selbst soll den Nachweis dafür erbringen, daß allein die Autonomie der Akteure
§ 27. Freiheit als geschichtlich entwickeltes Autonomiehewußtsein
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die gemeinsame »Welt« im Innersten zusammenhält. Der pragmatische Gewinn dieser Einsicht besteht in der Reflexion des einzelnen auf sich selbst. Durch die »Weltgeschichte« wird er sich der gemeinschaftskonstitutiven Bedeutung seiner Autonomie bewußt und damit frei, sein Leben tatsächlich autonom zu gestalten. Hegels Antwort auf die Frage, wie eine derart ambitionierte Geschichte verfaßt sein muß, birgt freilich das problematische Potential seiner Geschichtsphilosophie. Es ist der Versuch, dem einzelnen mit Hilfe eines realgeschichtlichen Beweises zum Bewußtsein seiner Autonomie zu verhelfen, der die »Weltgeschichte« aus moderner Sicht diskreditiert. Worin das problematische Potential der »Weltgeschichte« besteht, soll nun Umrissen werden. Folgt man Hegel, dann vermag den skizzierten realgeschichtlichen Nachweis nur eine Geschichte zu erbringen, welche die Entwicklung der großen historischen Kulturen als einen stringenten Prozeß der Autonomisierung im angedeuteten Sinne schildert. Um nämlich zeigen zu können, daß die kontinuitätsstiftende Kraft des gemeinschaftlichen Lebens tatsächlich die Autonomie des einzelnen ist, muß die »Weltgeschichte« solches Handeln als reale historische Erscheinung kenntlich machen. Dies aber kann ihr in der Tat nicht anders gelingen, als daß sie die historischen Geschehnisse als Ausdruck für das erwachende Antonomiebewußtsein der Akteure bewertet. Nur wenn die Akteure von ihrem autonomen Urteilen und Handeln gleichsam selbst Kunde geben, nur wenn sich, wie Hegel deutlich erklärt, ein empirischer Nachweis für Autonomie im Sinne eines gleichlautenden, sich entwickelnden Selbstverständnisses liefern läßt, ist ein geschichtlicher Ansatz vorhanden, jene als historisches Phänomen überhaupt fassen zu können.“ Zugleich macht dieser Ansatz ersichtlich, weshalb Hegel primär nicht das geschichtliche Denken selbst, die »Versöhnung« mit der Vergangenheit um der Zukunft willen, sondern am Ende seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen die »Weltgeschichte« als ganze mit dem Titel einer »Theodizee« versieht.® Denn erst, sobald der einzelne die Historie als kontinuierliche Entwicklung zu interpretieren vermag, welche auf der Autonomie der Akteure beruht, findet er die Möglichkeit zur Selbstbestimmung nicht nur theoretisch postuliert, sondern auch der geschichtlichen Rekonstruktion nach bestätigt. Die »Aussöhnung« mit der Vergangenheit, die sich zuvor bereits als empraktische Leistung jeder geschichtlichen Rekonstruktion erwiesen hatte, gerät damit nun auch zur reflektierten »Versöhnung« mit der geschichtlich entwickelten, >sittlich< verfaßten Existenz des Menschen auf Erden. Die geschehenen »Übel« lassen sich insofern >rechtfertigenTheodizee der FreiheitTheodizee der Freiheit< selbst ist. Obwohl er bei seinen geschichtsphilosophischen Vorgängern zahlreiche Anleihen gemacht hat, angefangen bei dem problematischen Versuch, den Einfluß von Geographie und Klima auf den »Gang der Weltgeschichte« zu bestimmen, der auf entsprechende Versuche Voltaires oder Montesquieus zurückzuführen sein dürfte, über die Entlehnung der Kantischen Rede vom »Endzweck«, die stets als Ausdruck einer ereignisbezogenen Teleologie mißverstanden zu werden * Collingwood meint in dieser Hinsicht, eine starke Kontinuität beobachten zu können. Vgl. Collingwood: The idea of history, ed. by J. v. d. Dussen, Oxford/New York 1993, S. 115ff. ^ Robin George Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, S. 193ff.; Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Werke in drei Bänden, hrsg. v. H. G. Göpfert, Bd. 3, München/Wien 1982, S. 637658, hier v. a. die Bemerkungen über den göttlichen »Erziehungsplan«, S. 649f.; Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 409; Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 146ff.
§ 28. »Weltgeschichte« als praktizierte Selbstbefreiung
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droht, bis hin zur Verwendung des assoziationsreichen Herderschen Bildes von den verschiedenen historischen Epochen als den »Weltaltern« der Menschheit, hat Hegel auf die Differenz seines Fortschrittskonzeptes zu dem seiner geschichtsphilosophischen Vorläufer dennoch deutlich hingewiesen.* Insbesondere die verbreitete aufklärerische Fortschrittsidee, die Geschichte als Ausdruck der »Perfectibilität« aufzufassen, als Beleg für die »wirkliche Veränderungsfähigkeit« des Menschen »zum Besser[e]n. Vollkommener [e]n«, hat er mit dem Hinweis kritisiert, daß sie viel zu unbestimmt sei.’ Die maßgebliche Fortschrittsbehauptung seiner eigenen »Weltgeschichte«, daß sich im Laufe der verschiedenen historischen Epochen das Bewußtsein für die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung autonomen Urteilens und Handelns entwickelt habe, ist demgegenüber nicht nur insofern konkreter gefaßt, als sie ein dezidiertes »Princip der Entwicklung« benennt, sondern sie stellt damit vor allem klar, daß die Fortschrittsidee kein Selbstzweck ist.*’ Hegel erklärt ausdrücklich, daß es sich bei der »Weltgeschichte« gerade nicht um das »bloß Formelle des Entwickelns überhaupt« handelt, sondern um das »Hervorbringen eines Zwecks von bestimmtem Inhalte«, der von Anfang an als solcher festgehalten worden sei: »es ist der Geist[,] und zwar nach seinem Wesen, dem Begriffe der Freyheit.«" Die Fortschrittsgeschichte hat also nur deshalb einen Sinn, weil sie den Handelnden über sich selbst aufklärt, ihm seine Autonomie als wesentliche Bestimmung des Daseins aufschließt und so zur Freiheit verhilft. Der Ausgangspunkt der Hegelschen »Weltgeschichte« findet sich damit im Ansatz umschrieben. Der realgeschichtliche Nachweis für die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung autonomen Urteilens und Handelns, die Befreiung, die darin liegt, statt sittlicher Folgsamkeit oder moralischer Reflexion von Regeln die eigene Autonomie als wesentliche Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens zu wissen, ist als eigentliches Anliegen Hegels anzusehen. Indem er dieses Ziel verfolgt und die Geschehnisse von den historischen Anfängen der altorientalischen Reiche bis hin zur Französischen Revolution als Entwicklung eines entsprechenden Autonomiebewußtseins interpretiert, entkräftet er zugleich den Verdacht, nicht hinreichend zwischen Autonomie und Freiheit im Sinne persönlicher Integrität unterschieden zu haben. Seine maßgebliche Einsicht besteht darin, daß eine staatliche Ord* Voltaire: Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, public et annot^ par Dr. H. Raudnitzky, Leipzig 1928, S. lOf.; Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers, u. hrsg. v. E. Forsthoff, Bd. 1, Tübingen 1992 (2. Aufl., Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1951), S. 310-410; Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 408; Herder [1946]: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 41 Iff. ’Vgl. GW 18, S. 182. >" Ebd. " Ebd., S. 184 (Ergänzungen von mir, W. H.).
