Hegels Idee der Freiheit 9783846767795, 9783770567799, 377056779X

Was versteht der große Philosoph der Freiheit, Hegel, unter dem Begriff, der seinen Untersuchungen zugrunde liegt? Ist H

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Hegels Idee der Freiheit

Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

Hegel Forum Studien Herausgegeben von Francesca Iannelli Alain Patrick Olivier Michael Quante Wissenschaftlicher Beirat Catherine Malabou Dean Moyar Taiju Okochi Horacio Martín Sisto

Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

Mostafa Samizadeh

Hegels Idee der Freiheit

Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN: 2698-7864 ISBN 978-3-7705-6779-9 (hardback) ISBN 978-3-8467-6779-5 (e-book)

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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Ausblick über die heutige Freiheitsdebatte und ihre Relevanz . . . . . . VIII Richtungen in der Interpretation von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xVII Bemerkungen über die Grundthesen sowie den methodischen Aufbau der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxvii 1 Hegels Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Hegels Polemik gegen die politische Philosophie seiner Zeit . . . . 2 1.2 Hegels Doppelsatz im Licht seiner Ideenlehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2 Hegels System der Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Das Ziel des philosophischen Denkens in Hegels System der Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.2 Denken als der erste Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . 25 2.3 Hegels metaphysisches Unternehmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4 Hegels Untersuchung der Denkkategorien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.5 Die Frage nach der Wahrheit der Denkbestimmungen . . . . . . . . . 43 2.6 Mit welcher Kategorie muss die Untersuchung der Denkbestimmungen beginnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.7 Begriff und Methode als die Grundlagen der Erkenntnis der Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.7.1 Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.7.2 Die ontologische Ähnlichkeit zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.7.3 Die Anwendung der dialektischen Methode in den Grundlinien bei der Suche nach der „Idee der Freiheit“ . . . . 64 3 Der Begriff des freien Willens und das Recht als Pfeiler der Idee der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1 Recht als Wirklichkeit oder Objektivität der Freiheit . . . . . . . . . . . 69 3.2 Die notwendigen Bedingungen eines freien Willens  . . . . . . . . . . . 77 3.3 Zwei Vorstellungen von einem freien Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.4 Die Hegel’sche Konzeption des freien Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.5 Rechtsverhältnisse als Bedingungen eines freien Handelns . . . . . 104 3.6 Logik des Argumentationsgangs in den Grundlinien  . . . . . . . . . . . 109 3.7 Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhalt

4 Persönlichkeit als die erste Form der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.1 Persönlichkeit und Willkür als anfängliche Begriffe der Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.2 Rechte des abstrakten Willens der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.2.1 Eigentumsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.2.2 Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3 Unrecht als ein Widerspruch im System der Freiheit . . . . . . . . . . . 131 4.4 Hegels Theorie der Strafe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.5 Zusammenfassung und Übergang zur Moralität . . . . . . . . . . . . . . . 139 5 Moralisches Handeln als nächster Schritt der Befreiung  . . . . . . . . . . . 143 5.1 Subjektivität und Selbstbestimmung als die nächste Form der Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.2 Rechte des subjektiven Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.2.1 Vorsatz und Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.2.2 Absicht und subjektive Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.2.3 Notrecht als der zweite Widerspruch im System der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.3 Das moralisch Gute als die Lösung des Widerspruchs . . . . . . . . . . 166 5.4 Das abstrakte Gute und der Übergang zur Sittlichkeit  . . . . . . . . . . 176 6 Sittlichkeit als Kontext der sozialen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.1 Sittlichkeit als Reich der Einheit der konkreten allgemeinen Pflichten mit dem Recht auf subjektive Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.2 Sphären der Freiheit in der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6.2.1 Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.2.2 Die bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.2.3 Der Staat als Reich der konkreten Freiheit des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

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Einleitung Es ist unbestritten, dass für Hegel kein Ziel für das menschliche Leben höher und erstrebenswerter ist als das Ziel der Freiheit. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie drückt er diese Auffassung ganz deutlich aus: „Indem der Mensch sucht nach diesem und jenem Zweck, wie er die Welt, die Geschichte beurteilen soll, was soll er da zum letzten Zweck machen? Aber für den Willen ist kein anderer Zweck als der aus ihm selbst geschöpfte, der Zweck seiner Freiheit. Es ist ein großer Fortschritt, dass dies Prinzip aufgestellt ist, dass die Freiheit die letzte Angel ist, auf der der Mensch sich dreht, diese letzte Spitze, die sich durch nichts imponieren lässt, so dass der Mensch nichts, keine Autorität gelten lässt, insofern es gegen seine Freiheit geht.“1 Alle anderen Werte sind dem Wert der Freiheit untergeordnet. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den Begriff und die Bedeutung der Freiheit bei dem späteren Hegel2 in seiner Abhandlung über die Idee der Freiheit, d. h. in seinen Grundlinien zu untersuchen. Die Schwierigkeit unserer Untersuchung ist zweierlei: Zum einen haben wir es mit einem Denksystem zu tun, dessen Komplexität jedem bei Betrachtung der Thematik sofort bewusst wird; zum anderen ist der Begriff der Freiheit selbst ein nicht sehr einfach zu verstehender Begriff, der Hegels Auffassung nach mit „größten Missverständnisse(n)“ verbunden ist: „Über keine Idee weiß man es so allgemein, dass sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Missverständnisse fähig und ihnen deswegen wirklich unterworfen ist als [über] die Idee der Freiheit, und keine ist mit so wenigem Bewusstsein geläufig.“ (Enz  §  482 Anm.) Man könnte meinen, dass der Freiheitsbegriff eigentlich jedem klar erscheint, und dass jeder sich in der Lage glaubt, dessen Bedeutung zu kennen. Für Hegel ist dies jedoch nicht der Fall. Schon ein kurzer Blick auf die lange Liste der Theorien zur Freiheit macht deutlich, dass Hegels Aussage stimmt.3 Unsere Aufgabe wird nun also darin bestehen, in einem ohnehin schon gefährlichen Wald das wildeste Tier zu jagen.

1 Siehe VGPh, Bd. 3, S. 367. 2 Für eine Untersuchung des Freiheitsbegriffs in Hegels Jenaer Schriften siehe Siep, Ludwig (1992): Der Freiheitsbegriff der praktischen Philosophie beim Jenaer Hegel, in: ders. Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 159–171. 3 Für eine Liste verschiedener Vorstellungen von beispielsweise Freiheit als Autonomie siehe Dworkin, Gerald (1998): The Theory and Practice of Autonomy, S. 5 f.

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Einleitung

Ausblick über die heutige Freiheitsdebatte und ihre Relevanz

In einem klassischen Aufsatz hat Isaiah Berlin durch seine Unterscheidung zwischen zwei Begriffen von Freiheit – negative und positive – versucht, unser Verständnis der Freiheit zu vertiefen. Das erste Verständnis des Begriffs kann unter der Kategorie „negative Freiheit“ diskutiert werden. Diese Konzeption der Freiheit wird üblicherweise als „Freiheit von“4 bezeichnet. In diesem Sinne bin ich frei, wenn es keine Eingriffe in die Handlungen, deren Tun ich mir wünsche, bestehen, oder wenn ich ohne äußerliche Hindernisse meinen Willen ausüben kann. „Von“ weist in dieser Formulierung auf äußerliche Hindernisse hin. Also bin ich frei in dem negativen Sinne, wenn ich meinen Willen ohne irgendeine Intervention von äußerlichen Faktoren auszuüben in der Lage bin. Diese Bedeutung von Freiheit kommt exemplarisch bei Hobbes zum Ausdruck: „A free man is he that in those things which by his strength and wit he is able to do, is not hindered to do what he has a will to.“5 Wie dieser Definition zu entnehmen ist, besteht Freiheit für Hobbes darin, durch äußere Eingriffe nicht gehindert zu werden. Die Frage, ob das Individuum überhaupt andere Optionen zur Verfügung hat, steht für ihn nicht im Vordergrund.6 Sofern ich bei meiner Entscheidung keine anderen Möglichkeiten habe, handelt es sich für ihn nicht um eine Unfreiheit. Wichtig ist nur, dass ich in der Durchführung dieser bestimmten Entscheidung nicht äußerlich gehindert werde.7 Wenn man etwas wirklich tun will und äußerlich gehindert wird, dann wird die Freiheit beschränkt. Man ist frei, wenn man die Option, die man wirklich verfolgt – und nicht andere mögliche Optionen –, verwirklichen kann, was impliziert, dass die Beschränkung anderer Optionen, die wir nicht präferieren, für Hobbes kein Fall von Unfreiheit ist. Kurz gesagt sind wir laut Hobbes frei, wenn wir körperlich nicht an der Ausübung unseres Willens gehindert werden. Berlin als ein anderer Verteidiger negativer Freiheit8 grenzt jedoch seine Konzeption der Freiheit von Hobbes’ Verständnis ab: Freiheit im negativen 4 „liberty in this sense means liberty from“. Berlin, Isaiah (2005): Liberty. Hardy, Henry (Hrsg.), S. 174. 5 Hobbes, Thomas (1994): Leviathan. E.  Curley (Hrsg.), Indianapolis: Hackett, Kapitel.  21.2. Ebenso Kapitel 14.2., S. 79: „By Liberty, is understood, according to the proper signification of the word, the absence of external impediments.“ 6 Themen wie Willensschwäche (wie in Harry Frankfurts Beispiel eines Drogenabhängigen in Freedom of the Will and the Concept of a Person), welche in manchen Theorien als Schranke der Freiheit angesehen werden, sind für Hobbes Instanzen der Freiheit, solange keine äußerlichen Hindernisse für die Befriedigung der Triebe bestehen. 7 Näher siehe Skinner, Quentin (1998): Liberty before Liberalism, S. 6 ff. 8 Für Berlin ist Freiheit im eigentlichen Sinne negativ: „The fundamental sense of freedom is freedom from chains, from imprisonment, from enslavement by others. The rest is extension

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Sinne besteht für ihn nicht ausschließlich in der Abwesenheit der Hindernisse gegen die Befriedigung der Triebe,9 sondern in der Abwesenheit der Hindernisse für unsere möglichen Optionen. Nach Berlin scheitert Hobbes’ Konzeption der Freiheit aus dem folgenden Grund: Wenn ich zwischen zwei Optionen im Zweifel bin und vermute, dass Option A äußerlich gehindert werden kann, entscheide ich mich für Option B, die keinen Widerstand von außen erfährt; deswegen gibt es kein Hindernis für die Verfolgung dieser Option, und ich bin laut Hobbes frei. Für Berlin ist das aber kein Fall der Freiheit, weil wir uns tatsächlich diesem Zustand angepasst haben. Ich wäre auch in dem Fall noch frei, wenn ich meine Triebe nicht befriedigen, sondern sogar unterdrücken würde.10 Für Berlin besteht Freiheit vielmehr in der Möglichkeit der offenen Optionen: „The sense of freedom in which I use this term entails not simply the absence of frustration (which may be obtained by killing desires), but the absence of obstacles to possible choices and activities – absence of obstructions on roads along which a man can decide to walk. Such freedom ultimately depends not on whether I wish to walk at all, or how far, but on how many doors are open, how open they are, upon their relative importance in my life, even though it may be impossible literally to measure this in any quantitative fashion. The extent of my social or political freedom consists in the absence of obstacles not merely to my actual, but to my potential, choices – to my acting in this or that way if I choose to do so.“11 Ich bin also frei, wenn in keine meiner Optionen eingegriffen würde, wenn ich mich für eine entschiede. of this sense, or else metaphor. To strive to be free is to seek to remove obstacles; to struggle for personal freedom is to seek to curb interference, exploitation, enslavement by men whose ends are theirs, not one’s own.“ Berlin, Two Concepts of Liberty, a.a.O., S. 48. Für eine Kritik von Berlins impliziter Gleichsetzung von positiven Freiheitstheorien und Totalitarismus siehe Geuss, Raymond (1995): Freedom as an Ideal, S. 87–100. 9 Freiheit besteht für Berlin, Grays Auffassung nach, weder in „ungehemmter Bewegung“ (unimpeded motion) wie bei Hobbes noch in „gehinderter Verfolgung unserer Wünsche“ wie bei Bentham; vielmehr sind wir nach Berlin frei, wenn unsere Optionen oder Möglichkeiten nicht durch andere gehemmt werden. Näher siehe Gray, John (1996): Isaiah Berlin, S. 15. 10 „If degrees of freedom were a function of the satisfaction of desires, I could increase freedom as effectively by eliminating desires as by satisfying them: I could render men (including myself) free by conditioning them into losing the original desires which I have decided not to satisfy.“ Berlin, a.a.O., S. 31. Siehe auch Pettit, Philip (2011): The Instability of Freedom as Noninterference: The Case of Isaiah Berlin, S. 693–716. 11 Berlin, a.a.O., S. 32. Larmores Auffassung nach meint Berlin mit dem Ausdruck „Hindernis“ in seiner negativen Konzeption der Freiheit nicht dasjenige, welches die Befriedigung meiner Triebe verhindert, sondern eigentlich die Hindernisse, die meine potenziellen Möglichkeiten beschränken. Siehe Larmore, Charles (2008): The Autonomy of Morality, S. 171.

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Einleitung

Es gibt noch eine dritte Richtung in den Diskussionen über Freiheit im negativen Sinne, die Philip Pettit aufnimmt. Wir sind Pettits Auffassung nach in einem negativen Sinne frei, solange wir durch die anderen nicht beherrscht werden. Diese republikanische Idee der Freiheit, gemäß der Freiheit im „NichtBeherrschtsein“ (non-domination) bestehe, ist seiner Ansicht nach eine vollständigere Konzeption der negativen Freiheit,12 und zwar aus dem folgenden Grund: Für Berlin sind wir frei, solange unsere möglichen Optionen nicht durch die anderen beschränkt werden. Solange nur die Möglichkeit der Einschränkung besteht, wir aber nicht tatsächlich beschränkt werden, können wir uns als frei bezeichnen. Sogar unter der Herrschaft eines Diktators sind wir laut Berlin frei, solange jener sich entscheidet, unsere Optionen nicht zu beschränken,13 denn für Berlin zählt nur das als eine Beschränkung unserer Freiheit, was wirklich unsere Optionen beschränkt, und Pettit findet genau diesen Gedanken problematisch: Der Tyrann kann sich laut Pettit jederzeit entscheiden, nicht mehr den Untertanen gegenüber gelassen zu sein. Aus diesem Grund ist Freiheit für Pettit nur dann garantiert, wenn Eingriffe weder wirklich noch möglich sind, eine Aufgabe, die die gerechten Gesetze übernehmen, die uns vor Beherrschungsverhältnissen schützen und uns die Möglichkeit geben, unserer eigenen Konzeption eines guten Lebens nachzugehen. Pettit wendet Berlins Argument gegen Hobbes gegen ihn selbst: Wie es im Fall von Hobbes absurd ist, von Freiheit zu reden, wenn man sich einem Zustand anpassen kann, so kann man auch in Berlins Fall durch „Einschmeicheln“ die eigenen Optionen offenhalten, sofern man vermutet, dass jemand ansonsten in die eigenen Optionen eingreifen würde. Solange überhaupt die Möglichkeit der Beherrschung besteht und wir dem Willen eines Mächtigeren ausgesetzt sind, kann laut Pettit nicht von Freiheit die Rede sein.14 12

Pettit nennt die drei negativen, „äußerlichen“ Konzeptionen von Freiheit als 1) nicht enttäuscht werden (non-frustration), 2) nicht gestört werden (non-interference) und 3) nicht beherrscht werden (non-domination), unter denen er die dritte Vorstellung am plausibelsten findet. Siehe Pettit, a.a.O., S. 694. 13 Insoweit dieser Diktator seinen Untertanen die Möglichkeit gibt, ihren Wünschen nachzugehen, sind die Individuen frei: „[…] so it is perfectly conceivable that a liberal-minded despot would allow his subjects a large measure of personal freedom.“ Berlin, Liberty, S. 176. 14 Jede Form der Abhängigkeit von einem anderen Willen ist für Pettit unvereinbar mit Freiheit: „The upshot of this discussion is that insofar as I have the resources to interfere without cost in a choice of yours – insofar as I have the power and knowledge required – your ability to make the choice is dependent on my will as to what you should do, and you are in that sense subject to my will. To the extent that I have a power of interfering without cost in your choice, I count as dominating you; I am in a position associated iconically with a master or dominus. And so the endorsement of the anti-ingratiation assumption,

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Gemäß Charles Larmore können die Unterschiede zwischen diesen beiden Positionen so zum Ausdruck gebracht werden: Zum einen kann man beherrscht werden, ohne dass tatsächlich eingegriffen wird – wie im Fall eines Diktators. Die bloße Möglichkeit der Eingriffe ist für Pettit aber ein Fall von Unfreiheit, weil wir immer von der Gnade eines Mächtigeren abhängen. Zum anderen ist nicht jeder Eingriff für Pettit – im Gegensatz zu Berlin – Beherrschung oder Unfreiheit. Gerechte Gesetze, die uns vor der Willkür anderer schützen, sind eigentlich keine Beschränkung der Freiheit, sondern notwendig für ebendiese.15 Die negative Konzeption der Freiheit ist aber nicht unproblematisch. Eine klassische Kritik bringt Charles Taylor zum Ausdruck.16 Zwar stimmt er Berlin in seiner Unterscheidung zweier Konzepte der Freiheit zu17 und findet die Idee der negativen Freiheit auch sinnvoll, denn durch diese Vorstellung stehe der zentrale Gedanke der Selbständigkeit der Personen im Mittelpunkt der politischen Theorie, wodurch die Notwendigkeit der Einsicht entstehe, dass jedes Individuum in der Lage sei, sein eigenes Leben zu gestalten.  Er findet aber gleichzeitig den Gedanken problematisch, die Freiheit auf diesen Sinn zu beschränken und eine solche Konzeption für selbständig zu halten ist. Außerdem hält er Berlins eingeschränkte Definition von positiven Theorien der Freiheit für problematisch, weil diese Theorien damit auf die Karikatur einer „forced-to-be-free“-Einstellung reduziert würden, worin eine höhere Autorität oder ein Kollektiv allen Individuen ein bestimmtes Ziel auferlege.18 Laut Taylor ist zum einen das Bestehen auf Unabhängigkeit von äußeren Hindernissen und die Möglichkeit, sich in der eigenen Art und Weise and of the argument in which it figures, leads to replacing the conception of freedom as noninterference with the conception of freedom as nondomination. The price that has to be paid for denying that ingratiation is a possible means of liberation is to take freedom to require nondomination.“ Pettit, a.a.O., S. 704–708. In einem anderen Werk sagt er, solange die Möglichkeit der Beherrschung bestehe, aber keiner wirklich in meine Freiheit eingreife, hätte ich meine Freiheit meinem Glück zu verdanken: „But even if you escape ill-treatment, you can only congratulate yourself on your good fortune, not on your freedom.“ Siehe Pettit, Philip (2014): Just freedom: A Moral Compass for a Complex World, S. 9. Siehe auch Pettit, Philip (1997): Republicanism: A Theory of Freedom and Government, S. 5. 15 Für Berlin hingegen fängt unsere Freiheit erst da an, wo die Gesetze aufhören: „Every law seems to me to curtail some liberty, although it may be a means to increasing another.“ Berlin, Liberty, S. 41. Näher siehe Larmore, Charles (2001): A Critique of Philip Pettit’s Republicanism. S. 229–243. 16 Taylor, Charles (2006): What’s Wrong with Negative Liberty, in: David Miller (Hrsg.): The Liberty Reader, S. 141–162. 17 Taylor, ebd., S. 141. 18 Taylor, ebd., S. 142. Zu Berlins Bezeichnung positiver Freiheit: „What, or who, is the source of control or interference that can determine someone to do, or be, this rather than that?“ Berlin, Liberty, S. 169.

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Einleitung

bestimmen zu können, ein  unzureichendes Bild unserer Freiheit. Die Einfachheit dieser Konzeption erscheine zwar als Vorteil, weil Freiheit nur in der Abwesenheit äußerlicher Hindernisse bestehe und man frei sei, sofern man seinen Trieben und Wünschen nachgehen könne. Diese Einfachheit ist aber laut Taylor gleichzeitig eine Schwäche dieser Theorie. In unserer Vorstellung von Freiheit bin ich nicht frei, wenn jeder beliebige Trieb befriedigt wird; vielmehr sind manche Triebe oder Wünsche wichtiger für mich. Ich bin frei, wenn manche Wünsche unbefriedigt bleiben, d. h. meine Freiheit fordert eine innerliche Unterscheidung zwischen meinen Motivationen. Es geht tatsächlich darum, selbst den Willen zu bestimmen und ihn nicht einfach bestimmt sein zu lassen.19 Manche Triebe sehe ich als Hindernisse zu den Prinzipien, Zielen oder Wünschen, die für mich wichtiger sind, andere hindern mich daran, das zu sein, was ich wirklich sein möchte. In diesem Sinne kann man neben äußerlichen auch von innerlichen Hindernissen reden, weil das Bild, das ich von mir selbst habe, fordert, dass meine Triebe in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Es geht nicht ausschließlich um quantitative Befriedigung meiner Triebe, sondern wichtiger ist die Qualität dieser Wünsche und Triebe für mich.20 Wir sind also frei, wenn wir in einem positiven Sinne unser Leben selbst bestimmen.21 Zum anderen zeichnet Berlin, Taylors Auffassung nach, eine Karikatur der positiven Freiheit, gemäß der ich zur Freiheit gezwungen werden darf (forced-to-be-free). Jedes Individuum, so Taylor, ist selbst in der Lage, diese

19 Diese Willensbestimmung wird natürlich für verschiedene Theoretiker Unterschiedliches bedeuten. In seiner prägnanten Diskussion über die verschiedenen Vorstellungen von Freiheit (negative Freiheit, positive Freiheit – was er reflexive Freiheit nennt – und soziale Freiheit als Bezeichnung von Hegels Position) unterscheidet Honneth den von Rousseau überlieferten Begriff positiver Freiheit in zwei Richtungen: 1) positive Freiheit als Autonomie im Sinne von Kants Selbstgesetzgebung durch Vernunft und 2) positive Freiheit als Selbstverwirklichung (so die Frühromantiker, besonders Herder), d. h. Freiheit als „Artikulation echter oder authentischer Wünsche“. Siehe Honneth, Axel (2013): Das Recht der Freiheit: Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, S. 62 ff. In einer anderen Unterscheidung der positiven Konzeption von Freiheit unterteilt Geuss diese Konzeption in fünf Gruppen, und zwar Freiheit als 1) Autonomie, 2) Selbstbeherrschung, 3) Macht, 4) Authentizität und 5) Selbstverwirklichung, siehe Geuss, Raymond, a.a.O. 20 Oder es geht, mit Christman gesprochen, bei einer (positiven) Freiheitstheorie nicht nur um Hindernisse für unsere Möglichkeiten, sondern um die Qualität unserer Handlungen. Christman, John (2005): Saving Positive Freedom, S. 79–88. 21 Charles Taylor, a.a.O., S. 149: „I want to argue that we cannot defend a view of freedom which doesn’t involve at least some qualitative discrimination as to motive, i.e. which doesn’t put some restrictions on motivations among the necessary conditions of freedom, and hence which could rule out second-guessing in principle.“

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innere Unterscheidung zwischen den Motivationen und Wünschen durchzuführen.22 Positive Freiheit bedeutet nicht, dass ich ohne Reflexionen die Normen der Gesellschaft verfolge oder durch eine höhere Autorität gezwungen werde. Meine positive Freiheit kommt vielmehr dadurch zum Ausdruck, dass ich anhand bestimmter Kriterien alle Handlungsmöglichkeiten innerlich bewerten kann. Die negative Freiheit wird normalerweise mit liberalen politischen Philosophien verbunden. Laut diesen Theorien, bei denen Freiheit im negativen Sinne verstanden wird, geht es im Kontext der Politik darum, den Individuen den Raum zu ermöglichen, in dem sie ihren freien Willen oder ihr eigenes Bild von einem guten Leben ohne Intervention anderer verwirklichen können. Das Individuum wird darüber hinaus innerhalb dieser Theorien in einem Naturzustand vorgestellt, wobei deutlich gemacht wird, unter welchen Bedingungen, mit welchen Mitteln und in welchem Ordnungsrahmen diese Konzeption der Freiheit erfolgreich zur Wirklichkeit werden kann. Es bleibt in diesem freien Raum natürlich dem Individuum überlassen, wie es seinen Willen bestimmt.23 Für die Liberalen ist es entscheidend, die Grenzen zu bestimmen, die die anderen Individuen und Organisationen, besonders der Staat, nicht überschreiten dürfen, um in meinen Bereich zu intervenieren.24 Erstens ist aber darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung der Freiheitstheorien nach diesem Muster nicht vollständig haltbar ist, weil mehrere Theorien verschiedene Grade beider Verständnisse von Freiheit in sich integrieren. Eine solche Vorstellung von Freiheit findet sich beispielsweise bei einigen liberalen Theoretikern, u. a. bei John Stuart Mill. In seiner Theorie weist Mill auf die Signifikanz der positiven Freiheit und auf die Nicht-Unterscheidbarkeit eines positiven Sinnes der negativen Freiheit hin. Für Mill besteht die Freiheit nicht ausschließlich in reiner Selbständigkeit und zudem sei die Reflexion über unsere Wünsche und Triebe unentbehrlich für menschliche Freiheit. Für ihn sind wir frei, wenn wir einen „Charakter“ haben, in dem Sinne, dass unsere Triebe und Wünsche in unserem Besitz und unter Kontrolle unseres Willens stehen, ansonsten sind wir einfach „Dampfmaschinen“.25 Was im Zentrum 22 23

Taylor, ebd., S. 148. Berlin, ebd., S.  169: „What is the area within which the subject – a person or group of persons – is or should be left to do or be what he is able to do or be, without interference by other persons?“ Vgl. Allen Wood (1990): Hegel’s Ethical Thought, S. 36. 24 Als Beispiel einer liberalen Theorie, die auf dieser Konzeption beruht, siehe Nozick, Robert (1990): Anarchy, state, and utopia. 25 Siehe Mill, John Stuart (1991): On Liberty: A Defence. Grey, John (Hrsg.), S. 67: „A person whose desires and impulses are his own – are the expression of his own nature, as it has been developed and modified by his own culture – is said to have a character. One whose

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dieses Gedankens steht, ist der Wert, den er auf die Forderung des Charakters legt, der die Befriedigung eines bloß beliebigen Triebes als Freiheit ausschließt. Es ist diese Version der reflexiven Freiheit, welche ihn laut Onora O’Neill der Tradition der „rational autonomy“ zuordnet und ihn von den Theoretikern der Freiheit als „mere choosing“ oder „mere independence“ unterscheidet.26 Hier lässt sich schon eine Ähnlichkeit mit dem positiven Sinne von Freiheit erkennen. Es gibt verschiedene Strömungen, welche sich als positive Freiheitstheorien bezeichnen. Allerdings gibt es, abgesehen von den Unterschieden, einen Punkt, in dem sich alle diese Theorien einig sind, und zwar die Notwendigkeit einer innerlichen Reflexion der Willensinhalte. In allen diesen Theorien geht es um die Notwendigkeit eines Rahmens oder von Kriterien, welche den Bereich der möglichen Inhalte für den Willen bestimmen. Die Freiheit besteht laut diesen Theorien nicht darin, den Willen in jeder beliebigen Weise zu bestimmen; vielmehr kann nur dann von Freiheit die Rede sein, wenn das Subjekt nach bestimmten Kriterien aus seinen Möglichkeiten auswählt. Zweitens ist es klar, dass der positive Sinn im Wesentlichen die Möglichkeit der Freiheit in einem negativen Sinn als Freiheit von äußerlichen Hindernissen nicht ausschließt. Der positive Sinn von Freiheit integriert die negative Konzeption in sich in dem Sinne, dass die wahre Freiheit neben einer innerlichen Reflexion zustande kommen sollte. In diesem Licht kann man sagen, dass Berlins Unterscheidung von verschiedenen Bedeutungen von Freiheit als selbständige Theorien nicht haltbar ist, und beide Bedeutungen eigentlich als Bestandteile einer einheitlichen Theorie von Freiheit betrachtet werden müssen. Das ist der Grund, warum viele Theorien nicht ohne Weiteres einer einzigen Konzeption zugeordnet werden können. In diesem Sinne kann man die positive Freiheit als eine Erweiterung der negativen Freiheit betrachten, welche impliziert, dass wir frei sind, wenn sowohl äußerliche als auch innerliche Hindernisse zur Freiheit beseitigt werden. In der Tat kann eine Theorie der Freiheit nur dann vollständig sein, wenn in ihr Elemente beider Bedeutungen von Freiheit kombiniert sind. Es ist sowohl die „Freiheit von“ als auch die „Freiheit zu“ etwas, welche unser Verständnis von menschlicher Freiheit sinnvoll machen.

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desires and impulses are not his own, has no character, no more than a steam-engine has character.“ Siehe O’Neill, Onora (2015): Autonomy: The Emperor’s New Clothes, in: Constructing Authorities: Reason, Politics and Interpretation in Kant’s Philosophy, S. 103–120, wo sie Mills Vorstellung von Freiheit als rationale Autonomie bezeichnet, eine Position, die ihrer Ansicht nach gleichzeitig sowohl von Freiheit als reiner Selbständigkeit von äußerlichen Hindernissen als auch von der kantischen moralischen Konzeption der Autonomie zu unterscheiden ist.

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In diesem Zusammenhang muss Gerald C. MacCallum genannt werden, der anders als Berlin von Freiheit in dieser komplexeren Form redet. Diese zwei Bedeutungen können seiner Ansicht nach, keine selbständigen Theorien, sondern nur zwei Seiten einer Theorie bilden, und wenn man nur die eine Seite als fundamental hervorhebt, vernachlässigt man die andere Seite der Freiheit. Wenn wir, so MacCallum, von verschiedenen Theorien der Freiheit reden, geht es in der Tat nicht um verschiedene Typen von Freiheit, wie negative oder positive, sondern um Antworten auf drei Variablen. Für ihn ist eine vollständige Theorie der Freiheit immer 1) die Freiheit eines Akteurs, 2) von bestimmten Hindernissen, 3) zu etwas; es kann deswegen von Freiheit in der „triadic relation“ dieser Elemente gesprochen werden.27 Jede Theorie der Freiheit muss explizit oder implizit diese drei Fragen beantworten, und wie diese drei Elemente bestimmt werden, unterscheidet jede Theorie von den anderen.28 Wenn wir nun Hegels Theorie der Freiheit in diesem Licht betrachten, werden uns auf den ersten Blick die folgenden Punkte ersichtlich:29 1) Akteur: Hegel geht es in den Grundlinien30 um die Untersuchung der Bedingungen, unter denen die Einzelnen in der Gesellschaft frei sein können. Es wird ihm zu Unrecht vorgeworfen, dass seine Sittlichkeitstheorie das Kollektiv vor das Individuum setze und deswegen die Freiheit der Individuen sekundär erscheine oder sogar unterdrückt werde. Im Laufe der Untersuchung wird 27

„Whenever the freedom of some agent or agents is in question, it is always freedom from some constraint or restriction on, interference with, or barrier to doing, not doing, becoming, or not becoming something. Such freedom is thus always of something (an agent or agents), from something, to do, not do, become, or not become something; it is a triadic relation.“ MacCallum, Negative and Positive Freedom, in: David Miller (Hrsg.): The Liberty Reader, S. 100–122. 28 Ebd., S. 106–108. Berlin weist in einer Fußnote MacCallums Gedanken, nach dem Freiheit sowohl positiv als auch negativ ist, zurück: „This seems to me an error. A man struggling against his chains or a people against enslavement need not consciously aim at any definite further state. A man need not know how he will use his freedom; he just wants to remove the yoke. So do classes and nation.“ Berlin, Liberty, S. 36. MacCallums Idee bleibt dennoch plausibel, denn er könnte auf Berlins Einwand erwidern, dass die Menschen in diesem Kampf gleichzeitig ein positives Bild vor Augen haben; d. h. sie wollen ihr Leben von der Sklaverei hin zur Freiheit verändern. Dieser Kampf selbst ist eine Instanz der triadic Freiheit. 29 Für eine ausführlichere Diskussion, vgl. unten, Kapitel 4. 30 Im Folgenden wird Hegels Philosophie des Rechts – seine Grundlinien der Philosophie des Rechts – abkürzend mit „PR“ und der Angabe der jeweiligen Paragraphenzahl (§) oder der Seite (S.) bezeichnet. Mit noch einem „A“ nach der Ziffer wird auf die Anmerkungen zu den Paragraphen hingewiesen; mit „RN“ referiere ich auf Hegels handschriftliche Randnotizen, mit „Z“ auf die mündlichen Zusätze zu den jeweiligen Paragraphen. Aus Hegels Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, „Enz“, wird auf die gleiche Weise zitiert.

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diese Vorstellung als nicht haltbar abgelehnt. Hier reicht es, nur darauf einen Hinweis zu geben, dass Hegel in den drei Kapiteln seines Werks die Freiheit der Person, des Subjekts und endlich des Citoyens in den Vordergrund seiner Theorie stellt und nach Möglichkeitsbedingungen der Freiheit solcher Akteure sucht. Nirgendwo redet er von der Freiheit einer Gruppe von Individuen in dem Sinne, dass die Zielsetzung usw. durch das Kollektiv oder die Gruppe geleistet werden sollte. Die Tatsache, dass das sittliche oder gesellschaftliche Leben notwendige Bedingung der Freiheit ist, besteht darin, dass das Individuum, laut Hegels Theorie, nur durch diese Art des Lebens mit bestimmten objektiven Bedingungen die wahre Freiheit erreicht, und das impliziert keinesfalls die Unterdrückung der individuellen Freiheit. Nur die Erläuterung der Bedingungen der Freiheit selbständiger Individuen, welche eigene Wünsche und Ziele haben, ist Hegels Ziel in den Grundlinien. 2) Das „Freiheit von“-Element: Das erste Element eines freien Willens besteht Hegels Auffassung nach in der Fähigkeit, sich von jedem Inhalt abstrahieren zu können. In Berlins Unterscheidung sind wir im negativen Sinne frei, wenn unser Wille durch keine äußerlichen Faktoren bzw. durch keine außer uns stehenden Inhalte (mögen es andere Individuen oder der Staat sein) bestimmt wird. Außerdem sind wir, in dem anderen, positiven Sinn frei, wenn wir von bestimmten sowohl äußeren als auch inneren Inhalten frei sind. Was den beiden Sinnen zugrunde liegt, ist der „frei von“-Aspekt der Freiheit. Hegel sieht ebenfalls das erste Elemente der Freiheit in der Fähigkeit des Nichtbestimmt-Seins durch irgendeinen Inhalt: „Der Wille enthält a) das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst ist; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.“ (PR § 5) Ein Unterschied besteht eindeutig darin, wie diesem Zitat zu entnehmen ist, dass Hegel die Fähigkeit der Abstraktion von jedem Inhalt hervorhebt, während die anderen Theorien von manchen oder bestimmten Inhalten reden. 3) Das „Freiheit zu“-Element: Für Hegel hat eine Freiheitstheorie ein weiteres Element, und zwar das Element der positiven Bestimmung. Wir sollten gleichzeitig bestimmen, welche Willensinhalte zur Freiheit führen. Es geht hier um die Bestimmung derjenigen Inhalte, durch welche wir frei sein können. Nicht jeder beliebige Inhalt, der in mir oder aus irgendeiner Quelle bestimmt wird, kann Inhalt eines freien Willens sein: „ß) Ebenso ist Ich das Übergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands.“ (PR § 6) Der Wille ist ohne diesen positiven Inhalt für Hegel eigentlich kein Wille: „Das Ich

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geht hier aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, zum Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstandes über. Ich will nicht bloß, sondern ich will etwas. Ein Wille, der, wie im vorigen Paragraphen auseinandergesetzt ist, nur das abstrakt Allgemeine will, will nichts und ist deswegen kein Wille.“ (PR  § 6 Z) Wie diese Inhalte der Freiheit zu bestimmen sind, ist genau das Thema der Grundlinien. Bei jeder Theorie geht es neben der Reflexion über Hindernisse nicht zuletzt darum, zu bestimmen, durch welche Willensinhalte wir frei sein können. Beispielsweise besteht für Kant Freiheit in den Inhalten eines autonomen Willens, der den moralischen Gesetzen gemäß handelt.31 Hegel versucht ebenfalls in einem positiven Sinne, natürlich auf seine besondere methodische Weise, jene Willensinhalte zu bestimmen, die unserer Freiheit Ausdruck verleihen.

Richtungen in der Interpretation von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts

Die hier vertretene Lesart der Grundlinien ist metaphysisch geprägt, und sie geht davon aus, dass Hegels Grundlinien als Teil seines philosophischen Systems im Rahmen seiner Metaphysik zu lesen sind, was impliziert, dass seine Wissenschaft der Logik sowie die aus dieser gewonnenen begrifflichen und methodischen Einsichten die Grundlage der Grundlinien ausmachen. Diese These wird in den nächsten Kapiteln ausführlicher behandelt. Bereits hier gilt es jedoch einen kurzen Hinweis darauf zu geben, in welchem Sinne die hier vertretene Lesart metaphysisch ist. Hierzu gehen wir in einem ersten Schritt auf den Stand der Literatur ein32 und kommen anschließend zu der hier vertretenen Lesart der Grundlinien: Die Interpretationen der Grundlinien lassen sich allgemein in zwei Gruppen einteilen: metaphysische und nicht-metaphysische Lesarten. Ganz grob gesprochen sind die Anhänger der metaphysischen Lesart der Auffassung, die Grundlinien seien im Lichte von Hegels metaphysischem System zu lesen, während die Anhänger der nicht metaphysischen Lesart die Überzeugung 31

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Bei Hegel wird die Aufgabe der Bestimmung der Inhalte außerdem nicht, wie bei Frankfurt, einem höheren Wunsch überlassen: Für Frankfurt geht es um einen zweistufigen Wunsch, der die Bestimmung unserer Wünsche erster Stufe zu übernehmen hat. Siehe Frankfurt, Harry (1971): Freedom of the Will and the Concept of a Person, S. 5–20: „It is in securing the conformity of his will to his second-order volitions, then, that a person exercises freedom of the will.“ Mit der Literatur sind hier nur die Texte gemeint, die für die vorliegende Arbeit von Relevanz sind und Hegels Grundlinien als eine Abhandlung über Freiheit interpretieren.

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vertreten, dieses Werk sei ohne Bezug auf seine Metaphysik als ein selbständiges Werk zu verstehen. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die nicht-metaphysische Lesart.33 Frederick Neuhouser versucht in seinem Werk Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom die Grundlinien mit Bezug auf die Idee der „Selbstbestimmung“ zu verstehen. Es geht hier, seiner Auffassung nach, um die Verdeutlichung der normativen Grundlagen von Hegels Argument für die Bedingungen, unter denen wir uns frei bestimmen, und diese Selbstbestimmung erfolgreich in die Wirklichkeit umsetzen.34 Hegel fängt, so Neuhouser, mit dem Begriff der persönlichen Freiheit an, was sich im nächsten Schritt in der vollständigeren Form der moralischen Freiheit zum Ausdruck bringt. Im dritten Schritt dieser „Hierarchie“ erreichen wir die Idee der sozialen Freiheit, welche die Elemente der anderen zwei Figuren in einer komplexeren und umfassenderen Sichtweise in sich integriert und dann die letzte Station der Idee eines sich selbst bestimmenden Willens bezeichnet. In diesem letzten Modell hat Freiheit zwei Seiten: erstens Freiheit im subjektiven Sinne: d. h. die Individuen haben die Überzeugung, dass ihre Freiheit in der Sittlichkeit wirklich wird; und zweitens im objektiven Sinne, d. h., dass die Gesetze 33

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Wood vertritt die Auffassung, Hegels Metaphysik sei obsolet und das, was von seinem System ergiebig sei, sei nur seine praktische Philosophie. Aus diesem Grund versucht Wood dieses Werk ohne Bezug auf Hegels Metaphysik zu lesen. Siehe Wood, Allen (1990): Hegel’s Ethical Thought, S. 5, obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass Hegel die Krise der modernen Gesellschaft durch eine tiefliegende philosophische Vernunft zu lösen versucht (ebd. S. 7). Dennoch findet Wood es unhaltbar, Hegels Grundlinien mit Hilfe seiner Metaphysik zu interpretieren, weil er dessen Metaphysik hauptsächlich theologisch versteht und die Verwirklichung dieser philosophischen Vernunft mit der „Arbeit der göttlichen Providenz“ in der Welt gleichsetzt, was er einem modernen Leser für unzumutbar erachtet (ebd., S. 8). Was Wood davon abhält, trotz seiner Kenntnis der Bedeutung von Hegels Logik für dessen ganzes System und für die Grundlinien im Besonderen, deren Rolle in seiner Lesart anzuerkennen, ist sein einseitiges Bild von Hegels Metaphysik in dem Sinne, dass die metaphysische Lesart zu dem unhaltbaren Ergebnis der Akzeptanz der göttlichen Vorsehung in der Geschichte führe. Im Gegensatz zu diesem traditionellen Verständnis der Hegel’schen Metaphysik gibt es eine andere Interpretationsvariante, in der Hegels System als eine immenente Metaphysik, nämlich als die Untersuchung der grundlegenden ontologischen Struktur der Welt verstanden wird, ein Verständnis, das auch für die vorliegende Arbeit prägend ist. Für eine sehr gute Klassifizierung verschiedener Interpretationsversuche von Hegels Metaphysik siehe Kreines, James (2006): Hegel’s Metaphysics: Changing the Debate, S. 466–480. Er unterscheidet seine Untersuchung von einem rein deskriptiven Unternehmen, in dem die Details von den sittlichen Institutionen und Normen diskutiert werden. Er möchte vielmehr die Natur der normativen Kriterien, die Hegel für die Rechtfertigung der vernünftigen Notwendigkeit der Sittlichkeit für Freiheit verwendet, explizieren. Siehe Neuhouser, a.a.O., S. 3.

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und Institutionen der Sittlichkeit objektiv vernünftig sind und die Freiheit der Individuen ermöglichen.35 Was die hier vertretene Lesart von derjenigen Neuhousers unterscheidet, liegt im Verständnis der Grundlinien mit Bezug auf Hegels metaphysisches Projekt. Die folgende Untersuchung wird darstellen, wie Hegels Aussagen über die Vernünftigkeit der Normen in der modernen Gesellschaft auf seinem allgemeinen metaphysischen System beruhen, in dem Hegel die Grundlagen der Rationalität überhaupt untersucht. In einem zweiten Schritt werden dann seine Grundlinien anhand dieser Befunde interpretiert. Während sich Neuhouser ausschließlich auf die Grundlinien unabhängig von dem System konzentriert36 – man muss zugeben, dass er das Ziel seiner Untersuchung, nämlich die Haltbarkeit der normativen Gründe, die Hegel für die Rechtfertigung der modernen Institutionen und Normen in Anspruch nimmt, sehr überzeugend verfolgt37 –, können unserer Auffassung nach die Grundlinien als Teil des Hegel’schen Systems viel umfassender verstanden werden.38 35

Obwohl Neuhouser implizit versucht, die metaphysischen Grundlagen in den Grundlinien anzuerkennen und damit seine Interpretation in diesem Licht zu entwickeln, konzentriert er sich auf die Grundlinien, ohne explizit auf diese Grundlagen einzugehen. Er hat tatsächlich diese metaphysischen Elemente im Auge, wenn er die notwendige dialektische Entwicklung zwischen den drei Konzeptionen der Freiheit hervorhebt. Neuhouser, a.a.O., Kap. 1, besonders S. 29 ff. Siehe auch Neuhousers Antwort auf die Frage, ob Hegel eine holistische Theorie der Freiheit vertritt oder ob Freiheit für ihn die Eigenschaft des individuellen Willens ist, wo er den metaphysischen „Begriff“ des Willens für seine Erklärung in Anspruch nimmt. Ebd., S. 40 ff. Ferner kann man auf seine Interpretation von Hegels Bild der sittlichen Ordnung als ein teleologisch organisiertes, selbstbestimmendes Ganzes, das die Reflexion der Vernunft oder des „Begriffs“ ist, hinweisen. Vgl. ebd., Kap. 4 . 36 Er unterscheidet seine Arbeit außerdem von einer historisch orientierten, genetischen Untersuchung in der Richtung von Hegels Phänomenologie des Geistes, in der der Versuch unternommen wird, die Gültigkeit der Normen der modernen Gesellschaft durch ihre notwendige historische Genese darzustellen. Siehe S. 2. 37 Siehe ebd., S. 3. 38 Neuhouser hat in seinem Aufsatz über die Logik der Rechtsphilosophie beispielsweise den „Doppelsatz“ – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ – nicht in diesem Licht gesehen, und der Satz bleibt für ihn deswegen unklar: „When Hegel announces this doctrine here, however, he refers to it not as a presupposition but as a ‚conviction‘ (Überzeugung) or ‚insight‘ (Einsicht) that the Philosophy of Right ‚takes as its point of departure‘, which I take to mean that this conviction defines the very standpoint philosophy must take up if it is to be philosophy at all: to start off from the conviction that what is is rational, even if still imperfectly or implicitly so, is constitutive for Hegel of the stance philosophy must take up if it is to comprehend reality … These fundamental claims are not justified in the Philosophy of Right, nor can they be here. (It is not even entirely clear where one should look to find Hegel’s justification of the standpoint of philosophy: in the Phenomenology of Spirit? in the Logic? in some composite of the two?)“. Neuhouser, Frederick (2017): The Method of the Philosophy of Right, in: James,

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Allen Pattens Hegel’s Idea of Freedom ist eine andere Interpretation in dieser Richtung. Er hat zwar keine negative Einstellung, im Gegensatz zu Allen Wood, gegenüber Hegels Metaphysik und vertritt sogar die Auffassung, dass sein Verständnis mit einem metaphysischen Verständnis vereinbar ist, doch ist hier darauf hinzuweisen, dass sein Verständnis von Hegels Metaphysik sehr stark von Taylors Interpretation beeinflusst ist, nach der sich der transzendente Geist oder Gott in der Geschichte verwirklicht, was im Folgenden nicht vertreten wird.39 (Siehe Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit.) Zuzustimmen ist Patten, dass erstens Hegels Verständnis von Freiheit eine Variante der Freiheit als Selbstbestimmung ist und dass es Hegel in den Grundlinien darum geht, die Grenzen und Bedingungen dieser Selbstbestimmung zu explizieren. Zweitens überzeugt auch seine Auffassung, dass die Subjekte nicht in der Lage sind, von einem subjektiven Standpunkt das Normative zu erkennen, und dass daher das freie Handeln nur im Kontext der Sittlichkeit möglich ist, wo die Inhalte des Willens die Kriterien der praktischen Vernunft erfüllen.40 Der Hauptunterschied zwischen der in dieser Arbeit vertretenen und Pattens Interpretation besteht darin, dass es Patten, obwohl er korrekterweise auf die Notwendigkeit der Selbstbestimmung der Vernunft hinweist und unsere Freiheit darin sieht, dass unsere Willensinhalte im Rahmen der Vernunft bestimmt werden,41 da er die Grundlinien nicht mit Hilfe der Einsichten von Hegels Ontologie liest, nicht gelingt, deutlich zu machen, wie die Inhalte eines freien Willens bestimmt werden. (Der Begriff ist der hier vertretenen Ansicht zufolge die Vernunft als Quelle der Bestimmungen der Freiheit und die dialektische Methode ist das Mittel für die Ableitung der Bestimmungen der praktischen Vernunft.)42 Axel Honneth ist ebenfalls der Auffassung, dass Hegels Metaphysik heute schwer rekonstruierbar ist; aus diesem Grund macht er den Versuch, die Grundlinien ohne Rekurs auf die metaphysische Dimension bei Hegel zu David (Hrsg.): Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide, S. 16–36. Näher siehe das nächste Kapitel. 39 Siehe Patten, a.a.O., S. 10. 40 Er nennt sein Verständnis das „civic humanist“-Modell, in dem „humanist“ die menschliche Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt, und „civic“ auf die Notwendigkeit einer sozialen Form der Freiheit hinweist. Siehe ebd., Kap. 6. 41 Ebd., S. 35. 42 Er nähert sich zwar dem Begriff, wenn er von dem „konkreten Allgemeinen“ als dem Standard der praktischen Vernunft gegenüber sowohl einem transzendent metaphysischen als auch einem historischen Verständnis praktischer Rationalität bei Hegel redet. Er verfolgt aber diese Idee in Hegels Logik nicht in hinreichendem Maß weiter, sondern begnügt sich mit „Teleologie“ und „Organismus“ als Instanzen des konkreten Allgemeinen in Hegels Logik. Siehe Patten, a.a.O., S.  94–97. Es scheint aber angemessener zu sein, anzunehmen, dass die höhere Bestimmung des Begriffs für Hegel dieses konkrete Allgemeine ist. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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rekonstruieren.43 In erster Linie ist Honneth mit Hegel darin einverstanden, dass „die Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen“ das höchste Ideal des menschlichen Lebens ist, und alle anderen Werte sind diesem Ziel untergeordnet.44 Zudem ist ihm darin beizupflichten, dass Hegel versucht hat, die kantische Position, d. h. die Suche nach allgemeingültigen Prinzipien dadurch zu verbessern, dass die wirkliche Seite der Normen und Institutionen in Betracht gezogen wird, weil die allgemeingültigen Normen durch Rekurs auf bestimmte objektive Grundnormen ergiebig sein können. Mit anderen Worten: Hegel versucht, so Honneth, durch seine Theorie eine Brücke zwischen der Welt des Seins und der Welt des Sollens zu bauen und deswegen sei die Wahrheit für Hegel in dem Punkt zu suchen, wo sich das Normative in der Wirklichkeit reflektiert. Korrekterweise betont Honneth auch, dass die moralische Vernunft als Maßstab unserer Bewertung der bestehenden Normen fungiert und Hegel deswegen kein Anhänger eines beliebigen Status quo bzw. ein konservativer Philosoph sei.45 Allerdings versucht die vorliegende Untersuchung sehr nah an Hegels eigenem Text zu bleiben, während Honneth Hegels Theorie für die Gegenwart aktualisiert.46 Zudem ist Hegels Metaphysik für die hier vertretene Position ausschlaggebend, während Honneth die Metaphysik Hegels vermeidet. In seiner Rekonstruktion der Grundlinien spielt der Begriff der 43

Näher Honneth, Axel (2001): Leiden an Unbestimmtheit: Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 11 f.: „Der zweite Vorbehalt, der heute jeden aktualisierenden Rückgriff auf die Rechtsphilosophie versperrt, hat eher einen methodologischen Charakter und bezieht sich auf die Argumentationsstruktur des Textes im ganzen; die von Hegel entwickelten Begründungsschritte, so heißt es, lassen sich nur dann angemessen nachvollziehen und beurteilen, wenn sie auf die entsprechenden Teile seiner «Logik» zurückbezogen werden, die uns aber aufgrund ihres ontologischen Begriffs des Geistes inzwischen vollkommen unverständlich geworden ist; daher scheint es ratsam, den Text eher als eine Art von Steinbruch glänzender Einzelideen zu behandeln, anstatt den vergeblichen Versuch einer Rekonstruktion der integralen Theorie als solcher anzustreben.“ Siehe auch Honneth, Das Recht der Freiheit, S.17, wo er Hegels Metaphysik als einen „idealistischen Monismus“ bezeichnet, der „für uns, die Kinder eines materialistisch aufgeklärten Zeitalters, nicht mehr recht vorstellbar“ ist. 44 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 35. 45 Axel Honneth, ebd., S. 16. 46 In der vorliegenden Arbeit wird die Meinung vertreten, dass Honneths Anliegen der Aktualisierung der Grundlinien im Einklang mit Hegels Absichten steht, denn es ist, Hegels Auffassung nach, die Aufgabe der Philosophen in jeder Zeitperiode, ihre Gegenwart in Gedanken zu erfassen, was Hegel in seinen Grundlinien daher auch mit der Gesellschaft seiner Zeit macht. Freiheit ist, mit Pinkard gesprochen, ein „unendliches Ziel“, und die Normen und Institutionen sind ständig im Werden. Näher siehe Pinkard, Terry (2017): Does History Make Sense? Hegel on the Historical Shapes of Justice, S. 41. Hegel hat uns eine Liste der Sitten und Institutionen der Freiheit vorgelegt und heute sowie in der Zukunft sollten die Philosophen diese Liste vollständiger machen. Näher siehe das nächste Kapitel. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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„Anerkennung“ die zentrale Rolle. Im Einklang mit dieser Fokussierung auf die intersubjektive47 – im Gegensatz zur metaphysischen – Dimension sieht Honneth die Hauptfunktion der objektiven Institutionen darin, die Beziehungen der Anerkennung zu garantieren,48 während die Notwendigkeit der objektiven Institutionen in der vorliegenden Interpretation darin begründet liegt, dass diese die Realisation der Vernunft (oder was die Freiheit vernünftig fordert) in der Wirklichkeit sind. Diese metaphysische Lesart passt nicht nur besser zu Hegels systematischem Denken, sondern sie ist auch notwendig in dem Sinne, dass dadurch der Text der Grundlinien umfassender erklärt werden kann.49 Was bei der Betrachtung der Literatur häufig ins Auge fällt, sind hauptsächlich zwei Gruppen von Schwierigkeiten, die mithilfe der metaphysischen Lesart gelöst werden können: 1) Es gibt Stellen im Text, deren Zusammenhang mit dem Gesamttext nicht geklärt oder überzeugend genug ist, wie Hegels Doppelsatz. [„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“] Wie muss man den Doppelsatz im Lichte von Hegels Vorrede und allgemeiner von seinem Hauptziel in seiner Rechtsphilosophie her verstehen, welches darin besteht, die Idee der Freiheit oder Idee des Rechts zu erkennen. [„Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ (PR § 1)] 2) Es gibt überdies Stellen in Hegels Text, die als Sprünge erscheinen. Als ein gutes Beispiel dafür scheint Hegels Behauptung, dass er für alles hinreichend argumentiert habe, nicht plausibel zu sein, weil es in seiner Argumentation Sprünge gibt, die als unbewiesen erscheinen, z. B. seine moralische Konzeption der Freiheit. Er besteht auf der Unvermeidlichkeit einer moralischen Konzeption der Freiheit, was bedeutet, dass wir, um frei zu sein, im Einklang mit den Prinzipien der Moral handeln müssen. Zu dieser Frage gibt es in der Literatur unterschiedliche Auffassungen: Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dass Moral für ein freies Handeln notwendig ist, obwohl sie nicht hinreichend zeigen, wie 47

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„Wechselseitige Anerkennung“ ist, Honneths Auffassung nach, für Hegel der begriffliche Pfeiler, worauf seine Theorie der Freiheit aufgebaut wird: „Insofern kann Hegel schließen, dass Individuen nur dann wirklich Freiheit erfahren und verwirklichen, wenn sie an sozialen Institutionen teilnehmen, die durch Praktiken der wechselseitigen Anerkennung geprägt sind.“ Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 94. Honneth, ebd., S. 86 f. Honneth vermag z. B. im Rahmen seiner Interpretation nicht Hegels Theorie des Privateigentums erklären; deswegen unternimmt er einen Erklärungsversuch, wie im Kapitel 5 gezeigt wird, durch Waldrons Theorie. Für eine Diskussion von Honneths Lesart von Hegels Grundlinien siehe Pippin, Robert (2014): Reconstructivism: On Honneth’s Hegelianism, S. 725–741.

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Hegel dafür argumentiert. Dabei scheint ein ungerechtfertigter Sprung in Hegels Diskussion vermeintlich vorhanden zu sein. Sie glauben an den Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität, dessen Bedeutung Hegel aufgezeigt hat. Sie beachten jedoch nicht, dass die Moral sich nicht nur mit einer negativen Vorstellung der Achtung der Rechte anderer und der Beschränkung der Willkür begnügt, sondern auch eine positive Haltung gegenüber anderen erfordert. In diesem Licht werden wir mit einem Sprung in Hegels Argumentationsgang konfrontiert. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die die Bedeutung der Moral für ein freies Handeln trotz Hegels Beharren leugnen. Vor diesem Hintergrund steht also die metaphysische Lesart der Grundlinien, nach der die Grundlinien als ein Teil von Hegels philosophischem System zu lesen sind, und dass deren Verständnis eine Bekanntschaft mit seinen grundlegenden metaphysischen Thesen erfordert. Ganz allgemein gesprochen: Was in der vorliegenden Arbeit vertreten wird, ist, dass es Hegel in seinem enzyklopädischen System um die Erkenntnis der immanenten Wahrheit geht. In erster Linie möchte er die Beziehung zwischen dem Denken und der Wirklichkeit neu untersuchen und dabei eine Stufe erreichen, in der das Denken in der Lage ist, die objektive Welt einheitlich zu erklären. Nachdem er in der Logik feststellt, dass die höchste Denkbestimmung die „Idee“ ist, die durch die „dialektische Methode“ erkannt werden kann, fährt er in seinem System und will die Idee oder Wahrheit in der Welt erkennen. Nach dieser Lesart geht es Hegel in seiner Abhandlung über die Politik und das Recht, d. h. in den Grundlinien, um die Erkenntnis des wahren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem man die höchste Form von Freiheit (oder mit Hegel gesprochen: die „Idee der Freiheit“) erreichen kann. Seine Frage ist: Wie muss das politische Leben konstituiert sein, damit man im wahren Sinne frei leben kann? Er folgt in seinem Projekt einer Ontologie des Sozialen, in der die Normen nicht aus pragmatischen, utilitaristischen, konsequentialistischen usw. Gründen gerechtfertigt werden, sondern nur dadurch, dass diese Normen die Reflexion der notwendigen Bestimmungen der Freiheit oder der Vernunft (Nous) in der Wirklichkeit sind. In der Tat geht es Hegel in seiner praktischen Philosophie um die Reflexion der wirklichen Strukturen, die Ausdruck der Vernunft in der sozialen Welt sind. Das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit wird sich den folgenden metaphysischen Thesen von Hegel ausführlicher widmen, welche die Grundlage seiner Philosophie ausmachen: 1) Die Idee bezeichnet für Hegel die Bestimmung der Wahrheit, die aus der Einheit zwischen dem vernünftigen Begriff und dessen Objektivität besteht.

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2)

Die wahre Methode der Erkenntnis der Wahrheit oder der Idee ist die dialektische Methode, welche in der Logik ihre Rechtfertigung findet. Diese Untersuchung unternimmt also den Versuch zu beweisen, dass die grundlegende Struktur der Grundlinien mit Bezug auf die oben genannten metaphysischen Thesen angemessen verstanden werden kann. Es geht in diesem Werk um die Erkenntnis der objektiven politischen Konstruktion, welche die wahre Verwirklichung der Freiheit ist. Diesem Ziel folgt Hegel mit seiner Suche nach der „Idee des Rechts“ als der Wirklichkeit der Freiheit. Die Idee des Rechts besteht selbst aus dem Begriff des freien Willens und der Objektivität der Freiheit in Form der Rechtsbestimmungen. Hegel betrachtet die notwendigen begrifflichen Bestimmungen der Freiheit mit ihren zusammenhängenden Rechtsbestimmungen als ihre Objektivität, welche zusammen die Idee des Rechts oder die Wahrheit der Freiheit ausmachen. Dieses Unternehmen wird durch die dialektische Methode in der Weise durchgeführt, dass wir mit einem minimalen Begriff von Freiheit und seiner Objektivität (im Kapitel „Das abstrakte Recht“) anfangen und unseren Begriff und seine wirkliche Form durch „Aufhebung“ der Widersprüche weiter explizieren. In der Tat ist Hegels berühmter Doppelsatz – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ – nur dann verständlich, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass die Bestimmung der Idee, die in der Übereinstimmung der philosophischen Vernunft und ihrer Objektivität besteht, die Bestimmung der Wahrheit bezeichnet, die sich in jeder Zeitperiode in der menschlichen Geschichte mehr und mehr zum Ausdruck bringt. In einem negativen Sinne ausgesprochen sagt der Doppelsatz, dass das, was nicht wirklich ist, für uns unerkennbar bleibt und die philosophische Vernunft über die Grenze der Wirklichkeit nicht hinausgehen kann.50 Aus diesem Grund ist Hegel in seiner politischen Theorie weder auf der Suche nach einer neuen Form der Wirklichkeit mit einer konstruktivistischen Methode, noch verfolgt er ein konservatives Festhalten am Status quo. Wir können seiner Auffassung nach nur dann die wahren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge der Freiheit erkennen, wenn wir das Vernünftige oder den Begriff in der Wirklichkeit suchen. Selbstverständlich gibt es zwar viele objektive Beziehungen, die eine Beschränkung der Freiheit darstellen. Die Aufgabe der Philosophie besteht aber hauptsächlich darin, diejenigen Normen und Institutionen zu finden, welche die Wirklichkeit des vernünftigen Begriffs sind.

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Der Kontext, in dem der Doppelsatz ausgesprochen wird, bestätigt diese Lesart, wo Hegel die wahre „Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit“ als das „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ bezeichnet. Näher siehe (PR, S. 24 f.)

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Überdies ist Hegels andere berühmte Ansicht, nämlich dass die Philosophie „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, nur im Hinblick auf diese These richtig verständlich. Eine sinnvolle und vernünftige Rede von Freiheit kann nur dann stattfinden, wenn die wirklichen Strukturen schon in der Wirklichkeit existieren. Durch diese epistemische Abhängigkeit des philosophischen Denkens von der Objektivität kann die Philosophie ihre Zeit nicht überspringen. Ihre Weisheit kann erst dann zum Ausdruck kommen, wenn sich bereits eine Form des Lebens wirklich gemacht hat, und die „Eule der Minerva“ kann erst dann ihren Flug beginnen.51 Im Gegensatz zu der nicht-metaphysischen Lesart wird hier also die Auffassung vertreten, dass Hegels Ontologie des Sozialen nicht in einer Unterstützung der Normen besteht, die in einer intersubjektiven Sphäre durch gute Gründe plausibel erscheinen. Es geht ihm vielmehr um die Darstellung des Begriffs, der Vernunft (Nous) in der Struktur dieser Normen. Die grundlegende Struktur der Wirklichkeit selbst ist Hegels Auffassung nach Reflexion des Begriffs. In diesem Sinne sind die Normen nicht das, worauf wir uns einigen. Die geistige Welt ist zwar ein Konstrukt der Subjekte in der Geschichte, sie ist aber gleichzeitig das Abbild der Vernunft, die über jede Rechtfertigung durch gute Gründe hinausgeht und das reflektiert, was der ganzen Welt ontologisch zugrunde liegt. Bezüglich der festgestellten Sprünge ist noch zu erwähnen, dass Hegels dialektische Methode sich in einer voraussetzungslosen Progression widerspiegelt, in der alles aus einer Notwendigkeit heraus da ist und alle Teile wie die Teile einer Kette funktionieren, die miteinander die Defizite beheben und die Widersprüche lösen und das ganze System erweitern, sodass sich diese Lücken schließen lassen. In Bezug auf den moralischen Freiheitsbegriff sollte auch gesagt werden, dass wir uns durch das Notrecht eines Widerspruchs in unserem System oder unserer Idee von Freiheit bewusst werden. Das ist der Grund der Notwendigkeit seiner Diskussion des Notrechts. Um einen solchen Widerspruch aufzulösen, erfordert die dialektische Methode eine Erweiterung unserer Konzeption der Freiheit, die schließlich in eine moralische Konzeption der Freiheit mündet. In diesem Licht lässt sich auch verstehen, warum „eine positive Beziehung auf den Willen anderer“ für eine freie Handlung notwendig ist,52 warum direkt nach dem Notrecht vom Guten die Rede ist, warum 51 „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (PR, S. 28) 52 „Im Moralischen dagegen handelt es sich um das Wohl auch anderer, und diese positive Beziehung kann erst hier eintreten.“ (PR § 112 Z)

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das Gute als „der absolute Endzweck der Welt“ bezeichnet wird und warum der Wille nur dann von Wert oder wirklich frei ist, wenn er sich dem Guten gemäß bestimmt.53 Aber nicht nur aus inhaltlichen Gründen ist die Beschäftigung mit seiner Metaphysik für das Verständnis der Grundlinien unentbehrlich. Denn im Hinblick auf die Form muss man auch sagen, dass wir, da Hegel ein Systemdenker ist und alle Teile seines Systems miteinander notwendig verbunden sind, jeden Teil im Rahmen des ganzen Systems zu interpretieren haben. Aus diesem Grund sind die Grundlinien mit Bezug auf die zugrunde liegende Logik seines Systems zu verstehen.54 Klaus Vieweg ist der Überzeugung, dass die  Grundlinien eine logische Grundlage haben, die nur mit Bezug auf Hegels Logik zu verstehen ist.55 Aus diesem Grund versucht er sich in seiner „Re-Aktualisierung“ auf diese grundlegende Struktur zu beziehen.56 Diese Einsicht, dass die Grundlinien eine Tiefenstruktur haben, deren Rechtfertigung in Hegels Wissenschaft der Logik zu suchen ist, ist überzeugend. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass sich die folgende Untersuchung in Bezug auf die Form sowie den Inhalt von Viewegs Werk unterscheidet: Zum einen ist dessen Methode mehr kommentarisch,57 53 „Das Gute ist überhaupt das Wesen des Willens in seiner Substantialität und Allgemeinheit – der Wille in seiner Wahrheit.“ (PR § 132 Anm.) 54 Charles Taylor hat auch in seinem einflussreichen Werk über Hegel eine metaphysische Lesart der Grundlinien und dem darin behandelten Begriff der Freiheit angeboten. Seine Gedanken scheinen durchaus überzeugend, wenn er sowohl den kantischen Autonomiebegriff – dass der Wille nur seiner eigenen immanenten praktischen Vernunft zu gehorchen hat – als auch den platonischen Begriff einer kosmischen Ordnung – was Hegel meines Erachtens den Nous oder Begriff nennt – in Hegels Freiheitstheorie am Werk sieht. Was jedoch in seiner metaphysischen Interpretation weniger plausibel scheint, ist das Gewicht, das er dem Geist als einem transzendenten Wesen zuweist. Es geht seiner Auffassung nach bei Hegel – im Gegensatz zu Rousseau und Kant – nicht ausschließlich um die menschliche Freiheit, sondern auch oder hauptsächlich um die Selbstverwirklichung des Geistes. Etwas radikaler ausgedrückt: Der Hauptakteur ist tatsächlich der Geist, und die menschliche Geschichte ist das Mittel seiner Selbstverwirklichung: „man reaches his basic identity in seeing himself as a vehicle of Geist.“ Näher siehe Taylor, Charles (1975): Hegel, S. 373–375. Hier wird hingegen die Position vertreten, dass es Hegel um die menschliche Freiheit geht. Der Geist ist demnach Produkt des Menschen in der Geschichte, der im Denken und Wollen, in sozialen Institutionen, in Kunst, Religion und Philosophie zum Ausdruck kommt. 55 Vieweg, Klaus (2012): Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 33. 56 Ebd. S. 36: „Beansprucht wird so eine Re-Aktualisierung dieser praktischen Philosophie unter dem Blickwinkel ihrer logischen Tiefenstruktur.“ 57 Für einen anderen Kommentar von Hegels Rechtsphilosophie siehe Peperzak, Adriaan (2002): Modern freedom: Hegel’s legal, moral, and political philosophy.

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während der Fokus hier auf eine Rekonstruktion der Freiheitsidee gerichtet ist und deswegen in der vorliegenden Untersuchung nur die für Idee und den Begriff der Freiheit direkt relevanten Stellen interpretiert werden. Zum anderen besteht der inhaltliche Unterschied vor allem darin, dass Vieweg diese „logische Tiefenstruktur“ anders versteht: Er nimmt größtenteils die „subjektive Logik“ oder „Logik des Begriffs als Logik der Selbstbestimmung“58 in Anspruch, während hier die „Logik der Idee“ im Vordergrund steht. Der Grund für dieses Vorgehen besteht, kurz gesagt, in der Tatsache, dass es Hegel um die Untersuchung der Idee des freien Willens bzw. des Rechts geht und nicht ausschließlich um dessen Begriff. Dieser macht nur eine Seite der Idee aus, während die andere Seite der Idee die Objektivität ist, was sich in den Grundlinien in den wirklichen Rechtsverhältnissen ausdrückt. Aus diesem Grund ist die logische Bestimmung der „Idee“ die geeignete theoretische Grundlage von Hegels praktischer Philosophie.

Bemerkungen über die Grundthesen sowie den methodischen Aufbau der vorliegenden Untersuchung

In der vorliegenden Untersuchung wird die These vertreten, dass Hegels Grundlinien mithilfe seiner Metaphysik vollständig verstanden werden können. Abgesehen von den Thesen, die er in der Vorrede vertritt,59 sind erstens die Grundstruktur dieser Arbeit zu erwähnen, welche sich durch die begrifflichen Bestimmungen mit den entsprechenden objektiven Erscheinungen zum Ausdruck bringt und für Hegel die Bestimmung der Idee ausmacht, und zweitens die Methode der Untersuchung, die Hegel als die dialektische Methode bezeichnet: Erstens – ein sehr wichtiger Punkt, den wir von vornherein vor Augen haben sollten – ist die Bestimmung der „Idee“ als die Bestimmung der Wahrheit, die in der Übereinstimmung zwischen dem notwendigen, vernünftigen „Begriff“ 58 Vieweg, ebd., S. 26. Seine Hervorhebung. 59 Wir können laut Hegel nur dann unsere Untersuchung über die Wahrheit der Politik beginnen, wenn die objektiven Strukturen schon da sind. Nur in diesem Sinne kann die Wahrheit oder die Idee der Freiheit erkannt werden. Die folgenden Thesen sind unterschiedliche Formulierungen dieser grundlegenden These: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst.“ (PR, S. 26) Oder: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Ebd., S. 28)

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einer Sache und seiner „Objektivität“ besteht.60 Diese Ideenlehre verkörpert sich in Hegels Rechtsphilosophie durch seine Suche nach der „Idee der Freiheit“. Hegel geht es nicht ausschließlich um rein begriffliche Bestimmungen der Freiheit; vielmehr betrachtet er neben diesen begrifflichen Konstellationen auch die Existenzformen derselben oder wie diese begrifflichen Formen in den Strukturen der Wirklichkeit – im Fall der Grundlinien in den Strukturen des politischen Gemeinwesens – verkörpert werden. Das erklärt, warum Hegel den Begriff des „Rechts“ als einen Schlüsselbegriff seiner Arbeit zugrunde legt, der die Rolle der objektiven Form des Freiheitsbegriffs übernimmt. Zudem bestätigt die Tatsache, dass er in seiner Sittlichkeitstheorie die notwendigen begrifflichen Formen in der wirklichen sozialen Welt sucht, die These, dass die Idee der Freiheit in ihrem ontologischen Sinne der Logik der Grundlinien zugrunde liegt. Sie sind deswegen im Hinblick auf die Ideenlehre als die Bestimmung der Wahrheit zu lesen. Zweitens kann Hegels Anwendung der „dialektischen Methode“ für die Erkenntnis der Idee der Freiheit in den Grundlinien in zusammengefasster Form so dargestellt werden61: Hegels Methode des Philosophierens basiert auf der Grundthese, dass sich ein Begriff durch ein immanentes Fortgehen erschließt in dem Sinne, dass er seine Notwendigkeiten explizit macht. In den Grundlinien fangen wir mit dem abstrakten allgemeinen Begriff von Freiheit an und sehen zu, wie sich dieser Begriff entwickelt und seine notwendigen Bestimmungen ans Licht bringt. Die Aufgabe des Philosophen besteht nach Hegel ausschließlich in diesem Zusehen. Was am Ende dieses Prozesses herauskommt, ist die vollständige Form dieses Begriffs mit seinen notwendigen Bestimmungen, die am Anfang nur implizit waren. Auf diese Weise macht sich 60 Dieser Gedanke, nach dem die Wahrheit von etwas als Idee bezeichnet wird und diese Idee in der Übereinstimmung zweier Elemente, d.  h. Begriff und dessen Objektivität, besteht, ist das Ergebnis von Hegels ontologischen Untersuchung in der Wissenschaft der Logik. 61 Steinberger hebt zu Recht hervor, dass Hegels Grundlinien im Lichte seiner Methode zu lesen seien, (S. 43 ff.) er abstrahiert jedoch die Methode von Hegels Metaphysik und ist der Überzeugung, „that his metaphysics would indeed violate some of the more sensible discoveries of modern philosophy and would be best viewed in the usual manner, as an obscure and rather odd collection of assertions worth considering only for antiquarian reasons.“ (S.  111) Abgesehen von der Tatsache, dass die Methode für Hegel ihre Rechtfertigung in seiner Metaphysik findet, ist darauf hinzuweisen, dass die Methode dazu dienen muss, die Idee, welche die höchste Denkbestimmung seiner Metaphysik ist, zu erkennen. In diesem Licht scheint es schwer zu sein, die Methode allein als gerechtfertigt hinzunehmen. Außerdem geht er in seiner Interpretation der Grundlinien sehr selektiv vor und zieht nur Teile in Betracht, die er für seine Lesart als relevant betrachtet, während es sich in der vorliegenden Arbeit um eine Rekonstruktion des ganzen Textes von Hegel handelt. Siehe Steinberger, Peter (1988): Logic and Politics: Hegel’s Philosophy of Right.

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der am Anfang implizierte (an sich seiende) Begriff explizit, und in diesem Sinne redet Hegel von einer notwendigen, immanenten Entwicklung, die im Folgenden skizzenhaft erläutert wird: Auf seiner Suche nach der Wahrheit der Freiheit fängt Hegel in seinem dialektischen Argumentationsgang vom abstrakten, aber gleichzeitig notwendig minimalen Begriff der Freiheit als Persönlichkeit an. Was charakteristisch ist für diesen Begriff der Freiheit, ist eine Konzeption des Willens als Willkür. Für die Person besteht Freiheit darin, sich in ihrem Bewusstsein als eine allgemeine Möglichkeit der Willensbestimmung zu betrachten. Was aber die Bestimmung dieses Willens willkürlich macht, ist, dass dieser Wille nicht im eigentlichen Sinne frei und selbstbestimmend sein kann. Es sind vielmehr die Natur oder äußerliche Zustände, die diesen Willen bestimmen. Am Ende des Abstrakten Rechts im „Unrecht“ wird uns ersichtlich, dass die Freiheit in Form der Willkür nicht bestehen kann, weil dadurch Rechtskollisionen entstehen, welche dem Recht als Verwirklichung der Freiheit widersprechen. Durch diese Einsicht erschließt sich eine neue Notwendigkeit der Freiheit: Da der Wille den gerechten Prinzipien gemäß bestimmt werden sollte und diese Bestimmungen dem Willen nicht äußerlich auferlegt werden sollen, fordert der Begriff der Freiheit die Notwendigkeit der innerlichen Selbstbestimmung nach den gerechten Prinzipien. Wir sind nur dann frei, wenn wir uns innerlich nach Gesetzen des Rechts bzw. der Gerechtigkeit bestimmen, und das impliziert für Hegel die Notwendigkeit der moralischen Selbstbestimmung. Es ist an dieser Stelle, dass Kant ins Spiel gebracht wird. Die kantische These, nach der die Freiheit in der Autonomie des Willens (Selbstgesetzgebung) bestehe, welche gleichzeitig mit der Moral identisch ist, liegt diesem Kapitel zugrunde. Obwohl am Ende Kants Moralphilosophie als „formal“ kritisiert wird, hat Hegel diese neue Konzeption der Freiheit Kant zu verdanken. (Aus diesem Grund ist Hegels Freiheitsphilosophie als stark vom kantischen moralischen Standpunkt beeinflusst zu begreifen.) Der Übergang vom Moralitätskapitel zur Sittlichkeit impliziert keinen Abschied von Kant; vielmehr muss dieser Übergang als eine Vervollständigung oder notwendige Weiterbestimmung der kantischen Position gelesen werden.  Dieser Übergang sollte in Anbetracht des Übergangs von der „Idee des Guten“ zur „absoluten Idee“ in der Wissenschaft der Logik interpretiert werden, in der Hegel dafür plädiert, dass die Wahrheit nicht in dem Glauben bestehe, welcher besagt, das Gute existiere nur in unserem Bewusstsein, und die ganze Welt solle diesem abstrakten Bild gemäß verändert werden. Vielmehr zeichnet sich die Position der absoluten Idee dadurch aus, dass wir einsehen, dass die Wahrheit in der objektiven Welt wirklich ist und auch wird. Laut dieser These ist der Begriff oder das Vernünftige der Freiheit in der sozialen Wirklichkeit zu

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suchen, nicht aber in vollständiger Form. Dieses Vernünftige wird auch wirklich in einem unendlichen geschichtlichen Prozess. Wie einzusehen ist, wird in jedem Schritt des methodischen Fortgangs eine notwendige Bedingung der Freiheit ersichtlich. *** Hegels Konzeption der praktischen Freiheit durchzieht ein wesentliches Grundelement: Sie steht nicht den Hauptströmungen der modernen Freiheitstheorien gegenüber, sondern er versucht vielmehr, diese Theorien in seine eigene zu integrieren. Er behandelt in diesem Licht die auf die Rechte der selbständigen Personen basierende Vorstellung der Freiheit im Kapitel Das abstrakte Recht sowie die auf der moralischen Autonomie der Subjekte beruhende Konzeption der Freiheit im Moralitätskapitel in den Grundlinien nicht mit dem Zweck, diese Theorien zurückzuweisen, sondern ihre Hauptelemente in eine vollständigere Theorie der Freiheit zu integrieren. Aus diesem Grund hat seine Theorie der „sozialen Freiheit“ gleichzeitig Elemente von „persönlicher Freiheit“, in der die Person durch die Unterstützung der Rechte ihren Zielen und Interessen oder ihrer Willkür nachgehen kann, sowie Elemente von „moralischer Freiheit“, nach der die moralischen Subjekte die Prinzipien ihrer Handlungen in sich autonom bestimmen.62 Die Freiheit jedes Einzelnen besteht für ihn, ganz grob gesagt, in einem sozialen Zusammenhang, in dessen Hauptinstitutionen, d. h. in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat, neben anderen Bedingungen auch die liberalen Rechte der Personen sowie der moralischen Subjekte erfüllt werden. Eine vollständige Theorie der Freiheit hat für Hegel positive Elemente der genannten Theorien in sich in „aufgehobener“ Form in dem Sinne, dass die Defizite dieser Theorien im Laufe des dialektischen Argumentationsgangs dadurch behoben werden, dass gezeigt wird, wie jede dieser Theorien notwendigerweise weitere Elemente benötigt.63 62

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Diese Benennungen der Freiheitsvorstellungen sind aus Neuhousers Werk (Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom) übernommen. Siehe auch, ders. (2008): Hegel’s social philosophy, in: The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, Frederick C. Beiser (Hrsg.), S. 204–229. Hegel versteht die Doppeldeutigkeit des Wortes „Aufheben“ auf diese Art und Weise: „Es ist hierbei an die gedoppelte Bedeutung unseres deutschen Ausdrucks aufheben zu erinnern. Unter aufheben verstehen wir einmal soviel als hinwegräumen, negieren, und sagen demgemäß z. B., ein Gesetz, eine Einrichtung usw. seien aufgehoben. Weiter heißt dann aber auch aufheben soviel als aufbewahren, und wir sprechen in diesem Sinn davon, dass etwas wohl aufgehoben sei. Dieser sprachgebräuchliche Doppelsinn, wonach dasselbe Wort eine negative und eine positive Bedeutung hat, darf nicht als zufällig angesehen noch etwa gar der Sprache zum Vorwurf gemacht werden, als zu Verwirrung

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Eine wichtige Frage, mit der sich jede Interpretation von Hegels praktischer Philosophie selbstverständlich zu beschäftigen hat, betrifft das Verhältnis von Freiheit und sozialer Wirklichkeit: Gibt es bei Hegel tatsächlich Maßstäbe und Kriterien für die Bewertung der sozialen Wirklichkeit oder ist die reine Situierung in einem beliebigen gesellschaftlichen Zusammenhang ausreichend für unsere Freiheit? Mit anderen Worten: Ist Hegel ein Vertreter des Status quo oder gibt er uns normative Kriterien an die Hand? Zieht Hegel tatsächlich eine Grenze zwischen Faktizität und Normativität? Die folgende Untersuchung versucht aufzuzeigen, dass für Hegel der „Begriff des freien Willens“ die Rolle dieses normativen Maßstabes übernimmt und sich seine Theorie auf eine Rekonstruktion der wirklichen Normen und Institutionen bezieht, welche die Bedingungen dieses Maßstabs erfüllen. Es muss deswegen dem Verdacht widersprochen werden, dass Hegel ein Vertreter des Status quo ist. Das richtige Verständnis liegt vielmehr in der Einsicht, dass nur diejenigen Strukturen, Normen und Institutionen in der wirklichen sozialen Welt für Hegel vernünftig sind, welche die folgenden Bedingungen der Freiheit erfüllen, die sich im Laufe des Fortgangs als notwendig erweisen: Einerseits ist die subjektive Freiheit und ihr Recht auf subjektive Befriedigung fundamental; andererseits kommt die Notwendigkeit des allgemeinen moralischen Guten als das zweite Fundament der Freiheit in Betracht. Nun ist die genuine Freiheit in den Normen und Einrichtungen der Sittlichkeit zu suchen, die eine Harmonie und Einheit zwischen diesen zwei Prinzipien hervorbringen. Aus diesem Grund sind die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat nicht einfach deshalb für Hegel legitim, weil sie existieren, sondern diese Institutionen sind vielmehr legitim und gerecht, weil sie diese fundamentale, durch Vernunft gesetzte Bedingung der Freiheit erfüllen können. *** Mit welcher Methode sind nun die Grundlinien zu lesen? In den Grundlinien geht es Hegel um die notwendige Entwicklung des Freiheitsbegriffs. In diesem Fortgehen ist jeder Schritt ein notwendiger Teil des ganzen Argumentationsgangs. Man kann Hegels Text mit seiner Aufteilung nur als Ganzes verstehen; ohne Das abstrakte Recht sowie die Moralität als notwendige Stadien des Freiheitsbegriffs kann nicht vollständig verstanden werden, was Freiheit in der Sittlichkeit genau bedeutet. Daher sollten wir, um Hegel verstehen zu können, Veranlassung gebend, sondern es ist darin der über das bloß verständige Entweder-Oder hinausschreitende spekulative Geist unserer Sprache zu erkennen.“ (Enz § 96 Z)

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zusehen, wie sich der Freiheitsbegriff im Laufe des Arguments entfaltet. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist es notwendig, den ganzen Argumentationsgang des Textes in Betracht zu ziehen und sich nicht nur mit einem einzelnen Teil zu beschäftigen. Ein Kommentar, der sich nur die Aufgabe setzt, die verschiedenen Stellen des Textes zu verdeutlichen, ist aus dem schon erläuterten Grund über den methodischen Geist von Hegels Texten nicht in der Lage, ein vollständiges Verständnis anzubieten, obwohl diese Vorgehensweise in dem größeren Kontext des ganzen Textes für die Verdeutlichung verschiedener Stellen zugleich auch sinnvoll ist. Denn zum einen ist jeder einzelne Argumentationsschritt für unsere Analyse unentbehrlich, da jeder Schritt eine Aufgabe zu erfüllen hat. Zum anderen haben alle diese Schritte Sinn und Bedeutung im Kontext des ganzen Textes. Wir brauchen daher eine Interpretationsweise, mit deren Hilfe alle Teile im Kontext des Ganzen verstanden werden. Das kann nur eine „immanente Rekonstruktion“ des Textes leisten. Wir sollten jeden Schritt des Textes ernst nehmen und dann diese Schritte in dem ganzen Zusammenhang verstehen, weil alle dem allgemeinen Zweck dienen, nämlich dem Erschließen der Wahrheit der Freiheit. Die folgende Untersuchung wird daher die Grundzüge des Hegel’schen Textes als Ganzes, abgesehen von bestimmten Details, rekonstruieren. Da sie hauptsächlich den Zweck verfolgt, Hegels Grundlinien und damit seine Theorie der Freiheit zu verstehen, konzentriert sie sich weitgehend auf diesen Text und versucht nur dann andere Außenperspektiven ins Spiel zu bringen, wenn diese zu einem besseren Verständnis des Textes beitragen können; aus diesem Grund bleibt die Rekonstruktion immanent.