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V. Das Ende der »Weltgeschichte*
nung, welche das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen anerkennt und ihm die autonome Gestaltung seines Lebens gestattet, überhaupt nur möglich ist, wenn auch die Akteure selbst bereits entsprechende Formen der Selbstbestimmung kennen. Keinerlei Sympathie für den autoritären Staat verbirgt sich hinter seinen allgemeinen Bemerkungen, sondern die Einsicht, daß die Beurteilung von Verfassungsformen an die geschichtliche Rekonstruktion des jeweils entwickelten Autonomiebewußtseins gekoppelt sein muß. Aus diesem Grund ist nicht nur kein generelles Votum für eine bestimmte Staatsform möglich, sondern die geschichtliche Reflexion erweist sich zudem als alleiniger Bewertungsmaßstab der objektiv verwirklichten Autonomie des einzelnen. Daß sich jedes begründete Urteil über eine staatliche Verfassung nur vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entwicklung treffen läßt, ist aber auch das Siegel unter den Versuch, einen realgeschichtlichen Nachweis für die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung autonomen Urteilens und Handelns zu erbringen. Gerade weil Hegel in der Verfassungsentwicklung einen beständigen Fortschritt in der Bewußtwerdung der Autonomie des einzelnen ausmacht, gerade weil er ungeachtet der Rückschläge und Katastrophen eine Gesamtentwicklung zu rekonstruieren vermag, in deren Verlauf dem einzelnen ein immer größeres Maß an Selbstbestimmung eingeräumt wird, gelingt auch die >Theodizee der Freiheitc Da sich die »Weltgeschichte« als stringentes Autonomisierungsgeschehen erweist, da sie schließlich sogar eine staatliche Ordnung hervorbringt, deren Verfassung auf dem Prinzip der Anerkennung der Autonomie des einzelnen beruht, darf auch die Schlußfolgerung als geschichtlich gerechtfertigt gelten, daß selbstbestimmtes Urteilen und Handeln die Grundlage gemeinschaftlichen Lebens darstellt. Der Drang nach Autonomie erweist sich nicht nur als Triebkraft der Kontinuität im allgemeinen, sondern vor allem als Motor jener Fortschritte, die eine langfristige Verbesserung der Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft bewirkt haben. Die »Weltgeschichte«, die diesen Nachweis erbringt, ist wie bereits angedeutet zwischen den beiden Polen einer zunächst »formellen« und zuletzt dann verwirklichten, »reellen Freiheit« aufgespannt, deren erster die historische Ausgangssituation der altorientalischen Reiche und deren zweiter das geschichtliche Resultat der französischen Revolution ist. Das Fortschrittsmodell, das dieser Einteilung zugrunde liegt, ist ebenso einfach wie bestimmt. Es macht zur Voraussetzung, was sich als praktische Relevanz geschichtlichen Denkens ergeben hat - daß die geschichtliche Ausdeutung der Vergangenheit dem einzelnen zur Orientierung dient und damit zur Autonomie verhilft. Zu Beginn der »Weltgeschichte« jedoch haben die Akteure für diese geschichtliche Konstitution ihrer Autonomie noch kein Bewußt-
§ 28. »Weltgeschichte« als praktizierte Selbstbefreiung
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sein. Der »Geist« muß, wie Hegel formuliert, erst »zum Wissen dessen ... kommen ..., was er an sich ist.«'^ Im Ausgangszustand der »formellen Freiheit«, für den dieses fehlende Bewußtsein charakteristisch ist, gibt es daher nur »das Machen und Verwirklichen der Gesetze«, gibt es nur die staatliche Ordnung als solche, welche dem einzelnen eine Abschätzung der potentiellen Folgen seines Handelns zwar gestattet und insofern seine Autonomie garantiert, den Bereich seiner Selbstbestimmung jedoch darauf beschränkt, den Gesetzen bedingungslos Folge zu leisten, zu gehorchen.Als historisches Modell dieses Ausgangszustands betrachtet Hegel die despotisch verfaßten altorientalischen Reiche, in denen die Akteure die staatliche Garantie eines selbstbestimmten Lebens zunächst mit der Unterwerfung unter einen autokratischen Herrscher bezahlen müssen. Demgegenüber wird das >vorgesehene< Resultat der >weltgeschichtlichen< Entwicklung durch den Zustand der »reellen Freiheit« charakterisiert, also dadurch, daß die Akteure nicht mehr bloß über einen gesetzlich geschützten Handlungsspielraum verfügen, sondern auch wissen, daß Staat, Herrschaft und Gesetze allein um der Autonomie des einzelnen willen vorhanden sind. Erst durch dieses Bewußtsein erlangt der einzelne Freiheit nicht allein im Sinne eines bestimmten Handlungsspielraums, sondern auch einer umfassenden »Freiheit des Eigentums und Freiheit der Person«.Die Einsicht, daß die staatliche Ordnung nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz der Selbstbestimmungsrechte des Individuums da ist, impliziert zugleich, daß der einzelne an der Gestaltung dieser Ordnung Anteil nehmen und somit politisch partizipieren kann - ein Rechtsverständnis der Person, das Hegel mit den Verfassungsreformen der Französischen Revolution in die »Wirklichkeit« gekommen sieht. Diese beiden Pole der >weltgeschichtlichen< Entwicklung vorausgesetzt, lassen sich auch die Grundzüge der »Weltgeschichte« insgesamt nachvollziehen, deren Verständnis durch die Materialfülle der Hegelschen Betrachtungen erschwert zu werden scheint. Die Einteilung der »Weltgeschichte« in vier verschiedene Epochen folgt der These einer stufenweisen Entwicklung des Bewußtseins der eigenen Autonomie. Die »orientalische Welt«, die »griechische«, die »römische« und schließlich die »germanische Welt« verkörpern jeweils ein bestimmtes Stadium dieser Entwicklung. Unter der »orientalischen Welt« versteht Hegel dabei nicht nur die altorientalischen Ursprungsreiche im Zweistromland samt ihren Nachfolgern, sondern auch das chinesische Kaiserreich und Indien, schließlich Palästina und das pharaonische Ägypten. Obwohl diese Zusammenstellung aus heutiger Sicht allzu
'-Ebd.,S. 152. 'WPW 2,5.927. “Ebd.
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V. Das Ende der »Weltgeschichte'
summarisch und daher in der Tat eklektisch wirkt, vor allem aber Hegels Chronologie in vielerlei Hinsicht nicht zu halten ist, dürfte doch die unterstellte Entwicklung als solche nicht gänzlich an den Tatsachen Vorbeigehen. Demnach ist bereits für die Geschichte der genannten Reiche, der zunächst nur negative Selbstbestimmung impliziert, eine bestimmte Entwicklung charakteristisch, die einen begrenzten Autonomiezuwachs mit sich bringt. Während nämlich Hegel in den frühen despotischen Staaten die konkreten Handlungsmöglichkeiten des einzelnen ausschließlich an die willkürlich gewährten Garantien des Herrschers gebunden sieht, das Gesetz folglich mit dem subjektiven Willen des letzteren identisch ist, begreifen es bereits die Untertanen der persischen Großkönige als ihr Recht, vom Herrscher die Verbindlichkeit einer staatlichen Ordnung verlangen zu können.Die Fortschrittsentwicklung der »orientalischen Welt« ist folglich durch einen Zugewinn von Rechtssicherheit gekennzeichnet, der dem einzelnen gestattet, sich nicht mehr als bloßes Anhängsel des Patriarchen, sondern als Rechtssubjekt zu begreifen, dessen Anspruch auf eine staatlich garantierte »Sittlichkeit« sich nicht mehr übergehen läßt, ohne damit allgemeines Unheil anzustiften. Zu ihrem begrifflichen Abschluß kommt diese Entwicklung laut Hegel mit der jüdischen Gesetzesreligion, welche die Verbindlichkeit der staatlichen Ordnung zum Willen Gottes erklärt und durch das entsprechende religiöse Bekenntnis die »formelle Freiheit« rechtlich fixiert und sanktioniert.“ Wesentliche Fortschritte allerdings, die eine Entwicklung von der bloß »formellen« zur »reellen« Freiheit des einzelnen herbeiführen, vollziehen sich erst in der »griechischen« und »römischen Welt«, also im Zeitalter der klassischen Antike. So betrachtet Hegel die kurze Blütezeit Athens im fünften vorchristlichen Jahrhundert als Epoche, in der die staatliche »Verfassung« erstmals nicht mehr allein als Garantin einer allgemeinen Rechtssicherheit betrachtet wird, sondern auch die Autonomie des einzelnen selbst Verfassungsrang erhält. Das tradierte Recht wird nun explizit als Sitte oder auch als Brauch der Väter angesehen, den der einzelne nicht mehr bedingungslos wie im despotischen Staat als autoritär vorgegebenen Handlungsspielraum akzeptiert, sondern gegen den er auch seinen subjektiven Willen geltend macht.Im Gegensatz zum Selbstverständnis der nachrevolutionären Moderne freilich wird der Staat dabei noch nicht als Gesetzgeber wahrgenommen, der diese Autonomie eigens schützen und die politische Partizipation des einzelnen sicherstellen würde. Verfassungsrang hat Autonomie in
“Vgl.ebd.,S. 439fr. “ Ebd., S. 456f. " Ebd., S. 600.