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Kapitel 1

Hegels Vorrede In diesem Kapitel soll versucht werden, Hegels Vorrede zu rekonstruieren. Ganz grob gesagt plädiert Hegel hier hauptsächlich für seine eigene wissenschaftliche Philosophie und Methode des Philosophierens. Nach Hegel können wir die Wahrheit im Allgemeinen und die Wahrheit der Politik im Besonderen – den Idealstaat oder die Idee des Staates – nur durch die wahre vernünftige Methode erkennen, was nach Hegel den Hauptunterschied zwischen diesem Werk und den anderen Abhandlungen über Politik ausmacht.1 Schärfer als die Methode der Rationalisten werden diejenigen Philosophien kritisiert, die einer allgemein gültigen Vernunft nicht vertrauen und deswegen glauben, dass jeder durch die eigenen Überzeugungen und Gefühle zu irgendeiner Wahrheit kommen kann. Diese Philosophen hätten durch die Illusion, dass jeder des Philosophierens fähig sei, die Philosophie in Verruf gebracht.2 Hegel setzt sich hier hingegen die Aufgabe, durch die auf seinem System basierenden Einsichten das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wahrheit in der Politik neu zu definieren, und durch die Darstellung des Vernünftigen in der Wirklichkeit der Philosophie ein bescheidenes Ziel zu bestimmen, was nicht im Aufbau einer neuen Welt, die unserem Ideal entspricht, sondern in der Rekonstruktion derjenigen Teile der Wirklichkeit besteht, die wir als vernünftig bezeichnen. Mehr kann man vom philosophischen Denken nicht erwarten. Die folgende Rekonstruktion der Vorrede folgt dieser Argumentationslinie: І) Im ersten Schritt des Kapitels wird Hegels Polemik gegen die philosophischen Gedanken seiner Zeit erörtert. II) Im zweiten Schritt wird dann Hegels eigenes Bild von der Aufgabe der Philosophie – die Erkenntnis der Wahrheit und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit – und damit das den Grundlinien zugrundeliegende Konzept dargelegt, welches in seinem Doppelsatz3 ausgesprochen wird. Es wird deutlich, dass dieser Grundgedanke von seinem System der Philosophie abhängt, und das impliziert, dass dieses Werk nur als ein Teil seines Systems und nicht unabhängig davon zu verstehen ist. Die entsprechenden Begriffe, die aus seiner Systemphilosophie abgeleitet werden, sind unentbehrlich für 1 „Allerdings weicht dieser Grundriss zunächst von einem gewöhnlichen Kompendium durch die Methode ab, die darin das Leitende ausmacht.“ (PR, S. 12) 2 Näher siehe dieses Kapitel. 3 Dieter Henrich hat zum ersten Mal im Vorwort diesen berühmten Ausdruck für den folgenden Satz verwendet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Siehe Henrichs Vorrede zu der Nachschrift Anonymus.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_002

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Kapitel 1

das Verständnis seiner Rechtsphilosophie und deswegen ist die Kenntnis seiner grundlegenden philosophischen Thesen für das Verständnis der Grundlinien notwendig. 1.1

Hegels Polemik gegen die politische Philosophie seiner Zeit

Es ist für das Verständnis der Philosophie Hegels im Allgemeinen von zentraler Bedeutung, einzusehen, dass er durch sein philosophisches System einen neuen methodischen Weg einschlagen möchte. Das heißt, bevor wir das philosophische Denken auf bestimmte Gegenstände anwenden – von theoretischem bis zum praktischen Bereich –, müssen wir zuvörderst das Denken und seine Methode selbst zum Gegenstand unserer Untersuchung machen. Das ist die Aufgabe, die Hegel in seiner Wissenschaft der Logik ausführt, deren Ergebnis am Ende die Hervorbringung einer philosophischen Methode ist, mit deren Hilfe wir anfangen können, über die Welt, Gott, Politik usw. nachzudenken. Diese Darstellung der Methode des Denkens scheint in der Tat ein zentraler Aspekt seiner Philosophie zu sein.4 Wir werden im nächsten Kapitel den Versuch unternehmen, uns ein allgemeines Bild der Hauptzwecke in Hegels System zu verschaffen. Vorläufig soll hier aber bereits hervorgehoben werden, dass die Methode die letzte Stufe seiner Logik ausmacht, worin er die Formen des Denkens untersucht. Diese Methode ergibt sich als das Resultat dieser Untersuchung, was dann als die Form der Erkenntnis der Wahrheit zum Ausdruck kommt und für Hegel die einzig wahre Weise des Denkens über alle Gegenstände – Natur, Politik usw. – ausmacht. Es liegt nicht zuletzt an dieser spekulativen Methode, dass sich Hegels Werk von den anderen Arbeiten im Bereich der politischen Philosophie fundamental unterscheidet. Denn nur diese Methode, die sich schon im ersten Teil des Systems bewährt hat und hier als die Methode „vorausgesetzt“ wird, ist in der Lage, die Philosophie von dem „Verfall“ in Hegels Zeit zu retten: „Allerdings weicht dieser Grundriss zunächst von einem gewöhnlichen Kompendium durch die Methode ab, die darin das Leitende ausmacht. Dass aber die philosophische Art des Fortschreitens von einer Materie zu einer 4 In der ersten Vorrede zur Enzyklopädie ist Hegel der Meinung, dass er in seinem System „eine neue Bearbeitung der Philosophie nach einer Methode aufstellt, welche noch, wie ich hoffe, als die einzig wahrhafte, mit dem Inhalt identische anerkannt werden wird, so hätte ich es derselben dem Publikum gegenüber für vorteilhafter halten können, wenn mir die Umstände erlaubt hätten, eine ausführlichere Arbeit über die anderen Teile der Philosophie vorangehen zu lassen, dergleichen ich über den ersten Teil des Ganzen, die Logik, dem Publikum übergeben habe.“ (Enz, S. 11)

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Hegels Vorrede

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andern und des wissenschaftlichen Beweisens, diese spekulative5 Erkenntnisweise überhaupt, wesentlich sich von anderer Erkenntnisweise unterscheidet, wird hier vorausgesetzt. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Verschiedenheit kann es allein sein, was die Philosophie aus dem schmählichen Verfall, in welchen sie in unseren Zeiten versunken ist, herauszureißen vermögen wird.“ (PR, S. 12) Hegels Kritik setzt dort an, wo er in seiner Zeit Strömungen in der Philosophie findet, die sich, seiner Beobachtung nach, nicht zu der höchsten Stufe im philosophischen Denken, d.  h. zu einer zuverlässigen „spekulative(n) Wissenschaft“ erhoben haben. Das erste Ziel dieser Kritik sind die Anhänger der Wolff’schen Metaphysik, die im Rahmen der formalen Logik denken und Kategorien der Verstandeslogik in Anspruch nehmen. Hegel bezeichnet diese Gruppe als Anhänger „der vormaligen Logik“, welche die Kategorien des Denkens sowie das Urteilen als die Hauptfunktion des Denkens ohne nähere Untersuchung aufnehmen. Die zweite kritisierte Gruppe sind diejenigen, die durch „Phantasie“ und „aus dem Herzen“ philosophische Fragen behandeln wollen: zwei Positionen, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen.6 Er hat selbstverständlich eine andere Methode vor Augen als die der formalen Logik, in der die „Unzulänglichkeit der Formen und Regeln der vormaligen Logik, des Definierens, Einteilens und Schließens“ zu dem zweiten Extrem, d. h. dazu geführt haben könnte, dass die Regeln des Denkens als Fesseln verworfen werden und diese Enttäuschung der Vernunft sowie des 5 Mit Bezug auf die Grundlinien als Hegels praktische Philosophie interessiert uns eigentlich die Anwendung seiner spekulativen Methode im Bereich der praktischen Philosophie, was für Hegel eine moderne Tendenz bezeichnet: „Wir werden überhaupt die praktische Philosophie eigentlich nicht spekulativ sehen werden, bis auf die neuesten Zeiten.“ (VGPh, Bd. 1, S. 270) Laut Riedel ist diese Behauptung so zu verstehen, dass die vormoderne praktische Philosophie größtenteils einen nicht metaphysischen Charakter hatte in dem Sinne, dass es für Aristoteles und die Scholastik „keinen direkten Begründungszusammenhang zwischen Metaphysik und praktischer Philosophie“ gab. Erst im Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts wurde in diesem Bereich in den Fußstapfen der modernen Wissenschaften nach einer notwendigen, unbezweifelbaren, universellen Begründungsmethode für das menschliche Handeln gesucht. Hegels Anwendung seiner Methode in seiner praktischen Philosophie zeigt, seiner Aussage nach, seine Angehörigkeit zu dieser modernen Tradition. Näher siehe Riedel, Manfred (1982): Zwischen Tradition und Revolution: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, S. 14. 6 Vgl. Peperzak, Aadrian (1987): Philosophy and Politics: A Commentary on the Preface to Hegel’s Philosophy of Right, S. 47: „Concerning the true method, Hegel says here only that it is a scientific progression by means of proofs. With the adjective ‚speculative‘ he distinguishes from two misconceptions concerning the nature of philosophy: 1) traditional logic, which was transmitted by Wolff’s scholasticism, i.e., a logic of the intellect’s definitions, divisions and reasoning (a Verstandeslogik) and 2) a sentimental philosophy which considers itself to be above the logic of the understanding but is unconsciously totally ruled by it.“

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Kapitel 1

Denkens den Anreiz hervorgebracht hat, dass andere Wege zu ergreifen sind, nämlich dass man „aus dem Herzen, der Fantasie, der zufälligen Anschauung willkürlich“ die Gegenstände der Philosophie beurteilen sollte. Hegel ist hingegen der Auffassung, dass wir durch die „spekulative Wissenschaft“ in der Lage seien, „die Philosophie aus dem schmählichen Verfall, in welchen sie in unseren Zeiten versunken ist, herauszureißen […]“ (PR, S. 12)7 Es gibt für Hegel eine wissenschaftliche Form, die für uns die Wahrheit offenbart. Für die oben erwähnten Positionen hingegen ist diese Form dem Inhalt untergeordnet und weniger wichtig, denn „die Form sei etwas Äußeres und für die Sache Gleichgültiges“ (PR, S. 13). Wie wir die Wahrheit über Politik erreichen, sei sekundär, möge es aus irgendeiner Logik oder aus den Gefühlen sein. Es gehe hauptsächlich um diese Wahrheit, diesen Inhalt selbst. Hegel ist hingegen der Ansicht, dass es, wenn diese wahre Form fehlt, zu erwarten ist, dass ein jeder (im Fall der Politik) etwas anderes als das Ideal des politischen Zusammenlebens vorschlägt. In diesem Zustand werden wir es nicht mit einer, sondern mit mehreren „Wahrheiten“ zu tun haben, die jeder aus den eigenen Überzeugungen und Meinungen als die richtige Position bestimmt. Es sei dann abzusehen, dass eine Meinung von der einen Seite als Wahrheit angesehen, während ihr von der anderen Seite widersprochen werde. (PR, S. 13) In dieser Verwirrung sollte, Hegels Auffassung nach, die „wissenschaftliche Philosophie“ zur Hilfe genommen werden: „Was nun in diesem Gedränge von Wahrheiten weder Altes noch Neues, sondern Bleibendes sei, wie soll dieses aus diesen formlos hin – und hergehenden Betrachtungen sich herausheben – wie anders sich unterscheiden und bewähren als durch die Wissenschaft?“8 Ohne die wissenschaftliche Form befinden wir uns in einer unendlichen Vielfalt unterschiedlicher Meinungen, und das hält uns davon ab, das Wahre, zu erkennen, zu „begreifen.“ Diese Schwierigkeit aber entsteht durch die falsche Sichtweise derjenigen, die den „Wald vor den Bäumen“ nicht sehen wollen und in eigenen Meinungen befangen sind und denken, dass die Grundlage der Politik in irgendeiner besonderen Überzeugung zu suchen ist. (PR, S. 13) Die Tendenz zu Authentizität und Besonderheit hat für Hegel nur eine Pluralität an individuellen Erfindungen zum Resultat. Für ihn ist diese besondere Art des Denkens, vor allem für die Politik und Gesellschaft, illusionär, weil die Welt 7 Für eine Kritik der rationalistischen Methode vgl. den „Vorbegriff“ zu der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd.  8, „Erste Stellung des Gedankens zur Objektivität“.  § 26–36. Für die Kritik dieser beiden Positionen mit Bezug auf die philosophische Methode in der Politik siehe Thomson, Kevin (2017): Systematicity and Normative Justification, in: Hegel’s Political Philosophy: On the Normative Significance of Method and System. Thom Brooks und Sebastian Stein (Hrsg.), S. 44–66. 8 Über die Bedeutung der Einheit von Form und Inhalt siehe den dritten Teil dieses Kapitels.

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Hegels Vorrede

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ihre Struktur schon hat und nicht auf solche Philosophen gewartet hat, die ihr erst Strukturen verschaffen, „als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen noch gegenwärtig vorhanden sei, sondern als ob man jetzt – und dies Jetzt dauert immer fort – ganz von vorne anzufangen und die sittliche Welt nur auf ein solches jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe.“ (PR, S. 15) Solche Tendenzen, so Hegel, herrschen im Bereich der Naturerkenntnis aber nicht. Der Mensch versucht die Natur so zu erkennen, wie sie an sich ist. Meinungen sind hier nur dann gültig, wenn sie sich an der Natur ausrichten und sie, wie sie an sich ist, beschreiben:  „Von der Natur gibt man zu, dass die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, dass der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege […]“ (PR, S. 15) Wir sollten uns für deren Erkenntnis an der Natur selbst orientieren und die verborgene Vernunft in der Natur erkennen. Es gibt, so Riedel, hier keine Diskrepanz zwischen Sein und Sollen in der Natur.9 Aber im Bereich der Politik ist die Situation anders. Hier wollen wir nicht die Vernunft in der sittlichen Welt finden, denn die „Verschiedenheit der Gesetze“ in verschiedenen Zeiten und Orten sowie die Tatsache, dass die Gesetze von Menschen bestimmt werden – „die Rechtsgesetze sind Gesetztes, vom Menschen Herkommendes“ –, verleitet uns zu der Vorstellung, dass „sie nicht absolut sind“ wie die Gesetze der Natur. Diese Betrachtung vermittelt jedem den Eindruck, dass die Gesetze grundsätzlich voneinander verschieden und deswegen relativ und beliebig sind und dass jeder den Maßstab davon, was als Recht gelten soll, in sich hat und daher denkt, das Recht „sollte seinem eigenen Kriterium entsprechen.“ Aus diesem Grund fallen das Sein und Sollen der Gesetze auseinander. (PR, S.  16, Fußnote)10 Hegel möchte uns hingegen die notwendige absolute Vernunft in der Struktur des Rechts ans Licht bringen und nicht eine neue soziale Welt erfinden: „[E]r [der Mensch] muss also die Vernünftigkeit des Rechts betrachten, und dies ist die Sache unserer Wissenschaft […]“ (PR, S. 17, Fußnote) Hegels Auffassung nach gibt es, im Gegensatz zu diesen eitlen philosophischen Reflexionen, diejenigen, welche die Normen und Gesetze der Politik im Alltag grundsätzlich für gültig erachten und deswegen solches Philosophieren überhaupt verachten: „Nun geschieht es freilich, dass diejenigen, welche in dieser Wirklichkeit des Staats leben und ihr Wissen und 9

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Siehe Riedel, Manfred (1975): Natur und Freiheit, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Band 2, Manfred Riedel (Hrsg.), S. 109. Riedel ist darin zuzustimmen, dass die Welt des Rechts analog zur natürlichen Welt ist, weil beide feste Prinzipien als ihre Grundlage haben. Es ist aber zu beachten, dass die Rechtsgesetze darin von den Naturgesetzen zu unterscheiden sind, dass sie von uns bestimmt und deswegen geistiger Natur sind. Riedel, ebd., S. 109.

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Kapitel 1

Wollen darin befriedigt finden – und deren sind viele, ja mehr als es meinen und wissen, denn im Grunde sind es alle –, dass also wenigstens diejenigen, welche mit Bewusstsein ihre Befriedigung im Staate haben, jener Anläufe und Versicherungen lachen und sie für ein bald lustigeres oder ernsteres, ergötzliches oder gefährliches, leeres Spiel nehmen.“ Es seien aber nicht nur solche Gedanken, sondern die „Philosophie überhaupt“, welche der Verachtung preisgegeben würden. Und dies sei das Resultat der Verworrenheit der Philosophie und der geläufigen Methoden. (PR, S. 16) Hegel kritisiert besonders die „Philosophie der neueren Zeit“ als das Hauptthema seiner Polemik und widmet Jakob Friedrich Fries eine sehr scharfe Kritik. Vermutlich weil die Konsequenzen seiner Lehren in der Wirklichkeit zu spüren waren11, nennt er ihn den „Heerführer dieser Seichtigkeit, die sich Philosophieren nennt.“ Diese Tendenz, nämlich dass jeder glaube, in der Lage zu sein, zu philosophieren, ist ein direktes Resultat solcher Systeme der Philosophie, die dafür plädieren, „dass das Wahre selbst nicht erkannt werden könne, sondern dass dies das Wahre sei, was jeder über die sittlichen Gegenstände, vornehmlich über Staat, Regierung und Verfassung, sich aus seinem Herzen, Gemüt und Begeisterung aufsteigen lasse.“ (PR, S. 18) Diese Position, die Hegel mit dem Namen „Rabulisterei der Willkür“ bezeichnet, hat ein großes Publikum davon überzeugt, dass das, was da getrieben werde, Philosophie sei, und es ist eine mehr als verständliche Reaktion, wenn daraufhin die Rede von Philosophie keinen Respekt mehr erregt. Für Hegel ist diese Position im Ergebnis vergleichbar mit dem griechischen Sophismus, gemäß dem jeder das Kriterium des Richtigen und Falschen in sich habe und der Mensch der Maßstab von allem sei. Was dadurch zustande komme, seien „die Prinzipien, welche das, was Recht ist, auf die subjektiven Zwecke und Meinungen, auf das subjektive Gefühl und die partikuläre Überzeugung stellen.“ Diese Prinzipien seien nicht nur auf einer philosophischen Ebene oberflächlich, sie könnten vielmehr in der praktischen Sphäre für objektive Errungenschaften der Freiheit gefährlich sein: „Prinzipien, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgt.“ (PR, S. 21) Ebenso wie bei den Sophisten, die eine große Rolle bei der Zerstörung der alten Harmonie in 11

Die praktischen Implikationen seiner Lehre konnte man schon in der Ermordung von Koetzebue durch Sand, einen Theologiestudent in Jena, sehen. Siehe Peperzaak, Philosophy and Politics: A Commentary on the Preface to Hegel’s Philosophy of Right, S. 18–28. Zu den Auswirkungen dieses Mordes auf Hegels Grundlinien siehe auch Buchetmann, Elias (2020): Die Ermordung Kotzebues und Hegels Philosophie des Rechts, S. 35–61.

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Hegels Vorrede

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der Polis gespielt hätten, sieht Hegel eine große Gefahr in solchen Gedanken und möchte als der moderne Platon philosophisch gegen diese zerstörenden Tendenzen ankämpfen. Für Hegel besteht die Notwendigkeit seines Projekts darin, die vernünftigen Errungenschaften der Freiheit im Bereich der Politik zu retten, und er ist der Auffassung, dass ohne eine wahre Philosophie, die uns lehrt, was an den üblichen Verhältnissen und Institutionen vernünftig und notwendig ist, Unglaube und folglich Zerstörung entstünden. Hegel setzt sich in der Tat das Ziel, durch seine wissenschaftliche Philosophie die Philosophie im Allgemeinen – und in den Grundlinien die politische Philosophie – vor dieser Verachtung zu retten. Wie könne aber die Philosophie vor dieser Erniedrigung, in die sie geraten sei, gerettet werden? Selbstverständlich nicht durch eine Konzeption, nach der die Wahrheit als unerkennbar angesehen wird und jeder durch die inneren Vorstellungen das Kriterium der Wahrheit in sich zu haben glaubt. In diesem Fall müssten wir von einer Pluralität von Wahrheiten reden, aber da Menschen unterschiedliche und sogar gegensätzliche Kriterien in sich haben, wisse man dann nicht mehr, was richtig und was falsch sei. Als Folge solcher Ansichten hätten sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Gut und Böse usf. verwischt: „Denn indem jenes sich so nennende Philosophieren die Erkenntnis der Wahrheit für einen törichten Versuch erklärt hat, hat es, wie der Despotismus der Kaiser Roms Adel und Sklaven, Tugend und Laster, Ehre und Unehre, Kenntnis und Unwissenheit gleichgemacht hat, alle Gedanken und alle Stoffe nivelliert […]“ (PR, S. 23) Im Gegensatz zu solchen Gedanken vertritt Hegel die Auffassung, dass die Wahrheit im Allgemeinen und die Wahrheit von Staat und Recht im Besonderen zu erkennen ist, wenn wir die Philosophie „auf die Entwicklung des Gedankens und des Begriffs“, nicht aber „auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung“ gründen. (PR, S. 18) Die größte Täuschung solcher Positionen liege darin, die „mehrtausandjährige Arbeit der Vernunft“ der subjektiven Willkür zu überlassen, und zwar auf Kosten dieser hochwertigen Errungenschaften des menschlichen Denkens. (PR, S.  19) Aus dem oben Gesagten ist ersichtlich, dass Hegel ein anderes Bild von Philosophie und ihrer Aufgabe sowie ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit im Auge hat. In der wahren, spekulativen Philosophie haben wir es nicht mit subjektiven Vorstellungen zu tun: „[D]er wahnhafte Gedanke ist keine Meinung über die Sache, sondern der Begriff der Sache selbst.“ (PR, S. 17, Fußnote) Was der Begriff ist, werden wir später genauer behandeln; hier genügt es zu sagen, dass für Hegel der Begriff einer Sache keine subjektive Meinung über eine Sache, sondern die Wahrheit der Sache bezeichnet, deren Erkenntnis durch die wissenschaftliche Philosophie möglich ist. Schon am Anfang der

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Kapitel 1

Enzyklopädie beschreibt Hegel das Ziel seiner Philosophie als „Erkennen der Wahrheit“ (Enz, S. 13)12. Was die Philosophie zur Aufgabe hat, ist die Wiederbelebung der Hoffnung auf die Erkenntnis der Wahrheit: Ihren „Inhalt, die begreifende Erkenntnis Gottes und der physischen und geistigen Natur, die Erkenntnis der Wahrheit“ versucht Hegel ins Zentrum der Philosophie zu stellen, und jeder dieser Erkenntnisbereiche macht einen Teil seines enzyklopädischen Systems der Philosophie aus. Die Hoffnung auf die Kraft der philosophischen „Vernunft“ für die Erkenntnis der Wahrheit über Gott, die Natur und die geistige Welt steht im Herzen der Hegel’schen Philosophie, und es ist dieser Glauben an die Wahrheit, wodurch sich Hegels Philosophie von den oben kritisierten Vorstellungen fundamental unterscheidet. (PR, S. 22)13 1.2

Hegels Doppelsatz im Licht seiner Ideenlehre

Die Aufgabe der Philosophie ist für Hegel also, wie gezeigt, die Erkenntnis der Wahrheit. In seiner Rechtsphilosophie möchte er diese Wahrheit im Bereich der Politik untersuchen; deswegen ist das Thema seiner Grundlinien die Suche nach der sozialen und politischen Struktur, worin das höchste Ideal des menschlichen Lebens, d. h. die Freiheit, wirklich ist. Hegel ist hier auf der Suche nach der idealen politischen Struktur, in welcher der Mensch wahrhaft frei sein kann. Wie ist aber diese wahre politische Konstruktion durch seine wissenschaftliche Philosophie zu ermitteln? Bevor wir direkt auf diese Frage in der Vorrede eingehen, ist es an dieser Stelle erhellend, eine allgemeine Einsicht in die Wahrheit im hegelschen Sinne zu gewinnen, was im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt werden wird. Was ist Wahrheit bei Hegel? Was nennt Hegel „wahr“? Was für das Verständnis von Hegels Rechtsphilosophie und im Allgemeinen von seinem ganzen philosophischen System zentral ist, ist das Konzept der „Idee“ – „dass nichts 12 13

Auch in der zweiten Vorrede geht es ihm um das gleiche Ziel: „Worauf ich überhaupt in meinen philosophischen Bemühungen hingearbeitet habe und hinarbeite, ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit.“ (Enz, S. 14) Seine methodische Suche nach der Wahrheit beschränkt sich nicht ausschließlich, wie Siep zu Recht argumentiert, auf eine apriorische Begriffslehre, welche die notwendigen Strukturen aus apriorischen Prinzipien zu ergründen sowie zu erzeugen hat. Seine Philosophie ist vielmehr darauf gerichtet, diese notwendigen Normen in den wirklichen historisch vorgekommenen Rechtsstrukturen aufzusuchen. Mit anderen Worten: Er möchte eine Rechtsphilosophie etablieren, welche die notwendigen, vernünftigen Prinzipien in den wirklichen, historisch-positiven Verhältnissen aufzuweisen in der Lage ist. Näher siehe Siep, Ludwig (1997): Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, in: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Siep, Ludwig, (Hrsg.), S. 5–30.

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Hegels Vorrede

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wirklich ist als die Idee.“ (PR, S. 25) – als Bestimmung der Wahrheit: „Die Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität.“ (Enz § 213) Im nächsten Kapitel wird dargestellt, wie die Untersuchung der Denkbestimmungen in der Logik zu der Bestimmung der Wahrheit als Idee führt. Was dieser Definition bereits an dieser Stelle zu entnehmen ist, ist der grundlegende Gedanke, der besagt, dass die „Idee“ zwei Bestandteile hat: „Begriff“ und „Objektivität“: Wollen wir die Idee als Wahrheit erkennen, haben wir diese Idee durch den Begriff zusammen mit seiner objektiven Form in der Wirklichkeit zu suchen. Einerseits sei der Begriff einer Sache (in den Grundlinien: der Begriff der Freiheit) die Wahrheit der Sache gemäß der vernünftigen Notwendigkeit. Andererseits habe diese Idee eine objektive Seite, welche in der Wirklichkeit zu suchen sei. Dieser Begriff könne sich nur dann als wahr herauskristallisieren, wenn er ein sich entsprechendes Dasein bekommt. Ohne Objektivität bleibe die Idee nur ein leeres Ideal. Dieses wirkliche Dasein, das in sich den vernünftigen Begriff reflektiert, nennt Hegel die Idee, die Wahrheit. Kurz gesagt: Die Wahrheit einer Sache, das, was Hegel die Idee nennt, ist das wirkliche Dasein der Sache, das gleichzeitig den Begriff der Sache reflektiert und dessen Verwirklichung ist. Aus dieser Bestimmung wird das Folgende deutlich: Zum einen verdient ein reines Sollen, das nur in Gedanken existiert, nur den Namen eines Abstraktums. Für Hegel ist die „Abtrennung der Wirklichkeit von der Idee“ ein Produkt des Verstandes und des abstrakten Denkens, während die Vernunft die Wahrheit in der Wirklichkeit ans Licht bringt. Grundsätzlich ist jedes Wesen für ihn nur dann wahr, wenn es sich von der defizitären Form einer Abstraktion befreit und in die Wirklichkeit umsetzt. Die Idee sei insofern die Wahrheit, weil sie, neben dem Begriff, auch die Bestimmung der Objektivität in sich habe. In diesem Zusammenhang weist Hegel darauf hin, dass Wahrheit, die „Idee […] nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein.“ (Enz § 6) Zum anderen sei die Idee ohne den vernünftigen Begriff nur ein vorübergehendes Dasein. Wenn von der Wirklichkeit als der objektiven Form der Idee die Rede ist, darf man darunter nicht jede beliebige Existenz verstehen. Die gemeinte Entität muss durch den „Begriff“ der Freiheit als gerechtfertigt und notwendig gekennzeichnet sein. Der Begriff ist die belebende Seele, die die Vernunft in der Wirklichkeit ist: „Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewusstsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch

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Kapitel 1

schlagend zu fühlen.“ (PR, S. 25) Mit anderen Worten: Um das Ewige und Vernünftige in der Wirklichkeit zu erkennen, und dadurch zur Erkenntnis der Idee zu gelangen, haben wir den Begriff in diesen Formen zu suchen. Der Begriff ist für Hegel das Kriterium der Vernünftigkeit oder Rationalität einer Norm, das uns hilft, von den unendlich vielen Verhältnissen in der Wirklichkeit diejenigen anzuerkennen, die in diesen Rahmen passen.14 Das ist Hegels leitendes Prinzip in der Rechtsphilosophie: Er expliziert sowohl die begrifflichen vernünftigen Notwendigkeiten der Freiheit als auch die wirklichen, objektiven Gestaltungen dieser begrifflichen Notwendigkeiten in der Form der Rechtsverhältnisse.15 Es ist Hegels Grundthese, dass die Wahrheit von Politik und Staat in einer Form schon in der Wirklichkeit vorhanden ist: „Ohnehin über Recht, Sittlichkeit, Staat ist die Wahrheit ebenso sehr alt, als in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen Moral und Religion offen dargelegt und bekannt.“ (PR, S.  13) Was wir als die Kriterien des idealen und wahren Staats ansehen, ist schon in der modernen Gesellschaft präsent und wir müssen nicht erst eine neue Struktur, neue Institutionen aufbauen, um das Ideal der Freiheit wirklich zu machen. 14

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Es ist deswegen unhaltbar, Hegels politische Philosophie als „Philosophie der Rechtfertigung des Bestehenden“ abzutun. Für einen solchen Vorwurf siehe Tugendhat, Ernst (1993): Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung: Sprachanalytische Interpretationen, S. 351. Siehe auch Haym, Rudolf (1962): Hegel und seine Zeit. S. 367 f. Ferner auch Popper, Karl (1966): The Open Society and Its Enemies. Bd.  2: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, fünfte Auflage, S.  41. Zudem ist auch Iltings These zu widersprechen, dass der liberale Hegel seine Grundthesen aus Angst vor politischer Verfolgung in einer konservativen Form zum Ausdruck gebracht habe. Es liegt vielmehr an den dem hegelschen System immanenten Gründen, dass Hegel einen Teil der Wirklichkeit als vernünftig bezeichnet. Siehe Ilting, Karl-Heinz (1975): Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd.  2, S.  69. Vgl. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. S. 5–30. Durch diese Erklärungen ist klar, dass die Konzepte wie Idee, Begriff, Methode, die ihre Rechtfertigung in Hegels Metaphysik finden, diesem Werk fundamental zugrunde liegen, und daher wird diese Verbindung hier auch anders als bei den Autoren verstanden, die versuchen, die Grundlinien unabhängig von Hegels System zu rekonstruieren. Allen Wood ist als Beispiel zu nennen, der die Rechtsphilosophie ohne Rückgriff auf das System zu interpretieren versucht, weil Hegels metaphysische Thesen seiner Ansicht nach obsolet sind: „The fact is rather that Hegel’s great positive achievements as a philosopher do not lie where he thought they did, in his system of speculative logic, but in quite a different realm, in his reflections on the social and spiritual predicament of modern Western European culture.“ Wood, Hegels Ethical Thought, S. 5. Im Gegensatz zu dieser Position war Hegel, der hier vorgelegten Interpretation zufolge, stolz darauf, ein System entwickelt zu haben, in welchem sein politisch-philosophischer Ansatz genau deswegen einen solchen Wert und eine solche Überzeugungskraft hat, weil er auf der spekulativen Methode basiert.

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Hegels Vorrede

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Was wir brauchen ist nur eine vernünftige „Form“, das wahre Denken, womit wir die Vernunft in den vorhandenen Verhältnissen wiedererkennen, und genau das ist das, was Hegel „Begreifen“ nennt: „Was bedarf diese Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist sie in dieser nächsten Weise zu besitzen nicht zufrieden ist, als sie auch zu begreifen und dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen, damit er für das freie Denken gerechtfertigt erscheine, welches nicht bei dem Gegebenen, es sei durch die äußere positive Autorität des Staats oder der Übereinstimmung der Menschen, oder durch die Autorität des inneren Gefühls und Herzens und das unmittelbar beistimmende Zeugnis des Geistes unterstützt, stehenbleibt, sondern von sich ausgeht und eben damit fordert, sich im Innersten mit der Wahrheit geeint zu wissen?“16 (PR, S. 14) Das Ziel dieser skizzenhaften Erläuterung der Idee als der Bestimmung der Wahrheit bei Hegel war, dass wir die grundlegende These Hegels in seiner Rechtsphilosophie vor Augen haben, um den gesamten Aufbau des Textes verstehen zu können. Wie können wir nun mit dieser Einsicht das Rätsel des „Doppelsatzes“ in der Vorrede lösen? Der Doppelsatz wird leicht verständlich, wenn wir diese These auf Hegels Ziel in den Grundlinien anwenden, was unbestritten darin besteht, dass es Hegel in diesem Werk um die Freiheit geht, d. h. darum, zu explizieren, was ein freier Wille notwendig braucht, um sich in die Wirklichkeit umzusetzen. Sein Anliegen besteht also in der Explikation der Bedingungen, unter denen ein Wille wahrhaft frei sein kann: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. Was in diesem berühmten Satz zum Ausdruck kommt, ist Hegel Grundthese, die aus zwei Elementen besteht: dem Vernünftigen und dem Wirklichen. Nach dieser Grundthese hat der Bereich des Normativen für Hegel ein grundlegendes Prinzip: Es sind nur diejenigen Normen gültig, welche die Struktur der Idee aufweisen. Mit anderen Worten: In der Politik haben wir es nur mit gültigen Normen zu tun, wenn diese sowohl vernünftig als auch wirklich sind.17 16

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In diesem Zusammenhang findet er die Position derjenigen plausibler, die gegenüber den unwirklichen Idealen die Wirklichkeit vorziehen: „Diejenigen haben nicht ganz unrecht, die von Wirklichkeit, Realität, Erfahrung reden und dagegen das Ideal ein leeres nennen. Nur haben sie den Spiegel der Wirklichkeit recht gehalten, sie nicht mit der Vernunft betrachtet, denn so erscheint die Welt auch vernünftig.“ Siehe Nachschrift Anonymus, S. 48. Mit Siep gesprochen ist Hegels philosophische Methode nicht nur das „deskriptive“, sondern auch das „normative Begreifen der Wirklichkeit“, weil für ihn die Idee oder Wahrheit

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Kapitel 1

Was in dieser Metaphysik der Politik ins Auge fällt, ist der Gedanke, dass für Hegel keines von diesen zwei Elementen vor dem anderen Vorrang hat.18 Im letzten Kapitel der Grundlinien möchte er genau dadurch seine Theorie rechtfertigen, dass in der Sittlichkeit die beiden Elemente erfüllt werden. Es soll also eine Wirklichkeit gezeigt werden, welche dadurch die Lücken der kantischen Freiheitstheorie zu schließen versucht, dass die vernünftigen Elemente des Freiheitsbegriffs schon in den wirklichen Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft existieren.19 Eine wichtige Implikation dieser These ist, dass wir den vernünftigen Begriff in der Wirklichkeit aufsuchen, und es ist in der Wirklichkeit, dass wir das Vernünftige zu finden haben. Jedes Ideal, das die Grenzen der Wirklichkeit überschreitet, ist für Hegel eine Utopie, etwas, das nicht existieren kann, und darin besteht auch die Position seiner Philosophie: „Es ist eben diese Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit, welche die Missverständnisse betreffen, und ich kehre hiermit zu dem zurück, was ich vorhin bemerkt habe, dass die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte – oder von dem man in der Tat wohl zu sagen weiß, wo es ist, nämlich in dem Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonierens.“ (PR, S. 24) Ganz deutlich liegt dieser Gedanke, nach dem die Objektivität eine Seite der Idee (Wahrheit) ausmacht und wir das Vernünftige (Begriff) nur in der Wirklichkeit zu suchen haben, dem methodischen Fortgang der Grundlinien zugrunde. Hegel redet nicht ausschließlich von vernünftigen Normen der

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der Wirklichkeit „weder ontologisch noch normativ“ zu trennen ist und die Wirklichkeit selbst ein Element der Idee ausmacht. Hegels Betrachtung des Vernünftigen im Wirklichen steht laut Siep in dieser Hinsicht dem aristotelischen Begriffsrealismus nahe. Näher siehe Siep, Ludwig (2010): Hegels Rezeption der aristotelischen Politik, in: ders., Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. S. 59–76. Hegels Doppelsatz enthält, wie Wood festhält, zwei Implikationen: „Hegel’s thesis that ‚the rational is actual, and the actual is rational‘ has both a speculative meaning and a practical one. The speculative meaning is that philosophical wisdom consists in contemplating the inner rational essence of things rather than dwelling on their contingent appearances. The practical meaning is that rational action proceeds not from ideals or principles set up in independence of what is, but rather from a rational comprehension of what is.“ Siehe Wood, Hegel’s Ethical Thought, S. 14. Schon in dem ersten Paragraphen der Grundlinien macht er deutlich, dass die von ihm gemeinte „Wirklichkeit“ keine beliebige Existenz impliziert, was für seine Rekonstruktion keinen Wert hätte, weil eine solche auch wieder verschwände; sie bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Elemente der wirklichen Welt, die das Vernünftige oder den Begriff in sich reflektieren: „Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf.“ (PR § 1)

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Hegels Vorrede

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Freiheit. Er betrachtet vielmehr parallel die wirklichen Strukturen (Rechtsverhältnisse), die mit diesen vernünftigen Normen verbunden und ihre Verwirklichung sind. Die Bestandteile der Idee der Freiheit sind, wie oben erwähnt, einerseits der vernünftige Begriff der Freiheit und andererseits seine Wirklichkeit. Was für das Verständnis der Idee der Freiheit in der Rechtsphilosophie von großer Bedeutung ist, sind der „Begriff eines freien Willens“ und das „Recht“. In unserer Untersuchung der Freiheit fragen wir uns: Was ist die wirkliche Form, die die aus dem vernünftigen Begriff der Freiheit abgeleitete Bestimmung in der objektiven Welt annehmen kann, bzw. was reflektiert meine Freiheit in der Wirklichkeit? Hegels Antwort ist: das Recht. Mein Recht bezeichnet die Sphäre meiner Freiheit. Mein Recht auf etwas ist das, was unter meinem Willen steht und dessen wirkliche Reflexion ist. Aus diesem Grund ist für Hegel „das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit“. (PR § 4) Dadurch wird ersichtlich, warum die Frage nach der idealen politischen Struktur der Freiheit durch die Frage nach der „Idee des Rechts“ als der wirklichen Konstruktion des Freiheitsbegriffs ersetzt wird: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ (PR § 1) Es ist diese Frage, die Hegel im Laufe der Rechtsphilosophie beschäftigt. Vor diesem Hintergrund ist der Doppelsatz zu lesen20, in dem die kurze Form dieser Beziehung zwischen dem vernünftigen Begriff der Freiheit und seiner Objektivität oder Wirklichkeit, die zusammen die Idee (Wahrheit) der Freiheit ausmachen, zum Ausdruck kommt.21 Es sollte bis hierher deutlich geworden sein, dass Wirklichkeit für Hegel eine besondere Bedeutung hat und mit ihr nicht jede zufällige Existenz gemeint ist. Für Hegel gibt es selbstverständlich Existenzen in der Welt, die zufällig und vorübergehend sind: „[W]er wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll? […]“ (Enz § 6) Was er mit Wirklichkeit meint, sind vielmehr die wirklichen Formen der Vernunft oder des Begriffs, die wir durch Philosophie erkennen können. Dieser Ausdruck 20 21

Beiser ist zuzustimmen, dass Hegels politische Philosophie im Lichte seiner Metaphysik zu lesen ist, weil sie das Fundament anderer Disziplinen und Wissenschaften vorbereitet. Siehe Beiser, Frederick (2005): Hegel. S. 195 ff. Außerdem kann der Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit, was später behandelt werden wird, nur dann sinnvoll erscheinen, wenn wir ihn in diesem Licht lesen, was bedeutet, dass wir einsehen, dass die moralischen Pflichten nicht durch eine abstrakte Formel, sondern im Kontext einer Wirklichkeit aufzusuchen sind, welche diese Kombination von Vernunft und Wirklichkeit in sich zeigt. Hegel macht deutlich, wie die wirklichen Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft das Vernünftige des Freiheitsbegriffs in sich reflektieren.

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Kapitel 1

sollte uns deswegen nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass Hegel dadurch seine Zustimmung zu den politischen Verhältnissen seiner Zeit äußern wollte; vielmehr wollte er durch seine philosophische Ansicht die Möglichkeit geben, diejenigen Gestalten in der wirklichen Welt zu erkennen, die dem vernünftigen Begriff gemäß sind: „Insofern diese Einheit nicht vorhanden ist, ist etwas nicht wirklich, wenn auch Existenz angenommen werden dürfte. Ein schlechter Staat ist ein solcher, der bloß existiert; ein kranker Körper existiert auch, aber er hat keine wahrhafte Realität. Eine Hand, die abgehauen ist, sieht auch noch aus wie eine Hand und existiert, doch ohne wirklich zu sein; die wahrhafte Wirklichkeit ist Notwendigkeit: was wirklich ist, ist in sich notwendig. Die Notwendigkeit besteht darin, dass das Ganze in die Begriffsunterschiede dirimiert sei und dass dieses Dirimierte eine feste und aushaltende Bestimmtheit abgebe, die nicht totfest ist, sondern in der Auflösung sich immer erzeugt.“ (PR § 270 Z)22 Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass er mit wirklich nur die objektiven Formen meint, die den notwendigen, vernünftigen Begriff in sich selbst aufweisen.23 Der Schluss, der von Hegels Bild der Wahrheit für seine politische und Sozialphilosophie zu ziehen ist, ist der folgende: Die Grundnormen als Grundlagen unserer Freiheit sind in der Wirklichkeit, d. h. in der modernen Gesellschaft seiner Zeit zu suchen. Die Aufgabe des Philosophen besteht in erster Linie darin, den philosophischen und wahren Sinn der Freiheit zu veranschaulichen. Als Nächstes und parallel dazu sehen wir mithilfe dieser begrifflichen Mittel, dass diese notwendigen Bedingungen der Freiheit schon zum Teil in den Normen der modernen Gesellschaft gegenwärtig sind. Es ist notwendig einzusehen, dass diese wirklichen Normen nur deswegen gültig sind, weil sie die wirklichen Formen des Freiheitsbegriffs sind. Die reine Existenz dieser Normen ist kein ausreichender Grund ihrer Gültigkeit. Für Hegel sind nur diejenigen Norman gültig, welche aus dem vernünftigen „Begriff der Freiheit“ 22 23

An dieser Stelle ist Herr von der Pfordten zu danken, der auf dieses Zitat hingewiesen hat. Jaeschke ist darin zuzustimmen, dass es Hegel in den Grundlinien weder um die „Kritik“ noch die „Affirmation“ des Status quo geht, sondern „um die Erkenntnis des Ewigen, das in der damaligen Welt des Rechts und des Staates gegenwärtig ist.“ Siehe Jaeschke, Walter (2014): Das Ewige, das gegenwärtig ist, in: Autonomie und Normativität: Zu Hegels Rechtsphilosophie. Seelmann, Kurt und Zabel, Benno (Hrsg.), S.  413. In einem ziemlich ähnlichen Sinne vertritt auch Stern die Auffassung, Hegel gehe es in dem Doppelsatz nicht um eine „normative Bewertung“ des Wirklichen; vielmehr bestehe Hegel darauf, dass die vernünftige Methode die Grundlage des Philosophierens sei und den Leitfaden der philosophischen Untersuchungen ausmache. Aus diesem Grund sei Hegel weder „progressiv“ noch „konservativ“ zu lesen. Siehe Stern, Robert (2008): Hegel’s Doppelsatz: A Neutral Reading, in: Hegelian Methaphysics. S. 81–114.

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Hegels Vorrede

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abgeleitet werden können. Genau dieser Gedanke gibt uns einen Maßstab der Kritik anderer Normen, welche mit dem Maßstab nicht übereinstimmen. Diese Grundthese Hegels, nach der die Wahrheit zwei Elemente hat, d. h. aus dem vernünftigen Begriff und der wirklichen Objektivität besteht, zeugt von einer gewissen Bescheidenheit. Eine Implikation seiner „Ideenlehre“ ist der Glaube an die Beschränktheit der Philosophie auf ihre Zeit. Diese Auffassung, dass die Philosophie das Aufstellen von Idealen vermeiden und sich stattdessen mit dem Erfassen der Vernunft in der Wirklichkeit befassen sollte, ist eigentlich eine grundlegende These in seinem System, und Hegel zieht daraus zwei Schlüsse in der Vorrede: Zum einen ist jedes Individuum auf seine Zeit beschränkt und daher können seine Gedanken diese Grenze auch nicht überschreiten: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst.“ Tatsächlich existiere die Welt des Sollens, d. h. die Welt, „wie sie sein soll“, nur in den Gedanken, und man könne sich alles einbilden, was man wolle. (PR, S. 26)24 Zum anderen ist Philosophie überhaupt nicht in der Lage, zu „[b]elehren, wie die Welt sein soll.“ Philosophie als „Gedanke der Welt“ kommt, wenn eine Form des Lebens ihre Reife erreicht hat. Platons Politeia sei ein vortreffliches Beispiel: Sein Entwurf eines Idealstaats entstehe erst, wenn die griechische Polis den Höhepunkt ihrer Entwicklung schon vollständig erreicht habe und ihre Widersprüche schon ans Licht gekommen seien. Platon sehe ein, dass das Prinzip der Individualität die Polis mit dem Verderben bedrohe, und seine Lösung sei die Vernichtung dieses Prinzips in seinem Idealstaat.25 (PR, S. 27) Es ist in diesem Sinn, dass Hegel sagt, „dass selbst die Platonische Republik, welche als das Sprichwort eines leeren Ideals gilt, wesentlich nichts aufgefasst

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Die Übereinstimmung zwischen Vernunft und Wirklichkeit ist für ihn so fundamental, dass jede Philosophie, um eine wahre Philosophie genannt werden zu können, diese Übereinstimmung in sich enthalten soll: „Ja, diese Übereinstimmung kann für einen wenigstens äußeren Prüfstein der Wahrheit einer Philosophie angesehen werden, so wie es für den höchsten Endzweck der Wissenschaft anzusehen ist, durch die Erkenntnis dieser Übereinstimmung die Versöhnung der selbstbewussten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen.“ (Enz § 6) „Platon in seinem Staate stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und Wahrheit dar; er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen Besonderheit, das in seiner Zeit in die griechische Sittlichkeit hereingebrochen war, nicht anders fertig zu werden, als dass er ihm seinen nur substantiellen Staat entgegenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum (§ 46 Anm.) und in der Familie hat, und dann in seiner weiteren Ausbildung als die eigene Willkür und Wahl des Standes usf. ganz ausschloss.“ (PR § 185 Anm.) Vgl. Politeia, (416–417) und (457–471).

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Kapitel 1

hat als die Natur der griechischen Sittlichkeit […]“ (PR, S. 24)26 Die Tatsache, dass auch Platon seine eigene Zeit in Begriffen rekonstruiert hat, ist für Hegel ein Beweis dafür, dass die Philosophie zu jeder Zeit genau dies getan hat. Deswegen sei es unsinnig zu sagen, wie die Welt sein solle: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (PR, S. 28)27 Kurz gesagt: Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, ihre eigene Zeit in Gedanken zu erfassen und nicht, wie Marx glaubte, die Welt zu verändern.28 Hegel selbst bleibt dieser Auffassung treu. Er möchte in seiner Abhandlung über Politik kein Ideal aufbauen: „Als philosophische Schrift muss sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen […]“ (PR, S. 26) Wie bereits bemerkt wurde, geht es in der Philosophie darum, die Vernunft in der Vielfalt der unterschiedlichen wirklichen Formen als die ewige Substanz zu erkennen: „Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.“ (PR, S. 25) Unsere Aufgabe in der Philosophie, so Hegel, besteht darin, die Bestimmungen des Begriffs in der Wirklichkeit, was Hegel Idee nennt, zu erkennen.29 Aber wie können wir die Idee oder den Begriff in der Wirklichkeit erblicken? Was für unsere Untersuchung ausschlaggebend ist, ist die dialektische Methode30, auf die Hegel am Anfang der Vorrede verweist. Es ist Hegels 26

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Platon ist Hegels Ansicht nach auch das Kind seiner Zeit gewesen. Er hatte seine Zeit zwar richtig in Gedanken gefasst, hatte aber das begriffliche Werkzeug nicht zur Verfügung, um einzusehen, wie wertvoll und fundamental „die freie unendliche Persönlichkeit“ (PR, S. 24) ist. Aus diesem Grund hat er versucht, dieses Prinzip aus seinem Idealstaat fernzuhalten. „Nicht überfliegen soll die Philosophie ihre Zeit; sie steht in ihr, sie erkennt das Gegenwärtige. Das ewig Wahre ist kein Vergangenes und kein Zukünftiges.“ Siehe Nachschrift Anonymus, S. 48. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Marx, Karl; Engels, Friedrich (1958): Thesen über Feuerbach, in: Marx / Engels: Werke in 43 Bänden. Bd. 3, S. 7. Vgl. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, S. 18. Dieter Henrich bringt den Punkt sehr schön zum Ausdruck, dem zufolge die „Stärke“ der praktischen Philosophie darin bestehe, mit Hilfe von Hegels Methode die komplexen Beziehungen der modernen Gesellschaft verständlich in einem theoretischen Rahmen zum Ausdruck zu bringen: „Stärke und auch Stolz der Philosophie Hegels war es, die Theorieform der spekulativen Philosophie zum Begreifen von Wirklichem instandgesetzt zu haben. Hegel war Historiker, und auf die Geschichte von Verfassungen, von in Ordnungen geregelten Lebensverhältnissen orientierter Historiker gewesen. Die spekulative

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Hegels Vorrede

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Anforderung an uns, dass wir für das Verständnis seines Werks eine „Bekanntschaft mit der wissenschaftlichen Methode“ erwerben, weil „das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht.“ Hegel möchte, dass wir seine Arbeit durch diese Brille lesen: „von dieser Seite möchte ich auch vornehmlich, dass diese Abhandlung gefasst und beurteilen würde.“ (PR, S.  13) So will Hegel eine wissenschaftliche (unbezweifelbare und nicht subjektivistische und willkürliche Art und Weise der) Philosophie betreiben, und zwar durch die wahrhafte Methode. Durch diese Methode erkennen wir den vernünftigen Begriff in der Wirklichkeit und erreichen die Einsicht in das ideale politische Leben.31 Hegel kommt am Ende auf seinen anfänglichen Punkt in der Vorrede zurück. Wir haben gesehen, dass seine Argumentation gegen diejenigen gerichtet war, die, ohne zuerst über das Denken selbst und dessen Methode zu reflektieren, die politischen Normen bestimmen wollten. Für solche Meinungen kann jede beliebige Ordnung Wirklichkeit oder auch Schranke der Freiheit sein. Für Hegel hingegen ist die wahre philosophische Form und Methode wesentlich für die Erkenntnis der Wahrheit über Politik. Hegel geht in der Vorrede sogar einen Schritt weiter und redet von der „Einheit“ zwischen der Form des Erkennens und dem Inhalt. Wie ist nun diese These zu verstehen?

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Theorieform, was immer die theoretischen Gründe waren, die sie ihm unausweichlich machte, hat ihm immer nur in dem Maße als wirklich gewonnen und bewährt gegolten, in dem sie es vermochte, solche Lebensverhältnisse in ihrer ganzen Komplexion nicht nur zu bezeichnen, sondern in einer ihr eigentümlichen und nur von ihr her zu gewinnenden Begriffsform aufzufassen und durchsichtig zu machen: Nur der spekulative Gedanke ist konkret. Und er ist es, insofern er in nichts weiter als der Form seiner Begriffe sich ausbildet.“ Henrich, Dieter (1982): Logische Form und reale Totalität, in: Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Henrich und Horstmann (Hrsg.), S. 428–450. Für die Zentralität der vernünftigen Methode Hegels für das Verständnis der Vorrede sowie des ganzen Werks siehe auch Robert Stern, Hegel’s Doppelsatz: A Neutral Reading, S. 114. Warum muss man überhaupt Ontologie und Metaphysik für eine Untersuchung in der praktischen Philosophie zur Hilfe nehmen? Wir können in der Tat nicht auf solche theoretischen Fragen verzichten, weil man, wenn vom Denken im Bereich der praktischen Philosophie die Rede ist, schon die Grundfrage beantwortet haben muss, wie man überhaupt denken muss. Erst dann ist die Frage nach dem legitimen und gerechtfertigten politischen System beantwortbar. Man muss ergründen, was die gerechtfertigte Methode des Denkens ist, um zwischen dem Richtigen und Falschen, Legitimen und Illegitimen unterscheiden zu können. In einem anderen Sinn hebt auch Weisser-Lohmann die Unverzichtbarkeit von Hegels Metaphysik für das Verständnis seiner praktischen Philosophie hervor, und zwar in dem Sinne, dass Hegels System als Ganzes die Möglichkeit zur Verfügung stellt, die „Ganzheit menschlichen Lebens“ zu verstehen. Siehe Weisser-Lohmann, Elisabeth (2011): Rechtsphilosophie als praktische Philosophie: Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ und die Grundlegung der praktischen Philosophie, S. 25.

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Kapitel 1

Für Hegel liegt der Nous bzw. die Vernunft nicht nur der natürlichen und sittlichen Welt, sondern unserem Denken zugrunde, und das Denken, das sich zu der Stufe „der Vernunft als begreifendes Erkennen“ erhebt, ist in der Lage, diese zugrunde liegende Vernunft auch in der Welt zu erblicken und diese vernünftige Form in dem vernünftigen Inhalt zu finden. In diesem Sinn ist die „Einheit der Form mit dem Inhalt“ zu verstehen: „Dies ist es auch, was den konkreteren Sinn dessen ausmacht, was oben abstrakter als Einheit der Form und des Inhalts bezeichnet worden ist, denn die Form in ihrer konkretesten Bedeutung ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit; die bewusste Identität von beidem ist die philosophische Idee.“ (PR, S. 26) Konkret ist gemeint, dass es nur die wahre Philosophie oder begriffliche Form ist, durch die wir den vernünftigen Inhalt in der Wirklichkeit wiedererkennen können, wie sie an sich ist. An dieser Stelle stellt sich eine Frage: Einerseits erhebt Hegel keinen Anspruch darauf, mit seiner Philosophie die endgültigen Normen der Geschichte gefunden zu haben, weil für ihn jede Philosophie ihre eigene Zeit in Gedanken erfasst. Andererseits aber ist er der Auffassung, durch sein System die Idee als die ewige Wahrheit erkennen zu können. Wie sind nun diese zwei scheinbar gegensätzlichen Aussagen miteinander vereinbar? Mit anderen Worten: Wenn er vorher die Auffassung vertreten hat, jede Philosophie erfasse ihre Zeit in Gedanken und jeder sei der „Sohn seiner Zeit“, warum betont Hegel dennoch, dass sein Ziel in der Rechtsphilosophie die Erkenntnis der ewigen Wahrheit über den Staat sei? Wie kann er einerseits behaupten, dass seine Philosophie die Erfassung seiner Zeit in Gedanken ist, und gleichzeitig behaupten, er habe das Ewige erkannt? Hegel hat den ambitionierten Anspruch, durch sein philosophisches System die Wahrheit, das Ewige zu erkennen,32 und in den Grundlinien geht es ihm um die Erkenntnis des wahren Staates. Er erfasst zwar seine Zeit in Gedanken; das ist aber nicht in einem zeitlichen Sinne gemeint. Denn eigentlich erfasst er das Ewige in seiner Zeit. Es kann leicht gezeigt werden, dass sich vieles im Vergleich zu Hegels Zeit geändert hat. Sind diese Ideen deswegen zeitlich bzw. beschränkt auf Hegels eigene Zeit? Wenn das so wäre, könnte dieser Gedanke selbstverständlich nicht mit der Behauptung der Ewigkeit der Idee in Einklang gebracht werden. Die Aussage über die Beschränktheit seiner Philosophie auf seine Zeit ist nur dann mit der Behauptung vereinbar, es gehe ihm um die Aufdeckung des Ewigen der Freiheit in dem Wirklichen, wenn wir uns vor Augen führen, mit 32

„Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehen die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.“ (PR, S. 25)

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Hegels Vorrede

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welchem Ziel wir es zu tun haben. Freiheit ist bei Hegel das Ziel des menschlichen Lebens, aber nicht beschränkt auf eine bestimmte Zeit, wie ein Projekt, das in einem bestimmten Zeitraum vollständig wirklich wird. Für ihn ist die Freiheit, mit Pinkard gesprochen, ein „unendliches Ziel“, dem wir uns immer annähern.33 Die These aus der Ideenlehre in der Wissenschaft der Logik, die dem Übergang von Moralität zur Sittlichkeit zugrunde liegt, welche später noch ausführlicher diskutiert werden wird, spricht genau für die Unendlichkeit der Geschichte der Freiheit. Nach dieser These ist und wird der Begriff oder das Vernünftige der Freiheit in der Welt wirklich. Anders ausgedrückt: Hegel gibt uns in seiner Rechtsphilosophie nicht nur die grundlegende Logik des Politischen, sondern eine Liste von Normen und Institutionen an die Hand, welche die Verkörperung des vernünftigen Begriffs der Freiheit sind. In diesem Sinne ist Hegels Philosophie ein großer, wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Bewusstsein der Freiheit, denn er unternimmt in dieser politischen Schrift den Versuch, die ontologischen Grundlagen der Freiheit zu erkennen.34 Diese Liste ist aber noch nicht vollständig. In jeder Periode ist es unsere Aufgabe, diese Liste weiter anzureichern. Der Philosoph darf nicht die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit bestätigen, sondern muss die „Rose im Kreuz“ seiner Gegenwart entdecken,35 was eine ewige Aufgabe für die Philosophen ist. Wenn wir diese Aussage Hegels genauer betrachten, wird ersichtlich, dass er seiner Philosophie eine ganz bescheidene Rolle zuweist. Er behauptet nicht, die endgültigen Normen und Institutionen der Freiheit gefunden zu haben; vielmehr ist er der Auffassung, den ontologischen Rahmen der Freiheit gesetzt 33

34 35

Pinkard unterscheidet zwischen zwei Typen von Zweck: Zum einen gibt es endliche Zwecke, wie etwa wenn wir Wasser trinken, un unseren Durst zu löschen, oder im April Urlaub machen wollen. Zum anderen gibt es unendliche Zwecke, welche durch keine Einzelhandlung oder Folge von Handlungen zu erreichen sind und daher in der Tat niemals vollständig ausgeschöpft werden können. Näher siehe Pinkard, Terry, Does History Make Sense? Hegel on the Historical Shapes of Justice. S. 41. „One comprehends such an infinite end not when one has added up all the actions that manifest it but when one has comprehended the principle that is at work in the way those actions manifest it.“ Ebd. S. 42. Wenn Hegel in diesem Zitat von der Notwendigkeit der Objektivität der Strukturen als dem Anfangspunkt der philosophischen Erkenntnis redet („Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“), impliziert dies, im Gegensatz zu Avineri, keine pessimistische Sichtweise im Sinne des „Todes“ (demise) dieser Institutionen. Vgl. Avineri, Shelomoh: Hegel’s Theory of the Modern State, S. 129 f. Es bezieht sich tatsächlich, wie schon erwähnt, sowohl auf deren ontologische Notwendigkeit für die Idee sowie auf deren epistemologische Notwendigkeit für die Erkenntnis dieser Wahrheit.

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Kapitel 1

zu haben. Was nun diese grundlegende Struktur in jeder Periode braucht, ist die Erweiterung der hegelschen Liste der Normen und Institutionen. Wenn wir den Aspekt der Geschichtlichkeit des Freiheitsbewusstseins in Hegels Denken ernst nehmen – besonders deutlich zeigt er sich in folgendem Zitat: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“36 –, wird deutlich, dass Hegel selbst einer bestimmten Periode der Geschichte angehört. Diese geschichtliche Seite impliziert jedoch kein Verfallen in einen Relativismus; sie zeigt vielmehr, dass die Entwicklung dieses Bewusstseins prozedural ist, und das, was in der Zukunft zustande kommt, nur eine Bereicherung der Gegenwart sein wird.37 Eine Folge dieser Philosophie ist die „Versöhnung mit der Wirklichkeit“. (PR, S. 27) Die Vernunft in der Wirklichkeit beschreibt Hegel als eine „Rose im Kreuze der Gegenwart“, durch die wir die wahren Formen erkennen, und diese Erkenntnis führt zu unserer Versöhnung mit der Wirklichkeit. Dadurch kommen wir zu der Einsicht, dass wir in unserer Gegenwart, zumindest teilweise, zu Hause und frei sind. Wir sollten daher immer vor Augen haben, dass jede Veränderung nicht dazu führen sollte, diese wertvollen Errungenschaften der Freiheit zu zerstören, was häufig bei Revolutionen passiert: „Hier ist die Rose, hier tanze.“ Diese Erkenntnis der Vernünftigkeit der Gegenwart können wir nur dann erreichen, wenn wir uns von abstrakten Meinungen, die für Hegel das Übel seiner (und vielleicht jeder) Zeit sind, befreien und anfangen zu „begreifen“, bzw. wenn wir über die willkürlichen Meinungen hinausgehen und den wahrhaften Begriff zur Kenntnis nehmen: „Was zwischen der Vernunft als selbstbewusstem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden lässt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist.“ (PR, S. 26)38 Was berechtigt ihn, seine eigene Philosophie in einer solch ausgezeichneten Position zu glauben? Was ist das Besondere an der Begriffslehre sowie der Ideenlehre, das uns befähigt, die Wahrheit zu erkennen? Was ist letztlich dieses „Begreifen“, durch das der Begriff der Sache oder eines Inhalts explizit wird, 36 37

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VGPh, S. 32. Man kann diese These noch radikaler zum Ausdruck bringen und sagen: Da sich die Idee in jeder Periode in der Geschichte vollständiger zum Ausdruck bringt, kann man sogar behaupten, dass diese wirklichen Strukturen zum Teil in ihrer Existenz reformiert werden können, obwohl ihre wesentlichen Funktionen kaum ersetzbar sind. Für eine Diskussion über Hegels Rechtsphilosophie als ein Projekt der Versöhnung bzw. als Versuch zu beweisen, dass wir in den Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft „zu Hause“ sind, siehe O. Hardimon, Michael (1994): Hegel’s Social Philosophy: The Project of Reconciliation.

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Hegels Vorrede

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ein Begriff, der kein reiner Gedanke, sondern das Wahre ist? Wir werden zu explizieren haben, warum die dialektische Methode uns zur Erkenntnis der Wahrheit führt oder warum wir durch diese Methode den Nous in der natürlichen sowie sittlichen Welt erkennen können, eine Form des Denkens, die den Inhalt so reflektiert, wie er an sich ist. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns im folgenden Kapitel mit Hegels theoretischer Philosophie beschäftigen.

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Kapitel 2

Hegels System der Philosophie Im letzten Kapitel wurde der Versuch unternommen, aufzuzeigen, dass Hegels Rechtsphilosophie als Teil seines philosophischen Systems zu verstehen ist. Es wurde festgestellt, dass sowohl die Position der vormaligen Metaphysik als auch der Versuch, philosophische Fragen durch Gefühle und Emotionen zu beantworten, von Hegel kritisiert werden. Es fragt sich also: Auf welche Weise geht Hegel selbst den philosophischen Fragen in seinem System nach? Dafür ist es notwendig, sein System zu verstehen. In diesem Kapitel geht es nicht darum, die Grundlagen seines Systems ausführlich zu behandeln oder seine theoretische Philosophie zu plausibilisieren. Das bescheidene Ziel besteht vielmehr darin, uns ein allgemeines Bild seiner grundlegenden systematischen Thesen zu verschaffen, damit wir Hegels Rechtsphilosophie besser verstehen können. In diesem Zusammenhang sollen die allgemeinen Grundlagen von Hegels Systemphilosophie erörtert werden, die für das Verständnis der Rechtsphilosophie unentbehrlich sind. 2.1

Das Ziel des philosophischen Denkens in Hegels System der Philosophie

Was ist das Ziel, das Hegel mit seinem philosophischen System verfolgt? Eine allgemeine Antwort lautet: „die Erkenntnis der Wahrheit“. Schon am Anfang der Enzyklopädie drückt er das Ziel seiner Philosophie als „Erkennen der Wahrheit“ aus (Enz, S. 13). In der zweiten Vorrede geht es ihm um das gleiche Ziel: „Worauf ich überhaupt in meinen philosophischen Bemühungen hingearbeitet habe und hinarbeite, ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit.“ (Enz, S. 14) Es wird somit deutlich, dass Hegel sich die Aufgabe setzt, die Wahrheit zu erkennen. Dies scheint ein sehr anspruchsvolles Ziel zu sein. Was die Wahrheit überhaupt ist und wie sie zu erkennen ist, sind also die Fragen, die Hegel in seiner Systemphilosophie beantworten will. Bevor wir uns aber damit befassen, ist es notwendig, uns kurz die Rolle der Phänomenologie des Geistes, Hegels großem Werk vor seinem philosophischen System, in seiner theoretischen Philosophie zu vergegenwärtigen. Die Phänomenologie ist, wie Hegel behauptet, eine „Leiter“ oder Einleitung in sein System der Philosophie. Sie hat die Aufgabe, das Bewusstsein dadurch zur „Wissenschaft“ zu führen, dass es in jeder Phase seiner Erfahrung zu der

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_003

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Kapitel 2

Einsicht kommt, dass seine Voraussetzungen oder Annahmen über Gegensatzverhältnisse zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand zu Widersprüchen führen.1 Es müsse die Annahmen eines jeden „Gegensatzes“ zu seinem Gegenstand tatsächlich aufgeben. Durch das Scheitern in allen seinen Versuchen gibt das Bewusstsein die Hoffnung auf, durch die Gegenüberstellung mit seinem Gegenstand ihn erkennen zu können, und es fängt erst mit der Untersuchung des Erkenntnisvermögens, d. h. des Denkens selbst an. Über die These, nach der die Phänomenologie den Weg für die Enzyklopädie ebnet und uns wie eine Leiter zu der Stufe des reinen Denkens erhebt, sagt Hegel: „In der Phänomenologie des Geistes habe ich das Bewusstsein in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen dargestellt. Dieser Weg geht durch alle Formen des Verhältnisses des Bewusstseins zum Objekte durch und hat den Begriff der Wissenschaft zu seinem Resultate.“ (WL, Bd. 1, S. 42)2 Als Beispiel kann die „sinnliche Gewissheit“ als die erste Station der Erfahrung dienen, in der das Bewusstsein voraussetzt, dass die wahre Erkenntnis seines Gegenstandes in seiner direkten, unvermittelten Begegnung mit dem Gegenstand bestehe. Diese Position wird sich aber als falsch herausstellen, sobald das Bewusstsein einsieht, dass es für die Beschreibung seiner Erfahrung von seinem Gegenstand die „Universalien“ wie „Jetzt“, „Hier“, „Dieses“ usw. braucht, die aber eigentlich zwischen der direkten, unmittelbaren Erfahrung vom Gegenstand und unserer Erkenntnis davon „vermitteln“ und in diesem Sinne den Wunsch der sinnlichen Gewissheit auf unmittelbare Erkenntnis 1 Iber bringt eine ähnliche Meinung so zum Ausdruck: „Die Phänomenologie des Geistes hat für Hegel eine propädeutische Einleitungsfunktion in die Wissenschaft der Logik, die allerdings für den endlichen Geist, der wir nun einmal sind, unerlässlich ist. Sie ist somit nur in einem genetischen Sinne, nicht in einem geltungstheoretischen Sinne Voraussetzung für die Logik. Man muss daher sagen, dass die Phänomenologie des Geistes kein integrierter Teil von Hegels endgültigem System ist, was natürlich nichts an der Tatsache ändert, dass der Reichtum ihrer Einzelanalysen in keiner anderen Schrift Hegels übertroffen worden ist. Hier werden defizitäre Bewusstseinsformen widerlegt, um jene Sphäre rein begrifflichen Denkens zu erreichen, die in der Logik entfaltet wird.“ Siehe Iber, Christian (2002): Was will Hegel eigentlich mit seiner Wissenschaft der Logik? Kleine Einführung in Hegels Logik, in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven. Arndt, Andreas, Iber, Christian (Hrsg.), S. 13–32. Vgl. auch Houlgate, Stephen (2008): Hegel’s Logic in: The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy. C. Beiser, Frederick (Hrsg.), S. 111–134. 2 Für eine ähnliche Positionierung der Phänomenologie als eine Einleitung in das System siehe Jaeschke, Walter (2005): Hegel-Handbuch: Leben, Werk, Schule, Metzler, 6.2.3., S.  226. Vgl. auch Houlgate, Stephen (2005): An Introduction to Hegel: Freedom, Truth and History, WileyBlackwell, S. 50–58. Siehe außerdem Emundts. Horstmann: G. W. F. Hegel. Eine Einführung, S. 37: Die Phänomenologie „hat die Funktion, eine Einleitung in das System der Philosophie durch eine Geschichte der Erfahrung des Bewusstseins zu geben.“

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Hegels System der Philosophie

unterminieren. Mit anderen Worten: Die Phänomenologie hat die Aufgabe, durch die Untersuchung aller Verhältnisformen zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand die ontologische Trennung zwischen den beiden Welten oder die Annahme, dass zwischen den beiden ein Dualismus bestehe, aufzuheben. Der Gang der Phänomenologie führt schließlich in einem negativen Sinne dazu, dass das erkennende Subjekt diesen Dualismus sowie die Voraussetzung aufgibt, laut der das Subjekt in der Lage sei, den Gegenstand durch irgendeine Voraussetzung zu erkennen; vielmehr – und das ist das positive Ergebnis – gelangt das Subjekt zu der Einsicht, dass das absolute Wissen in einem ersten Schritt das Aufgeben jeder Voraussetzung über das Denken und seinen Gegenstand und zweitens die Bereitschaft erfordert, sich als Zuschauer anzusehen, der nur zusieht, wie sich die Wahrheit des Denkens sowie seines Gegenstandes durchsichtig macht.3 2.2

Denken als der erste Gegenstand der Untersuchung

Als Erstes ein Hinweis über das, was Hegel unter „wissenschaftlich“ in dem Ausdruck „wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit“ versteht: Der Begriff „wissenschaftlich“ erinnert uns auf den ersten Blick an Kants Kritik der reinen Vernunft. Ebenso wie Kant will Hegel die Metaphysik, die Suche nach Wahrheit, retten und der Metaphysik feste, unbezweifelbare Grundlagen verschaffen. In der ersten Vorrede zeigt sich Kant etwas eifersüchtig auf die Naturwissenschaft, „die in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden ist, während (der) Metaphysik […] das Schicksal noch so günstig nicht gewesen (ist), dass sie den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte.“4 Wie diese beiden großen Denker Metaphysik betreiben, ist hier nicht unser Thema; was wir uns in diesem Moment hingegen vor Augen führen sollten, ist die Tatsache, dass Hegel, wie Kant, vorhatte, der Metaphysik einen sicheren, unbezweifelbaren Gang zu verschaffen. Aber wie ist diese wissenschaftliche (unbezweifelbare) Erkenntnis für Hegel zu erreichen? Voraussetzung dafür ist die reine Voraussetzungslosigkeit. Um eine feste bzw. unbezweifelbare Erkenntnis zu erreichen, muss jeder Schritt bewiesen werden und der Fortgang unserer Erkenntnis darf auf keinen Voraussetzungen beruhen. Wir müssen alle Annahmen über das Denken und seine Gegenstände suspendieren. Deswegen dürfen wir keinen bestimmten Gegenstand der Erkenntnis setzen. Wenn wir einen bestimmten Gegenstand als Inhalt 3 Vgl. Pippin, Robert (1989): Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness, S. 94. 4 Kant, KrV, B XV.

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der Erkenntnis bestimmen, ist dies bereits eine Voraussetzung, weil man sich fragen kann, warum keine anderen Inhalte als Gegenstände der Erkenntnis gesetzt werden sollten. Außerdem können wir auch die Methode des Erkennens nicht voraussetzen, denn selbst wenn wir einen Gegenstand der Erkenntnis hätten, wüssten wir nicht, wie dieser Inhalt zu erkennen wäre. In dieser Hinsicht genießt die Philosophie nicht den Vorteil der anderen Wissenschaften, wie z.  B.  die  Physik, in der die Natur als Gegenstand vorliegt und durch eine Kombination von Erfahrung und mathematischer Methode zu erkennen versucht wird: „Die Philosophie entbehrt des Vorteils, der den anderen Wissenschaften zugutekommt, ihre Gegenstände als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben sowie die Methode des Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits angenommen voraussetzen zu können.“ (Enz § 1)5 Also haben wir zu Beginn weder einen Gegenstand noch eine Methode des Erkennens. Was diese Situation noch schwieriger macht, ist die Tatsache, dass wir auch den Anfang unserer Untersuchung nicht voraussetzen dürfen. Jeder Anfang befindet sich, Hegels Auffassung nach, in einem Dilemma: Entweder muss der Anfang, um gerechtfertigt zu sein, mit einem früheren Anfang plausibel gemacht worden sein, was im Gegensatz zum Begriff des Anfangs steht. Oder wir müssen den Anfang voraussetzen, „da ein Anfang als ein Unmittelbares (das heißt, wenn unbewiesen) seine Voraussetzung macht […]“ (Enz § 1). Anders formuliert: Wir müssen entweder den Anfang mit einem früheren Anfang (!) anfangen oder wir müssen mit einer Voraussetzung als unbezweifelbare Grundlage (wie Descartes’ „Ich denke, also bin ich“) anfangen.6 Aber das 5 Winfield bringt diesen Gedanken treffend zum Ausdruck: „The quest for truth cannot free itself of opinion unless it liberates inquiry from the hold of given opinion and validates all its claims through its own independent labors. Philosophy must wield an autonomous reason, free in both the negative sense of overcoming dependence upon presuppositions and the positive sense of determining what its own method and subject matter should be. As such, philosophy cannot begin with any determinate claims about what is or about knowing. It must start from utter indeterminacy and generate from that presuppositionless commencement determinacy that is not grounded on any given, or given procedure of, specification. This indeterminate commencement allows philosophy to be a theory of determinacy, accounting for determinacy without begging the question by beginning with some given determinacy. Moreover, since philosophy develops determinacy as something generated in its own presuppositionless process, it develops self-determined determinacy. Philosophy thus begins as a development of self-determination per se.“ Winfield, Richard Dien (2017): The Logic of Right, in: Hegel’s Political Philosophy. On the Normative Significance of Method and System. Brooks, Thom und Stein, Sebastian (Hrsg.), S. 222–238. 6 Nach seinem Angriff gegen den Wahrheitsgehalt der auf den Sinnen beruhenden Erkenntnis in der ersten Meditation kommt sein Argument für das Denken als unbezweifelbare Grundlage der Erkenntnis. Siehe Descartes, René (2009): Meditationen. von Wohlers, Christian (Übers. und hrsg.). Für eine Diskussion von Descartes’ Meditationen sowie seine

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Hegels System der Philosophie

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Denken wird mit Voraussetzungen nicht zufrieden sein,7 denn wir verlangen von ihm, „die Notwendigkeit seines Inhalts zu zeigen, sowohl das Sein schon als die Bestimmungen seiner Gegenstände zu beweisen.“ (Enz § 1) Kurz gesagt: Aus diesen Überlegungen scheinen wir in einem unlösbaren Dilemma gefangen zu sein. Für unser Projekt, d. h. die Erkenntnis der Wahrheit, haben wir: 1) keinen Gegenstand der Erkenntnis, 2) keine Methode der Erkenntnis und 3) keinen Anfang. Es wurde am Anfang des Kapitels gesagt, dass Hegel durch die Philosophie auf der Suche nach Wahrheit ist. Was nun unsere Lage noch schwieriger macht und uns fast in eine Situation der Hoffnungslosigkeit versetzt, ist Hegels Verweis darauf, dass die Philosophie als „denkende Betrachtung“ selbst nicht ohne Rechtfertigung in Anspruch genommen werden darf. Warum sollen wir überhaupt in erster Linie durch Philosophie oder durch die denkende Betrachtung – und nicht z. B. durch Empfindungen – nach Erkenntnis der Wahrheit streben? Wie können wir also unsere Untersuchung anfangen? Hegels Lösung für den Widerspruch des Anfangs ist, dass wir mit der Philosophie anfangen. Warum die „Philosophie als denkende Betrachtung“ (Enz § 2) als der Anfangspunkt gewählt wird, ist am Anfang nicht zu rechtfertigen, weil wir nicht erneut in den Widerspruch des Anfangs geraten wollen. Ganz intuitiv wissen wir schon, dass das Denken das Wesentliche des Menschen ist. Aber diese Versicherung ist kein Beweis. Um das Denken selbst als unseren Anfang rechtfertigen zu können, ist es klar, dass wir einen früheren Anfang brauchen und so weiter ad infinitum. Aus diesem Grund sucht Hegel einen anderen Weg für die Rechtfertigung des Anfangs. Er schlägt eine kreisförmige Beweisform für den Anfang vor:8

Cogito-Diskussion siehe Gutschmidt, Holger (2014): Objektive Ideen: Untersuchungen zum Verhältnis von Idee, Begriff und Begründung bei René Descartes und in der nachkartesischen Philosophie des 17. Jahrhunderts. Besonders Kapitel 2.3.3. 7 Für Hegel sind beide Lösungen inakzeptabel: „Der Anfang der Philosophie muss entweder ein Vermitteltes oder Unmittelbares sein, und es ist leicht zu zeigen, dass er weder das eine noch das andere sein könne.“ (WL, Bd. 1, S. 65) 8 Diese Antwort sei auf einem metaphilosophischen Niveau gegen diejenigen gerichtet, die eine „epistemology-first“-Position vertreten, so Kreines, nämlich in dem Sinne, dass Philosophie im ersten Schritt ihre eigenen epistemischen Grundlagen zu rechtfertigen habe, was ziemlich widersprüchlich sei, weil hier in erster Linie die Priorität der Epistemologie in der Philosophie in Frage zu stellen sei. Für Hegel ist diese der Wunsch auf Erkennen, ohne überhaupt angefangen zu haben: „Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.“ (Enz § 10). Näher siehe Kreines, James (2015): Reason in the World: Hegel’s Metaphysics and Its Philosophical Appeal, S. 13.