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der athenischen Demokratie allein insofern, als der subjektive Wille derer, die nach demokratischen Abstimmungsmodi politische Entscheidungen herbeiführen, unmittelbar selbst die verfassungsmäßige Konstitution der Gemeinschaft herstellt.'* Recht ist demnach, was die Mehrheit umstandslos als Recht beschließt - und zwar ohne daß es etwa eine unabhängige Judikative geben würde, welche die Integrität des einzelnen im Zweifelsfall verteidigen würde. Diese unmittelbare Einheit des subjektiven Mehrheitswillens mit der staatlichen Verfassung ist es denn auch, deretwegen Hegel immer wieder gegen die Demokratie als Staatsform im erläuterten Sinne polemisiert. Kein autoritärer Vorbehalt gegen die Selbstbestimmung des einzelnen bildet den Auslöser seiner Kritik, sondern im Gegenteil die Einsicht, daß eine Demokratie wie die athenische das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen noch gar nicht ausreichend schützt und folglich eine »reelle Freiheit« noch gar nicht herstellt. Hier liegt auch der tiefere Grund dafür, daß Hegel die Absorption der griechischen Stadtstaaten durch das römische Imperium als >weltgeschichtlichen< Fortschritt zu feiern versteht. Im Gegensatz zur Polisdemokratie nämlich, deren Verfassung mit der Willenserklärung ihrer Bürger steht und fällt, findet sich das Rechtsverhältnis zwischen Akteuren und Staat in der römischen Republik in eine feste Form gebracht, begreift sich der einzelne erstmals als Rechtsperson, die im Rahmen der ihr verliehenen Rechte oder Privilegien Integrität für sich beanspruchen darf.“ Anders folglich als im despotischen Staat, in dem der Herrscher autokratisch über die Rechte seiner Untertanen entscheidet und ihnen lediglich die Verbindlichkeit überhaupt irgendeiner Ordnung schuldig ist, und auch anders als in der Polisdemokratie, in der die Integrität des einzelnen von der Anerkennung durch den Mehrheitswillen der Bürgerschaft abhängt, verfügt der römische Staat über eine unabhängige Verfassung, die durch subjektive Entschlüsse prinzipiell nicht mehr verändert oder außer Kraft gesetzt zu werden vermag. Der Staat wird als absolute Instanz begriffen, so daß andererseits auch der einzelne selbst Autonomie nur insoweit genießt, als diese verfassungsrechtlich eingeräumt und mit den Rechten anderer abgestimmt wird. Trotz dieses Fortschritts im Vergleich zur Verfassung der griechischen Stadtstaaten ist Hegel freilich weit davon entfernt, die Diskrepanz zwischen dem römischen Rechtsverständnis und dem modernen Begriff individueller Selbstbestimmung zu übersehen. Wenngleich der römische Bürger über ein verfassungsmäßig fixiertes Selbstbestimmungsrecht verfügt, so bedeutet dies doch
'"Vgl. ebd., S. 600f. 'Wgl. ebd.,S.605f. “Vgl. ebd., S. 662.
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V. Das Ende der »Weltgeschichte'
keineswegs, daß er sich selbst deshalb als freies Individuum im modernen Sinne begreifen beziehungsweise als solches wahrgenommen werden würde. Als Rechtsperson Autonomie zu genießen, heißt hier lediglich, als Träger bestimmter Rechte und Privilegien wahrgenommen zu werden, vor allem aber, sich selbst, de eigene Person, ausschließlich durch diese Rechte und Privilegien zu definieren. Daß sich der einzelne in einem modernen Sinne vom Staat als individuelle, unverwechselbare Persönlichkeit geschützt wissen würde, seine Anerkennung nicht auf bloßen Privilegien beruht, sondern grundsätzlicher Natur ist, daß zweitens auch seine Verantwortung vor sich selbst nicht beim Beharren auf eigenen Rechten und der Befolgung auferlegter Pflichten endet, sondern durch die Frage charakterisiert wird, ob das eigene Tun überhaupt im »vernünftigen« Selbstinteresse liegt - all diese Merkmale einer »reellen Freiheit« finden sich in der römischen Verfassung noch nicht verwirklicht. Das römische Rechtsverständnis bleibt in dieser Hinsicht, wie Hegel richtig bemerkt, abstrakt.^' Es behandelt den einzelnen zwar als autonome Rechtsperson, doch nur sofern er konkrete Rechte wie eine Art Eigentum besitzt und ebenso schematisch den Verpflichtungen nachkommt, die mit diesen Rechten verbunden sind. Hegel hebt daher deutlich hervor, daß die Idee der Freiheit, die Vorstellung, daß der einzelne nicht bloß kraft bestimmter, ihm verliehener Rechte autonom ist, sondern über die Fähigkeit verfügt, ein eigenes Selbstinteresse ganz unabhängig von seiner sozialen Rolle zu artikulieren, - daß diese Idee nicht römischer, sondern christlicher Natur ist. Erst mit der Christianisierung des römischen Reiches, der Bekehrung der westeuropäischen Völker und der daraus erwachsenden »germanischen Welt«, die statt als Verbreitungsgebiet der gotischen Stämme als Konglomerat der bereits im frühen Mittelalter christianisierten Völker zu verstehen sein dürfte, entstehen die Voraussetzungen für eine staatliche Verfassung, die den einzelnen statt als bloßen Träger fixierter Rechte als unverwechselbare Persönlichkeit auffaßt, welche um ihrer selbst willen rechtlichen Schutz und Anerkennung genießt. Nicht mehr die staatliche Ordnung als solche, verkörpert durch den Willen des Autokraten, den göttlichen Gesetzgeber oder die Verfassung selbst, wird als Zweck gemeinschaftlichen Lebens begriffen, sondern die Individualität des einzelnen, der frei darin ist, sein Leben im eigenen, »vernünftigen« Selbstinteresse zu gestalten. Widergespiegelt findet Hegel diese Einsicht vor allem in der christlichen Lehre von der göttlichen Trinität.Konstitutiv für das gemeinschaftliche Leben ist demnach zwar die Verbindlichkeit der »sittlichen« Ordnung selbst, die staatliche Sanktionierung der Gesetze, die dem Vgl. ebd., S. 672f. “Vgl.ebd.,S. 722f.
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in
einzelnen »formelle Freiheit« verschafft. Der als Schöpfer dieser Ordnung verstandene >Gottvater< jedoch ist nun selbst Mensch geworden, >Gottes SohnHeiligen Geist< zur Gemeinde. Erklärlich wird auf solche Weise, weshalb die Kirche in der christlich geprägten »germanischen Welt« als ebenso eigenständige wie staatstragende Institution an die Seite der weltlichen Regierung tritt. Während nämlich Exekutive und Religion in den vorchristlichen Staaten praktisch zusammenfallen, das einzig geforderte Bekenntnis jeweüs nur dasjenige ist, sich zur »sittlichen« Ordnung selbst zu bekennen, tritt die Kirche nun auch als Fürsprecherin des Glaubens gegen die christlichen Fürsten selbst auf, sucht also die Anerkennung des einzelnen als selbstbestimmter Persönlichkeit auch zum Maßstab exekutiven Handelns zu machen.” Ebenso, wie sie in dieser Hinsicht prinzipiell eine geistiiche Autorität für die weltlichen Herrscher darstellt, soweit sich diese über das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen hinwegzusetzen versuchen, besteht ihre Aufgabe darin, auch die Untertanen selbst auf ihre gegenseitige Anerkennung als selbstbestimmte Akteure zu verpflichten.” In dem Antagonismus zwischen Staat und Kirche sieht Hegel denn auch den wesentlichen Stoff der mittelalterlichen Geschichte, den Keim für alle Konflikte, aus denen schließlich die nachrevolutionäre, moderne Gesellschaft entsteht. Obwohl das Hegelsche Bild des Mittelalters dabei aus heutiger Sicht holzschnittartig und roh wirkt, in vielen Details überdies fehlgeht, ist doch die Hauptthese bedenkenswert: daß nämlich die mittelalterliche Kirche und der Feudalstaat deshalb korrumpieren mußten und so die revolutionären Umbrüche möglich wurden, weil beide Institutionen gleichsam mit dem Geburtsfehler auf die Welt gekommen sind, sich zu ihrem eigenen Anspruch der geistlichen beziehungsweise rechtlichen Gewährleistung der Autonomie in Widerspruch zu setzen.” Die Kirche vermochte paradoxerweise die gegenseitige Anerkennung der Gläubigen als autonome Menschen zunächst nur durch deren Bevormundung zu erreichen. Sie mißbrauchte damit letztlich das geistliche Monopol, das ihr zufiel, und verfiel am Ende sogar der Versuchung, ihr Gnadenwerk zu kom-
”Vgl. ebd..S. 747. ” Vgl. ebd., S. 744. ”Vgl.ebd.,S. 764.
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merzialisieren.“ Die regierenden Fürsten, so Hegel, hätten ihrerseits eine allgemeine Rechtssicherheit nur durch die Übertragung exekutiver Gewalt an Lehnsleute, Vasallen und schließlich durch die Vergabe von Feudalrechten erzielen können, so daß durch die faktische Privatisierung der exekutiven Rechtsbefugnisse, das vielfache Erfordernis gegenseitiger Rücksichtnahme, die unbedingte und allgemeine Geltung des Rechts an die persönliche Willkür der Herrschenden ausgeliefert worden sei.^^ Wenngleich die diesbezüglich einschlägigen Passagen zum Feudalwesen aus heutiger Sicht besonders oberflächlich erscheinen, veranschaulicht der skizzierte Konflikt doch immerhin die Bedeutung der beiden maßgeblichen Ereignisse, die laut Hegel zur Verwirklichung der »reellen Freiheit« des einzelnen geführt haben und so zur Grundlage der modernen Gesellschaft geworden sind: die Reformation und die französische Revolution. Beide Ereignisse leisten den entscheidenden Beitrag, um einerseits das religiöse Bekenntnis zur Autonomie des einzelnen sowie andererseits deren rechtliche Gewährleistung aus dem inneren Widerspruch zu befi'eien, den beides in seiner institutioneilen Vertretung durch Kirche und Staat erleidet. Die Reformation löst dabei den Widerspruch zwischen Glaubenslehre und geistlicher Bevormundung des einzelnen, indem sie das kirchliche Selbstverständnis korrigiert, die >Erlösung< des einzelnen, seine Anerkennung als autonomes Wesen, durch die Verkündigung der frohen Botschaft und die Gewährung der Sakramente gleichsam technisch herbeiführen zu können. In der Einsicht, daß sich die Anerkennung des >Nächsten< nur im Glauben jedes einzelnen Gemeindemitglieds selbst konstituieren kann, eine christliche Gemeinschaft der Freien nur möglich ist, wenn sich der einzelne selbst zu dieser Möglichkeit bekennt, - in dieser Einsicht erfährt auch das kirchliche Selbstverständnis als solches die Modifikation, primär einen institutioneilen Rahmen für die Versicherung der gegenseitigen Anerkennung zu schaffen.^* Dieser Wandel in der christlich religiösen Praxis bewirkt im folgenden eine entsprechende Entwicklung der staatlichen Verfassung selbst. Mit der Ausbildung der monarchischen Zentralgewalt im Absolutismus und der Ausrichtung exekutiven Handelns auf ein hypostasiertes Staatswohl im aufgeklärten Absolutismus sieht Hegel die Voraussetzungen geschaffen, die eine Beseitigung des Feudalwesens möglich machen.” Gerade indem sich der Souverän, wie Hegel ausführt, über die Tradition und durch Maßgabe eigener Staatsziele über alle partikularen Rechte hinwegsetzt, praktiziert er eine »Freiheit des Willens«, die er den Untertanen selbst zugleich vorenthält. Die“Vgl.ebd.,S. 829f. ^Wgl.ebd..S.812ff. ^*Vgl.ebd.,S. 878ff. ” Vgl. ebd., S. 864ff. sowie S. 917ff.
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ser »freie Wille« aber, das im exekutiven Handeln demonstrierte Bewußtsein, daß nicht die Konservierung der Tradition, eine »sittliche« oder speziell religiöse Domestikation die Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens garantiert, sondern das geschichtliche Denken desjenigen, der sein Leben aufgrund seiner Ausdeutung der Vergangenheit an einem bestimmten Erwartungshorizont zu orientieren versteht, - dieser autonome und im Bewußtsein seiner selbst »freie Wille« wird von den Revolutionären nun auch als legitime Grundlage für die Lebensgestaltung des einzelnen begriffen.^» Die Beseitigung feudaler Privilegien, die unbedingte Garantie allgemeiner Rechtssicherheit und Freiheit des Eigentums dienen vornehmlich dazu, dem einzelnen die »reelle Freiheit« einer Verwirklichung der selbstgesetzten Interessen einzuräumen. Er ist nicht mehr in dem bloß »formellen« Sinne frei, sich im System der staatlich auferlegten Pflichten und Zwänge einen gangbaren Weg zu suchen, sondern seine Fähigkeit, sich aus der Geschichte der gemeinsamen Lebensformen bestimmte Erwartungen zu bilden und danach zu handeln, wird als eigentliche Gewähr für die Kontinuität der jeweiligen Lebensformen nun auch staatlich anerkannt und geschützt. Daß freilich die Verankerung der Freiheit als Verfassungsprinzip die Konsequenz nach sich zieht, den einzelnen an der Gestaltung des Staatswesens nun auch politisch zu beteiligen, hat Hegel zeitlebens als historischen Irrtum der Revolutionäre angesehen und heftig verurteilt.’’ Sein demgegenüber immer wieder bekräftigtes Votum für eine konstitutionelle Monarchie hat gleichwohl nicht die Geringschätzung der Freiheit des einzelnen als Ursache, sondern die Besorgnis, daß ein gewähltes Parlament stets von einer destruktiven, in sich uneinigen Opposition und in der Konsequenz durch die kompromißlose Herrschaft einer Minderheit, kurz: durch eine Erosion der verfassungsrechtlichen Garantie der Freiheit selbst bedroht sei, - eine Befürchtung, für welche die Zerstrittenheit des Nationalkonvents und die daraus resultierende Terrorherrschaft der Jakobiner Pate gestanden hat.“ Daß es für die Plausibilität dieser Befürchtung auch prägnante zeitgeschichtliche Beispiele wie etwa die letzten Jahre der Weimarer Republik gibt, sollte zumindest ein Anlaß zur Vorsicht sein, Hegel umstandslos zum pauschalen Gegner bürgerlicher Selbstbestimmung zu stempeln, wenngleich sein Votum für die verfassungsrechtliche Begrenzung solcher Selbstbestimmung heute in der Tat nur noch sehr bedingt diskussionswürdig erscheinen wird. Unabhängig jedoch davon, ob man Hegel folgt und seine Skepsis gegen™Vgl. ebd.,S.921f. ” Vgl. ebd., S. 929f. “ Vgl. ebd., S. 932f.