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Kapitel 2

Wir können, so Hegel, unseren Anfang dann rechtfertigen, wenn wir am Ende zu unserem anfänglichen Punkt zurückkommen. Auf diese Weise zeigt sich der Anfang als das Resultat, und was davor kommt, ist sein Beweis. Wir fangen also mit der Philosophie an und am Ende kommen wir als letzte Stufe zur Philosophie zurück. Die Philosophie wird sich als unser letztes Resultat erweisen, und die vorherigen Stufen sind Beweise dafür. Dadurch zeigt uns die Philosophie ihre Notwendigkeit als höchste Form der Erkenntnis der Wahrheit im Kapitel des absoluten Geistes9: „Ferner muss der Standpunkt, welcher so als unmittelbarer erscheint, innerhalb der Wissenschaft sich zum Resultate, und zwar zu ihrem letzten machen, in welchem sie ihren Anfang wieder erreicht und in sich zurückkehrt.“ (Enz § 17) Wir beginnen unsere Untersuchung also mit der Philosophie oder der denkenden Betrachtung. Aber wir stoßen sofort auf ein neues Hindernis, was die Bedeutung des Denkens angeht. In dem ersten Schritt sollten wir vor Augen haben, dass wir im Rahmen der Philosophie oder der „denkenden Betrachtung“ und nicht durch Intuitionen oder auf andere Weise auf der Suche nach Wahrheit sind. Aus diesem Grund sollte daher zuerst das Denken selbst geprüft werden, wenn wir eine feste, unbezweifelbare Erkenntnis erreichen wollen, die auf keinen Annahmen beruht. Was aber ist das Denken? In Hegels wissenschaftlicher Philosophie dürfen wir keine Voraussetzungen machen. Wir sollten einfach von vorne beginnen. Die „vormalige Metaphysik“ (Rationalismus) setzt, nach Hegel, sowohl die Denkkategorien als auch die These voraus, dass die Tätigkeit des Denkens hauptsächlich im Urteilen bestehe. Für Hegel sind diese Gewissheiten allerdings Voraussetzungen, die erst noch in der Wissenschaft zu prüfen sind. Nicht nur die Wahrheit und die Methode ihrer Erkenntnis, sondern das philosophische Denken selbst bleibt am Anfang noch ganz unbestimmt. In diesem Sinne haben wir es bei Hegel mit einer radikalen „Voraussetzungslosigkeit“ zu tun, nach der die Gültigkeit von allem in Frage zu stellen ist.10 Wir wissen nun bereits, dass wir keine Voraussetzungen machen dürfen. Hegel führt verschiedene Vorstellungen des Denkens an und unterscheidet sein eigenes Bild von diesen, die er als „endlich“ oder unhaltbar bezeichnet: 9

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Für eine Auseinandersetzung mit der Überzeugung Hegels, nach der die Philosophie „wesentlich“ als ein System der Totalität oder eine Enzyklopädie betrachtet soll, das in sich selbst begründet und durch sich vermittelt ist, siehe Hoffmann, Thomas Sören (2019): Die Philosophie ist wie das Universum rund in sich“. Enzyklopädisches Wissen und Selbstbegründung der Philosophie bei Hegel in Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie. Neumann, Hardy, Hoffmann, Thomas Sören (Hrsg.), S. 13–28. Für eine prägnante Verteidigung der These der Voraussetzungslosigkeit siehe Houlgate, Stephen, The Opening of Hegel’s Logic: From Being to Infinity.

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Hegels System der Philosophie

α) „Denken […] in seiner gewöhnlichen subjektiven Bedeutung, als eine der geistigen Tätigkeiten oder Vermögen neben anderen, der Sinnlichkeit, Anschauen, Phantasie usf., Begehren, Wollen usf.“ (Enz § 20): In der gewöhnlichen Vorstellung erscheint das Denken als ein Vermögen, das ich neben den anderen in mir habe. Ich kann z. B. eine Fantasievorstellung von etwas haben und gleichzeitig etwas denken, dessen Produkt anders ist, allgemeiner und abstrakter. Wenn wir dem Denken so einen geringen Wert zuweisen, dann müssen wir uns allerdings fragen, warum die Untersuchung mit Hilfe des Denkens durchzuführen sei. Hegel verwirft diese Vorstellung dementsprechend. Für uns Menschen sei das Denken „das Wahrhafte des Menschen […], worin dessen Unterschied vom Tier besteht.“ (Enz § 20 Z) Es habe einen höheren Rang als das Anschauen usf. Den Hauptgrund, warum die Vorstellung vom Denken als einer geistigen Tätigkeit neben anderen unplausibel sei, habe Kant entdeckt. Nach Kant begleitet das Ich bzw. das Denken alle unsere Vorstellungen, Empfindungen usw. und liegt den anderen geistigen Tätigkeiten zugrunde: „Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen.“11 (Enz § 20) Das heißt also, dass das Denken für Hegel kein Vermögen neben den anderen geistigen Fähigkeiten, sondern die grundlegende Fähigkeit ist. Und außerdem würden wir, wenn wir die Sprache, die das Produkt des Denkens ist, in Anspruch nehmen, um über unsere Gefühle, Vorstellungen usw. zu reden, eigentlich allgemeine Aussagen treffen, wie etwa „dieses Einzelne“, „Hier“, „Jetzt“, die selbst allgemein seien und dem Denken angehörten; deswegen könnten wir nur dann sinnvoll von diesen Zuständen reden, wenn die Sprache – ein Produkt des Denkens – in Anspruch genommen wird: „Indem die Sprache das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist.“ (Enz § 20) Also zeigt sich die Sprache in unseren Aussagen über andere geistige Zustände als notwendig. Aus diesen Überlegungen erweist sich folglich, dass die erste Vorstellung unhaltbar und das Denken die fundamentale geistige Fähigkeit ist. β) „Denken als […] Nachdenken über etwas“: In dieser Vorstellung wird dem Denken die Fähigkeit zugesprochen, „das Wesentliche, das Innere, das Wahre“ an der Sache zu erkennen. Dieses Wesen der Sache ist eine allgemeine Bestimmung, die wir durch das Nachdenken erreichen. Wenn wir das Wesen einer Sache erblicken wollen, dürfen wir nicht an einem einzelnen Gegenstand haften; wir müssen vielmehr über die Sache nachdenken, um zu ihrer Wesentlichkeit zu gelangen. Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die durch 11

Siehe Kant, KrV, § 16: „Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“.

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Kapitel 2

das Nachdenken entdeckt werden, machen das Wesen der Gegenstände aus. Auch in „Naturerscheinungen“ begnügen wir uns ja nicht mit besonderen Fällen, sondern wir suchen in diesen Erscheinungen nach allgemeinen Ursachen und Gesetzen. Wir suchen in besonderen Erscheinungen nach allgemeinen Regeln, die diese besonderen Fälle regieren, und diese Regeln werden nicht durch unsere unmittelbare Begegnung, sondern erst durch das Nachdenken über diese Besonderheiten offensichtlich. Die Gesetze in der „Sprache“ beispielsweise sind die allgemeinen Formen, nach denen die Sätze gebaut werden; die „Zwecke“ sind die allgemeinen Ziele, die wir im Leben erreichen wollen, um das Leben wesentlich und wertvoll zu machen;  allgemeine „moralische“ Regeln sind die Muster unseres Verhaltens im Alltag. Was das Wahre an allem ist, ist das Allgemeine in ihnen. (Enz § 21) Nach Hegel vertritt die vorkritische Metaphysik die Position, die „den Glauben enthält, dass durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewusstsein gebracht werde.“ (Enz § 26) Zunächst einmal teilt Hegel diesen Glauben und sieht darin den Vorteil gegenüber der kritischen Philosophie Kants, denn nach dieser Vorstellung ist das Denken fähig, die Wahrheit zu erkennen: „[S]ie stand durch diese Voraussetzung, dass das, was ist, damit dass es gedacht wird, an sich erkannt werde, höher als das spätere kritische Philosophieren.“ (Enz § 28) Dennoch ist auch diese Position, nach der die Wahrheit durch das Denken zu erkennen sei, aus den folgenden Gründen defizitär: Zum einen sei diese Position insofern zu kritisieren, als in ihr selbst die Denkbestimmungen, d. h. die Kategorien und ihre Beziehungen miteinander, die dem Wahren als Prädikate beigelegt werden, nicht untersucht und nur unkritisch angenommen würden. Es wird tatsächlich nicht untersucht, ob diese Kategorien überhaupt in der Lage sind, die Bestimmungen der Wahrheit zu sein.12 Zum anderen ist diese Überzeugung, nach der die Hauptfunktion des Denkens im „Urteilen“ liege, eine reine Voraussetzung und wird ohne 12

Die Beziehung der Kategorien wird ungeprüft gelassen und jedem Gegenstand ist nur eine der Kategorien zuzuweisen, z.  B.: „die Welt ist entweder endlich oder unendlich, aber nur eines von den beiden.“ Diese vorausgesetzte Beziehung zwischen den Kategorien bezeichnet für Hegel aber einen einseitigen Dogmatismus in dem Sinne, dass einer Sache nur eine von den entgegengesetzt genommenen Kategorien zuzusprechen sei, während für ihn selbst die Kategorien ihre Wahrheit sowie ihr Verhältnis miteinander in einer Totalität darstellen: „In der Tat aber ist das Einseitige nicht ein Festes und für sich Bestehendes, sondern dasselbe ist im Ganzen als aufgehoben enthalten. Der Dogmatismus der Verstandesmetaphysik besteht darin, einseitige Gedankenbestimmungen in ihrer Isolierung festzuhalten, wohingegen der Idealismus der spekulativen Philosophie das Prinzip der Totalität hat und sich als übergreifend über die Einseitigkeit der abstrakten Verstandesbestimmungen erweist.“ (Enz § 32 Z)

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Rechtfertigung übernommen. Letztlich wird in dieser Position behauptet, dass die Wahrheit oder das Absolute nur in der Form des Urteils „A ist B“ erkannt werden könne.13 Die Prädikate wie Dasein, Etwas, Endlichkeit usw. sind die Bestimmungen des Denkens, die dem Wahren zugesprochen werden. Dass aber das Urteilen die Hauptfunktion des Denkens ausmache, ist Hegels Ansicht nach eine unbewiesene Voraussetzung. In kurzer Form bringt Hegel diese zwei problematischen Aspekte so zum Ausdruck: „Es wurde nicht untersucht, ob solche Prädikate an und für sich etwas Wahres seien, noch ob die Form des Urteils Form der Wahrheit sein könne.“ (Enz § 28 Anm.)14 γ) Die dritte Vorstellung ist Kants kritische Philosophie. An dieser Stelle müssen wir nicht dem nachgehen, wie viel Hegel von dieser Position profitiert hat oder von welchem Standpunkt aus Hegel diese Philosophie kritisiert. Einerseits lobt Hegel Kants These, dass die Entsprechung zwischen unserem Denken und der Welt nicht, wie die vormalige Metaphysik behauptete, unkritisch und unreflektiert hingenommen werden dürfe. Was, so fragt Kant, garantiere die vorausgesetzte Gewissheit, nach welcher die Welt an sich so sei, wie wir sie wahrnehmen und ihr unsere Denkbestimmungen zuweisen? Durch diese Frage, die er aufwirft, entsteht die Notwendigkeit der Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens selbst. Andererseits ist aber Kants skeptische Einstellung zu dem Verhältnis zwischen unserem Denken und der Welt für Hegel zu verwerfen. Es genügt diesbezüglich für die Zwecke dieser Untersuchung hervorzuheben, dass für Kant das Denken eine rein subjektive Tätigkeit ist, die unfähig ist, die Dinge so zu erkennen, wie sie an sich oder in ihrer Wahrheit sind, weil die Welt in unserem Denken anders erscheint, als sie an sich ist: „Durch das Nachdenken wird an der Art, wie der Inhalt zunächst in der Empfindung, Anschauung, Vorstellung ist, etwas verändert“. Diese Position hält Hegel für die „Krankheit unserer Zeit“, weil unsere Gedanken nur als etwas Subjektives verstanden werden und daher nichts über das „an sich“ der Dinge aussagen können.15 Das ist für Hegel eine Voraussetzung, die gegen unsere gewöhnlichen Vorstellungen verstößt. Im Alltag würden wir ja keinen Unterschied zwischen Gedanken und der objektiven Welt machen. Außerdem sei diese Position „gegen die Überzeugung der ganzen früheren Welt“, für welche diese Trennung 13 14 15

So auch Schick, Friedrike (2002): Einleitende Überlegungen zum Programm der Wissenschaft der Logik, in: G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Koch, Anton Friedrich; Schick, Friedrike (Hrsg.), S. 1–10. So auch Beiser, Hegel, S. 156. Für die Unerkennbarkeit der Dinge an sich bei Kant siehe KrV, „Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, B 333.

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zwischen dem Gedachten und dem Denkenden unwesentlich gewesen sei. (Enz § 22 Z) δ) Hegel unterstützt die Position, die er als die herrschende Position in der Philosophiegeschichte bezeichnet. Er sieht die Aufgabe seiner Philosophie darin, diesen alten Glauben zu beweisen: „[D]as Objekt, was es an sich ist, so sei, wie es als Gedachtes ist, dass also das Denken die Wahrheit des Gegenständlichen sei“. (Enz § 22 Z) Hegel ist der Überzeugung, dass das philosophische Denken in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen. Er definiert seine Vorstellung vom Denken als „objektiven Gedanken“: Der Gedanke existiere nicht bloß im subjektiven Bewusstsein, sondern stelle darüber hinaus die Wahrheit der objektiven Welt dar. Daher setzt Hegel sich die Aufgabe, das Denken und seine Beziehung zur Objektivität neu zu untersuchen. Hegel ist der Auffassung, „der Gedanke als objektiver Gedanke ist das Innere der Welt.“ Er wiederholt einen alten Glauben, der auf die Antike zurückzuführen ist: „[D]er Nous regiere die Welt […] es sei die Vernunft in der Welt.“ (Enz § 24 Z1) Schon in der Wissenschaft der Logik lesen wir, dass Anaxagoras der Philosoph gewesen sei, „der zuerst den Gedanken ausgesprochen habe, dass der Nous, der Gedanke, das Prinzip der Welt, dass das Wesen der Welt als der Gedanke zu bestimmen ist.“ (WL, Bd. 1, S. 44)16 Laut dieser Aussage macht die Vernunft die Natur der Dinge, die Grundlage von allem aus.17 Die Dinge sind in ihrer Wahrheit das, was durch Vernunft zum Ausdruck kommen kann, und durch die wahre Philosophie bleibt diese Vernunft nicht länger verborgen. Der Struktur der Welt liegen Formen zugrunde, die durch unsere Denkformen

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Im Lichte der Unterscheidung, die Beiser zwischen zwei Konzeptionen von Vernunft im Deutschen Idealismus am Werk sieht, nach der die einen, beeinflusst von der klassischen Tradition von Platon und Aristoteles, der Vernunft oder dem Denken eine kontemplative Rolle zuschrieben, mit deren Hilfe man in der Lage sei, die zugrunde liegende Struktur oder Form der von uns unabhängigen Realität zu erfassen, während die von der nominalistischen Tradition beeinflussten anderen Philosophen der Ansicht seien, die Vernunft sei ein rein produktives Vermögen, welches das über die Welt produziere, was in ihr nicht existiere, und daher die innerste Struktur der Welt auch nicht betreffe (siehe Beiser, Frederick (2003): Two Concepts of Reason in German Idealism, in: Konzepte der Rationalität, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Ameriks, Karl, Stolzenberg, Jürgen (Hrsg.), S. 13–28), gehört Hegel eindeutig der ersten, klassischen Tradition an. Wie Horstmann sagt, hat die Vernunft für Hegel nicht nur eine „epistemologische“, sondern eine „ontologische Konnotation in dem Sinne, dass ihre Kräfte nicht ausschließlich unser Erkenntnisvermögen regulieren. Die Vernunft geht darüber hinaus und bringt sich tatsächlich in der Struktur der Wirklichkeit zum Ausdruck.“ Näher siehe Horstmann, RolfPeter (2004): Die Grenzen der Vernunft: eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, S. 133 f.

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erkennbar sind.18 Oder, so Houlgate, sowohl die Welt als auch unser Denken würden die gleiche allgemeine Form teilen, deren Erkenntnis die Aufgabe der Metaphysik ausmache,19 und nur diejenige Philosophie sei in der Lage, diese fundamentalen Formen der Wirklichkeit sowie des Denkens zu erkennen, die sich auf eine voraussetzungslose Erkenntnis einlasse. 2.3

Hegels metaphysisches Unternehmen

Können wir Hegels Philosophie überhaupt als Metaphysik bezeichnen? Diese Frage hat viele Diskussionen in der Sekundärliteratur ausgelöst: Die einen vertreten die Auffassung, Hegel gehe es in der Wissenschaft der Logik nicht um ein metaphysisches Projekt, sondern nur um eine Untersuchung der Kategorien des Denkens. Die von Hartmann20 inspirierten Hegelinterpreten deuten dessen 18

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Iber bringt diese Isomorphie so zum Ausdruck: „Diese Voraussetzung besteht darin, dass die Wirklichkeit, sei es die geistige oder natürliche Wirklichkeit, wesentlich durch Formverhältnisse strukturiert ist, die wiederum nach der Formalität unserer Denkstrukturen, den Kategorien des Denkens, aufzufassen sind. Diese von Hegel gemeinsam mit Platon gemachte Voraussetzung ist es, die seinen gesamten Idealismus ausmacht. Hegel geht also davon aus, dass sich die strukturierenden Formverhältnisse geistiger und natürlicher Wirklichkeit in ihrer Wahrheit nur begreifen lassen nach dem Vorbild der Formalität der Ideen oder Denkbestimmungen bzw. Kategorien.“ Iber, a.a.O., S. 15. Was allerdings in diesem Zitat problematisch scheint, ist der Gedanke, dass dies eine „Voraussetzung“ für Hegel sei. Denn diese vermeintliche „Voraussetzung“ lässt sich kaum mit Hegels Bestreben nach „Voraussetzungslosigkeit“ des philosophischen Denkens in Einklang bringen. Hegel will durch seine Natur- und Geistesphilosophie diese These beweisen. „So, for Hegel, things exist independently of our conceiving of them. Yet he also wants to retain Kant’s idea that what is truly objective in things is their universal conceptual form. To hold these views together, Hegel must subtly revise Kant’s idea of objectivity. He must understand objective conceptual form to have its source not merely in human understanding but in the very fabric of being itself, and so to be an absolute, ontological conceptual order – ‚logos, the reason of that which is‘ – that informs both human understanding and existing things (WL, 1:30; SL, 39). For Hegel, the legacy of Kant’s critical philosophy is thus not merely a transcendental account of the conditions of human experience. It is a new, revised metaphysics in which the truth to be known is no longer simply the world ‚out there‘, but the universality and logical form immanent in being and thought.“ Siehe Houlgate, Stephen (2001): G. W. F. Hegel, in: The Blackwell Guide to the Modern Philosophers: From Descartes to Nietzsche Steven. Emmanuel, Steven M., S. 278–305. Hartmann lehnt eine in dem traditionellen Sinne metaphysische Lesart von Hegels Logik ab und sieht ihn hauptsächlich als Nachfolger von Kants Transzendentalphilosophie: „[…] Hegel’s claim appears, contrary to a metaphysical interpretation of his philosophy, as a very modest one. His achievement seems to lie in a hermeneutic of categories.“ Siehe Hartmann, Klaus (1976): Hegel: A Non-Metaphysical View, in: Hegel: A Collection of Critical Essays. MacIntyre, Alasdair (Hrsg.), S. 124.

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Logik hauptsächlich aus einer nicht-metaphysischen Perspektive. In diese Perspektive ist die Logik eine Kategorienlehre, aus der die notwendigen Kategorien für das Denken abgeleitet werden. Es gehe in Hegels theoretischer Philosophie darum, die notwendigen epistemischen Bedingungen abzuleiten, die uns ermöglichen, ein Objekt zu denken. In dieser Lesart wird er hauptsächlich als ein Nachfolger Kants angesehen, der den Versuch unternimmt, ausschließlich die Denkformen zu untersuchen, und sich nicht mit Existenzbestimmungen der Objekte zu beschäftigen. Hegels Logik könne daher als eine Transzendentalphilosophie bezeichnet werden, die uns nur etwas über Gegenstände in unserem Denken und nichts darüber zu sagen hat, wie die Objekte an sich oder in der Welt sind. Es handelt sich nur um die Bedingungen, durch die wir die Gegenstände denken können, und nicht um deren ontologische Struktur.21 Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der „metaphysischen“ Lesart.22 Nach dieser Interpretation ist die Logik nicht nur eine Lehre über die notwendigen Kategorien des Denkens, sondern auch über die Seinsweise der Objekte des Denkens. Der Kern dieser Interpretation kann dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass allem – sowohl unserem Denken als auch der objektiven Welt – ein organisierendes Prinzip, oder eine Vernunft, zugrunde liegt, deren ontologische Grundstruktur durch unser Denken erkennbar ist. Die Logik ist eigentlich eine Metaphysik, wodurch Hegel über die kantische

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Robert Pippin als Anhänger dieser Lesart ist folgender Auffassung: „And […] notions have this status for basically Kantian reasons, because for Hegel, the issue of the ‚determinations of any possible object‘ (the classical Aristotelian category issue) has been critically transformed into the issue of the determinations of any object of a possibly self-conscious judgment.“ Siehe Pippin, Robert, Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness. S. 250. Ebenfalls im Sinne dieser Lesart: Pinkard, Terry (1994): Hegel’s Phenomenology: The Sociality of Reason. Cambridge University Press. Siehe auch Pinkards „What is the NonMetaphysical Reading of Hegel? A Reply to Frederick Beiser“, S. 13–20. U.a. vertritt Beiser eine solche metaphysische Lesart: „[…] his philosophy is a metaphysics, and indeed in roughly the Kantian sense; for it attempts to acquire knowledge of the unconditioned through pure reason.“ Siehe Beiser, Frederick, Hegel, S. 55. Dem folgend sagt er ganz deutlich auch in einem anderen Aufsatz: „The argument behind Hartmann’s interpretation therefore rests upon a false dilemma: if we do not make Hegel a category theorist, then we have to see his philosophy as metaphysics in the pre-Kantian sense or reduce it down to ironic narrative. This dilemma is not questioned but only emphasized by Hartmann’s students. Yet traditional Hegel scholarship already had a perfectly viable middle path between it: that Hegel attempted to base his metaphysics upon a critical foundation by showing how Kantian-style epistemology, through its own immanent dialectic, leads to absolute knowledge.“ Siehe Beiser (1995): „Hegel, a non-metaphysician? A Polemic.“ S. 1–13.

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Position23 hinausgehen und den Ambitionen der alten Metaphysik in einer kritischen Weise nachgehen will.24 Während die Metaphysik für Kant durch den Versuch gekennzeichnet wird, das Transzendente, dessen Erkenntnis der menschlichen Vernunft unzugänglich ist – da jeder Versuch zu Antinomien führe25 –, zu erkennen, ist sie für Hegel die Erkenntnis des Immanenten, weil der Nous oder das Wahre schon in der Welt präsent ist und deren ontologische Grundlage ersichtlich sein kann.26 Die metaphysische Lesart scheint unseres Erachtens plausibler zu sein und besser mit Hegels Zielen übereinzustimmen.27 Hegels Metaphysik war zwar durch Kants kritische Philosophie beeinflusst und tatsächlich eine nachkantische Metaphysik. Er ist wie Kant der Auffassung, das menschliche Bewusstsein sei kein „tabula rasa“, wie Locke behauptete.28 Es ist vielmehr 23

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Diesen Gedanken bringt Horstmann so zum Ausdruck: „Hegel will die Kantische Annahme nicht akzeptieren, die Annahme also, dass diesem Subjekt so etwas wie objektive Realität nicht zukommen könne.“ Siehe Horstmann R.P. (2004): Die Grenzen der Vernunft: eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, S.179. Als ein weiterer Vertreter dieser Strömung bringt Houlgate den Kern dieser Lesart ganz erhellend zum Ausdruck: „[…] Hegel makes it clear that the categories set out in his logic are both the necessary concepts of thought and the intrinsic determinations of beings themselves.“ Siehe Houlgate, Stephen, Hegel’s Logic, in: Cambridge Companion to Hegel and nineteenth-century philosophy, S.  118. Vgl. auch Houlgate, Stephen (2011): G. W. F. Hegel: An Introduction to His Life and Thought, in: A Companion to Hegel. Houlgate, Stephen und Baur, Michael (Hrsg.), S. 1–20: „Hegel’s speculative logic discloses what he understands to be the true nature of being itself, and in that sense it continues the project of pre-Kantian metaphysics and ontology. Such logic is, however, a distinctively post-Kantian enterprise for two reasons. On the one hand, speculative logic tells us about being by setting out the fundamental categories of thought in and through which the character of being is disclosed  … On the other hand, Kant’s promotion of the idea of philosophical critique prompted Hegel to take such critique to its logical conclusion. In Hegel’s view, that means taking nothing for granted in advance about thought or being.“ Siehe Kants Diskussion der Antinomien in KrV, „Die Transzendentale Dialektik“. Näher siehe Beiser, Frederick C., Hegel, S. 55. Außer dieser Deutung einer immanenten Metaphysik gibt es laut Kreines noch eine andere Variante, und zwar die „traditionelle“, nach der Hegel eine Substanzmetaphysik in der Form von Spinozas Monismus vertritt, welche besagt, dass alles in einer allumfassenden Substanz (der Geist bei Hegel) enthalten ist, die als das Absolute alles bestimmt und in sich organisiert. Als Anhänger dieser Interpretation kann Charles Taylor (1975): Hegel, genannt werden. Für eine sehr hilfreiche Einteilung verschiedener Hauptpositionen über Hegels Logik siehe Kreines, James, Hegel’s Metaphysics: Changing the Debate, S. 466–480. „Let us then suppose the Mind to be, as we say, white Paper, void of all Characters, without any Ideas; How comes it to be furnished? Whence comes it by that vast store which the busy and boundless Fancy of Man has painted on it with an almost endless variety? Whence has it all the materials of Reason and Knowledge? To this I answer, in one word,

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aktiv in dem Sinne, dass es seinem Gegenstand mit den Kategorien des Denkens begegnet. Die Kategorien sind die Bedingungen der Erfahrung der Gegenstände.29 Wenn wir z. B. ein einzelnes Buch sehen, ist es nicht die unmittelbare Vorstellung von dem Buch, was unsere Erfahrung davon ausmacht, sondern das Buch ist in unserem Bewusstsein als ein Buch, mit Qualitäten usw., was dem Gegenstand unserer Erfahrung durch unser Denken hinzugegeben wird.30 Außerdem sieht man ganz deutlich den kritischen Geist von Kants Philosophie in Hegels voraussetzungslosem philosophischen Unternehmen, nichts ungeprüft zu lassen. Hegel ist aber der Auffassung, im Gegensatz zu Kant, dass es unhaltbar ist zu sagen, dass die Welt des Seins unserem Erkenntnisvermögen unzugänglich ist: „Die kritische Philosophie machte zwar bereits die Metaphysik zur Logik, aber sie wie der spätere Idealismus gab, wie vorhin erinnert worden, aus Angst vor dem Objekt den logischen Bestimmungen eine wesentliche subjektive Bedeutung.“ (WL, Bd. 1, S.45)31 Was nach Hegel unplausibel ist, ist demnach Kants Überzeugung, dass diese Denkbestimmungen nur subjektiv seien und die Struktur der Objekte nicht beträfen. Die Tatsache, dass diese Kategorien aus unserem Denken entstehen, dürfe nicht zu dem Schluss verleiten, dass sie nur subjektiv seien: „Ob nun schon die Kategorien (wie z. B. Einheit, Ursache und Wirkung usw.) dem Denken als solchem zukommen, so folgt daraus doch keineswegs, dass dieselben deshalb bloß ein Unsriges und nicht auch Bestimmungen der Gegenstände selbst wären. Dies soll nun aber nach Kants Auffassung der Fall sein, und seine Philosophie ist subjektiver Idealismus […]“ (Enz § 42 Z3)32

29

30 31

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from Experience.“ Locke, John (1975): An essay concerning human understanding. H. Nidditch, Peter (Hrsg.), Buch II, Kapitel 1, S. 104. „Denn alsdenn beziehen sie sich notwendiger Weise und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann.“ (Kant, KrV, B 126) Näher siehe u. a. Pippin, Robert, Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness, S. 27–30. Vgl. Houlgate, Stephen (2005): An Introduction to Hegel: Freedom, Truth and History. S. 5. Siehe Kant, KrV, B 311–2. Für Interpretationen, in denen versucht wird, das Ding an sich bei Kant anders zu interpretieren und Kants These gegen solche Kritiken zu verteidigen, siehe Prauss, Gerald (1974): Kant und das Problem der Dinge an sich sowie Allison, Henry (1983): Transcendental Idealism. Während, laut Horstmann, für Kant die Kategorien die subjektiven Erkenntnisbedingungen sind, gehen sie für Hegel über diesen beschränkten Horizont hinaus. Er möchte eigentlich mit Hilfe eines neuen Verständnisses der Kategorien den Weg für die Erkenntnis der Konstitution der Realität bahnen, wofür eine Sicht auf die Natur und Grenzen des Denkens unentbehrlich ist. Näher siehe Horstmann, Rolf-Peter (2006): Substance, Subject and Infinity: a case study of the role of logic in Hegel’s system, in: Hegel: New Directions. Deligiorgi, Katerina (Hrsg.), S. 69–84.

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Für Hegel ist das Denken, wie oben schon erwähnt, objektiv in dem Sinne, dass die Denkbestimmungen und Gesetze des Denkens nicht nur diesem selbst, sondern darüber hinaus auch der Wirklichkeit immanent sind, und in diesem Licht ist die Logik für ihn als Wissenschaft der Untersuchung der Denkbestimmungen gleichzeitig Wissenschaft der Bestimmungen des Seins, was Metaphysik genannt wird: „Die Gedanken können nach diesen Bestimmungen objektive Gedanken genannt werden, worunter auch die Formen, die zunächst in der gewöhnlichen Logik betrachtet und nur für Formen des bewussten Denkens genommen zu werden pflegen, zu rechnen sind. Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken erfasst, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken.“ (Enz § 24)33 Er beschäftigt sich mit der Metaphysik zwar nicht im Sinne der Spekulation über die übersinnlichen Gegenstände wie Gott, Seele und die Welt in der rationalistischen Schule von Leibniz oder Wolff, was für Hegel eine unkritische Metaphysik ist. Es geht ihm vielmehr darum, die innere Konstitution der Gegenstände der Welt zu erkennen. Dieses Unternehmen beginnt er zwar in der Weise von Kants kritischer Philosophie durch eine logische Untersuchung der Denkbestimmungen, beschränkt aber die Reichweite unseres Vernunftvermögens nicht auf die Grenzen der subjektiven Erkenntnis.34 Dies bleibt zunächst eine Behauptung, aber im Laufe seines Systems unternimmt Hegel den Versuch, diese These zu beweisen. So behandelt er etwa die Frage, ob der Nous als die absolute Vernunft die Welt regiert und alles übergreift, später, und zwar in den nächsten zwei Bänden der Enzyklopädie, welche die Aufgabe haben, die vernünftige Konstitution der natürlichen sowie der geistigen Welt ans Licht zu bringen.35 Können wir Hegel also als einen modernen Metaphysiker bezeichnen, obwohl er wie die antiken Metaphysiker die These vertritt, dass der Nous die Welt regiert? Die Antwort lautet: Ja. Wenn vom Denken als dem Anfang der Philosophie die Rede ist, fallen einem auf den ersten Blick zwei große Namen ein. Descartes hat der Philosophie, so Hegel, einen neuen Anfang gegeben, und 33 34 35

Vgl. Horstmann, Die Grenzen der Vernunft: eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, S. 134 ff. Siehe auch Horstmann, Rolf-Peter (2017): Hegel on Objects as Subjects, in: Hegel on Philosophy in History. Zuckert, Rachel und Kreines, James (Hrsg.), S. 121–138. Diese Position, welche besagt, dass die Vernunft der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt und in ihr zur Erscheinung bekommt, kann als „Monismus der Vernunft“ verstanden werden. Siehe Emundts, Dina und R.-P. Horstmann (2002): G. W. F. Hegel. Eine Einführung, S. 34. Für eine Untersuchung der Entwicklung des Vernunftbegriffs in Hegels Frühschriften siehe Gutschmidt, Holger (2007): Vernunfteinsicht und Glaube: Hegels These zum Bewusstsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801.

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das ist der Grund, warum er ihn als den „wahrhafte(n) Anfänger der modernen Philosophie“ bezeichnet. Descartes versucht die These durchzusetzen, nach der im ersten Schritt von jeder Voraussetzung und unbewiesenen Annahme zu abstrahieren und im zweiten Schritt eine unbezweifelbare Grundlage zu suchen ist, welche die feste Basis unserer Philosophie sein kann, eine Rolle, die er dann dem Denken zuweist.36 Er war der Auffassung, „der Gedankenmäßige müsse von sich selbst anfangen.“37 Descartes ist für Hegel besonders wichtig, weil das Denken oder das „ich denke“ den ersten Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis ausmacht, was impliziert, dass das Denken von sich anfangen soll. Das Subjekt (das Denken) oder der „Standpunkt des Ich“ wird nun die alles entscheidende Rolle spielen, weil es nur sich selbst vertrauen kann: „Ich ist das Gewisse, Unmittelbare.“38 Descartes hat den Anfang mit dem Denken gemacht, aber erst durch Kant ist das Denkvermögen selbst zum Gegenstand der Untersuchung geworden. Kant unterstützte die These, dass das Erkenntnisvermögen selbst zu untersuchen sei, bevor wir damit der Erkenntnis der (metaphysischen) Gegenstände nachgehen können: „Ein Hauptgesichtspunkt der kritischen Philosophie ist, dass, ehe damit begonnen werde, Gott, das Wesen der Dinge usf. zu erkennen, das Erkenntnisvermögen selbst vorher zu untersuchen sei, ob es solches zu leisten fähig sei.“ (Enz § 10)39 Wie und unter welchen Gesichtspunkten diese Untersuchung durchgeführt wird und ob Hegel mit Kants Vorgehensweise zufrieden ist, ist eine andere Frage. Was aber wichtig ist, ist die Idee der Notwendigkeit dieser Untersuchung, die Hegel mit Kant teilt. Für beide ist es der erste notwendige Schritt in der Philosophie, das Denken selbst zu untersuchen. Hegels Wissenschaft der Logik vollzieht eine Verknüpfung zweier traditionell voneinander unterschiedener Disziplinen, nämlich der Logik als Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens und der Metaphysik als Wissenschaft der Bestimmungen des Seins.40 Seine „objektive Logik“ als der erste Teil seiner Logik besteht u. a. aus den traditionell in der Metaphysik diskutierten Kategorien, wie Qualität, Quantität, Realität, Kausalität usw., und seine „subjektive Logik“ 36

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VGPh, Bd. 3, S. 123. Außerdem sagt Hegel über Descartes: „In der Philosophie hat er eine ganz neue Wendung genommen: mit Descartes beginnt die neue Epoche der Philosophie, wodurch der Bildung das Prinzip ihres höheren Geistes in Gedanken zu fassen, in der Form der Allgemeinheit, vergönnt war, wie Böhme es in Anschauungen, sinnlichen Formen fasste.“ Ebd., S. 126. Ebd., S. 126. VGPh, Bd. 3, S. 130. Außerdem schreibt er: „Die kritische Philosophie machte es sich dagegen zur Aufgabe, zu untersuchen, inwieweit überhaupt die Formen des Denkens fähig seien, zur Erkenntnis der Wahrheit zu verhelfen.“ (Enz § 41 Z1) Näher siehe Jaeschke, Walter, Hegel-Handbuch: Leben, Werk, Schule, 6.2.2.

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enthält die Begriffs-, Urteils- und Schlusslehre, die als logische Bestimmungen bezeichnet wurden. Für Hegel sind diese zwei Bereiche zusammen Themen, die zu seiner Wissenschaft der Logik gehören, weshalb dieses Werk auch beide Bereiche umfasst. Aber erst durch Kant wurde er auf die ersten Spuren dieser Verknüpfung gestoßen.41 Die andere These der kritischen Philosophie, welche für Hegel einen großen Fortschritt ausmacht, ist Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft42: „Erst durch Kant ist der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft bestimmt hervorgehoben und in der Art festgestellt worden, dass jener das Endliche und Bedingte, diese aber das Unendliche und Unbedingte zum Gegenstand hat.“ (Enz § 45 Z) Warum ist aber diese Unterscheidung so wichtig für Hegel? Der Verstand hat die Aufgabe, das zu erkennen, was schon einen sinnlichen Stoff hat und auf Erfahrung beruht. Bei den unendlichen Gegenständen der Metaphysik, sowohl im Sinne der metaphysica generalis (Ontologie) als auch der metaphysica specialis, die Gott, Natur und die menschliche Seele als ihre Gegenstände hat, haben wir hingegen keine sinnliche Erfahrung, und deswegen ist der Verstand für die Erkenntnis dieser Gegenstände ungeeignet. Es ist Kants Verdienst, dass er gezeigt hat, dass die Verstandesbestimmungen endlich sind und uns beim Erkennen der Wahrheit nicht weiterhelfen können: „Der kritischen Philosophie gebührt das große negative Verdienst, die Überzeugung geltend gemacht zu haben, dass die Verstandesbestimmungen der Endlichkeit angehören und dass die innerhalb derselben sich bewegende Erkenntnis nicht zur Wahrheit gelangt.“ (Enz § 60 Z)43 Für Hegel sind nicht nur die Gegenstände, die der Verstand erkennen möchte, endlich; auch die Mittel, welche der Verstand für die Erkenntnis seiner Gegenstände in Anspruch nimmt, sind endlicher Natur. So stehen etwa die Denkbestimmungen „endlich“ und „unendlich“ einander entgegen und stellen selbst endliche Bestimmungen dar: Die Bestimmung „unendlich“ wird durch „endlich“ beschränkt und kann keine wahre Unendlichkeit implizieren. Unendlichkeit fängt nicht erst da an, wo Endlichkeit endet, denn in diesem Fall wäre Endlichkeit für sie eine Schranke und sie wäre keine Unendlichkeit. Wir müssen daher diese zwei Denkbestimmungen zusammen in einer Weise denken, dass dieser Widerspruch gelöst wird, damit beide zu ihrem Recht kommen und ohne Widerspruch gedacht werden können.44 Solange solche Widersprüche 41 42 43 44

Vgl. Jaeschke, Walter, ebd., 6.2.2. Siehe die „Transzendentale Methodenlehre“ in Kants KrV. Siehe Pippin, Robert, Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness, S. 68 f. Vgl. Schick, Friedrike, Einleitende Überlegungen zum Programm der Wissenschaft der Logik, S. 4 f.

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in unserem Denken zwischen den Denkbestimmungen herrschen, kann man nicht darauf hoffen, die Wahrheit, die absolute Vernunft, erkennen zu können. Diese Beschränktheit gibt uns den Anreiz, dass wir unser Unternehmen mit der Logik, das heißt mit dem Denken über das Denken selbst, anfangen müssen: „Das Geschäft der Logik kann auch so ausgedrückt werden, dass in ihr die Denkbestimmungen betrachtet werden, inwiefern sie fähig seien, das Wahre zu fassen. Die Frage geht also darauf, welches die Formen des Unendlichen und welches die Formen des Endlichen sind. Im gewöhnlichen Bewusstsein hat man bei den endlichen Denkbestimmungen kein Arges und lässt sie ohne weiteres gelten. Alle Täuschung aber kommt daher, nach endlichen Bestimmungen zu denken und zu handeln.“ (Enz § 24 Z2) Daraus folgt das Ergebnis, dass für die Erkenntnis dieser Gegenstände der Wahrheit weder von Verstandesgegenständen noch von Mitteln des Verstandes die Rede sein kann. Wir brauchen ein Vermögen, das uns Begriffe und Kategorien des Denkens zur Verfügung stellt, welche Gegenstände der Wahrheit sind, und das kann nur die Vernunft, d. h. wir können nur durch die Vernunft und ihre Kategorien das Problem der Metaphysik lösen. Das impliziert, dass wir, wenn wir über die Problematik der Metaphysik nachdenken wollen, eigentlich zunächst über unser Denken selbst nachdenken müssen. Die Lösung liegt im Denken selbst. Nur eine wahre Logik bzw. ein Denken des Denkens kann das Problem der Metaphysik lösen. Und in diesem Sinne wurde auch schon bei Kant die Metaphysik zur Logik gemacht wird,45 was deutlich macht, inwiefern Hegel von seinen modernen Vorgängern beeinflusst wurde. 2.4

Hegels Untersuchung der Denkkategorien

Es wurde oben gesagt, dass für Hegel eine Untersuchung des Denkvermögens notwendig ist, um das Denken und seine Kategorien voraussetzungslos zu denken, in der Hoffnung, dass dennoch Kategorien zu finden seien, welche zur 45

Laut Düsing ist am Anfang der Jenaer Zeit die Logik für Hegel eine Einleitung in die Metaphysik dadurch, dass sie die endlichen Formen des reflexiven Denkens vernichtet und den Weg für die Erkenntnis des Unendlichen, für den Gegenstand der Metaphysik, ebnet (S.  75 ff). Im Jahr 1807 übernimmt die Phänomenologie des Geistes diese Einleitungsrolle durch die „Überwindung des endlichen Subjekts und seiner endlichen Reflexion“ (S. 92). Es ist in dieser Periode, genauer in seiner Realphilosophie, dass Hegel die Unterscheidung zwischen diesen zwei Bereichen aufgibt und eine Logik sucht, die gleichzeitig Metaphysik ist. (S. 156). Näher siehe Düsing, Klaus (1984): Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik: systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik.

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Erkenntnis des Unendlichen und des Absoluten in der Lage sind. Er möchte also nun zum ersten Mal eine Untersuchung des Denkens selbst ohne Voraussetzungen durchführen. Dieser erste Schritt ist schon ein Beweis dafür, dass seine Metaphysik eine kritische nachkantische Metaphysik ist, weil er mit der Untersuchung des Denkens selbst anfängt und es nicht voraussetzt. Was aber ist mit einer solchen Untersuchung des Denkens gemeint? In ihr sollten wir zunächst recht vorsichtig zu Werke gehen und ihr keine Inhalte von Vorstellungen, Gefühlen usf. beimischen, d.  h. der Stoff sollte nicht aus Gefühlen oder aus einer anderen Quelle kommen. Der Gegenstand einer solchen Untersuchung seien „reine Gedanken“. Im gewöhnlichen Bewusstsein, so Hegel, haben wir es mit Vorstellungen zu tun. In Hegels Beispiel („dieses Blatt ist grün“) können wir eine Vorstellung von dem Blatt, von unseren Erfahrungen damit haben, und das macht den Satz leicht verständlich. Was ist aber der reine Gedanke in diesem Satz? Neben der Urteilsform dieses Satzes sind es Kategorien, die schon in diesem Satz enthalten sind. In diesem Satz „sind schon die Kategorien Sein [ist], Einzelheit [dieses Blatt] eingemischt“. Wenn wir von reinen Gedanken reden, meinen wir damit diese abstrakten Kategorien des Denkens als die Grundlagen unserer denkenden Tätigkeiten. (Enz § 3) Die Forderung der Voraussetzungslosigkeit macht es für uns notwendig, diese Kategorien nicht einfach, wie Kant, anzunehmen. Für Kant werden diese Kategorien durch das Urteilen abgeleitet, das als die Hauptfunktion des Denkens angesehen wird: „Bekanntlich hat es die Kantische Philosophie sich mit der Auffindung der Kategorien sehr bequem gemacht. Ich, die Einheit des Selbstbewusstseins, ist ganz abstrakt und völlig unbestimmt; wie ist also zu den Bestimmungen des Ich, den Kategorien, zu kommen? Glücklicherweise finden sich in der gewöhnlichen Logik die verschiedenen Arten des Urteils bereits empirisch angegeben vor. Urteilen aber ist Denken eines bestimmten Gegenstandes. Die verschiedenen schon fertig aufgezählten Urteilsweisen liefern also die verschiedenen Bestimmungen des Denkens.“ (Enz § 42)46 Was Hegel aber an Kants Behandlung der Kategorien kritikwürdig findet, ist die Tatsache, dass dieser nicht ganz kritisch fortgeht: Zum einen beweise Kant nicht, dass die Hauptfunktion des Denkens im Urteilen bestehe. Genauer 46

Wenn die Hauptfunktion des Verstandes im Urteilen besteht, dann folgt daraus, dass alle Funktionen des Verstandes durch die Identifizierung aller Urteilsformen erreicht werden können: „Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann.“ (Kant, KrV B 94) Siehe Longuenesse, Béatrice (2006): Kant on a priori concepts: The metaphysical deduction of the categories, in: The Cambridge companion to Kant and modern philosophy. Guyer, Paul (Hrsg.), S. 129–168. So auch Förster, Eckart (2018): Die 25 Jahre der Philosophie: eine systematische Rekonstruktion. 3. Auflage, S. 34 f.

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gesagt sei der Verstand für Kant der Ursprung der Kategorien, er sei grundsätzlich das Vermögen des Urteilens.47 Hegel fragt sich hingegen, ob die Form des Urteilens überhaupt die Form der Wahrheit oder die wahre Form des Denkens sei.48 Zum anderen möchte Kant, so Hegel, durch die verschiedenen Urteilsformen, die er in der traditionellen Logik findet, die Kategorien ableiten. So fänden wir z. B. durch das Urteil „X ist Y“ die „Realität“ sowie durch das problematische Urteil „X mag Y sein“ die Kategorie der „Möglichkeit“. Auf diese Weise würden durch die zwölf Urteilsformen zu den zwölf Kategorien gelangen. Was Kant aber nicht beweist und ohne Begründung hinnimmt, sind genau diese zwei grundlegenden Thesen in seiner Behandlung der Kategorien.49 Im Gegensatz zu Kant möchte Hegel anders vorgehen: In erster Linie sei es eine Voraussetzung, wenn wir das Urteilen als die Hauptfunktion des Denkens bezeichneten. Hegel möchte das aber nicht voraussetzen. Als Folge können die Kategorien nicht mehr vom Urteilen abgeleitet werden.50 Hegels 47

48 49

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„Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so dass der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann.“ (Kant, KrV, B 94) Näher siehe Houlgate, Stephen: The Opening of Hegel’s Logic: From Being to Infinity, S. 16 ff. So Houlgate, Stephen, Freedom, Truth and History: An Introduction to Hegel’s Philosophy, S. 30 f. Näher siehe Houlgate, The Opening of Hegel’s Logic: From Being to Infinity, S. 14–23. Vgl. zur Diskussion von Kants Ableitung der Kategorien und Hegels Kritik auch Houlgate, Hegel’s Logic, in: The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, S. 116. Horstmann ist ebenfalls der Auffassung, Hegel stehe zwar vor allem unter dem Einfluss von Kants These, dass alle Erfahrung durch die Kategorien bestimmt werde. Was aber die beiden voneinander unterscheide, sei u. a. die Art und Weise der Entdeckung der Kategorien: Kant nehme dafür die Urteilsformen in Anspruch, während Hegel die Kategorien durch ein „self-generating conceptual procedure“ erreiche. Siehe Horstmann, Substance, subject and infinity: a case study of the role of logic in Hegel’s system, in: Hegel: New Directions, Deligiorgi (Hrsg.), S. 75. Fichte hatte in diesem Zusammenhang einen Einfluss auf Hegels These. Laut Fichte müssen die Kategorien abgeleitet werden, und diese Einschätzung teilt auch Hegel für sein Projekt des voraussetzungslosen Denkens: „Der Fichteschen Philosophie bleibt das tiefe Verdienst, daran erinnert zu haben, dass die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, dass sie wesentlich abzuleiten seien.“ Wenn wir vom Denken erwarten, dass es etwas für uns beweist, sollte es in erster Linie den „eigentümlichsten Inhalt“ der Denkbestimmungen mit seiner „Notwendigkeit“ beweisen können. (Enz § 42) Es war zuerst Fichte, der von der Ableitung der Kategorien sprach. (Siehe den ersten Teil von Fichtes Wissenschaftslehre, „Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre“, S.  19 ff.) Kant hat gezeigt, dass „das Denken sich aus sich selbst bestimme, das Wie und Inwiefern dieser Selbstbestimmung des Denkens von Kant aber noch nicht nachgewiesen worden ist, so ist es dagegen Fichte, welcher diesen Mangel erkannt und, indem er die Forderung einer Deduktion der Kategorien ausgesprochen, zugleich den Versuch gemacht hat, eine solche auch wirklich zu liefern.“ (Enz § 60 Z) Das bedeutet, dass die Kategorien dem Verstand

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Ansatzpunkt ist, wie bei Fichte, genau die Ableitung der Denkbestimmungen ohne irgendeine Voraussetzung. Er möchte nun mit diesem Ansatz die Kategorien und ihre Beziehungen prüfen. Oder anders gesagt: Hegel möchte die Wahrheit der Denkbestimmungen sowie ihre Zusammenhänge untersuchen. (Enz § 162) Er möchte jede Kategorie an sich zusammen mit ihren Zusammenhängen mit anderen Kategorien für uns explizieren, also die Implikationen und Beziehungen der Kategorien für uns durchsichtig machen, damit wir zur Erkenntnis der Kategorien und dadurch unseres Denkens kommen. 2.5

Die Frage nach der Wahrheit der Denkbestimmungen

Bevor wir uns mit der Frage nach der „Wahrheit der Denkbestimmungen“ befassen, ist es notwendig zu wissen, was unter Wahrheit zu verstehen ist. Hegel ist der Auffassung, dass die Wahrheit im gewöhnlichen Sinn als Korrespondenz zwischen unseren Gedanken mit ihrem Gegenstand angesehen selbst entstammen und ihre Quelle im Ich haben. Bei Fichte ist das Ich der Ausgangspunkt und die „Kategorien sollen sich als das Resultat seiner Tätigkeit ergeben.“ Dieses Ich, das der Grundsatz und die unbezweifelbare Grundlage der Philosophie sein soll, weist aber einen Unterschied zu Descartes’ Ich auf: Während für den Letzteren aus dem Ich das Sein abzuleiten ist – siehe den Anfang der zweiten Meditation, wo Descartes aus dem Denken die Notwendigkeit der Existenz des Denkenden ableitet –, werden für Fichte, wie für Hegel, in erster Linie erst aus dem Denken dessen eigene Bestimmungen abgeleitet. In Fichtes Untersuchung haben wir es mit keiner außerhalb des Ich stehenden Existenz, sondern mit Denkbestimmungen des Ich zu tun. Wie kann aber Fichte von diesem Anfangspunkt aus im Gegensatz zu Kant die Kategorien nicht nur „erzählend“ behandeln, sondern tatsächlich ableiten? Fichte entwickelt drei Grundsätze, aus denen dieses ganze System des Denkens abzuleiten sei, und so leitet er z. B. aus dem Grundsatz A=A die Realität und aus A≠~A die Negation ab (Fichte, ebd.). Allerdings leidet seine Untersuchung laut Hegel an einem Dualismus zwischen dem Ich und dem NichtIch, was dem Ich als Schranke und Gegenseite bleibt. Das Ich bei Fichte ist tatsächlich immer durch einen „Anstoß von außen“ bedingt und ist deswegen unfrei und endlich. Zudem sei Fichtes Ich auch nicht in der Lage, die Bestimmungen des Denkens ganz frei von sich herzustellen. Das Denken bleibt bei ihm, so Hegel, endlich. Was Hegel mit der kritischen, voraussetzungslosen Ableitung der Kategorien meint, ist die Erwartung einer „freie[n], spontane[n] Tätigkeit“ des Denkens aus sich selbst. Bei Fichte ist das Denken in diesem Sinne nicht frei, weil es immer vom Anstoß durch das Nicht-Ich abhängig ist, auf den das Ich reagieren soll, um sich selbst bewusst zu werden, was also die Abhängigkeit von einem anderen außer sich bedeutet: „Die Natur des Anstoßes bleibt hierbei ein unerkanntes Draußen, und das Ich ist immer ein Bedingtes, welches ein Anderes sich gegenüber hat.“ Dieser „Anstoß von außen“ bleibe wie das „Ding an sich“ bei Kant etwas Jenseitiges vom Ich, vom Denken. (Enz § 60 Z) Ausführlicher zu Hegels Kritik siehe Pippin, Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness, S. 52–59.

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werde. Er unterscheidet seine Theorie der Wahrheit von einer Begriffsverwendung, die er als die gewöhnliche bezeichnet: „Gewöhnlich nennen wir Wahrheit Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung. Wir haben dabei als Voraussetzung einen Gegenstand, dem unsere Vorstellung von ihm gemäß sein soll.“ (Enz  § 24 Z2) Diese Vorstellung bezeichnet für Hegel nur als die „bloße Richtigkeit: Unter Wahrheit versteht man zunächst, dass ich wisse, wie etwas ist.“ (Enz § 213 Z)51 Hegel hat dagegen eine andere Vorstellung von Wahrheit. Für ihn besteht die Wahrheit in der „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst.“ (Enz § 2 Z) Für ihn ist etwas wahr, wenn es so ist, wie es sein soll. Er gibt Beispiele von einem wahren Freund oder einem wahren Staat an, die nur wahr sind, weil sie den Begriffen der Freundschaft oder des Staates gemäß seien, oder so sind, wie sie sein sollen. Aber können wir überhaupt von der Wahrheit der Denkbestimmungen reden? Im gewöhnlichen Sinne nehmen wir unsere Denkbestimmungen als Formen, die auf einen gegebenen Inhalt angewendet werden. Wenn nun von der Wahrheit dieser Formen die Rede ist, was wird dann der Inhalt unserer Untersuchungen sein? Sind unsere Denkbestimmungen nicht reine Formen ohne Inhalte, wie Kant sie „als Einheiten bloß des subjektiven Bewusstseins, durch den gegebenen Stoff bedingt, für sich leer und haben ihre Anwendung und Gebrauch allein in der Erfahrung“ sah? (Enz § 43)52 Die Denkbestimmungen sind keine Gegenstände außer dem Denkbereich, sondern dem Denken angehörend. Hegel ist allerdings der Auffassung, man könne von der Wahrheit 51

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Schon in der Phänomenologie des Geistes hat Hegel eine solche Konzeption der Wahrheit als unhaltbar zurückgewiesen: Laut dieser Konzeption erreichen wir die Wahrheit des Gegenstandes, wenn unser Wissen genau das erkennt, was der Gegenstand an sich ist. Wie kann nun aber das Bewusstsein der Entsprechung zwischen seinem Wissen und dem An-sich des Gegenstandes gewiss werden? Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Bewusstsein selbst der Richter dieser Vergleichung sein muss. Das Bewusstsein selbst muss die Maßstäbe dieser Vergleichung liefern. Wenn jedoch die Maßstäbe aus dem Bewusstsein selbst kommen, wie kann man dann der Erkenntnis eines außerhalb des Bewusstseins liegenden Gegenstandes sicher werden? „Aber die Natur des Gegenstandes, den wir untersuchen, überhebt dieser Trennung oder dieses Scheins von Trennung und Voraussetzung. Das Bewusstsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst sein; denn die Unterscheidung, welche soeben gemacht worden ist, fällt in es. Es ist in ihm eines für ein Anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens an ihm; zugleich ist ihm dies Andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung oder an sich; das Moment der Wahrheit. An dem also, was das Bewusstsein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen.“ Hegel, PhG, Bd. 3, S. 76 f. So auch Jaeschke, Walter (2004): Zum Begriff des Idealismus, in: Hegels Erbe. Halbig, Christoph, Quante, Michael und Ludwig Siep (Hrsg.), S. 164–183. Oder „Gedanken ohne Inhalt sind leer […]“ (Kant, KrV, B 75).

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dieser Bestimmungen reden, denn diese Bestimmungen seien an sich nicht leer, sondern hätten Unterscheidungen und daher bestimmte Inhalte in sich und seien deswegen keine reine Form: „Von den Kategorien zu behaupten, dass dieselben für sich leer seien, ist insofern unbegründet, als dieselben jedenfalls daran, dass sie bestimmt sind, ihren Inhalt haben.“ (Enz § 43 Z) Anders ausgedrückt: Das Denken ist eine Form, welche nicht leer ist; vielmehr machen die unterschiedlichen Kategorien mit ihren unterschiedlichen Bestimmungen seinen Inhalt aus. Aus diesem Grund können wir von der „Frage nach der Wahrheit der Denkbestimmungen“ sprechen. (Enz § 2 Z) Hierauf aufbauend ist es Hegels Anspruch, die Denkbestimmungen vollständig zu erkennen. Für diese Aufgabe ist es notwendig, keine Voraussetzungen zu machen und, wie Hegel sagt, frei zu denken: „[D]as freie Denken sei ein solches, welches keine Voraussetzungen habe.“ (Enz § 41 Z) In der Tat ist es für den Einstieg in die Wissenschaft notwendig, all unsere Voraussetzungen beiseite zu lassen und mit einem umfassenden Skeptizismus anzufangen: „Die Forderung eines solchen vollbrachten Skeptizismus ist dieselbe mit der, dass der Wissenschaft das Zweifeln an allem, d. i. die gänzliche Voraussetzungslosigkeit an allem vorangehen solle.“ (Enz § 78)53 Hegels Ansatz weist die perfekte Form dieses Skeptizismus auf. Bei ihm sollte alles von null anfangen. Nicht nur sollte sich die Philosophie selbst als die wahre Art und Weise der Erkenntnis der Wahrheit erweisen, sondern wir müssen außerdem unser Denken selbst untersuchen. Wir haben es in unserer Untersuchung mit den Denkbestimmungen oder Kategorien zu tun und unser Ziel besteht darin, diese Kategorien in ihren Verhältnissen zu explizieren. An dieser Stelle fragen wir uns, mit welcher Kategorie und auf welche Art und Weise wir anfangen sollten. Wie schon gesagt, müssen wir für den Anfang unserer Untersuchung vor Augen haben, dass wir keine Voraussetzungen machen dürfen. Die Forderung an unsere Wissenschaft ist: „[D]as Zweifeln an allem; d.  i. die gänzliche Voraussetzungslosigkeit an allem.“ Was wir für den Anfang brauchen, ist allein der „Entschluss, rein denken zu wollen.“ (Enz § 78) Zweitens sollten wir nicht vergessen, dass es nur um reine Denkbestimmungen geht und nicht um Formen, die aus der Vorstellung kommen. Die Vorstellung darf die Untersuchung nicht beeinflussen. Wenn wir zum Beispiel von Endlichkeit und Unendlichkeit reden, dürfen wir uns keine unendliche Welt vorstellen, worin alle Endlichkeiten schon enthalten sind. 53

Vgl. auch Enz § 78: „Ebenso sind alle anderen Voraussetzungen oder Vorurteile bei dem Eintritt in die Wissenschaft aufzugeben, sie mögen aus der Vorstellung oder dem Denken genommen sein; denn es ist die Wissenschaft, in welcher alle dergleichen Bestimmungen erst untersucht und, was an ihnen und ihren Gegensätzen sei, erkannt werden soll.“

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Beides sind hier nur reine Begriffe, von denen wir uns keine Vorstellungen machen dürfen. Drittens brauchen wir bezüglich der Methode der Untersuchung ein bestimmtes methodisches Verfahren, das als Regel für unsere Untersuchung fungiert, damit die Untersuchung nicht beliebig durchgeführt wird, sondern notwendig voranschreitet. Die von Hegel vorgeschlagene Methode ist reines Zusehen, das allein dieser Anforderung gerecht wird. Diese Methode wird sich als ein immanentes Fortgehen erweisen, das dem Inhalt immanent ist und deswegen – ohne irgendeine vorausgesetzte Methode – nur das explizit macht, was der Inhalt an sich notwendig ist, und sich dann durch die Aufhebung der Widersprüche und Schranken weiterentwickelt.54 In diesem Sinne ist es die notwendige Ableitung der Inhalte der Kategorien selbst, die garantiert, dass den Kategorien keine äußerlichen Regeln auferlegt werden. Vielmehr wird die Regel durch die Kategorien selbst bestimmt.55 Was wir als Philosophen nur tun, ist zuzusehen, wie sich die Implikationen der Begriffe explizit machen. Das Verfahren ist „bloß das Setzen desjenigen, was in einem Begriff schon enthalten ist.“56 Dieses Verfahren nennt Hegel einen „notwendig(en) Fortgang“, und genau dies sei das, was eine methodische Philosophie ausmache. (Enz  § 88) Dadurch werden uns sowohl die Implikationen jeder Kategorie als auch die Zusammenhänge zwischen den Kategorien ersichtlich und sie werden nicht vorausgesetzt, sondern abgeleitet. In diesem logischen System haben wir es mit Kategorien zu tun, welche einander implizieren, und dies in der Art und Weise, dass aus den früheren Kategorien reichere und komplexere Kategorien hervorgehen.57 54

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Mit Georg Martin gesprochen: „Ein wesentliches Element von Dialektik ist daher nicht, weiterzukommen, indem man sich etwas Neues ausdenkt, sondern indem man ausdrücklich macht, wo man schon ist.“ Martin, Christian Georg (2012): Ontologie der Selbstbestimmung: eine operationale Rekonstruktion von Hegels „Wissenschaft der Logik“, Fußnote zu S. 68, auch S. 582. So auch Houlgate, The Opening of Hegel’s Logic: From Being to Infinity, S.  35. Für eine Erläuterung der „selbstbezüglichen Negation“ als das Prinzip der Entwicklung in Hegels Logik siehe Martin, Christian Georg, Ontologie der Selbstbestimmung: eine operationale Rekonstruktion von Hegels „Wissenschaft der Logik“, Kapitel 1.3. Henrich sagt über Hegels Methode des Fortgehens: „Der immanenten Konsequenz der Sache frei zu folgen und sie vollständig zu artikulieren schien ihm das einzige methodische Postulat von Relevanz für Gang und Schicksal der neuen Disziplin zu sein.“ Henrich, Dieter (1975): Hegel im Kontext, S. 101. Laut Houlgate ist Hegels Methode des Fortgehens analytisch in dem Sinne, dass auf jeder Stufe nur das explizit gemacht wird, was eine Kategorie an sich sowie synthetisch in der Hinsicht ist, dass durch diese Explikation eine neue Kategorie zum Vorschein kommt. Näher siehe Houlgate, Freedom, Truth and History: An Introduction to Hegel’s Philosophy, S. 38.

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2.6

Mit welcher Kategorie muss die Untersuchung der Denkbestimmungen beginnen?

Was ist die „abstrakteste“ und „dürftigste“ Bestimmung des Denkens „in seiner reinen Bestimmungslosigkeit“? Diese Forderung nach Bestimmungslosigkeit garantiert, dass wir keine Voraussetzungen machen, denn jede Bestimmung impliziert eine Unterscheidung von den anderen in sich, was dann einen Unterscheidungsgrund voraussetzt. Wenn wir aber mit einer Kategorie anfangen, die keine Bestimmungen hat, dann haben wir tatsächlich keinen Unterscheidungsgrund angenommen. Das ist nach Hegel die Kategorie des „Seins“. Wir machen also den Anfang mit dem reinen abstrakten Sein, das gar keine Bestimmungen hat und deswegen ganz leer ist. Wenn wir über dieses reine Sein reden wollen, haben wir eigentlich nichts zur Verfügung, und was uns übrig bleibt, ist das leere Sein selbst. Es ist die bestimmungslose Kategorie, die die Eleaten als die Definition des Absoluten verwendet haben. In den Worten des Parmenides: „[D]as Sein nur ist, und das Nichts ist nicht.“ (Enz § 86) Diese erste Kategorie markiert implizit schon in sich einen ersten Schritt für unser Fortgehen: Dieses abstrakte Sein ist „die reine Abstraktion“, das reine Sein hat in sich nichts, womit es vom „Nichts“ zu unterscheiden ist. Wenn wir also das reine Sein als Kategorie weiter beschreiben wollen, finden wir tatsächlich nichts, und es ist ebenso leer und ohne Inhalt wie das Nichts. Wir haben eigentlich keine Bestimmung, womit wir die beiden voneinander unterscheiden, also sagen können, dass etwas in dem einen und nicht in dem anderen enthalten ist: „Nun aber ist das Sein eben nur das schlechthin Bestimmungslose, und dieselbe Bestimmungslosigkeit ist auch das Nichts.“ (Enz § 87 Z) Also haben wir es hier mit zwei gegensätzlichen Kategorien zu tun, die sich als gleich erwiesen haben. Genauso bestimmungslos und leer wie das Sein ist das Nichts.58 So hat es sich erwiesen, dass die Kategorien Sein und Nichts gleich sind in dem Sinne, dass beide leer und bestimmungslos sind. Wenn wir nun das Sein denken, erreichen wir das Nichts, und wenn vom Nichts der Anfang gemacht wird, wird uns die Tatsache deutlich, dass das Nichts nur ist, und nichts Weiteres kann darüber gesagt werden, außer dem bloßen Sein des Nichts als eine Denkbestimmung.59 In dieser Bestimmungslosigkeit implizieren diese 58 59

In diesem Zusammenhang sagt Hegel: „Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.“ (WL, Bd. 1, S. 83) Oder, so Houlgate, das Nichts impliziert das Sein in sich, weil es zumindest als eine Kategorie für uns „ist“, woran wir denken können. Siehe sein An Introduction to Hegel: Freedom, Truth and History, S. 32.

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Kategorien einander. Mit anderen Worten: Wenn wir vom Sein anfangen, kommen wir zum Nichts, und umgekehrt hat das Nichts das Sein implizit in sich. Das Resultat dieser Betrachtung der beiden Kategorien ist eine neue Kategorie, das „Werden“: d. h. das Sein wird nichtig und, umgekehrt, das Nichts kommt zum Sein. Das „Werden“ ist folglich die „Wahrheit des Seins sowie des Nichts“ und „daher die Einheit beider“.60 (Es ist hier nochmals darauf hinzuweisen, dass wir bisher nur von abstrakten Begriffen und nicht von Vorstellungen sprechen.)61 Der Schluss der ersten Phase der Untersuchung ist folgender: Wenn wir mit Parmenides’ Definition des Absoluten anfangen, erreichen wir den Punkt, an dem alles Sein wesentlich Werden ist, was nichts anderes bedeutet, als dass Heraklit zu Recht die Wahrheit von allem als fließend ansah und das Werden als die Wahrheit des Seins bezeichnete.62 Mit dieser Kategorie gehen wir über die abstrakten Bestimmungen hinaus und erreichen eine Kategorie, die Bestimmungen in sich hat. So hat sich das Sein als Werden ergeben und seine Wahrheit im Werden gefunden: „Das Werden ist nur das Gesetztsein dessen, was das Sein seiner Wahrheit nach ist.“ (Enz § 88 Z) Wie schon erwähnt, fängt Hegel seine Ontologie mit der Kategorie „Sein“ an und versucht zu explizieren, was in dieser Kategorie bereits implizit enthalten ist. Seine logische Untersuchung geht auf diese Weise weiter. Auf jeder Stufe haben wir es mit einer Definition des Absoluten zu tun – zuerst mit der Kategorie „Sein“ in der Form „das Absolute ist“ –, und je weiter wir fortgehen, erreichen wir eine „nähere Bestimmung und wahrere Definition des Absoluten.“ (Enz  § 87 Anm.) In der Seins- sowie Wesenslogik geht es um die 60

61 62

In der WL, Bd.  1, S.83 lesen wir: „Aber ebenso sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern dass sie nicht dasselbe, dass sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“ Näher siehe Houlgate, Freedom, Truth and History: An Introduction to Hegel’s Philosophy, S. 32 f. „Hegel’s presuppositionless logic has provided its first lesson: that sheer being is actually becoming. The immediacy that characterizes all things is always in flux, always passing away and reemerging. What appears initially to be Parmenides’ world of fixed, unchanging being has turned out in fact to be Heraclitus’ world of becoming. Moreover, Hegel arrives at this Heraclitean worldview by simply letting the Parmenidean thought of being unfold its own implications: namely, that pure being is not just pure being, but – by virtue of its indeterminacy – pure instability, vanishing and becoming. This is the dialectic at the heart of being, through which being will continue to transform itself in the course of the Logic into further, more concrete determinations.“ Houlgate, Stephen, G. W. F. Hegel in The Blackwell Guide to the Modern Philosophers: From Descartes to Nietzsche, S. 278–305.

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Denkbestimmungen, die zur Erklärung der objektiven Welt verwendet werden, was deutlich macht, warum diese zwei Teile die „objektive Logik“ genannt werden. Am Ende der Wesenslogik macht Hegel den Übergang zur „subjektiven Logik,“ die sich mit den Kategorien des Denkens beschäftigt. Wie in den letzten zwei Teilen geht es ihm auch hier darum, diese Denkbestimmungen nicht einfach hinzunehmen. Vielmehr möchte er untersuchen, was Begriff, Urteil und Schluss als Bestimmungen des Denkens in ihrer Wahrheit sind.63 Wir können hier nicht auf die ganze subjektive Logik eingehen, wollen aber zumindest diejenigen Teile beleuchten, die für Hegels Philosophie des Rechts ausschlaggebend sind. Von daher werden die Fragen auf die folgenden beschränkt: 1) Was ist die „Idee“ und warum ist sie die letzte Stufe der logischen Untersuchung? 2) Warum schreibt er dem „Begriff“ eine so zentrale Position zu? 3) Was ist die dialektische „Methode“? 2.7

Begriff und Methode als die Grundlagen der Erkenntnis der Idee

Wie schon gesagt wurde, besteht Hegels Hauptziel in seinem System darin, die Wahrheit zu erkennen. In der Wissenschaft der Logik als erstem Teil des Systems geht es ihm darum, die Wahrheit der Denkbestimmungen zu untersuchen. Hegel scheint mit der Bestimmung der Idee dieses Ziel erreicht zu haben, eine Denkbestimmung, welche die Bedingung der Wahrheit erfüllt, d. h. nach der Definition der Wahrheit „mit sich übereinstimmt.“ Was ist nun diese Denkbestimmung und in welchem Sinne weist sie eine Übereinstimmung mit sich selbst auf? Hegel formuliert die folgende Definition der Idee: „Die Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität.“ (Enz § 213) Wie dieser Definition zu entnehmen ist, hat die Idee zwei Elemente: 63

Hegels Unterscheidung in seiner subjektiven Logik in die drei Teile Begriff, Urteil und Schluss ist nach Wolff ähnlich wie bei Kant und Aristoteles: „Kant held that general logic is ‚constructed on a ground plan‘ that coincides ‚precisely with the division of the higher faculties of cognition‘ into understanding, judgement and reason (KrV A130/B169). Accordingly, general logic contains a ‚doctrine‘ whose analytic part dissolves ‚the entire formal business of the understanding and reason into its elements‘ (KrV A60/B84). This ‚analytic‘ deals with ‚concepts, judgements, and inferences directly in accordance with the functions and order‘ of the understanding and reason (KrV A130/B169). This description matches the structure and content of traditional logic textbooks, which (along the lines of Aristotle’s Organon) treated inferences as composed of judgements and judgements as composed of concepts. Hegel’s subjective logic is concerned with this matter as well.“ Wolff, Michael (2013): Science of Logic in The Bloomsbury Companion to Hegel. de Laurentiis, Allegra, Edwards, Jeffrey (Hrsg.), S. 71–101.

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den Begriff und die Objektivität. Am Ende der logischen Untersuchung zeigt Hegel, dass das Denken (Begriff) die gleiche logische und ontologische Struktur hat wie die Objektivität, und dass zwischen den beiden kein Gegensatz oder Dualismus besteht. Nun nennt Hegel die Bestimmung, in der das Denken mit der Objektivität eins ist, d.  h. ein objektives Dasein, das seinem Begriff entspricht, „Idee“: „Damit sind die früher (auf dem Wege zur Wahrheit) für sich seienden Bestimmungen, wie ein Subjektives und Objektives oder auch Denken und Sein oder Begriff und Realität, wie sie in irgendeiner Rücksicht bestimmt worden sein mögen, nun in ihrer Wahrheit, d. i. in ihrer Einheit, zu Formen herabgesetzt.“ (WL, Bd. 1, S. 57 f.) Die Idee impliziert, dass wir die wahre Denkbestimmung im Sinne der Übereinstimmung mit sich erreicht haben, weil wir es in der Idee mit einem Begriff zu tun haben, der mit seiner Objektivität identisch ist und umgekehrt. Weder der Begriff noch die Objektivität allein repräsentieren die Idee. Die Idee ist vielmehr die Einheit dieser zwei Elemente in sich. Im Folgenden werden wir den Begriff behandeln. Allerdings muss zuvor noch der Hinweis gemacht werden, dass der Begriff für Hegel das ist, was etwas in seiner notwendigen, vernünftigen Form sein sollte. Wenn wir z. B. vom Begriff des Staates reden, ist damit nicht die Vorstellung eines beliebigen Menschen vom Staat gemeint; vielmehr bezeichnet der Begriff des Staates die Idee, wie ein Staat sein soll, also eine Objektivität, ein objektives Dasein, das so ist, wie es in seiner wahrhaften Form sein soll. Die Wahrheit von etwas besteht nicht allein in der apriorischen Welt des Bewusstseins. Es erreicht vielmehr seine Wahrheit erst dann, wenn es auch eine Existenz erreicht, die diesem gedanklichen Begriff entspricht. Solange etwas nicht wirklich wird, ist es eine reine Abstraktion, und umgekehrt, solange ein Dasein seinem Begriff nicht entspricht, ist es nur ein vorübergehendes Dasein.64 Hegel vertritt eine Art Begriffsrealismus65, demgemäß der Begriff das Wesen oder die ontologische Struktur der Welt ausmacht, und je mehr etwas den Begriff in sich reflektiert, desto näher steht es seiner Wahrheit. Es ist zwar richtig zu sagen, dass Hegel Dimensionen eines allgemeineren Realismus in seine Theorie integriert, weil er die Existenz der objektiven Welt außer Zweifel lässt, und außerdem die Objektivität für ihn ein Element der Wahrheit ausmacht. 64 65

Diese These liegt auch seinen Grundlinien zugrunde, in denen er in seiner Diskussion über die Idee der Freiheit neben den begrifflichen Bestimmungen der Freiheit gleichzeitig von ihren Rechtsverhältnissen als den objektiven Formen des Freiheitsbegriffs redet. Laut Stern: „Hegel’s idealism, in other words, amounts to a form of conceptual realism, understood as the belief that concepts are part of the structure of reality.“ Stern, Hegelian Metaphysics, S. 76. Für eine ähnliche Interpretation siehe Halbig, Christoph (2002): Objektives Denken: Erkenntnistheorie und Philosophy of Mind in Hegels System. S. 329.