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über der modernen, verfassungsgestützten Demokratie teilt oder nicht, wird die Intention deutlich, die sich hinter seinem Projekt der »Weltgeschichte« verbirgt. Indem er die >weltgeschichtliche< Entwicklung als Fortschrittsgeschichte skizziert, einen Prozeß der Selbstbewußtwerdung beschreibt, durch dessen Rekapitulation die »Vernunft«, das geschichtliche Denken als Grundlage gemeinschaftlichen Lebens begreiflich wird, versucht Hegel den realgeschichtlichen Nachweis für die gleichlautende Einsicht zu liefern. Die Erkenntnis, daß die geschichtliche Bewältigung der Vergangenheit dem Zweck dient, eine Option auf Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens zu >rechtfertigen< und so den einzelnen über die Möglichkeiten seines Handelns zu orientieren, - diese praktisch relevante Erkenntnis wird ergänzt um den realgeschichtlichen Nachweis, daß überhaupt nur autonomes Urteilen und Handeln jemals eine Fortdauer gemeinschaftlichen Lebens ermöglicht hat. Der geschichtliche Prozeß der Bewußtwerdung dieser Tatsache ist der Nachweis für die Behauptung: Wenn es einen realen geschichtlichen Fortschritt darin gibt, die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung der Autonomie gemeinschaftlich anzuerkennen, läßt sich dieselbe auch als solche begreifen. Ein entsprechender Beweis hat dabei nichts anderes zum Ziel als die Befreiung des einzelnen. Denn gerade indem er durch die »Weltgeschichte« begreift, daß nicht sittlicher Gehorsam oder eine moralische Subsumtion eigener Entscheidungen unter geltendes Recht langfristig eine Kontinuität gemeinschaftlichen Lebens stiftet, sondern die Autonomie, nach Maßgabe der eigenen Erwartungen zu handeln, wird er frei, selbständig über die Gestaltung seines Lebens zu entscheiden. Die »Weltgeschichte« erweist sich als historisch eingekleidete Selbstreflexion, welche im Bewußtsein der eigenen Autonomie gipfelt. Diese im wörtlichen Sinne befreiende Einsicht faßt Hegel in zwei Sätze, deren radikale Diktion geradezu die Polemik des späten Nietzsche gegen Tugend und Moral als vermeintlich konstitutive Elemente gemeinschaftlichen Lebens vorwegnimmt. Dort heißt es: »Der sich wollende Wille ist der Grund alles Rechts und aller Verpflichtung und damit aller Rechtsgesetze, Pflichtgebote und auferlegten Verbindlichkeiten. Die Freiheit des Willens selbst ... ist Prinzip alles Rechts, ist selbst absolutes, an und für sich ewiges Recht ...; sie ist sogar das, wodurch der Mensch Mensch wird, also das Grundprinzip des Geistes.«^^ Hegels Versuch, für dieses »Grundprinzip des Geistes« einen realgeschichtlichen Nachweis zu erbringen, ist nicht nur Grundlage seiner »Weltgeschichte«. Der Versuch macht zugleich auch all jene Seltsamkeiten der Konzeption dieser »Weltgeschichte« begreiflich, die insbesondere aus der Sicht der Fachvertreter als willkürlich selektive und konstruierte BehandEbd., S. 921 (Hervorhebungen von mir, W. H.).
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lung der historischen Überlieferung erschienen sind. Erklärlich wird so Hegels Vernachlässigung der Ur- und Frühgeschichte; Da nicht menschlichen Lebensformen in toto sein Interesse gilt, sondern der >sittiichen< Lebensverfassung im Staat, welche dem einzelnen erst ein klares Bewußtsein von seinen Handlungsmöglichkeiten verschafft, bleiben Vorstadien dieser Lebensverfassung ohne geschichtlichen Belang. Hegel sieht sogar die Existenz historischer Überlieferungen insgesamt mit der Existenz eines Staates zusammenfallen: Ohne das Bewußtsein einer gemeinschaftlichen Verfassung, so erkennt er, läßt sich auch die Bedeutung einzelner Geschehnisse oder Taten nicht bewerten, geschweige denn daß ein Interesse an ihrer Überlieferung bestünde.^'* Erklärlich wird zugleich auch der scheinbar bornierte Schematismus, mit dem Hegel die »Weltgeschichte« als »Stufengang der Entwicklung des Princips« darstellen zu können glaubt, »dessen Gehalt das Bewußtseyn der Freyheit ist«.’’ Den Vorwurf, historische Geschehnisse willkürlich selektiert und die eigene Geschichte nach Belieben auf sein Schema zurechtgeschnitten zu haben, hätte er dabei womöglich nicht ohne Belustigung aufgenommen. Wenn eines bis hierher deutlich geworden ist, so dies, daß Hegel nicht das utopische Ideal einer historischen Vollständigkeit vor Augen gehabt hat, sondern eine Entwicklung rekonstruieren wollte, die von vornherein als Genese einer einzigen begrifflichen Einsicht konzipiert war. Einem solchen Anspruch aber läßt sich mit dem Hinweis auf sachliche Fehler, Selektionen und Zurechstellungen nicht begegnen. Die Rekonstruktion einer bestimmten Entwicklung ist immer selektiv und damit immer auch tendenziös. Die hochgradige Allgemeinheit der Hegelschen Betrachtungen zur »Weltgeschichte« immunisiert sie in gewissem Maße gegen den Versuch einer allzu faktenbezogenen, empirischen Widerlegung, ohne daß sie freilich vollständig immun wäre. Sie fußt auf allgemeinem historischen Wissen, nicht auf Details. Obwohl sich die Vertreter der geschichtswissenschaftlichen Zunft über sachliche Mängel und das scheinbar Gewaltsame der Hegelschen Rekonstruktion mokiert haben, obwohl das fachliche Wissen über Hegels Kenntnisse unleugbar hinausgewachsen ist, sind doch selbst heute keine sachlichen Gründe erkennbar, die Hegels These grundsätzlich widerlegen würden. Die »Weltgeschichte« mag aus heutiger Sicht zahlreiche üngereimtheiten enthalten. Das Bild einer allgemeinen kulturellen Entwicklung, in deren Verlauf sich aus den patriarchalischen Frühkulturen moderne Staaten entwickelt haben, in denen der einzelne über ein volles Selbstbestimmungsrecht verfügt, - dieses Bild wird dadurch nicht unplausibel. Es dürfte im Gegenteil noch nicht einmal übertrieben sein, darin auch heute ’WgLGW 18, S. 186ff. ” Ebd., S. 185 (Rechtschreibung geringfügig modifiziert, Hervorhebung von mir, W. H.).
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noch einen der bestechendsten universalgeschichtlichen Entwürfe zu sehen, der jemals konzipiert worden ist. Der eigentliche Grund für die Skepsis gegenüber der Hegelschen »Weltgeschichte«, gegenüber dem Versuch, autonomes Denken und Handeln als Grundlage gemeinschaftlichen Lebens zu >rechtfertigenRechtfertigung< der Autonomie des einzelnen, welche naturgemäß gerade gegen eine heilsgeschichtliche oder ideologische Destruktion der individuellen Selbstbestimmung gerichtet ist. Daß eine solche >Rechtfertigung< oder »Theodizee« gleichwohl Mißtrauen erregt, könnte mit Gründen zu tun haben, die nicht in der Hegelschen Geschichtsphilosophie, sondern in einem gewandelten Selbstverständnis des einzelnen wurzeln: in seinem Bewußtsein nämlich, einer solchen »Theodizee« gar nicht mehr zu bedürfen, allzu deutlich der Reichweite und Bedeutung der eigenen Autonomie inne zu sein, als daß diese noch nach einer geschichtlichen >Rechtfertigung< verlangen würde. Wenn der Bedeutungsverlust der Geschichtsphilosophie, mit Marquard gesprochen, verschiedene »Schwundstufen« markiert, so könnte es sich dabei um einen Schwund des Interesses an philosophisch motivierter Geschichtsdeutung handeln.’*^ Für diese Vermutung Gründe zu nennen, ist Voraussetzung dafür, den eigentlichen Ertrag der Hegelschen Geschichtsphüosophie, ihren Nachweis, daß geschichtliches Denken und geschichtliche Bildung für die Emanzipation des einzelnen unabdingbar sind, abschließend um so deutlicher heraussteilen zu können.
§ 29. Der Abschied vom >weltgeschichtlich< fundierten Autonomiebewußtsein Der Abschied von der Geschichtsphilosophie macht, wie gelegentlich bereits mit ironischem Unterton bemerkt wird, den Eindruck einer ritualisierten Dauerveranstaltung.’^ Man beschränkt sich dabei nicht auf den Abschied Vgl. Marquard; Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 23ff. Vgl. dazu Stekeler-Weithofer: Der Abschied von der Großen Erzählung und Hegels Strukturgeschichte der Vernunft, S. 147f.; sowie Johannes Rohbeck: Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, in: DZPhil., 48. Jg., Hft. 1 (2000), S. 79f.
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von den Gedankengebäuden der klassischen Geschichtsphilosophie, deren metaphysische Anfänge unstrittig sind. Vielmehr werden auch die Möglichkeit einer tatsachengestützten Rekonstruktion der Vergangenheit und sogar die Geschichte als Phänomen des gemeinschaftlichen Lebens überhaupt immer wieder mit Nachdruck verabschiedet.’» Die Vielzahl der Nekrologe gibt Anlaß, nach dem verborgenen Grund für die Abkehr von der Geschichtsphilosophie zu fragen, wenn doch die Tatsache einer unausgesetzt stattfindenden Ausdeutung der Vergangenheit kaum in Frage stehen und folglich kaum bezweifelt werden wird, daß geschichtliche Praxis als Erscheinung auch des gegenwärtigen Lebens grundsätzlich philosophisch reflektiert werden kann. Es war denn auch früher ins Auge gefallen, daß die einschlägigen Verabschiedungen nicht wirklich auf die Beseitigung des Gegenstands der Geschichtsphilosophie zielen, sondern auf die Beseitigung der Fiktion einer absolut wahren GeschichtsdeMtwng, ja daß gerade der geargwöhnte Anspruch, ein interpretatives Monopol über die Bewertung der historischen Vergangenheit gewinnen zu wollen, die Zielscheibe der Vorbehalte gegen die klassische Geschichtsphilosophie abgibt.’’ Selbst noch der Versuch, Geschichte zu einer narrativen Organisation nach Belieben ausgewählter Versatzstücke der Historie zurechtzustutzen, ja sogar das von den selbsterklärten Postmodernisten ausgerufene Ende der Geschichte selbst, sind als Versuch anzusehen, dem Anspruch auf eine letztgültige Deutung der Historie einen Riegel vorzuschieben."“ War diese Kritik jedoch zunächst als rezeptionsgeschichtliche Vorwitzigkeit erschienen, so wird nunmehr ersichtlich, daß es die Diktion der Hegelschen Überlegungen selbst ist, welche wesentlich zu diesem Mißverständnis geführt und dem Werk als solchen unnötige Gegnerschaft eingetragen hat. Noch mehr, es wird deutlich, daß die Kritiker, indem sie das autonome Urteil des einzelnen gegen die Vereinnahmung durch eine vermeintlich doktrinäre Geschichtsideologie zu schützen suchen, bis zu einem bestimmten Grade selbst von Hegelscher Warte aus argumentieren. Indem sie die Autonomie des einzelnen verteidigen, stützen sie jene Einsicht in die geschichtliche Konstitution autonomen Denkens und Handelns, die Hegel selbst als das Resultat der »Weltgeschichte« ausgegeben hatte. Was sie paradoxerweise gegen die Geschichtsphilosophie in Schutz nehmen, ist eben das Ergebnis dieser Geschichtsphilosophie. Eine solche Auseinandersetzung jedoch, die letztlich mit Hegelschen Intentionen gegen vermutete Hegelsche Positionen
’* Vgl. repräsentativ White; Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart, S. 123ff. Sowie Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 74f. ”Vgl.§§ 2-4. Zum Konzept des Narrativismus vgl. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte, S. 304ff.