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Was ihm jedoch an einer einfachen Version eines direkten Realismus66 ohne Bezug auf Begriffe unhaltbar scheint, ist erstens ontologisch in dem Sinne, dass er nicht von zwei Welten redet, sondern die Position vertritt, nach der sowohl die subjektive als auch die objektive Welt eine ähnliche Struktur haben, was er Nous oder Begriff nennt. Was wir in unserem Bewusstsein vom Objekt haben, ist kein Bild, das ausschließlich unserem Bewusstsein gehört. Es ist vielmehr objektiv in dem Sinne, dass es das Wesen der Dinge ausmacht. In seiner Kritik gegen Kants Beschreibung unseres Denkvermögens als etwas Subjektivem sagt Hegel: „Dagegen ist die wahre Objektivität des Denkens diese, dass die Gedanken nicht bloß unsere Gedanken, sondern zugleich das Ansich der Dinge und des Gegenständlichen überhaupt sind.“ (Enz § 41 Z2). Zweitens ist dieser Realismus erkenntnistheoretisch unhaltbar, weil die Denkbestimmungen oder Kategorien –Quantität, Kausalität usw. – für uns Dimensionen der objektiven Welt sichtbar machen, die unserer direkten Erfahrung verschlossen bleiben. Direkte sinnliche Erfahrung ist zwar ein Weg zur Erkenntnis des Gegenstandes, ist aber dem „Begreifen“ sehr fern, das erst das wahre Wesen des Gegenstandes sichtbar macht. Der Begriff wurde als ein Element der Idee genannt, das die Wahrheit einer Sache in der Welt des Denkens bezeichnet.67 Er ist die Vernunft, die sich in einem objektiven Dasein realisiert, oder der Nous, welcher sich in der Welt zum Ausdruck bringt. Der Begriff ist für Hegel nicht etwas rein Subjektives; er ist vielmehr das Prinzip der Konstitution des Gegenstandes.68 Eine grundlegende Frage, die hier gestellt werden kann, ist: Warum ist der Begriff keine bestimmte Konzeption, sondern die absolute Wahrheit? Oder wie kann Hegel behaupten, dass die Position des Begriffes über jede bestimmte oder beschränkte Konzeption hinausgeht und die Sache wahrhaft bezeichnet? Warum kann er behaupten, dass das „Begreifen“ einer Sache als eine Art des 66

67 68

Hegels Idealismus, nach dem nur die Idee wahr ist, steht ganz deutlich im Gegensatz zum „direkten Realismus“, der besagt, dass eine direkte Erfahrung mit den Objekten durch die Sinne und Wahrnehmung ihre Wahrheit für uns sichtbar macht. Näher siehe Bouton, Christophe (2018): Idealismus und Realismus bei Hegel, S. 31–50. So auch Horstmann, Rolf-Peter (1990): Wahrheit aus dem Begriff: Eine Einführung in Hegel. S. 44 ff. Über den Begriff und seine Rolle in der Konstitution der Objekte sagt Horstmann in „Hegel on Objects as Subjects“, S. 133: „These principles have the status of general or universal formative rules because they have to include everything which is necessary for something to be an object; that is, they have to contain the general conditions of ‚objecthood‘ (Objektsein). Spelled out in terms of (Kantian) categories, this view would mean, among other things, that to be real objects, objects must have a certain kind of substantiality, exhibit certain causal powers, and have certain qualitative and quantitative characteristics – all this lies in their very nature, in their concepts.“

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Reflektierens über die Sache über jede einseitige Konzeption erhaben und die absolute Perspektive auf diese Sache ist? Wie bereits gesagt, glaubt Hegel an einen Begriffsrealismus, nach dem die allgemeinen Begriffe für ihn keine rein gedanklichen Bestimmungen sind. Sie machen das Wesen der Dinge aus und sind den Dingen als ihre Vernunft bzw. ihr Nous inhärent. In diesem Zusammenhang kritisiert Hegel die Konzeption des Begriffs in seinem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes, welche den Begriff als eine durch uns hergestellte „abstrakte Allgemeinheit“ betrachtet. In dieser Konzeption ist der Begriff eine Allgemeinheit, die wir durch Abstraktion von einer Eigenschaft bilden. Z. B. würde der Begriff „rot“ dadurch gebildet, dass wir diese Qualität von vielen roten Dingen abstrahieren und das „Rote“ als einen allgemeinen Begriff bilden, der das Gemeinschaftliche dieser Dinge ist. Diese abstrakte Allgemeinheit erreichen wir, Hegels Auffassung nach, durch die „Hinweglassung des Besonderen und [sie] ist die Weise, wie der Verstand den Begriff auffasst.“ (Enz § 163 Z)69 Was in dieser Konzeption des Begriffs ins Auge fällt, ist die Unterscheidung, welche zwischen einem Einzelnen und unserem abstrakten Allgemeinen bzw. dem Produkt unseres Denkens getroffen wird. Das heißt, wir haben ein Einzelding mit vielen weiteren Qualitäten und Eigenschaften, welche dieses abstrakte Allgemeine – in unserem Beispiel das Rote – nicht betreffen, und dieses Einzelding wird durch den Begriff nur an einem Einzelpunkt berührt. Deswegen haben wir einerseits die Einzelheit des Dinges und andererseits die Allgemeinheit des Begriffs als zwei verschiedene Entitäten, und die allgemeine Eigenschaft abstrahiert eine Qualität des Einzeldinges. Für Hegel hingegen ist der Begriff keine abstrakte Allgemeinheit, welche den Einzeldingen gemeinschaftlich ist, wenn er sagt: „[D]as Allgemeine des Begriffs ist nicht bloß ein Gemeinschaftliches, welchem gegenüber das Besondere seinen Bestand für sich hat, sondern vielmehr das sich selbst Besondernde (Spezifizierende) und in seinem Anderen in ungetrübter Klarheit bei sich selbst Bleibende.“ (Enz  § 163 Z1) Der hegelsche Begriff ist kein 69

Zum einen ist diese Gegenposition, die Hegel kritisiert, nominalistisch in der Hinsicht, dass in ihr die Begriffe oder die Universalien als eine „abstrakte“ Allgemeinheit bezeichnet werden, die nur Gedankendinge sind. Zum anderen gehören diese Universalien nicht ausschließlich unserer Gedankenwelt an; sie sind vielmehr Eigenschaften, die von den Einzeldingen abstrahiert werden. Diese Ansicht über die Universalien ähnelt einer Variante des Nominalismus, die heutzutage „trope theory“ genannt wird, und deren Hauptthese so zum Ausdruck gebracht werden kann: „On this view, there are such things as properties or qualities, but they are one and all particular: each can be found in just one object; and the claim is that talk apparently about universals is really just talk about these particular qualities or properties (called tropes; hence the name ‚trope theory‘).“ Siehe Loux, Michael J., M. Crisp, Thomas (2017): Metaphysics: A Contemporary Introduction. S. 45. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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von uns gebildeter Begriff als eine gedankliche Abstraktion. Hegel ist der Auffassung, „dass wir die Begriffe gar nicht bilden“, sondern die Begriffe sind die den Sachen zugrundeliegende Vernunft (Nous), welche wir durch das spekulative Denken zu erkennen in der Lage sind: „Der Begriff ist vielmehr das wahrhaft Erste, und die Dinge sind das, was sie sind, durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und in ihnen sich offenbarenden Begriffs.“ (Enz § 163 Z2) Für ihn ist der Begriff in der Tat nicht abstrakt, sondern konkret in dem Sinne, dass er den Dingen inhäriert und „das Prinzip alles Lebens und damit zugleich das schlechthin das Konkrete“ ist. (Enz § 160 Z) Für Hegel ist die Allgemeinheit des Denkens keine abstrakte Eigenschaft, die durch den Verstand abstrahiert wird und den Einzeldingen gemeinschaftlich ist. In dieser Vorstellung sind die Allgemeinheit und Einzelheit zwei verschiedene Begriffsbestimmungen, die einander nur an einem Punkt berühren. Hegel möchte hingegen eine Brücke zwischen der Allgemeinheit und der Einzelheit, zwischen der Welt des Denkens und der objektiven Welt dadurch schlagen, dass das Allgemeine des Denkens nicht mehr der Einzelheit des Gegenstandes gegenübersteht. Vielmehr sollte das Allgemeine in dem Sinne ein Konkretes sein, als in ihm das Einzelne so reflektiert wird, wie es wahrhaft ist. Der erste Schritt dahin, dieses „konkrete Allgemeine“ zu erreichen, besteht darin, die Beziehung zwischen Allgemeinheit und Einzelheit neu zu denken und die Urteilsform „Das Einzelne ist das Allgemeine“ nicht als die endgültige Form des Denkens anzunehmen. Hegel will eine Allgemeinheit erreichen, die keine abstrakte Eigenschaft des Einzelnen zum Ausdruck bringt. Vielmehr sollte diese Allgemeinheit so konstituiert sein, dass die Kopula in diesem Verhältnis keine leere Identität bleibt. Er möchte eigentlich einen allgemeinen Begriff erreichen, mit dessen Hilfe die Kopula gefüllt wird und die Allgemeinheit nicht mehr der Einzelheit mit ihren mannigfaltigen Bestimmungen gegenübersteht. Anhand eines Beispiels wird dieser Punkt deutlicher: In der Aussage „Dieses Auto ist rot“ ist das Rote nur eine abstrakte Seite des Autos und durch das „ist“ haben wir eine Identität, die sich nur auf eine Eigenschaft des Dinges, die Farbe, bezieht und deswegen leer bleibt. Im Gegensatz dazu sucht Hegel nach einer Denkweise – dem Begreifen –, welche die Wahrheit der Einzelheit und nicht nur eine abstrakte Seite davon zum Ausdruck bringt. Diese allgemeine Denkbestimmung ist in keiner Weise eine gemeinschaftliche Eigenschaft zwischen den einzelnen Dingen gleicher Art. Es geht ihm hauptsächlich um eine Allgemeinheit im Denken, welche nicht der Einzelheit gegenübersteht, sondern die Wesentlichkeit der Einzelheit zum Ausdruck bringt.70 70

Hegels Ansicht nach lassen sich in der Geschichte auch Belege dafür finden, dass dieses tiefere Bild von Allgemeinheit in unseren Gedanken über den Freiheitsbegriff herrschend Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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Der zentrale Schritt dafür ist, durch eine logische Untersuchung das Verhältnis zwischen diesen Begriffsmomenten neu zu denken und den Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen aufzuheben. Dies ist Hegels Ziel: „Aber das Allgemeine ist das mit sich Identische ausdrücklich in der Bedeutung, dass in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei.“ (Enz § 164) Um seine Konzeption und Erwartung vom Denken verstehen zu können, sollten wir uns vergegenwärtigen, was er in seiner „subjektiven Logik“ macht. Ganz grob gesagt, geht es ihm um das Material, welches schon in der gewöhnlichen Logik abgehandelt wird.71 Es werden also Begriff, Urteil und Schluss als Formen des Denkens untersucht und behandelt, aber selbstverständlich in Hegels eigener Art, denn er möchte diese Formen mit ihren Zusammenhängen nicht einfach hinnehmen, sondern neu untersuchen: „[…] die Aufgabe darin besteht, dasselbe in Flüssigkeit zu bringen und den lebendigen Begriff in solchem toten Stoffe wieder zu entzünden.“ (WL, Bd. 2, S. 243) Wie in den anderen Teilen versucht er auch hier die Denkbestimmungen von ihrer Einseitigkeit und Beschränktheit zu befreien. Nun aber zurück zu unserer Frage: Warum ist das Denken in der Form von „Begreifen“ die höchste Form des Denkens, welche die Wahrheit von etwas ersichtlich macht? Oder anders gefragt: Warum ist der Begriff einer Sache nicht nur die höchste Form unseres Denkens über diese Sache, sondern deren Wahrheit? Im nächsten Schritt der vorliegenden Untersuchung wird Hegels „subjektive Logik“ auf die folgende Art verstanden: Hegel möchte hier unsere Denkweise von ihren endlichen Formen reinigen und das Denken auf die höchstmögliche Stufe heben. Seine Untersuchung beginnt im ersten Schritt, in

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war. Wenn die Allgemeinheit so angesehen gewesen wäre, nämlich als eine gemeinschaftliche Eigenschaft, hätte der Mensch niemals frei sein können, denn zur Zeit der Sklaverei waren die meisten Menschen Sklaven und das Prinzip der Persönlichkeit als Grundlage der Freiheit und als Fähigkeit, die eigenen Entscheidungen zu treffen, war keine Eigenschaft aller. Die Idee der Persönlichkeit als eine wesentliche oder wahre allgemeine Eigenschaft der Menschheit kam in die Welt nicht durch Gemeinschaftlichkeit, sondern dadurch, dass das wesentliche Allgemeine im Menschen in den Fokus rückte. Diese notwendige und wahre Allgemeinheit war deswegen kein abstrakt Gemeinschaftliches, sondern die Wahrheit des einzelnen Menschen. Hier geht es um das Aufsuchen eines solchen Allgemeinen, welches die Wahrheit des Einzelnen offenbart und gleichzeitig vom Einzelnen als seiner Realisierung abhängt. (vgl. Enz § 163) „Dieser Teil der Logik, der die Lehre vom Begriffe enthält und den dritten Teil des Ganzen ausmacht, wird auch unter dem besonderen Titel System der subjektiven Logik zur Bequemlichkeit derjenigen Freunde dieser Wissenschaft ausgegeben, die für die hier abgehandelten, in dem Umfange der gewöhnlich so genannten Logik befassten Materien ein größeres Interesse zu haben gewöhnt sind als für die weiteren logischen Gegenstände, die in den beiden ersten Teilen abgehandelt worden.“ (WL, Bd. 2, S. 243)

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der „Subjektivität“, mit der einfachsten Denkweise „Das Urteil des Daseins“ und schreitet durch Aufhebung der widersprüchlichen Formen weiter. Im „Schluss der Notwendigkeit“ als dem letzten Teil der „Subjektivität“ erreicht Hegel den Punkt, wo er sagen kann, dass wir von einer Identität zwischen der konkreten Allgemeinheit und der Einzelheit reden können. Und das ist dann auch die höchste Form des Denkens. Im zweiten Schritt, in der „Objektivität“, versucht er zu explizieren, warum das Denken eine ähnliche ontologische Struktur wie das Objekt hat. Die Folge davon ist, dass zwischen dem Denken und dem Objekt kein Dualismus mehr besteht und das, was wir durch das begriffliche Denken als die höchste Form des Denkens erreichen, tatsächlich die höchste ontologische Form des Objekts reflektiert. Das begriffliche Denken kann in der Tat die Wahrheit des Objekts ans Licht bringen. Im letzten Schritt, in der „Idee“, spricht Hegel von der Notwendigkeit der Einheit beider Seiten als Form der Wahrheit. Im Folgenden nun wollen wir eine sehr skizzenhafte Darstellung seiner Untersuchung der Subjektivität geben, in der er die verschiedenen Formen des Denkens in Betracht zieht. 2.7.1 Der Begriff Hegels Untersuchung des Denkens fängt mit der einfachsten Form des Urteils, dem qualitativen Urteil an. Diese Form des Urteils lässt sich wie folgt formulieren: „[D]as Einzelne ist das Allgemeine.“ Hierin ist das Einzelne etwas Konkretes und das Allgemeine als Prädikat ist die dem Denken angehörende Allgemeinheit. Hegels Beispiel für dieses Urteil lautet: „die Rose ist rot“ – „oder ist nicht rot“, wobei die Rose das Subjekt und das Rot-Sein das Prädikat ist. Dieses Urteil ist für Hegel eine defizitäre Form des Denkens, weil in ihr „Form und Inhalt einander nicht entsprechen.“ Diesen Punkt erklärt er sehr deutlich anhand des folgenden Beispiels: „Wenn wir sagen: ‚diese Rose ist rot‘, so liegt in der Kopula ‚ist‘, dass Subjekt und Prädikat miteinander übereinstimmen. Nun ist aber die Rose als ein Konkretes nicht bloß rot, sondern sie duftet auch, hat eine bestimmte Form und vielerlei andere Bestimmungen, die in dem Prädikat ‚rot‘ nicht enthalten sind. Andererseits kommt dies Prädikat, als ein abstrakt Allgemeines, nicht bloß diesem Subjekt zu. Es gibt auch noch andere Blumen und überhaupt andere Gegenstände, welche gleichfalls rot sind. Subjekt und Prädikat im unmittelbaren Urteil berühren so einander gleichsam nur an einem Punkt, aber sie decken einander nicht.“ (Enz § 172 Z) Aus diesem Grund spricht die Kopula eine leere, nicht erfüllte und nicht wahre Identität aus. Die Kopula bezeichnet also in diesem Verhältnis keine wahre Identität, während in einer entwickelten Form des Urteils, und zwar dem „Urteil des Begriffs“, diese Identität konkreter ausgesprochen wird. Wenn beispielsweise gesagt

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wird „diese Handlung ist gut,“ weil sie die Bedingungen jeder guten Handlung erfüllt, steht das Prädikat in diesem Urteil in keinem gleichgültigen Verhältnis zum Subjekt; es macht vielmehr die „Seele des Subjekts“ aus. (Ebd.) Im nächsten Schritt untersucht Hegel das Urteil der Reflexion als eine höhere Form des Urteilens, was in seinem letzten Schritt als „Urteil der Allheit“ bezeichnet wird. In dem Beispiel „Alle Menschen sind sterblich“ haben wir ein Prädikat (sterblich) gefunden, das nicht nur in einem einzelnen Ding, sondern in allen Dingen gleicher Gattung gefunden werden kann. Dieses Allgemeine ist das Gemeinschaftliche in allen Einzeldingen. Solche Gemeinschaftlichkeit kann nach Hegel ganz einfach ausgesprochen werden, aber dieses Allgemeine ist seiner Auffassung nach wiederum ganz abstrakt, was eine beliebige Allgemeinheit bezeichnet. Wir können z.  B. sagen, dass alle Menschen „Ohrläppchen“ haben. Das ist auch eine allgemeine Bestimmung, die aber keine wesentliche ist. Was aber höher als diese steht, ist eine Allgemeinheit, durch die die „Substanz des Einzelnen“ zum Ausdruck kommt, und das ist dann der Grund des Übergangs zu der nächsten Urteilsform, und zwar dem Urteil der Notwendigkeit. (Enz § 175 Z) Im Urteil der Notwendigkeit ist unser Prädikat das Wesen und die Substanz des Einzelnen. Das Menschsein ist z. B. nicht ein Allgemeines, welches allen Einzelnen beliebig zukommt und welches sie entbehren könnten. Dieses Allgemeine macht vielmehr jedes Einzelne zu dem, was es wesentlich ist, und ohne dieses Allgemeine gibt es keinen einzelnen Menschen: „Betrachten wir z. B. den Gajus, den Titus, den Sempronius und die übrigen Bewohner einer Stadt oder eines Landes, so ist dies, dass dieselben sämtlich Menschen sind, nicht bloß etwas denselben Gemeinschaftliches, sondern ihr Allgemeines“, die gemeinsame Gattung, und alle diese Einzelnen wären gar nicht ohne ihre Gattung. (Enz § 175 Z) Durch dieses Urteil wird deutlich, dass die Kopula, um eine wahre Identität ausdrücken zu können, erfordert, dass die Einzelheit und die Allgemeinheit einander nicht nur gleichgültig, sondern füreinander wesentlich sind: Jeder einzelne Mensch kann nur sein, wenn er diese Allgemeinheit als seine Grundlage hat, und umgekehrt hat diese Allgemeinheit der Gattung keine konkrete Existenz außer in den Einzelnen dieser Gattung. Mit anderen Worten: Eine höhere Form des Urteilens besteht darin, eine Allgemeinheit zu finden, die mit der Einzelheit in einer wesentlichen Beziehung steht.72 Das 72

„So, not only do we see how universality is essential to particularity (Caius can only be a particular individual if he is a man); we also see how particularity is essential to universality (Caius cannot be a ‚man in general‘, but must be a determinate example of a man, whose differences from other men nonetheless do not prevent him exemplifying the same universal ‚man‘).“ Stern, Robert, Hegel, British Idealism, and the Curious Case of the Concrete Universal, in: Hegelian Metaphysics, S. 143–176.

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Menschsein als solches in unserem Beispiel existiert nicht. Es ist einzig in den einzelnen Menschen, dass diese allgemeine Gattung existiert: „Das Tier als solches ist nicht zu zeigen, sondern nur immer ein bestimmtes. Das Tier existiert nicht, sondern ist die allgemeine Natur der einzelnen Tiere, und jedes existierende Tier ist ein viel konkreter Bestimmtes, ein Besondertes. Aber Tier zu sein, die Gattung als das Allgemeine, gehört dem bestimmten Tier an und macht seine bestimmte Wesentlichkeit aus.“ (Enz § 24 Z1) Wir haben in diesem Urteil eingesehen, dass sowohl die Allgemeinheit als auch die Einzelheit füreinander unentbehrlich sind. Im nächsten Schritt der Untersuchung geht es Hegel um die Unterscheidung dieser Allgemeinheit selbst. Die Gattung wurde als die wesentliche Allgemeinheit bezeichnet, was das Wesen des Einzelnen ausmacht. Z. B. ist Metall im Urteil „Das Gold ist Metall“ diese notwendige Allgemeinheit. Um diese Identität, die durch die Kopula ausgesprochen wird, zu erfüllen, brauchen wir weitere Unterscheidungen in unserem Allgemeinen, und das ist der Grund des Übergangs zum disjunktiven Urteil. In diesem Urteil werden die Bestimmungen des Allgemeinen expliziert und dadurch können wir sagen, ob das Allgemeine „entweder B oder C oder D“ ist. (Enz § 177 Z) Wenn von einer allgemeinen Gattung gesprochen wird, dann werden ihre Arten als ihre Bestimmungen angesehen. Wenn z. B. das Metall-Sein als Gattung mit einem einzelnen Goldstück verbunden wird, dann werden die anderen Arten wie Kupfer, Silber und so weiter auch als Arten dieser Allgemeinheit bestimmt und dadurch wird diese Identität zwischen Einzelheit und Allgemeinheit inhaltsvoller und präziser. Wesentlich wird das Einzelne dadurch, dass es eine Instanz einer Art der Gattung ist, mit dem Allgemeinen verbunden, in dem die Arten die verschiedenen Bestimmungen des Allgemeinen ausmachen: „Die beiden Seiten des disjunktiven Urteils sind identisch; die Gattung ist die Totalität ihrer Arten, und die Totalität der Arten ist die Gattung. Diese Einheit des Allgemeinen und des Besonderen ist der Begriff, und dieser ist es, welcher nunmehr den Inhalt des Urteils bildet.“ (Enz § 177 Z) In diesem Zitat redet Hegel zum ersten Mal vom Begriff. Es ist daher angezeigt, von ihm mehr über den Begriff zu erfahren, und das geschieht dann im Urteil des Begriffs. Das Urteil des Begriffs wird als die nächste Urteilsform notwendig, weil wir genaue Unterscheidungen im Allgemeinen brauchen, um sagen zu können, warum das Einzelne mit dem Allgemeinen verbunden werden darf. Das bedeutet, dass das Einzelne sich als eine Instanz der Bestimmungen des Allgemeinen erweisen soll. Hegel schreibt, dieses Einzelne könne, weil es „so und so beschaffen – Besonderheit“ ist, was Hegel das apodiktische Urteil nennt, unter das Allgemeine subsumiert werden. Dadurch kommt das Moment der

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„Bestimmtheit“ als Brücke ins Spiel: Wenn wir über ein Einzelnes ein Urteil fällen, sollten wir durch die Bestimmungen des Allgemeinen erklären, warum diese Beziehung gilt. Nur in diesem Fall kann man von einer erfüllten Identität zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen sprechen. Hegel macht hier einen Verweis auf den „Begriff“, den er als die Einheit des Allgemeinen mit dem Besonderen bezeichnet. (Enz § 179) Aus dem Gesagten können wir vorläufig den Schluss ziehen, dass der Begriff von etwas darin besteht, die Allgemeinheit mit ihren notwendigen Unterscheidungen und Arten zu bestimmen, welche die wesentliche Bestimmung des Einzelnen als eine Instanz ausmachen. Daraus entsteht dann der notwendige Übergang zur nächsten Form des Denkens, nämlich zur Form des Schlusses: „Die unmittelbare Beschaffenheit des Subjekts zeigt sich zunächst als der vermittelnde Grund zwischen der Einzelheit des Wirklichen und seiner Allgemeinheit, als der Grund des Urteils. Was in der Tat gesetzt worden, ist die Einheit des Subjekts und des Prädikats als der Begriff selbst; er ist die Erfüllung des leeren ‚Ist‘, der Kopula, und indem seine Momente zugleich als Subjekt und Prädikat unterschieden sind, ist er als Einheit derselben, als die sie vermittelnde Beziehung gesetzt, – der Schluss.“ (Enz § 180)73 Was wir nun erreicht haben, ist die Notwendigkeit des Moments der „Bestimmtheit“, welche als eine Brücke zwischen der Einzelheit und der Allgemeinheit fungiert. Aus diesem Grund nennt Hegel die Bestimmtheit die „vermittelnde Mitte“ zwischen den beiden: „Das Besondere erscheint hier als die vermittelnde Mitte zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, und dies ist die Grundform des Schlusses […]“ (Enz § 181 Z) Erst im Schluss können also die notwendigen Momente des Begriffs zur Erscheinung gebracht werden. Diese Mitte ist sowohl in der Beschaffenheit des Einzelnen und deswegen im Einzelnen zu erkennen als auch eine der dem Allgemeinen angehörenden und diese ausmachenden Bestimmungen. Die Zusammenfassung des bisherigen kann daher so formuliert werden: Es ging uns um die Untersuchung des Denkens mit dem Zweck, eine Allgemeinheit (Denkform) zu finden, welche den einzelnen Gegenstand genauso reflektiert, wie er in Wahrheit ist, damit von einer wahren Identität in der Kopula zwischen den beiden die Rede sein kann. Um nun diese hohe Denkweise zu erreichen, beginnt Hegel mit der Untersuchung des Allgemeinen und Einzelnen als Momente des Denkens selbst, um dann zu beobachten, wie sich diese Verbindung zu einer höheren Identität entwickelt. Bis jetzt ist uns ersichtlich, dass das Denken nur dann die Beziehung zwischen den 73

„Im apodiktischen Urteil haben wir ein Einzelnes, welches durch seine Beschaffenheit sich auf sein Allgemeines, d. h. auf seinen Begriff bezieht.“ (Enz § 181 Z)

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beiden Begriffsmomenten ausdrückt, wenn ein anderes Moment, nämlich die Bestimmtheit, ins Spiel kommt. Durch dieses Moment haben wir eine Brücke zwischen der Allgemeinheit und der Einzelheit geschlagen und können diese Identität dadurch inhaltsvoll machen. Es wurde auch ersichtlich, dass die Urteilsform durch den Schluss ersetzt werden sollte, damit alle diese drei Momente zum Ausdruck kommen. Wir können hier nicht ausführlich auf Hegels Schlusslehre eingehen, Gleichwohl aber soll seine Untersuchung hier kurz zusammengefasst werden: Die Schusslehre fängt mit dem qualitativen Schluss an, dessen Form darin ausgesprochen wird, dass das Einzelne durch eine seiner Bestimmungen mit dem Allgemeinen verbunden wird. (Enz  § 183)74 Diese Besonderheit ist aber nur eine Bestimmung unter anderen Bestimmungen, die ein konkretes Einzelnes schon hat. Dieser Prozess geht durch den Reflexionsschluss weiter und am Ende erreichen wir den disjunktiven Schluss im Schluss der Notwendigkeit, wo die Allgemeinheit ihre vollständigen Bestimmungen expliziert hat. Durch diese steht das Einzelne in einer vollständigen Identität mit dem Allgemeinen. (Enz § 191) Was haben wir daraus für unsere Frage gewonnen? Hegel hat mit einem abstrakten Allgemeinen angefangen, das allerdings nicht in der Lage war, die Kopula oder die Identität in der Aussage „Das Einzelne ist das Allgemeine“ zu erfüllen. Durch die Untersuchung des Denkens, die Hegel in der subjektiven Logik durchgeführt hat, hat sich das Denken schrittweise von seinen endlichen Bestimmungen befreit und eine Stufe erreicht, auf der das Allgemeine als Grundlage des Denkens nicht mehr nur eine abstrakte Allgemeinheit bleibt, sondern durch seine notwendigen Unterscheidungen oder Bestimmungen in sich konkret wird und sich am Einzelnen als seiner Grundlage darstellt. Durch diese Brücke haben wir schließlich die Identität zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen erreicht. Als Folge der Untersuchung geht das Denken in der Form des Begreifens über seine Abstraktheit hinaus und erreicht konkrete Bestimmungen, die einander nicht mehr fremd und gleichgültig bleiben, sondern jede in sich die anderen schon enthält. Das allgemeine Denken ist nur dann in der Lage, die Wahrheit von Etwas ersichtlich zu machen oder zu begreifen, wenn es nicht mehr abstrakt bleibt, sondern seine notwendigen Unterscheidungen hervorbringt, und umgekehrt kann das Einzelne nur dann als ein Wahres angesehen werden, wenn es irgendeine Bestimmung des Allgemeinen zum Ausdruck bringt.75 74 75

Hegels Beispiel für diesen Schluss ist: „So z. B. wenn wir sagen: ‚diese Rose ist rot; Rot ist eine Farbe, also ist diese Rose ein Farbiges‘“. (Enz § 183 Z) Diese Logik liegt, wie wir sehen werden, auch Hegels Grundlinien zugrunde: Das Moment der Allgemeinheit (PR § 4) ist das zwar notwendige Element des Begriffs, das aber am

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Am Ende seiner subjektiven Logik, die im Schluss der Notwendigkeit ihren Hohepunkt erreicht, beginnt Hegel dann, über die gedankliche Bestimmung der Objektivität zu sprechen. In Bezug auf diesen begrifflichen Übergang, d. h. den Übergang zur Objektivität, soll im Folgenden zunächst ganz allgemein ein Hinweis gemacht werden. 2.7.2 Die ontologische Ähnlichkeit zwischen Subjekt und Objekt Was Hegel stört, ist, dass in der „gewöhnlichen Logik“ die Überzeugung herrscht, dass die in der Logik behandelten Gesetze des Denkens nur auf die vorhandenen, außerhalb des Denkens liegenden Objekte angewendet werden. Es herrscht in der Tat ein Dualismus zwischen diesen zwei Welten, was für Hegel unplausibel ist: „Dieser Dualismus ist aber nicht das Wahre, und es ist ein gedankenloses Verfahren, die Bestimmungen der Subjektivität und der Objektivität so ohne weiteres aufzunehmen und nicht nach ihrer Herkunft zu fragen. Beide, sowohl die Subjektivität als auch die Objektivität, sind jedenfalls Gedanken, und zwar bestimmte Gedanken, welche sich als in dem allgemeinen und sich selbst bestimmenden Denken begründet zu erweisen haben.“ (Enz § 192 Z) Wenn wir aber, Hegels Auffassung nach, die begriffliche und gedankliche Konstruktion des Denkens sowie des Objekts in Betracht ziehen, dann wird uns klar, dass wir nicht von zwei verschiedenen Welten reden. Vielmehr sehen wir ein, dass das subjektive Denken eine ähnliche ontologische Struktur wiedie Objektivität hat, was impliziert, dass das menschliche Erkenntnisvermögen und die objektive Welt keine grundsätzlich unterschiedlichen Welten sind und daher das Denken in der Lage ist, die objektive Welt zu erkennen. Wie ist aber dieser notwendige Übergang von der Subjektivität zur Objektivität zu verstehen? „Weiter ist nun aber diese Subjektivität mit ihren hier genannten Bestimmungen, dem Begriff, dem Urteil und dem Schluss, nicht als ein leeres Fachwerk zu betrachten, welches seine Erfüllung erst von außen, durch für sich vorhandene Objekte, zu erhalten hat, sondern die Subjektivität ist es selbst, welche, als dialektisch, ihre Schranke durchbricht und durch den Schluss sich zur Objektivität erschließt.“ (Enz § 192 Z) Das bedeutet für Hegel zweierlei:

Anfang unbestimmt ist; das nächste Element ist das der Besonderheit (PR § 6), welche die notwendigen Bestimmungen der Freiheit beinhaltet; und endlich besteht ein wirklich freier Akt darin, im Rahmen der Bestimmungen der Allgemeinheit das zu sein, was der vernünftige Begriff der Freiheit bestimmt.

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1) Wenn wir uns die begriffliche Konzeption des Objekts – und nicht ein Objekt aus der Vorstellung – nehmen, verstehen wir ein Objekt als „ein konkretes in sich vollständiges Selbständiges.“ (Enz § 193) Hegel betrachtet das Objekt ontologisch als ein konkretes Dasein, das selbständig ist und in sich Unterscheidungen hat. Das Objekt ist für Hegel eine selbständige Totalität, welche in sich verschiedene Bestimmungen hat, die sowohl selbständig erscheinen als auch für ihr Dasein von dem ganzen Objekt abhängen. Wenn beispielsweise von einem Auto die Rede ist, sehen wir das Auto mit seinen unterschiedlichen Eigenschaften: Es ist ein rotes Auto, in einer bestimmten Form usw. Obwohl diese Eigenschaften einander gleichgültig erscheinen, wie die Farbe und die Form des Autos, braucht jede Eigenschaft diese Totalität für ihre objektive Erscheinung und kann nicht allein existieren, ohne sich in diesem Auto zur Erscheinung zu bringen. Jedes Objekt macht ein Ganzes mit Unterscheidungen als seine Bestimmungen aus. Dieses Ganze ist in seiner begrifflichen Struktur ähnlich wie die Struktur des Denkens, das sich zum Schluss erhoben hat. Mit anderen Worten hat die ontologische Struktur des Objekts die gleiche Struktur wie ein Schluss, in dem ein Einzelnes (das Auto) als ein Ganzes mit seinen unterschiedlichen Bestimmungen (Farbe usw.) erfasst wird. 2) Wie ist aber der notwendige begriffliche Übergang von der Objektivität zur Subjektivität zu verstehen? Am Anfang des Kapitels zur Objektivität macht Hegel einen Hinweis auf den logischen Widerspruch, mit dem das Objekt behaftet ist und den das Objekt aufzuheben hat. Dieser Widerspruch liege darin, dass das Objekt einerseits aus mannigfaltigen Bestimmungen bestehe, welche selbständig zu sein scheinen, und andererseits sich alle diese Bestimmungen in dem Objekt befänden, welches als eine Totalität diesen Bestimmungen zugrunde liege und deren Grundlage ausmache: „Das Objekt ist unmittelbares Sein durch die Gleichgültigkeit gegen den Unterschied, als welcher sich in ihm aufgehoben hat, und ist in sich Totalität, und zugleich, indem diese Identität nur die ansichseiende der Momente ist, ist es ebenso gleichgültig gegen seine unmittelbare Einheit; es ist ein Zerfallen in Unterschiedene, deren jedes selbst die Totalität ist. Das Objekt ist daher der absolute Widerspruch der vollkommenen Selbständigkeit des Mannigfaltigen und der ebenso vollkommenen Unselbständigkeit der Unterschiedenen.“ (Enz § 194) Hegel beginnt seine Diskussion darüber mit dem „Mechanismus“ und geht dann zum „Chemismus“ über. In diesen beiden Phasen bleibe das Objekt noch mit diesem Widerspruch behaftet. Um diesen Widerspruch lösen zu können, brauchen wir eine ontologische Erklärung für das Objekt, welche diese Mannigfaltigkeit in der Totalität und die Beziehung dieser zwei Seiten erklären kann. Für Hegel kann dieser Widerspruch durch die „Teleologie“

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gelöst werden, und der Begriff des „Zwecks“ liefere diese Lösung: Wenn das Objekt als die Realisation seines inneren Zwecks76 angesehen werde, dann habe dieser Widerspruch kein Bestehen mehr, denn in dieser Erklärung dienten alle Bestimmungen dem Zweck und das Objekt zeige sich als eine Totalität, in welcher diese unterschiedlich aussehenden Bestimmungen zusammen der Realisation des inneren Zwecks dienten. Der Zweck reflektiert also im Grunde genommen den innerlichen Begriff des Objekts: „Nun aber ist in der Tat das Objekt an sich der Begriff, und indem derselbe, als Zweck, darin realisiert wird, so ist dies nur die Manifestation seines eigenen Innern.“ (Enz § 212 Z) Die Objektivität ist dann eine „Hülle“, die den Begriff oder die Subjektivität in Form des Zwecks als Grundlage in sich hat, und erst dieser Prozess, so Hegel, sei der Grund dafür, weshalb der innere Zweck oder der subjektive Begriff (die Subjektivität) für die Objektivität notwendig sei, damit sich das Objekt von seinem Widerspruch lösen könne. Was in dieser dialektischen Bewegung zur Erscheinung kommt, ist die jeweilige Einseitigkeit der Subjektivität und Objektivität, die sich auf die jeweils andere Seite beziehen und damit die dialektische Notwendigkeit der anderen Seite deutlich machen. Anders gesagt: Wir können die Wahrheit weder als die eine noch als die andere Seite betrachten, weil jede Seite in sich die ontologische Notwendigkeit der anderen impliziert. Die Wahrheit der beiden Bestimmungen besteht vielmehr, so Hegel, in der Einheit beider. Diese Einheit als Idee hebt nicht nur den Widerspruch jeder Seite auf. Sie erfüllt außerdem das Kriterium der Wahrheit als „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst“, also dass etwas so ist, wie es sein soll. In der Idee haben wir genau diese Übereinstimmung. In ihr haben wir eine Objektivität, welche ihrem Begriff gemäß ist und umgekehrt, und das ist der Grund, warum die Idee zugleich die Wahrheit ist: „Die Idee ist die Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, dass die Objektivität dem Begriffe entspricht.“ (Enz § 213 Anm.) In dieser Einheit der beiden verschwindet ihre Endlichkeit und sie werden unendlich, weil sich jede Seite in der anderen reflektiert findet oder, in Hegels Worten, „bei sich“ ist. Die Idee als eine Objektivität, die ihrem Begriff entspricht, besagt, dass sich die Wahrheit des Seins nicht dadurch zum Ausdruck bringt, dass wir sagen „es ist“ (Kategorie des Seins) oder „es ist die Ursache von etwas“ (Kausalität) usw. 76

Im Gegensatz zu einem endlichen Zweck, der dem Objekt von außen auferlegt wird, weil das Objekt in keiner Einheit mit dem Zweck steht, sondern seiner Macht unterworfen ist. Wenn wir z. B. den Staat als ein „Mittel“ betrachten, welches uns vor zufälligen, unvorhersehbaren Ereignissen schützen soll, ist dieser Zweck, Hegels Auffassung nach, subjektiv und entsteht nicht aus dem Inneren des Staates heraus. Der innere Zweck hingegen ist für Hegel der Begriff des Staates, der nicht auf irgendeiner einseitigen Perspektive beruht, sondern das ist, was zu seinem Wesen gehört. (vgl. Enz § 211)

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Vielmehr kommt das wahre Sein von etwas nur dann zum Ausdruck, wenn es seinen Begriff in sich darstellt.77 Es ist bemerkenswert, dass Hegel die Wahrheit als Idee bezeichnet. Die Idee ist allerdings für Hegel nicht etwas, das außerhalb der Welt, jenseits der Welt liegt, sondern sie ist in dieser Welt präsent: „Wenn von der Idee gesprochen wird, so hat man sich darunter nicht etwas Fernes und Jenseitiges vorzustellen. Die Idee ist vielmehr das durchaus Gegenwärtige […]“ (Enz § 213 Z)78 Es ist genau diese These, die in dem Doppelsatz zum Ausdruck kommt. Die Wahrheit der Freiheit ist durch den Begriff der Freiheit in der Wirklichkeit zu suchen. Jede Rede von einem Ideal, das nicht existiert, ist für Hegel bedeutungslos, weil er in seiner Ontologie schon gezeigt hat, dass das Wahre ohne Objektivität keine Wahrheit, sondern nur ein leeres Ideal ist. Daher lässt sich Hegel, wenn 77

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Abgesehen von der ontologischen Implikation dieser These lässt sich bereits eine epistemologische Notwendigkeit in dieser Ansicht beobachten: Um die Wahrheit von etwas, das außer unserem Denken liegt, erkennen zu können, brauchen wir neben der begrifflichen Form auch Inhalte, die nicht dem reinen Denken entstammen, weshalb das Denken oder die reine Kontemplation allein nicht in der Lage ist, diese Wahrheit zu erblicken – Das erinnert an Kants These, welche besagt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant, KrV, B 75) – Da dem Denken und der Objektivität eine ähnliche ontologische Struktur zugrunde liegt, können wir durch oder mithilfe einer begrifflichen Rekonstruktion der Objektivität oder der Wirklichkeit die Wahrheit oder Idee erkennen. In der Tat kann die philosophische Weisheit erst dann beginnen, wenn diese objektiven Inhalte gegeben sind: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (PR, S. 28) Es liegt an dieser epistemologischen Notwendigkeit, dass in den Grundlinien zusätzlich zur begrifflichen Explikation auch nach der objektiven Form –Rechtsform– gesucht wird. In dieser Hinsicht ist Hegels Lösung weder kantisch, weil Kant von einem unzugänglichen Objekt spricht, noch platonisch, da für Platon die Wahrheit nicht in der objektiven Welt zu finden ist: „Hegels Lösung soll zugleich dazu beitragen, eine Alternative zu vermeiden, vor die seine Position ohne diese Lösung gestellt werden könnte. Das eine Glied der Alternative wäre, die Objektivität oder den Existenzaspekt der Gegenstände für etwas schlichtweg Irrelevantes, für Täuschung oder ‚schlechten Schein‘ zu erklären – auf diese Weise könnte man mit hegelschen Mitteln und im Rahmen des hegelschen Ansatzes eine von ihm selbst wenig geliebte skeptische Position begründen. Das andere Glied der Alternative wäre, Gegenstände so, wie sie als Objekte gegeben sind, zu Erscheinungen, Ausdrücken, Zeichen zu erklären, die auf etwas vollständig anderes verweisen, nämlich den hegelschen Begriff, – eine solche Interpretation wäre als Basis für einen hegelschen Kantianismus oder auch Platonismus denkbar. Hegel selbst votiert für keine dieser beiden Lösungen. Er macht Objektivität oder den Existenzaspekt des Objekts zu einem konstitutiven Element des Begriffs, indem er dessen sog. Subjektivität so konzipiert, dass sie ohne das Kompliment der Objektivität unvollständig, einseitig, nicht übergreifend bleibt.“ R.P. Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff, S. 78.

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er über den Staat spricht – und dies ist die andere Implikation, die daraus folgt –, auch nicht mit einer Position in Verbindung bringen, gemäß der jeder Staat heilig ist oder die den Status quo nur verteidigen will; vielmehr ist ein Staat für Hegel nur dann wahr, wenn er so ist, wie er sein soll – ein Sollen, dass durch den Begriff der Freiheit bestimmt wird. Die Anwendung der dialektischen Methode in den Grundlinien bei der Suche nach der „Idee der Freiheit“ Hegels voraussetzungsloses Bestreben nach Wahrheit fängt mit der Analyse des Denkens und seiner Bestimmungen bzw. mit den Kategorien an. Im Laufe der Untersuchung ist jede Kategorie mit ihrem Gegensatz in eine höhere und vollständigere Kategorie übergegangen, welche die Einheit beider ist, in der der Gegensatz „aufgehoben“ ist. So etwa das Werden als Einheit von Sein und Nichts. Die Untersuchung fährt mit weiteren Kategorien fort, mit der Qualität, Quantität … Substanz usw., bis wir einen Punkt erreichen, an dem es keinen Übergang mehr gibt, weil die „Idee“ als der Endpunkt aus zwei Elementen besteht, „Begriff“ und „Objektivität“, die einander implizieren, und deswegen haben wir es dann nicht mehr mit einem Übergang, sondern mit einem Zirkel zu tun, der in sich geschlossen ist. Aus diesem Grund ist die Idee für Hegel die Bestimmung der Wahrheit, weil in ihr die beiden Elemente identisch und die Idee aufgrund der Einheit ihrer Elemente zur Übereinstimmung mit sich gelangt ist, was die Definition der Wahrheit bei Hegel erfüllt. Die Idee als die absolute Wahrheit ist der Nous oder die Vernunft, was sich in unserem Denken als ihreDenkbestimmungen, in der Natur als ihre Gesetze, in der sozialen Welt als Normen der freien Sittlichkeit, in der Religion als das Wesen Gottes und in der Philosophie als Begriffe verstehen lässt.79 Am Ende seiner logischen Untersuchung kommt Hegel zur Methode als die Form des Denkens, durch die wir die Idee erkennen können. Diese Methode stellt den Schlusspunkt seiner logischen Untersuchung dar und durch sie wird das Verfahren des voraussetzungslosen Explizit-Machens selbst, das in der 2.7.3

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Hegels System kann als eine „monistische Ontologie“ bezeichnet werden, in der Natur und Geist keine voneinander unterschiedenen Welten, sondern Stufen einer absoluten Idee ausmachen, in der der Geist zwar ontologisch über der Natur steht, diese jedoch zur Basis und Grundlage hat. (vgl. Enz § 381). Mit anderen Worten: Alle natürlichen und geistigen Existenzen sind in einer Weise die Realisierungen dieser zugrunden liegenden Vernunft bzw. des Nous. Diese Ontologie ist monistisch in dem Sinne, dass – so wie für Spinoza die Substanz die Wahrheit bezeichnet – für Hegel die Idee das einzig wahre Wesen ist, und nur das wahr sein kann, was in irgendeiner Form Idee oder Verwirklichung des Begriffes ist. Näher siehe Horstmann, Rolf-Peter (2006): Hegels Ordnung der Dinge. Die „Phänomenologie des Geistes“ als ‚transzendentalistisches‘ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen, S. 9–50.

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Logik am Werk gewesen ist und dem Inhalt nicht äußerlich auferlegt wird, möglich. Sie ist die Weise, wie der Inhalt selbst sein Inneres ans Licht bringt, expliziert und erläutert. Die Methode erweist sich am Ende als dasjenige Verfahren, das für jedes immanente Fortgehen notwendig ist: „Als Form bleibt hier der Idee nichts als die Methode dieses Inhalts, – das bestimmte Wissen von der Währung ihrer Momente.“ (Enz § 237) Ist die Idee die Wahrheit, so ist die Methode das, womit wir den Gegenstand wahrhaft betrachten: „Die Methode ist auf diese Weise nicht äußerliche Form, sondern die Seele und der Begriff des Inhalts […]“ (Enz § 243)80 Mit Bezug auf seine Grundlinien muss man sagen, dass sich die in seiner Metaphysik gewonnenen Einsichten in diesem Werk entsprechend zum Ausdruck bringen: Hegel versucht hier die Existenz der Vernunft (Nous) in den Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft darzustellen. Er will deutlich machen, dass sich durch den „Begriff der Freiheit“ und seine Objektivität in der sozialen Wirklichkeit die „Idee der Freiheit“ veranschaulicht. Deswegen ist es, um frei zu sein, notwendig, die vernünftigen Bestimmungen des allgemeinen Freiheitsbegriffs und seine Objektivität in unseren wirklichen Beziehungen zu erkennen und nicht nach Utopien zu suchen.81 Utopien sind für Hegel ihrem Wesen nach abzulehnen, denn das Ideal kann nur dann für ihn Wahrheit beanspruchen, wenn es die Wirklichkeit (des Begriffes) darstellt. Daher ist für Hegel auf dem theoretischen Niveau jede Rede von Freiheit als dem höchsten Wert des menschlichen Lebens nur dann sinnvoll, wenn die Bedingungen eines freien Lebens nicht nur in der gedanklichen Welt, sondern auch in der wirklichen sozialen Welt präsent sind, d. h. wenn neben den subjektiven Faktoren auch die objektiven Bedingungen der Durchführbarkeit in unsere Theorie integriert werden oder wenn neben dem Begriff eines freien Willens auch die wirklichen Formen dieses Willens in unserer Theorie Ausdruck erhalten. Hegel möchte mit seinem philosophischen System die Beziehung zwischen dem Normativen und dem Wirklichen, zwischen dem Sollen und dem Sein, zwischen Theorie und Praxis neu bedenken. Um sein zweiseitiges Projekt in den Grundlinien durchzuführen, will er nicht utopisch eine neue Welt 80 81

Für eine Erläuterung und Diskussion von Hegels Methode siehe Martin, Christian Georg: Ontologie der Selbstbestimmung, Kapitel. 3.5.10. Man muss sich nochmals an Hegels Aussage in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie erinnern: „Es ist eben diese Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit, welche die Missverständnisse betreffen, und ich kehre hiermit zu dem zurück, was ich vorhin bemerkt habe, dass die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte – oder von dem man in der Tat wohl zu sagen weiß, wo es ist, nämlich in dem Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonierens.“ (PR, S. 24)

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entwerfen, in der wir frei leben können. Vielmehr stellt er die Existenz des Freiheitsbegriffs in der gegenwärtigen Welt, in den familiären Beziehungen, in Marktverhältnissen sowie im öffentlichen politischen Leben der modernen Gesellschaft dar. Was in der Wirklichkeit schon existiert, sind Produkte der menschlichen Versuche in der Geschichte, die nicht grundsätzlich zu verwerfen seien. Wir müssen vielmehr das Vernünftige, das Begriffliche darin erkennen und behalten. Aus diesem Grund betrachtet Hegel die Verhältnisse seiner Gesellschaft ausgehend vom Kriterium des „Freiheitsbegriffs“, um in ihr aus der großen Menge der Beziehungen diejenigen herauszuheben, die den Begriff oder das Vernünftige der Freiheit in der objektiven Welt widerspiegeln. Um also die „Idee der Freiheit“ oder das wahre freie Leben in der Gesellschaft zu entdecken, geht Hegel auf folgende Weise vor: Er beginnt mit dem ganz abstrakten allgemeinen, aber gleichzeitig notwendigen Begriff der Freiheit und den zusammenhängenden Bestimmungen des Rechts als die wirkliche Form dieses anfänglichen Begriffs. So stellt im Kapitel „Das abstrakte Recht“ die „Persönlichkeit“ den anfänglichen Begriff der Freiheit und der Rechte der Person – Recht auf Eigentum und Vertrag – die Objektivität dieses Begriffs dar, also den ersten Ausdruck unserer Idee der Freiheit. Diese Erscheinung der Freiheitsidee begegnet dann einem Widerspruch in unserem System der Freiheit, und zwar im „Unrecht und Verbrechen“. Die Lösung dieses Widerspruchs führt uns zur nächsten Stufe, der „Moralität“ usw. Auf diese Weise erreichen wir sowohl die begrifflichen Bestimmungen als auch die zusammenhängenden Rechtserscheinungen durch die Aufhebungen der Widersprüche und damit in der Tat einen vollständigeren Ausdruck der Idee der Freiheit. Was im Laufe der Untersuchung zustande kommt, ist die Explikation bzw. das Zum-AusdruckKommen der Bestimmungen der ersten unbestimmten Allgemeinheit als deren Bestimmungen. Den Nous (die Vernunft) in Einheit mit seiner Realisierung, die Idee, können wir durch die dialektische Methode erkennen. Wenn wir die Methode, die Hegel für die begriffliche Entwicklung in der Logik diskutiert, auf die Grundlinien, in denen es um die „Idee“ geht, anwenden wollen, sollten wir selbstverständlich für jeden Schritt eine objektive Seite als die Objektivität des Begriffes in Betracht ziehen. Entscheidend dabei ist, zu beachten, dass wir mit einem unmittelbaren Begriff zusammen mit dessen Verwirklichung, seiner objektiven Existenz, beginnen müssen. Das ist das erste Bild von unserer Wahrheit, der Idee. Dann gilt es zu verfolgen, wie sich diese anfängliche Idee weiterentwickelt und reicher wird. Diese spekulative Methode hat drei Schritte: 1) Anfang: Zunächst haben wir es mit einem unbestimmten begrifflichen Allgemeinen zu tun, d.  h. einem unbestimmten Allgemeinen mit seinem objektiven Dasein. Das philosophische Denken muss an dieser Stelle lediglich

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nachvollziehen, wie „das philosophische Denken […] seinen Gegenstand, die Idee, nur aufnimmt, dieselbe gewähren lässt und der Bewegung und Entwicklung derselben gleichsam nur zusieht.“ Bedingung dieser voraussetzungslosen Betrachtung ist, dass wir der Entwicklung der Idee nur zusehen und „die eigenen Einfälle und besonderen Meinungen, welche sich immer hervortun wollen, von sich abzuhalten.“ (Enz § 238 Z)82 Da die Idee außerdem eine objektive Seite hat, kommt mit diesem unbestimmten Allgemeinen ein damit zusammenhängendes objektives Dasein ins Spiel. In den Grundlinien fangen wir mit der „Persönlichkeit“ als der allgemeinen, abstrakten und minimalen Grundlage der Freiheit an. 2) Fortgang: Der unbestimmte allgemeine Begriff wird im Laufe des Fortgangs bestimmt und seine notwendigen Unterscheidungen werden explizit. Diese Bestimmungen sind schon in unserem unmittelbaren, allgemeinen Begriff enthalten und werden im Laufe der Untersuchung deutlich: „Dieser Fortgang ist ebenso wohl analytisch, indem durch die immanente Dialektik nur das gesetzt wird, was im unmittelbaren Begriffe enthalten ist, – als synthetisch, weil in diesem Begriffe dieser Unterschied noch nicht gesetzt war.“ (Enz § 239)83 Das anfängliche Allgemeine wird in sich bestimmt, und es werden zugleich die Rechte aufs „Eigentum“ sowie auf „Vertrag“ als die wirklichen Erscheinungen des Persönlichkeitsbegriffs expliziert. Der Widerspruch spielt in diesem Fortgehen eine signifikante Rolle. Durch die Widersprüche und deren „Aufhebung“ kommen wir zu weiteren Bestimmungen.84 Der erste Widerspruch taucht in der Form von „Unrecht“ (Negation des Rechts als Dasein der Freiheit) auf, dessen Auflösung (Negation dieser Negation des Rechts – eine bestimmte Negation) den Übergang zur „Moralität“ fordert, in der im Rahmen eines ähnlichen Verfahrens fortgegangen wird. (Näher Kap. 4 & 5) 3) Ende: Schließlich sind die notwendigen Bestimmungen des Begriffs sowie seiner Objektivität durchsichtig und werden als Momente oder Teile der 82

83 84

Laut Schäfer muss der Anfang unmittelbar und ohne Voraussetzungen sein, denn, wenn er durch etwas vermittelt wäre, würden in der Tat diese Voraussetzungen den Anfang bilden! Eine allgemeine Bestimmungslosigkeit und Undifferenziertheit ist deswegen dem Anfang wesentlich. Näher in diesem Zusammenhang siehe Schäfer, Rainer (2002): Hegels Ideenlehre und die dialektische Methode, in: Koch, Anton Friedrich; Schick, Friedrike, a.a.O., S. 243–263. Oder der Prozess ist analytisch, obwohl das Hervortreten der Bestimmungen das synthetische Moment ausmacht, weil alles aus dem anfänglichen Allgemeinen fließt. Vgl. Schäfer, Rainer, ebd., S. 259. In seiner Methode gehen die Bestimmungen „immanent“ aus den Widersprüchen und Beschränkungen früherer Bestimmungen hervor: „Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt.“ (Enz § 81 Anm.)

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Totalität oder der Idee angesehen: „Der Begriff, so von seinem Ansichsein vermittels seiner Differenz und deren Aufheben sich mit sich selbst zusammenschließend, ist der realisierte Begriff, d.  i. der Begriff, das Gesetztsein seiner Bestimmungen in seinem Fürsichsein enthaltend, – die Idee […]“ (Enz § 242) Mit anderen Worten: Es werden diejenigen begrifflichen sowie objektiven Bestimmungen explizit, durch die die Idee der Freiheit Bestimmung und Ausdruck gewinnt.85

85

Näher Kap. 6.

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Kapitel 3

Der Begriff des freien Willens und das Recht als Pfeiler der Idee der Freiheit In den vorausgehenden Kapiteln wurde argumentiert, dass Hegel der Meinung sei, es gebe nicht nur eine politische und soziale Struktur, in der sich das Ideal der Freiheit wahrhaft manifestiert, sondern dieses Ideal zudem auch erkennbar sei. Anschließend wurde der Versuch unternommen, die theoretischen Grundlagen seiner Philosophie skizzenhaft zu erläutern, um damit zu einem besseren Verständnis seiner praktischen Philosophie kommen zu können. Das zentrale Ergebnis der vorherigen Kapitel ist, dass die durch die dialektische Methode zu erkennende Wahrheit für Hegel zwei Elemente aufweist: Begriff und Objektivität. Um also die entsprechende politische Konstruktion zu finden, in der sich die Idee der Freiheit wahrhaft realisiert, geht es uns mit Hilfe der philosophischen Methode nun um die Betrachtung dieser zwei Elemente der Freiheitsidee, d. h. des Begriffes und seiner Objektivität – die Rolle, die die Rechtsverhältnisse übernehmen. Aus diesem Grund hat Hegels Untersuchung zwei Seiten: In jedem Schritt expliziert er die Notwendigkeiten des Freiheitsbegriffs und gleichzeitig die Rechtsverhältnisse, die damit verbunden sind. Die Grundschritte seiner „Einleitung“ zu den Grundlinien werden in dieser Arbeit wie folgt skizziert: І) Im ersten Schritt bezeichnet er das Ziel dieses Werks als Untersuchung der „Idee des Rechts“ als Wirklichkeit der Freiheit. II) Im zweiten folgt die Behandlung der notwendigen Struktur jedes freien Willens. III) Dann untersucht Hegel die verschiedenen Vorstellungen eines freien Wollens, um einzusehen, durch welche Konzeption das Wollen kohärent und widerspruchsfrei bestimmt werden kann. IV) Danach bleibt nur Hegels „Begriff des Willens“ als einziger Kandidat für die gezielte widerspruchfreie Bestimmung des Wollens. V) Im fünften Schritt beschreibt Hegel die Rechtsverhältnisse als notwendige Bedingungen eines freien Handelns. VI) Anschließend folgt die Erläuterung des methodischen Aufbaus der Grundlinien. VII) Zum Schluss geben wir eine Zusammenfassung des Kapitels sowie eine allgemeine Skizze von Hegels Werk. 3.1

Recht als Wirklichkeit oder Objektivität der Freiheit

Das Kernanliegen der politischen Philosophie besteht in dem Versuch, die beste Form der Regierung zu finden. Dieser Versuch liegt allen politischen © Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_004

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Theorien zugrunde und ist nicht zuletzt auch der Grund zahlreicher, unspezifischer Unterscheidungen zwischen verschiedenen Positionen. Es gibt aber noch einen entscheidenden Maßstab, mit dessen Hilfe wir die politischen Theorien klassifikatorisch voneinander unterscheiden können, nämlich den Wert, der einer Philosophie als Grundlage der Politik beigemessen wird. Welchem Ziel muss eine Regierungsform dienen? Hat die Politik das gute Leben im aristotelischen Sinne zu fördern? Muss die Politik den Fokus auf die Konstruktion eines mächtigen Staates legen, der die Sicherheit des politischen Wesens gegen innerliche oder äußerliche Gefahren garantiert? Hat eine politische Konstruktion ausschließlich das Ziel der Förderung des allgemeinen Glücks? Für die moderne Tradition der politischen Philosophie besteht das Ziel eines politischen Körpers vorwiegend in der Verwirklichung der Freiheit. Das Ideal, das in der Politik zu realisieren ist, ist die Freiheit der Individuen.1 Auch Hegel befindet sich in dieser Tradition. Für ihn ist Freiheit das einzig erstrebenswerte Ziel und deswegen dreht sich seine politische Philosophie um die Verwirklichung der Freiheit. Die wesentliche Natur des Menschen besteht, Hegels Auffassung nach, aus freiem Denken und Selbstbestimmung. Der Mensch erhebt sich, ganz grob gesprochen, als Teil der natürlichen Welt zum freien Denken, wie Hegel im Laufe des „subjektiven Geistes“ in der Enzyklopädie darstellt, wodurch er sich von jedem Inhalt abstrahieren und das als Inhalt für seinen Willen bestimmen kann, was seine Vernunft gebietet. Moderner gesprochen: Er kann sich von der Kausalität der Natur befreien und seinen Willen durch vernünftige Gründe bestimmen. Hegel untersucht die Wirklichkeit der Freiheit, d. h. das politische und soziale Zusammenleben, worin wir frei leben und handeln können.2 Es geht ihm in dieser politischen Abhandlung um die Erkenntnis der wirklichen sozialen Bedingungen, unter denen wir frei sein können.3

1 Siehe Forster (1935): Political Philosophies of Plato and Hegel. S. 72, wo dieser die Freiheit als das zentrale Ziel bezeichnet, das die moderne politische Philosophie von der klassischen unterscheidet. 2 Mit Honneth gesprochen, ist Hegel der Überzeugung, wie Kant und Fichte, „dass eine jede normative Theorie der Gerechtigkeit moderner Gesellschaften in dem Prinzip der gleichen individuellen Freiheit aller Subjekte verankert sein muss.“ Honneth, Axel (2001): Leiden an Unbestimmtheit: Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 44. 3 Obwohl für Hegel der Wert „Freiheit“ das Hauptziel und die Grundlage der Rechtfertigung des Staates ausmacht, integriert er in seine politische Philosophie Elemente wie z. B. das gute Leben, die Beförderung des Glücks, die Garantie des allgemeinen Glücks sowie die Harmonie mit den heiligen christlichen Gesetzen. Freiheit ist für ihn aber die Achse, um die sich alles in der Politik dreht. Vgl. Siep, Ludwig (1992): Hegels politische Philosophie, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 307–328.

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Der Begriff des freien Willens und das Recht

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Zwei Konzepte sind für Hegel in den Grundlinien zentral für die Durchführung seines Projekts: Zum einen ist für ihn der „Begriff des freien Willens“ entscheidend. Wenn wir Freiheit untersuchen, ist es selbstverständlich notwendig, die begrifflichen Bestimmungen in unserem Bewusstsein davon zu explizieren.4 Zum anderen verbindet Hegel den Begriff des freien Willens mit dem Begriff des „Rechts“ als der Grundlage seiner politischen Theorie. Nach Hegel ist die Sphäre der Freiheit die Welt des Rechts. Das Recht ist die wirkliche Struktur der Freiheit, es macht für Hegel die Wirklichkeit der Freiheit aus. Die Rechtsstruktur ist der Begriff, der einem freien Willen am nächsten steht. Wenn ich von meinem Recht rede, geht es um ein Reich, in dem alles meinem freien Willen überlassen ist und in dem ich meine Freiheit durchsetzen kann. Aus diesem Grund setzt sich Hegel die Aufgabe, nach jeder begrifflichen Bestimmung der Freiheit das damit zusammenhängende Rechtsverhältnis zu explizieren.5 Mit anderen Worten: Das Ziel von Hegels politischer Philosophie besteht, wie schon gesagt, darin, die Idee der Freiheit – d. h. den Begriff der Freiheit in seiner Verwirklichung – zu erkennen, und da das Recht für ihn die Wirklichkeit 4 Ist es nicht eine Voraussetzung für Hegel, die begrifflichen Bestimmungen der Freiheit aus dem „Begriff“ des Willens, der ein Werkzeug in Hegels System ist, ableiten zu wollen? Steht diese Entscheidung selbst nicht im Gegensatz zu seinem Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit? Wir werden in diesem Kapitel sehen, dass die Notwendigkeit der Ableitung der Willensbestimmung selbst dadurch zustande kommt, dass andere Versuche einer widerspruchsfreien Bestimmung des Willens gescheitert sind und nur der „Begriff“ des Willens in der Lage ist, die bestimmungslose Allgemeinheit der Freiheit kohärent angeben zu können. In dieser Hinsicht bleibt Hegel im Rahmen seines Anspruchs auf eine voraussetzungslose Untersuchung. 5 Das Recht umfasst für Hegel alle Sphären der Freiheit, d.  h. die Moral, die familiären, wirtschaftlichen Beziehungen usw. Das Recht ist für ihn allgemein jedes Dasein der Freiheit, das in einem weiten Sinn verwendet wird: „Diese Realität überhaupt als Dasein des freien Willens ist das Recht, welches nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist.“ (Enz § 486) In einem anderen Zitat bringt Hegel sein weites Verständnis von Recht so zum Ausdruck: „Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören, weil der Begriff die Gedanken der Wahrheit nach zusammenbringt.“ (PR § 33 Z) Vgl. Honneth, der das Recht bei Hegel auch in diesem umfassenden Sinne als alle „Daseinsformen“ versteht, die „notwendige Bedingungen“ der Freiheit sind. Siehe Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 32 Außerdem für Hegels umfassende Konzeption des Rechts siehe Schnädelbach, Herbert (2000): Hegels praktische Philosophie: ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, S.  170. Auch Jaeschke macht eine Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Sinne von Recht, wobei sich der erste auf das „abstrakte Recht“ und der zweite auf alle Bestimmungen der Freiheit bezieht. Siehe sein Hegel-Handbuch: Leben, Werk, Schule, S. 368.

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Kapitel 3

der Freiheit darstellt, verfolgt er im Ergebnis das Ziel, die Idee des Rechts zu erkennen. Diese Erkenntnis der Idee des Rechts dient letztlich dem Ziel seiner politischen Philosophie, der Wirklichkeit der Freiheit: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ (PR § 1) Wenn wir die wirklichen Strukturen unserer Freiheit in der wirklichen Form suchen, müssen wir dies in rechtlichen Verhältnissen tun. Hegel bestimmt dadurch von vornherein den Weg der Untersuchung. Die politische und soziale Struktur basiert auf dem Begriff des Rechts als Verwirklichung des Begriffes eines freien Willens. Die Rechtsbestimmungen sind tatsächlich die Wirklichkeit der notwendigen begrifflichen Bestimmungen der Freiheit.6 Ein wichtiger Punkt, auf den wir im Folgenden eingehen müssen, erwähnt Hegel gleich zu Beginn der Grundlinien, wenn er über das Thema des Werks spricht: In seiner Rechtsphilosophie geht es ihm um die Untersuchung der Idee des Rechts als Wirklichkeit der Freiheit. Die Suche nach der Wirklichkeit der Freiheit als das Ziel des politischen Systems hat sich als Suche nach der Idee des Rechts ergeben. Was ist aber jetzt diese Idee des Rechts? Wie nicht anders zu erwarten: „Die Einheit des Daseins und des Begriffs, des Körpers und der Seele ist die Idee.“ (PR § 1 Z) Durch diesen Hinweis ist ganz deutlich, dass die Idee des Rechts sich nur auf diejenigen wirklichen rechtlichen Verhältnisse bezieht, die aus dem Begriff des Rechts abzuleiten sind. Der Begriff des Rechts ist die Seele, die sich in diesen Verhältnissen offenbart, damit ein Recht als Idee bezeichnet werden kann: „Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf.“ (PR § 1)7 Hegel fasst diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Die Idee des Rechts ist die Freiheit, und um wahrhaft aufgefasst zu werden, muss sie in ihrem Begriff und in dessen Dasein zu erkennen sein.“ (PR § 1 Z) Die Tatsache, dass Hegel den Begriff des Rechts als die Verwirklichung des freien Willens und eigentlich den freien Willen als Ausgangspunkt und Basis der Rechtfertigung der Politik bestimmt, zeigt ganz deutlich den Einfluss

6 Hegel beginnt seine politische Theorie nicht mit dem Begriff „Gesetz“, weil die Gesetze selbst für ihn nur dann legitim sein können, wenn sie schon als Recht gerechtfertigt werden in dem Sinne, dass sie vom Begriff der Freiheit abgeleitet werden. Alles, was danach kommt, gewinnt Legitimität und Gültigkeit erst durch Freiheit und Recht. Es ist die Freiheit, die bestimmt, was in unsere politische Konstruktion zu integrieren ist. 7 Hier zieht Hegel schon eine klare Unterscheidung zwischen seiner Konzeption von Recht und dem Rechtpositivismus, wenn er darauf besteht, dass das positive Recht nur im Rahmen des Begriffs gültig sein kann.

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Der Begriff des freien Willens und das Recht

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Rousseaus.8 Für Rousseau sind die Gesetze und Institutionen im Staat insofern gerecht und legitim, als sie die Reflexion der Freiheit in der Hinsicht – als die wesentliche Eigenschaft menschlicher Natur9 – sind, dass die Bürger des Staates im Gehorsam gegenüber diesen Gesetzen in der Tat ihrem eigenen Willen gehorchen. Mit anderen Worten: Die Beziehungen im Staat sollten dem wesentlichen Zweck der menschlichen Natur, d. h. der Freiheit der Individuen dienen. Der freie Wille fungiert bei Rousseau als das grundlegende Prinzip des Staates.10 In diesem Sinne habe er, Hegels Auffassung nach, einen großen Beitrag zur politischen Philosophie geleistet, weil er „den Willen als Prinzip des Staates aufgestellt hat.“ (PR § 258 Anm.)11 Diese These Rousseaus markiert für Hegel einen großen Fortschritt, der uns einen Maßstab zur Grundlegung des Staates gibt: Das Individuum gehorcht in der Befolgung der Gesetze dem eigenen freien Willen. Der grundlegende 8 9

10

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Die Grundlage der „Berechtigung“ des Staates für Rousseau ist Hegel zufolge Freiheit: „Zum Prinzip dieser Berechtigung aber macht er den freien Willen“. Siehe seine VGPh, Bd. 3, S. 306. Die Freiheit ist die Eigenschaft, die den Menschen zu dem macht, was er wesentlich ist, und der Verzicht darauf bedeutet Verzicht auf das Menschsein: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten.“ Rousseau, Jean-Jacques (1981): Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Jean-Jacques Rousseau: Sozialphilosophische und politische Schriften. übers. v. Eckhart Koch, I. 4. Es ist nicht die Freiheit allein, die für Rousseau den Rahmen der Gesetze und Beziehungen bestimmt; vielmehr machen eine Versöhnung zwischen Freiheit und dem Schutz der Persönlichkeit sowie des Eigentums für Rousseau den Kern der Problematik der politischen Theorie aus. Das „grundlegende Problem“ des politischen Philosophen ist für ihn das folgende: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen verteidigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“ Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S.  17. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass Rousseau den freien Willen zum grundlegenden Prinzip der Rechtfertigung und Bestimmung des Staates gemacht hat, und genau dies ist für Hegel das, was Rousseau einen so ausgezeichneten Stellenwert verleiht. Die Frage ist, warum Hegel nicht Hobbes oder Locke in einem Atemzug mit Rousseau nennt. Der Hauptgrund besteht, laut Franco, darin, dass für die beiden die menschliche Freiheit und Einwilligung zwar die Form des Politischen ausmacht in dem Sinne, dass die Individuen den Raum haben sollten, ihre negative Freiheit auszuüben, während Rousseau den Inhalt der Gesetze neben ihrer Form in den Vordergrund stellt: Die auf dem „Gemeinwillen“ basierenden Gesetze bestimmen nicht nur die Grenzen für die negative Freiheit des Menschen – als eine äußerliche Form –, für die Befolgung seiner natürlichen Neigungen, was für Rousseau „Sklaverei“ ist, denn hier werden die Willensinhalte eigentlich durch die Triebe und Neigungen bestimmt. Die Inhalte der Gesetze selbst entstammen laut Rousseau vielmehr der eigentlichen Selbstbestimmung des Menschen. Näher siehe Franco, Paul, Hegel’s philosophy of freedom, S. 3 ff.

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Begriff für Rousseaus politische Theorie ist „der Gemeinwille“, der die Brücke zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen (dem Staat und seinen Institutionen und Gesetzen) darstellt. Durch die Gesetze, die ihren Ausgangspunkt im Gemeinwillen haben, folgt das Individuum eigentlich seinem eigenen Willen und ist deswegen frei.12 Es ist genau diese vermittelnde Rolle des allgemeinen Willens, welche den Kern von Rousseaus politischer Philosophie ausmacht. Warum findet aber das Individuum seinen eigenen Willen in dem Gemeinwillen? Die kurze Antwort ist: Da der Gemeinwille als Quelle der Gesetze das Interesse aller zur Grundlage hat, findet jedes Individuum darin sein eigenes Interesse wieder, und aus diesem Grund ist der Gemeinwille dem Individuum nicht fremd; vielmehr ist er der Ausdruck seines eigenen Willens. Der Begriff „Gemeininteresse“ ist der Schlüsselbegriff in dieser Konzeption, weil durch das Gemeinsame jeder sein eigenes Interesse reflektiert wiederfindet.13 Mit anderen Worten: Die Individuen treffen in diesem gemeinsamen Interesse als Grundlage des Gemeinwillens auf den eigenen Willen. Worin nun dieses Gemeininteresse besteht und ob Hegel diese Konzeption plausibel findet, ist die Frage, die er im Abschnitt 29 diskutiert. Was aber an dieser Stelle im Zentrum steht, ist genau der Begriff des freien Willens als Grundlage des Staates. Während also Hegel seine Aufgabe in Entsprechung zu den modernen politischen Philosophen bestimmt, hebt er, wie in der Vorrede, allerdings hervor, dass er die spekulative Methode für die Erkenntnis der „Rechtsidee“ in Anspruch nimmt. Hier unterscheidet Hegel seine Methode von zwei anderen Methoden und greift erneut die Vorrede auf, in der er zwei Methoden in der Politik abgelehnt hat: die Methode der vormaligen Metaphysik, die apriorisch voranschreitet, sowie die Methode des unmittelbaren Bewusstseins, nach der jeder in der Lage sei, aus seinem Herzen zu sagen, wie das politische System sein sollte. Die erste Methode der Erkenntnis der Rechtsidee ist die „formelle Methode“, die einer formalen Definition des Rechts nachgeht. Nach Hegel ist diese Methode zu verwerfen, denn er will hauptsächlich untersuchen, was das Recht ist, und deswegen kann er nicht von vornherein eine Definition anbieten, die „aus der Etymologie“ oder durch das Abstrahieren „aus den besonderen Fällen“ abgeleitet wird. Die zweite Methode der Erkenntnis beruht auf dem 12 13

Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, IV. 2. Die These, dass das gemeinsame Interesse durch den Gemeinwillen Ausdruck findet, kommt im folgenden Zitat ganz deutlich zum Ausdruck: „Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gemeininteresse, jener auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen: aber nimm von ebendiesen das Mehr und das Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.“ Siehe Rousseau, ebd., Buch II, Kapitel 3.

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Gedanken, das Recht existiere in uns als „Tatsache des Bewusstseins“. Nach dieser Methode könne jeder unmittelbar in seinem Bewusstsein die Kriterien des Rechts wiederfinden.14 Auch diese Methode verwirft Hegel, denn sie „macht die Manier des unmittelbaren Bewusstseins und Gefühls die Subjektivität, Zufälligkeit und Willkür des Wissens zum Prinzip.“ (PR § 2 Anm.) Für Hegel hingegen ist seine eigene philosophische Methode die wahre Methode, die für jeden Bereich der Philosophie in Anspruch zu nehmen ist. Sie ist die dialektische Methode, durch die wir „zusehen“ können, wie sich die Idee einer Sache entwickelt: „Die Rechtswissenschaft ist ein Teil der Philosophie. Sie hat daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriffe zu entwickeln oder, was dasselbe ist, der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen.“ (PR § 2) Welchen Begriff vom Recht hat Hegel nun im Auge? Vertritt er eine rechtspositivistische Position, weil für ihn das Bestehende als Grund der Geltung anzusehen ist? Die Antwort ist ein eindeutiges Nein. Das Recht ist für ihn nur dann das Recht in seiner Wahrheit, wenn es seinem Begriff entspricht. In diesem Sinne ist Hegels Rechtsphilosophie vom Rechtspositivismus zu unterscheiden. Hegel macht einen Unterschied, den er besonders betont, zwischen seiner Theorie und positiven Theorien: „Dieser Unterschied, der sehr wichtig und wohl festzuhalten ist, ist zugleich sehr einleuchtend; eine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein […]“ (PR § 3 Anm.). Hegel besteht auf dem Standpunkt, dass die reine Existenz der Rechtsverhältnisse kein Beweis für ihre Legitimität ist und dass etwas nur dann als Recht gelten kann, wenn es „aus dem Begriff“ des Rechts abgeleitet wird. (Ebd.)15 14

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Hegel bringt seine Meinung über diese Alternativen so zum Ausdruck: „Wenn aber jene Weise des Erkennens mit ihren Förmlichkeiten von Definitionen, Schließen, Beweisen und dergleichen einerseits mehr oder weniger verschwunden ist, so ist es dagegen ein schlimmer Ersatz, den sie durch eine andere Manier erhalten hat, nämlich die Ideen überhaupt, so auch die des Rechts und dessen weiterer Bestimmungen, als Tatsachen des Bewusstseins unmittelbar aufzugreifen und zu behaupten und das natürliche oder ein gesteigertes Gefühl, die eigne Brust und die Begeisterung zur Quelle des Rechts zu machen.“ (PR § 2 Anm.) Hegels Methode unterscheidet sich von der der „historischen Rechtsschule“ – trotz der großen Relevanz der Geschichte für die Entstehung der Institutionen der Freiheit für beide Positionen –, die durch eine „geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung“ voranschreitet und darauf abzielt, zu untersuchen, wie und unter welchen Zuständen und Verhältnissen sich die Rechtsstrukturen in der Geschichte entwickelt haben. Nach Hegel geht es in seiner Rechtsphilosophie um „die Frage nach der wahrhaften Rechtfertigung“, weshalb seine Methode auch nicht mit einer „Rechtfertigung aus Umständen“

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Kapitel 3

Hegels Rechtphilosophie ist allerdings auch keine naturrechtliche Position, weil für ihn die Natur nicht in der Lage ist, die Quelle der Gesetze für die Menschen zu sein. Nicht die Einsicht in die Natur des Menschen ist für Hegel Grundlage der Rechtfertigung des Rechts, sondern das, was der Mensch durch seinen freien Willen bestimmt. Der Mensch ist für Hegel nämlich ein geistiges Wesen, das im Unterschied zu natürlichen, die unter den Gesetzen ihrer Natur stehen, in der Lage ist, durch seine Freiheit und Vernunft das Telos sowie die Gesetze für sich zu setzen.16 Sowohl die Rechtsgesetze als auch die Notwendigkeit des Lebens im Staat könnten nicht durch eine natürliche Tendenz in einem vermeintlichen Naturzustand, wie etwa die Tendenz zur Geselligkeit, das Bedürfnis der Sicherheit und Selbsterhaltung usw., gerechtfertigt werden. Es seien die menschliche Vernunft und der Begriff seiner Freiheit, welche die Gesetze des Rechts sowie die Notwendigkeit der Gemeinschaft rechtfertigten:17

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zu verwechseln ist. Diese Rechte sind für Hegel durch die historischen Umstände bedingt, und wenn diese Umstände nicht mehr existieren, verlieren die Rechte auch ihre Rechtfertigung. Anders formuliert: Zu einem anderen Zeitpunkt als der Zeit, in der diese Rechtsverhältnisse entstanden sind, existieren die Beziehungen, welche dem Entstehen dieser Rechtsformen Legitimität verliehen haben, nicht mehr. Die Folge davon ist, dass sich diese Rechtsverhältnisse als überflüssig erweisen. Diese Position leidet also unter dem Mangel, für die Rechtfertigung bestimmter Rechtsformen Umstände zu Hilfe zu nehmen, die zeitbedingt und in diesem Sinne relativ sind, während für Hegel die Aufgabe der Rechtsphilosophie darin besteht, die notwendige Natur des Rechts als Dasein der Freiheit zu veranschaulichen. Diese von Hegel kritisierte Rechtsphilosophie setzt „das Relative an die Stelle des Absoluten, die äußerliche Erscheinung an die Stelle der Natur der Sache.“ (PR § 3) Für eine Diskussion der historischen Rechtsschule, besonders bei Hugo und Savigny, siehe Weisser-Lohmann, Rechtsphilosophie als Praktische Philosophie, Teil 3.4. Wenn der Natur des Menschen die zentrale Rolle gegeben wird, steht der Mensch Hegels Ansicht nach tatsächlich unter der Naturbestimmung und nicht seiner eigenen Selbstbestimmung: „Das Prinzip des Rechts liegt nicht in der Natur, ohnehin nicht in der äußeren, auch nicht in der subjektiven Natur des Menschen, insofern nämlich sein Wille natürlich bestimmt, d. h. die Sphäre der Bedürfnisse, Triebe und Neigungen ist. Die Sphäre des Rechts ist die Sphäre der Freiheit, in welcher, insofern die Freiheit sich äußert und sich Existenz giebt, die Natur zwar eintritt, aber als ein Unselbständiges.“ Siehe Vorlesungen, Bd. I, S. 239. An dieser Stelle muss aber darauf hingewiesen werden, dass für Hegel nur diejenigen Naturrechtslehren unplausibel sind, die aus einer einzigen natürlichen Tendenz im Menschen ein Rechtssystem aufstellen wollen. Das bedeutet aber nicht, dass er sich komplett von dieser Tradition trennen wollte. Denn tatsächlich sind sehr deutliche Einflüsse der Naturrechtslehre in seiner Theorie zu erkennen, wenn man sich beispielsweise an die Theorie der Stoiker erinnert, die auf die Existenz einer rationalen und zielgerichteten Ordnung im Universum hinweisen, was als Modell für das menschliche Leben dienen soll und sich in der Maxime „secundum naturam vivere“ niederschlägt. Für Hegel ist diese rationale Ordnung der Nous oder die Vernunft, die seines Erachtens sowohl die natürliche

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„Die natürlichen Dinge bleiben wie sie sind, haben sich nicht vom Gesetz losgemacht, um sich selbst Gesetze zu machen. Der Geist aber reißt sich von der Natur los und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst. Also ist Natur nicht der Boden des Rechts.“18 3.2

Die notwendigen Bedingungen eines freien Willens

Es geht in den Grundlinien, wie bereits erwähnt, darum, das Recht in seiner Wahrheit zu erkennen. Das Recht wird als die Wirklichkeit der Freiheit angesehen. Es ermöglicht uns einen Raum der freien Willensbestimmung. Und weil das Recht für Hegel die Wirklichkeit des freien Willens ist, ist der Wille der „Ausgangspunkt“ des Rechts. Aus diesem Grund ist es erforderlich, den Willensbegriff besser genauer zu untersuchen. Bevor Hegel seine Untersuchung vom Recht als Wirklichkeit der Freiheit beginnt, wirft er drei Fragen auf, die er der Reihe nach in der „Einleitung“ diskutiert: Erstens: Ist der Wille selbst als der Ausgangspunkt des Rechts überhaupt frei? Zweitens: Was verstehen wir unter einem freien Willen, und unter welchen Bedingungen bezeichnen wir den Willen als „frei“? Drittens: Wie muss der Wille innerlich – bevor man von der Wirklichkeit seiner Bestimmungen redet – bestimmt werden, um frei zu sein? Die ersten beiden Fragen werden in diesem Teil behandelt; die Diskussion der dritten Frage folgt in den Abschnitten 4.3 und 4.4. Als Erstes müssen wir ergründen, ob der Wille frei ist.19 Wenn die Antwort auf diese Frage positiv ist, so können wir vom Recht als Reich der wirklichen

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als auch die soziale Welt regieren. Dieser Punkt ist Herrn von der Pfordten zu verdanken. Für die Erläuterung dieser Maxime bei den Stoikern, siehe Schofield, Malcolm (2003): Stoic Ethics, in: The Cambridge Companion to the Stoics. Inwood, Brad (Hrsg.), S. 245 f. Ebd., S. 239. Riedel bringt diesen Punkt so zum Ausdruck: „Mit dieser Idee des freien Willens vollendet Rousseau die von Hobbes begonnene Inversion der Teleologie der Natur, die der lex naturalis des traditionellen Naturrechts zugrunde liegt, in die Subjektivität des sich selber wollenden und denkenden Individuums.“ Siehe Riedel, Manfred (1973): Freiheitsgesetz und Herrschaft der Natur: Dichotomie der Rechtsphilosophie, in: ders., System und Geschichte: Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie. S. 103 ff. Für eine Diskussion über die Entwicklung von Hegels Kritik des Naturrechts siehe Riedel, Manfred (1982): Hegels Kritik des Naturrechts, in: ders., Zwischen Tradition und Revolution: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. S. 84–115. Für eine Diskussion von Hegels Kritik der Naturrechtslehre siehe außerdem Fulda, Hans Friedrich (2003): G. W. F. Hegel. S. 200–203. Hegels Diskussion der Willensfreiheit im  § 4 der Grundlinien ist sehr knapp gehalten und dient dem Zweck seiner umfassenderen Freiheitstheorie. Für die ausführlichere Diskussion dieses Themas bei Hegel siehe seine Enzyklopädie § 363–399.

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Freiheit sprechen. Hegels Antwort auf diese Frage ist ein eindeutiges Ja: „[D]er Wille, [ist] frei, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit.“ (PR  § 4) Um genau zu sein, ist die Freiheit so substanziell für den Willen, dass der Wille ohne Freiheit sein charakteristisches Merkmal verliert, und folglich ein leeres Wort bleibt: „Die Freiheit ist nämlich ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbestimmung der Körper ist.“ (PR § 4 Z) Hegel bietet im vierten Abschnitt der Grundlinien ein eher skizzenhaftes Argument für die Freiheit des Willens. Dieses soll im Folgenden rekonstruiert werden. Schon in der Enzyklopädie beantwortet Hegel die Frage im Wesentlichen anhand seiner Unterscheidung zwischen der „Natürlichkeit“ und „Geistigkeit“: Zunächst gehe es bei dieser Unterscheidung nicht um zwei unterschiedliche, abhängige Welten oder Substanzen. Die geistige Welt setze vielmehr die natürliche Welt voraus.20 Sie sei eine Weiterentwicklung der natürlichen Welt, und wenn Hegel von der Erhebung der Natur zur geistigen Welt redet, impliziert dieser Übergang keinen Übergang zu einer anderen Welt, sondern das Zurückkehren der Natur zu sich selbst: „In dem Gesagten liegt schon, dass der Übergang der Natur zum Geiste nicht ein Übergang zu etwas durchaus anderem, sondern nur ein Zusichselberkommen des in der Natur außer sich seienden Geistes ist.“ (Enz § 381 Z) Die geistige (menschliche) Welt sei in der Tat derjenige Teil der natürlichen Welt, der „zu sich“ komme bzw. „für sich“ werde oder über sich reflektieren könne, und geht damit über die reine Natur hinaus.21 Im „subjektiven Geist“ in der Enzyklopädie zeigt Hegel dann, wie sich ein geistiges Wesen von der unmittelbaren natürlichen Stufe des Fühlens über das Anschauen, Vorstellen und endlich bis zur höchsten Stufe der geistigen Aktivität, d. h. zum Denken erhebt. In dieser Erhebung erreiche der Mensch eine Stufe, in der er durch seine geistigen Fähigkeiten von den anderen natürlichen Wesen wie Bäumen und Tieren unterschieden werde. Dieses Wesen könne u. a. über Sprache verfügen und dadurch Sinn vermitteln oder begrifflich denken – ein Prozess, der nicht ohne Weiteres auf ein natürliches Ereignis oder eine natürliche Erscheinung reduziert werden könne. Der denkende Mensch bewege sich nämlich – im Gegensatz zu dem Reich der Natur – in

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Hegels Zitat in diesem Zusammenhang lautet: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er ist.“ (Enz § 381) Pippin bringt diesen Punkt so zum Ausdruck, dass ein natürlicher Organismus, der eine bestimmte Stufe der Komplexität erreiche, in der Lage sei, sich mit sich selbst zu beschäftigen bzw. über sich zu reflektieren, was keineswegs nur durch wahrnehmbare Erfahrung zu erklären sei. Siehe Pippin, Robert  B. (2008): Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life. S. 46.

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einem „Raum der Gründe“, in dem jede äußere natürliche Ursache durch einen „Grund“ transformiert werde und dadurch ihre rein natürliche Form verliere. Die Implikation für unsere Diskussion der Willensfreiheit ist, dass der Mensch als ein denkendes Wesen nicht mehr in dem Sinne passiv ist, dass die innerlichen oder äußerlichen Ursachen einfach auf ihn wirken und seine Richtung bestimmen. Er ist vielmehr durch die Kontrolle, die er über sich ausüben kann, also durch sein Denkvermögen, in der Lage, seinen Willen auf zweierlei Weise zu bestimmen: Zum einen kann er sich in einem negativen Sinne von allen diesen Ursachen freimachen und von jeder ihm nicht eigenen Willensbestimmung Abstand nehmen, ein Vorgang, der sich als ein Sich-nichtbestimmen-Lassen bezeichnet werden kann. Zum anderen ist er durch seine Vernunft in einem positiven Sinne in der Lage, für sich Ziele und Handlungsprinzipien zu bestimmen und dann in diesem Rahmen zu handeln. Da die Struktur der Willensbestimmung in den geistigen Wesen, die sich durch Gründe und Reflexion bestimmen, grundlegend von der der natürlichen Wesen unterschieden ist, kann man bei der Erklärung des menschlichen Handelns nicht von einer rein kausalen Beziehung reden. Der denkende Mensch nimmt, mit Pippin gesprochen, jede Ursache in sein Bewusstsein auf und transformiert sie.22 Durch diese Transformation, die im menschlichen Bewusstsein stattfindet, verliert die Ursache ihre natürliche oder dingliche Form und nimmt eine geistige Form – möge man sie Gründe oder anders nennen – an. In diesem Prozess wird ersichtlich, dass die Gründe nicht mehr Dinge sind, die in einer Ursache-Wirkung-Beziehung aufeinander wirken und einander kausal bestimmen,23 was impliziert, dass die menschliche Willensbestimmung in einem Rahmen außerhalb des Kausalitätsverhältnisses erklärbar sein muss.24 22 23

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Pippin, ebd., S. 38. Laut Pinkard verhält sich dieses geistige (minded) Wesen durch Gründe, die anderer Natur sind als Dinge, deren Erklärung einen anderen Rahmen braucht. Siehe Pinkard, Terry (2001): Hegel: A Biography. S. 473 f. Für die Notwendigkeit der Erklärung der menschlichen Freiheit mit Bezug auf die reflexive, auf Gründen basierende Natur der menschlichen Handlungen siehe auch Höffe, Otfried (2015): Kritik der Freiheit: Das Grundproblem der Moderne. Kapitel 17. Die Beziehung zwischen den mentalen (Raum der Gründe) mit den neurologischbiologischen Zuständen kann auch im Lichte des Körper-Seele-Problems betrachtet werden. Hegels Position in dieser Diskussion ist weder rein naturalistisch wie bei Hobbes, der alle mentalen Prozesse auf mechanistische Ereignisse reduziert (siehe Hobbes, Leviathan, 1.4.), noch dualistisch im Sinne von Descartes, der einerseits von res cogitans und andererseits von res extensa als zwei selbständigen Substanzen spricht (siehe besonders Descartes’ sechste Meditation). Für Hegel sind beide Stufen eines einzigen Wesens, das in sich diese inneren Differenzierungen vornimmt. Für eine genauere Diskussion dieses Problems siehe Wolff, Michael (1992): Das Körper-Seele-Problem: Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389.