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geführt wird, konnte nur deshalb entstehen, weil Hegels Versuch, für die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung der Autonomie auch einen realgeschichtlichen Nachweis zu erbringen, über keinerlei praktisches Erfordernis mehr zu verfügen scheint. Weshalb, so möchte man fragen, sollte ein Geschichtsphilosoph heutzutage den Versuch machen, das Autonomiebewußtsein des einzelnen als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung zu präsentieren, wenn sich doch dieses Bewußtsein prinzipiell vollkommen selbst genug ist? Weshalb sollte man eine geschichtliche Evidenz dafür schaffen wollen, daß autonomes Denken und Handeln gemeinschaftskonstitutiv ist, wenn doch die entsprechende gegenseitige Anerkennung im modernen Staat längst Verfassungsrang besitzt? Statt daß es zur reflexiven Vertiefung des eigenen Autonomiebewußtseins führen würde, kassiert das geschichtsphilosophische Bemühen um die Deutung der Realgeschichte genau jenen Vorwurf, der gegen Hegels Geschichtsphilosophie erhoben worden ist: daß sie nämlich die Grundlagen der Autonomie nicht herausarbeitet und im Bewußtsein des einzelnen befestigt, sondern durch eine Geschichtsdeutung untergräbt, die individuelle Orientierung scheinbar durch historische Allwissenheit überflüssig machen soll. Gegenüber solcher Skepsis hilft nur ein Blick auf die politische Situation nach dem Ende der Revolutionszeit, um zu verstehen, weshalb Hegel die Befestigung seiner begrifflichen Überlegungen durch eine Geschichtsdeutung nicht allein als möglich, sondern sogar als dringend geboten erschienen sein wird. Der begriffliche Kern seiner Geschichtsphilosophie war nicht ohne politische Brisanz; »Theodizee« als >Rechtfertigung< der »Vernunft« brachte sich selbst in Misskredit: Das positive Votum für die Autonomie und die daraus resultierende Befürwortung von Freiheit des Eigentums und der Person - all das war gerade einmal zehn Jahre nach dem Ende der preußischen Reformen keineswegs gesellschaftliches Allgemeingut, das philosophisch nur noch hätte reflektiert zu werden brauchen. Im Gegenteil, noch nicht einmal die aus heutiger Sicht konservativ, ja reaktionär erscheinenden Vorstellungen Hegels über das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen waren im preußischen Staat seiner Zeit verwirklicht. Zwar hatte man - vornehmlich im staatlichen Selbstinteresse - bürgerliche Rechtsgleichheit zugelassen. Die ökonomische Ungleichheit der Ständegesellschaft jedoch bestand weiterhin, und der beträchtliche Widerstand der feudalen Opposition hatte den Ausbau bürgerlicher Freiheiten längst zum Erliegen gebracht. Auch diese Situation gilt es zu berücksichtigen, wenn man nach den Gründen fragt, die Hegel zur Untermauerung seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen durch die »Weltgeschichte« bewogen haben dürften. Obschon man seine Bewunderung für den preußischen Staat gewiß nicht unterschätzen wird, ebensowenig seine Ambitionen, sich allzeit als treuer Staatsdiener zu emp-
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fehlen, ebenso dürfte es doch auch in der Absicht seiner »Weltgeschichte« gelegen haben, die realen Verbesserungen in den preußischen Verhältnissen durch deren Einbettung in das Fortschrittskonzept der »Weltgeschichte« geschickt zu sanktionieren. Die Würdigung eines realen Fortschritts durfte zugleich als Warnung davor verstanden werden, hinter diesen Fortschritt zurückzufallen. Der Versuch, für die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung autonomen Denkens und Handelns einen realgeschichtlichen Nachweis zu erbringen, mochte durchaus in einer Zeit als probates Mittel erscheinen, in der diese Einsicht noch nicht als gefestigt, geschweige denn als klare verfassungsrechtliche Grundlage des Staates gelten konnte. Genau dieser Ansatz, geschichtliche Evidenz für eine begriffliche Einsicht zu schaffen, ist es, der die Rezeption der »Weltgeschichte« heute verleidet. Nicht der Glaube, auf die geistige Vorbereitung totalitären Denkens in einer philosophischen Spezialdisziplin reagieren zu müssen, hat de facto zum Reigen der Verabschiedungen von der Geschichtsphilosophie geführt, sondern viel eher das Bewußtsein für die schwindende Relevanz ihrer Interpretationen. Darin dürfte auch die Debatte um das Ende der Geschichte selbst ihren Ursprung haben. So sehr durch einschlägige Arbeiten wie die von Alexandre Koj^ve und Fukuyama der irreführende Eindruck entstanden sein mag, es dabei mit einem realen Ereignis zu tun zu haben, mit einem historischen Faktum, das wie durch äußeren Anstoß einen Wandel in der Art der Selbstorientierung des autonomen Menschen bewirkt, so hat diese These unter bestimmten Voraussetzungen doch ihre Berechtigung.^' Sie gewinnt an Plausibilität, wenn man mit dem Titel des Endes sinnvollerweise nicht die geschichtliche Ausdeutung der Vergangenheit als ganze, sondern lediglich die geschichtliche Reflexion auf die verschiedenen möglichen Stellungen des einzelnen in der Gemeinschaft überschreibt. In diesem Sinne nämlich markiert die Hegelsche »Weltgeschichte« tatsächlich insofern ein Ende, als sie zum vorläufigen geschichtlichen Resultat einen Zustand erklärt, in welchem sich der einzelne den maximalen Spielraum erstritten hat, den er als >vernunftbegabtes< Wesen innerhalb der Gemeinschaft ausfüllen kann. Mehr vermag er in bezug auf diese Bestimmung nicht zu erreichen, als daß er als autonome Person anerkannt und geschützt wird, folglich die Freiheit eingeräumt bekommt, selbständig über die Gestaltung seines Lebens zu entscheiden. Mehr vermag ihm insofern auch eine Geschichte nicht über ihn selbst, über die Möglichkeiten seines Daseins mitzuteilen, als daß sie ihm die entsprechende Form gemeinschaftlichen Lebens als Modell vor Augen führt.
Vgl. Alexandre Koj^ve: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. I. Fetscher, Mit einem Anhang; Hegel, Marx und das Christentum, Frankfurt 1975, S. 133; sowie Fukuyama: Das Ende der Geschichte, S. 25ff.
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das der Entwicklung seiner »vernünftigen« Disposition bisher am meisten entgegenkommt. Damit aber wird zugleich nicht minder klar, weshalb eine solche Geschichtsdeutung einem ebenso kontinuierlichen wie unaufhaltsamen Bedeutungsverlust unterliegen mußte. Denn gerade weil die »Weltgeschichte« eine Entwicklung schildert, deren postulierte Bedeutung dem Bürger eines modernen, demokratisch verfaßten Staates bereits vertraut ist und angemessen erscheint, ohne daß er sich dafür mit der Hegelschen Geschichtsdeutung eigens würde beschäftigen müssen, wird ihm auch der Versuch unerheblich erscheinen, die als selbstverständlich unterstellten Selbstbestimmungsrechte des einzelnen geschichtlich legitimiert wissen zu wollen. Geschichte ist für ihn gar nicht mehr insofern von Interesse, als sie ihm die Möglichkeit einer freien Lebensführung als besondere Errungenschaft noch eigens erschließen müßte. Wie Reinhart Klemens Maurer deutlich erkannt hat, ist es genau dieser Umstand, welcher der Motivation der philosophischen Geschichtsdeutung mit dem Anbruch der nachrevolutionären Moderne den Boden unter den Füßen entzieht. Es gibt schlechterdings keine Geschichte mehr, die dem einzelnen ein grundsätzlich neues Selbstverständnis eröffnen, gleichsam einen Entwicklungssprung sichtbar machen würde, der das Verhältnis der einzelnen Person zu sich selbst in einem neuen Licht erscheinen ließe.''^ Das »weltgeschichtliche« Resultat, das Hegel konstatiert hatte, bleibt vielmehr unverändert: die staatliche Garantie der Autonomie des einzelnen, seine Anerkennung als selbstbestimmte Person, gilt mehr denn je als unangefochtener Maßstab für die >vernunftgemäße< »Verfassung« des gemeinschaftlichen Lebens. Die geschichtliche Entwicklung der nachrevolutionären Moderne hat in dieser Hinsicht nichts Neues eingebracht; es läßt sich kein Fortschritt verzeichnen, der mit jenen vergleichbar wäre, die Hegel in seiner »Weltgeschichte« beschreibt. So ist es denn auch gemeint, daß die Geschichte vom Typ einer Hegelschen »Weltgeschichte« an ein - zumindest vorläufiges - Ende gekommen ist. Die Geschichte der nachrevolutionären Moderne vermittelt kein Bildungserlebnis mehr, durch das der einzelne über grundsätzlich neue Möglichkeiten ins Bild gesetzt werden würde, die in seiner »vernünftigen« Bestimmung beschlossen liegen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Statt eines substantiellen Fortschritts läßt sich die Entwicklung der christlich geprägten »Welt« seit der französischen Revolution als Versuch begreifen, das Errungene überhaupt nur zu bewahren, das Recht auf individuelle Selbstbestimmung als Maßstab der Gestaltung gemeinschaftlichen Lebens gegen nationalstaatlichen Imperialismus, gegen den Terrorismus Vgl. Reinhart Klemens Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte, Freiburg/München 1980 (2.Aufl.),S. 182ff.
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totalitärer Regime und schließlich auch gegen das Selbstinteresse industrieller und technologischer Komplexe zu verteidigen. Dies hilft auch begreiflich zu machen, weshalb es beim Relevanzverlust der Hegelschen »Weltgeschichte« nicht geblieben ist, weshalb ihr provokanter Titel der »Theodizee« vielmehr offene Antipathien hervorgerufen hat. Nicht nur verblaßt Hegels Fortschrittsgeschichte vor den Katastrophen der letzten beiden Jahrhunderte, ändert die geschichtliche >Rechtfertigung< des Prinzips der Freiheit nichts daran, daß dieses Prinzip oft genug mit Füßen getreten worden ist und seine Verteidigung ungeheure Opfer erfordert hat. Vielmehr hat sich auch der Titel der »Theodizee« selbst überholt, soweit er zur Charakterisierung einer geschichtlichen Fortschrittsentwicklung verwendet wird. Gerade weil die nachrevolutionäre Geschichte keine weitere Stufe der Selbsterkenntnis darstellt, welche dem einzelnen neue Möglichkeiten »vernünftig« verfaßten Daseins erschlossen hätte, gerade weil der von Hegel konstatierte Fortschritt im Bewußtsein der eigenen Autonomie tatsächlich in der Moderne sein Ende findet, gibt es auch keinen geschichtlichen Bildungsgewinn, der die erlittenen »Übel« als erforderlichen Tribut irgendeines Fortschritts erscheinen lassen würde. Die großen Katastrophen der Moderne, allen voran der Holocaust, werden nicht anders wahrgenommen denn als sinnlose Verbrechen an der Menschheit, als sinnloser Einwurf nicht nur gegen das Prinzip der Selbstbestimmung, sondern gegen überhaupt jede Form der Sittlichkeit. Eine geschichtliche Post-hoc-Erklärung, die den niederschmetternden Eindruck dieser Geschehnisse im nachhinein durch deren Einbettung in eine insgesamt fortschrittliche Entwicklung zu mildern verstünde, ist nicht in Sicht. Beide Tatsachen, die Irrelevanz der »Weltgeschichte« für die Selbstlegitimierung der Moderne ebenso wie ihr nicht mehr kontinuierbares Fortschrittskonzept, bilden die Grundlage für das angespannte Verhältnis der Gegenwart zu Hegels Werk. Zugleich wird deutlich, weshalb die moderne Geschichtsschreibung gegen Hegel ein ausgeprägtes Ressentiment entwickelt und auf der Suche nach den Vätern einer pragmatischen Selbstrechtfertigung statt bei seiner Geschichtsphilosophie eher bei dem Geschichtskonzept eines Droysen oder eines Jacob Burckhardt Anlehnung gesucht hat. Weil sich die nachrevolutionäre Moderne nur noch als Epoche der Bewahrung des einmal Errungenen zu bewerten vermag, ist auch ein Wechsel in der Wahl des geschichtlichen Themas selbst folgerichtig, tritt an die Stelle der Geschichte über die Selbstbewußtwerdung des »Geistes« die Diagnose seiner Agonien und seines Scheiterns, ist kaum eine andere geschichtliche Diktion möglich als jene, die bestenfalls das »Offenhalten des Geistes für jede Größe« signalisiert."3 Hegels Anspruch einer >weltgeBurckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 248. Vgl. zur entsprechenden Bewer-
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schichtlichen< Darstellung der Genese von Freiheit findet sich damit reduziert auf die »resignative Freiheit« einer gleichsam »,pathologischen< Geschichtsschreibung«.^“ Obwohl jedoch aus diesem Grund zuletzt das Fazit berechtigt erscheint, daß man der Hegelschen »Weltgeschichte« für die geschichtliche Ausdeutung der eigenen Gegenwart kaum noch Relevanz wird zubilligen können, darf der eigentliche Ertrag der Hegelschen Überlegungen nicht übersehen werden. Es war das zentrale Anliegen der vorliegenden Untersuchung, diesen Ertrag von neuem ans Licht zu holen und gegen die Verstellungen der Rezeptionsgeschichte zu zeigen, daß zwar die heutigen Schwierigkeiten mit der - Hegelschen - Geschichtsphilosophie wesentlich aus den Vorbehalten gegen ihr philosophisch motiviertes Konzept der Geschichtsschreibung resultieren, nicht jedoch die begrifflichen Überlegungen entwerten können, zu deren Verdeutlichung die »Weltgeschichte« erdacht gewesen ist. Hegels Versuch, einen realgeschichtlichen Nachweis dafür zu erbringen, daß allein Autonomie die Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens darstellt, sein Versuch, eine »Versöhnung« des Denkens mit sich selbst zustandezubringen, welche auf der geschichtlichen Bewußtwerdung dieser Einsicht beruht, dieser gleichsam aus der Zeit gefallene Versuch darf nicht den Blick dafür verstellen, daß dem realgeschichtlichen Unternehmen als solchem ein allgemeiner Begriff geschichtlichen Denkens zugrundeliegt. Durch den pragmatischen Bedeutungsverlust der realgeschichtlich fundierten »Theodizee« wird Hegels Geschichtsphilosophie nicht insgesamt ad absurdum geführt, sondern auf die begriffliche Einsicht reduziert, welche durch die »Weltgeschichte« lediglich zu Bewußtsein gebracht werden soll. Gültig bleibt Hegels Einsicht in das geschichtliche Denken als Grundlage aller Selbstbestimmung. Gültig bleibt seine Erkenntnis, daß Geschichte eine Selbstvergewisserung über die eigenen Handlungsmöglichkeiten und damit in einem empraktischen Sinne »Theodizee« anstrebt: Der einzelne, der geschichtlich reflektiert, wie er aufgrund der vergangenen Geschehnisse oder sogar trotz dieser Geschehnisse im eigenen Interesse zu handeln vermag, setzt seine »Vernunft« in ihr Recht, >rechtfertigt< die Möglichkeit einer fortdauernden »vernünftigen« Lebensgestaltung gegen die »Übel« der Vergangenheit, gegen alle Ansätze zur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Auch ohne ihre >weltgeschichtliche< Selbstexplikation ist daher Geschichte, soweit sie im Bewußtsein ihrer praktischen Relevanz betrieben wird, immer eine >Theodizee der Freiheiu. Auch ohne daß die gemeinschaftskonstitutive Bedeutung geschichtlitung Droysens die Beurteilung von Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969, S. 90f. ^ Eckhart Heftrich: Hegel und Jacob Burckhardt. Zur Krisis des geschichtlichen Bewußtseins, Frankfurt 1967, S. 31.
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eben Denkens in >weltgeschichtlicher< Manier bewiesen werden würde, läßt sich mit Hegel zeigen, daß geschichtliche Praxis den maßgeblichen Beitrag zur Emanzipation des einzelnen leistet, ja daß sie den Kern aller geisteswissenschaftlichen Bildung ausmacht, deren Ziel darin besteht, dem einzelnen selbständige Orientierung und damit eine selbständige Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen. Dieser Begriff der praktischen Relevanz geschichtlichen Denkens ist es, der nach dem Ende der »Weltgeschichte« als Ertrag der Hegelschen Geschichtsphilosophie übrigbleibt. Wie gut die einschlägigen Geisteswissenschaften - insbesondere die Geschichtswissenschaft selbst - daran tun, an diesem Begriff festzuhalten, zeigt abschließend ein Ausblick auf die Versuche der Geschichtswissenschaft, ihn zu substituieren. Ihr Fall darf als exemplarisch für die Tatsache gelten, daß die Geisteswissenschaften, wo immer sie hinter Hegels Geschichtsbegriff zurückfallen, ihrerseits das Risiko eines pragmatischen Bedeutungsverlustes auf sich nehmen. Begreifen sich die professionellen Vertreter der geschichtlichen Praxis nicht mehr als Gewährsleute einer >Theodizee der Freiheit