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Hegels Erklärung der Handlung dieses vernünftigen Wesens wird in einem begrifflich geeigneten Rahmen durch den „Begriff des Willens“ durchgeführt, was später diskutiert wird. Mit der Charakterisierung des Willens als ein sich in die Wirklichkeit übersetzendes Denken macht Hegel deutlich, dass die menschliche Handlung eine unterschiedliche Klasse von Ereignissen bezeichnet, die nicht kausal wie andere Naturereignisse erklärt werden kann. Hegel geht im § 4 davon aus, dass der Mensch einen Willen hat, weil er zu denken fähig ist: „[D]er Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken“ (PR § 4 Z), während das Tier nicht denken kann und sich deswegen instinktiv verhält: „Das Tier handelt nach Instinkt, wird durch ein Inneres getrieben und ist so auch praktisch, aber es hat keinen Willen, weil es sich das nicht vorstellt, was es begehrt.“ (PR § 4 Z) Also ist das Denken die Fähigkeit, auf deren Basis wir einen Willen haben. Eigentlich ist die Fähigkeit des Denkens die Grundlage des Willens. Was hierbei allerdings schnell auffällt, ist, dass sich Hegel in eine Tradition einordnet, der zufolge die Vernunft praktisch sein und den Willen bestimmen kann. Diese moderne, von Rousseau begonnene Tradition der Autonomie steht in einem Widerspruch zu einer Strömung, die von Hobbes ausgeht und der Vernunft keine ausgezeichnete Rolle zuweist. Für Rousseau besteht die menschliche Freiheit aus einer komplexen Form der Selbstbestimmung, die auf Prinzipien beruht. Wir sind in diesem Sinne frei, wenn unser Wille nicht willkürlich, sondern unter dem Gesetz steht, das wir uns selbst gegeben haben, und in diesem Sinne kann seine Konzeption von Freiheit der Autonomie gleichgesetzt werden. Es ist diese Art von Freiheit, „die allein den Menschen wirklich zum Herren seiner selbst macht; denn der Antrieb des bloßen Begehrens ist Sklaverei, nur der Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.“25 Die Autonomie besteht für Rousseau in der Bestimmung nach Prinzipien, die von uns bestimmt sind und unserer wesentlichen Natur Ausdruck verleihen.26 Hegel bekennt sich als Anhänger der Rousseau’schen Tradition der praktischen Vernunft, wenn er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in seiner Rede über Rousseau die Fähigkeit des Denkens der Willensfreiheit gleichsetzt und die Auffassung vertritt, ohne das Denken sei die Rede von Freiheit leer: „Eben die Freiheit ist das Denken selbst; wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet.“27 25 26 27

Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1.8.3. Für die Einstufung von Rousseaus Theorie als Anfang der Autonomiekonzeption von Freiheit siehe Neuhouser, Frederick (2011): Jean-Jacques Rousseau and the Origins of Autonomy, S. 478–493. VGPh, Bd. 3, S. 307 f.

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Der nächste Autor, der in dem gleichen Abschnitt erwähnt wird und dessen Freiheitsbegriff die Grundlage des „Moralitätskapitels“ ausmacht, ist Kant, der nach Hegel in die gleiche Tradition einzuordnen ist: „Der Wille ist nur als denkender frei. Das Prinzip der Freiheit ist aufgegangen und hat dem Menschen, der sich selbst als Unendliches fasste, diese unendliche Stärke gegeben. – Dieses gibt den Übergang zur Kantischen Philosophie, welche in theoretischer Hinsicht sich dieses Prinzip zugrunde legte.“28 Es wird durch diese Aussagen deutlich, dass der Wille für Hegel kein Vermögen der Willkür ist. Er hat vielmehr die Vernunft zur Grundlage. Was die grundlegende Einheit zwischen Denken und Willen konstituiert, ist die Notwendigkeit der Bestimmung nach einem Prinzip. Sowohl Rousseau als auch Kant sprechen der praktischen Vernunft diese Fähigkeit der Willensbestimmung zu. Diese Auffassung von Freiheit steht der naturalistischen Konzeption des Willens entgegen, für welche die Vernunft keine zentrale Position in der Bestimmung unseres Willens einnimmt.29 Was hat nun unser Denken mit unserem Willensvermögen zu tun? Wie können wir aus unserer Fähigkeit zu denken den Schluss ziehen, dass wir gleichzeitig durch den Willen und nicht aus Instinkt handeln? Hegels Auffassung nach sind diese zwei Vermögen nicht voneinander zu unterscheiden und als zwei selbständige Fähigkeiten zu betrachten: „Aber man muss sich nicht vorstellen, dass der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und dass er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung.“ (PR § 4 Z) Wie ist diese Untrennbarkeit zu erklären? Für ihn ist das Denken ohne Willen unmöglich und umgekehrt: Auf der einen Seite bekommt der Gegenstand, wenn wir etwas denken, eine Form in den Gedanken und verliert somit seine objektive, gegenständliche Form: „Indem ich einen Gegenstand denke, mache ich ihn zum Gedanken und nehme ihm das Sinnliche; ich mache ihn zu etwas, das wesentlich und unmittelbar das Meinige ist.“ (PR § 4 Z) Im Denken ist das Sein des Gegenstandes in den Gedanken und erhält deswegen eine begriffliche Bestimmung, die man selbst ihm gegeben hat. Er steht einem nicht mehr gegenüber, sondern man selbst hat seine Form bestimmt. Aus diesem Grund wird der Gegenstand durch das Ich transformiert bzw. bestimmt. Also ist mein Wille im theoretischen Verhalten oder Denken gegenwärtig und macht dessen Ausgangspunkt aus. Auf 28 29

Ebd., S. 308. Dadurch lässt sich einsehen, warum Hegel seine Argumentationsweise über die Problematik der Willensfreiheit von der der „vormaligen empirischen Psychologie“, die „aus den verschiedenen Empfindungen und Erscheinungen des gewöhnlichen Bewusstseins als Reue, Schuld und dergleichen […] der sogenannte Beweis [führt], dass der Wille frei sei“. Außerdem ist seine Position von der Position abzugrenzen, nach der die Willensfreiheit als „Tatsache des Bewusstseins“ anzunehmen und zu glauben ist. (PR § 4 Anm.)

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der anderen Seite ist das Denken in unserem praktischen Verhalten präsent, ist also der Ausgangspunkt des Willens, sodass wir ohne das Denken auch keinen Willen haben können. Jedenfalls könne man, wenn vom Willen eines Wesens, das nicht denkt, die Rede ist, nicht vom reinen Willen reden, ohne andere geistige Fähigkeiten ins Spiel zu bringen: „Was ich will, stelle ich mir vor, ist Gegenstand für mich.“ Aus dieser „Vorstellung“ – was allgemein die geistigen Tätigkeiten bezeichnet – kommt der Stoff des Willens, der schon als etwas Allgemeines dem Denken angehört, und ihn in die Wirklichkeit umsetzt: „[…] der freie Wille [ist] seinerseits nur wollendes Denken, also ebenfalls nur das Allgemeine das Denken in den Dingen will.“30 Nach seiner Erläuterung des Willens als praktische Vernunft möchte Hegel im nächsten Schritt bestimmen, was unter dem Ausdruck „freier Wille“ zu verstehen ist. Was ist die notwendige Bedingung, unter der ein Wille als frei bezeichnet31 werden kann? Hegels Antwort: Ein freier Wille ist derjenige Wille, der seine subjektive Bestimmung (Ziele, Wünsche, Prinzipien usw.), unabhängig von der Konzeption, die man vom Willen und seiner Freiheit hat – mag es eine rein naturalistische, eine kantische oder eine andere sein –, erfolgreich in die Wirklichkeit umsetzen kann. Mit anderen Worten: Die grundlegende und notwendige Bedingung eines freien Willens besteht für jede Theorie der Freiheit zuvörderst darin, anzuerkennen, dass der Wille eines Individuums nur dann als frei zu bezeichnen ist, wenn dieses in der Lage ist, den Willensinhalt so zu verwirklichen, wie es ihn in seinem Bewusstsein bestimmt hat. Diese grundlegende Bedingung kommt, wie wir sehen werden, im Abschnitt 7 (als Schlussfolgerung aus den Abschnitten 5 und 6) deutlich zum Ausdruck. Der Rahmen von Hegels Argument in den Abschnitten 5–7 ist der folgende: Der menschliche Wille hat für Hegel zwei „Momente“ oder Grundlagen: I) Wir sind denkende Wesen, und das Denken ist die Fähigkeit der Allgemeinheit: Ich sehe mich als ein Wesen mit verschiedenen Möglichkeiten, und mein Wille ist nicht beschränkt durch irgendeine besondere Bestimmung. Also liegt die erste Grundlage des Willens in unserer Fähigkeit der Abstraktion in einem negativen Sinn, d. h. wir uns als ein allgemeines Bewusstsein von jedem Inhalt abstrahieren können. (PR § 5) II) Der Wille kann aber nicht in dieser reinen allgemeinen Unbestimmtheit verbleiben; vielmehr muss der Wille, 30 31

Siehe Vorlesungen, Bd. 3, S. 109. In diesem Teil geht es nur um die Bedeutung eines freien Willens, die Frage, unter welchen notwendigen Bedingungen ein Wille als frei zu bezeichnen ist; wie ein Wille als frei zu bestimmen ist und wie dieser Wille wirklich werden kann, wird dann in den nächsten beiden Kapiteln behandelt.

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um überhaupt ein Wille sein zu können, erstens einen bestimmten Zweck haben und zweitens diesen von dieser subjektiven Form in die Wirklichkeit umsetzen. Der Wille unterscheidet sich vom Denken also dadurch, dass er einen bestimmten Inhalt verwirklicht. Dafür müssen wir etwas Bestimmtes tun und dürfen nicht mehr in der Allgemeinheit des ersten Moments bleiben. Ich setze mir beispielsweise das Ziel, ein Arzt zu werden, oder um 22:00 Uhr ins Bett zu gehen (vgl. PR § 6,8,9). III) Die Bedingung, die den Maßstab eines freien Willens bildet, diskutiert Hegel im Abschnitt 7: Mein Wille ist frei, wenn meine Zwecke sich in der wirklichen Welt erfolgreich widerspiegeln. Anders gesagt: Ich bin nur dann frei, wenn ich in dem Dasein meines Willens, so Hegel, „bei mir“ bleibe. Im Folgenden wird ausführlicher auf diese Diskussion eingegangen. I) Wenn ich meinen Willen betrachte, finde ich heraus, dass ich von jedem Inhalt und Zweck abstrahieren kann, und diese Fähigkeit, wie im § 4 schon erläutert wurde, haben wir unserem Denkvermögen zu verdanken: „Der Mensch ist das reine Denken seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, das heißt alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen.“ (PR § 5 Z) Ich sehe in mir eine Vielfalt von Möglichkeiten, was ich tun kann. Diese Fähigkeit ist eine „absolute Möglichkeit: Der Wille enthält α) das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst ist; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.“32 Ich finde in meinem Bewusstsein verschiedene Möglichkeiten, die ich wählen kann. Hegel bezeichnet diese Vorstellung als die „negative Freiheit“, welche die Fähigkeit zur „Abstraktion“ von aller Bestimmtheit ist (PR § 5).33 32 33

Laut Riedel ist dieses Element das durch Kant entdeckte transzendentale Ich, das die Grundlage der Möglichkeit der Selbstbestimmung ausmacht. Siehe Manfred Riedel, Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, S. 118. Dieses Element kann man mit Berlins Bild der negativen Freiheit vergleichen. Nach Berlin wird diese Art von Freiheit als Freiheit von (freedom from) bezeichnet. Wir sind in dem negativen Sinne frei, wenn uns keine äußerlichen Hindernisse im Weg stehen. Diese Hindernisse können andere Menschen oder der Staat oder irgendetwas außer uns sein. Das Individuum besitzt eine negative Freiheit, wenn es einen Bereich hat, in welchem es ohne Intervention anderer die Möglichkeit zu Handlungen hat: „I am normally said to be free to the degree to which no human being interferes with my activity.“ Berlin, Liberty, S.  169. „Negative Freiheit“ bezieht sich für ihn auf diesen persönlichen Raum, frei von äußerlichen Eingriffen: „What is the area within which the subject – a person or group of persons – is or should be left to do or be what he is able to do or be, without interference by other persons?“ Berlin, S. 169. Für Hegel hingegen ist erstens negative Freiheit nur ein

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Diese reine Möglichkeit impliziert keine Freiheit an sich, denn die Freiheit fordert, so Hegel, dass bestimmte Handlungen durchgeführt werden, sogar die natürliche Lebendigkeit hängt davon ab, dass man handelt, insbesondere isst. Dafür müssen wir selbstverständlich unseren Willen bestimmen. Wir müssen uns aber den Punkt vor Augen führen, dass diese Möglichkeit der Freiheit nur eine Seite der Freiheit ist. Wir reden nur dann von einem freien Willen, wenn der Wille etwas Bestimmtes tut, wenn er einen bestimmten Zweck setzt und wirklich macht. Nach Hegel hat eine solche rein negative Vorstellung von Freiheit in der Französischen Revolution zu einer Katastrophe geführt, weil man jede bestimmte Ordnung als Widerspruch gegen die unendliche Freiheit angesehen hat.34 Wie können wir also nun den Willen bestimmen? II) Das zweite Element ist für Hegel die „Besonderung des Ich“. Es ist selbstverständlich, dass wir – von unseren anfänglichen Naturbedürfnissen bis zu den höchsten Zwecken, die jeder Mensch erreichen kann – nicht in dieser absoluten Möglichkeit bleiben sollten; wir brauchen bestimmte Zwecke und Ziele: „ß) Ebenso ist Ich das Übergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands.“ (PR § 6) Für Hegel ist ein Wille, der in der Allgemeinheit des ersten Moments bleibt, überhaupt kein Wille: „Ein Wille, der […] nur das abstrakt Allgemeine will, will nichts und ist deswegen kein Wille.“ (PR § 6 Z) Daher ist ein zweites Element notwendig, nämlich dass der Wille bestimmte Zwecke haben und diese Zwecke in die Wirklichkeit umsetzen muss. Hegel nimmt einen Form-Inhalt-Operator in Anspruch, um seine Meinung über die „Bestimmtheit des Willens“ weiter auszuführen: „Der Wille ist überhaupt nicht nur im Sinne des Inhalts, sondern auch im Sinne der Form bestimmt.“ (PR  § 8 Z) Form und Inhalt machen also die Bestandteile der Willensbestimmung aus. Aber was ist mit der Form und dem Inhalt gemeint? Hegels Antwort: „Die Bestimmtheit der Form nach ist der Zweck und die Ausführung des Zweckes: der Zweck ist zunächst nur ein mir Innerliches, Subjektives, aber er soll auch objektiv werden, den Mangel der bloßen Subjektivität

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Element des Willens das noch kein umfassendes Bild menschlicher Freiheit bietet; und zweitens geht es ihm tatsächlich nicht um die Betrachtung der „Hindernisse“, sondern um eine Fähigkeit im menschlichen Willen, und zwar der zur allgemeinen Abstraktion von allem. Dazu sagt er: „Dahin gehört z. B. die Schreckenszeit der Französischen Revolution, in welcher aller Unterschied der Talente, der Autorität aufgehoben werden sollte. Diese Zeit war eine Erzitterung, ein Erbeben, eine Unverträglichkeit gegen jedes Besondere; denn der Fanatismus will ein Abstraktes, keine Gliederung: wo sich Unterschiede hervortun, findet er dieses seiner Unbestimmtheit zuwider und hebt sie auf. Deswegen hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewusstsein der Gleichheit zuwider ist.“ (PR § 5 Z)

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abwerfen.“ (PR § 8 Z) Wie einzusehen ist, teilt sich die „Form“ in zwei Bestandteile: Der eine ist der Zweck und der andere besteht in der Frage, ob dieser Zweck nur im Bewusstsein und subjektiv oder ob er schon durchgeführt und objektiv geworden ist. Um ein bestimmter Wille zu sein, müssen zuerst Zwecke und Ziele gesetzt werden, die in der Welt verwirklicht werden müssen. Zum Beispiel setze ich mir das Ziel, im Leben glücklich zu sein. Glücklichsein macht meinen allgemeinen Zweck (meine subjektive Form) aus. Außerdem braucht der Wille „Inhalte“, die aus den besonderen Schritten bestehen, die wir vornehmen, um die allgemeine Form oder die Zwecke weiter zu bestimmen und zu verwirklichen. Was ich genau will und tue, um einen Zweck weiter zu bestimmen und auch in eine objektive Form umzuwandeln, sind die Inhalte meines Willens. Wenn mein Ziel beispielsweise darin besteht, im Leben glücklich zu sein, dann sind für mich Reichtum oder Bildung mögliche Inhalte, um das Ziel weiter zu bestimmen und zu verwirklichen. Wie verwendet Hegel diesen Operator nun in den Grundlinien? Die Antwort ist: Um diese Allgemeinheit des Willens konkret und kohärent zu bestimmen, brauchen wir Formen und Inhalte, die durch den allgemeinen Begriff des Willens bestimmt werden. (Die Notwendigkeit des „Begriffes“ als Rahmen für die Bestimmung des Willens wird sich im Laufe dieses Kapitels erweisen.) Es ist keine Übertreibung, zu sagen, es gehe Hegel in den Grundlinien grundsätzlich um die wahre Form und die Inhalte der Freiheit. Mit anderen Worten: In den drei Hauptkapiteln dieses Werks ist er auf der Suche nach derjenigen Form und denjenigen Inhalten, die für Freiheit notwendig sind. Was Hegel konkret in den Grundlinien mit diesem Form-Inhalt-Ausdruck macht, kann ganz allgemein so erklärt werden: Er fängt mit der ersten „Form“ der Freiheit als „Persönlichkeit“ im „Abstrakten Recht“ an und gleichzeitig werden die mit ihr zusammenhängenden „Inhalte“ bestimmt als Verhältnisse des Eigentums-, Vertrags- und Strafrechts. Die „willkürliche Form“ des persönlichen Willens entwickelt sich, wegen ihrer Widersprüche, im „Moralitätskapitel“ zu der reflexiven „Form der moralischen Selbstbestimmung“ mit ihren eigenen rechtlichen Inhalten – den subjektiven Rechten auf Wohl, auf Absicht, usw. Diese Form ist allerdings auch noch nicht die vollständige Form der Freiheit und wird sich erst noch zu der „Form des sittlichen Lebens“ mit ihren notwendigen Inhalten und Normen in den wirklichen Institutionen der Sittlichkeit erheben.35 35

Wenn wir die Ontologie mit Christian Georg Martin „als denkende Entfaltung dessen […], was dazu, dass überhaupt etwas ist, notwendig gehört“ verstehen, dann kann Hegels Rechtsphilosophie als eine Ontologie der Freiheit verstanden werden, d. h. als der Versuch, das zu explizieren, was notwendig zum Wesen der Freiheit gehört. Vgl. Christian Georg, Martin, Ontologie der Selbstbestimmung, S. 6.

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III) Bis jetzt haben wir gesehen, dass der Wille seine unbestimmte Allgemeinheit verlassen und sich Bestimmungen, d.  h. allgemeine Ziele und bestimmte Inhalte für die Verwirklichung dieser Ziele geben sollte. Hier kommt eine grundlegende Bedingung in Betracht, die für jede Theorie der Freiheit gilt: Der Wille oder dessen unendliche Möglichkeiten (das erste Element des Willens) muss durch diese Möglichkeiten oder Optionen so bestimmt werden (das zweite Element), dass sich das Ich oder das Subjekt im objektiven Dasein, das durch seinen Willensakt hervorgebracht wird, zum Ausdruck bringen kann, oder in Hegels Wörtern: „Das Dritte ist nun, dass es in seiner Beschränkung, in diesem Anderen bei sich selbst sei, dass, indem es sich bestimmt, es dennoch bei sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten: dieses ist dann der konkrete Begriff der Freiheit.“ (PR § 7 Z)36 Dieses Moment nennt Hegel die „Einzelheit“, was er in seiner Logik als „das Prinzip der Individualität und Persönlichkeit“ bezeichnet,37 die hier impliziert, dass ein einzelnes Subjekt nur dann frei ist, wenn seine Willensbestimmungen die Verkörperung der allgemeinen Ziele und Zwecke sind, die das Subjekt innerlich in seinem Bewusstsein bestimmt hat. (Wir werden sehen, dass die wahre Allgemeinheit, die zur freien Einzelheit führt, nur durch den Begriff des Willens bestimmt werden kann.) Hegels Theorie der praktischen Freiheit38 untersucht die Bedingungen sowohl einer kohärenten Willensbestimmung als auch ihrer erfolgreichen 36

37 38

Hegels Theorie der Freiheit kann mit Geuss’ Konzeption der Freiheit als „Selbstverwirklichung“ verglichen werden, nach der meine Freiheit darin bestehe „dass ich mich selbst in meiner Tätigkeit oder in den Produkten dieser Tätigkeit in der Welt anschauen und wiedererkennen kann.“ Geuss, Raymond, Auffassungen der Freiheit. Außerdem ist diese Selbstverwirklichung nicht in einem subjektiven Sinn, sondern in einem starken objektiven Sinne zu verstehen: „Meine Selbstverwirklichung würde demnach darin bestehen, dass ich mit Erfolg ein objektiv richtiges Leben führe, d. h. ein Leben, in dem mein Selbst auf die richtige Art und Weise verwirklicht wird, und ich das zur Kenntnis nehme“, S. 10 f. Für Hegel gilt auch dieser starke Sinn der Selbstverwirklichung im Rahmen des Begriffes der Freiheit, der keine beliebige subjektive Vorstellung, sondern das Vernünftige der Freiheit zum Ausdruck bringt. Wir werden später noch sehen, dass die dritte Bedingung nur dann erfüllt wird, wenn die Willensbestimmungen aus dem allgemeinen Begriff des freien Willens abgeleitet werden. Einzelheit eines subjektiven Willens ist die Reflektion des Willens, wenn sie die konkrete Erscheinung des allgemeinen Willensbegriffs ist. WL, Bd. 2, S. 297. Vgl. auch Quante, Michael (2011): Die Wirklichkeit des Geistes: Studien zu Hegel, S. 163. Hier geht es ihm nicht um das metaphysische Freiheitsproblem, unter dem die ontologischen Bedingungen zu verstehen sind, welche die Willensfreiheit ermöglichen. Für eine allgemeine Diskussion dieses Themas siehe Guckes, Barbara (2003): Ist Freiheit eine Illusion? Eine metaphysische Untersuchung, S.  19. Hegel möchte sehen, unter welchen Bedingungen ein Wille in praktischer Hinsicht frei sein kann.

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Durchführung. Mit anderen Worten: Hegels Theorie der Freiheit ist eine einheitliche Theorie, die Willensfreiheit und Handlungsfreiheit als zusammengehörig begreift. In jedem Schritt geht es Hegel um die Erläuterung der begrifflichen Bedingungen, unter denen von einem kohärenten, widerspruchsfreien freien Wollen die Rede sein kann. Die Diskussion über ein freies Wollen ist für Hegel jedoch nicht die ganze Geschichte. Wir müssten darüber hinaus die Bedingungen explizieren, unter denen diese begrifflichen Bestimmungen wirklich werden können, damit das Dasein des Willens die Reflexion unserer allgemeinen subjektiven Ziele und Zwecke sein könne. Jede vollständige Theorie der Freiheit müsse nicht nur die Bedingungen eines freien Wollens, sondern auch die Bedingungen beinhalten, unter denen dieser Wille seine Ziele erfolgreich verwirklichen könne. Nun muss zugegeben werden, dass abgesehen von der Art und Weise, wie bei Hegel ein freier Wille zu bestimmen und zu verwirklichen ist (mithilfe des „Willensbegriffs“ und der „Rechtsverhältnisse“), die im § 7 erläuterte Bedingung für jede Theorie gilt, denn man kann nicht von Freiheit reden und gleichzeitig nicht erwarten, dass die innerliche Bestimmung erfolgreich realisiert werde.39 In der Sprache seiner theoretischen Philosophie gesprochen bin ich nach Hegels Konzeption frei, wenn mein Wille durch mich selbst bestimmt wird, wenn ich in der Bestimmung meines Willens von mir abhänge. Das ist aber nur die eine Seite eines selbstbestimmten Willens. Wie jedes wahre Wesen, welches das „Moment“ der Objektivität braucht, um Idee und eine wahre Wirklichkeit zu werden, ist der Wille auch nur dann genuin frei, wenn der Ausdruck des Willens darüber hinaus in seinem objektiven Dasein die Reflexion des durch das Ich selbstbestimmten Inhalts ist, was dann die zweite Seite des freien Willens ausmacht. Diese Auffassung kann nun durch Hegels berühmten Ausdruck von Freiheit als „Bei-sich-sein im Anderen“ reformuliert werden, die er in der Enzyklopädie formuliert: „[D]ie Freiheit ist eben dies, in seinem Anderen bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das Bestimmende seiner selbst zu sein.“40 (Enz § 24 Z) Die Herausforderung Hegels in den Grundlinien besteht darin, unseren Willen so zu bestimmen, dass man sich nicht nur innerlich mit 39

40

Das, was mich davon abhält, meine innerlichen Bestimmungen zu verwirklichen, kann innerlich – wie Mangel an Selbstdisziplin –, oder äußerlich – etwa ein Mangel an politischem Freiraum für den Ausdruck dieser Ziele – sein. In beiden Fällen bin ich nicht frei, wenn meine Ziele nur in meinem subjektiven Bewusstsein bleiben. Freiheit nur in Gedanken könnte man auch in einem Gefängnis haben! Eine andere Stelle, an der er diesen Ausdruck für Freiheit verwendet, findet sich in dem folgenden Zitat: „Frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin.“ Hegel, G. W. F. (1955): Die Vernunft in der Geschichte. Hoffmeister, Johannes (Hrsg.), S. 55 Für eine Erläuterung dieses Ausdrucks von Freiheit siehe Wood, Allen, Hegel’s ethical thought, S. 45 f.

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seinen Willensinhalten identifiziert (Welchen mentalen Zuständen, natürlichen Trieben usw. ist nachzugehen? Welche sind die eigenen und reflektieren die eigene Individualität und den Charakter?), sondern auch nach der Verwirklichung dieser Inhalte sagen kann, dass das, was wirklich zustande gekommen ist, die Reflexion der eigenen Pläne, Absichten und Zwecke oder allgemein die Reflexion seiner selbst ist. Unter welchen Bestimmungen kann der Wille also wahrhaft frei sein? Wie können die Formen und Inhalte bestimmt werden, damit wir wahrhaft frei werden oder uns in dem Dasein des Willens wiedererkennen? Was ist die Gesamtheit der Formen und Inhalte, durch deren Verfolgung man bei sich und frei sein kann?41 Im nächsten Teil geht es um das Bestimmen eines kohärenten, widerspruchsfreien Wollens. (Über die Wirklichkeitsbedingungen dieses Wollens – ein freies Handeln – wird dann in 4.4. die Rede sein.) 3.3

Zwei Vorstellungen von einem freien Wollen

Zwei Arten der Bestimmung des Willens werden hier untersucht, und zwar erstens der unmittelbare Wille und zweitens der mehr entwickelte, reflexive Wille. Man kann diese zwei Modelle der Reihe nach 1) natürliche oder unmittelbare und 2) reflexive Freiheit („Willkür“ und „Glückseligkeit“ sind unterschiedliche Stufen der reflexiven Variante) nennen, von denen Hegels Modell der konkreten oder absoluten Freiheit zu unterscheiden ist: Dem natürlichen, unmittelbaren Willen fehlt die Formbestimmung und die Inhalte kommen deswegen unmittelbar aus der Natur, und der reflexive Wille ist zwar eine Art von Bestimmung, die nicht mehr unmittelbar ist, sodass man bei diesem Willen von einer Form reden kann. Aber da diese allgemeine Form abstrakt und ohne

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Solange die notwendigen Bestimmungen der Freiheit implizit – „an sich“ – bleiben, sind wir nicht frei, weil wir beim Wollen und Handeln nicht genau wissen, was zu tun ist. Wir sind nur potenziell frei, wie ein Kind, das ein bestimmtes Potenzial zu verwirklichen hat. Die vernünftigen Bestimmungen der Freiheit müssen für uns explizit –„für sich“ – werden: „Der Wille, der bloß dem Begriffe nach Wille ist, ist an sich frei, aber auch zugleich unfrei, denn wahrhaft frei wäre er erst als wahrhaft bestimmter Inhalt; dann ist er für sich frei, hat die Freiheit zum Gegenstande, ist die Freiheit. Was nur erst nach seinem Begriffe ist, was an sich bloß ist, ist nur unmittelbar, nur natürlich. Dies ist uns auch in der Vorstellung bekannt. Das Kind ist an sich Mensch, hat erst an sich Vernunft, ist erst Möglichkeit der Vernunft und der Freiheit und ist nur so dem Begriff nach frei. Was nun so erst an sich ist, ist nicht in seiner Wirklichkeit. Der Mensch, der an sich vernünftig ist, muss sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden in sich, dass er es auch für sich werde.“ (PR § 10 Z)

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Bestimmungen ist, kann sie nicht zu einer kohärenten Willensbestimmung führen. Der Grundgedanke ist, dass der Wille nur dann kohärent bestimmt sei, wenn die allgemeine Form und die besonderen Inhalte nicht gegeneinander, sondern in einer „Einheit“ stehen, oder von der allgemeinen Form abgeleitet werden. Ich setze mir – in der Glückseligkeitslehre zum Beispiel – das Ziel (als allgemeine Form), im Leben glücklich zu sein. Im nächsten Schritt benötige ich bestimmte Inhalte, um dieses Ziel genauer zu bestimmen und zu realisieren. Hegel wird im § 20 argumentieren, dass ich keinen allgemeinen, objektiven Maßstab besitze, anhand dessen die verschiedenen Optionen (Inhalte) verglichen und bemessen werden können. Es kann potenziell immer außerhalb der Optionen, die ich gewählt habe, eine Option geben, durch die ich mehr Glück erfahren könnte. Die Form oder der Zweck (mein Glück) kann durch keinen Inhalt richtig zum Ausdruck kommen. Meine Willensbestimmung kann deswegen weder innerlich noch in ihrer objektiven Wirklichkeit die Reflexion meines Willens sein, und ich bin in dieser Bestimmung nicht „bei mir“. Wir gehen im Folgenden ausführlicher darauf ein. I) „Der unmittelbare oder natürliche Wille“: Nach dieser Vorstellung besteht die Freiheit in der Befolgung der Neigungen und natürlichen Triebe. Dies ist aber keine Freiheit für Hegel, denn ein solcher Wille ist tatsächlich nicht selbstbestimmt: Wie vom Namen her schon vermutet werden kann, ist dieser Wille ganz unmittelbar42, und was diesem Willen zur Verfügung steht, ist ein „unmittelbar vorhandener Inhalt – es sind die Triebe, Begierden, Neigungen, durch die sich der Wille von Natur bestimmt findet.“ Dem Willen fehlt noch die Form. (PR § 11) Wenn ein Mensch eine Neigung von etwas in sich fühlt, geht er dieser Neigung ohne irgendeine Reflexion nach, und es sind dann diese Neigungen, die eigentlich die Richtung bestimmen. Da diesem Willen jede allgemeine Reflexion über seine Zwecke fehlt, hat er, Hegels Auffassung nach, die „Form der Unmittelbarkeit“, und das ist der Grund, warum jeder mögliche Inhalt durch diesen Willen verfolgt werden kann, denn es gibt für diesen Willen keine reflexive Form als Rahmen der Bestimmung der Inhalte. Durch diesen Mangel an Form ist dieser Wille ein „in sich endlicher Wille“, weil er in keiner Bestimmung bei sich sein kann. (PR  § 11)43 Dieser Wille ist mit dem Willen eines Tieres zu vergleichen, das 42

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Er ist vergleichbar mit dem Willen eines Drogensüchtigen in Harry Frankfurts Beschreibung, der nur den Wünschen erster Stufe nachgeht und die Wünsche zweiter Stufe völlig außer Acht lässt. Siehe Frankfurt, Harry (1971): Freedom of the Will and the Concept of a Person, S. 5–20. Ein endlicher Wille ist ein Wille, für den die Form und der Inhalt voneinander unterschieden sind, und aus diesem Grund ist die Bestimmung dieses Willens nicht mehr die

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seinen Trieben und Bedürfnissen gehorcht und sich nicht selbst bestimmt: „Das Tier hat keinen Willen“, während der Mensch einen Willen hat, was impliziert, dass der Mensch über seine Neigungen und Triebe reflektieren kann und sich nicht von diesen Tendenzen unmittelbar bestimmen lassen sollte: „Der Mensch steht aber als das ganz Unbestimmte über den Trieben und kann sie als die seinigen bestimmen und setzen. Der Trieb ist in der Natur, aber dass ich ihn in dieses Ich setze, hängt von meinem Willen ab.“ (PR § 11 Z) Aus diesen Aussagen darf nicht abgeleitet werden, dass die Freiheit es erforderlich macht, dass wir unsere Gefühle, Neigungen usw. ignorieren. Vielmehr sollten wir diese natürlichen Tendenzen von ihrer Unmittelbarkeit befreien und durch einen bestimmten Rahmen oder in einer für den Menschen geeigneten Form befriedigen. Der unmittelbare Wille ohne Form hat „eine Menge und Mannigfaltigkeit von Trieben“, durch welche er bestimmt wird. Aber wenn man durch seine Natur oder äußerliche Faktoren bestimmt wird, ist man dann selbstbestimmt? In diesem Fall bleibt kein Raum für eigene Entscheidungen. Der erste notwendige Schritt der Befreiung vom unmittelbaren natürlichen Willen besteht darin, uns nicht durch unsere Natur bestimmen zu lassen. Wir sollten eine Stufe weitergehen und dem Willen die Fähigkeit des „Beschließens“ zusprechen: „[N]ur als beschließender Wille überhaupt ist er wirklicher Wille.“ (PR § 12) Dass ich selbst – und nicht meine Natur – beschließe, welche Tendenzen zu verfolgen sind, ist der erste Schritt zur Freiheit. Indem wir durch das „Beschließen“ unseren Willen bestimmen, bestimmen wir uns erst als ein bestimmtes Individuum. Diese Feststellung führt zu einer höheren Konzeption der Freiheit. II) Der reflexive Wille: In dieser Konzeption vom Willen haben wir es mit einer entwickelteren Stufe zu tun in der Hinsicht, dass hier eine bestimmte Art von Reflexion über die Inhalte ins Spiel kommt. Dieser Wille selbst enthält zwei Stufen für Hegel: i) Die „Willkür“: Diese Vorstellung ist für Hegel höher als der unmittelbare Wille in dem Sinne, dass hier von der „Reflexion“ die Rede ist und eine Reflexion des Ich, und das Ich ist in seinem Dasein nicht bei sich. Aus diesem Grund ist das Dasein eine Schranke der Freiheit und nicht die Reflexion des Selbst, weil man in diesem Dasein etwas anderes vor sich hat als den eigenen Willen. Solange die besonderen Inhalte des Willens nicht die Form bzw. unsere Zwecke wahrhaft bestimmen und verwirklichen können, sondern ein Unterschied zwischen beiden Seiten besteht, haben wir einen „endlichen“ Willen: „[D]iese Form und jener Inhalt sind aber noch verschieden, – der Wille ist so in sich endlicher Wille.“ (PR § 11) Hegel hebt also hervor, dass der Wille nur dann unendlich wird, wenn die Form sowie die besonderen Inhalte ihren Unterschied aufheben: „[…] hebt er den Unterschied der Form und des Inhalts auf und macht sich zum objektiven, unendlichen Willen.“ (PR § 13)

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allgemeine Formbestimmung ins Spiel gebracht wird. Es wurde bereits gesagt, dass sich ein Individuum im „Beschließen“ als erstem notwendigen Schritt zum ersten Mal für etwas entscheidet; z. B. entscheidet es sich, einem besonderen Trieb nachzugehen. Obwohl an dieser Stelle das Beschließen noch völlig abstrakt ist,44 taucht hier – durch das erste Element des Willens, d. h. die allgemeine Reflexion und Abstraktion von jedem Inhalt – eine zweite Vorstellung von Willensfreiheit auf, die Hegel als „Willkür“ bezeichnet. Es ist der Wille eines bestimmten Individuums, das dieser reflektierenden Natur schon bewusst geworden ist. Jeder ist eine allgemeine Möglichkeit und kann in verschiedenen Weisen den eigenen Willen bestimmen und jeden Inhalt „wählen“, den er will. Man ist nicht auf irgendeinen Inhalt beschränkt, sondern hat unterschiedliche Optionen:45 „Der endliche Wille46, als sich nur nach der Seite der Form reflektierendes und bei sich selbst seiendes unendliches Ich (§ 5), steht über dem Inhalt, den unterschiedenen Trieben, sowie über den weiteren einzelnen Arten ihrer Verwirklichung und Befriedigung, wie es zugleich, als nur formell unendliches, an diesen Inhalt, als die Bestimmungen seiner Natur und seiner äußeren Wirklichkeit, jedoch als unbestimmtes nicht an diesen oder jenen Inhalt gebunden ist (§ 6, 11).“ (PR § 14) Wenn man in sich schon die Fähigkeit vorfindet, sich auf verschiedene Weise bestimmen und viele Alternativen haben zu können, ist es nicht schwer zu denken, dass Freiheit nur darin bestehe, dass wir tun können, was wir jederzeit wollen. Diese Willkür ist nach Hegel „die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat.“ Viele sind der Auffassung, dass Freiheit bedeute, „man könne tun, was man wolle.“47 Aber Hegel ist der Ansicht, dass diese Auffassung von Freiheit falsch ist und eine „solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden“ könne. Warum aber 44

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„Durch das Beschließen setzt der Wille sich als Willen eines bestimmten Individuums und als sich hinaus gegen Anderes unterscheidenden“, obwohl hier nur das „abstrakte Beschließen“ gemeint ist, „und der Inhalt ist noch nicht der Inhalt und das Werk seiner Freiheit.“ (PR § 13) „Ich, als das Allgemeine, stehe zugleich über der Besonderheit. Diese formelle Allgemeinheit, die sich als das Allgemeine weiß gegen das Besondere, ist der Standpunkt der Willkür überhaupt.“ Siehe Nachschrift Anonymus, S. 62. Wie schon gesagt: Solange die Willensbestimmungen nicht so bestimmt werden, dass ich in dem wirklichen Dasein meines Willens mich selbst reflektiert finde, ist mir dieses Dasein fremd, ich bin in ihm nicht „bei mir“ und es ist nicht Zeichen meiner Selbst in der Welt; es ist deswegen eine Schranke für mich, und der Wille, der einem fremden Dasein gegenübersteht, ist „endlich“. Hegels Auffassung von Willkür ist Kants Verständnis dieses Begriffs sehr ähnlich, der die Willkür als das „Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen“ bezeichnet. Siehe Kant, Metaphysik der Sitten, AB 5.

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ist diese Vorstellung von Freiheit falsch und führt nicht zu einem kohärenten freien Wollen? Hegels Antwort kann so formuliert werden: Die Form des willkürlichen Willens bleibt auf dem Niveau der reinen, von jedem Inhalt abstrahierenden Reflexion. Sie bleibt nur negativ und hat deswegen keinen positiven Rahmen, wodurch die Inhalte bestimmt werden. Ich kann mich von allem abstrahieren und verschiedene Optionen vor Augen haben (das negative Moment); aber ich kann natürlich nicht immer in dieser Abstraktion bleiben. Jetzt will ich etwas Bestimmtes tun (das positive Moment). Wie kann ich aus A, B, C … eine Option auswählen? Ich wähle B, weil ich es will, aber woher kommt dieses Wollen selbst? Warum will ich in diesem Moment B und nicht A oder C? Der Inhalt B, den ich will, entstammt entweder meiner inneren Natur oder er kommt von außen. Deswegen ist die Willkür für Hegel „Zufälligkeit“. Die Inhalte des Willens werden nicht durch die Form der Willkür – die tatsächlich keine bestimmte, sondern nur eine abstrakte Form ist – bestimmt, sie kommen dem Willen zufällig zu. Oder ausführlicher formuliert: Die Willkür hat nach Hegel zwei Seiten: Einerseits haben „wir die freie von allem abstrahierende Reflexion“ und andererseits „die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe.“ Das Ich ist, wie bereits bemerkt wurde, diese Fähigkeit der allgemeinen Reflexion und sieht sich nicht durch irgendeinen bestimmten Inhalt beschränkt: „Die Wahl, die ich habe, liegt in der Allgemeinheit des Willens, dass ich dieses oder jenes zu dem Meinigen machen kann.“ (PR  § 15 Z) Aber gleichzeitig sollte der Wille etwas Bestimmtes tun, um überhaupt ein Wille sein zu können (das Element der Willensbestimmung). Die Hauptfrage lautet an dieser Stelle daher: Wie kann ich mit dieser Vorstellung von Freiheit tun, was ich will, die Inhalte meines Willens aus den verschiedenen Möglichkeiten, die ich zur Verfügung habe, auswählen? Ich brauche einen allgemeinen Rahmen, sodass die Inhalte nicht nur zufällig gewählt werden. Das Problem bei dieser Vorstellung liegt jedoch genau in dieser abstrakten Form für die Bestimmung der Inhalte: „Die Wahl liegt daher in der Unbestimmtheit des Ich und in der Bestimmtheit eines Inhalts.“ (PR § 15 Z) Das bedeutet, dass die Form, die den Rahmen für die Inhalte bestimmen sollte, selbst unbestimmt ist, nur eine abstrakte Allgemeinheit ist, die über dieses negative Moment nicht hinausgehen kann. Hegel geht einen Schritt weiter und bezeichnet diese Vorstellung als „Determinismus“, weil die Inhalte nicht dieser „abstrakten Selbstbestimmung“ gehören, sondern „ihr von außen“ zukommen und „vorgefunden“ sind und daher „der Inhalt nicht das Eigene der selbst bestimmenden Tätigkeit als solcher ist“ (PR § 15 Anm.) Aus diesem Grund befinden wir uns in einem Widerspruch: Auf der einen Seite haben

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wir die Gewissheit, die allgemeine Fähigkeit zur Freiheit zu haben, und auf der anderen Seite ist unser Wille abhängig von einem nicht durch den Willen selbst bestimmten Inhalt. Deswegen ist diese gewöhnliche Vorstellung der Freiheit tatsächlich Unfreiheit: „Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, dass er nicht frei ist.“ (PR § 15 Z)48 An dieser Stelle ist auf einen Unterschied zwischen einem alltäglichen Verständnis von Freiheit und Hegels Konzeption derselben hinzuweisen: Laut Hegel sind wir frei, wenn wir unseren Willen in einer bestimmten Form bestimmen. Es gibt keine Freiheit, wenn unser Wille durch äußere oder innere Einflüsse bestimmt wird. Wir sind hingegen frei, wenn wir von allen Einflüssen Abstand nehmen können, unserem Willen eine bestimmte reflektierte Form, bestimmte Ziele und Zwecke geben, und auch wenn wir diese Ziele und Zwecke durch bestimmte Inhalte verwirklichen. Hegel versucht uns in seinen Grundlinien diese bestimmten Bedingungen der Freiheit zu verdeutlichen. Ist diese Konzeption der Freiheit aber vereinbar mit dem einfachen, alltäglichen Verständnis dieses Konzepts, dem zufolge wir nur dann frei sind, wenn das Feld unserer Optionen und Wahl offen bleibt und wenn die Freiheit nicht auf bestimmte Wege beschränkt wird? Die Antwort auf diese Frage wird deutlich, wenn wir einsehen, dass Hegel in der Tradition der Freiheit als Selbstbestimmung denkt. Für Hegel, wie für Rousseau und Kant, sind wir nicht im vollen Sinne frei, wenn wir unseren Willen willkürlich bestimmen. Freiheit besteht für ihn vielmehr darin, dass wir in erster Linie von jedem Inhalt Abstand nehmen. Sie fordert auch einen positiven, selbstgegebenen Rahmen, der den Raum unserer Freiheit bestimmt. Willkür ist hingegen für Hegel eine Instanz der Unfreiheit, weil dem Akteur darin die Inhalte – durch seine Natur oder von außen – vorgegeben werden. Anders gesagt: Es ist zwar richtig, dass unsere Natur in unseren Handlungen Ausdruck findet, wir sind aber auch vernunftbegabte Wesen, und die Vernunft muss daher eine Rolle in unseren Handlungen spielen, nämlich als das Vermögen, ihnen die allgemeine Richtung vorzugeben.49 (Es ist jedoch auch darauf 48

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Es ist in der Tat eine „Täuschung“, zu meinen, unsere Freiheit bestehe allein in dieser allgemeinen Reflexion der Willkür, ohne diese Form sowie die besonderen Willensinhalte weiter zu bestimmen: „Indem hiermit nur das formelle Element der freien Selbstbestimmung in der Willkür immanent, das andere Element aber ein ihr gegebenes ist, so kann die Willkür allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden.“ (PR § 15 Anm.) Wenn wir uns, wie Berlin, nur auf die äußerlichen Hindernisse konzentrieren, besteht die Gefahr, dass die innerliche Seite der Freiheit außer Acht bleibt. Nach Taylor können wir in verschiedenen Fällen keine äußerlichen Hindernisse haben und deswegen im negativen

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hinzuweisen, dass für Hegel diese subjektive Sphäre des Wählens in seiner Sittlichkeitstheorie offen bleibt, im Rahmen der „subjektiven Freiheit“ oder im „Recht auf subjektive Besonderheit“, in dem mir meine Wahl im alltäglichen Sinne offensteht. Dieses alltägliche Freiheitsverständnis ist aber nur ein Element, das in ein größeres Bild von Freiheit als Selbstbestimmung integriert werden muss.) Die Willkür impliziert darüber hinaus eine Art Beschränkung, weil man als ein allgemeines Bewusstsein oder Ich die Möglichkeit in sich findet, jeden Inhalt wählen zu können. Da man jedoch in einer willkürlichen Bestimmung keinen Rahmen für die eigenen Bestimmungen hat, fragt man sich nach jedem willkürlichen Willensakt, ob dessen Inhalt tatsächlich eine Reflexion des Selbst war. Wenn ich mich für einen bestimmten Inhalt entschließe, ist diese Wahl Sinne frei sein, uns aber trotzdem als unfrei ansehen. Was die negative Freiheit seiner Auffassung nach außer Acht lässt, sind die innerlichen Hindernisse, die dazu führen, dass wir uns mit manchen Handlungen nicht identifizieren können: „It would seem that these cases make a bigger breach in the crude negative theory. For they seem to be cases in which the obstacles to freedom are internal; and if this is so, then freedom cannot simply be interpreted as the absence of external obstacles; and the fact that I am doing what I want, in the sense of following my strongest desire, is not sufficient to establish that I am free. On the contrary, we have to make discriminations among motivations, and accept that acting out of some motivations, for example irrational fear or spite, or this too great need for comfort, is not freedom, is even a negation of freedom.“ Taylor, Charles, What’s Wrong with Negative Liberty, S. 222. Mit der Bezeichnung der positiven Freiheit als Beseitigung der innerlichen Hindernisse entsteht allerdings die Frage, die Eric Nelson aufgeworfen hat: Handelt es sich bei positiver Freiheit ausschließlich um diese Beseitigung innerlicher Hindernisse? Wenn dem so ist, dann kann man tatsächlich von keiner anderen unabhängigen Kategorie der Freiheit im „positiven Sinne“ reden, und positive Freiheit muss eigentlich als eine bloße Erweiterung negativer Freiheit verstanden werden. Sogar wenn wir unsere Konzeption von unserem Ideal oder unserer wahren Natur zu verwirklichen versuchen, besteht unsere Freiheit im Kampf gegen die inneren und äußeren Hindernisse, die uns von diesem Ziel abhalten. Siehe Nelson, Eric (2005): Liberty: One Concept Too Many?, S. 58–78. Allerdings ist unklar, wie diese Reduktion zu verteidigen ist: Z. B. in meiner ruhigen Reflexion, wenn ich alle Hindernisse meiner Reflexion schon beseitigt habe, initiiere ich eine Frage: Worin sehe ich das Ideal meines Lebens? Nach einer langen Reflexion setze ich mir z. B. das Ziel, den Armen zu helfen. Sowohl in dieser Reflexion als auch in der zukünftigen Durchführung dieses Ziels handelt es sich nicht um die Beseitigung der Hindernisse, sondern hauptsächlich um die Herstellung eines positiven Zustandes. Ich sehe meine Freiheit darin, diesen positiven Zustand hervorzubringen, und konzentriere mich auf dieses Ziel. (Es gibt selbstverständlich Hindernisse auf dem Weg, die zu beseitigen sind). Taylor vertritt auch eine solche Konzeption, wenn er Freiheit nicht als Versuch der Beseitigung der Hindernisse und Herstellung der Möglichkeiten (opportunity-concept), sondern als Bestimmung des Selbst bzw. einer Form des Lebens (exercise-concept) interpretiert. Siehe Taylor, a.a.O., 143 f. Für eine Kritik von Nelsons Position siehe auch Christman, John (2005): Saving Positive Freedom, S. 79–88.

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nicht nur zufällig, sondern sie beschränkt mich zugleich, weil dadurch die Vielfalt der Optionen, die ich vor mir habe, aufgeopfert werden: „Wenn ich nun mit Hintansetzung aller anderen mich bloß in einen derselben hineinlege, so befinde ich mich in einer zerstörenden Beschränktheit, denn ich habe meine Allgemeinheit eben dadurch aufgegeben, welche ein System aller Triebe ist.“ (PR § 17 Z) Wie können wir nun für diesen Widerspruch eine Lösung finden, damit von einer kohärenten Willensbestimmung die Rede sein kann? Wir könnten zunächst einmal diesen bestimmten Inhalt aufgeben und einen anderen wählen. Dadurch behalten wir zwar diese allgemeine Kapazität des Wählens. Solange aber die Form des Willens unbestimmt bleibt, taucht mit jedem möglichen Inhalt der gleiche Widerspruch auf: „Mit dieser Möglichkeit aber, ebenso über jeden andern Inhalt, den er an die Stelle setzt, und ins Unendliche fort hinauszugehen, kommt er nicht über die Endlichkeit hinaus, weil jeder solche Inhalt ein von der Form Verschiedenes, hiermit ein Endliches […] ist.“ (PR § 16) Man kann die Zufälligkeit der Inhalte auf diese Weise nicht loswerden, weil die allgemeine Form nicht in der Lage ist, von sich aus konkrete Inhalte zu bestimmen.50 50

Hegel erwähnt an dieser Stelle zwei weitere Alternativen zum Widerspruch der Willkür, mit deren Hilfe die Formlosigkeit der Willkür zu beseitigen und für die Inhalte ein allgemeiner Rahmen zu finden ist: Die erste Alternative für die Bestimmung der Form des Willens ist die „Beurteilung der Triebe“. Dadurch könnten wir einen allgemeinen Rahmen für die Wahl unserer Triebe bestimmen. Es gebe zwei philosophische Strömungen in der Beurteilung unserer Triebe: Die einen behaupten, dass „die Bestimmungen des unmittelbaren Willens gut sind, denn der Mensch heißt so von Natur gut“, deswegen sei die Befriedigung der Triebe, die unserer Natur entstammen, ein Akt der Freiheit und Befreiung. Die anderen hingegen seien der Auffassung, „der Mensch heißt so von Natur böse“, und wir seien nur dann frei, wenn wir diese Triebe „auszurotten“ versuchten. Die zweite Auffassung, die Hegel hier der „christliche(n) Lehre“ zuspricht, ist seiner Meinung nach „höher“ als die andere Vorstellung, weil der Mensch als ein geistiges Wesen höher ist als ein reines Naturwesen, und nur dann frei sein kann, wenn er „sich nicht durch Naturimpulse bestimmen“ lässt: „Der Mensch, als im unmittelbaren und ungebildeten Zustande, ist daher in einer Lage, in der er nicht sein soll und von der er sich befreien muss.“ (PR § 18 Z) Die Wahl zwischen diesen beiden konkurrierenden Positionen ist nach Hegel „subjektive Willkür“ und es ist für ihn unplausibel, gemäß solchen Auffassungen einen Rahmen für unsere Triebe zu suchen. (PR § 18) Die zweite Alternative in Bezug auf die menschlichen Triebe ist eine ziemlich ähnliche Position, und zwar die der „Reinigung der Triebe“. Nach dieser Vorstellung habe „der Mensch von Natur den Trieb zum Recht, auch den Trieb zum Eigentum, zur Moralität, auch den Trieb der Geschlechterliebe, den Trieb zur Geselligkeit usf.“ Diese Triebe würden schon in der menschlichen Natur existieren. Nach dieser „empirischen Psychologie“ könnten wir deswegen den menschlichen Willen von der Form der Unmittelbarkeit durch die „Reinigung der Triebe“ befreien und sittliche und rechtliche Formen fördern: „In der

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ii) „Glückseligkeit“: Bisher ist es uns nicht gelungen, den Rahmen eines kohärenten Wollens zu veranschaulichen. Wir haben gesehen, dass die „Willkür“ zwar weiterentwickelt ist als ein reflexiver Wille, da sie aber abstrakt ist, können wir durch diese Form die Inhalte nicht bestimmen. Erst in der „Glückseligkeitslehre“ finden wir diese allgemeine Form, diesen Rahmen für die besonderen Willensinhalte. Wie im  § 5 erwähnt wurde, haben wir gesehen, dass für Hegel in der Struktur des menschlichen Willens das Denken eine gewichtige Rolle spielt. Erst durch das Denken kann der Mensch von jedem unmittelbaren Inhalt abstrahieren und seinen Willen als eine allgemeine Möglichkeit bestimmen. In einem positiven Sinn51 taucht das Denken zum ersten Mal bei der Bestimmung des Willens in der Glückseligkeitslehre auf: „Der Wille als denkend und an sich frei unterscheidet sich selbst von der Besonderheit der Triebe und stellt sich als einfache Subjektivität des Denkens über deren mannigfaltigen Inhalt; so ist er reflektierender Wille.“ (Enz § 476) An dieser Stelle kommt die Reflexion als Weg zur Befreiung des Willens von der Form der Willkür ins Spiel. Wie können wir aber die Reflexion zu Hilfe nehmen, um für den Willen eine Form, einen allgemeinen Rahmen zu finden, sodass die Inhalte nicht mehr unmittelbar aus dem Willen hergeleitet werden? Hegel findet diesen allgemeinen, reflektierten Maßstab im „Ideal der Glückseligkeit“. Hier können wir von einem konkreten Zweck reden, „ein Ganzes von Glück“. (PR § 20 Z)52 In dieser Lehre vergleichen wir durch Reflexion die

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Forderung der Reinigung der Triebe liegt die allgemeine Vorstellung, dass sie von der Form ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit und von dem Subjektiven und Zufälligen des Inhalts befreit und auf ihr substantielles Wesen zurückgeführt werden.“ (PR  § 19) Der Mensch gelange dadurch zu seiner substanziellen Natur und werde deswegen befreit. Diese Methode ist für Hegel aber ebenfalls zu verwerfen, weil für ihn hier von keiner Notwendigkeit die Rede sein kann, und deswegen unterschiedliche Perspektiven auf die Inhalte des Sittlichen und Rechtlichen ins Spiel kommen können. Genau in dem Sinne einer negativen oder einer positiven Rolle für unsere Reflexion besteht der Hauptunterschied zwischen „Willkür“ und „Glückseligkeit“ als Bestimmungsgründe des Willens: Obwohl Willkür und Glückseligkeit beide die Form der Reflexion benötigen, steht die letztere höher als die erstere in dem Sinne, dass es bei der zweiten um einen positiven Rahmen für die besonderen Inhalte geht – nur denjenigen Inhalten ist zu folgen, die dem Ziel unseres Glücks dienen –, während es bei der Willkür ausschließlich um diese allgemeine Gewissheit in einem negativen Sinne geht, dass ich ein allgemeines Bewusstsein bin und mich von jedem Inhalte abstrahieren kann; bei ihr haben wir tatsächlich keinen positiven Rahmen für die Bestimmung der Inhalte. Die „Maximierung des Glücks“ übernimmt die Formbestimmung für uns, und in diesem Sinne ist Vieweg beizupflichten, dass Hegel an dieser Stelle eine auf die Befriedigung der Neigungen und Interessen beschränkte Konzeption der Glückseligkeit vor Augen hat. Siehe Vieweg, Das Denken der Freiheit, S. 87 f. Es ist hier keine Rede von einem aristotelischen, auf Vollkommenheit zielenden Verständnis dieses Begriffs, gemäß dem das wahre

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Triebe miteinander, betrachten ihre Folgen und stellen fest, welche Triebe uns am meisten Glück bescheren. Durch diese Überlegungen kommen wir zu einem Rahmen für die Befriedigung der Triebe und können dann diejenigen Optionen wählen, die unserem Ziel – Glück – am besten dienen. Dieser Wille ist selbstverständlich kein unmittelbarer Wille mehr, weil er eine allgemeine Form gefunden hat: „Die auf die Triebe sich beziehende Reflexion bringt, als sie vorstellend, berechnend, sie untereinander und dann mit ihren Mitteln, Folgen usf. und mit einem Ganzen der Befriedigung – der Glückseligkeit – vergleichend, die formelle Allgemeinheit an diesen Stoff und reinigt denselben auf diese äußerliche Weise von seiner Rohheit und Barbarei.“ (PR § 20)53 Aber haben wir durch diese dritte Vorstellung des Willens bereits diejenige Form der Freiheit erreicht, durch die wir die Inhalte, die der Verwirklichung dieser Form, dieses allgemeinen Zwecks dienen, kohärent und widerspruchsfrei bestimmen können? Hegels Antwort ist negativ aus dem folgenden Grund: Die Form ist an dieser Stelle der „allgemeine Genuss“ und wir müssen demnach die Inhalte finden, die zu dieser Form passen und durch welche wir diesen Genuss wirklich erreichen können. Aber welche Willensinhalte geben uns einen maximalen Genuss? Habe ich einen Maßstab, mit dessen Hilfe ich genau messen kann, welche Triebe als Inhalte meiner maximalen Glückseligkeit dienen können? In der Tat bleibt diese allgemeine Form hier in der Hinsicht abstrakt, dass man keinen Maßstab besitzt, die verschiedenen Grade des Genusses von bestimmten Inhalten zu messen – und wenn es zur Bestimmung der konkreten Inhalte kommt, ist diese Form nicht in der Lage, uns konkrete Inhalte zu geben. Das Problem der Bestimmung der Form und der Inhalte bzw. eines kohärenten Wollens wird auf diese Weise also noch nicht beseitigt: „In dem Ideal von Glückseligkeit liegen aber zwei Momente: erstens ein Allgemeines, das höher ist als alle Besonderheiten; da nun aber der Inhalt dieses Allgemeinen wiederum der nur allgemeine Genuss ist, so tritt hier noch einmal das Einzelne und

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Glück in der Entwicklung bzw. der Verwirklichung dessen besteht, was der wahren Natur des Menschen entspricht. Die Lehre der Glückseligkeit kann mit Frankfurts Konzeption der Willensfreiheit verglichen werden. Frankfurt ist der Auffassung, wir hätten Willensfreiheit, wenn wir die Fähigkeit besäßen, Wünsche zweiter Stufe zu bilden und unsere Wünsche erster Stufe diesen anzupassen. Mit anderen Worten sei man frei, wenn die Wünsche zweiter Stufe den Rahmen für die Wünsche erster Stufe bestimmten und diese Wünsche nicht in einer unmittelbaren Weise befriedigt würden. Die Glückseligkeit bildet einen vergleichbaren Maßstab, der als Wunsch zweiter Stufe fungiert und die Grenze für unsere Triebe und Neigungen erster Stufe bestimmt: „It is in securing the conformity of his will to his secondorder volitions, then, that a person exercises freedom of the will.“ Frankfurt, Harry, Freedom of the Will and the Concept of a Person, S. 15.

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Kapitel 3

Besondere, also ein Endliches auf, und es muss auf den Trieb zurückgegangen werden. Indem der Inhalt der Glückseligkeit in der Subjektivität und Empfindung eines jeden liegt, ist dieser allgemeine Zweck seinerseits partikular und in ihm also noch keine wahre Einheit des Inhalts und der Form vorhanden.“ (PR § 20 Z) Was wir also brauchen, ist eine Form, mit deren Hilfe die Inhalte bestimmt werden können. Beispielsweise wähle ich unter allen Trieben die Gruppe, T1, T2, … Tn, und denke, dass die Befriedigung dieser mir das höchste Glück beschert. Es steht außer Frage, dass es einen Tj zur Zeit Zj geben könnte, der nicht dieser Gruppe gehört, der mir aber das größte Glück ermöglichen könnte. Eine entscheidende Schwierigkeit liegt genau darin, dass wir nicht allgemein und objektiv messen können, welche Triebe uns die größte Befriedigung geben, und aus diesem Grund bleibt unsere Wahl mit einer Beliebigkeit behaftet. Außerdem sind manche Triebe so unterschiedlich und unvergleichbar – etwa ein Buch zu lesen und eine Pizza zu essen –, dass eine Beurteilung gänzlich zufällig getroffen werden müsste. Wir haben demnach keinen Maßstab, diese Triebe als unsere besonderen Inhalte der Glücksoptimierung allgemein und objektiv zu bestimmen.54 Aus diesem Grund sagt Hegel, dass unsere Allgemeinheit in der Glückseligkeit formell bleibt und nicht zu konkreten Inhalten führt; deswegen würden Inhalte zufällig gewollt und zudem bleibe unser Wollen noch mit einem 54

Die Bestimmungslosigkeit der Idee der Glückseligkeit bei Hegel kommt in ähnlicher Weise in Kants Grundlegung zum Ausdruck. Dort sagt Kant, dass, da „der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist“, weil jeder sein Glück in verschiedenen Zeiten und Zuständen anders sehen kann –„Reichtum“, „Erkenntnis“, „Gesundheit“, usw. – es für jeden Menschen unmöglich sei, „nach irgendeinem Grundsatze mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde.“ Kant, Grundlegung, BA 46 f. Mit anderen Worten ist es nach Kant unmöglich, durch ein allgemeines „Prinzip“ zu sagen, worin unsere Glückseligkeit bestehe oder (mit Hegel gesprochen) welche bestimmten Inhalte unserem Glück am besten dienen. Kant ist laut Hegel der erste Denker, der statt dieser willkürlichen Bestimmung des Willens diesem einen allgemeinen Rahmen durch Vernunft gegeben hat: „Es war dies überhaupt das System des Eudämonismus, von welchem auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen die Antwort erteilt wurde, dass derselbe sich seine Glückseligkeit zum Ziel zu setzen habe. Indem nun unter der Glückseligkeit die Befriedigung des Menschen in seinen besonderen Neigungen, Wünschen, Bedürfnissen usw. verstanden wurde, so war hiermit das Zufällige und Partikuläre zum Prinzip des Willens und seiner Betätigung gemacht. Diesem alles festen Halts in sich entbehrenden und aller Willkür und Laune Tür und Tor öffnenden Eudämonismus hat dann Kant die praktische Vernunft entgegengestellt und damit die Forderung einer allgemeinen und für alle gleich verbindlichen Bestimmung des Willens ausgesprochen.“ (Enz § 54 Z)

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Der Begriff des freien Willens und das Recht

Widerspruch zwischen Form und Inhalt behaftet. Was aber deutlich wurde, ist der Gedanke, dass unsere Freiheit in der widersprüchlichen Idee der Maximierung unseres Glücks nicht zu finden ist. Der Grund liegt darin, dass diese allgemeine Form nur eine „formelle Allgemeinheit“ (PR § 20) ist, ein allgemeiner Rahmen, der abstrakt bleibt und uns die Inhalte nicht geben kann, die diese Form wahrhaft wirklich machen.55 3.4

Die Hegel’sche Konzeption des freien Wollens

Bis jetzt haben wir in unserer Suche nach einer kohärenten Form-InhaltBestimmung keinen Erfolg gehabt. Wir haben mit der Konzeption eines natürlichen Willens angefangen und durch die Widersprüche verschiedener Vorstellungen des Wollens im letzten Schritt die Glückseligkeit erreicht, haben dann allerdings einsehen müssen, dass die Form nur ein allgemeiner Rahmen bleibt, welcher zur Bestimmung der Inhalte untauglich bleibt. Hier herrschte deswegen, in Hegels eigenen Worten, keine „Einheit zwischen Form und Inhalt“, sodass das Wollen noch dem Konflikt zwischen diesen beiden Elementen verhaftet blieb. Im Anschluss daran schlägt Hegel seine Lösung für die Bestimmung dieser Elemente vor. Er sieht diese Problematik auf folgende Weise: Die Allgemeinheit (Form) des Willens müsse so bestimmt werden, dass die Inhalte dieser allgemeinen Form oder unseren allgemeinen Zielen Ausdruck gäben. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten wir also die Allgemeinheit in einer Art und Weise bestimmen, dass kein Unterschied mehr zwischen der allgemeinen Form und den besonderen Inhalten bestehe.56 Mit anderen Worten: Die Form, die in der Glückseligkeitslehre in Betracht gezogen wurde, reichte nicht für die Bestimmung derjenigen Inhalte aus, durch welche wir unseren allgemeinen Zweck (hier die Maximierung des Glücks) erreichen. Wie können nun aber die Form und Inhalte bestimmt werden, 55

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Kant hat Hegels Ansicht nach in der praktischen Philosophie eine ganz besondere Stellung inne, denn er habe überzeugend argumentiert, dass das „Prinzip der Glückseligkeit“ kein konsistentes Prinzip für unseren Willen sein kann: „Im Praktischen herrschte damals die sogenannte Glückseligkeitslehre, die Moral war auf Triebe gegründet; der Begriff des Menschen und die Art, wie er diesen Begriff realisieren soll, ist aufgefasst als Glückseligkeit, seine Triebe zu befriedigen. Kant hat richtig gezeigt, dass dies eine Heteronomie, nicht Autonomie der Vernunft sei, eine Bestimmung durch Natur, somit ohne Freiheit.“ VGPh, Bd. 3, S. 334. In der Randnotiz zum nächsten Abschnitt sagt Hegel, dass nach der Glückseligkeitslehre „das Prinzip der Freiheit“ ins Spiel kommt, was bestätigt, dass er erst hier anfängt, über seine eigene Perspektive zu reden: „Übergang von Prinzip [der] Glückseligkeit in Prinzip der Freiheit.“ (PR § 21 RN)

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Kapitel 3

damit die besonderen Inhalte genau unsere allgemeine Form reflektieren? Die gewünschte Allgemeinheit darf nicht mehr abstrakt und bestimmungslos bleiben, wie in der Glückseligkeit, sondern die Inhalte sollten durch sie bestimmt werden können. Im nächsten Abschnitt präsentiert Hegel seine Lösung: „Die Wahrheit aber dieser formellen, für sich unbestimmten und ihre Bestimmtheit an jenem Stoffe vorfindenden Allgemeinheit ist die sich selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit.“ (PR § 21) Nach Hegel sollte also diese „unbestimmte Allgemeinheit“ durch „die sich selbst bestimmende Allgemeinheit“ ersetzt werden.57 Durch die letztere Allgemeinheit erreichen wir die wahren Bestimmungen der Freiheit, die zuerst „an sich“ sind: „Indem er [der Wille] die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille – die wahrhafte Idee.“ (PR  § 21) Wie ist aber diese vage Aussage zu verstehen? Wie schon erläutert wurde, bezeichnet die Form für Hegel den allgemeinen Rahmen, in dem die Inhalte bestimmt werden. Die Form ist eigentlich die Domäne der Inhalte, und die Inhalte sollten in diesem Rahmen bestimmt werden. Die Inhalte dürfen nicht von außerhalb dieser Form kommen, weil wir in diesem Fall kein kohärentes Wollen haben. Sie sollten daher ausschließlich der Verwirklichung unseres allgemeinen Ziels dienen. Wie können wir nun die Form bestimmen, sodass sie nicht rein abstrakt bleibt, sondern die Inhalte konkret in und von sich aus produziert? (Wenn Inhalte von außerhalb der Form kommen, wie in der „Willkür“ oder der „Glückseligkeit“, können wir unsere allgemeine Form nicht kohärent durch die besonderen Inhalte bestimmen und verwirklichen.)58 57

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Patten ist zwar darin Recht zu geben, dass Hegels Theorie der Freiheit eine Variante der Freiheit als Selbstbestimmung im kantischen Sinne ist. Unserer Ansicht nach ist diese Beziehung aber nicht so eng, wie von Patten hervorgehoben, wenn er aus Hegels Zurückweisung der Glückseligkeit den Schluss zieht, dass für Hegel Freiheit als Selbstbestimmung, wie bei Kant, in der Unterdrückung der Neigungen und der reinen Befolgung der allgemeinen Vernunftgesetze bestehe. Siehe Patten, Hegel’s Idea of Freedom. S. 54. Die Glückseligkeitslehre ist für Hegel jedoch nur dann zu verwerfen, wenn sie allein der Maßstab für unser Verständnis von Freiheit ist. Glück selbst – nicht als eine Lehre – ist ein notwendiges Moment der Dialektik der Freiheit und eine sehr wichtige Quelle der Motivation der Akteure. Sie wird deswegen in dem „Moralitätskapitel“ diskutiert und dann in seine Sittlichkeitstheorie integriert. Für eine vergleichbare Interpretation, nach der die Integration der Glückseligkeit in Hegels Modell der Freiheit zugelassen wird, siehe Wood, Hegel’s Ethical Thought, S. 70. Die Lösung besteht für Hegel prinzipiell in der Art und Weise, wie wir unsere allgemeine Form bestimmen, die nicht mehr abstrakt bleibt. Die Inhalte sind vielmehr durch diese Form herzustellen und sollen ihr entsprechen: „Gefordert ist also eine Allgemeinheit und

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Hegels Lösung lautet: Um die allgemeine Form und die unterschiedlichen Inhalte für ein kohärentes Wollen finden zu können, müssen wir diese Allgemeinheit anders bestimmen, damit sie nicht mehr abstrakt bleibt, sondern ihre besonderen Inhalte in sich selbst konkret herstellt. Die Form muss tatsächlich eine „konkrete Allgemeinheit“, also eine mit Bestimmungen in sich sein, in der die besonderen Inhalte mit ihr in einer erfüllten Beziehung der Einheit stehen. Wie schon im letzten Kapitel skizzenhaft diskutiert, können wir die „unbestimmte Allgemeinheit“ durch den „Begriff“ loswerden: „Allerdings ist der Begriff als Form zu betrachten, allein als unendliche, schöpferische Form, welche die Fülle alles Inhalts in sich beschließt und zugleich aus sich entlässt.“ (Enz § 160 Z) Für Hegel ist der Begriff keine abstrakte, „inhaltslose Form“, sondern eine allgemeine Form, die in sich die Unterscheidungen und die besonderen Inhalte der Freiheit produziert.59 In seiner Behandlung des Begriffs hat Hegel bereits konstatiert, dass in ihm – als Nous oder Vernunft einer Sache – die drei Momente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit einander nicht mehr unversöhnlich gegenüberstehen. Erst wenn wir den Willen durch das „Begreifen“ untersuchen, erreichen wir die wahren Bestimmungen, weil im „Begriff des Willens“ die allgemeine Form den besonderen Inhalten nicht mehr gegenübersteht. Diese Form-Inhalt-Einheit wird dadurch garantiert, dass die Allgemeinheit keine abstrakte Form bleibt, sondern sich durch die Inhalte selbst weiterentwickelt. Auch werden wir sehen, wie sich die besonderen Inhaltsbestimmungen aus der allgemeinen Form ableiten lassen.60

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was darin enthalten aber nicht realisiert ist, ist ein Bestimmen was ihr entspricht und daher ein freies allgemeines Bestimmen, ein reales Bestimmen.“ Vorlesungen, Bd. 4, S. 139. Nur durch den „Begriff des Willens“ erreichen wir die wahren Bestimmungen der Freiheit, die sich später als Normen, Rechte und Gesetze in der Sittlichkeit erweisen: „Der allgemeine Wille ist der Begriff des Willens, und die Gesetze sind die in diesem Begriff begründeten besonderen Bestimmungen des Willens.“ (Enz § 163 Z1) So ist der Begriff die einzige Form der Allgemeinheit, welche in sich konkret ist und den Inhalt aus sich produziert. Es ist nur durch den Begriff des Willens, dass die wahren Bestimmungen der Freiheit hervorgebracht werden können. Wie aber ist die Allgemeinheit des Begriffs beschaffen, sodass sie in sich nicht bloß formell, sondern konkret ist? Hier unterscheidet Hegel die Allgemeinheit des Begriffs von anderen Vorstellungen der Allgemeinheit. Seine Allgemeinheit ist nicht Allgemeinheit als Gemeinschaftlichkeit oder abstrakte Allgemeinheit: „[B]ei der an und für sich seienden Allgemeinheit, wie sie sich hier bestimmt hat, ist weder an die Allgemeinheit der Reflexion, die Gemeinschaftlichkeit oder die Allheit zu denken noch an die abstrakte Allgemeinheit, welche außer dem Einzelnen auf der anderen Seite steht, die abstrakte Verstandesidentität (§ 6 Anm.). Es ist die in sich konkrete und so für sich seiende Allgemeinheit, welche die Substanz, die immanente Gattung oder immanente Idee des Selbstbewusstseins ist; – der Begriff des freien Willens als das über seinen Gegenstand übergreifende, durch seine Bestimmung

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Kapitel 3

In den drei Hauptkapiteln der Grundlinien ist zu erkennen, wie sich Form und Inhalte des Willens gemeinsam aus dem Begriff der Freiheit bestimmen und durch Aufhebung ihrer Widersprüche weiterentwickeln: Wir fangen mit der „Form der Persönlichkeit“ an und finden die damit zusammenhängenden notwendigen Inhalte (Verhältnisse des Eigentums, Vertrages usw.) Das ist aber nicht schon das Ende der Untersuchung. Vielmehr entwickeln sich sowohl die Form als auch die Inhalte des Willens – durch „Unrecht und Verbrechen“ – fort, und zwar zur Form der „Subjektivität“ mit den besonderen Verhältnissen dieses Willens, wie der Notwendigkeit der subjektiven Besonderheit, den besonderen moralischen Pflichten usw. Was Hegels Bestimmung der Freiheit charakterisiert, ist also die Notwendigkeit sowohl der Bestimmung selbst als auch der Entwicklung ihrer Elemente auseinander in einem notwendigen Fortgang.61 Hegels Konzeption der notwendigen Bedingungen eines freien Wollens liegt, trotz der Komplexität seiner Ausdrucksweise, ein relativ einfaches, d.  h. nicht auf vielen Voraussetzungen basierendes Verständnis der (positiven) Freiheit zugrunde. In diesem Sinne sind wir frei, wenn unser Wille nicht willkürlich, sondern in einem vernünftigen Rahmen bestimmt wird. In seinen Grundlinien geht es Hegel genau um die Bestimmung dieses Rahmens. In den verschiedenen Phasen der Grundlinien bietet er eine Explikation dieses Rahmens an, der schlussendlich in der „Sittlichkeit“ als wirkliche Normen und Institutionen zum Ausdruck kommt. Und wenn das Individuum im Rahmen dieser Normen handelt, ist sein einzelner Wille die Wirklichkeit der Freiheit. Es muss aber gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass für Hegel unsere Besonderheit nicht zugunsten der Allgemeinheit unterdrückt werden muss. Die Besonderheit selbst ist eine notwendige Bestimmung des allgemeinen Willensbegriffs, und das Individuum erlangt erst dann seine wahre Freiheit,

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hindurchgehende Allgemeine, das in ihr mit sich identisch ist. – Das an und für sich seiende Allgemeine ist überhaupt das, was man das Vernünftige nennt und was nur auf diese spekulative Weise gefasst werden kann.“ (PR § 24 Anm.) Hier wird die These vertreten, dass für das „Verständnis“ von Hegels Unternehmen in den Grundlinien Kenntnisse seiner theoretischen Philosophie vonnöten sind. Ohne solche Kenntnisse bleibt uns dieser Text unzugänglich. Allerdings muss man im Hinblick auf die Akzeptabilität und Plausibilität von Hegels methodischer Untersuchung Neuhouser Recht geben, dass Hegel in den Grundlinien versuche, immer das zu explizieren, was schon in unseren Begriffen implizit sei, und man nicht unbedingt mit den theoretischen Grundlagen seiner Philosophie (hier seine „Begriffslehre“) einverstanden sein müsse, um seine Thesen in den Grundlinien zu akzeptieren. Sein methodisches Verfahren ist ein voraussetzungsloses Fortgehen. In dieser Hinsicht kann dieses Werk selbständig gelesen werden: „In other words, even if the Philosophy of Right is read in abstraction from the rest of Hegel’s system, the philosophical task it claims to carry out is very robust indeed.“ Siehe Neuhouser, Frederick, The Method of the Philosophy of Right, S. 20.

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wenn es seine Besonderheit in Übereinstimmung mit dem Rahmen der allgemeinen Normen entfaltet. Mithilfe des „Willensbegriffs“ scheinen wir folglich in der Lage zu sein, unser Wollen widerspruchfrei und kohärent bestimmen zu können. Das kann aber nicht das Ende der Geschichte sein, denn Hegel war im § 7 der Auffassung, die andere notwendige Bedingung der Freiheit bestehe darin, dass das Dasein eines Willens genau das reflektiert, was man subjektiv in seinem Bewusstsein gewollt hat.62 Es ist selbstverständlich, dass wir, wenn vom freien Willen die Rede ist, nicht nur ein freies Wollen, sondern auch ein freies Handeln erwarten, oder eine wirkliche objektive Erscheinung unseres Willens, die unseren subjektiven Zielen und unserem Wollen entspricht. Wille bezieht sich, so Hegel, begrifflich – im Gegensatz zu einem rein subjektiven Zustand – genau auf diese wirkliche Seite.63 Da das, was als mein Recht bezeichnet wird, also in der Tat unter meinem Willen steht und Ausdruck meines Willens bzw. meiner Freiheit ist, ist das „Recht“ für unser System der Freiheit die Wirklichkeit des freien Wollens. Genau deswegen nimmt Hegel dieses neue begriffliche Werkzeug für die Durchführung seiner Untersuchung in Anspruch: Während durch den Begriff des Willens die notwendigen, vernünftigen Bedingungen eines freien Wollens expliziert werden, übernehmen die Rechtsverhältnisse die Rolle der objektiven Seite, nämlich als die notwendigen Bestimmungen eines freien Handelns. Mit anderen Worten: Die Rechtsbestimmungen sind die Objektivität der subjektiven begrifflichen Bestimmungen der Freiheit in der Wirklichkeit. Sie sind tatsächlich für Hegel diejenigen Bestimmungen, die den Rahmen für ein freies Handeln bestimmen.

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Wenn der objektive Wille keine Reflexion des subjektiven Zwecks ist, ist uns diese Objektivität fremd und der Wille findet dort eine Schranke für sich, denn „Endlichkeit […] ist seine Subjektivität im Gegensatz gegen die Objektivität.“ (PR § 26 Anm.) Wenn das Dasein des Willens dem subjektiven Zweck entspricht, ist der Wille in seiner Wirklichkeit „bei sich“: „Nur in dieser Freiheit ist der Wille schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich selbst bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem hinwegfällt.“ (PR § 23) Dieser Gedanke kommt bei Hegel auch in ähnlicher Weise im nächsten Abschnitt zum Ausdruck: „Er ist wahr oder vielmehr die Wahrheit selbst, weil sein Bestimmen darin besteht, in seinem Dasein, d. i. als sich Gegenüberstehendes zu sein, was sein Begriff ist, oder der reine Begriff die Anschauung seiner selbst zu seinem Zwecke und Realität hat.“ (PR § 23) „Die Tätigkeit des Willens [besteht darin], den Widerspruch der Subjektivität und Objektivität aufzuheben und seine Zwecke aus jener Bestimmung in diese zu übersetzen und in der Objektivität zugleich bei sich zu bleiben […]“ (PR § 28).

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Kapitel 3

Rechtsverhältnisse als Bedingungen eines freien Handelns

Hegel unternimmt in den Grundlinien den Versuch, die Bedingungen der wahren Selbstbestimmung, zu der vernünftige Wesen wie der Mensch gelangen können, für uns zu explizieren.64 Er führt diese Explikation im Rahmen der Idee der Freiheit durch: In verschiedenen Schritten macht er die begrifflichen sowie objektiven notwendigen Bedingungen der Freiheit des Menschen als vernünftiges Wesen deutlich. Tatsächlich ist für Hegel eine Theorie der Freiheit einseitig, wenn es in dieser Theorie nur um die subjektiven Bedingungen eines freien Wollens geht und die Objektivität dieses Wollens außer Acht bleibt. Ein freier Wille besteht für ihn in erster Linie aus einem Wollen, das erfolgreich in der objektiven Welt umgesetzt wird. Aus diesem Grund ist es für jede Theorie der Freiheit notwendig, die wirklichen Formen des Willens in Betracht zu ziehen. Welches Dasein nimmt nun das freie Wollen in der Wirklichkeit an? Die Antwort ist: in Gestalt der Rechtsverhältnisse. Das Recht macht den Kern der Rechtsphilosophie aus, weil es die Objektivität der Freiheit bzw. die objektive Seite des freien Wollens ist. Das Recht ist für Hegel das wirkliche und objektive Korrelat der subjektiven Seite des Freiheitsbegriffs.65 So nimmt zum Beispiel das Besitzen als Ausdruck des freien Wollens in der wirklichen Sphäre die rechtliche Form des Eigentumsrechts an. Das Recht auf Eigentum ist für Hegel eine objektive Verkörperung der Freiheit, während das Besitzen selbst nur ein subjektives Wollen ist, welches durch dieses Rechtsverhältnis erst eine vernünftige Form erhält. Aus diesem Grund behauptet er, das Recht sei das Dasein des freien Willens: „Dies, dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee.“ (PR § 29) Verschiedene Rechte sind die verschiedenen Räume der Freiheit.66 64

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Hegels Theorie der Freiheit ist, wie bereits deutlich geworden, eine Variante der Freiheit als Selbstbestimmung, nach der man frei ist, wenn man sowohl die Form bzw. seine allgemeinen subjektiven Zwecke als auch die Inhalte des eigenen Willens für die Verwirklichung der eigenen Zwecke durch den notwendigen, vernünftigen Begriff der Freiheit bestimmt. Vgl. Neuhouser, Frederick: Foundations of Hegel’s social theory: actualizing freedom, Kapitel 1. Genau deshalb, weil das Recht das Dasein der Freiheit, also die Objektivität unseres Ideals der Freiheit ist, ist es für Hegel etwas Heiliges: „Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein weil es das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewussten Freiheit ist.“ (PR § 30) Hegel versteht „Recht“ in einem weit gefassten Sinne als jede Verwirklichung der Freiheit und nicht in einem beschränkten „juristischen“ Sinne. Wir werden sehen, dass das Recht für ihn alle Normen in familiären, wirtschaftlichen sowie politischen Verhältnissen enthält, die jeder braucht, um frei zu handeln: „Diese Realität überhaupt als Dasein des freien

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Am Anfang dieses Kapitels wurde erwähnt, dass die politische Theorie der Moderne die Freiheit als Hauptziel hat.67 Die Antwort auf die Frage, warum Hegel an dieser Stelle seinen Rechtsbegriff nur mit dem von Kant und Rousseau vergleicht, liegt darin, dass er mit diesen Denkern darin einig ist, dass beide, neben der Übereinstimmung über die Freiheit als Hauptziel des politischen Lebens, einen positiven Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung im Auge haben, wobei die Vernunft dabei eine gewichtige Rolle spielt. Trotz dieser grundsätzlichen Einigkeit gibt es jedoch einen signifikanten Unterschied zu diesen Denkern, und zwar im Hinblick auf den Rechtbegriff. Für Hegel erfüllt das Recht, wie er im Kapitel zur „Sittlichkeit“ zu beweisen versucht, die positiven Bedingungen der Freiheit, während Kants Konzeption des Rechts seiner Auffassung nach negativ ist und auf die Begrenzung der Willkür beschränkt wird. Zudem erreichten wir die Rechtsverhältnisse als Bestimmungen des Rechts nur durch den „Begriff des Willens“ – im Gegensatz zu Rousseaus unbestimmter „volonté générale“. Dieser wichtige Punkt muss näher erläutert werden: Im ersten Teil dieses Kapitels wurde gesagt, dass Rousseaus Lösung für die zentrale Frage der Freiheit in der politischen Philosophie in der Idee der volonté générale besteht. Denn erst durch die Fundierung der Gesetze im Gemeinwillen werde es möglich, dass die Individuen in der Befolgung der Gesetze sich selbst folgen. Warum ist aber der Gemeinwille Ausdruck meines Willens? Die Antwort besteht darin, dass der Gemeinwille die Reflexion des Gemeininteresses zum Ausdruck bring.68 Wenn daher die Gesetze auf diesem Willen beruhen –„Gesetze“ sind „Akte des Gemeinwillens“69 –, sind die

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Willens ist das Recht, welches nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist.“ (Enz § 486). Vgl. Fulda, Hans Friedrich, „Recht im weitesten Sinn“, in: G. W. F. Hegel, S. 197–200. Ziel und Aufgabe der Politik sowie des Rechts, so von der Pfordten, durchlaufen eine Veränderung in der Neuzeit: In der von Platon und Aristoteles geerbten Tradition bestand die Aufgabe der Politik darin, „[d]as Gute, die Gerechtigkeit, das Glück und das Gemeinwohl“ der politischen Gemeinschaft zu fördern, während ab den 16. und 17. Jahrhunderten das Ziel der Politik durch die Beschränkung ihrer Reichweite, etwa auf die „Erhaltung des politischen Gemeinwesens“ bei Machiavelli, auf „die Sicherung der Selbsterhaltung der Bürger“ bei Hobbes oder auf die „Erhaltung des Eigentums“ der Menschen in einem weit gefassten Sinne, „der das Leben und die Freiheit der Menschen einschließt, nicht nur die materiellen Güter“ bei Locke weniger anspruchsvoll geworden ist. Ab dem 18. Jahrhundert kommt dann die Freiheit als das höchste Ideal der Politik ins Spiel – bei Montesquieu, Rousseau, Kant, Fichte, auch bei Hegel – und das Ziel der Politik sowie des Rechts wurde als die Sicherung der Bedingungen individueller Freiheit angesehen. Näher siehe von der Pfordten, Dietmar (2013): Rechtsphilosophie: eine Einführung, S. 25–27. Siehe Fußnote 13 in diesem Kapitel. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II. 2.6.

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Kapitel 3

Individuen dem eigenen Willen unterworfen, denn der Gemeinwille hat das Interesse aller zum Zweck. Das Gemeininteresse fungiert in Rousseaus Theorie als der Punkt, an dem die Interessen aller Individuen einig sind. Hegels Kritik knüpft diesbezüglich an die folgende Frage an: Wie ist dieses Gemeininteresse zu entdecken? Mit welchem theoretischen Mittel können wir diesen gemeinsamen Punkt, an dem sich alle Willen treffen, finden? Hier taucht die Schwäche von Rousseaus Theorie auf. Hegel ist der Ansicht, Rousseau gebe uns keinen objektiven Maßstab für die Erkenntnis des Gemeininteresses und somit des Gemeinwillens, außer der „Gemeinschaftlichkeit aller Willen“. Oer anders und genauer gesagt: Der Gemeinwille könne dadurch bestimmt werden, dass wir einsehen, über welche Interessen sich alle Individuen einigen.70 Diese Sichtweise macht aber in der Tat die Willkür jedes Individuums zur Grundlage, während für Hegel die wahre Allgemeinheit des Willens allein durch den Begriff des Willens zu erkennen ist, während Rousseau diese Allgemeinheit nur als das „Gemeinschaftliche“ aller Willen aufgefasst hat: „Der vorher erwähnte Unterschied zwischen dem bloß Gemeinschaftlichen und dem wahrhaft Allgemeinen findet sich in Rousseaus bekanntem Contrat social auf eine treffende Weise dadurch ausgesprochen, dass darin gesagt wird, die Gesetze eines Staats müssten aus dem allgemeinen Willen (der volonté générale) hervorgehen, brauchten aber deshalb gar nicht der Wille aller (volonté de tous) zu sein. Rousseau würde in Beziehung auf die Theorie des Staats Gründlicheres geleistet haben, wenn er diesen Unterschied immer vor Augen behalten hätte. Der allgemeine Wille ist der Begriff des Willens, und die Gesetze sind die in diesem Begriff begründeten besonderen Bestimmungen des Willens.“ (Enz § 163 Z1) Hegel stellt den „Begriff des Willens“ als das vernünftig Notwendige der Freiheit diesem Gemeinwillen entgegen und die Bestimmungen (Rechte und Gesetze), die vom Begriff des Willens abgeleitet werden, sind die Bestimmungen der wahren Freiheit und nicht das, was jedes Individuum aus eigener Willkür 70

Bertram macht eine Unterscheidung zwischen der „demokratischen“ und der „transzendenten“ Interpretation des Gemeinwillens, wobei jene darauf besteht, dass die Individuen durch Übereinstimmung und einen demokratischen Mechanismus den allgemeinen Willen bestimmen sollten, während diese die Auffassung vertritt, der allgemeine Wille sei das, was das Individuum „wahrhaft“ wolle, abgesehen davon, was es wirklich möchte. Wie Bertram selber hervorhebt, leidet die zweite Interpretation unter „epistemischen“ Problemen im Hinblick auf das wahrhafte Interesse. Siehe Bertrum, Christoph (2012): Rousseau’s Legacy in Two Conceptions of the General Will: Democratic and Transcendent, S. 403–420, besonders S. 410. Vielleicht könnte eine solche Schwierigkeit Hegel den Anreiz gegeben haben, in seiner Interpretation von Rousseau mehr in die Richtung der „demokratischen“ Konzeption zu tendieren.

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entscheidet.71 Der absolute Maßstab ist für Hegel nicht der Wille jedes Individuums und die Art und Weise, wie jeder die Freiheit definiert. Vielmehr besteht die wahre Freiheit für ihn darin, die Vernunft (Nous) zu erkennen, die durch den Begriff zu erkennen ist: „Das Missverständnis über den allgemeinen Willen fängt aber da an, dass der Begriff der Freiheit nicht im Sinne der zufälligen Willkür jedes genommen werden muss, sondern im Sinne des vernünftigen Willens, des Willens an und für sich. Der allgemeine Wille ist nicht anzusehen als zusammengesetzt von den ausdrücklich einzelnen Willen, so dass diese absolut bleiben.“72 Hieran anschließend kritisiert Hegel auch den Rechtsbegriff Kants. Hegel erläutert den kantischen Rechtsbegriff anhand der Grundthese der „Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür“ so, dass meine Freiheit „mit jedermann Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ (PR § 29 Anm.): „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“73 Da es in einem politischen Gemeinwesen unmöglich ist herauszufinden, ob eine Handlung aufgrund einer moralischen Motivation oder aus Eigeninteresse vollzogen wird, sollte das Gemeinwesen laut Kant seine Gesetze in einem negativen Sinne auf die Harmonie der Willkür der Individuen beschränken und von der moralischen Seite der Handlungen absehen. Mit anderen Worten: Den Rechtsbestimmungen komme die negative Rolle der Beschränkung der Willkür der Individuen zu. Während Kants Begriff der Freiheit in einer Handlung gemäß dem Sittengesetz besteht und der „kategorische Imperativ“ als das Gesetz der Freiheit die Willkür ausschließt, spielt bei seiner Definition des Rechts die Willkür und deren Beschränkung eine entscheidende Rolle. Die genuine Freiheit besteht für Kant in der Befolgung des Sittengesetzes, die einen innerlich guten Willen zur Grundlage hat.74 In seiner Definition des Rechts hingehen geht es hauptsächlich um die Bestimmung der äußeren Freiheit der Individuen und die innere

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„Die angeführte Definition des Rechts enthält die seit Rousseau vornehmlich verbreitete Ansicht, nach welcher der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger, der Geist nicht als wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll.“ (PR § 29 Anm.) Siehe seine VGPh, Bd. 3, S. 307. Kant, Metaphysik der Sitten, AB 32–3. Kant, Grundlegung, BA 98.

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Kapitel 3

Freiheit nach dem Sittengesetz findet hier keinen Platz.75 Was in Kants Formulierung ganz deutlich ins Auge fällt, ist der Versuch, dem Recht die Aufgabe der Begrenzung äußerer Handlungsfreiheit der Individuen zuzuschreiben. Das Rechtssystem hat nach dieser Formulierung hauptsächlich den Zweck, einen Rahmen zu bestimmen, in dem die Individuen ohne Intervention anderer frei sein können. Es bestimmt also die äußeren Grenzen zwischen Individuen in einer Gemeinschaft und ermöglicht das Zusammenleben in diesem Rahmen.76 Im Gegensatz zu Kant besteht für Hegel keine Lücke zwischen den Rechtsgesetzen und den Gesetzen der Freiheit.77 Er stimmt zwar mit Kant darin überein, dass durch die Rechtsgebote kein moralischer Beweggrund gefordert werden kann,78 sieht jedoch, anders als dieser, keinen Grund, diese zwei Sphären voneinander zu trennen. Vielmehr möchte Hegel diese Sphären miteinander verbinden.79 Für ihn ist das Recht nicht der Raum, in dem die Individuen ihre Willkür oder negative Freiheit ausüben. Es ist in erster Linie das Dasein der Freiheit in dem Sinne, dass ich erst durch Rechtsverhältnisse meinen unbestimmten Willen im Rahmen der Freiheit bestimmen kann: „Dies, 75 76 77

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Die „Rechtsaufgabe“ besteht für Kant, so Höffe, darin, „das Zusammenleben äußerer Freiheit zu ermöglichen“. Höffe, Otfried (2014): Immanuel Kant, S. 220. Diese Beschränkung des Rechts auf äußere Handlungsfreiheit steht unter dem Einfluss der Naturrechtslehre seiner Zeit. Näher siehe von der Pfordten, Dietmar (2009): Kants Rechtsbegriff, in: ders., Menschenwürde, Staat und Recht bei Kant. Fünf Studien, S. 27 ff. Mit seiner Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität der Handlungen ähnelt Kants politische Philosophie den Theorien seiner liberalen Vorgänger, d. h. Hobbes und Locke, welche die Aufgabe der Politik darauf beschränken, den Individuen eine Sphäre der negativen Freiheit zu ermöglichen, während von der positiven Freiheit als Selbstbestimmung keine Rede ist. Das Recht ist bei Hegel hingegen kein Instrument, sondern die Wirklichkeit der Freiheit. Näher siehe Franco, Paul, Hegel’s philosophy of freedom, S. 12. Für Hegel ist die innere Seite der moralischen Selbstbestimmung selbstverständlich kein Gegenstand der staatlichen Regulierung: „Die Staatsgesetze können sich also auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn.“ (PR § 94 Z) Kant braucht eine Verbindung zwischen seiner Rechtsphilosophie, die hauptsächlich auf die äußere Freiheit gerichtet ist, und seiner Moralphilosophie, nach der Freiheit in der inneren Selbstbestimmung besteht. Ein Versuch, die Lücke zwischen der Legalität und der Moralität einer Handlung zu schließen, besteht in der Idee, dass die Rechts- bzw. Sittengesetze verschiedene Sphären zu regulieren haben: Während die Rechtsgebote nur über äußere Handlungen gebieten, geht es in den moralischen Gesetzen sowohl um innere als auch äußere Gebote. In der Folge schließen sich die Rechts- bzw. Sittengesetze nicht mehr gegenseitig aus, sondern sind miteinander vereinbar, und der einzige Trennungsgrund ist dann in der „Triebfeder der Handlung“ zu suchen. Das heißt, dass meine rechtliche Handlung gleichzeitig moralisch sein kann, wenn ich diese rechtlich pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht getan habe, d. h., wenn der maßgebliche Bestimmungsgrund die Pflicht selbst ist. Näher dazu siehe von der Pfordten, Dietmar, Kants Rechtsbegriff, a.a.O., S. 33 ff.

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dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee.“ (PR § 29) Genauer gesagt ist das Recht für ihn das System der positiven Bestimmungen der Freiheit, d.  h. die wirkliche Form dessen, was der Begriff der Freiheit notwendigerweise fordert und wodurch erst ein einheitliches Bild von menschlicher Freiheit, sowohl positiv als auch negativ, möglich wird. Das Charakteristische dieser Definition lässt sich daher wie folgt formulieren: Der Wille als Grundlage des Rechts ist nicht die „Willkür“ der Individuen, die zu beschränken ist. Was durch die Rechtsverhältnisse für Hegel zum Ausdruck kommt, sind vielmehr die notwendigen Bestimmungen eines freien Wollens und Handelns. Wie schon dem soeben angeführten Zitat zu entnehmen ist, ist Hegels Ausgangspunkt für die Untersuchung des Rechtsbegriffs im Gegensatz zu Rousseau und Kant nicht die Willkür der Individuen, sondern der wahre Begriff des Willens bzw. die Frage, welche Bestimmungen ein freier Wille annimmt. Wenn wir den Willen in diesem Licht betrachten, zeigt sich das Recht nicht in einem negativen Sinne als Beschränkung der Freiheit, sondern die Rechtsgebote werden vielmehr in einem positiven Sinne Bestimmungen der Freiheit sein. Durch diese Verbindung zwischen Recht und dem Begriff des Willens will Hegel also grundsätzlich die Bestimmungen aufzeigen, die ein wahrhaft freier Wille in der Wirklichkeit hat, und er will deutlich machen, dass im Recht genau diese wirklichen Bestimmungen des wahrhaft freien Willens zum Ausdruck kommen. 3.6

Logik des Argumentationsgangs in den Grundlinien

Es sollte bislang deutlich geworden sein, dass der Begriff des Rechts für Hegels politische Philosophie zentral ist und die Verwirklichung des freien Willens darstellt. Wenn wir diese zwei Begriffe in den Vordergrund unserer Untersuchung stellen, wird uns die zugrundeliegende Logik des Argumentationsgangs in Hegels Grundlinien deutlich: Zum einen befassen wir uns mit den begrifflichen Notwendigkeiten des Freiheitsbegriffs und zum anderen betrachten wir die wirklichen Formen dieser begrifflichen Bestimmungen. Diese wirklichen Formen sind die rechtlichen Formen dieser begrifflichen Notwendigkeiten: „Was wir auf diese Weise erhalten, ist aber eine Reihe von Gedanken und eine andere Reihe daseiender Gestalten.“ (PR § 32 Z)80 80

In einer Vorlegungsschrift sagt Hegel auch: „[W]ir haben zwei Reihen, eine Reihe der Gedankenbestimmungen, eine Reihe von daseienden Gestalten.“ Ilting, Philosophie des Rechts: nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Hotho 1822/23. Bd. III, S. 168. Durch diese

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Nachdem Hegel diese Grundlagen bereits erläutert hat, gibt er uns einen Hinweis auf die Methode, die er für die Durchführung der Untersuchung in Anspruch nimmt. Er setzt voraus, dass der Leser schon mit dieser Methode aus der Logik vertraut ist.81 Da Hegels Methode hauptsächlich in einem immanenten Fortgehen in dem Sinne besteht, dass auf jeder Stufe nur das expliziert wird, was schon in unserem Begriff implizit ist, kann man die Plausibilität von Hegels Argumenten in seiner Rechtsphilosophie auch beurteilen, ohne sich mit seiner theoretischen Philosophie befassen zu müssen, obwohl für das Verständnis und die Interpretation der grundlegenden Thesen dieser Arbeit eine Bekanntschaft mit diesen Grundgedanken notwendig ist. Da im Laufe der Untersuchung keine neuen Begriffe von außen hinzugefügt werden, sondern es nur der anfängliche Begriff ist, der seine Zweige explizit macht, nennt Hegel diese Methode immanent. Durch diese Methode „entwickelt sich der Begriff, immanent und bringt seine Bestimmungen hervor.“ Wir fangen mit dem ärmsten Begriff der Freiheit und den mit ihm zusammenhängenden rechtlichen Gestalten an (im Kapitel „Das abstrakte Recht“) und sehen zu, wie sich diese zwei Elemente der Idee der Freiheit weiter entwickeln: „Die Idee muss sich immer weiter in sich bestimmen, da sie im Anfang nur erst abstrakter Begriff ist. Dieser anfängliche abstrakte Begriff wird aber nie aufgegeben, sondern er wird nur immer in sich reicher, und die letzte Bestimmung ist somit die reichste.“ (PR § 32 Z) Durch diese dialektische Methode finden wir schlussendlich die Bestimmungen des Freiheitsbegriffs, und der am Anfang unbestimmte allgemeine Begriff macht uns die Notwendigkeiten eines freien Wollens und Handelns deutlich: „Das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik.“ (PR § 31 Anm.)82

81 82

Erläuterungen wird klar, was Hegel mit dem Ausdruck „das Wirkliche“ in dem Doppelsatz gemeint hat: Was wirklich ist, ist nicht jede Existenz in der wirklichen sozialen Welt; vielmehr ist das Dasein eine Gestalt, die der vernünftige Begriff der Freiheit in der Wirklichkeit annimmt, die rechtliche Gestalt: „Das, was wirklich ist, die Gestalt des Begriffs.“ (PR §32 Z) Vgl. Neuhouser, The Method of the Philosophy of Right, S. 25. „Die Methode, wie in der Wissenschaft der Begriff sich aus sich selbst entwickelt und nur ein immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen ist, […] ist hier gleichfalls aus der Logik vorausgesetzt.“ (PR § 31) Obwohl Hegel Platon als den ersten Denker anerkennt, der durch diese Methode zu philosophieren versuchte, unterscheidet er sein Verständnis von Dialektik von derjenigen Platons, weil dieser eine „negative Weise“ von Dialektik betrieben habe, mit dem Ziel, „das Gegenteil einer Vorstellung“ zu verdeutlichen, während für Hegel seine „höhere Dialektik“ dadurch gekennzeichnet ist, dass neben der Verdeutlichung der Beschränkung eines Begriffs im negativen Sinne gleichzeitig versucht wird, die positiven und notwendigen Seiten dieses Begriffs zu behalten bzw. aufzuheben. Durch diese Art und Weise

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Was wir dann durch diese Dialektik erreichen, ist kein beliebiges Bild von Freiheit. Hegel ist der Meinung, durch diese Methode offenbare sich die Wahrheit des Inhalts, hier der Freiheit: „Diese Dialektik ist dann nicht äußeres Tun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt.“ (PR § 31 Anm.) Was der Philosoph in der wissenschaftlichen Philosophie macht, ist die Explikation der Vernunft (Nous) in der Sache: „[D]ie Wissenschaft hat nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewusstsein zu bringen.“ (PR § 31 Anm.) Die Philosophie erzählt uns also die Geschichte, welche die Freiheit in Wahrheit durchreist, um ihre Bestimmungen durchsichtig zu machen. Als Philosophen dürfen wir in dieser Untersuchung keine Voraussetzungen machen, und genau deshalb ist eine solche Untersuchung für Hegel unverzichtbar. 3.7

Zusammenfassung

Fassen wir also die Entwicklung von Hegels „Einleitung“ zusammen, bevor wir die Hauptschritte seines Unternehmens betrachten. Das Hauptinteresse der „Einleitung“ galt der Frage, was unter einem freien Willen zu verstehen ist. Es wurde gesagt, dass ein Wille frei ist, wenn er sowohl kohärent bestimmt wird (freies Wollen) und die Inhalte dieses Wollens auch erfolgreich in die Wirklichkeit umgesetzt werden, damit dieses Dasein den subjektiven Zweck reflektiert. Für das erste Element der Freiheit, d. h. das freie Wollen, haben wir gesehen, dass man nur dann, wenn der allgemeine Zweck und seine Inhalte durch den „Begriff des Willens“ bestimmt werden, von einer Harmonie oder Einheit zwischen unserer allgemeinen Form (Zweck) und den besonderen Inhalten und daher von einem kohärenten Wollen sprechen kann. Im nächsten Schritt wurde das „Recht“ als die wirkliche Struktur bezeichnet, welche die Reflexion des freien Wollens ist. Daher sind die besonderen Rechtsverhältnisse die Bestimmungen für ein freies Handeln. Diese beiden Elemente der „Idee der Freiheit“ werden durch die dialektische Methode zu erkennen sein. Vor diesem Hintergrund kann dann auch die Skizze der Hauptkapitel der Grundlinien besser verstanden werden: A) Hegel beginnt mit dem „abstrakten Recht“, ohne irgendeine Bestimmung vorauszusetzen, mit einem ganz unbestimmten Begriff von Freiheit, mit können wir von einer „Entwicklung“ reden: „Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke und Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt und das Resultat hervorzubringen und aufzufassen, als wodurch sie allein Entwicklung und immanentes Fortschreiten ist.“ (PR § 31 Anm.)

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einem Willen, der seine Freiheit in seinen unendlichen Möglichkeiten sieht. Der Begriff ist an dieser Stelle arm und abstrakt und seine Bestimmungen sind noch nicht zum Ausdruck gekommen. Diesen Willen, der hauptsächlich die Eigenschaften der Willkür hat, nennt Hegel „unmittelbar“, weil an dieser Stelle der Wille außer einer abstrakten allgemeinen Gewissheit seiner Freiheit keine Maßstäbe für die Bestimmung seiner besonderen Inhalte hat. Dieser Wille hat zwar diese reine Gewissheit, dass er sich in vielen Weisen zu bestimmen in der Lage ist, er hat aber keine Kriterien zur Verfügung, um seine Inhalte konkret zu bestimmen. Ein solcher Wille bringt seine Objektivität im ersten Schritt in einer unmittelbaren Sache zum Ausdruck: „sein Begriff daher abstrakt, die Persönlichkeit, und sein Dasein eine unmittelbare äußerliche Sache; – die Sphäre des abstrakten oder formellen Rechts.“ (PR § 33) Am Ende dieses Kapitels – Unrecht und Verbrechen – erreichen wir den Punkt, wo eine Veränderung in unserer Willensform notwendig wird. Der Wille kann sich nicht mehr willkürlich bestimmen, sonst würde die Strafe notwendig durch eine außerhalb des Willens stehende Gewalt verhängt, was selbstverständlich mit der Selbstbestimmung und Freiheit konfligiert. Um frei zu sein, ist es notwendig für mich, meinen Willen innerlich und nicht durch einen äußerlichen Zwang nach den Prinzipien des Gerechten zu bestimmen. Das impliziert für Hegel die Notwendigkeit der innerlichen moralischen Selbstbestimmung als die nächste Form der Freiheit. B) Im „Moralitätskapitel“ wird der Wille „in sich reflektiert“ und versucht, sich nicht mehr unmittelbar und willkürlich, sondern im Rahmen des Gerechten zu bestimmen. Im Gegensatz zum „abstrakten Recht“, wo das Reich natürlicher Dinge als Sphäre der eigenen Freiheit betrachtet wird, wird hier der Wille auf die innerliche Seite gerichtet, und er erkennt seine Freiheit hauptsächlich in dieser innerlichen Bestimmung.83 In diesem Zusammenhang reflektiert das Subjekt über Ziele, Gründe und Prinzipien seiner Bestimmungen.84 Einerseits hat das Subjekt ein allgemeines Bild von sich und seinen Zwecken, andererseits entsteht die Notwendigkeit der innerlichen Selbstbestimmung nach 83 84

„In dieser Sphäre ist es, wo es auf meine Einsicht und Absicht und auf meinen Zweck ankommt, indem die Äußerlichkeit als gleichgültig gesetzt wird.“ (PR § 33 Z) Pippin sieht zu Recht den kantischen Einfluss auf Hegels Theorie der Freiheit, laut dem ich mich als frei ansehe und mit meinen Handlungen identifiziere, wenn ich für meine Handlungen Gründe habe: „And he accepts a Kantian point that such identification or non-alienation requires a certain sort of responsiveness to reason; what sort being the central question. Being able to ‚stand behind‘ a deed with justificatory reasons is how I can claim the deed as my own or ‚own up to it.‘“ Pippin, Robert: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, S. 121.

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allgemeinen moralischen Pflichten. Daher ist es erforderlich, dass das Individuum das, was es innerlich als „gut“ ansieht, in die objektive Welt umsetzt: „Das Gute, das hier der allgemeine Zweck ist, soll aber nicht bloß in meinem Inneren bleiben, sondern es soll sich realisieren.“ (PR § 33 Z) Das moralische Subjekt ist allerdings für Hegel nicht in der Lage, seinen Willen durch abstrakte Formeln oder gewissenhafte Überzeugungen dem Guten gemäß zu bestimmen, weil eine abstrakte Form nicht genügt, um bestimmte Willensinhalte oder moralische Pflichten herzustellen. Die wahre moralische Selbstbestimmung und Handlung sind nur dann möglich, wenn wir einsehen, dass bestimmte Grundinstitutionen und Normen der modernen Gesellschaft gut sind (und werden) in dem Sinne, dass in diesen und durch die sittlichen Beziehungen das Gute aller zum Ausdruck kommt und ein erfolgreiches moralisches Handeln nur in diesem wirklichen Kontext erreichbar ist.85 C) Die Wirklichkeit eines moralisch guten Willens ist noch unerfüllt, und dieser Wunsch ist der Grund des Übergangs zur Sittlichkeit. Der Einzelne will dem Guten gemäß handeln, abgesehen davon, dass die Realisierung dieses Willens selbst wiederum von bestimmten Grundnormen einer sozialen Welt abhängt, dass deren Grundstrukturen schon gut sind und dass das Gute nicht ausschließlich in seinem subjektiven Willen liegt. Wir können nicht von null anfangen und alles gut machen; das Gute ist (und wird) immer schon in dieser Welt. Erst hier kann man von bestimmten moralischen Inhalten sprechen, die in der Form eines sittlichen Willens zu Handlungen führen. Hegel unternimmt im Kapitel zur Sittlichkeit den Versuch, die Harmonie zwischen dem subjektiven und dem allgemeinen Guten in ihren Grundinstitutionen darzustellen, was nicht nur in dem Bewusstsein, sondern in der Wirklichkeit existiert: „die Einheit und Wahrheit dieser beiden abstrakten Momente, – die gedachte Idee des Guten realisiert in dem in sich reflektierten Willen und in äußerlicher Welt; – so dass die Freiheit als die Substanz ebenso sehr als Wirklichkeit und Notwendigkeit existiert wie als subjektiver Wille; – die Idee in ihrer an und für sich allgemeinen Existenz; die Sittlichkeit.“ (PR § 33) Was 85

Durch diese Einsicht hebt sich die „Entzweiung“ zwischen dem subjektiven Standpunkt und der wirklichen Welt auf, die in der Moralität einander entgegenstehen: „der Wille aus dem äußeren Dasein in sich reflektiert, als subjektive Einzelheit bestimmt gegen das Allgemeine, – dasselbe, teils als Inneres, das Gute, teils als Äußeres, eine vorhandene Welt, und diese beiden Seiten der Idee als nur durch einander vermittelt; die Idee in ihrer Entzweiung oder besonderen Existenz, das Recht des subjektiven Willens im Verhältnis zum Recht der Welt und zum Recht der, aber nur an sich seienden, Idee; – die Sphäre der Moralität.“ (PR § 33)

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der Begriff (das Vernünftige) der Freiheit fordert, ist schon in einer Form wirklich; und was wirklich ist, ist die Wirklichkeit des Begriffs (des Vernünftigen). Wir müssen lediglich einsehen, wie die Grundstrukturen dieser Sittlichkeit sowohl das Gute des Individuums als auch das allgemeine Gute erfüllen und wie das Gute bereits in der Welt lebendig ist. Aus diesem Grunde ist die Sittlichkeit für Hegel die „Idee des Guten“ und die Wirklichkeit der Freiheit.

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Persönlichkeit als die erste Form der Freiheit Wir haben gesehen, dass wir sowohl die vernünftig notwendigen Bestimmungen eines kohärenten Wollens als auch die damit zusammenhängenden Rechtsverhältnisse als den Raum unseres freien Handelns zu explizieren haben. Dadurch können wir zur Idee der Freiheit gelangen. Außerdem ist die Forderung der Voraussetzungslosigkeit, wie bereits bemerkt, ein Pfeiler unserer Untersuchung. Von daher sollten wir mit einem abstrakten Begriff – abstrakt in dem Sinne, dass seine Bestimmungen noch nicht explizit und er nur eine leere Allgemeinheit ist – anfangen und dann zusehen, wie sich der Begriff der Freiheit bestimmt. In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht voraussetzen, aus welchen Bestimmungen oder aus welchen Formen und besonderen Inhalten die Freiheit besteht. Im Folgenden werden wir genau mit diesen Bestimmungen der Freiheit zu tun haben. Die Struktur dieses Kapitels ist die folgende: І) Im ersten Schritt geht es um den anfänglichen abstrakten Begriff von Freiheit – Persönlichkeit. П) Neben den begrifflichen Bestimmungen werden sodann die wirklichen Gestalten der Persönlichkeit – d. h. die rechtlichen Verhältnisse, vor allem Eigentum und Vertrag – behandelt. III) Am Ende werden der Widerspruch dieser Form und die Notwendigkeit des Übergangs zum „Moralitätskapitel“ diskutiert. 4.1

Persönlichkeit1 und Willkür als anfängliche Begriffe der Freiheit

Wir haben oben erwähnt, dass wir den Anfang mit einem abstrakten Begriff eines freien Willens machen, das heißt, unser anfänglicher Begriff darf nicht voraussetzen, dass die Freiheit darin bestehe, dieses oder jenes zu tun. Jeder Rahmen für einen freien Willen ist eine Bestimmung, die unserer 1 Für Deutungen des Persönlichkeitsbegriffs, siehe Quante, Michael (1997): Die Persönlichkeit des Willens als Prinzip des abstrakten Rechts, in: Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Siep, Ludwig (Hrsg.), S.  73–94; Ritter, Joachim (2003): Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 34–51, in: Metaphysik und Metapolitik. S. 256–280; Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S. 97–147; Weisser-Lohmann, Elisabeth, Rechtsphilosophie als praktische Philosophie, Kapitel 4. Für eine Diskussion dieses Begriffes in der Moderne und seine Anknüpfung an Hegel siehe Stübinger, Stephan (2014): Hegel und das moderne Verständnis der Person im Recht, in: Autonomie und Normativität: Zu Hegels Rechtsphilosophie. Seelmann, Kurt und Zabel, Benno (Hrsg.), S. 69–96.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_005

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Kapitel 4

Untersuchung von außen auferlegt wird. Der Wille wird daher an dieser Stelle „in seinem abstrakten Begriff“ verstanden. Unser Ziel ist es, diese Willensbestimmungen in dem Begriff der Freiheit als die Domäne unserer Bestimmungen zu explizieren: „[…] alle Bestimmungen sind zwar in ihm enthalten, aber auch nur enthalten: sie sind nur an sich und noch nicht zur Totalität in sich selbst entwickelt.“ (PR § 34 Z) Hegels dialektische Untersuchung ist als ein immanentes Fortgehen zu bezeichnen, in dem keine Voraussetzungen gemacht werden können, sondern wir müssen nur zusehen, wie sich der Begriff der Freiheit entwickelt. Tatsächlich gehe es hier, so Quante, um eine teleologische Konzeption des Willensbegriffs, in der wir von einem minimalen freien Willen anfangen und beobachten, wie sich dieser anfängliche Willensbegriff weiterentwickelt und in sich reicher wird.2 Aber ist der Anfang mit der „Persönlichkeit“ nicht selbst schon eine Voraussetzung? Die Antwort ist negativ: Die Persönlichkeit ist der minimale Begriff der Freiheit, und in diesem Zusammenhang ist sie notwendig, weil ohne die Gewissheit, dass ich selbst als Person meinen Willen bestimme, überhaupt von keiner Freiheit die Rede sein kann. Eine Person ist ihrer Freiheit gewiss und sieht ihre Freiheit als eine allgemeine Möglichkeit darin, sich in unendlichen Weisen bestimmen zu können. Für den Willen der Person gibt es keine Notwendigkeit, kein Sollen, keine notwendigen Bestimmungen, keinen Rahmen. Dieser Wille ist also nur eine abstrakte Allgemeinheit und in diesem Sinne ohne irgendeine Bestimmung und Voraussetzung – also nur eine reine Gewissheit –,3 während z. B. ein moralischer Wille, der für Hegel eine entwickeltere Stufe der Freiheit bezeichnet, ein bestimmter Wille in einem bestimmten Rahmen ist: „Wenn ich sage, ich bin frei, so ist Ich noch dieses gegensatzlose Insichsein, dagegen im Moralischen schon ein Gegensatz ist, denn da bin ich als einzelner Wille, und das Gute ist das Allgemeine, obgleich es in mir selbst ist.“ (PR § 34 Z) Die Person ist nur eine allgemeine Möglichkeit der Freiheit ohne konkrete positive Bestimmungen und irgendwelche notwendigen Prinzipien. 2 Vgl. Quante, Michael, „Die Persönlichkeit des Willens“ als Prinzip des abstrakten Rechts, in: Siep (Hrsg.), Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 74. Auch Siep, Ludwig, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 101. Schnädelbach bezeichnet die Persönlichkeit zu Recht als die Grundlage der Freiheit, die aber auch ganz unbestimmt ist. Näher siehe Schnädelbach, Herbert, Hegels praktische Philosophie: ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, S. 203. Siehe zudem Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch: Leben, Werk, Schule, S. 377. 3 In dieser Hinsicht kann der Wille der Person mit der Kategorie des „Seins“ am Anfang der Logik Hegels verglichen werden, welche abstrakt ist in dem Sinne, dass ein abstrakter Begriff ohne weitere Bestimmungen vorliegt, was sich aber dann im Lauf des Fortgangs weiterentwickelt und die in sich schon impliziten Bestimmungen darstellt. Siehe Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S. 97.

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Die Persönlichkeit als der anfängliche Begriff der Freiheit, der nie aufgegeben, sondern ständig weiter expliziert wird, übernimmt, mit Quante und Siep gesprochen, eine „Doppelfunktion“: Zum einen hat die Persönlichkeit als ein „Teilprinzip“ die Aufgabe, die Quelle der Inhaltsbestimmungen der Sphäre des „abstrakten Rechts“ zu sein, wodurch die Rechtsverhältnisse Eigentum und Vertrag und deren Notwendigkeit begründet werden. Zum anderen ist die Persönlichkeit auch ein „Universalprinzip“, das dem gesamten Gange der Rechtsphilosophie zugrunde liegt. In diesem zweiten Sinne bleibt die Persönlichkeit – trotz ihrer Entwicklung und Weiterbestimmung – bis zum Ende die Basis, auf die sich die Idee der Freiheit gründet und ausgehend von der sie sich vollendet.4 Die Persönlichkeit ist eine allgemeine Form der Freiheit – selbst ohne Bestimmungen – ohne besondere Inhalte. Sie weiß nur, dass sie frei ist: „Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewusste, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person.“ (PR § 35) Meine Freiheit als Person ist die Möglichkeit, mich in jeder Art bestimmen zu können, wie ich will. Für mich als ein allgemeines Selbstbewusstsein ist nur das, was ich mir bestimme, gültig: „Die Persönlichkeit fängt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewusstsein überhaupt von sich hat als konkretem, auf irgendeine Weise bestimmtem, sondern vielmehr ein Selbstbewusstsein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist.“ (PR § 35 Anm.)5 In der Tat ist der persönliche 4 Siehe Quante, ebd., S. 74 f.: „Als das Moment der Allgemeinheit (§ 35) ist sie einerseits unverzichtbarer Bestandteil jeder Stufe des an und für sich freien Willens; andererseits wird dieses Moment der Allgemeinheit selbst im Laufe der Willensteleologie auch ‚konkreter‘, so dass die Bestimmungen der Persönlichkeit selbst einen Differenzierungs- und Anreicherungsprozess durchlaufen.“ Siehe auch Siep, ebd., S. 99 f. 5 Persönlichkeit war im römischen Recht gebunden an den sozialen Status der Menschen, der bestimmte, ob jemand Person sein konnte oder nicht. Geschichtlich gesprochen liegt der erste Ursprung des Prinzips der Persönlichkeit, Hegels Auffassung nach, im Christentum. Hier sind es nicht mehr Faktoren wie etwa die Familie, die den Status der Individuen bestimmen. Jeder ist gleich vor Gott und jedes Individuum hat einen unendlichen Wert, ist Gegenstand der Liebe Gottes: „Der wahrhafte Grund, weshalb es im christlichen Europa keine Sklaven mehr gibt, ist in nichts anderem als im Prinzip des Christentums selbst zu suchen. Die christliche Religion ist die Religion der absoluten Freiheit, und nur für den Christen gilt der Mensch als solcher, in seiner Unendlichkeit und Allgemeinheit.“ (Enz § 161 Z1) In der Neuzeit liegt das Prinzip der Persönlichkeit als Grundlage der Rechtsfähigkeit nicht mehr im besonderen Status, sondern ist allen zuzusprechen. In diesem Sinne sind alle Personen mit Rechten ausgestattet. In der Tat setzte sich diese Grundlage der Freiheit in der modernen Gesellschaft in die Wirklichkeit um. Die Menschen werden nicht mehr als Sklaven oder Sachen behandelt, weil alle diese Fähigkeit der Freiheit in sich haben.

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Wille, da er nur eine allgemeine Form ohne weitere Bestimmungen ist, der „Willkür“ gleichzusetzen, weil ein willkürlicher Wille auch in sich keine Grenzen erkennt und sich in den unendlichen Hinsichten selbstbestimmend findet. (Enz § 492) Diese allgemeine Form ist jedoch abstrakt und kann nicht in der Bestimmung der Inhalte wirksam sein. Obwohl diese allgemeine Form ein großer Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist, ist sie für Hegel nicht die endgültige Form, und wir sehen im Laufe der Grundlinien, wie sich diese abstrakte Form zu höheren Formen der Selbstbestimmung entwickelt. Wie Hegel im § 5 sagt, kann der Mensch seinen Willen als ein allgemeines Vermögen ansehen und sich von jeder Bestimmung abstrahieren: „Die Person ist also das Subjekt, für das diese Subjektivität ist, denn in der Person bin ich schlechthin für mich: sie ist die Einzelheit der Freiheit im reinen Fürsichsein. Als diese Person weiß ich mich frei in mir selbst und kann von allem abstrahieren, da nichts vor mir als die reine Persönlichkeit steht […]“ (PR § 35 Z)6 Es ist durch dieses allgemeine Bewusstsein der Freiheit, durch das Bewusstsein, dass man in sich frei ist und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung hat, dass man „Person“ genannt werden kann. Sklaven und Kindern fehle dieses Selbstbewusstsein: „Individuen und Völker haben noch keine Persönlichkeit, insofern sie noch nicht zu diesem reinen Denken und Wissen von sich gekommen sind.“ (PR § 35 Anm.)7 Der Mensch, der nicht zu der Einsicht gekommen ist, dass er ein geistiges Wesen ist, und der nicht diesen Selbstbezug oder dieses Selbstverhältnis in sich hat, verdient laut Hegel tatsächlich, ein Sklave genannt zu werden. Es könne nur dann von menschlicher Freiheit sowie von seinem Rechtsstatus die Rede sein, wenn der Mensch zu diesem minimalen Bewusstsein seiner Freiheit, zu diesem Wollen gekommen sei. Der Standpunkt der Freiheit fange erst mit diesem minimalen und gleichzeitig grundlegenden Bewusstsein an.8 Wenn alle Personen dieses Element der Allgemeinheit in sich haben, stellt sich die Frage, was denn die einzelnen Personen voneinander unterscheidet. Neben dieser Fähigkeit der Allgemeinheit, durch die sich die Person von jedem 6 Laut Sieps besteht dieser allgemeine Aspekt der Persönlichkeit in der Fähigkeit des „Neinsagen-Könnens“. Sehe Siep, Ludwig, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 101. 7 Zur Hervorhebung der „Allgemeinheit“ des Willens als Grundlage der Persönlichkeit und Rechtsfähigkeit heißt es auch: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewusstsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, dass Ich als allgemeine Person aufgefasst werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf.“ (PR § 209 A) Vgl. Ritter, Joachim, Person und Eigentum. Zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 34–81). 8 „Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus.“ (PR § 57)

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Inhalt abstrahiert und von keiner anderen Person oder etwas bestimmen lässt, hat die Person gleichzeitig in sich Bestimmungen, die sie von anderen Personen unterscheidet. Zum einen hat diese Person bestimmte besondere Eigenschaften: „Als diese Person weiß ich mich frei in mir selbst und kann von allem abstrahieren, da nichts vor mir als die reine Persönlichkeit steht, und doch bin ich als Dieser ein ganz Bestimmtes: so alt, so groß, in diesem Raume, und was alles für Partikularitäten noch sein mögen.“ (PR  § 35 Z) Zum anderen weiß man in seinem Bewusstsein von sich, dass man von den anderen zu unterscheiden ist. Man hat die eigenen Begierden, Interessen usw. Insofern ist man eine einzelne Person, welche die anderen ausschließt und eine einzelne Entität ausmacht. Es sind genau diese zwei Eigenschaften, d. h. die sich von jeder Bestimmung abstrahierende Allgemeinheit und die ausschließende Einzelheit mit bestimmten Charakteristika, welche Hegels Definition des selbstbewussten Ich in der Wissenschaft der Logik zugrunde liegen: „Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit; Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist und dadurch alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es ausschließt; individuelle Persönlichkeit.“ (WL, Bd. 2, S. 253) Hegel verdeutlicht, wie er am Anfang von jedem der drei Hauptkapitel skizziert, die Eigenschaften des persönlichen Willens in den nächsten drei Abschnitten wie folgt: I) Da das Recht für Hegel das Dasein der Freiheit bzw. des freien Willens ist und die Person diese Fähigkeit der Freiheit hat, wird ihr auch die Fähigkeit, Rechte zu haben, zugesprochen. Personen haben genau deswegen Rechte, weil sie ihrer selbst als freie Wesen bewusst sind und einen freien Willen haben: „[D] ie Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit“ (PR § 36), während die Tiere keinen freien Willen und deswegen keine Rechte haben: „[D]as Tier hat auch Dasein, aber dies ist nicht zu respektieren, weil es nicht das Dasein eines freien ist“.9 Das Rechtsgebot „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“, gelte nur für Personen, weil nur Personen als freie Wesen zu respektieren seien. (PR § 36) Allerdings ist die Bestimmung des Rechts, da an dieser Stelle die Bestimmungen der Freiheit noch implizit sind, noch abstrakt und negativ in dem Sinne, dass die persönlichen Rechte anderer nicht zu verletzen 9 Vorlesungen, Bd. 4, S. 173.

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sind. Aus diesem Grund wird den Personen befohlen, diese abstrakte persönliche Freiheit der anderen zu respektieren. Folglich ist die einzige normative Forderung an die Individuen an dieser Stelle das Nicht-Verletzen der Rechte anderer.10 II) Aber die Person erfüllt nach Hegel noch nicht die Bedingungen der Freiheit, denn der Begriff der Freiheit ist in ihr abstrakt und noch unbestimmt, und was übrig bleibt, sind nur willkürliche Bestimmungen des persönlichen Willens. Eben genau deshalb, weil die Form und der Inhalt als Bestandteile der Willensbestimmung nicht im Wollen der Person bestimmt und noch implizit (an sich) sind, fehlt ihr nach Hegel die Besonderheit des Willens: „2. Die Besonderheit des Willens ist wohl Moment des ganzen Bewusstseins des Willens (§ 34), aber in der abstrakten Persönlichkeit als solcher noch nicht enthalten.“ (PR § 37) Das bedeutet, dass der Wille der Person notwendigerweise bestimmt werden muss, weil Bestimmtheit ein Element des Willens ist. Diese Bestimmung erfolgt aber nicht durch uns selbst, sondern willkürlich durch die Natur der Person sowie die jeweiligen Umstände, denn wie schon im letzten Kapitel gesagt, ist die Willkür dadurch von einem unmittelbaren oder natürlichen Willen unterschieden, dass in ihr der Wille nur eine allgemeine Gewissheit über seine Freiheit hat. Wenn aber ein willkürlicher Wille die besonderen Inhalte bestimmen möchte, ist diese Allgemeinheit – weil nur abstrakt – nicht in der Lage, der Maßstab der Inhalte zu sein. Daher werden die Inhalte durch innere Natur oder äußerliche Umstände gegeben und in diesem Sinne bleibt dieser Wille tatsächlich unmittelbar bestimmt. Mit anderen Worten: Der persönliche Wille weiß sich nur als eine abstrakte Allgemeinheit. Wenn aber diese allgemeine Form zur Bestimmung der Inhalte fortgeht, kann sie nicht effektiv sein, weil außer dieser reinen Abstraktion keine anderen Kriterien für die Bestimmung der Inhalte existieren. Diese Form kann daher kein allgemeiner Rahmen für die Inhalte sein, weil es hier um eine abstrakte Vorstellung der Freiheit geht, die ohne Inhalte der Freiheit und in diesem Sinne leer bleibt. Also haben wir es mit einem Willen zu tun, der sich von allem abstrahieren kann, aber weil diese allgemeine Form nicht bei der Bestimmung der Inhalte wirksam ist, werden die Inhalte in der Tat nicht durch die Person selbst, sondern durch ihre Natur oder durch äußere Umstände bestimmt. In diesem Sinne wird dieser Wille unmittelbar oder durch die Natur 10

Es geht hier tatsächlich nicht darum, die Beziehungen der Personen miteinander positiv zu regulieren, sondern nur darum, die Rechte anderer nicht zu verletzen: „Das eben angedeutete Rechtsgebot kann auch so ausgedrückt werden: Respektiere die abstrakte Freiheit anderer. Das Verhältnis gegen andere ist, insofern negativer Natur, und es gibt deshalb keine Rechtsgebote, sondern nur Verbote.“ Nachschrift Anonymus, S. 69 f.

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bestimmt. Die Bestimmtheit in der Person „ist daher zwar vorhanden, aber als von der Persönlichkeit, der Bestimmung der Freiheit, noch verschieden, Begierde, Bedürfnis, Triebe, zufälliges Belieben usf.“ (PR § 37) III) Bis hierher wissen wir, dass der persönliche Wille eine abstrakte allgemeine Form ist, dessen Wesentlichkeit darin besteht, sich potenziell in unendlichen Weisen bestimmen zu können. Außerdem wissen wir bereits, dass das Wollen nur dann überhaupt ein Wille sein kann, wenn es sich von der subjektiven Welt in die objektive Welt übersetzt und wirklich wird: „Die Person muss sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.“ (PR § 41) Und wir haben auch schon gesehen, wie der persönliche Wille begrifflich aufgebaut ist. Was ist nun das Reich der Verwirklichung dieses Willens? Für Hegel bleibt der Person eine einzige Möglichkeit: das Reich der Natur. Die einzige Sphäre, in der dieser eigentlich unmittelbare oder durch die Natur bestimmte Wille seine Wirklichkeit reflektieren kann, ist die Welt der Natur, die selbst unmittelbar ist: „Wenn auch diese erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache, somit eine schlechte Realität ist, so kann die abstrakte Persönlichkeit eben in ihrer Unmittelbarkeit kein anderes Dasein als in der Bestimmung der Unmittelbarkeit haben.“ (PR § 41 Z) Was bleibt dem persönlichen Willen für seine Wirklichkeit außer die Welt der unmittelbaren Sachen und Gegenstände? In der Tat, bevor wir uns mit der Frage befassen, warum das Eigentum für Hegel privat sein soll, sollten wir diesen Punkt bei Hegel zu verstehen versuchen, der der Notwendigkeit des Privateigentums als der ersten Rechtserscheinung zugrunde liegt. Erst nach diesem Grundgedanken erreichen wir eine höhere Stufe der Selbstbestimmung, die hauptsächlich auf unsere Handlungen gerichtet ist und das Thema der Moral ausmacht. Hier hingegen geht es noch um eine anfängliche Form der Selbstbestimmung, für welche der Reichtum der innerlichen Selbstbestimmung noch nicht ersichtlich geworden ist und der Wille seine Inhalte unreflektiert bestimmt. Da sich hier die notwendigen Bestimmungen der Freiheit noch nicht explizit gemacht haben und der persönliche Wille sich durch seine abstrakte Gewissheit zu bestimmen hat, bleibt diesem unmittelbaren Willen für die Konkretisierung seiner Inhalte nichts übrig als die unmittelbare Sphäre der Natur. Also ist der unmittelbare Wille der Person keiner höheren Wirklichkeit fähig als der der unmittelbaren Sachen in der Natur. Weshalb kann die Person den Anspruch erheben, der Sphäre der Natur überlegen zu sein und sie als Mittel der Verwirklichung ihrer Freiheit zu betrachten? Was Hegel hier zugrunde legt, ist die besondere Eigenschaft des Willens, die der Natur fehlt. Die Person hat – im Gegensatz zur Natur – einen freien Willen: „Alle Dinge können Eigentum des Menschen werden, weil dieser freie Wille und als solcher an und für sich ist, das Entgegenstehende aber diese

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Kapitel 4

Eigenschaft nicht hat.“ (PR § 44 Z) Obwohl dieser Wille nur der anfängliche abstrakte Begriff der Freiheit ist, steht er für Hegel dennoch auf einer höheren Stufe als die Welt der Natur; das heißt, die Person ist selbst zwar ein Teil der natürlichen Welt, steht aber zugleich über den anderen Teilen der Natur, welche ein solches Bewusstsein von sich nicht haben. Aus dieser Sicht ist der Mensch Herr über die Natur.11 Als Zusammenfassung kann man sagen, dass der persönliche Wille, da er nur eine abstrakte Gewissheit und ohne konkrete Bestimmungen ist, unmittelbar bestimmt wird und dass das dafür geeignete Dasein für Hegel die unmittelbare Sphäre der Natur ist, die durch die Personen in Besitz genommen werden kann, weil die Natur nicht zum Bewusstsein der Freiheit und des Selbstzwecks gelangt ist. Mit anderen Worten ist die Form des persönlichen Willens Willkür oder eine abstrakte Allgemeinheit; deswegen werden die Inhalte ohne Hilfe seitens der Form unmittelbar – durch innere Natur oder äußere Umstände – bestimmt. Die geeignete Sphäre der Wirklichkeit für diesen unmittelbaren Willen ist von daher die unmittelbare Sphäre der Natur. Wie kommt aber hier die „Rechtsbestimmung“ als die Wirklichkeit unseres Wollens zum Ausdruck? Es ist klar, dass das Recht als die Sphäre meiner Handlungsfreiheit von allen anderen Respekt für die unmittelbaren Sachen, die der Ausdruck meines Wollens sind, fordern muss: „Das Recht ist zuerst das unmittelbare Dasein, welches sich die Freiheit auf unmittelbare Weise gibt.“ (PR § 40) In diesem Licht taucht die Notwendigkeit des „Eigentumsrechts“ auf, und es ist genau diese Beziehung des persönlichen Willens zu der unmittelbaren Sache, die dem Eigentumsrecht zugrunde liegt. Dessen verschiedene Bestimmungen bilden daher auch das Hauptthema dieses Kapitels.12 Die Analyse dieses Zusammenhangs erfolgt in drei Schritten: α) Zunächst beschäftigen wir uns mit der Frage, warum das Eigentum für Hegel die erste wirkliche Erscheinung der Freiheit ist? 11

Die Tatsache allein, dass der Mensch lebendig ist, verleiht ihm diese Überlegenheit nicht, weil es noch andere Wesen in der Natur gibt, die auch lebendig sind. Es ist allein durch Freiheit und die Fähigkeit, selbst die eigenen Zwecke für sich bestimmen zu können, dass der Mensch eine so hervorgehobene Position verdient: „Mensch Herr über alles in der Natur – nur durch ihn Dasein als der Freiheit – Es hat keine Seele für sich, ist nicht Selbstzweck – selbst lebendige Natur nicht – nur der Mensch als frei, – nicht als lebendig.“ (PR § 39 RN) 12 Im ganzen Kapitel geht es um das Recht auf die unmittelbare Sache und seine weiteren Bestimmungen. Hegel fasst die drei Teile des Kapitels „Das abstrakte Recht“ durch die folgenden Fragen zusammen: „Es soll etwas mein werden, Die erste Frage: Wie wird etwas mein? Die zweite Frage: Wie wird etwas mein, welches schon das Eigentum eines Anderen ist? Die dritte Frage: Wie wird mein Eigentum, das mir entrissen worden ist, gegen Unrecht und Verbrechen wieder mein?“ Vorlesungen, Bd. 4, S. 178.

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Warum muss mein Besitz notwendig eine rechtliche Erscheinung annehmen und mein Eigentum werden. β) Im zweiten Schritt werden wir nachvollziehen, wie nach Hegel dasjenige rechtliche Verhältnis zur Erscheinung kommt, durch welches das Eigentum eines anderen meins werden kann, d. h. der „Vertrag“. γ) Im letzten Schritt antworten wir auf die Frage, was der Begriff der Freiheit im Falle von Rechtskollisionen fordert. Was benötigt der Begriff der Freiheit, wenn die Rechte der Personen miteinander in Kollision treten, also im Falle von „Unrecht und Verbrechen“? (PR § 40) 4.2

Rechte des abstrakten Willens der Person

4.2.1 Eigentumsrecht Privateigentum wird in der politischen Philosophie ganz allgemein auf zwei unterschiedliche Arten gerechtfertigt:13 Einmal wird die Institution des Privateigentums instrumentell betrachtet. Ihr wird kein wesentlicher Wert zugewiesen, sondern es dient nur als Mittel zu anderen Zwecken. Durch das Privateigentum steht der Person demnach eine Sphäre zu, in der nicht nur die Intervention anderer ausgeschlossen ist, sondern es ermöglicht Personen auch, ihre Ziele und Zwecke oder ihre Vorstellung von einem guten Leben zu verwirklichen. Auf der anderen Seite stehen die Theoretiker, die das Eigentum für die Selbstentwicklung der Persönlichkeit für notwendig erachten. Nach diesen Theorien, in denen das Eigentum eng mit der menschlichen Arbeit verbunden wird, ist das gegenüberstehende Objekt kein beliebiges Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses oder eines anderen Ziels; es reflektiert vielmehr den Willen. Man sieht seine Persönlichkeit in diesem Objekt verwirklicht und das Objekt als Ausdruck des Willens reflektiert unsere Fähigkeit zur Willensbestimmung, oder es zeigt, dass man in der Lage ist, ein wirkliches Objekt unter seinen Willen zu subsumieren und ihm die Form des eigenen Willens zu geben. Hegel gehört jedenfalls nicht zur ersten Gruppe, vielmehr kann seine Position als der zweiten Strömung nahestehend betrachtet werden. In zusammengefasster Form können die Grundzüge von Hegels Argument für die Notwendigkeit des Privateigentums für die Freiheit der Person wie folgt rekonstruiert werden: 1) Jeder ist eine Person mit Rechtsfähigkeit, weil jeder in der Lage ist, sich als einen allgemeinen, selbstbestimmenden Willen anzusehen. Die Persönlichkeit und die damit zusammenhängende Rechtsfähigkeit hängen von diesem Willensvermögen oder Bewusstsein der Freiheit ab. 13

Siehe Ryan, Alan (1984): Property and political theory, S. 7 ff.

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Weil nach jeder Begriffsbestimmung auch deren objektive Erscheinung zu betrachten ist und die innere Willensbestimmung sich in die Wirklichkeit umsetzen muss, um über das einseitige Wollen im Bewusstsein hinauszugehen und somit „Idee“ oder objektive Freiheit zu werden, brauchen wir eine objektive Sphäre der Verwirklichung dieses Willens. Der Wille ist hier nur ein unmittelbarer Wille, deswegen bleibt ihm nur eine minimale Stufe der Wirklichkeit für seine Verwirklichung, nämlich die unmittelbare Sphäre der Natur, in der sich der persönliche Wille realisieren und sie, die unmittelbar vorgefunden wird, sich aneignen kann.14 Jede Person ist zwar eine Allgemeinheit wie die anderen, aber gleichzeitig eine besondere Person, welche die anderen von sich ausschließt. Aus diesem Grund sollte ihr Eigentum der Ausdruck ihrer eigenen Freiheit sein und ihre besondere Persönlichkeit reflektieren. Dadurch kommen wir zur Notwendigkeit des Privateigentums.

3)

4)

Für das Verständnis, warum das Privateigentum als das erste Grundrecht notwendig für die individuelle Freiheit bei Hegel ist, ist es erstens wichtig, sich seine grundlegende These vor Augen zu führen, welche besagt, dass der Wille sich dadurch vom reinen Selbstbewusstsein unterscheidet, dass er eine Veränderung in der wirklichen, objektiven Welt zustande bringt. Es liegt notwendig im Begriff des Willens, einen wirklichen Zustand hervorzubringen. Solange durch den Willen kein wirklicher Zustand erfolgt, sind wir im Zustand des reinen Bewusstseins. Es muss erst etwas durch meinen Willen zustande gebracht werden, damit ich und die anderen dieses Ereignis als Manifestation meines Willens bezeichnen können. Demnach ist eine minimale Wirklichkeit oder Objektivität meines Willens gefordert, die wir meinem Willen zuweisen können. Diese wirkliche Erscheinung wird dann als Reflexion meines Willens oder Wirklichkeit meiner Zwecke zugleich auch mir zugewiesen. Was tatsächlich durch das Eigentum zustande kommt, ist also genau diese wirkliche Seite meines Willens und die Aufhebung der „bloße[n] Subjektivität der Persönlichkeit.“ (PR § 41 Z) Es ist zweitens auch wichtig zu beachten, dass hier von einem Willen die Rede ist, der eine unmittelbare Bestimmung hat. Nur weil der Wille der Person noch unmittelbar und natürlich ist, liegt auch seine Verwirklichung in der Sphäre des Natürlichen. Nun, da die erste Begriffsbestimmung expliziert geworden ist, entsteht die Frage: Durch welches Rechtsverhältnis erreicht die Person die Anerkennung ihrer Handlungsfreiheit? Was fordert unser Rechtsgebot, gemäß dem jeder 14

„Seine Realität, Gegenständlichkeit hat noch gar keinen eignen Inhalt, der aus sich selbst bestimmt wäre, – im Gegenteil für sich – Realität also selbst unmittelbar“ (PR § 34 RN).

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diese persönliche Freiheit anderer respektieren muss? Das „Eigentumsrecht“, so lautet Hegels Antwort. Das Eigentum ist für Hegel nämlich dadurch gerechtfertigt, dass es das erste Dasein der Freiheit ist, worin die Person sich objektiv reflektiert und ihrer Freiheit eine wirkliche vernünftige Gestalt gibt. Die wesentliche Funktion des Eigentums besteht für Hegel tatsächlich nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse; vielmehr ist es ein Zeichen der Freiheit: „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, dass sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft.“ (PR § 41 Z)15 Die erste Sache16, die als Eigentum einer Person, als Reflexion ihres freien Willens angesehen wird, ist der Körper der Person. Der Körper ist überhaupt dasjenige, in dem nicht nur die Persönlichkeit „für andere“ sichtbar wird, sondern er ist zugleich die notwendige Brücke für das Umsetzen des Willens in die wirkliche Welt ist. Zudem unterscheidet sich der menschliche vom tierischen Willen in Bezug auf den Körper, und zwar dahingehend, dass die Menschen ganz im Gegensatz zu den Tieren das Leben für einen Zweck aufgeben können. Der Körper ist mein Eigentum, weil ich ihn wollen kann. Ich kann meinen Leib und mein Leben wollen, ich kann mein Leben aber auch beenden: „Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur, insofern es mein Wille ist.“ (PR § 47) Und da wir Rechte haben, insofern wir einen Willen haben – Recht als Dasein des freien Willens –, haben wir auch ein Recht auf unser Leben, während die Tiere dieses Vermögen nicht haben: „Die Tiere haben sich zwar im Besitz: ihre Seele ist im Besitz ihres Körpers; aber sie haben kein Recht auf ihr Leben, weil sie es nicht wollen.“ (PR § 47 Z) In der Außenwelt hat die Person potenziell ein „Zueignungsrecht“ auf alle Sachen, und es sind ausschließlich Personen, denen diese Fähigkeit 15

16

„Eigentum zu haben, erscheint in Rücksicht auf das Bedürfnis, indem dieses zum Ersten gemacht wird, als Mittel; die wahrhafte Stellung aber ist, dass vom Standpunkte der Freiheit aus das Eigentum, als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck für sich ist.“ (PR § 45) Avineri hat meines Erachtens recht, wenn er die Notwendigkeit des Eigentums in Hegels Theorie nicht als Mittel der Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern darin sieht, dass unsere Persönlichkeit darin zum Ausdruck kommt und die Sache als Reflexion des persönlichen Willens deswegen Anerkennung von anderen fordert. Siehe Avineri, Shelomoh, Hegel’s Theory of the Modern State, S. 135 f. Ganz ähnlich auch Franco, Paul: Hegel’s Philosophy of Freedom, S. 198 f. Eine Sache ist für Hegel das, was der Freiheit (also der Persönlichkeit und ihren Attributen) nicht fähig ist; deswegen haben die Sachen keine Rechte und können als Eigentum der Personen angesehen werden: „Das von dem freien Geiste unmittelbar Verschiedene ist für ihn und an sich das Äußerliche überhaupt – eine Sache, ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses.“ (PR § 42) Oder: „Da der Sache die Subjektivität abgeht, ist sie nicht bloß dem Subjekte, sondern sich selbst das Äußerliche.“ (PR § 42 Z)

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zuzusprechen ist. Was die Person von Sachen unterscheidet und ihr das „Zueignungsrecht auf alle Sachen“ gibt, ist die Tatsache, dass die Menschen, wie schon gesagt, „Selbstzweck“ und „die unendliche Beziehung ihrer auf sich selbst“ sind. Die Menschen können sich und die eigene Freiheit zum Zweck haben. Sie können sich Zwecke setzen und der Realisierung des Zwecks nachgehen, während die Sachen nur einem Zweck dienen. Die Implikation all dessen ist, dass die Person, um überhaupt frei sein zu können, in erster Linie den eigenen Körper unter den eigenen Willen stellen muss. In der Tat muss mein Körper mir gehören, damit ich meinen Willen in die objektive Welt umsetzen kann. Die nächste Reflexion des Willens kommt dann in den Sachen zum Ausdruck. (PR § 44) Als Nächstes sollte das Dasein des persönlichen Willens als Ausdruck dieses Willens durch andere Personen anerkannt werden. In diesem Licht unterscheidet Hegel zwischen „Besitz“ und „Eigentum“: Ich besitze etwas, wenn „ich etwas in meiner selbst äußeren Gewalt habe“, und mit dieser Definition kann das Tier auch etwas im Besitz haben, z. B. wenn ein Löwe ein Stück Fleisch in seinen Klauen hat. Aber Eigentum hat eine andere Bedeutung: Ich bin ein Eigentümer, weil ich einen freien Willen habe und die Sache die Freiheit und den Zweck reflektiert, den ich in sie gesetzt habe. Demnach ist das Eigentum eine Art von Besitzen, die einer Entität mit einem Willen zuzusprechen ist und den Respekt anderer fordert: „Die Seite aber, dass Ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus.“ (PR § 45) Warum aber spricht Hegel von der Notwendigkeit des Privateigentums?17 Wie schon diskutiert, kann sich die Person zwar unendlich auf sich beziehen 17

Wenn vom Privateigentum die Rede ist, erinnert man sich zunächst an Platon als sehr bedeutenden Gegner dieser Position. Daher fühlt sich Hegel auch verpflichtet, einen Verweis auf diesen großen Vorgänger zu machen: „Die Idee des Platonischen Staats enthält das Unrecht gegen die Person, des Privateigentums unfähig zu sein, als allgemeines Prinzip.“ Platons politische Philosophie ist für Hegel einseitig, weil er „die Natur der Freiheit des Geistes und des Rechts verkennt“. Denn für ihn steht nur das „Recht der Allgemeinheit“ im Vordergrund, in dem kein Raum für Persönlichkeit bleibt – „Er ist nur bei der Sittlichkeit in ihrer Einseitigkeit stehengeblieben“ –, die aber für Hegel einen Pfeiler der modernen Freiheit der Individuen ausmacht. Hegels Ansicht nach versuchte Platon in seiner Politeia alle Prinzipien, die seiner Ansicht nach zur Zerstörung der Einheit mit der Sittlichkeit führen konnten, aufzuheben. Hegel fängt hingegen nicht mit dieser Perspektive, sondern mit dem Begriff der Freiheit an und zeigt dadurch, dass das „Privateigentum als das erste Dasein derselben“ (der Freiheit) für die politische Theorie notwendig ist: „So ist zu bemerken, dass wenn die Sittlichkeit wahrhafte Freiheit in sich haben soll, die Subjekte für sich sind, so dass sie Person sind und Eigentum besitzen, so dass die Sittlichkeit selbst zur Person fortgeht.“ Vorlesungen, Bd. 4, S. 189.

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und Zwecke für sich bestimmen. Sie ist aber trotz dieser Allgemeinheit eine ausschließende Einzelheit, d. h. sie ist für sich unterschieden von den anderen, und diese Unterschiede führen zu unterschiedlichen innerlichen Willensbestimmungen und Zwecken. Wie wir bereits wissen, besteht der Zweck des Eigentums für Hegel darin, dem Dasein des Willens eine rechtliche Form zu geben. Es ist deutlich, dass diese innerliche Willensfähigkeit und subjektive Unendlichkeit einer einzelnen Person, nicht aber einer Gruppe von Personen zuzusprechen sind. Da jeder eine eigene Persönlichkeit, einen bestimmten Charakter oder bestimmte Zwecke hat, wodurch er von den anderen zu unterscheiden ist, reflektiert sich der Wille jeder Person in bestimmten Sachen, die unter dem Willen dieser bestimmten Person stehen und ihren Willen repräsentieren. Das Eigentum, das die Wirklichkeit meines Willens bezeichnet, hat die Aufgabe, meinem bestimmten, von den anderen unterschiedenen Willen Ausdruck zu geben. Von daher ist die Notwendigkeit des Privateigentums als eine vernünftig notwendige Bestimmung des Freiheitsbegriffs gerechtfertigt18: „Da mir im Eigentum mein Wille als persönlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv wird, so erhält es den Charakter von Privateigentum […]“19 (PR § 46) 18

19

Patten ist der Ansicht, dass für Hegel die Notwendigkeit des Privateigentums dadurch entsteht, dass die Person durch das Privateigentum ihre Persönlichkeit entwickelt. Allerdings, da der persönliche Wille auch durch kollektives Eigentum entwickelt werden kann, sei dann die Frage, wie das Privatsein des Eigentums zu rechtfertigen sei? Siehe Patten, Hegel’s Idea of Freedom, S.  146  ff. Diese Position scheint allerdings nicht diejenige von Hegel zu sein. Zutreffender wäre wohl zu sagen, dass bei Hegel nicht das Eigentum die Rolle der Entwicklung der Persönlichkeit und des Willens übernimmt, sondern die „Bildung“, was Hegel dann in der Sittlichkeit diskutiert. (Siehe Kapitel 7) Waldron interpretiert die Notwendigkeit des Privateigentums bei Hegel durch den Bezug auf die Idee einer zeitlichen Beziehung zwischen der Person und dem Objekt: Solange eine Person an einem Objekt arbeitet, müssen die Willen anderer ausgeschlossen bleiben, damit diese Person ihren Willen und ihre Pläne auf die Dauer konsistent in dem Objekt realisieren kann: „This is how an object can embody a will- by registering the effects of willing at one point of time and forcing an individual’s willing to be consistent and stable over time. But this effect can be lost if others are also working on the object for purposes of their own in the meantime. That is why we need private property: a system which assigns enduring objects to the exclusive control of individuals.“ Waldron, Jeremy (1988): The right to private property. S. 373 f. Axel Honneth findet Hegels Argumentation nicht befriedigend und macht deswegen den Versuch, Hegels Theorie mit Hilfe von Waldrons Hegelinterpretation zu erklären: „Erst wenn man mit Jeremy Waldron am Hegelschen Begriff des Eigentums die Dimension der zeitlichen Dauer hervorhebt, gewinnt das Argument deutlich an Plausibilität: Ein privat besessener Gegenstand kann einen ‚individuellen‘ Willen verkörpern, weil sich an ihm im Laufe der Zeit erkennen lässt, ob sich die eigenen Absichten oder Handlungspläne gewandelt haben oder ob sie die gleichen geblieben sind.“ Siehe Honneth, Axel, Das Recht der Freiheit: Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, S. 136. Meiner Auffassung nach wird Hegels Rechtfertigung hingegen dann plausibel, wenn

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Außerdem ist nach Hegel die Gleichheit bezogen auf das Eigentum abzulehnen. Es ist zwar selbstverständlich, dass die Menschen als Personen gleich sind und die gleiche Rechtsanerkennung erhalten. Diese Gleichheit der Persönlichkeit muss aber nicht zu dem für Hegel unhaltbaren Gedanken führen, dass die äußerlichen Sachen im gleichen Maß verteilt werden: Auch wenn, wie bereits gesagt, mein Eigentum die Reflexion meines eigenen persönlichen Willens ist, da ich als Person meine eigenen bestimmten Zwecke, Talente usw. habe, welche meine Persönlichkeit reflektieren, sollte dennoch die objektive Seite der Willen unterschiedlich sein. Mit anderen Worten fordert der notwendige Begriff der Freiheit, dass alle als Personen zwar als gleich angesehen werden, das Prinzip der „Besonderheit“ zeigt aber gleichzeitig die Verschiedenheit von Personen. Da jeder eine besondere Person ist, kann die Verwirklichung ihres Willens (hier bezogen auf das Eigentum) nicht gleich sein. Aus diesem Grund hält Hegel die Gleichheit in der Verteilung der Güter für ungerecht: „Hier ist die Behauptung falsch, dass die Gerechtigkeit fordere, das Eigentum eines jeden solle gleich sein; denn diese fordert nur, dass jeder Eigentum haben solle. Vielmehr ist die Besonderheit das, wo gerade die Ungleichheit ihren Platz hat, und die Gleichheit wäre hier Unrecht.“ (PR § 49 Z) Bis hierhin hat Hegel das Recht auf Eigentum als die erste Bestimmung der Freiheit bezeichnet oder expliziert. Mit diesem Befund geht er dann zu der nächsten Bestimmung der Freiheit über, und zwar zum „Vertrag“. Das Eigentum ist der Gegenstand der Reflexion des eigenen Willens. Ich kann aber auch wollen, dass etwas nicht mehr mein Eigentum sei. So, wie man eine Sache wollen kann, kann man auch etwas nicht mehr wollen. Vor der Diskussion über den „Vertrag“ diskutiert Hegel, was überhaupt Gegenstand eines Vertrages sein kann. Seiner Auffassung nach kann man nur eine Sache entäußern, die, ihrer „Natur nach, Äußerliches ist.“ (PR § 65) Man kann nur diejenigen Sachen veräußern, die äußerlich sind, nicht aber „meine eigenste Person, meine allgemeine Willensfreiheit.“ Man kann nicht seine Freiheit und Persönlichkeit jemand anderem überlassen und als Sklave diesen für die eigenen Angelegenheiten entscheiden lassen. Man kann auch seine Religiosität nicht einem Priester überlassen (PR  § 66). Außerdem hat man kein Recht auf Selbstmord, weil das Leben nicht von der Persönlichkeit unterschieden werden kann und das Recht nur Sinn hat, solange die Person existiert. Deswegen kann das Recht nicht im Widerspruch zu seiner eigenen Grundlage Sinn und Bedeutung haben, d.  h. gegen die Freiheit. Denn wenn wir nicht mehr leben, liegt hierin genau die Vernichtung des Willens, deren Realisierung wir einsehen, dass der Wille seinen vollen ontologischen Status dann erreicht, wenn die Inhalte seines Wollens – hier durch Eigentumsverhältnisse – wirklich werden.

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das Recht ist: „Die Entäußerung oder Aufopferung desselben (des Lebens) ist vielmehr das Gegenteil, als das Dasein dieser Persönlichkeit. Ich habe daher zu jener Entäußerung überhaupt kein Recht […]“ (PR § 70) 4.2.2 Vertragsrecht Der persönliche Wille stößt auf eine Sache, die Eigentum eines anderen ist, und möchte diese Sache besitzen. Diese Sache ist natürlich kein reines Ding. Sie ist zugleich die Existenz des Willens einer anderen Person. Um die Freiheit der anderen Seite zu respektieren, ist es notwendig, dass die Person die andere Seite als eine Person mit Rechten anerkennt. Es ist durch den „Vertrag“, dass „die darein Tretenden sich als Personen und Eigentümer anerkennen“. Der Vertrag ist die nächste Rechtebestimmung in unserer Untersuchung der Idee der Freiheit, die es allen Seiten ermöglicht, im Rahmen des Rechts das Eigentum miteinander zu tausche, und gleichzeitig den eigenen freien Willen zu bewahren. Durch ihn erreichen die Personen einen gemeinsamen Punkt, durch den die eine Seite das Eigentum als Wirklichkeit ihrer Freiheit aufgibt und dennoch frei bleibt.20 Deswegen sagt Hegel, dass im „Vertrag der Widerspruch, dass Ich für mich seiender, den anderen Willen ausschließender Eigentümer insofern bin und bleibe, als Ich in einem mit dem anderen identischen Willen aufhöre, Eigentümer zu sein […]“ (PR § 72) Die beiden Personen erreichen einen gemeinsamen Punkt als Bedingungen des Tausches, die sie selbst bestimmen. Obwohl jeder Wille die eigene Selbständigkeit behält, kommen die beiden an dem gemeinsamen Punkt zu einer „Einheit“ (PR  § 73). An diesem Punkt haben wir es mit einem „identischen Willen“ zu tun, der das Verhältnis von zwei verschiedenem Willen ermöglicht (PR § 74). Jede Person sieht den eigenen Willen in dem Tausch vor sich, bleibt ein freier Wille und wird durch die andere Seite anerkannt. Das ist der Grund, warum Hegel den Vertrag als die zweite Bestimmung der Freiheit bezeichnet, denn im Vertrag ist man „bei sich“, denn man hat als die eine Seite die Bedingungen des Vertrages bestimmt.21 20

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Was durch den Vertrag getauscht wird, muss für Hegel einen gleichen „Wert“ haben, ein Gedanke, der auch in der Naturrechtslehre seiner Zeit zur Sprache gebracht wird. Ein zentraler Einfluss der Naturrechtslehre auf Hegels Konzeption des Vertrages zeigt sich auch in der Forderung nach Wertgleichheit, „aequalitas“. Weitere Einflüsse auf ihn zeigen sich etwa in seiner Einteilung der Vertragstypen in Schenkungs- und Tauschverträge. Für einen Überblick darüber, wie Hegel die Vertragslehre der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts in seine Theorie aufnimmt, siehe Landau, Peter (1975): Hegels Begründung des Vertragsrechts, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Riedel, Manfred (Hrsg.), S. 186–8. In seiner Rede vom Vertrag als Bestimmung der Freiheit nimmt Hegel skizzenhaft die Frage auf, ob der Staat als ein Vertrag anzusehen ist, was in dem Sittlichkeitskapitel auf

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Als Zusammenfassung können wir sagen: Die Form des persönlichen Willens ist unmittelbar in dem Sinne, dass für die Person außer einer abstrakten Gewissheit keine notwendigen Bestimmungen der Freiheit expliziert worden sind. Die Person sieht ihre Freiheit ausschließlich als eine allgemeine Möglichkeit an, und außer dieser Allgemeinheit hat sie keinen bestimmten Rahmen oder Prinzipien, mit deren Hilfe sie die Inhalte bestimmen muss. Die Inhalte dessen, was die Person für die Verwirklichung ihrer Freiheit bestimmt, entstehen durch ihre Willkür. Allerdings ist zu beachten, dass die Person durch die rechtlichen Verhältnisse des Eigentums und des Vertrags ihr willkürliches Wollen in die Wirklichkeit umsetzen kann. Sie sind in der Tat Bestimmungen der Freiheit22 und die weiteren Bestimmungen sowie die innerlichen Bestimmungen des Willens sind Aufgabe und Inhalt der weiteren Untersuchung. Während der Vertrag selbst als eine Norm der Freiheit aus dem Begriff des Willens entsteht und vernünftig notwendig ist, bestimmt sich der persönliche

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einer anderen Stufe der Diskussion endgültig verneint werden kann. Was Hegel an dieser Stelle nachdrücklich ablehnt, ist der Gedanke, dass der Staat „ein Vertrag aller mit allen oder als ein Vertrag dieser aller mit den Fürsten und der Regierung“ sei. Ein Vertrag entsteht, so Hegel, aus der Willkür zweier „unmittelbare[r] selbständige[r] Personen“, die miteinander zu einer Übereinstimmung über ein Stück Eigentum kommen. Die Beziehung des Individuums zum Staat darf jedoch nicht in diesem Licht gesehen werden, denn der Staat ist keine Sache. Es ist tatsächlich nicht durch meine Willkür über eine bestimmte Sache, sondern durch eine höhere Form der Willensbestimmung, dass sich die Institution des Staates als vernünftig und notwendig erweist. Außerdem ist die Mitgliedschaft in einem Staat auch nichts Willkürliches, die wir einfach kündigen können wie einen Vertrag, denn es liegt nicht in der Willkür der Individuen, einen Staat zu gründen: „Beim Staat aber ist dies gleich anders, denn es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen, da man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist, […] ist [es] vielmehr für jeden absolut notwendig, dass er im Staate sei.“ (PR § 75 Z) Der Fehler solcher Theorien besteht also darin, dass sie „die Bestimmungen des Privateigentums in eine Sphäre übertragen [zu] haben, die von ganz anderer und höherer Natur ist.“ (PR § 75 Anm.) Nach Hegel lässt sich auf dem Weg vom Eigentum zum Vertrag bereits ein Fortschritt in der Willensbestimmung der Person beobachten, der darin besteht, dass ich im Vertrag – im Gegensatz zum Eigentum, wo ich die Bestimmung meines Willens in einer Sache reflektiert finde – meinen Willen in einem allgemeinen Rahmen zu bestimmen habe, nämlich durch die Bedingungen des Vertrags, die ich mit einem anderen Willen abgestimmt habe. Diese sind allerdings nicht die allgemeinen Bestimmungen des Willensbegriffs, sondern nur eine Gemeinsamkeit zweier Willen: „Im Vertrage habe ich Eigentum durch gemeinsamen Willen: es ist nämlich das Interesse der Vernunft, dass der subjektive Wille allgemeiner werde und sich zu dieser Verwirklichung erhebe. Die Bestimmung dieses Willens bleibt also im Vertrage, aber in Gemeinsamkeit mit einem anderen Willen. Der allgemeine Wille dagegen tritt hier nur noch in der Form und Gestalt der Gemeinsamkeit auf.“ (PR § 71 Z)

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Wille wegen seiner Abstraktheit aus der Form der Willkür, eine Tatsache, die zu dem ersten Widerspruch in unserem System der Freiheit führt. 4.3

Unrecht als ein Widerspruch im System der Freiheit

Wie schon gesagt wurde, wird der Wille der Person unmittelbar und willkürlich bestimmt.23 Daher gibt es keine Garantie, solange der Wille in einer willkürlichen Form bestimmt wird, dass die den Vertrag abschließenden Partner im Rahmen des Vertrages bleiben, denn wegen dieser Willkür können Kollisionen zwischen den Personen entstehen: Zum einen kann es sein, dass eine Person, weil an dieser Stelle abgesehen von den Eigentums- und Vertragsrechten noch von keinen anderen Normen die Rede gewesen ist, das, was das Recht fordert, anders versteht und interpretiert als die andere Seite. Zum anderen könnte die Person den Vertrag überhaupt nicht einhalten wollen, weil nichts der Willkür eine Grenze setzen kann. Der willkürliche Wille der Person kann durch andere Triebe und Bedürfnisse von den Rechtsverhältnissen abweichen: „Es ist, weil sie unmittelbare Personen sind, zufällig, ob ihr besonderer Wille mit dem an sich seienden Willen übereinstimmend sei, der durch jenen allein seine Existenz hat. Als besonderer für sich vom allgemeinen verschieden, tritt er in Willkür und Zufälligkeit der Einsicht und des Wollens gegen das auf, was an sich Recht ist, – das Unrecht.“ (PR § 81) Wie an diesem Zitat zu erkennen ist, entsteht das „Unrecht“ für Hegel aus zwei Quellen: 1) Einsicht und 2) Wollen Zum einen kann das Unrecht – der Widerspruch in unserem System der Freiheit, denn dadurch entsteht das, was gegen das Recht als die Wirklichkeit der Freiheit verstößt – durch meine „Einsicht“ entstehen. Jede Seite des Vertrages könnte durch die eigene persönliche Einsicht den Vertrag in einer bestimmten Weise verstehen und umsetzen wollen. Jede Seite hat eine zufällige, beschränkte Einsicht in das, was Recht ist, und es gibt an dieser Stelle noch keine weiteren Rechtsbestimmungen und auch kein Gerichtssystem, um im Falle solcher Kollisionen zu vermitteln. Ich tue etwas, was gegen die Rechte der anderen Seite oder sogar die Rechte aller verstößt, ohne dass es mir bewusst ist, denn mein unmittelbarer Wille ist solcher allgemeiner Bestimmungen unfähig. Diese Art von Unrecht ist nach Hegel „unbefangenes Unrecht“, was mit keiner 23

„Da die beiden kontrahierenden Teile als unmittelbare selbständige Personen sich zueinander verhalten, so geht der Vertrag a) von der Willkür aus […]“ (PR § 75).

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Absicht zustande kommt. Zum anderen kann das Unrecht durch mein „Wollen“ hervorgerufen werden. Warum sollte ich ausschließlich im Rahmen des Vertrags bleiben und nicht auch meinen anderen Bedürfnissen und Neigungen nachgehen, wenn ich der anderen Partei durch „Betrügen“ oder „Zwang“ das Eigentum nehmen oder rauben kann? Warum muss ich überhaupt das Reich meiner Optionen oder mein willkürliches Wollen beschränken, wenn meine Freiheit genau durch diese unbeschränkte Möglichkeit definiert wird? 1) „Unbefangenes Unrecht“: In der ersten Variante haben wir es mit einem Unrecht zu tun, das für die Person als Recht gilt. In der Tat möchte sich jede Seite nach Rechtsgeboten verhalten, aber wegen der Unbestimmtheit der Rechtsverhältnisse ist sie nicht in der Lage, das Recht zu erkennen. Es kann nach Hegel „Rechtskollisionen“ geben, wenn jeder für sich einen „besonderen Rechtsgrund“ bietet und der Auffassung ist, sein Verhalten bewege sich im Rahmen des Rechts (PR § 84). Es liegt in dieser Form des Willens, dass jede Person einen willkürlichen Grund angibt. Für beide Seiten des Streits ist das Recht der Maßstab und sie sind der Meinung, „dass die Sache dem gehören soll, der das Recht dazu hat.“ Jede Person führt aber die eigenen Gründe dafür an, dass er Recht hat (PR § 85).24 Sie sind nicht dazu fähig, einzusehen, was das Recht in Wahrheit fordert: „[I]hr Unrecht besteht nur darin, dass sie das, was sie will, für das Recht hält.“ (PR § 86 Z) Es ist wichtig, uns an dieser Stelle vor Augen zu führen, dass wir noch in keinem gesellschaftlichen Zustand leben und es deswegen keine Richter und kein wirkliches Rechtssystem gibt, um für die Personen zu bestimmen, was das Recht ist.25 Hier herrschen nur subjektive Meinungen und Einsichten: „Was an sich Recht ist, hat einen bestimmten Grund, und mein Unrecht, das ich für Recht halte, verteidige ich auch aus irgendeinem Grunde.“ (PR § 86 Z) 2) „Betrug“: Im Gegensatz zum unabsichtlichen Unrecht werden bei einem Betrug die eigenen Interessen für absolut gehalten, und das Recht ist nur ein Mittel, diese durchzusetzen. Das Recht wird an dieser Stelle nur „als ein gefordertes“ angesehen (PR § 87), und die Befolgung des Rechts hat für mich keine Priorität. Warum sollte man diesen Forderungen des Rechts folgen, wenn man sieht, dass man durch das Unrecht einen größeren Spielraum erreichen 24

25

Die Tatsache, dass individuelle Interessen involviert sind, kann auch auf diese Abweichung vom Recht einen Einfluss haben, d.  h. das Problem liegt darin, dass jeder die eigenen Interessen und Urteile vor Augen hat und daher das Recht im Rahmen seiner Interessen betrachtet: „In den Parteien ist die Anerkennung des Rechts mit dem entgegengesetzten besonderen Interesse und ebensolcher Ansicht verbunden“ (PR § 86). Solange die Notwendigkeit des Gerichts für das System der Freiheit nicht erwiesen worden ist, muss unsere Theorie auf diese Institution verzichten, um den Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit zu erfüllen.

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kann? Warum soll oder muss man seiner Willkür eine Grenze setzen? Im Betrug täuscht man dem anderen vor, dass man seine Rechte respektiere: „Im Betruge wird der besondere Wille nicht verletzt, indem dem Betrogenen aufgebürdet wird, dass ihm Recht geschehe.“ (PR § 87 Z) Die andere Person hat den Eindruck, dass ihre Freiheit durch den Vertrag nicht beschränkt wird, und die Bedingungen im Tausch scheinen völlig in Ordnung zu sein: „Durch die Willkür des anderen kann mir ein falscher Schein hierüber vorgebracht werden, so dass es mit dem Vertrage als beiderseitiger freier Einwilligung des Tausches über diese Sache, nach ihrer unmittelbaren Einzelheit, seine Richtigkeit hat.“ (PR § 88) 3) „Zwang und Verbrechen“: In der dritten Variante des Unrechts, im „Verbrechen“, ist für die Person weder das Recht an sich noch der Schein des Rechts von Bedeutung: „[I]ch will aber hier das Unrecht und gebrauche auch den Schein des Rechts nicht. Verbrechen“ (PR § 83 Z). Hier kann man von Unrecht im eigentlichen Sinne des Wortes reden.26 Dieser Zustand erinnert uns an den Naturzustand, wo diejenigen, die mächtiger sind, gewinnen. Das mag zwar dem Recht der Natur entsprechen, nicht jedoch dem Recht der Freiheit. Hier scheinen wir den ersten Widerspruch unserer Untersuchung erreicht zu haben, der im Begriff eines willkürlichen Willens enthalten ist und der gegen das Dasein der Freiheit oder gegen das Recht verstößt. Was man im Verbrechen als sein Recht durchsetzt, ist nur ein „Schein“ des Rechts und tatsächlich ein Widerspruch in unserem System der Freiheit. Hier haben wir eine „Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens“ (PR § 82). Allerdinges ist der Begriff des verbrecherischen Willens in sich widersprüchlich, weil er überhaupt gegen das Dasein des Willensbegriffs, das heißt die Freiheit, gerichtet ist: „ […] so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder Dasein eines Willens aufhebt.“ (PR § 92) Was wir brauchen, sind die Bestimmungen der Freiheit, die den unrechtlichen Bestimmungen gegenüberstehen. Die Dialektik der Freiheit kann nur dann weitergehen, wenn solche Widersprüche oder Hindernisse der Freiheit beseitigt werden. Deswegen ist es ein notwendiges Moment des Begriffs, dass das Recht sich gegenüber dem Unrecht geltend macht.27 In der Tat ist das, was durch Zwang und Verbrechen zustande kommt, nichts als die Zerstörung des 26 27

„Das eigentliche Unrecht ist das Verbrechen, wo weder das Recht an sich noch [das Recht], wie es mir scheint, respektiert wird, wo also beide Seiten, die objektive und subjektive, verletzt sind.“ (PR § 90 Z) „Der Schein ist daher das Unwahre, welches verschwindet, indem es für sich sein will, und an diesem Verschwinden hat das Wesen sich als Wesen, das heißt als Macht des Scheins gezeigt.“ (PR § 82 Z)

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Kapitel 4

Rechtszustandes. Das Recht ist das Dasein der Freiheit, und das Verbrechen als die Kehrseite des Rechts als Wirklichkeit der Freiheit steht unserem System der Freiheit gegenüber. Da das Ziel unserer Untersuchung darin bestand, die Notwendigkeiten der Freiheit zu explizieren, und da das Verbrechen in seinem Begriff nichtig ist, haben wir es im Verbrechen eigentlich mit einer nichtigen Existenz zu tun, d.  h. mit der Negation des Rechts. Das System des Rechts kann selbstverständlich nur dann widerspruchsfrei bleiben, wenn seine Negation (also das Verbrechen) negiert wird: „Das Recht nämlich als Absolutes ist unaufhebbar, also ist die Äußerung des Verbrechens an sich nichtig, und diese Nichtigkeit ist das Wesen der Wirkung des Verbrechens.“ (PR § 97 Z). Wie können wir nun für diesen Widerspruch in unserem System eine Lösung finden? Durch diesen Widerspruch entsteht für Hegel die Notwendigkeit der Strafe als „Negation der Negation“. Das Hauptziel der gerechten Strafe besteht somit in der Behebung des Unrechts. Hegels Straftheorie fängt erst da an, wo eine Rechtsbestimmung notwendig wird, um das Unrecht zu vernichten. Die Strafe ist gerechtfertigt, wenn und weil das Verbrechen gegen die Freiheit gerichtet und somit prinzipiell nichtig ist. Eigentlich können wir nur dann den Sinn seiner Straftheorie verstehen, wenn wir uns an den Wert des Rechts erinnern. Das Recht als die intersubjektive Sphäre der Freiheit hat einen absoluten Wert und die Strafe sollte nun in Bezug darauf gesehen werden.28 4.4

Hegels Theorie der Strafe

Hegel schließt also an die Behandlung des Unrechts seine Straftheorie als Teil seiner Untersuchung der Freiheit an. In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, ob Hegel eine absolute oder eine konsequentialistische Theorie der Strafe vertritt?29 Ganz deutlich weist Hegel die konsequentialistischen Straftheorien, welche die Strafe als ein notwendiges „Übel“ bewerten, als „oberflächlich“ zurück, denn es gehe bei der Strafe nicht um ein Übel, sondern um den Wert der Freiheit und der „Gerechtigkeit“. In diesem Sinne ist die Strafe kein Mittel, das bloß einem anderen Ziel dient. Sie ist vielmehr notwendig für 28

29

Vgl. Pawlik, Michael (2017): Rückkehr zu Hegel in der neueren Verbrechenslehre?, in: Hegels Erben? Strafrechtliche Hegelianer vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Kubiciel, Michael, Pawlik, Michael, Seelmann, Kurt (Hrsg.), S. 247–276. Ihm ist darin Recht zu geben, dass Hegels Straftheorie (und seine Grundlinien im Allgemeinen) auf der Basis seiner Logik zu lesen sind und die dialektische Methode uns den Schlüssel zum Verständnis des Textes liefert. Für eine Auffassung von Hegels Straftheorie im Sinne einer „absoluten Straftheorie“ siehe Dübgen, Franziska (2016): Theorien der Strafe zur Einführung. S. 57 f.

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das Recht als Existenz der Freiheit. Wenn wir das Gute oder das wesentliche Ziel als Glückseligkeit oder Wohl usw. ansehen, dann ist selbstverständlich die Strafe ein äußerer Zwang. Wenn wir hingegen das Recht als den absoluten Zweck betrachten, dann ist die Strafe dem Begriff des Rechts immanent notwendig, weil sie Wiedervergeltung gemäß des Rechts oder der Freiheit ist. (PR § 99) Mit anderen Worten: Wenn unser Hauptziel z. B. die Glückseligkeit ist, dann ist das Recht ein Mittel zur Beschränkung der Willkür aller, damit wir dieses Ziel bestmöglich garantieren können.30 Für Hegel ist das Recht jedoch als Dasein der Freiheit selbst das Hauptziel und der absolute Zweck der Politik, und in diesem Zusammenhang ist die Strafe Wiederherstellung des Rechts sowie der Freiheit und kein Mittel zu einem anderen Guten.31 Was Hegels Ansicht nach in einer konsequentialistischen Straftheorie in Form von psychologischem Zwang hervorzuheben ist, ist die Funktion der individuellen „Abschreckung“ im Sinne der Prävention.32 In diesem Zusammenhang wird in diesen Theorien die Freiheit oder der freie Wille des Menschen jedoch außer Acht gelassen, welche für Hegel das Wesen des Menschen ausmachen. Eine Person besitzt für ihn einen freien Willen und ist kein Tier, das aus Angst vor Strafe etwas tut oder nicht: „Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt.“ (PR § 99 Z)

30

31

32

Als Beispiel kann Hugo Grotius genannt werden, der die Strafe als ein „Übel“ angesehen hat. Näher siehe Mohr, Georg (1997): Unrecht und Strafe, in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Siep, Ludwig (Hrsg.), S. 110. Ein anderes Beispiel bietet Bentham: „But all punishment is mischief: all punishment is itself evil. Upon the principle of utility, if it ought at all to be admitted, it ought only to be admitted in as far as it promises to exclude some greater evil.“ Siehe Bentham, Jeremy (2005): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. J. H. Burns and H. L. A. Hart (Hrsg.), Kapitel 6. § 1. Für verschiedene Interpretationen seiner Straftheorie in seinen Jugendschriften siehe Schild, Wolfgang (2002): Verbrechen und Strafe in der Rechtsphilosophie Hegels und seiner „Schule“ im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Münster, Heft 1, besonders S. 30–35. Siehe auch Hoffmann, Thomas Sören (2017): Spekulative und andere Strafbegriffe. Über Hegel im Kontext von Kant, Fichte und Feuerbach, in: Hegels Erben? Strafrechtliche Hegelianer vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, S. 57–68. In seinem Naturrechtsaufsatz lässt sich der anfängliche Kern dieser Position erkennen: „So ist die Strafe Wiederherstellung der Freiheit, und der Verbrecher sowohl ist frei geblieben oder vielmehr frei gemacht, als der Strafende vernünftig und frei gehandelt hat. In dieser ihrer Bestimmung ist also die Strafe etwas an sich, wahrhaftig unendlich und etwas Absolutes, das hiermit seine Achtung und Furcht in sich selbst hat; sie kommt aus der Freiheit und bleibt selbst als bezwingend in der Freiheit.“, S. 480. Näher siehe Mohr, Georg, Unrecht und Strafe, a.a.O., S. 110.

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Kapitel 4

Die Tatsache, dass der freie menschliche Wille, trotz Kenntnis von negativen Folgen, unrechtliche Handlungen begeht, zeigt deutlich, dass die Abschreckung die Menschen nicht hindern kann, Böses zu tun. Was hingegen im Zentrum der hegelschen Straftheorie steht und seine Theorie als eine absolute Straftheorie qualifiziert, ist die Einsicht in die Freiheit des Menschen. Der menschliche Wille ist wesentlich frei, und das Unrecht steht im Gegensatz zum Recht als Wirklichkeit seiner Freiheit. Die Strafe als Negation des Unrechts ist daher die Wiederherstellung des Rechts und in diesem Licht ein absolutes Ziel an sich. Mit anderen Worten: Da die Strafe die Negation der Negation der Freiheit ist, ist sie zugleich die Zurückführung des Menschen auf sein Wesen, die Freiheit. In diesem Sinne ist die Strafe kein äußerlicher Zwang, sondern die Rückkehr zur Freiheit. Das ist der Grund, warum für Hegel die „Strafe Gebiet der Freiheit“ genannt wird. (PR § 100 RN)33 In Hegels retributiver Straftheorie geht es grundsätzlich um die Anerkennung und den Respekt für den Verbrecher als ein vernünftiges Wesen, insofern nämlich, als in dieser Theorie behauptet wird, die Person stelle durch ihre Handlung ein allgemeines Gesetz auf. Ihre Handlung wird durch die Strafe ernst genommen und als eine mögliche Norm der Handlungen angesehen. Hegel betrachtet also den Menschen als einen „Vernünftigen“, der durch seine Handlungen allgemeine Handlungsgesetze bestimmt. Er wird nicht als ein Tier angesehen, dem durch Abschreckung Gewohnheiten antrainiert werden können: „Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, dass sie etwas Allgemeines, dass durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf.“ (PR § 100) Das Individuum als ein allgemeines und vernünftiges Wesen stellt durch sein Verbrechen ein allgemeines Gesetz der Handlung auf, unter das es selbst natürlich nicht subsumiert werden möchte. Es würde nicht wollen, dass jemand es seines Eigentums beraubte. Aus diesem Grund würde der Verbrecher selbst die Notwendigkeit der Strafe bestätigen und sie für sein eigenes Gutes oder seine Freiheit als notwendig erachten. Laut Allen Wood muss diese theoretische Begründung von Hegels Straftheorie einer Einschränkung unterzogen werden: Einen Pfeiler dieser Theorie stelle die Annahme dar, dass der Mensch sich als einen freien Willen mit Rechten ansieht, der dazu fähig ist, unter die allgemeinen Gesetze seiner eigenen Handlungen subsumiert zu werden. Aus diesem Grund entstehe die Notwendigkeit der Strafe aus dem Begriff des verbrecherischen Willens selbst, 33

Vgl. Hoffmann, Thomas Sören, Spekulative und andere Strafbegriffe. Über Hegel im Kontext von Kant, Fichte und Feuerbach, in: Hegels Erben? Strafrechtliche Hegelianer vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, S. 67.

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weil der Verbrecher nicht gleich wie die anderen behandelt werden wolle.34 Allerdings gebe es in modernen Gesellschaften Gruppen, die am Rande der Gesellschaft lebten, und glaubten, dass die bürgerliche Gesellschaft ihnen die Rechte auf freie Persönlichkeit entzogen habe. Diese Individuen fühlten sich rechtslos und könnten sich nicht als rechtliche Personen bezeichnen. Wie kann man aber Hegels retributive Straftheorie auf diese Individuen anwenden und sagen, dass ihr Willensbegriff ihre Strafe fordere, wenn diese Individuen sich gar nicht als Rechtspersonen mit der Fähigkeit eines Handlungsbewusstseins nach allgemeinen Gesetzen verstehen? Wie können diese Individuen unter die Gesetze ihrer Handlungen subsumiert werden, wenn ihnen das Bewusstsein einer Rechtsperson fehlt?35 Es scheint, dass Wood bei seiner Betrachtung zwei Themen nicht präzise genug voneinander unterschieden hat: Es geht Hegel im „Abstrakten Recht“ um die Ontologie der persönlichen Freiheit. Er möchte explizieren, was notwendig mit einem persönlichen Willen im Hinblick auf seine Freiheit verbunden ist bzw. was ein persönlicher Wille notwendig braucht, um seine Bestimmungen in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Was bei Hegels Beschreibung des „Pöbels“ in der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert wird, ist hingegen eine psychologische Beschreibung der Mentalität dieser Gruppe. Die „innere Empörung“ (PR § 244 Z) dieser Gruppe gegen die Verhältnisse in der Gesellschaft, was „zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“ (PR § 244, Hervorhebung M. S.) führt, ist die Beschreibung eines psychologischen Zustandes, der nichts an ihrem ontologischen Status als Personen mit freien Willen ändert.36 34

35 36

„Hegel usually takes for granted that those who are to be punished do in fact regard themselves as persons with abstract rights, and also recognize their victims as persons equal to themselves. Without that assumption, it cannot be inferred that my criminal act lays down a universal law that I may be treated as I treat my victim.“ Wood, Allen, Hegel’s Ethical Thought, S. 115. Ausführlicher siehe Wood, Allen, Hegel’s Ethical Thought, S. 115 f. Wood erwähnt einen zweiten Kritikpunkt, der jedoch dadurch zu lösen ist, dass wir im Auge haben, dass es Hegel in den Grundlinien um die Ontologie eines freien Willens geht: Hegel sei der Ansicht, so Wood, dass es das Recht des Verbrechers sei, bestraft zu werden. Nun fragt Wood: Welchen „positiven Grund“ hat der Staat, mich zu bestrafen, wenn ich dieses Recht aufgeben möchte? „If I renounce my right to something, then it follows that you are not obligated or required to give it to me; if you choose not to give to me, you cite my renunciation in support of the claim that your refusal to give it to me is in accordance with my will.“ Wood, Allen, Hegel’s Ethical Thought, S. 116. Diese Kritik erledigt sich, wenn wir uns vor Augen führen, dass es Hegel hier nicht um das tatsächliche Wollen eines Verbrechers, sondern um die Ontologie eines wirklich freien Willens geht, der seine Inhalte konsistent in die Wirklichkeit umsetzen möchte. Die Freiheit eines solchen Wesens besteht darin, die Rechte und Freiheit anderer zu respektieren. Das Recht auf

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Kapitel 4

Als Nächstes diskutiert Hegel die Form der Durchführung der Strafe. Die Strafe ist, wie gesagt, die implizite Notwendigkeit der Freiheit, und wird mit dem Zweck der Wiedervergeltung des Rechts durchgeführt. Das Ziel besteht darin, das allgemein Gerechte durchzusetzen, damit das Recht als Grundlage unseres Systems der Freiheit gültig bleibt. Wie muss nun die Institution der Strafe aufgebaut sein, damit die Gerechtigkeit in die Wirklichkeit umgesetzt wird? Ist es vernünftig notwendig, das Verbrechen in solcher Gleichheit zu bestrafen „wie Raub um Raub, Diebstahl um Diebstahl, usf.“, was ja die Struktur der „Rache“ aufweist? Bei der Rache bleibt die Wiedervergeltung im Hinblick auf Gerechtigkeit dem subjektiven und willkürlichen Willen der Individuen überlassen, und wegen dieser willkürlichen Natur kann sie nicht dem vernünftigen Begriff der Freiheit entsprechen. Rache ist, so Hegel, die Form der Gerechtigkeit, die in primitiven Zuständen in Kraft ist: „In ungebildeten Zeiten des Staates, ist die Gerechtigkeit Rache, da kommt es auf den subjektiven Willen des Verletzten an, ob er das was dem Verbrecher zukommt an ihm vollziehen vergelten.“37 Das Problem bei der Rache liegt in der „Form“ ihrer Durchführung, die willkürlich und subjektiv ist, und zu weiteren Verletzungen des Rechts führen kann.38 Die Gerechtigkeit sollte jedoch auf die Weise wirklich werden, wie es der vernünftige Begriff der Freiheit fordert. Wir müssen nach einer Art und Weise suchen, die vernünftig notwendig ist, ohne in Willkürlichkeiten und subjektiven Zufälligkeiten gefangen zu bleiben.39

37 38

39

Strafe ist kein Privileg, das man einfach aufgeben könnte. Wie können wir glauben, dass wir kohärent von einem Recht reden können – hier dem Recht, mein Recht auf Strafe aufzugeben –, ohne andere Notwendigkeiten, die unserem Rechtssystem zugrunde liegen, akzeptieren zu wollen? Vorlesungen, Bd. 4, S. 249. „Aber der Form nach ist sie die Handlung eines subjektiven Willens, der in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen kann und dessen Gerechtigkeit daher überhaupt zufällig, so wie er auch für den anderen nur als besonderer ist. Die Rache wird hierdurch, dass sie als positive Handlung eines besonderen Willens ist, eine neue Verletzung: sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progress ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort.“ (PR § 102) Der Mord ist für Hegel eine Ausnahme. Beim Mord ist die Todesstrafe gerecht, weil das Leben durch keine Wertschätzung vergolten werden kann. (PR  § 101) Es ist allerdings nicht leicht einzusehen, wie Hegels Rechtfertigung der Todesstrafe mit seiner Straftheorie vereinbar ist: Die Strafe ist, Hegels Ansicht nach, gerecht, weil dadurch das Unrecht vernichtet wird. Das Unrecht als Negation der Freiheit ist „nichtig“ vor dem freien Willen, was für Hegel einen „unendlichen Wert“ hat. Wie kann aber eine Theorie, die den höchsten Wert auf den freien Willen legt, für die Vernichtung eines unendlichen Verstoßes gegen die Freiheit einer Person (Mord) einen anderen unendlichen Verstoß (Todesstrafe)

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Persönlichkeit als die erste Form der Freiheit

4.5

Zusammenfassung und Übergang zur Moralität

Was wir an dieser Stelle benötigen, ist einen die Gerechtigkeit durchführender Willen, befreit von subjektiven Zufälligkeiten und Willkür, damit wir das Recht aufrechterhalten. Notwendig dafür ist, dass der strafende Wille das Recht als solches wollen muss und nicht seine eigenen willkürlichen Interessen verfolgt: „Die Forderung, dass dieser Widerspruch […] aufgelöst sei, ist die Forderung einer vom subjektiven Interesse und Gestalt sowie von der Zufälligkeit der Macht befreiten, so nicht rächenden, sondern strafenden Gerechtigkeit.“ (PR  § 103) Dieser Wille – im Gegensatz zum rächenden Willen – bleibt im Rahmen dessen, was allgemein und notwendig als gerecht gilt. Dadurch entsteht die Notwendigkeit des moralischen Willens, ein Wille, der sich von subjektiven Interessen befreit und in sich das allgemein Gerechte will: „Darin liegt zunächst die Forderung eines Willens, der als besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle. Dieser Begriff der Moralität aber ist nicht nur ein Gefordertes, sondern in dieser Bewegung selbst hervorgegangen.“ (PR § 103) Der Begriff der Freiheit fordert eine Art von Willensbestimmung, in der sich der Wille innerlich, unabhängig von subjektiven Interessen und willkürlichen Neigungen, nach den allgemein gerechten Prinzipien und Normen bestimmt, und genau dies ist dann auch für Hegel die Definition eines moralischen Willens. Der strafende Wille ist an dieser Stelle eine Metapher, ein Zeichen der nächsten notwendigen Form der Freiheit. Um selbst den Willen bestimmen zu können, und nicht bloß durch einen äußerlichen Willen bestraft werden zu müssen, fordert der Begriff der Freiheit, dass jeder Wille innerlich im Rahmen des allgemein Gerechten bestimmt werde. Solange die Person ihren Willen nicht von der Form der Willkür befreit, ist es eine Forderung der Gerechtigkeit, sie zu bestrafen. Die Person sollte sich innerlich nach allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit richten, ansonsten müsste sie bestraft werden, damit das Rechtssystem erhalten bleibt. Wir können den Übergang von der Persönlichkeit zur moralischen Subjektivität und deren Notwendigkeit so erklären: Da die Person in der Welt zusammen mit anderen Personen existiert und da sie mit diesen in Beziehungen des Eigentums und Tausches eintritt, muss sie die anderen als Personen mit Rechten behandeln. Das bedeutet, dass der willkürliche Wille der Person in diesen Beziehungen im Rahmen der Rechtsverhältnisse bleiben muss. Um nun völlig selbstbestimmend sein zu können, sollte die Person innerlich – und nicht durch den äußerlichen Zwang der verteidigen, während der Hauptzweck des Rechts in dieser Theorie als Schutz des freien Willens bezeichnet wird?

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Kapitel 4

Strafe – der Persönlichkeit und den Rechten aller anderen Personen Respekt entgegenbringen und sich nicht mehr willkürlich bestimmen. Mit anderen Worten sollte sich die Person innerlich nach Rechtsgesetzen bestimmen, und diese Willensbestimmung sollte dem Individuum nicht durch Strafe als äußerlicher Zwang auferlegt werden.40 In der Tat können die Freiheit der Personen und deren Rechte nur dann erhalten bleiben, wenn die Willkür jeder Person beschränkt wird und diese Einschränkung von innen entsteht bzw. wenn die Person aus sich heraus Respekt für die Rechte anderer entgegenbringt. Solange der persönliche Wille in diesem unmittelbaren Zustand verbleibt, sollte seine Willkür durch Strafe und äußeren Zwang gehindert werden. Wenn die Person jedoch in die innere Sphäre der Selbstbestimmung, d. h. in die Moralität eintritt, ist sie nicht mehr äußerlichem Zwang ausgesetzt, sondern Herr ihres eigenen Willens.41 Dadurch entsteht die Notwendigkeit des moralischen Wollens für die Freiheit. In diesem Licht fordert der Begriff der Freiheit zwei weitere notwendige Bestimmungen: 1) Notwendigkeit einer neuen Formbestimmung: Wir haben mit der Form der Persönlichkeit oder Willkür angefangen. Dadurch haben sich zwei Rechtsbestimmungen, und zwar das Eigentums- und das Vertragsrecht, als notwendige Bestimmungen eines freien Handelns erwiesen. Allerdings wurde durch das „Verbrechen“ deutlich, dass das willkürliche Wollen zu einem Widerspruch in unseren Handlungen führt, dessen Lösung in der Notwendigkeit einer freien, innerlich moralischen Selbstbestimmung liegt. In diesem Licht können wir nur dann sinnvoll von unserer Freiheit reden, wenn sich die Individuen 40

41

Dieser notwendige Wandel im Willensvermögen zeigt den kantischen Einfluss auf Hegel. Kant behauptete, die menschliche Handlung sei dadurch von einem rein natürlichen Ereignis zu unterscheiden, dass der Mensch nach einem normativen Prinzip oder nach einer Maxime handeln kann. Mit anderen Worten hat der Mensch unendliche Triebe und Neigungen, an deren Bestimmung er keinen Anteil hat; die Art und Weise aber, wie der Mensch letztlich handelt, findet im Rahmen der Vorstellungen statt, die er von einem Gesetz oder einer Norm hat. Der Mensch kann von jedem Willensinhalt immer auch Abstand nehmen und sich fragen: Was soll ich tun? Dieses Vermögen versetzt ihn in die Lage, Handlungsgesetze für seinen Willen bestimmen zu können. Diese neue Form der Willensbestimmung impliziert Freiheit als Autonomie oder Selbstgesetzgebung. Näher dazu siehe Pinkard, Terry (2002): German philosophy, 1760–1860: The Legacy of Idealism, S. 46 f. „Hier ist der Unterschied zwischen dem Rechtlichen und Moralischen hauptsächlich zu berücksichtigen. Bei dem Moralischen, das heißt bei der Reflexion in mich, ist auch eine Zweiheit, denn das Gute ist mir Zweck, und nach dieser Idee soll ich mich bestimmen. Das Dasein des Guten ist mein Entschluss, und ich verwirkliche dasselbe in mir; aber dieses Dasein ist ganz innerlich, und es kann daher kein Zwang stattfinden. Die Staatsgesetze können sich also auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn.“ (PR § 94 Z)

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innerlich dem Recht gemäß bestimmen und ihr Wollen von der Form der Willkür befreien. Das Subjekt geht über die abstrakte Gewissheit seiner Freiheit hinaus und fängt an, über seine Bestimmungen zu reflektieren.42 Ihm wird deswegen der Inhalt nicht mehr unmittelbar durch innere Natur oder äußere Umstände gegeben, sondern es bestimmt die Inhalte im Rahmen seiner neuen Form der Selbstbestimmung. Die Entwicklung hat uns zur „Selbstbestimmung der Subjektivität“ geführt.43 Anders gesagt, hatten wir es am Anfang dieses Kapitels mit dem willkürlichen Wollen einer Person zu tun, die sich in vielerlei Hinsichten als das Bestimmende betrachtete. Jedoch haben wir einen Punkt erreicht, wo deutlich wurde, dass es für die Freiheit notwendig ist, den Willen innerlich in Einklang mit den Geboten des Rechts zu bestimmen. Die Person muss den eigenen Willen so bestimmen, dass ihr Wille gleichzeitig dem Recht gemäß bestimmt wird. Das Individuum wird nun als in der Lage angesehen, das eigene Wollen grundsätzlich bestimmen zu können, nicht nur in dem Sinne der Bestimmung der Maximen als Gesetze der Handlungen, wie z. B. „Ich möchte ein Stück Pizza essen“ oder „Es ist besser, jetzt ins Bett zu gehen“. Diese Selbstbestimmung muss darüber hinaus in Übereinstimmung mit dem Gerechten sein. Das Subjekt ist in der Lage, dieses Gesetz der Gesetze für seine Handlungen zu bestimmen. (PR § 104) 2) Notwendigkeit der moralischen Selbstbestimmung für Freiheit: Wir haben den Punkt erreicht, an dem von einer Entwicklung und von einem Übergang in unserem Begriff der Freiheit die Rede sein kann. Zunächst hatten wir es nur mit einer Person zu tun, welche nur die eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt hat. An diesem Punkt aber sehen wir, dass es für die Person notwendig geworden ist, ihre innerliche Willensbestimmung nach den allgemeinen Forderungen des Rechts zu bestimmen, und das ist notwendig, weil der Begriff 42

43

Über die Rolle der Reflexion für die Beseitigung der Unmittelbarkeit des Willens scheibt Hegel im § 21, dass der Wille nur durch die „Tätigkeit des Denkens“ die eigene Unmittelbarkeit aufheben und sich „ins Allgemeine“ erheben kann (PR § 21). Erst der moralische Wille ist in der Lage, dieses Vermögen in Kraft zu setzen: Die Bestimmungen des moralischen Willens sind nicht mehr willkürlich und unmittelbar. Das reflektierende Subjekt – als die nächste Stufe der Freiheit – hat vielmehr die eigene Persönlichkeit vor Augen: „Seine Persönlichkeit, als welche der Wille im abstrakten Rechte nur ist, hat derselbe so nunmehr zu seinem Gegenstande; die so für sich unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts aus.“ (PR § 104) Das Subjekt muss selber der „Urheber“ der Gesetze seiner Handlungen sein, was nochmals den Einfluss Kants auf Hegel ganz deutlich zeigt: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muss.“ Kant, Grundlegung BA 71.

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Kapitel 4

der Freiheit diese Notwendigkeit hervorgebracht hat, um den Widerspruch des „Unrechts“ zu lösen. Durch diesen Widerspruch wurde ersichtlich, dass das Individuum neben seinen eigenen Interessen nicht zuletzt die allgemeinen Forderungen des Rechts in seinem Wollen in Betracht zu ziehen hat. In diesem Sinne redet Hegel von einer notwendigen innerlichen Unterscheidung zwischen unseren Interessen und den allgemeinen Rechten: „Das Verbrechen und die rächende Gerechtigkeit stellt nämlich die Gestalt der Entwicklung des Willens als in die Unterscheidung des allgemeinen an sich [seienden] und des einzelnen, für sich gegen jenen seienden [Willens] hinausgegangen dar […]“ (PR § 104)44 Für die Person stand nur das eigene Interesse im Vordergrund. An dieser Stelle hingegen haben wir auch das allgemein Gerechte in unserer Willensbestimmung im Auge. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es sich hier um eine minimale moralische Handlung im Sinne des Respekts für die Rechte anderer handelt, und eine vollständige moralische Handlung wird dann erst in Hegels Diskussion des Notrechts behandelt.

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Daraus können wir schließen, dass das, was in der Dialektik der Freiheit bis jetzt zustande gekommen ist, die implizite Widerlegung der negativen Freiheit ist. Freiheit erfordert, dass wir uns innerlich nicht in irgendeiner beliebigen, sondern in einer bestimmten Weise bestimmen, nämlich der moralischen, die sich dann als Notwendigkeit der positiven Freiheit erweist.

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Kapitel 5

Moralisches Handeln als nächster Schritt der Befreiung In der Persönlichkeit hatten wir es mit einer unmittelbaren, willkürlichen Form des Willens zu tun, aus der die Eigentums- und Vertragsverhältnisse als Inhalte dieses Willens gefolgert wurden. Aber im letzten Schritt wurde deutlich, dass dieser unmittelbare Wille im Widerspruch zum Recht stehen kann. Um dennoch frei bleiben zu können, muss diese unmittelbare Form überwunden und durch innere Selbstbestimmung nach gerechten Gesetzen ersetzt werden, was für Hegel die Definition der moralischen Subjektivität impliziert. Wie früher bereits gesagt, muss das moralische Subjekt den eigenen Willen bestimmen. Es hat sich selbst zum Gegenstand der Freiheit – im Gegensatz zur Person, welche die Freiheit in einer äußerlichen Sache sucht –, und Freiheit besteht für das Subjekt darin, den eigenen Willen in einem Rahmen zu bestimmen: „Die Person will eine Sache, ihr Gegenstand ist die Sache, das Subjekt will nicht bloß die äußere Sache, hat nicht bloß das Bewusstsein einer Sache, es will sich selbst, es selbst ist der Gegenstand der als solcher von ihm gewollt wird.“1 Im „Moralitätskapitel“ geht es Hegel nun also darum, die Implikationen des moralischen Wollens bzw. der moralischen Handlung zu explizieren. Das Subjekt ist kein Spielplatz natürlicher Bedürfnisse und willkürliche Triebe; es möchte vielmehr den Rahmen für seinen Willen bestimmen, und zwar dem Gerechten gemäß. Diese Selbstbestimmung findet innerlich statt. Das Subjekt möchte seinen Willen moralisch bestimmen und seinen Zweck mit dem moralisch Guten in Einklang bringen.2 An dieser Stelle will es also nicht 1 Vorlesungen, Bd. 4, S. 299. 2 Was Hegel mit dem Ausdruck „Moral“ im Auge hat, beschränkt sich nicht nur auf einen minimalen Sinn von Handlungen den moralischen Pflichten gemäß, sondern umfasst das Wohl des Subjekts, seine Ziele, seine Absichten und seine Vorstellung vom Guten, was allgemein die innere Selbstbestimmung des Subjekts betrifft: „Das Moralische muss in dem weiteren Sinne genommen werden, in welchem es nicht bloß das moralisch Gute bedeutet […] Das Moralische hat hier aber die Bedeutung einer Willensbestimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist, und befasst daher den Vorsatz und die Absicht in sich, wie das moralisch Böse.“ (Enz § 503) Dies impliziert, wie wir später noch sehen werden, dass moralische Freiheit bei Hegel nicht ausschließlich in der Selbstbestimmung nach allgemeinen moralischen Pflichten besteht; wir sind vielmehr moralisch frei erst dann, wenn wir unseren Willen in erster Linie innerlich bestimmen. Diese Fähigkeit zur innerlichen Selbstbestimmung ist dafür die Grundlage. Danach folgt das Kriterium bzw. der Rahmen dieser

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_006

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Kapitel 5

nur die eigenen Zwecke oder das eigene Wollen in die Wirklichkeit umsetzen, sondern es geht ihm hier um dieses Wollen selbst. Im „Unrecht“ haben wir gesehen, wie die „Willkür“ zum Unrecht führen kann, was eine Veränderung in der Form des Willens notwendig macht. Jeder sollte das eigene Wollen innerlich – und nicht durch den äußerlichen Zwang der Strafe – diesen Prinzipien gemäß bestimmen. Um den Willen nach den allgemeinen Rechtsverhältnissen bestimmen zu können, ist es begrifflich notwendig, dass der Wille nicht mehr willkürlich bestimmt werden kann, d. h. diese willkürliche Form sollte durch eine Form ersetzt werden, die den Rahmen für Willensbestimmungen nach allgemeinen Rechtsverhältnissen setzt. Die Form der Willkür hebt sich von daher in die Form der moralischen Selbstbestimmung auf.3 So haben nun ein neues, vollständigeres Bild von einem freien Willen gewonnen: Was dem persönlichen Willen zugrunde liegt, ist eine Konzeption der Freiheit als Willkür, nach der ich frei bin, wenn ich mich in jeder beliebigen Weise bestimme. Was durch diese Vorstellung deutlich ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass das, was ich will, potenziell mit Recht und Gerechtigkeit in Kollision treten kann. Um solche aus der willkürlichen Form entstandenen Rechtsverstöße zu vermeiden, braucht man eine neue „Form“ für die Bestimmung des Willens. Diese neue Form des Willens sollte es uns ermöglichen, den allgemeinen Prinzipien des Rechts gemäß zu handeln. Mit anderen Worten ist es erforderlich, uns innerlich nach allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit zu bestimmen.4 Hegel braucht einen neuen theoretischen Rahmen für diese neue Konzeption des Willens. Es ist nun genau an dieser Stelle, dass Hegel die von Kant als die Hauptfigur des „moralischen Standpunkts“ geerbte Vorstellung des Willens aufnimmt.5 Die Grundlagen des kantischen Einflusses auf Hegels Willenskonzeption sind vor allem die folgenden: Selbstbestimmung, was für Hegel das Gute in einem weitgefassten Sinne ist. Siehe dazu seine Definition des Guten in Abschnitt (PR § 129). 3 An diesem Wendepunkt sieht man deutlich den Einfluss des Autonomiegedankens von Rousseau auf Hegel und Kant, nach dem Freiheit nicht in der Willkür, sondern in der Befolgung des selbstgegebenen Gesetzes bestehe: „Gehorsam dem Gesetz gegenüber, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.“ Rousseau (1977): Vom Gesellschaftsvertrag, I.6, S. 73. 4 Mit Quante gesprochen geht es an dieser Stelle für die Beurteilung des Tuns des Akteurs nicht mehr darum, ob ein Tun rechtlich erlaubt ist oder nicht – Legalität einer Handlung. Hier geht es vielmehr um die Moralität eines Tuns, also um die Gründe und die Absichten des Akteurs und letztlich um seine innerliche Reflexion über die Gründe seiner Willensbestimmung. Näher siehe Quante, Michael (1993): Hegels Begriff der Handlung. S. 53 f. 5 Der erste Vertreter der Freiheit als Selbstbestimmung ist, wie oben erwähnt, Rousseau, für den die Freiheit darin bestand, nur den Gesetzen zu folgen, die man für sich bestimmt. Für eine Diskussion des Autonomiebegriffs bei Rousseau siehe Neuhouser, Frederick, JeanJacques Rousseau and the Origins of Autonomy, S. 478–493.

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Moralisches Handeln als der nächste Schritt zur Befreiung

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Die Vernunft kann praktisch sein in dem Sinne, dass sie sich sowohl moralische Handlungsgesetze geben als auch zu Handlungen gemäß diesen Gesetzen motivieren kann.6 Der Wille ist eigentlich nichts anderes als die praktische Vernunft.7 Der menschliche Wille ist nicht wie die Willkür unmittelbar in dem Sinne, dass der Wille unfähig ist, seine Inhalte selbst zu bestimmen. Der Mensch ist nach Kant nicht nur ein Sinnen-, sondern auch ein Vernunftwesen, das mithilfe der Vernunft die Unmittelbarkeit aufheben und die Gesetze seiner Handlungen bestimmen kann. Genauer gesagt ist die Struktur der menschlichen Handlungen, da der Mensch neben seinen natürlichen Vermögen auch mit Vernunft ausgestattet ist, so, dass der Mensch „nach der Vorstellung von Gesetzen“ handelt, und nur in diesem Licht kann man beim Menschen vom Willen reden.8 In diesem Zusammenhang besteht der erste Schritt für ein solches Wesen auf dem Weg zum freien Handeln darin, über die Gesetze und Prinzipien seiner Handlungen zu reflektieren, was dann bereits über die Unmittelbarkeit hinausgeht.9 Wie kann uns nun die Vernunft in der Praxis dabei helfen, unseren Willen unter unsere eigene Selbstbestimmung zu bringen und uns so von der Willkür zu befreien? Die praktische Vernunft trägt zweierlei zu unserer Selbstbestimmung bei: Erstens versetzt sie, in einem negativen Sinne, den menschlichen Wille in die Lage, von jedem Inhalt zu abstrahieren

6 Im Gegensatz zur naturalistischen Tradition von Hobbes, in der der Vernunft eine instrumentelle Rolle bzw. die Aufgabe zugewiesen wird, den durch unsere Natur bestimmten Zielen und Zwecken zu dienen, sieht Kant die Vernunft in der Lage, unsere Zwecke selbst unabhängig von jedem Natureinfluss zu bestimmen. Solche durch die Vernunft hervorgebrachte Handlungen lassen sich als moralische Handlungen bezeichnen, die ungeachtet der Folgen rein aus Pflicht – und nicht aus irgendeinem selbstsüchtigen Grund oder anderen natürlichen Motiven – vorgenommen werden. Das impliziert, dass die Vernunft nicht nur das Mittel ist, die gewollten Folgen hervorzubringen, sondern selbst das Vermögen ist, Zwecke zu bestimmen und uns außerdem dazu zu motivieren, sie auch zu verfolgen. Näher siehe Taylor, Charles (1985): Kant’s theory of freedom, in: Philosophy and the Human Sciences: Philosophical Papers. S. 321 f. Für eine Verteidigung der These, nach der die Vernunft praktisch sein kann, siehe auch Korsgaard, Christine (1986): Skepticism about Practical Reason, in: The Journal of Philosophy, Bd. 83, Nr. 1, S. 5–25. 7 Über die Verbindung zwischen Wille und Vernunft oder Denken bei Hegel siehe (PR § 4). 8 In diesem Zusammenhang sagt Kant: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen.“ Kant, Grundlegung, BA 64. 9 „Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.“ Kant, Grundlegung, BA 37.

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und sich nicht einfach bestimmen lassen. Diesen Sinn der Freiheit nennt Kant die „negative Freiheit“, die auch bei Hegel das erste Element des freien Willens ausmacht: „In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muss, besteht das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und als solche, praktischen Vernunft, ist Freiheit im positiven Verstande.“10 Zweitens können wir nicht ausschließlich bei diesem negativen Sinne stehen bleiben. Vielmehr brauchen wir einen positiven Rahmen für die Bestimmung unserer Willensinhalte. Daher gehen wir weiter zu Kants positiver Definition der Freiheit: Die positive Freiheit besteht für ihn in der Autonomie des Willens, das heißt, man ist frei, wenn man seinen Willen nicht willkürlich bestimmt, sondern die allgemeinen Gesetze für seinen Willen bestimmt bzw. wenn der eigene Wille unter selbstgegebenen Gesetzen – und nicht bloß Gesetzen innerlicher oder äußerlicher Natur – steht: „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe […]“11 Der Mensch ist ohne Fähigkeit der Gesetzgebung ein rein natürliches Wesen. Wir brauchen Gesetze, die unserem Willen oder unserer praktischen Vernunft entstammen, Gesetze, die die Natur ausschließen und Produkte unserer Vernunft, unseres Willens und unserer eigenen Selbstbestimmung sind. Denn die Gesetze, die aus einer anderen Quelle außer unserer Vernunft kommen, sind vorgegeben und nicht durch uns selbst bestimmt; sie stehen tatsächlich nicht unter unserem eigenen Willen.12 Nun gibt uns Kant eine Formel, die garantiert, dass die Handlungsregeln aus unserer praktischen Vernunft kommen, was er den kategorischen Imperativ nennt. Diese Formel funktioniert auf die folgende Art: Von den möglichen Kandidaten M1, M2, …, Mn als unseren Maximen wollen wir prüfen, welcher davon in der Lage ist, ein durch die Vernunft bestimmtes Gesetz der Freiheit zu sein, d.  h. ein Gesetz, das jeden natürlichen sowie wirklichen Einfluss ausschließt und nur dem Kant, KpV, A 59. Kant, Grundlegung, BA 105. „[…], dass gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn sonst würde es nur als dem Naturgesetze eines Bedürfnisses unterworfen vorgestellt werden müssen.“ Kant, Grundlegung, BA 85.

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Wesen des Menschen, seiner Vernunft entstammt. Für die Durchführung dieser Prüfung gibt er uns einen Maßstab: die Verallgemeinerbarkeit. Wenn wir einsehen wollen, welche Maxime durch Vernunft bestimmt und deswegen das Gesetz der Freiheit sein kann, müssen wir prüfen, ob dieses Gesetz von einer subjektiven Triebfeder als Bedingung seiner Durchführbarkeit oder Motivation abhängt oder nicht. Wenn das Gesetz nicht von meiner Natur abhängt, sondern allen Subjekten ohne irgendeine Bedingung gebietet, dann können wir sagen, dass wir dieses Gesetz gefunden haben: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“13 Diese Formel, die als eine allgemeine Form den Rahmen für die Prüfung der Maximen bestimmt, nennt er den kategorischen Imperativ, in dessen Rahmen nur diejenigen Maximen erlaubt sind, die allgemein und ohne Abhängigkeit von irgendeinem subjektiven Motiv gebieten.14 Wir haben damit den Rahmen gefunden, in dem die Gesetze bestimmt werden, die aus unserer praktischen Vernunft kommen und deswegen unter unserem Willen oder unserer Selbstbestimmung stehen. Der kategorische Imperativ ist die Form unserer Selbstbestimmung oder unserer vernünftigen Natur, und deswegen sind wir frei, wenn wir unser Wollen diesem Imperativ gemäß bestimmen. Durch den kategorischen Imperativ wird uns garantiert, dass „die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt.“15 Diese durch die Vernunft bestimmten Gesetze sind „einerlei“ mit den moralischen Gesetzen. Die Gesetze meiner Freiheit stehen innerhalb der Grenzen der Moral. Wir können natürlich unseren Willen in Außerdem sagt Kant in diesem Zusammenhang: „Denn da der Imperativ außer dem Gesetz nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetz gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig.“ Kant, Grundlegung, BA 52. Näher siehe O’Neill: „So Kantian autonomy is a matter not merely of choosing principles of action that have the form of law, but of choosing principles of action that both have the form of law and could be principles for all- and so of rejecting those heteronomous principles that have the form of law, but cannot be principles for all. It is a matter of choosing principles that combine universal form and universal scope.“ O’Neill, Onora (2015): Self-legislation, autonomy and the form of law, in: ders.: Constructing authorities: reason, politics, and interpretation in Kant’s philosophy. S. 131. Im Gegensatz zum kategorischen Imperativ stehen die „hypothetische Imperative“, die von einer subjektiven Triebfeder oder irgendeiner Bedingung abhängen und in einer konditionellen Form von „wenn  … dann  …“ zum Ausdruck kommen. (Kant, Grundlegung, BA 88–9). Näher siehe O’Neill, Onora (2015): Autonomy: the emperor’s new clothes, in: ders.: Constructing authorities: reason, politics, and interpretation in Kant’s philosophy. Kant, Grundlegung, BA 63.

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unterschiedlichen Weisen bestimmen, aber die genuine Freiheit besteht darin, nach den Prinzipien zu handeln, die in Harmonie mit den Prinzipien der Moral stehen. Freiheit ist für Kant daher identisch mit der Autonomie oder Selbstgesetzgebung. Die Moral fordert, dass wir nicht aus jeder beliebigen Triebfeder zu einer Handlung motiviert werden können, was Heteronomie bedeuten würde. Sie fordert vielmehr pflichtmäßige Handlungen aus Pflicht.16 Nur diese Art von Handlungen kennzeichnen für Kant Autonomie. Aus diesem Grund sind ein freier und sittlicher Wille für ihn gleich: „Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.“17 Wenn Hegel also von der Notwendigkeit für die Freiheit redet und dass diese selbstbestimmt nach moralischen Gesetzen erfolgen müsse, so ist dies ein klares Zeichen dafür, wie stark Kant auf Hegel Einfluss genommen hat. Man muss sich aber gleichzeitig vor Augen führen, dass sich Hegels Rechtfertigung der Notwendigkeit der Moral für die Freiheit – in seiner Diskussion des „Notrechts“ – von Kant dadurch unterscheidet, dass er die Moral als eine notwendige Stufe seines dialektischen Fortgangs auf dem Weg zur Freiheit betrachtet.18 16

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„Allenthalben, wo ein Objekt des Willens zum Grunde gelegt werden muss, um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn oder weil man dieses Objekt will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals moralisch, d. i. kategorisch, gebieten.“ Kant, Grundlegung, BA 94. Kant, Grundlegung, BA 98. Es wird auch noch ein anderer Unterschied sichtbar, wenn wir Kants Moralphilosophie „konstruktivistisch“ verstehen. Über die Interpretation von Kants Moralphilosophie gibt es einen Streit zwischen „Konstruktivismus“ und „Realismus“: Die Realisten unterstützen die These, welche besagt, dass die Normen der Moral von einer grundlegenden Sphäre der Normen oder Tatsachen abhängen, die an sich ohne Bezug auf unsere Vorstellung oder Prinzipien unserer praktischen Vernunft wahr oder notwendig sind, während die Konstruktivisten der Auffassung sind, dass die Werte unabhängig von unserem Wollen nicht gültig sein können, und sie nur deswegen als Normen gelten, weil wir ihnen ihren Wert verleihen. Korsgaard, die selbst eine konstruktivistische Position vertritt, bringt diese Gegenüberstellung so zum Ausdruck: „According to this view (realism), moral claims are normative if they are true, and true if there are intrinsically normative entities or facts which they correctly describe … [By contrast] Kantians believe that the source of the normativity of moral claims must be found in the agent’s own will, in particular in the fact that the laws of morality are the laws of the agent’s own will and that its

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Subjektivität und Selbstbestimmung als die nächste Form der Freiheit

Was oben gesagt wurde, war zunächst nur eine Erläuterung. Um Hegels Gedankengang und Argument nachzuvollziehen, müssen wir jedoch zu seinem voraussetzungslosen dialektischen Fortgang zurückkehren. Es wurde ersichtlich, dass es für einen freien Willen notwendig ist, sich innerlich im Rahmen der allgemeinen Prinzipien des Rechts zu bestimmen. Hier sucht das Subjekt seine Freiheit im ersten Schritt in der inneren Sphäre seiner selbst, während für die Person die innerliche Bestimmung noch nicht in Frage kam. Als Subjekt der Freiheit möchte man die Gesetze und Gründe seiner Handlungen bestimmen und sich nicht mehr von innerlichen oder äußerlichen Trieben bestimmen lassen. Es ist durch „diese Reflexion des Willens in sich“, dass der Wille des Subjekts sich von der „Unmittelbarkeit“ des persönlichen Willens befreit und „für sich“ wird oder über sich reflektiert. Anstatt Herr einer Sache zu sein, kommt das Subjekt zu der Ansicht, dass es für die Freiheit notwendig ist, hauptsächlich Herr von sich selbst und dem eigenen Willen zu sein.

claims are ones that she is prepared to make on herself.“ Korsgaard, Christine (1996): The sources of normativity. Mit Cohen, G.A., Guess, Raymond, Nagel, Thomas and Williams, Bernard. Onora O’Neill (Hrsg.), S.19. Sie beschreibt Kants Konstruktivismus wie folgt: „The point I want to emphasize here is that the Kantian approach frees us from assessing the rationality of a choice by means of the apparently ontological task of assessing the thing chosen: we do not need to identify especially rational ends. Instead, it is the reasoning that goes into the choice itself – the procedure of full justification – that determines the rationality of the choice and so certifies the goodness of the object. Thus the goodness of rationally chosen ends is a matter of the demands of practical reason rather than a matter of ontology.“ Korsgaard, Christine (1996): Creating the kingdom of ends, S. 261. Für eine realistische Interpretation von Kants Ethik steht z.  B.  Schönecker, Dieter (1999): Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Für eine gute Diskussion dieses Streits siehe Stern, Robert (2012): Understanding moral obligation: Kant, Hegel, Kierkegaard, S. 7–40. Stern ist der Auffassung, Kant gehe es nicht hauptsächlich darum, mit dem Autonomieargument den Werterealismus zu widerlegen; er lasse diese realistische selbständige Sphäre der Normen und Werte zu. In der Tat haben wir Kants Anliegen, so Stern, so zu verstehen, dass er grundsätzlich das Problem oder die Natur der moralischen Verpflichtung lösen wollte, und dass seine Moralphilosophie in diesem Licht zu lesen ist. Wenn wir nun Kants Moralphilosophie in einem konstruktivistischen Licht betrachten, kann man von einem weiteren Unterschied zwischen Kant und Hegel reden, denn obwohl für Hegel die moralischen Normen durch menschliche Akte in der Geschichte aufgebaut und entwickelt werden, sind sie absolut und notwendig, und die Vernunft (Nous) liegt diesen Werten zugrunde, d.  h. wir müssen diese Vernunft in der Moral nicht konstruieren, sondern nur entdecken oder begreifen.

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(PR § 105)19 Der grundlegende Unterschied zum persönlichen Willen kommt an dieser Stelle ins Spiel: Die Inhalte des Wollens sind nicht mehr vorgegeben wie im unmittelbaren persönlichen Willen. Der Wille des Subjekts ist vielmehr in der Lage, über seine Form sowie seine Inhalte zu reflektieren. Das Subjekt wird als ein Denkendes betrachtet, das fähig ist, die Inhalte im bestimmten Rahmen der Form durch Prinzipien zu bestimmen. Hegels dialektische Methode fragt sowohl nach den begrifflichen Bestimmungen des Wollens als auch nach den damit korrespondierenden Rechtsbestimmungen als Raum unseres freien Handelns. Wie ist also das Wollen des Subjekts zu bestimmen? Das Dasein der Freiheit der Person bestand darin, sagen zu können, dass eine Sache ihr gehört. Beim Willen des Subjekts haben wir es mit mehr als einem unmittelbaren Zeichen oder dem Prädikat „meins“ zu tun; vielmehr geht es um die Bestimmung des Wollens selbst, um die Zwecke des Subjekts in seinen Handlungen. Die Frage, warum und aus welchen Gründen etwas getan wird, spielt hier – im Gegensatz zur Person – eine zentrale Rolle. Meine ganze Subjektivität zeigt sich in meinen Handlungen, und das Dasein meines Wollens ist die Reflexion meiner Prinzipien und Ziele. Ich möchte mein konkretes Selbst vollständig und nicht nur das abstrakte Meins in diesem Dasein sehen. Da der Wille sich selbst (und wie er zu bestimmen ist) zum Gegenstand hat, kann erst hier wahrhaft von einem freien Willen die Rede sein: „Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein.“ (PR § 106)20 Es geht also um die „Selbstbestimmung des Willens“. Das Subjekt lässt sich nicht von innerlichen oder äußerlichen Zufälligkeiten und Mächten bestimmen, sondern bestimmt seine eigenen Ziele. Hier rückt die Betrachtung des neuen Begriffs der Freiheit mit seiner „Gestalt“, d.  h. den verschiedenen Seiten des „Rechts des subjektiven Willens“, in den Fokus. (PR § 107) Diesbezüglich müssen wir in erster Linie erläutern, wie das Subjekt innerlich sein Wollen wahrhaft mit dem allgemein Gerechten in Einklang bringen kann, während der persönliche Wille nicht in der Lage war, zu bestimmen, ob 19

20

Wie bereits gesagt, ist der Wille für Hegel „unendlich“, wenn er sich oder seine Reflexion in seinem ihm begegnenden Gegenstand hat. Da er nun sich selbst zu seinem Gegenstand hat, wird der „Wille für sich unendlich“, weil das, was der Wille vor sich hat, keine äußerliche Sache ist, sondern er selbst; der Gegenstand des Willens ist er selbst. (Vgl. PR § 105) „Beim strengen Recht kam es nicht darauf an, was mein Grundsatz oder meine Absicht war. Diese Frage nach der Selbstbestimmung und Triebfeder des Willens wie nach dem Vorsatze tritt hier nun beim Moralischen ein. Indem der Mensch nach seiner Selbstbestimmung beurteilt sein will, ist er in dieser Beziehung frei, wie die äußeren Bestimmungen sich auch verhalten mögen. […] Der Wert des Menschen wird nach seiner inneren Handlung geschätzt, und somit ist der moralische Standpunkt die für sich seiende Freiheit.“ (PR § 106 Z)

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seine Bestimmungen dem „allgemeinen Willen“, d. h. den allgemein gerechten Ge- und Verboten gemäß waren: „[D]er Prozess dieser Sphäre ist, den zunächst nur für sich seienden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seienden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben und ihn für sich als identisch mit dem an sich seienden Willen zu setzen.“ (PR § 106 Anm.) Wir sollten zusehen, wie der für sich seiende Wille, also der Wille des Subjekts in seinem Bewusstsein, mit dem an sich seienden Willen, d. h. mit dem allgemeinen Willen, und mit den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit identisch wird bzw. wie der subjektive Wille eigentlich moralisch handeln kann.21 Am Anfang ist der Wille nur an sich moralisch, nur abstrakt ohne Bestimmungen. Deswegen ist das moralische Wollen sowie Handeln an dieser Stelle noch ein Streben, ein Wunsch oder ein „Sollen“ für das Subjekt. Am Ende dieses Kapitels wird Hegel argumentieren, dass dieser Wunsch im Rahmen der Moralität unerfüllt bleibt, da alle Versuche des Subjekts für eine moralische Selbstbestimmung und Handlung vergeblich sind: „Das Selbstbestimmen ist in der Moralität als die reine Unruhe und Tätigkeit zu denken, die noch zu keinem was ist kommen kann. Erst im Sittlichen ist der Wille identisch mit dem Begriff des Willens und hat nur diesen zu seinem Inhalte“. (PR § 108 Z) Anders ausgedrückt ist eine moralische Bestimmung für das Subjekt eine „Forderung“, aber ob es dem Subjekt im „moralischen Standpunkt“ gelingt, die wahrhaft moralischen Pflichten aus seinem Bewusstsein zu bestimmen und zu handeln, ist eine andere Frage, die am Ende dieses Kapitels behandelt (und zunächst verneint) wird. Hegel fasst die Grundlagen eines moralischen Willens wie folgt zusammen: 1) Bei der Persönlichkeit wurde eine „Sache“ als Ausdruck meines Willens bezeichnet; hier bei der Subjektivität übernehmen meine „Handlungen“ diese entscheidende Rolle.22 Um frei zu sein, sollte meine wirkliche Handlung also 21

22

Diese radikale Bedeutung von Freiheit, welche die Freiheit – im Gegensatz zu Hobbes’ naturalistischer Konzeption als ungehinderte Befriedigung der Triebe – in eine enge Verbindung mit Moralität setzt, fängt eigentlich mit Rousseau an und gewinnt ihren vollständigen Ausdruck durch Kant. Taylor fast dies bezogen auf Rousseau so zusammen: „[…] what was the acme of freedom on the naturalistic construal, carrying out my desires unhindered, could now be represented as a kind of slavery, in so far as these desires are themselves the fruit of other-dependence. To be really self-determining I must recover contact with my own authentic self, with the voice within, which is also the voice of conscience.“ Taylor, a.a.O., S. 321. Diese Aussage soll nicht den Eindruck erwecken, dass die Rechtsverhältnisse der Persönlichkeit nicht mehr gültig sind. Ganz im Gegenteil werden die früheren Rechtsverhältnisse in die neue Form aufgenommen, während der Akzent auf eine höhere Sphäre – menschliche Handlungen statt natürliche Sachen – gelegt wird.

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(was Hegel im § 7 als eine notwendige Bedingung jeder Theorie der Freiheit bezeichnet) Reflexion meiner inneren Selbstbestimmung oder meines subjektiven Wollens sein: „Der Inhalt des subjektiven oder moralischen Willens enthält eine eigene Bestimmung: er soll nämlich, wenn er auch die Form der Objektivität erlangt hat, dennoch meine Subjektivität immerfort enthalten, und die Tat soll nur gelten, insofern sie innerlich von mir bestimmt, mein Vorsatz, meine Absicht war.“ Ich kann eine Handlung nur dann als meine eigene Handlung erkennen, wenn das, was dadurch hervorgebracht wird, mein inneres Wollen reflektiert. Meine Erwartung besteht demnach darin, in der wirklichen Handlung „mein subjektives Bewusstsein wiederzusehen.“ (PR § 110 Z) 2) Die zweite Notwendigkeit besteht in der Harmonie meines Willens mit den allgemeinen Prinzipien der Moral und Gerechtigkeit. Wenn wir von einer moralischen Handlung reden, ist es selbstverständlich, dass diese Handlung in Übereinstimmung mit moralischen Gesetzen stehen sollte. Der Inhalt meines Willens hat „α) die Bestimmung in ihm selbst, dem an sich seienden Willen angemessen zu sein oder die Objektivität des Begriffes zu haben.“ Das heißt, dass das, was wir tun, genau im Einklang mit den objektiv allgemeinen Forderungen der Moral sein muss. Da die Moral für das Subjekt nur eine Forderung ist und es bloß seine innere Selbstbestimmung für gültig erachtet – wie gesagt muss man, um frei zu sein, selbst die Quelle der eigenen Willensbestimmungen sein –, können seine Handlungen potenziell den moralischen Prinzipien nicht angemessen sein: „ß) indem der subjektive Wille als für sich seiender zugleich noch formell ist (§ 108), ist dies nur Forderung, und er enthält ebenso die Möglichkeit, dem Begriffe nicht angemessen zu sein.“ (PR § 111) Es geht darum, den Willen im Rahmen der Moral zu bestimmen, aber ob es dem Subjekt gelingt, seinen Willen den objektiv gültigen Gesetzen der Moral gemäß zu bestimmen, ist nicht garantiert und nur eine Möglichkeit. 3) Die dritte Notwendigkeit mit Bezug auf die „Objektivität“ des subjektiven moralischen Wollens enthält zwei Aspekte: Zum einen geht es hier um die objektive Geltung einer Handlung als potenziell moralischer Akt. Nachdem man gehandelt hat, erhebt man als Akteur einen Anspruch darauf, dass die eigene Handlung in Übereinstimmung mit der Moral gewesen ist. Die eigene Sicht ist jedoch eine unter vielen möglichen Beschreibungen der Handlung. Eine Handlung ist „Sein für Anderes“, die „Objektivität – ist hier allgemeine Subjektivität“ (PR  § 112  RN) Meine erstpersonale Perspektive über meine Handlung als Objektivität meines innerlichen Zwecks ist den Beschreibungen anderer Subjekte ausgesetzt, die ein gleiches Recht auf den Geltungsanspruch ihrer eigenen Handlungen erheben können.23 Es ist daher für meine Handlung 23

Das ergibt sich notwendig aus der Sollens-Struktur des moralischen Standpunktes: Da hier noch keine objektiv gültigen moralischen Pflichten bestehen, sieht sich jeder in der Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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notwendig, sich in dieser objektiven, intersubjektiven Sphäre als moralisch erweisen zu können. Zum anderen wurde uns, wie wir schon wissen, am Ende des Kapitels zum „Abstrakten Recht“ deutlich, dass unsere Freiheit darin besteht, nur unseren eigenen Interessen nachzugehen. Freiheit fordert, dass wir in unserem Wollen die Rechte anderer in Betracht ziehen, doch was die anderen wollen oder für gut erachten, war uns bisher gleichgültig. In der moralischen Konzeption der Freiheit geht Hegel einen Schritt weiter und spricht von einem notwendigen Paradigmenwechsel in seiner Freiheitstheorie: Im Rahmen des Rechts besteht meine Aufgabe darin, die Rechte anderer zu respektieren. Solange man nicht in diese Rechte eingreift, ist man frei. Das Leben, das Wohl oder die Interessen anderer sind mir gleichgültig. Im „Notrecht“ redet Hegel von einer neuen vernünftigen Notwendigkeit der Freiheit und argumentiert, dass es für die Idee oder das System der Freiheit notwendig ist, dass wir eine „positive“ Beziehung zum Wohl anderer haben und nicht mehr den anderen gegenüber gleichgültig bleiben.24 Im „Notrecht“ spricht Hegel also von der Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels vom Rechtlichen zum Moralischen für die Freiheit, wo neben den Rechten nicht zuletzt das Leben und das Wohl anderer Bedeutung gewinnen: „Im Rechte kommt es nicht darauf an, ob der Wille der anderen etwas möchte in Beziehung auf meinen Willen, der sich Dasein im Eigentum gibt. Im Moralischen dagegen handelt es sich um das Wohl auch anderer, und diese positive Beziehung kann erst hier eintreten.“ (PR § 112 Z) Der Terminus „positiv“ bezieht sich in dem Ausdruck „positive Beziehung“ darauf, dass Hegel im „Notrecht“ den Punkt hervorheben möchte, an dem die „negative“ Regulierung der Willen aller durch abstrakt-rechtliche Beziehungen (im Sinne eines Nicht-Betretens der privaten Bereiche anderer und deswegen im Sinne der Gleichgültigkeit den anderen gegenüber) zu einem Widerspruch, d.  h. einer Rechtskollision, führt, der nur durch eine moralische Perspektive aufgelöst werden kann, in der das Leben oder Wohl anderer Bedeutung und Wert gewinnen. Eine Person kann nur aus der Sicht der Moral aufgefordert werden, ihr Recht auf Eigentum zugunsten des Rechtes eines anderen aufzugeben.25

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Lage, einen Anspruch auf die Geltung seiner Absichten als die genuinen moralischen Pflichten erheben zu können. „Beim formellen Rechte war gesagt worden, dass es nur Verbote enthalte, dass die streng rechtliche Handlung also eine nur negative Bestimmung in Rücksicht des Willens anderer habe. Im Moralischen dagegen ist die Bestimmung meines Willens in Beziehung auf den Willen anderer positiv […].“ (PR § 112 Z) Quante ist zwar in dem Punkt zuzustimmen, dass ein wichtiges Element einer subjektiven Handlung darin besteht, dass meine subjektiven Zwecke auch in ihrer Objektivität als meine Handlung durch die anderen Subjekte als gültig akzeptiert und anerkannt werden. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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Durch diese Erklärungen erreichen wir den Abschnitt § 113, der den Kern dieses Kapitels, nämlich die Verdeutlichung der Implikationen des moralischen Wollens bzw. der moralischen Handlungen auf den Punkt bringt. Um immanent fortgehen zu können, sollten wir die Implikationen einer moralischen Handlung verdeutlichen, welche die drei oben erwähnten Bedingungen erfüllen sollen: 1) Reflexion meiner Selbstbestimmung  2) den allgemeinen objektiven Forderungen der Moral gemäß 3) positives Verhältnis gegenüber den Willen anderer. Hier fasst Hegel die Eigenschaften der moralischen Handlung so zusammen: „Die Äußerung des Willens als subjektiven oder moralischen ist Handlung. Die Handlung enthält die aufgezeigten Bestimmungen, a) von mir in ihrer Äußerlichkeit als die meinige gewusst zu werden, ß) die wesentliche Beziehung auf den Begriff als ein Sollen und γ) auf den Willen anderer zu sein.“ (PR § 113). Für Hegel ist eine Handlung entweder moralisch gut oder gar keine Handlung. Ganz allgemein hat eine Handlung also die folgenden Eigenschaften: Erstens muss ich sagen können, dass ich diese Handlung durchführen wollte, sie war kein Zufall und ich hatte den Vorsatz. Zweitens muss die Handlung im Rahmen moralischer Prinzipien durchgeführt werden. Drittens muss meine Handlung einen positiven Einfluss auf die anderen haben in dem Sinne, dass ich das Gute anderer auch in Betracht ziehe (Diskussion im „Notrecht“).26

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Ein „Geltungsanspruch“ findet grundsätzlich in einer intersubjektiven Sphäre Sinn und aus diesem Grund ist eine Beziehung zu anderen Willen erforderlich. (S. 112 f.) Was aber in seiner Interpretation dieses Abschnitts unklar bleibt, ist die Notwendigkeit des Wortes „positiv“ in Hegels Ausdruck. Warum spricht Hegel nicht nur von „Beziehung“, sondern von einer „positiven Beziehung“? Laut Quante ist „positiv“ „in zweifachen Sinn“ zu verstehen: „Einmal ist sie positiv, weil die subjektive Perspektive einen positiv formulierbaren Inhalt hat. Dies ist der Unterschied zur Übereinstimmung im abstrakten Recht, wo die subjektive Perspektive nur negativ, als nicht-rechtswidrig bestimmt ist. Außerdem ist sie positiv, weil sie die wesentliche Identität des Gegenübers, ebenfalls ein denkendes und wollendes Subjekt zu sein, impliziert.“ Siehe Quante, Hegels Begriff der Handlung, S. 121 ff. Ich verstehe „positive Beziehung“ anders: Im Gegensatz zum „Abstrakten Recht“, wo die Beziehung meines Willens zu dem Willen anderer „negativ“ war in dem Sinne, dass ich den Bereich des anderen Willens nicht betreten durfte, ist hier „positiv“ mit Bezug auf Hegels Notrechtslehre zu verstehen. Das „Notrecht“ macht deutlich, dass wenn ich gegenüber anderen gleichgültig bleibe, Rechtskollisionen entstehen, die nur dann vermieden werden können, wenn das Leben, das Wohl, allgemein das Gute anderer in unsere Theorie integriert wird. In diesem Licht bezeichnet „positiv“ für mich eine positive und nicht mehr gleichgültige Position den anderen Subjekten gegenüber. Dadurch, dass die Handlung zugleich als Ausdruck des moralischen Willens bezeichnet wird, ist Hegels Handlungstheorie von denjenigen gegenwärtigen Theorien zu

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Was bis jetzt in diesem Kapitel skizziert wurde, war nur ein allgemeines Schema. Im Folgenden werden wir uns genauer mit diesen Implikationen des moralischen Wollens und gleichzeitig mit dem „Recht des moralischen Willens“ befassen (PR § 114), und zwar in den folgenden Schritten: a) Im ersten Teil des folgenden Kapitels wird das „abstrakte oder formelle Recht der Handlung“ behandelt. Diesbezüglich möchte Hegel verdeutlichen, was es überhaupt bedeutet, wenn wir sagen, eine Handlung sei Ausdruck meiner Subjektivität. „Vorsatz“ spielt dabei die Hauptrolle. Die moralische Selbstbestimmung ist hier auf ihrer anfänglichen Stufe, und das „formelle Recht“ der Handlung fordert, dass mir nur das zugerechnet wird, was allgemein in meinem Vorsatz lag. b) Im zweiten Schritt weist Hegel darauf hin, dass das Subjekt, weil es ein denkendes Wesen ist, in der Lage ist, nicht nur einen besonderen Aspekt, sondern die allgemeine Natur seiner Handlungen sowohl für sich als auch in der Wirklichkeit zu erkennen: Zum einen geht es dem Subjekt in seiner Absicht um den allgemeinen Wert der Handlung für sich. Das Subjekt hat demnach das Recht, um überhaupt motiviert zu sein, sein Wohl zu bestimmen und den „Wert“ der Handlung für seine Glückseligkeit in Betracht zu ziehen und dadurch zu handeln. Das Recht auf „Absicht“ enthält mein Recht, den „besondere(n) Wert“ der Handlung für mich zu bewerten. Mit anderen Worten habe ich das Recht, durch meine Handlungen meinen subjektiven Zwecken Ausdruck zu geben und meine Interessen nicht zu unterdrücken. Zum anderen handelt es sich hierbei aber auch um einen allgemeinen Aspekt in der Wirklichkeit bzw. um die objektiven Implikationen meines Wollens. c) Die Handlung sollte auch einen „allgemeine(n) Wert“ haben, und zwar in dem Sinne, dass die Handlung den allgemeinen moralischen Gesetzen gemäß sein sollte. Hegel hebt hier „das Gute“ als Zweck der Moral hervor und fordert, dass die objektive Handlung dem moralischen Guten gemäß werde. (PR § 114)

unterscheiden, für die diese zusätzliche Bedingung – der moralische Aspekt – keine notwendige Bedingung ist, sondern für die die reine Intentionalität genügt, um ein Ereignis jemandem als seine Handlung zuzusprechen. Unter den Hegelexperten ist Quante der Auffassung, man könne bei Hegel von einer Handlung reden, ohne sich mit der Frage, ob die Handlung moralisch ist oder nicht, befassen zu müssen. Näher siehe Quante, Hegels Begriff der Handlung. Mir scheint es jedoch anhand dessen, wie Hegel selbst explizit in seiner Definition der Handlung von der Notwendigkeit des moralischen Aspekts redet, plausibler, dass die Moralität für Hegel eine notwendige Seite einer Handlung darstellt: „Die Äußerung des Willens als subjektiven oder moralischen ist Handlung.“ (PR § 113).

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156 5.2

Kapitel 5

Rechte des subjektiven Willens

5.2.1 Vorsatz und Tat Was in diesem Kapitel schon in Umrissen vorgestellt wurde, ist die nächste Figur der Freiheit. Wir müssen nun zusehen, wie sich diese Figur – das moralische subjektive Wollen – weiterentwickelt und in die Wirklichkeit umsetzt. Nun ist die Frage: Was impliziert ein wirklich moralischer Wille? Wir dürfen am Anfang natürlich keine Bestimmungen oder Unterscheidungen in der inneren Selbstbestimmung voraussetzen und begnügen uns daher mit einer minimalen Verwirklichung eines moralischen Willens. In einem ersten Schritt dazu – um keine Voraussetzungen über den subjektiven Willen und seine Rechte machen zu wollen – sollte ein Subjekt innerlich wissen, was es tun möchte. Dies ist die Mindestanforderung dafür, dass überhaupt von Selbstbestimmung die Rede sein kann. Dementsprechend fangen wir mit dieser anfänglichen Selbstbestimmung an und fahren dann immanent fort, um die weiteren notwendigen Bestimmungen dieses Willens zu explizieren. So haben wir es im ersten Schritt mit einer anfänglichen „Tat“ des Subjekts als erste Verwirklichung dieses Wollens zu tun, was Hegel mit dem Ausdruck „Vorsatz“ bezeichnet. Etwas kann also nur meine Tat sein, wenn es in meinem Vorsatz lag. Gleichzeitig expliziert Hegel die damit notwendig zusammenhängenden Rechtsbestimmungen, in erster Linie das „Recht des Wissens“ als die erste Erscheinung des Rechts eines subjektiven Willens, nach dem nur diejenigen Folgen einer Handlung dem Subjekt zugerechnet werden können, die in seinem Wissen oder Vorsatz lagen, und diese bestimmen dann auch die Grenzen seiner „Schuld“. Im Folgenden gehen wir ausführlicher auf diesen Punkt ein.27 27

An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die Struktur von Hegels Argumentation in diesem Kapitel angebracht: Wir verstehen die zugrundeliegende Logik des „Moralitätskapitels“ anders als Vieweg. Für ihn liegt diesem Kapitel Hegels Urteilslogik zugrunde: „Der Aufweis dieser Grammatik muss beinhalten, inwiefern den Stufen des moralischen Willens und Handelns in besonderer Weise die logischen Formen des Urteils zugrunde liegen – die philosophische Theorie der Moralität hat ihre Tiefenstruktur in der Urteilslogik.“ Siehe Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit, S. 150 ff. In der vorliegenden Rekonstruktion wird hingegen die Position vertreten, dass die Urteilslehre uns kein umfassendes Verständnis dieses Kapitels ermöglicht: Wir können durch die Urteilslehre den anderen Pfeiler dieses Kapitels (so wie auch in jedem anderen Kapitel), nämlich die Notwendigkeit des Daseins des Willens, d.  h. die Rechtsbestimmungen in den Grundlinien, nicht erklären. In der Urteilslehre behandelt Hegel nur bestimmte Formen des Denkens und die Betrachtung der objektiven oder wirklichen Form des Begriffs bleibt außer Betracht. Es ist erst im Kapitel „Idee“, wo er zum ersten Mal von der Notwendigkeit der begrifflichen zusammen mit der objektiven Bestimmung als Bestimmung der Wahrheit redet. In jedem Kapitel der

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Eine Handlung kann nur dann als Ausdruck eines subjektiven Willens verstanden werden, wenn sie in seinem Vorsatz28 lag, d. h. wenn sie kein Zufall gewesen ist und das Subjekt sie hervorbringen wollte. Ohne diese minimale Bedingung kann von keiner subjektiven Handlung die Rede sein. In der Tat besteht die erste notwendige Bedingung zum Erkennen einer selbstbestimmten Handlung genau darin, festzustellen, ob das Subjekt überhaupt vorhatte, etwas zu tun. Eine Handlung kann nicht als Ausdruck des Willens eines Subjekts bezeichnet werden, wenn das Subjekt sie nicht ausführen wollte oder kein Wissen davon hatte. Welche Rechtserscheinung wird nun mit dieser notwendigen Bedingung verbunden? Hier kommt ein Kriterium für die rechtliche Zurechnung ins Spiel: Ich habe insofern Schuld für eine Begebenheit, als sie in meinem Vorsatz war und ich sagen kann, ich wollte es tun: „[D]er Wille hat Schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Dasein das abstrakte Prädikat des Meinigen liegt.“ (PR § 115) Oder präziser gesagt: Wenn ich handle, entstehen dadurch mannigfaltige Aspekte, die subjektive Perspektive ist dabei allerdings nicht allumfassend, sondern „endlich“. Deswegen ist es nur insofern ein Recht des Subjekts die Schuld zu tragen und Verantwortung zu übernehmen, als eine Handlung in seinem Vorsatz lag: „Das Recht des Willens aber ist, in seiner Tat nur dies als seine Handlung anzuerkennen und nur an dem Schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag.“ Hegel spricht hier vom „Recht des Wissens“. Als Beispiel erwähnt er den Fall des Ödipus. Dieser wurde als Vatermörder angeklagt, wobei dieser Mord ihm angeblich nicht zuzurechnen war, da es nicht in seinem Vorsatz lag, seinen Vater zu töten. Aber nach Hegel ist diese Betrachtungsweise eine moderne, für die der subjektive Faktor entscheidend ist, während dies für die alten Griechen nicht der Fall war. Die modernen Subjekte haben das Recht, nur für ihre Vorsätze Schuld zu tragen. (PR § 117) Allerdings scheint das „Recht des Wissens“ ziemlich unbestimmt und allgemein zu sein. Wie können wir durch dieses Rechtsverhältnis das Problem der

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Grundlinien geht es um die Idee, das heißt um den Begriff und seine Verwirklichung. Man kann daher die begrifflichen Bestimmungen eines moralischen Willens nicht vollständig analysieren, ohne sich gleichzeitig mit den Rechtsbestimmungen zu befassen. Der „Vorsatz“ ist dadurch von der „Absicht“ – die später kommt und eine entwickeltere Form der Selbstbestimmung impliziert – unterschieden, dass es sich bei der Absicht um die allgemeine Bedeutung der Handlung für mich handelt und ob ich in ihr das Ziel meiner Subjektivität verwirklicht sehe, während wir beim Vorsatz von innerlichen Überlegungen des Subjekts komplett absehen und fragen, ob das Subjekt überhaupt etwas machen wollte oder nicht. Die Frage danach, aus welchen Gründen das Subjekt eine Handlung vollzieht und welche Beziehung diese Handlung zu seinen allgemeinen Zielen und seinem Wohl hat, interessiert uns hier nicht.

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Zurechnung und der Verantwortung genauer behandeln? Wir wissen bereits, dass viele Umstände mit einer einzelnen Tat zusammenhängen. Welche von den Folgen und Konsequenzen können oder müssen daher einem Subjekt zugerechnet werden? Müssen wir, weil die Folgen das Resultat einer Vielzahl verschiedener Umstände sein können, diese völlig außer Acht lassen und nur den subjektiven Vorsatz in den Vordergrund stellen, oder sind, umgekehrt, nur die Folgen und Konsequenzen einer Tat zu bewerten? Dies sind die beiden Positionen, die für Hegel die Hauptströmungen dieser Diskussion kennzeichnen: „Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu machen“. Hegel lehnt beide Positionen ab, weil sie allein aus dem „abstrakte[n] Verstand“ resultieren. (PR § 118) Hegel schlägt in Abgrenzung von diesen Theorien einen anderen Maßstab vor: die „allgemeine Natur der Handlung“. Er beantwortet die Frage nach Kriterien der Zurechnung und Verantwortung durch eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Folgen: „zufällige“ und „notwendige“. Es gibt also nach Hegel „notwendige Folgen, die sich an jede Handlung knüpfen“ (PR § 118 Z), und die „allgemeine Natur der Handlung“ besteht genau aus diesen notwendigen Folgen. Wenn ich beispielsweise eine Person mit dem Messer an einem Teil seines Körpers verletze, muss ich meine Perspektive nicht ausschließlich auf dieses Stück Fleisch beschränken und sagen, dass ich nur diesen Teil seines Körpers verletzen wollte. Vielmehr bin ich in der Lage, die allgemeinen Implikationen dieser Handlung zu kennen und zu wissen, dass diese Verletzung das Leben dieser Person beenden und meine Handlung einen Mord oder Todschlag implizieren könnte. Warum aber weist Hegel nun dem Menschen die Fähigkeit zu, die notwendigen Folgen einer Tat kennen zu können? Der Mensch, der ein allgemeines Denkvermögen besitzt, muss nicht nur diese einzelne Handlung, sondern die allgemeinen und wesentlichen Folgen einer Handlung kennen. Als erste Bedingung einer Handlung wurde erwähnt, dass diese aus unserem Vorsatz bestehe. Der Vorsatz ist aber zu allgemein und unbestimmt, und in ihm kommt die Tatsache, dass der Mensch denken und die allgemeinen notwendigen Konsequenzen einer Handlung kennen kann, noch nicht zum Ausdruck. Aus diesem Grund hat sich ergeben, dass der Mensch als ein „Denkendes“ die allgemeine und wesentliche Natur der eigenen Handlung kennt. Daher gehen wir zu einer höheren Stufe der Selbstbestimmung über, nämlich der Absicht: Der „Mensch muss eine Absicht haben im Handeln, nicht nur Vorsatz – weil Denkendes. (PR § 118 RN) Kurz gesagt: Wenn wir mit einer anfänglichen Weise der subjektiven Selbstbestimmung beginnen, d.  h. mit dem Vorsatz und dem damit verbundenen wirklichen Dasein dieses Willens bzw. seiner Tat, wird uns deutlich, dass jede

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Handlung in sich allgemeine Implikationen hat, die zur wesentlichen Natur dieser Handlung gehören, und dass der Mensch als ein bewusstes und denkendes Wesen selbstverständlich in der Lage ist, diese notwendigen Implikationen schon zu kennen. Wenn einer z. B. eine Person mit dem Messer schwer verletzt, weiß er, dass es nicht nur der Bauch dieser Person ist, den er verletzt. Er setzt darüber hinaus das Leben dieser Person aufs Spiel und muss die Verantwortung nicht nur für den Messerstrich, sondern allgemein für den möglichen Tod dieser Person übernehmen. Menschliche Handlungen haben diese notwendige Eigenschaft, dass sich der Mensch solcher notwendigen Implikationen bewusst werden kann. 5.2.2 Absicht und subjektive Freiheit Wie bereits erwähnt, führt uns diese Erkenntnis zu einer höheren und komplexeren Stufe der subjektiven Selbstbestimmung, nämlich der Absicht. Der Unterschied zwischen „Vorsatz“ und „Absicht“ besteht genau in dem Bewusstsein dieser allgemeinen Seite der Handlung: „Der Vorsatz, als von einem Denkenden ausgehend, enthält nicht bloß die Einzelheit, sondern wesentlich jene allgemeine Seite – die Absicht.“ (PR § 119) Erst bei einer solchen Willensbestimmung kann von menschlicher Handlung die Rede sein.29 Die Sichtweise des Menschen ist nicht beschränkt auf das, was zum jeweiligen Zeitpunkt mit etwas Einzelnem passiert, vielmehr kann er die allgemeinen Implikationen, die mit einem einzelnen Ereignis verbunden sind, in Betracht ziehen. Diese allgemeine Bedeutung wird uns zugerechnet und wir können nicht sagen, dass wir nur dieses einzelne Ereignis vor Augen hatten. Um die allgemeine Natur einer Handlung zu wissen, bedeutet aber nicht, alle möglichen Folgen einer einzelnen Handlung schon zu kennen. Mit ihr sind nur die notwendigen Folgen und Implikationen angesprochen. Um zu garantieren, dass das Subjekt nur für diese notwendigen Aspekte seiner Handlung verantwortlich ist, tritt hier eine neue Rechtsbestimmung auf, nämlich das „Recht der Absicht“, das impliziert, dass nur diese allgemeine Seite dem Subjekt zuzurechnen sei, nicht aber auch die entfernten oder zufälligen Folgen vom Subjekt zu verantworten wären. (PR § 120) 29

Und es sind, mit Quante gesprochen, diese zwei unterschiedlichen Beschreibungen, welche die „Handlung“ von der „Tat“ unterscheiden: Bei der Beschreibung einer Tat geht es um den Vorsatz des Subjekts, „die Involviertheit des Willens im engen Sinne“, also die Tatsache, dass ein Ereignis „freiwillig“ getan wird, während bei der Handlung nicht nur diese Aspekte, sondern auch die Perspektive des Subjekts, die aus seinen Zwecken, Gründen, Wünschen und Überzeugungen sowie der Vorstellung über die Folgen der Handlung besteht und die für Hegel die Absicht des Handelnden ausmacht, ins Spiel kommt. Näher siehe Quante, Hegels Begriff der Handlung. S. 142 f.

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Mit der „Absicht“ wird der Reflexion oder dem Denken zum ersten Mal in den Grundlinien ein positiver Sinn bei der Bestimmung unseres Willens zugewiesen.30 Das Subjekt wird hier als das Wesen bezeichnet, das in der Lage ist, sich allgemeine Ziele und Zwecke zu setzen und die allgemeinen Implikationen jedes Zwecks in Betracht zu ziehen. Man kann dies die „subjektive Freiheit“ nennen, die darin besteht, selbst die eigenen Ziele bzw. die allgemeine Form der besonderen Willensinhalte zu bestimmen. Jede Handlung hat innerlich eine allgemeine Bedeutung für das Subjekt. Ohne diese subjektive Freiheit kann nicht von einer Handlung die Rede sein, weil diese subjektive Seite die Grundlage jeder Motivation für das Subjekt ist. Das Subjekt hat ein allgemeines Bewusstsein und kann sich ein allgemeines Bild von seinen Zielen und Gründen machen: „Aber das Subjekt hat als in sich reflektiertes, somit gegen die objektive Besonderheit Besonderes, in seinem Zwecke seinen eigenen besonderen Inhalt, der die bestimmende Seele der Handlung ist.“ (PR § 121) Der allgemeine subjektive Zweck ist der Bewegrund für das Subjekt, seine eigene „Befriedigung“ und sein eigenes Interesse durch die Handlung zu verfolgen. Das ist eine notwendige Rechtsbestimmung für das Subjekt und macht seine „subjektive Freiheit“ aus: „[…] das Recht des Subjekts, in der Handlung seine Befriedigung zu finden.“ (PR § 121) Durch jede Handlung sucht das Subjekt dementsprechend nach einem bestimmten Ziel, dessen Beweggrund im Subjekt selbst liegt.31 Durch diese Seite, die dem Subjekt eigen ist, wird der Wert der Handlung für das Subjekt bestimmt. (PR § 122) Das Subjekt fragt sich, ob die Handlung für es einen Wert hat oder nicht, und daraus resultiert dann auch der mögliche Beweggrund. Das moderne Subjekt hat das Recht, für sich einen allgemeinen Zweck zu bestimmen und das „Wohl“ oder die „Glückseligkeit“ in der Verwirklichung dieses Zwecks zu suchen. Ich setze mir z. B. das Ziel, reich zu werden, sodass mich nur die Handlungen bewegen und interessieren, durch 30

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Beim persönlichen Willen, der Willkür war unsere reflexive Fähigkeit nur in einem negativen Sinne am Werk: Die Person war sich stets bewusst, nicht auf einen besonderen Inhalt beschränkt zu sein, von jeder Bestimmung abstrahieren zu können und ganz allgemein eine Vielfalt von Optionen vor sich zu haben. Allerdings blieb diese Gewissheit der Freiheit auf diesem allgemeinen, abstrakten Niveau, und die Person ist nicht den notwendigen Schritt weitergegangen, um ihre Zwecke und besonderen Willensinhalte konkret zu bestimmen. Deswegen war dieser Wille für Hegel unmittelbar, weil seine Inhalte immer durch innere Natur oder äußere Umstände bestimmt wurden. In alten Zeiten hatte man, Hegels Auffassung nach, nur Pflichten, aber in neueren Zeiten sei das Innerliche auch wichtig geworden und als ein Recht anerkannt worden. Es sei akzeptiert, dass Subjekte für Handlungen Beweggründe bräuchten: „[E]s will etwas, das in ihm begründet ist.“ (PR § 121 Z) Wenn man fragt, warum jemand etwas gemacht hat, gibt das Subjekt Gründe an, die für es legitim sind, und diese sind dann für es motivierend.

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die ich Geld verdiene.32 Dieser Wille ist nach Hegel kein unmittelbarer Wille, sondern „in sich reflektiert“, weil wir diesen „zu einem allgemeinen Zweck, [dem] des Wohls oder der Glückseligkeit erhoben“ haben. Meine Interessen und Begierden bestimmen meine Glückseligkeit. Wir haben sozusagen einen Raum für unsere natürlichen Interessen. Hier ist „der Ort, wo der Inhalt des natürlichen Willens (§ 11) eintritt.“ (PR § 123 Anm.) Es ist selbstverständlich ein Recht des Menschen, die eigene Glückseligkeit zu suchen und sich eigene Interessen zum Zweck zu machen.33 Durch die Absicht und die Bestimmung der subjektiven Ziele erreichen wir zwar eine höhere Stufe der Willensbestimmung. Was aber in dieses subjektive Wollen zu integrieren ist – wie im Übergang zur Moralität ersichtlich wurde –, sind die allgemeinen Rechtsbestimmungen. Solange der Wille des Subjekts den allgemeinen Forderungen des Rechts gegenübersteht, kann das System der Freiheit nicht erhalten bleiben. Um frei zu sein, ist es für alle Subjekte notwendig, ihr Wollen innerlich den allgemeinen Rechtsbestimmungen gemäß zu gestalten. Freiheit fordert eine innere Harmonie zwischen unseren subjektiven Zwecken und den objektiven Prinzipien des Rechts, und genau darin bestand die Notwendigkeit des Übergangs zur Moralität. In diesem Zusammenhang fragt Hegel, ob wir für unser Wohl oder für das Wohl der anderen das Recht verletzen dürfen? Hegels Antwort ist negativ. Da das Recht den Rahmen der Freiheit bestimmt, können keine „unrechtlichen Handlungen“ durch eine „moralische Absicht“ gerechtfertigt werden. Hegel nennt hier das Beispiel von Crispinus, der Leder gestohlen hat, um für die Armen Schuhe herzustellen. (PR  § 126 Z) Für Hegel ist das Wohl sowie die 32

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Hegels Idee der Glückseligkeit, nach der die subjektive Meinung über das, was ihm Befriedigung oder Glück verschafft, entscheidend ist, ist modern und unterschieden von der klassischen Variante dieser Idee, weil es in der klassischen Tradition der Ethik von Eudaimonia die Tugenden sind, die unabhängig von meinen subjektiven Ideen bestimmen, ob ich ein glückliches Leben führen kann. In der Neuzeit hingegen, besonders mit Hobbes und Locke, erhielt diese Lehre einen subjektiven Aspekt, weil darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Glück für jeden etwas anderes bedeuten kann. Hegels Anerkennung dieses Rechts für die Subjekte, eine eigene Vorstellung von einem guten Leben haben zu können, zeigt seine Distanz von der klassischen Lehre. Näher siehe Wood, Allen, Hegel’s Ethical Thought, S. 54 f. Es ist an dieser Stelle auf eine Unterscheidung hinzuweisen: Im Abschnitt § 20 hat Hegel die Glückseligkeitslehre als Theorie der Willensbestimmung abgelehnt, während er hier von der Notwendigkeit der Glückseligkeit für den subjektiven Willen spricht. Um zu verstehen, wie diese zwei Aussagen miteinander vereinbar sind, ist es wichtig einzusehen, dass Hegel die Glückseligkeitslehre wegen des inhärenten Form-Inhalt-Unterschieds als Rahmen für die Bestimmung des Willens ablehnt; sie wird aber wegen der natürlichen Seite des menschlichen Willens als ein Moment – und nicht als eine Lehre über die Bestimmung des Willens – in seine Freiheitstheorie integriert.

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subjektive Freiheit selbst ein Recht, und das Recht kann nicht gegen seine eigene Grundlage verstoßen. Es darf nicht für ein Recht ein anderes Recht verletzt werden: „Meine sowie der anderen Besonderheit ist aber nur überhaupt ein Recht, insofern ich ein Freies bin. Sie kann sich daher nicht im Widerspruch dieser ihrer substantiellen Grundlage behaupten; und eine Absicht meines Wohls sowie des Wohls anderer – in welchem Falle sie insbesondere eine moralische Absicht genannt wird – kann nicht eine unrechtliche Handlung rechtfertigen.“ (PR § 126) Das Recht auf subjektive Freiheit darf nicht zur Verletzung des Rechts eines anderen führen. Es ist, kurz gesagt, notwendig, in unserer Absicht unsere Zwecke in Harmonie mit den allgemeinen Rechtsverhältnissen zu bestimmen.34 5.2.3 Notrecht als der zweite Widerspruch im System der Freiheit Ist überhaupt kein Verstoß gegen das Recht erlaubt? Es gibt einen besonderen Fall, in dem das Eigentumsrecht einem anderen Recht weichen muss: Wenn das Leben „in der letzten Gefahr“ steht, haben wir, so Hegel, ein „Notrecht“, das es erlaubt, das Eigentumsrecht zu verletzen, um das Leben zu retten. Wenn etwa das Leben eines Menschen durch Stehlen eines Stücks Brot gerettet werden kann, ist diese Verletzung fremden Eigentums gerechtfertigt, weil mit dem Verlust eines Lebens eine unendliche Verletzung der Freiheit einherginge, die durch eine partielle Verletzung des Daseins der Freiheit, d. h. des Eigentumsrechts, verhindert werden kann: „Das Leben, als Gesamtheit der Zwecke, hat ein Recht gegen das abstrakte Recht.“ (PR § 127 Z)35 Obwohl Hegel in dieser Aussage dem Leben – oder der Subsistenz eines Willens – einen unendlichen Wert zuspricht und es im Vergleich zum Eigentum, das, trotz seines Status als Recht, prinzipiell eine Sache ist, als unentbehrlich bezeichnet, sollte man an dieser Stelle vor allem die Rolle des „Notrechts“ und die Lösung des darin enthaltenen Widerspruchs für Hegels Argument der Freiheit im Auge haben und versuchen, nachzuvollziehen, wie er diese Diskussion für seine Freiheitstheorie in Anspruch nimmt.36 In diesem 34

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Die besonderen Zwecke des Subjekts sind selbst ein Recht, das nie seiner Grundlage, d. h. dem allgemeinen Recht, widersprechen darf: „Die Besonderheit soll befriedigt werden, aber in Übereinstimmung mit dem Recht, kommt Kollision, so hat das Recht den Vorzug, das das Bewusstsein seiner Freiheit hat.“ Nachschrift Hoppe, § 126. „Alle anderen Besonderheiten außer dem Leben sind dem Allgemeinen untergeordnet […] Das Leben hat recht gegen das strenge Recht.“ Nachschrift Hoppe, § 127. Die Tatsache, dass Hegels Diskussion des „Notrechts“ in den Grundlinien in der Sekundärliteratur so spärlich behandelt wurde, muss als „überraschend“ bezeichnet werden. Unter den wenigen Arbeiten zu diesem Thema kann Schilds Aufsatz genannt werden. Siehe Schild, Wolfgang (1989): Hegels Lehre vom Notrecht, in: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus. Hösle, Vittorio (Hrsg.), S. 155 ff. Schild ist jedoch der Auffassung, dass

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Zusammenhang taucht eine wichtige Frage auf: Wenn wir das „Notrecht“ in das Rechtssystem aufnehmen, handelt es sich dabei nicht um einen Widerspruch in unserem System der Freiheit? Aus welchem Grund können wir ein Recht rechtfertigen, das eindeutig einem andern Recht entgegensteht? Wenn wir das „Notrecht“ als Anspruch auf das Eigentum eines anderen verstehen, das man verwenden darf, um sich aus einer Notlage zu befreien, dann entsteht ein Konflikt zwischen zwei Rechtsbestimmungen: dem Recht auf Eigentum und dem Recht auf Leben. Wie können wir ohne Widersprüche hinnehmen, dass ein Recht (das Recht auf Leben) ein anderes Recht (Recht auf Eigentum) verletzt? Ist das Notrecht ein Widerspruch in unserem System, der einfach hinzunehmen ist? Man kann sich fragen, ob Hegels Lösung darin besteht, das Notrecht dem System der Rechte als eigenständiges Recht hinzuzufügen. Das kann jedoch nicht Hegels Vorhaben sein. Seine Methode lässt keine unaufgehobenen Widersprüche zu. Daher ist nur folgende Lösung zu erwarten: Durch das Notrecht wird deutlich, dass die Freiheit einen Übergang zu einer umfassenderen Perspektive impliziert, die darin besteht, dass das Leben als Schranke des abstrakten Rechts die Endlichkeit des abstrakten Rechts illustriert. Die Folge davon ist, dass selbst das abstrakte Recht in unserem System der Freiheit in einem breiteren Raum zu betrachten ist, damit wir den Widerspruch des Notrechts aufheben können. Wie wir gesehen haben, ist der grundlegende Gedanke, der dem Übergang vom „abstrakten Recht“ zur „Moralität“ zugrunde lag, der, dass jeder innerlich die Rechte anderer zu respektieren habe. Die Grundlage waren die abstrakten Rechte der einzelnen Individuen. Durch die Kollision des Rechts auf Leben mit dem Eigentumsrecht sehen wir nun jedoch, dass die Freiheit etwas Höheres braucht. Sie fordert, dass in manchen Fällen eine Seite zum Wohle der anderen auf ihr Recht verzichten muss. Das scheint unseren Widerspruch lösen zu können.37

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das „Notrecht“ für Hegels Anliegen nicht notwendig ist. Unserer Auffassung nach ist dieser Teil aber sehr wohl notwendig, weil dadurch eine neue Sichtweise eröffnet wird, die den weiteren Verlauf der Diskussion über Freiheit prägen wird. Hegel will erstens nicht zu extrem sein und sagen, dass in der Not die Eigentumsrechte nicht mehr gültig sind; zweitens sieht er eine nicht egoistische, soziale Seite im Menschen, wenn er ihn in der Lage findet, das Wohl anderer in Form der moralischen Pflichten respektieren zu können. Hugo Grotius hingegen vertrat die Position, dass das grundlegende Naturrecht von der Institution des Eigentums oder anderen menschlichen Konstrukten die Gleichheit aller mit Bezug auf die Ressourcen der Erde fordere, und in Zeiten der Not müssten wir zu diesem grundlegenden natürlichen Recht zurückkehren. Siehe Grotius, Hugo (1950): De jure belli ac pacis libri tres (Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens). Schätzel, Walter (Hrsg.), Buch II. II. 2 und II. II. 6. Diese Position bietet allerdings keine Lösung für unseren Widerspruch, weil im Notzustand die eine Seite, d. h. das

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Anders formuliert lautet die Frage also, warum unser System der Freiheit (auf Basis der persönlichen Rechte) so konstituiert sein muss, dass darin zwei grundlegende Rechte miteinander in Konflikt stehen? An dieser Stelle brauchen wir einen neuen Rahmen für unsere Normen der Freiheit, weil die abstrakten Rechte der Personen diese grundlegende Rolle nicht länger übernehmen können. Für die Lösung dieses Widerspruchs ist demzufolge eine Erweiterung unseres Systems der Freiheit notwendig, damit die abstrakten Rechte und das Wohl, das u. a. das Leben in sich umfasst, einander nicht mehr entgegenstehen: „Die Not offenbart sowohl die Endlichkeit und damit die Zufälligkeit des Rechts als [auch] des Wohls – des abstrakten Daseins der Freiheit, ohne dass es als Existenz der besonderen Person ist, und der Sphäre des besonderen Willens ohne die Allgemeinheit des Rechts.“ (PR § 128)38 Es ist zu beachten, dass es Hegel hier nicht darum geht, das Recht zugunsten der Moral aufzugeben. Das Recht bleibt die Grundlage seiner Theorie.39 Es geht ihm vielmehr darum, unsere Perspektive darauf, was Recht als Bestimmung der Freiheit ist, zu erweitern, und zwar von einem beschränkten, rein individualistisch geprägten Blick auf das einzelne, selbstsüchtige abstrakte Recht

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Eigentumsrecht, als sekundär angesehen wird. Bezogen auf Hegel können wir in diesem Konflikt nicht eine Seite vernachlässigen. Wir sollten vielmehr durch die Erweiterung des Systems eine Lösung finden. Es muss gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass Hegel, wenn er das Notrecht in seinem Moralitätskapitel diskutiert und das Wohl der anderen in seine Definition des Guten integriert, mit Grotius, im Gegensatz zu Hobbes und den von ihm inspirierten Denkern, darüber übereinkommt, dass der Mensch gesellig und die Hilfe im Notzustand mit seiner Natur verträglich ist. Näher zu Grotius’ Auffassung siehe Mancilla, Alejandra (2016): The Right of Necessity: Moral Cosmopolitanism and Global Poverty, S. 31–40. Außerdem siehe Salter, John (2005): Grotius and Pufendorf on the Right of Necessity, in: History of Political Thought, 2005, Bd. 26, No. 2, S. 285–302. Diesen Konflikt zwischen dem Recht auf Wohl und dem abstrakten Eigentumsrecht, also die Beschränktheit der Perspektive des abstrakten Rechts für Freiheit, bringt Hegel in einer Vorlesung so zum Ausdruck: „Die Not zeigt nicht nur die Nichtigkeit des Wohls als der Realisierung der besonderen Subjektivität, sondern auch des Daseins der Freiheit, des Rechts.“ Nachschrift Wannenmann, § 64. Zudem sagt er in einer anderen Vorlesung: „Das Wohl (ist) ein Zufälliges, indem es in Kollision kommt mit dem Recht, aber das Recht (ist) auch Zufälliges, indem es mit dem Leben in Kollision kommt. Indem das Recht dem Leben aufgeopfert würde, würde es selbst ein Leeres. Die Not ist dieser Ausdruck, die absolute Not.“ Nachschrift Hoppe, § 128. Allen Wood sagt zu Recht, dass das Gute in Übereinstimmung mit dem abstrakten Recht der Individuen steht: „The good is that external existence which includes well-being or happiness, but well-being that has been achieved without violation of abstract right.“ Siehe seinen AufsatzHegel on Morality, in: Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide. David James (Hrsg.), S. 70.

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hin zu einem größeren Blick auf das Wohl aller.40 Das scheint Hegels Argument für die Notwendigkeit der Moral für die Freiheit zu sein. Diese neue Perspektive kann unseren Widerspruch aufheben und erklären, warum Hegel im Abschnitt 112 „eine positive Beziehung auf den Willen anderer“ als Bedingung der freien Handlung bezeichnet. Hier kommt das moralisch Gute als die Sphäre ins Spiel, in der dieser Widerspruch aufgelöst werden kann. Mit der Integration der Moralität der Handlungen in Hegels Theorie der Freiheit und mit dem Hinausgehen über die reine Legalität entsteht die Frage, wie genau dieser Übergang zu verstehen ist. Geht es hier um eine Legalisierung des Moralischen in dem Sinne, dass nur Handlungen mit moralischen Absichten rechtlich erlaubt sind und die Individuen deswegen durch das Rechtssystem gezwungen werden müssen, Handlungen aus moralischen Motiven zu vollziehen? Diese Option lehnt Hegel ganz explizit ab.41 Was vielmehr in diesem Schritt der Dialektik der Freiheit ausschlaggebend ist, ist die Anerkennung zweier Seiten: Zum einen hat das Rechtssystem die Aufgabe, das Recht der Individuen auf Erfüllung ihrer grundlegenden natürlichen Bedürfnisse anzuerkennen und zu fördern, ein Recht, das Hegel als Recht der Besonderheit – als Recht auf Wohlergehen und auf all das, was das Individuum für sich als gut erachtet – bezeichnet. Während das Recht im letzten Schritte in einem negativen Sinne die Beschränkung der Willkür der Individuen zur Aufgabe hatte, ist von nun an in einem positiven Sinne gefordert, das Leben und Wohl aller Individuen in das System zu integrieren. Zum anderen entsteht so die Forderung an die Individuen, nicht nur die abstrakten Rechte, sondern auch das Gute aller zu respektieren. Das System der Freiheit kann nur dann bestehen, wenn die Individuen über ihre selbstsüchtigen Schranken hinausgehen und das allgemeine

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„Durch diese neue umfassende Perspektive verschwindet das ‚einseitige‘ abstrakte Recht: Das Gute soll also sein die absolute Richtschnur des Besonderen sein; das Besondere hat aber auch sein Recht, und darum ist es in diesem Allgemeinen erhalten. Damit ist die Einseitigkeit des Rechts verschwunden, das gleichgültig ist gegen das Besondere.“ Nachschrift Hoppe, § 129. Oder: „Das Gute hat das absolute Recht gegen das abstrakte Recht. Das Gute ist mehr als das Recht“, ebd., § 130. Oder: „Mein Wohl erweitert sich von selbst sogleich zum Wohl Anderer, da mein Wohl nicht bestehen kann ohne das Wohl Anderer – so eigennützig.“ (PR § 126 RN) „Bei dem Moralischen, das heißt bei der Reflexion in mich, ist auch eine Zweiheit, denn das Gute ist mir Zweck, und nach dieser Idee soll ich mich bestimmen. Das Dasein des Guten ist mein Entschluss, und ich verwirkliche dasselbe in mir; aber dieses Dasein ist ganz innerlich, und es kann daher kein Zwang stattfinden. Die Staatsgesetze können sich also auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn.“ (PR § 94 Z)

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Gute im Auge haben, was für Hegel die Notwendigkeit der Handlungen gemäß moralischer Pflichten impliziert.42 In seiner Sittlichkeitstheorie wird Hegel zeigen, wie diese Einheit durch die objektiven sittlichen Pflichten und Handlungsnormen zustande kommt, sodass nicht nur jeder in der Lage ist, sein eigenes Gutes oder Wohl zu garantieren, sondern direkt oder indirekt für alle Individuen zu sorgen. So sehe ich beispielsweise durch die Institution der Familie, etwa durch meine Pflichten als Ehemann und Vater oder in der Liebe zu meiner Frau, nicht nur meine besonderen Wünsche und Ziele erfüllt, also das „Recht der Besonderheit“, sondern ermögliche es durch die Pflichten, die mit meiner Rolle verbunden sind, den anderen zugleich, ihre Wünsche erfüllen zu können. In den Handelsbeziehungen der bürgerlichen Gesellschaft wiederum arbeite ich nicht nur für meine eigenen Interessen, sondern indirekt für das Interesse aller. Im Staat bringe ich diese Einheit hervor durch meine sittliche Gesinnung und Rechtschaffenheit. In diesem Sinne garantieren die sittlichen Plichten auch das Gute aller. Nun besteht die Aufgabe unserer dialektischen Untersuchung darin, diesen moralischen Willen weiter zu bestimmen.43 5.3

Das moralisch Gute als die Lösung des Widerspruchs

Das Gute hat sich in dem Sinne als das Paradigma der Freiheit erwiesen, dass das Subjekt nur dann frei sein kann, wenn es dem allgemeinen Guten gemäß handelt.44 Wenn der subjektive Wille sich dem Guten gemäß bestimmt, dann haben wir keinen Widerspruch mehr zwischen dem Gerechten und dem subjektiven Willen. Das Gute ist das neue Paradigma der Freiheit in dem Sinne, dass es das abstrakte Recht nicht zurückweist, sondern erweitert, damit das 42

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Für Hegel sind beide einseitig und ihre wahre Bestimmung besteht in der Integration beider Perspektiven oder in ihrer „Einheit“. In einer Randnotiz zum § 128 sagt er: „[Recht – allgemeiner Begriff des Willens], [Subjektivität, Besonderheit – Leben], [Beide einseitig – Idee ihre Einheit]“. Der positive Sinn in Hegels Freiheitstheorie passt eindeutig nicht zu Berlins Bezeichnung solcher Theorien als „Selbstbeherrschung“: „But the ‚positive‘ conception of freedom as self-mastery, with its suggestion of a man divided against himself, has in fact, and as a matter of history, of doctrine and of practice, lent itself more easily to this splitting of personality into two: the transcendent, dominant controller, and the empirical bundle of desires and passions to be disciplined and brought to heel.“ Berlin, Liberty, S. 181. Laut Peperzak hat sich die Idee der Freiheit als die Idee des Guten ergeben. Siehe Peperzak, Adriaan (1997): Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§142–157), in: G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Siep, Ludwig (Hrsg.), S. 170.

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System der Freiheit den Widerspruch des Notrechts auflösen kann: „Das Gute ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens, in welcher das abstrakte Recht, wie das Wohl und die Subjektivität des Wissens und die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins, als für sich selbständig aufgehoben, damit aber ihrem Wesen nach darin enthalten und erhalten sind, – die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt.“ (PR § 129)45 Bis zum Abschnitt „Die Absicht und das Wohl“ in den Grundlinien gewinnt man den Eindruck, dass für Hegel moralisches Handeln aus Klugheit möglich, erlaubt und akzeptabel ist, d. h. ich kann moralisch handeln, weil es mir vorteilhaft ist. Durch seine Diskussion des „Notrechts“ zeigt er jedoch, dass das Wohl anderer zum Wesen einer freien Handlung gehört, und dass meine Freiheit wesentlich mit dem Guten aller verbunden ist. Außerdem lobt er Kant für den Gedanken, dass die Pflicht um der Pflicht willen und nicht aus Klugheit oder aus pragmatischen Gründen getan werden muss, damit man sich als moralisch bezeichnen kann: „Die Pflicht soll ich um ihrer selbst willen tun, und es ist meine eigene Objektivität im wahrhaften Sinne, die ich in der Pflicht vollbringe: indem ich sie tue, bin ich bei mir selbst und frei. Es ist das Verdienst und der hohe Standpunkt der Kantischen Philosophie im Praktischen gewesen, diese Bedeutung der Pflicht hervorgehoben zu haben.“ (PR § 133 Z) Es war Hegels Auffassung nach erst Kant, der die Notwendigkeit der moralischen Pflichten für die Freiheit hervorgehoben hat. Kant habe richtig erkannt, dass die Pflicht die Wahrheit des Willens sei, und dass das Handeln nach moralischen Pflichten zum Wesen der Freiheit gehöre: „Die Pflicht soll ich um ihrer selbst willen tun, und es ist meine eigene Objektivität im wahrhaften Sinne, die ich in der Pflicht vollbringe: indem ich sie tue, bin ich bei mir selbst und frei.“ Mit dem Wert, den Hegel an dieser Stelle auf Handlungen „aus Pflicht“ legt, scheint er mit Kant darin einig zu sein, dass die Moral um ihrer selbst willen für unsere Freiheit notwendig ist, oder anders gesagt: Die Moralität unserer Handlungen ist notwendig, weil wir nur im Rahmen eines moralischen Willens frei sein können: „Es ist das Verdienst und der hohe Standpunkt der Kantischen Philosophie im Praktischen gewesen, diese Bedeutung der Pflicht hervorgehoben zu haben.“ (PR § 133 Z) Die moralischen Pflichten sind folglich für Hegel nicht ausschließlich nützliche, prudentielle Grenzen für unser

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Es ist darauf hinzuweisen, dass wir es hier noch mit einem abstrakten Begriff des Guten zu tun haben und das realisierte Gute sich nur in der sittlichen Welt finden lässt. Außerdem geht die Untersuchung noch mit dem Begriff des Rechts weiter, der aber nicht mehr auf das „abstrakte Recht“ beschränkt ist, sondern durch eine Erweiterung auch das Gute in sich enthält.

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Zusammenleben, sondern sie sind vielmehr an sich absolut und notwendig für einen freien Willen. Allerdings können wir Hegels Definition des Guten auch entnehmen, dass der Begriff des guten Willens für ihn einen umfassenden Bereich bezeichnet, in den nicht nur die abstrakten Rechte der Person, sondern auch die Rechte der Individuen auf ihr Wohl und auf ihre Besonderheit mit einbezogen werden.46 Dieser Einbezug der abstrakten Rechte sowie des Wohls in das moralische Gute zeigt deutlich, dass Hegel eine strenge Trennung zwischen der Moral und der Sinnlichkeit der menschlichen Natur zurückweist, denn durch die Erfüllung guter Pflichten darf ich gleichzeitig meinem eigenen Wohl nachgehen. Diese Harmonie zwischen den beiden Seiten zeigt sich exemplarisch in den Beziehungen der Familienmitglieder in der Sittlichkeit: Wenn ich meine Pflichten gegenüber meiner Ehefrau und meinen Kindern erfülle, verleihe ich gleichzeitig meiner subjektiven Seite in Form der Liebe Ausdruck.47 46

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Diese Einbeziehung der Möglichkeit der Befriedigung natürlicher Triebe in seine Pflichtenlehre kann als Wiederbelebung der antiken Harmonie in der Polis, die in seinen Jugendschriften eine große Rolle spielte, verstanden werden. Da in der Polis die natürlichen Belange der Individuen durch die Sitten zum Ausdruck kommen konnten, stand jeder in Einklang mit den allgemeinen Sitten. Das „Recht auf Besonderheit“ in Hegels reifem Text, was in der Sittlichkeit für ihn eine Grundlage der Rechtfertigung sittlicher Normen ist, zeigt diese Kontinuität – natürlich nicht mehr in unmittelbarer Form – in seinen Gedanken. Pöggeler ist der Auffassung, dass Hegel seit Jena durch seinen Text Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts versucht habe, mit theoretischen Mitteln zu beweisen, dass diese schöne Harmonie zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen nicht verloren, sondern schon in der modernen sittlichen Totalität des Volkes vorhanden sei. Näher siehe Pöggeler, Otto (1973): Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. S. 85 ff. Quante ist der Auffassung, für das rationale Handeln im Sinne Hegels brauche man nicht unbedingt eine moralische Einstellung. Ein Subjekt könne rational handeln und das, was für es wertvoll ist, verwirklichen, ohne sich auf moralische Aspekte seiner Handlung beziehen zu müssen. In diesem Sinne ist, seiner Ansicht nach, Hegels Handlungsbegriff „moralneutral“. In dem oben zitierten Satz steht Hegels Sicht jedoch deutlich im Gegensatz zu Quantes Interpretation, wenn Hegel sagt, dass der Wert der subjektiven Handlung in ihrem moralischen Charakter bestehe. Was Quante meines Erachtens dazu führt, rationales und moralisches Handeln voneinander zu trennen, ist die Art und Weise, wie er eine moralische Handlung bei Hegel versteht: Für ihn ist eine Handlung moralisch, wenn wir „autonom“ handeln im Sinne „der formellen Selbstbestimmung des Subjekts“, dessen Inhalte allein dieser selbstbestimmenden Natur des Willens entstammen, während „Ziel und Zweck der Handlung“ für ihn aus „Glückseligkeit (besteht), die auf den natürlichen Willen bezogen ist“. In diesem Licht schließen die beiden einander aus. Siehe Quante, Hegels Begriff der Handlung, S.  228–230. Ich verstehe Hegels Definition eines moralischen guten Willens anders: Für Hegel müssen im moralischen Willen die Inhalte aus dem natürlichen Willen nicht unbedingt ausgeschlossen bleiben. Seine Definition des guten Willens enthält sehr wohl solche Inhalte, die unserem Wohl dienen: „Das Gute

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Da es nun aber das Gute ist, in dem das abstrakte Recht und das Recht der Subjektivität auf das eigene Wohl als Rechte ohne Widersprüche und kohärent koexistieren können, ist das Gute für Hegel diesen Rechten übergeordnet. Im Guten sind beide Rechte enthalten. Einerseits werden die Rechte der Individuen, wenn gut und moralisch gehandelt wird, respektiert. Keiner stiehlt das Eigentum des anderen, alle halten Verträge ein, keiner zwingt und verletzt die anderen usw. Andererseits wird in der Moralität geboten, dass man sich um den Nächsten kümmern sollte. Das rein egoistische Wohl hat hier keinen Platz. Stattdessen kümmern sich die Individuen um das allgemeine Wohl. Durch das moralisch Gute trägt jeder nicht nur zum eigenen, sondern auch zum Wohl aller anderen bei. In dieser Hinsicht umfasst das Gute also beide Perspektiven: „Jedes dieser Momente, insofern es von dem Guten unterschieden wird, hat nur Gültigkeit, insofern es ihm gemäß und ihm untergeordnet ist.“ (PR § 130) Das Subjekt wurde im ersten Schritte als frei bezeichnet, sofern es sein Wollen den Rechtverhältnissen gemäß bestimmt hat. Auf dieser Stufe nun, da sich das allgemein Gute als die übergeordnete Sphäre der Freiheit zum Ausdruck gebracht hat, hat der subjektive Wille seinen eigenen Wert und ist frei, insofern er moralisch und dem Guten gemäß handelt: „Für den subjektiven Willen ist das Gute ebenso das schlechthin Wesentliche, und er hat nur Wert und Würde, insofern er in seiner Einsicht und Absicht demselben gemäß ist.“ (PR  § 131) Hegel scheint der Moral eine fundamentale Rolle zugestehen zu wollen: „Das Gute ist überhaupt das Wesen des Willens in seiner Substantialität und Allgemeinheit – der Wille in seiner Wahrheit.“ (PR § 132 Anm.) Wenn er das Gute als den Willen in seiner Wahrheit bezeichnet, scheinen wir dem Ziel nahe zu sein. Wir sollten unseren Willen nach den Bestimmungen des Guten oder in Übereinstimmung mit moralischen Pflichten bestimmen, um wahrhaft frei zu sein. Um die Rechtserscheinungen, die wir bis jetzt erreicht haben, in die neue Perspektive zu integrieren, brauchen wir, im nächsten Schritt, allerdings moralische Pflichten oder Bestimmungen des Guten, die diesen verschiedenen Seiten Ausdruck verleihen. Denn was das Gute genau ist und welche ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens, in welcher das abstrakte Recht, wie das Wohl […] aufgehoben […]“ werden. (PR § 129). Hegel versucht, das Wohl und unsere besonderen Bedürfnisse in seine Theorie des freien Willens zu integrieren. Aus diesem Grund bleiben rationales und moralisches Handeln nicht voneinander getrennt. Er ist grundsätzlich der Auffassung, dass das menschliche Handeln neben den allgemeinen guten Pflichten auch das eigene Wohl des Subjekts im Auge haben muss, damit dieses überhaupt zum Handeln motiviert werden kann. Wir werden in seiner Sittlichkeitstheorie sehen, wie Hegel in jeder sittlichen Pflicht die Einheit beider Seiten explizieren wird.

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Bestimmungen es hat, wurde bisher noch nicht expliziert. Das Subjekt hat es bislang nur mit einem abstrakten Begriff des Guten zu tun. Moral ist an dieser Stelle also nur eine allgemeine Forderung. (PR § 131) Wir müssen uns Schritt für Schritt mit diesem weiteren Aspekt befassen. Dabei gilt es, die folgenden Punkte vor Augen zu haben: Zum einen sollte das, was wir bestimmen, durch uns gesetzt werden, nach unserer subjektiven Einsicht in das Gute, denn die Selbstbestimmung stand im Vordergrund der neuen Form der Freiheit, und ich bin nur dann selbstbestimmend, wenn ich selber die Inhalte meines Willens, in diesem Fall die moralischen Pflichten, bestimme. Zum anderen sollte dieses Gute, das wir bestimmen, auch in einem objektiven Sinne und nicht rein aus subjektiver Einsicht und Vorstellung gut sein: 1) Ein wichtiges Prinzip, das wir als Bestandteil des Begriffs vor Augen haben müssen – und das sich im Laufe des Arguments als notwendig erwiesen hat –, ist das Prinzip oder das Recht des Subjekts auf Selbstbestimmung. Was das Subjekt tut, muss auch in seinen Augen gültig und gut sein: „Das Recht des subjektiven Willens ist, dass das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde […]“ (PR § 132) Das Subjekt muss in seinem Bewusstsein seine eigenen Gründe für die Handlung haben, und sein Recht besteht darin, nur das anzuerkennen, was es als moralisch gut findet.48 Solange ich nicht einsehe, dass eine Pflicht gut ist, bin ich in der Handlung gemäß dieser Pflicht nicht selbstbestimmend und frei. Meine subjektiven Gründe und Einsicht sind entscheidend.49 Das Subjekt hat hier nach Hegel eine beschränkte Einsicht in das Gute. Das, was das Subjekt für gut hält, kann auch zum Bösen führen: „Wegen 48

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Beim persönlichen Willen war die Perspektive der Person auf das, was als ein Rechtsgebot galt, nicht entscheidend. Beim subjektiven Willen hingegen, da die innere Willensbestimmung für die Freiheit notwendig ist, spielt die innere subjektive Einsicht eine gewichtige Rolle. Die Einbeziehung subjektiver Gründe als notwendiges Element freien Handelns stellt Hegel in Gegensatz zur sokratischen intellektualistischen Tradition, laut der vor allem die Kenntnis des Guten die ausreichende Bedingung einer guten Handlung sei. Für Hegel hingegen sind auch die subjektiven Gründe entscheidend. Pippin bringt diesen Punkt ganz deutlich zum Ausdruck: „One is not free, so this account implies, just by being in the right relation to the good or by the possession of the knowledge of the good. Action is a matter of my being moved to act, and this requires, not that I be moved qua human being by a general desire for ‚the‘ human good, but that whatever reason for action some cognition might provide, it must be a reason for me, and not just generally ‚for anyone‘. For one thing, this means that the considerations that seem actionable must, if they are to move me to act, make sense as part of the fabric of the particular life I lead.“ Pippin, Robert: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, S. 134 f.

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ihrer formellen Bestimmung ist die Einsicht eben sowohl fähig, wahr, als bloße Meinung und Irrtum zu sein.“ (PR § 132 Anm.) Trotzdem bildet die subjektive Einsicht eine notwendige Grundlage der moralischen Selbstbestimmung. 2) Die andere Notwendigkeit ist, wie stets hervorgehoben, die Wirklichkeit, die Realisation des guten Willens. Durch die Handlung des Subjekts kommen Veränderungen in der objektiven Sphäre zustande, und andere Individuen werden durch diese Handlung beeinflusst. Meine Handlung als ein Ereignis in der objektiven Welt muss diesen objektiven Gesetzen und Bedingungen unterworfen sein. Das Handeln in der Welt setzt demnach voraus, dass wir in einer objektiven Sphäre mit anderen subjektiven Willen handeln, die selber ebenfalls einen Anspruch auf die Moralität ihrer Willensbestimmungen haben. Unser guter Wille muss sich auch in diesem objektiven Kontext als gut erweisen können. Was das Subjekt für gut hält, ist nicht notwendigerweise allgemein gut, und niemand kann erwarten, dass sich die Objektivität nach seiner Meinung richtet: „Was ich für die Befriedigung meiner Überzeugung von dem Guten, Erlaubten oder Unerlaubten einer Handlung und damit von ihrer Zurechnungsfähigkeit in dieser Rücksicht fordere, tut aber dem Rechte der Objektivität keinen Eintrag.“ (PR § 132 Anm.) Ausgehend von diesen zwei Punkten sollten wir nun beginnen, über dieses abstrakte Gute hinauszugehen und es bestimmen. Was sind jetzt unsere bestimmten guten Pflichten, damit wir wirklich moralisch handeln können? Hegel vergleicht diese Frage mit der, die an Jesus gerichtet war: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? Was sind die bestimmten Pflichten, damit wir, wenn wir ihnen nachkommen, gut – bei Hegel: frei – leben können? (P § 134) Zum Handeln brauchen wir bestimmte und besondere Pflichten. Man kann nicht aus einem abstrakten Begriff der Pflicht handeln, denn der Wille braucht besondere Inhalte. Bislang haben wir es also nur mit der allgemeinen Notwendigkeit eines moralisch guten Willens zu tun gehabt. Nun aber hält Hegel fest: „Weil das Handeln für sich einen besonderen Inhalt und bestimmten Zweck erfordert, das Abstraktum der Pflicht aber noch keinen solchen enthält, so entsteht die Frage: was ist Pflicht?“ (PR § 134) Wenn von Kant als der Hauptfigur des „moralischen Standpunktes“ die Rede ist und ihm ein derart großer Stellenwert beigemessen wird, muss man natürlich von Hegel erwarten, dass er sich in erster Linie an Kants Moralphilosophie wendet, um diese Frage nach den bestimmten moralischen Pflichten zu beantworten. Und das ist in der Tat Hegels Vorhaben. (Hegel kommt allerdings am Ende zu dem Schluss, dass der moralische Standpunkt, weil er sich

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hauptsächlich auf die allgemeine Form des Gesetzes und das Kriterium der „Widerspruchlosigkeit“ fokussiert, nicht in der Lage ist, uns bestimmte Inhalte oder Pflichten für einen moralischen Willen zu vorzugeben.50) Zu diesem Zweck befasst sich Hegel mit Kants Moralgesetz des „kategorischen Imperativs“. Er möchte herausfinden, ob Kants Moraltheorie in der Lage ist, diese bestimmten moralischen Pflichten herauszuarbeiten. Der kategorische Imperativ gebietet, dass wir eine Maxime unter den möglichen Maximen einer Handlung nehmen und dann prüfen, ob diese Maxime als allgemeines Gesetz mit sich selbst zu keinen Widersprüchen führt. Wenn das der Fall ist, dann ist eine Handlung gemäß dieser Maxime moralisch erlaubt. Hegel ist allerdings der Auffassung, dass der kategorische Imperativ allein diese Pflichten nicht hervorbringen kann. Um diese Schwäche in Kants Theorie aufzuzeigen, nimmt Hegel ein Beispiel aus Kants eigenem Text und beweist, dass diese Formel allein nicht ausreichend ist. Dieser Punkt wird durch Hegels Beispiel vom „Depositum“ verdeutlicht: Eine mögliche Maxime ist: Mein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern. Nun wollen wir sehen, ob diese Maxime als ein moralisches Gesetz gelten kann oder nicht, bzw. ob sie für alle ein Gesetz des Handelns sein kann. Jemand gibt mir, so Hegel, „ein Depositum, dessen Niederlegung mir niemand beweisen kann“, deswegen kann ich ganz einfach leugnen, dass ich überhaupt etwas bekommen habe, und dadurch kann ich mein Ziel, mein Vermögen auf jede mögliche Weise zu vermehren, erreichen.51 Kants Ansicht nach kann diese Maxime nicht ein allgemeines Prinzip werden, denn sie führt zu einem Widerspruch: Dieses Prinzip als Gesetz vernichtet sich selbst, weil es dazu führt, dass die Menschen einander kein Depositum mehr geben. Von daher führt diese Maxime nach Kant zu einem Widerspruch, und deswegen kann diese Maxime kein allgemeines Gesetz der Moral werden.52 Nun fragt Hegel: „[D]ass es kein Depositum gäbe, welcher Widerspruch läge darin?“ Hegel 50

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Dass Kants moralischer Standpunkt nicht in der Lage ist, uns bestimmte Inhalte zu geben, und das Gute bei diesem Standpunkt noch unbestimmt bleibt, kommt sehr deutlich in diesem Zitat zum Ausdruck: „Wenn dann gesagt wird, der Mensch solle das Gute zum Inhalt seines Willens machen, so rekurriert sofort die Frage nach dem Inhalt, d. h. nach der Bestimmtheit dieses Inhalts, und mit dem bloßen Prinzip der Übereinstimmung des Willens mit sich selbst sowie mit der Forderung, die Pflicht um der Pflicht willen zu tun, kommt man nicht von der Stelle.“ (Enz § 54 Z) Hegel, G. W. F., Naturrechtsaufsatz, S. 462. Das Kriterium für Kant besteht, wie in diesem Zitat deutlich wird, in der Widerspruchslosigkeit mit sich selbst, denn „aus jener Bestimmung der Pflicht, als dem Mangel des Widerspruchs, der formellen Übereinstimmung mit sich“ will er bestimmte Inhalte produzieren. (PR § 135 A) Eine Maxime kann laut Kant nur dann allgemeines Gesetz oder Inhalt der Moral werden, wenn sie zu keinem Widerspruch mit sich selbst führt. Siehe Kant, KpV, A 49–50. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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behauptet, dass ein Widerspruch nur dann auftritt, wenn wir das Depositum als eine notwendige Grundnorm voraussetzen und daraus den Schluss ziehen, dass die Vernichtung des Depositums zu einem Widerspruch führt: „Dass kein Depositum sei wird anderen notwendigen Bestimmtheiten in Widerspruch widersprechen.“53 Genauer gesagt kann Kants Formel nach Hegels Ansicht nur dann funktionieren, wenn bestimmte gültige Grundnormen da sind und der Verallgemeinerungstest des kategorischen Imperativs dann auf diese Inhalte angewendet wird. Mit anderen Worten: Diese Form ist nur dann eine Form der Pflicht, wenn solche Inhalte als grundlegende Prinzipien existieren und existieren sollen, und Kants Bestehen auf Widerspruchslosigkeit macht dann auch nur in diesem Fall Sinn: „Denn der Satz: Betrachte, ob deine Maxime könne als ein allgemeiner Grundsatz aufgestellt werden, wäre sehr gut, wenn wir schon bestimmte Prinzipien über das hätten, was zu tun sei. Indem wir nämlich von einem Prinzip verlangen, es solle auch Bestimmung einer allgemeinen Gesetzgebung sein können, so setzt eine solche einen Inhalt schon voraus, und wäre dieser da, so müsste die Anwendung leicht werden. Hier aber ist der Grundsatz selbst noch nicht vorhanden, und das Kriterium, dass kein Widerspruch sein solle, erzeugt nichts, da, wo nichts ist, auch kein Widerspruch sein kann.“ (PR § 135 Z) Es ist demnach nur durch die Voraussetzung bestimmter Grundnormen, dass die Maximen als moralische Pflichten oder Gesetze überprüft werden können: „Wenn es sonst für sich fest und vorausgesetzt ist, dass Eigentum und Menschenleben sein und respektiert werden soll, dann ist es ein Widerspruch, einen Diebstahl oder Mord zu begehen; ein Widerspruch kann sich nur mit etwas ergeben, das ist, mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde liegt.“ (PR § 135 Anm.)54 Kants Formel wird nur dann 53 54

Hegel, G. W. F., Naturrechtsaufsatz, S. 462. Larmore vertritt eine ähnliche Position, wenn er meint, um autonom und selbstgesetzgebend sein zu können, bräuchten wir einen Hintergrund der Normen, die gegeben (und nicht unbedingt selbstgegeben) seien und als Grundlage unserer Reflexion über Normen funktionierten. Das Subjekt könne nicht ad infinitum über die Gründe seiner Gründe reflektieren: „Self-legislation, when it does occur, is an activity that takes place in the light of reasons that we must antecedently recognize, and whose own authority we therefore do not institute but rather find ourselves called upon to acknowledge. […]. Indeed, some principles of conduct are so fundamental (think of the rules of logical inference, for example) that we can frame no coherent notion of what it would be like not to recognize their validity, and thus no coherent notion of how we would go about determining that we ought to impose them on ourselves. Being responsive to their authority is a precondition for thinking and acting at all.“ Larmore, Charles (2008): The Autonomy of Morality. S. 44. Hegel versucht dieses Problem durch seine Theorie sozialer Akteurschaft zu lösen in dem Sinne, dass diese Hintergrundnormen in der Sittlichkeit zu finden sind, in einer sittlichen Form des Lebens, in der diese relevanten Normen nicht beliebig, sondern Ausdruck des vernünftigen Freiheitsbegriffs sind. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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praktisch, wenn man Grundnormen und Werte annimmt, die nicht durch die Selbstgesetzgebung des autonomen Subjekts mit Hilfe des kategorischen Imperativs bestimmt werden.55 Da sich Kant nämlich in seinen Reflexionen auf „die bloße Form“ des Gesetzes fokussiere und sie in den Vordergrund stelle, wird nach Hegel die andere Seite des Willens, nämlich der Inhalt oder die Materie, vernachlässigt, und genau darin liege die Schwäche der kantischen Theorie.56 Wie wir schon im Kapitel 4 gesehen haben, sind für Hegel sowohl die Form als auch der Inhalt des Willens die Hauptelemente der Willensbestimmung, und beide sollten zusammen bestimmt werden. Kant hingegen hält die Form des Willens für den allein entscheidenden Faktor, und das ist der Grund, warum Hegel ihm einen „leeren Formalismus“ zum Vorwurf macht. (PR § 135 Anm.)57 Nachdem er konstatiert, dass diese Formel für die Bestimmung der moralischen Pflichten scheitert, fängt Hegel an, eine andere Instanz zu untersuchen, und zwar das Gewissen.58 Durch dieses kann das Subjekt seine Hoffnung auf 55

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Nach Honneth befinden wir uns, solange wir nicht einsehen, dass der Universalisierungstest eine Reihe von Grundnormen braucht, um überhaupt angewendet werden zu können, „in einer bodenlosen Selbstvergewisserung“ eines subjektiven Bewusstseins, und sind daher zum „Leiden an Unbestimmtheit“ verurteilt. Näher siehe Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 68. Für nähere Erläuterungen der Formalismuskritik siehe Schnädelbach, Herbert, Hegels praktische Philosophie, S. 247. Auch Wood, Allen, Hegel’s Critique of Morality, in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Siep, Ludwig (Hrsg.), S.  147–166. Auch Ritter, Joachim, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, S. 217–246. „Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektivpraktischen Prinzipien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muss annehmen, dass die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache.“ Kant, KpV, A 49. In Hegels Naturrechtsaufsatz sehen wir diesen kritischen Punkt ganz deutlich: „Denn sie ist die absolute Abstraktion von aller Materie des Willens; durch einen Inhalt wird eine Heteronomie der Willkür gesetzt. Nun ist es aber gerade das Interesse zu wissen, was denn Recht und Pflicht sei; es wird nach dem Inhalt des Sittengesetzes gefragt, und es ist allein um diesen Inhalt zu tun; aber das Wesen des reinen Willens und der reinen praktischen Vernunft ist, dass von allem Inhalt abstrahiert sei, und also ist es an sich widersprechend, eine Sittengesetzgebung, da sie einen Inhalt haben müsste, bei dieser absoluten praktischen Vernunft zu suchen, da ihr Wesen darin besteht, keinen Inhalt zu haben.“ S. 461. Fichtes Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht; oder: handle stets nach deinem Gewissen.“ Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Zweites Hauptstück, § 13.

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Bestimmung der Pflichten aus seinem subjektiven moralischen Standpunkt heraus noch aufrechthalten: „Um der abstrakten Beschaffenheit des Guten willen fällt das andere Moment der Idee, die Besonderheit überhaupt, in die Subjektivität, die in ihrer in sich reflektierten Allgemeinheit die absolute Gewissheit ihrer selbst in sich, das Besonderheit Setzende, das Bestimmende und Entscheidende ist – das Gewissen.“ (PR  § 136) Ich weiß aus meinem Gewissen, was das Gute und die Pflicht sind. In der Tiefe meines Gewissens bin ich selbstbestimmend, weil da reine Inhalte existieren, die von mir selbst und nicht von außerhalb meiner selbst kommen.59 Es ist deswegen dem Gewissen überlassen, die Inhalte der Pflichten und dasjenige, was das Gute ist, zu bestimmen. Es ist also dem Gewissen überlassen, die konkreten moralischen Pflichten und Inhalte zu bestimmen. Das Gewissen stellt die Gewissheit dar, aus seinen tiefen Überzeugungen diese Bestimmungen zu wissen: „Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewusstseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist.“ (PR § 137 Anm.) Das Gewissen ist zwar in der Hinsicht eine Alternative, dass dadurch das Subjekt das Bestimmende ist und somit das Recht des Subjekts auf Selbstbestimmung Ausdruck findet. Können wir aber jetzt auch wissen, ob das, was das Subjekt durch sein Gewissen bestimmt, dem objektiven, an und für sich seienden Begriff der Moral gemäß ist, was die andere notwendige Bedingung ausmacht? An dieser Stelle können wir, so Hegel, von dem Gewissen solche wahrhaft moralischen Inhalte nicht erwarten, und was nur vom Gewissen übrig bleibt, ist eine „formelle Seite der Tätigkeit des Subjekts: Hier auf dem formellen Standpunkte der Moralität ist das Gewissen ohne diesen objektiven Inhalt, so für sich die unendliche formelle Gewissheit seiner selbst, die eben darum zugleich als die Gewissheit dieses Subjekts ist.“ In der Tat unterscheidet Hegel dieses formelle Gewissen, das ohne feste Prinzipien nur von seiner Gewissheit abhängt, von dem „wahrhafte[n] Gewissen“, das die „Gesinnung ist, das, was an und für sich gut ist, zu wollen; es hat daher feste Grundsätze, und zwar sind ihm diese die für sich objektiven Bestimmungen und Pflichten.“ Das Gewissen kann nur dann Erfolg erzielen, wenn „das objektive System dieser Grundsätze und Pflichten“ vorhanden ist, was, im Gegensatz zum subjektiven „moralischen Standpunkt“, nur „auf dem Standpunkt der Sittlichkeit vorhanden“ ist. (PR § 137)60 59 60

Vorlesungen, Bd. 4, S. 361. „In dem moralischen Standpunkt […] fällt nur das formelle Gewissen.“ (PR § 137) Hier haben wir es eigentlich nur mit einer abstrakten „Form“ der Gewissheit zu tun, die dadurch noch keinen Inhalt produzieren kann.

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Die Bestimmung der Rechte und Pflichten in der Wirklichkeit, „die vorhandene Welt der Freiheit“, darf nicht der „Subjektivität“ überlassen werden. Wenn wir den Subjekten „die urteilende Macht“ geben zu bestimmen, was die Rechte und Pflichten sein sollten (PR § 148), ist das Resultat das „Verflüchtigen“ von diesen notwendigen Bestimmungen der Freiheit, die nur „aus dem Begriff des freien Willens abgeleitet seien.“ (PR § 138 Z) In der subjektiven Innerlichkeit des Gewissens kommt Beliebigkeit ins Spiel, wenn die gültigen Grundsätze noch nicht da sind und die Entscheidung durch das Subjekt in seiner Innerlichkeit getroffen wird. Der Wille kann entweder durch „das an und für sich Allgemeine“ bestimmt werden, was zur Freiheit führt, oder durch die eigene „Willkür“. Oder die „eigene Besonderheit“ kann zum Prinzip des Willens gemacht werden, was auch „böse“ sein kann, denn dem Subjekt fehlen allgemeingültige Grundsätze: „Das Selbstbewusstsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebenso sehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein.“ (PR  § 139) Das gewissenhafte Subjekt findet in seinem Bewusstsein (für sich) etwas Moralisches, aber ob das dem, was wahrhaft moralisch ist, entspricht, ist letztlich zufällig.61 5.4

Das abstrakte Gute und der Übergang zur Sittlichkeit

Wir hatten die subjektive Selbstbestimmung als eine unentbehrliche Grundlage der Freiheit bestimmt. Diese Selbstbestimmung muss darüber hinaus im Einklang mit den Prinzipien der Moral (dem allgemein Guten) stehen. Nun fordert der notwendige Begriff der Freiheit die Einheit dieser beiden Seiten, das heißt die Einheit der subjektiven Selbstbestimmung mit dem moralischen Guten bzw. das Handeln nach moralischen Pflichten, denn nur durch Harmonie zwischen einem selbstbestimmten Handeln und den moralischen Gesetzen können wir wahrhaft frei sein. Im nächsten Schritt benötigen wir, um der Moral gemäß zu handeln, bestimmte Pflichten. Diese Pflichten konnten wir allerdings durch den moralischen Standpunkt aufgrund des Formalismus der kantischen Ethik sowie wegen des Subjektivismus des Gewissens nicht erreichen. Hegels Lösung für das Hinausgehen über diese Grenze besteht in

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Für eine Interpretation des Abschnitts über die verschiedenen Formen des Bösen beim Gewissen (PR § 140) siehe Wood, Allen, Hegel on Morality in: Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide, David James (Hrsg.), S. 58–76.

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dem Aufstieg auf eine höhere Stufe oder eine „institutionelle“ Form der praktischen Vernunft.62 Präziser gesagt besteht das Problem des moralischen Standpunkts in der Annahme, dass das Subjekt im Abstrakten ausschließlich von seinem subjektiven Standpunkt aus als in der Lage betrachtet wird, wohlbestimmte moralische Pflichten produzieren zu können. Für Hegel hingegen reicht dieser subjektive Standpunkt nicht aus, denn das Subjekt brauche, wie in seiner Kritik gegen diese Positionen deutlich wurde, bestimmte Grundnormen, mit deren Hilfe diese Reflexionen überhaupt durchgeführt werden können. Hegel ist der Auffassung, diese Grundnormen seien zum Teil wirklich in den Grundinstitutionen der modernen Sittlichkeit, und er möchte in seiner Sittlichkeitstheorie genau diesen Punkt beweisen. Um nun diese Aufgabe zu erfüllen, muss er erneut die Beziehung zwischen dem subjektiven Wollen und der Wirklichkeit untersuchen. Anstatt sich auf den Dualismus des Inneren und des Äußeren zu fokussieren und zu glauben, dass das Gute durch das Subjekt in die Wirklichkeit umzusetzen ist, müssen wir das Subjekt schon in einem sozialen und sittlichen Zusammenhang mit bestimmten Grundsätzen, Normen, Institutionen usf. situiert betrachten, in dem die grundlegenden Institutionen bereits die Einheit des Guten mit der subjektiven Freiheit realisieren.63 Wenn wir die sittliche Wirklichkeit genauer 62

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Mit Pippin gesprochen ist kein Akteur in der Lage, seine Vernunft unabhängig von einem sozialen Kontext durchzusetzen. Von einer erfolgreichen, kohärenten Anwendung der Vernunft in der Praxis kann nur in einem wirklichen Zusammenhang der Normen und Gründe die Rede sein: „[…] practical rationality […] is always institution-bound, that no one can be said to have any sort of effective, practical reason to do anything if conceived just as a purely rational self-determining agent. […] that it is only by participating in such institutions that I can be said to have practical reasons at all.“ Siehe Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, S. 263 f. Laut Ritter gibt Hegel Kant zwar Recht, dass die Autonomie der moralischen Subjektivität die notwendige Grundlage der Freiheit ausmacht. Diese innerliche Freiheit wird von Hegel als grundlegend in seine Theorie der Sittlichkeit aufgenommen. Sie leidet nach Hegel aber an einem Defizit. Es ist in der Tat wegen Kants „Verfestigung der Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit“, dass diese moralische Position im reinen „Sollen“ stehenbleibt und sich nicht zur „Ausführung“ zu bringen in der Lage ist: „Hier liegt die Einseitigkeit, die für Hegel die kantische Position in ihrer Größe belastet. Kant konnte mit ihr nicht über einen Dualismus der inneren Moralität und der ihr gegenüberstehenden äußeren Wirklichkeit hinauskommen. Moralität sei daher bei ihm ohne Ausführung, es bleibe beim ‚Sollen‘ […] Der Idealismus will sich zwar mit solcher Trennung von Legalität und Moralität nicht abfinden, aber er muss sich damit begnügen, die innere Moralität der Subjektivität in Gesinnungen oder in Werten, die nicht sind und nur gelten sollen, der äußeren Wirklichkeit entgegenzuhalten. Was für die Innerlichkeit des freien Menschen ethisch wesentlich ist, soll nur als ein Ideales und so als ein Jenseits der Wirklichkeit bestehen.“ Hegel versucht diese Schwäche dadurch aufzuheben, dass er in seiner

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betrachten, erkennen wir, dass das Gute schon teilweise in diesen Verhältnissen existiert. Erst in diesem Zusammenhang ergibt es Sinn, von konkreten und objektiven Pflichten und Rechten zu reden. Wir müssen also einsehen, dass die Pflichten und Normen, die durch die Grundinstitutionen in der modernen Gesellschaft für die Individuen schon bestimmt sind, erstens die Bestimmungen des moralischen Guten in sich aufweisen und zweitens die subjektive Freiheit ermöglichen. In der Tat bleibt das Gute vom moralischen Standpunkt aus noch abstrakt, eine reine Forderung bzw. ein Sollen, weil wir noch keine bestimmten Inhalte haben. Durch die Abstraktheit des moralischen Standpunkts entsteht „die Sehnsucht nach einer Objektivität“, in der die festen Inhalte des Willens gegeben werden, die zusammen mit der Form der Freiheit in der Moral zur wahren Freiheit führen. Diese Versöhnung zwischen dem „Sollen“ und „Sein“ ist in der Sittlichkeit zu suchen: „Die Einheit des subjektiven und des objektiven an und für sich seienden Guten ist die Sittlichkeit, und in ihr ist dem Begriffe nach die Versöhnung geschehen.“ (PR § 141 Z) In der Objektivität der Sittlichkeit ist erstens das Gute nicht mehr abstrakt, weil es gegenwärtig und bestimmt durch die sittlichen Verhältnisse ist, und zweitens hat das selbstbestimmende Subjekt Pflichten zur Verfügung, die sowohl die Bestimmungen des Guten sind als auch seine subjektive Freiheit ermöglichen, und in diesem Sinne findet das subjektive Recht auf Selbstbestimmung Ausdruck in dieser Sphäre. Diese Grenze des moralischen Standpunktes entstammt einer tieferen Grundüberzeugung auf einem theoretischen Niveau über die Beziehung zwischen Subjektivität und Objektivität. Man muss diesen Übergang mit Hilfe der Logik erklären, worauf Hegel ganz explizit hinweist: „Das Nähere über einen solchen Übergang des Begriffs macht sich in der Logik verständlich.“ (PR § 141 Anm.) Aber an welcher Stelle genau? Um das zu beantworten, muss man sich über einen kurzen Umweg den Zusammenhang verdeutlichen: In der Enzyklopädie beschreibt Hegel den „Standpunkt der Moralität“ so, dass darin das Gute durch das Subjekt realisiert werden sollte. (Enz § 234 Z) Auch ist die Struktur dieses Kapitels ähnlich wie die Struktur der moralischen Position in der Hinsicht, dass es in beiden um eine Trennung zwischen dem Sollen und dem Sein geht und argumentiert wird, dass der subjektive Wille das Gute (das Wahre) zu bestimmen und zu verwirklichen habe. In diesem Licht ist der Übergang von Theorie der Sittlichkeit dieses Sollen der moralischen Position mit der Wirklichkeit zu einer Einheit bringen und dieses Ideal in der gegenwärtigen Welt suchen möchte. Siehe Ritter, Joachim, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik, in: M. Riedel (Hrsg.), Materialen zu Hegels Rechtsphilosophie, S. 222 f.

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der „Moralität“ zur „Sittlichkeit“ in den Grundlinien im Rahmen des Übergangs von der „Idee des Guten“ zur „absoluten Idee“ in der Wissenschaft der Logik zu lesen.64 Dieser Punkt soll im Folgenden skizzenhaft mit Hilfe der Logik erläutert werden:65 Der Abschnitt „die Idee“ in seiner Wissenschaft der Logik besteht aus drei Teilen: das „Leben“, das „Erkennen“ und endlich die „absolute Idee“. In dem zweiten Kapitel „Die Idee des Erkennens“ (oder „Idee des Wahren“66) begegnen wir im ersten Schritt der Ansicht, nach der sich das Subjekt als eine „tabula rasa“ betrachtet, welche die Wahrheit in der Welt zu suchen habe. Dieses Subjekt hat die Voraussetzung einer Welt vor sich und ist bestrebt, die Wahrheit in dieser Welt zu erkennen, wobei es sich selbst aber als ganz passiv begreift. Genau diese Annahme spricht für die Endlichkeit dieser Position: „Die Endlichkeit des Erkennens liegt in der Voraussetzung einer vorgefundenen Welt, und das erkennende Subjekt erscheint hierbei als eine tabula rasa.“ (Enz § 226 Z) Mit anderen Worten: Die Annahme, nach der das passive Subjekt die Wahrheit in der Welt zu suchen hat, ist problematisch. Wie wird dieser Punkt aber verdeutlicht? In einem Schritt in den Untersuchungen des Subjekts wird – durch den „Beweis“ – deutlich, dass es das Subjekt selbst ist, das die Notwendigkeit seines Inhalts bestimmt, und dass es deswegen keine rein passive, inhaltslose Form ist. Das Subjekt sieht sich vielmehr als das Bestimmende, und das Begriffliche ist nur als wahr anzusehen, wenn es durch das Subjekt bestimmt wird. (Enz  § 232) Durch das Bewusstsein, dass das denkende Subjekt das 64

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Im Gegensatz zu Vieweg wird hier die Auffassung vertreten, dass wir das Moralitätskapitel im Besonderen und die Grundlinien im Allgemeinen im Rahmen von Hegels „Ideenlehre“ – und nicht Urteilslehre, wie früher bemerkt wurde (siehe oben) – zu verstehen haben. In diesem Licht ist der Übergang zur Sittlichkeit nicht im Rahmen des Übergangs „vom Urteil zum Schluss“ (vgl. Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S.  228), sondern durch den Übergang von der „Idee des Guten“ zur „absoluten Idee“ in der WL zu interpretieren. Außerdem liest Vieweg Hegels Sittlichkeitslehre, die das Thema des nächsten Kapitels bildet, mit Hilfe von Hegels „Schlusslehre“ (siehe ebd., S. 231), was hier anders gesehen wird. Hier wird argumentiert, dass Hegel in den Grundlinien auf der Suche nach der „Idee“ des Rechts ist, daher sind frühere Stufen des Denkens wie Urteil und Schluss einseitige Bestimmungen, denen die objektive Seite fehlt, während in den Grundlinien diese objektive Seite – in Form von Rechtsverhältnissen – einen Pfeiler von Hegels Argumentationsgang ausmacht und daher nicht außer Acht zu lassen ist. Ausführlicher siehe Siep, Ludwig (2018): Die Lehre vom Begriff. Dritter Abschnitt. Die Idee, in: Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik. Quante, Michael und Mooren, Nadine (Hrsg.), Hegelstudien. Beiheft 67, S. 651–796. Hegel bezeichnet die theoretische Idee in der WL mit dem Ausdruck, „Idee des Wahren“ und in der Enzyklopädie als „Idee des Erkennens“. Außerdem wird die praktische Idee in der WL als „Idee des Guten“ und in der Enzyklopädie als „Idee des Wollens“ bezeichnet.

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Bestimmende ist, gehen wir über zu der „Idee des Guten“ (Idee des Wollens). In der Idee des Guten geht es dem Subjekt – im Gegensatz zu der „Idee des Erkennens“, wo die Inhalte in der Welt zu suchen waren – darum, seine eigenen Inhalte in die Welt umzusetzen und die Welt, welche das Subjekt als Wahrheit bestimmt, dem Guten gemäß umzugestalten: „Ihr Trieb, sich zu realisieren, hat das umgekehrte Verhältnis gegen die Idee des Wahren und geht darauf, vielmehr die vorgefundene Welt nach seinem Zwecke zu bestimmen.“ (Enz § 233) Demnach ist die Welt für den Willen zunächst ein Nicht-Wahres, welches erst durch das Subjekt wahrgemacht werden sollte. Hier stoßen wir also eigentlich auf den umgekehrten Gedanken: Während das erkennende Subjekt die Welt als die zu erkennende Wahrheit gesehen hat, ist hier das wollende Subjekt die Quelle der Wahrheit und ihrer Bestimmungen: „Während es der Intelligenz nur darum zu tun ist, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, so geht dagegen der Wille darauf aus, die Welt erst zu dem zu machen, was sie sein soll. Das Unmittelbare, das Vorgefundene gilt dem Willen nicht als ein festes Sein, sondern nur als ein Schein, als ein an sich Nichtiges.“ (Enz § 234) Allerdinges sind diese beiden Positionen für Hegel einseitig und „endlich“: Die praktische Idee oder „Idee des Guten“ möchte sich in die wirkliche Welt umsetzen. Dieser „Trieb“ des Willens, sich in der objektiven Welt zu verwirklichen, ist aber selbst ein Widerspruch, denn was in dieser Ansicht die Wahrheit ausmacht, ist der subjektive Zweck, und die wirkliche Welt ist für ihn nichtig, weil die Wahrheit aus dem Willen des Subjekts kommt. Deswegen hat der Wille den Wunsch, sich in eine für ihn nichtige Welt umzusetzen, während das, was die Bestimmung der Wahrheit hat, genau dieser subjektive Zweck ist: „Das ausgeführte Gute ist gut durch das, was es schon im subjektiven Zweck, in seiner Idee ist; die Ausführung gibt ihm ein äußerliches Dasein; aber da dies Dasein nur bestimmt ist als die an und für sich nichtige Äußerlichkeit, so hat das Gute in ihr nur ein zufälliges, zerstörbares Dasein, nicht eine seiner Idee entsprechende Ausführung erreicht.“ (WL, Bd.  2, S.  544) Solange sich diese zwei Welten gegenüberstehen, herrscht ein Widerspruch zwischen den beiden Standpunkten.67 67

„Es sind noch die zwei Welten im Gegensatze, die eine ein Reich der Subjektivität in den reinen Räumen des durchsichtigen Gedankens, die andere ein Reich der Objektivität in dem Elemente einer äußerlich mannigfaltigen Wirklichkeit, die ein unaufgeschlossenes Reich der Finsternis ist.“ WL, Bd. 2, S. 544. Einen anderen Widerspruch in dieser Position des Willens finden wir in der Enzyklopädie, wo Hegel sagt, dass die Welt, wenn der Wille seinen Zweck ausführe, sei, wie sie sein sollte, und in diesem Licht hebe sich der Wille durch seine eigene Tätigkeit auf: „Wäre dann aber die Welt so, wie sie sein soll, so fiele

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Der Ausweg aus diesem Widerspruch bzw. dieser Einseitigkeit besteht Hegels Auffassung nach im Übergang zur „absoluten Idee“, wo die einseitigen Prämissen dieser beiden Positionen aufgehoben werden, d. h. sowohl die Prämisse der Idee des Erkennens (Idee des Wahren), nach der die objektive Welt „das wahrhaft Seiende“ ist, als auch die Prämisse der Idee des Guten (Idee des Wollens), welche besagt, die objektive Welt sei ein „für sich Nichtiges“, das „erst seine wahrhafte Bestimmung und einzigen Wert durch die Zwecke des Guten erhalten solle.“ (WL, Bd. 2, S. 545) Dieser Widerspruch zeigt die Einseitigkeit der beiden Positionen, und dadurch kommen wir zu der Einsicht: „Das unbefriedigte Streben verschwindet, wenn wir erkennen, dass der Endzweck der Welt ebenso vollbracht ist, als er sich ewig vollbringt.“ Aus diesem Grund sagt Hegel: „[D]ie Welt ist so selbst die Idee.“68 (Enz § 234 Z) Mit anderen Worten sehen wir erst durch die Position der absoluten Idee ein, dass das Gute zum Teil schon in der Struktur der Welt existiert. Gleichzeitig ist das Dasein des Guten nicht vollständig, weshalb der Wille weiterhin das Gute in die Welt umsetzen sollte.69 Das ist die Position der Sittlichkeit oder „die Stellung des vernünftigen Erkennens“,70 nach der ein Teil der wirklichen Grundstrukturen der modernen Gesellschaft schon gut und die Sitten die Bestimmungen des Guten sind. Diese gemeinte vernünftige Wirklichkeit ist kein vom Zufall belastetes Wirkliches. Es ist vielmehr das System der daseienden, vernünftigen Bestimmungen der Freiheit.71 Kurz gesagt: Das

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damit die Tätigkeit des Willens hinweg. Der Wille fordert also selbst, dass sein Zweck auch nicht realisiert werde.“ (Enz § 234 Z) An einer anderen Stelle bringt er diese Vereinigung in der „absoluten Idee“ so zum Ausdruck: „In diesem Resultate ist hiermit das Erkennen hergestellt, und mit der praktischen Idee vereinigt, die vorgefundene Wirklichkeit ist zugleich als der ausgeführte absolute Zweck bestimmt, aber nicht wie im suchenden Erkennen, bloß als objektive Welt ohne die Subjektivität des Begriffes, sondern als objektive Welt, deren innerer Grund und wirkliches Bestehen der Begriff ist. Diess ist die absolute Idee.“ (WL, Bd. 2, S. 548) Vgl. Martin, Christian Georg: Ontologie der Selbstbestimmung, S. 551 f. Hier lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Hegel und seinem großen Vorgänger erkennen: Während für Hegel durch die philosophische Vernunft die Wirklichkeit des Guten oder die Wahrheit zu erkennen ist (Enz  § 234 Z), ist Kant der Auffassung, dass unsere Vernunft nicht in der Lage ist, uns über die Wahrheit jeder außerhalb unseres Denkens stehenden Entität zu belehren. Vgl. Siep, Ludwig (2004): Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee, in: Hegels Erbe, Halbig, Christoph, Quante, Michael und Siep, Ludwig (Hrsg.), S. 361 ff.

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Gute als das, was der vernünftige Begriff der Freiheit fordert, ist in der Welt und wird zugleich.72 Für Hegel zählen sowohl „das Gute“ als auch die „Subjektivität“ zu den „Momenten des Begriffs“ und ihre „Einheit“ macht die Idee der Freiheit in der Sittlichkeit aus. In der Tat wird durch diesen Übergang von der „Moralität“ zur „Sittlichkeit“ das, was wir in der „Moralität“ erreicht haben, nicht vernichtet. Es wird vielmehr „aufgehoben“ in dem Sinne, dass nur das Defizit dieser Position behoben wird. In der Sittlichkeit herrschen, so versucht Hegel zu beweisen, Normen und Pflichten, welche den Subjekten die Inhalte der moralischen Bestimmungen zur Verfügung stellen.73 In diesem Licht bleiben „das abstrakte, nur sein sollende Gute und die ebenso abstrakte, nur gut sein sollende Subjektivität“ nicht mehr gegensätzlich. Vielmehr erreichen wir Pflichten, die das allgemein Gute in sich reflektieren. Gleichzeitig erkennt das Subjekt diese sittlichen Normen als vernünftig und gut, weil darin sowohl seine Rechte auf subjektive Freiheit als auch auf Einsicht in das Gute erfüllt werden, denn dadurch verwirklicht das Subjekt nicht nur sein Gutes, sondern leistet zugleich einen Beitrag zum Guten aller. (PR § 141) In meinen Pflichten als Vater ist nicht nur mein Gutes oder meine subjektive Freiheit verwirklicht, weil ich es will, sondern zugleich auch das Gute anderer Familienmitglieder. In den Verhältnissen des Arbeitsmarktes sowie in meinen allgemeinen Pflichten als Bürger des Staates kommen dieses allgemein Gute und diese Freiheit aller zum Ausdruck, was im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt werden wird. Dadurch erreichen wir unser Ziel: die Einheit des Guten und des subjektiven Willens. Das Subjekt bestimmt sich nach den Forderungen der Moral74, weil es die Sitten vernünftig findet, und dies nicht 72

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Martin bringt diese prozedurale Eigenschaft der Idee als Bestimmung der Wahrheit bei Hegel so zum Ausdruck: „Da die Idee wesentlich Prozess ist, folgt aus der notwendigen Realität des Guten zugleich nicht, dass alles immer schon so ist, wie es sein soll, sondern nur, dass nicht alles noch nicht so sein kann, wie es sein soll.“ Martin, a.a.O., S. 548. Vgl. Siep, Ludwig, Was heißt „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie?, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, S. 236 ff. Eine unterschiedliche These vertritt Tugendhat, demzufolge die Moral in Hegels Theorie der Sittlichkeit keinen Platz hat: „Da die Moral für ihn nur den Sinn einer auf ihre Selbstständigkeit pochenden Subjektivität haben konnte, konnte sie als solche in der Sittlichkeit, im Staat nicht integriert werden.“ Siehe Tugendhat, Ernst: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung: Sprachanalytische Interpretationen, S. 352. Aus den dargelegten systematischen Gründen scheint das wenig überzeugend. Hösle vertritt auch eine ähnliche Auffassung. Siehe Hösle, Vittorio (1987): Hegels System: der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Bd. 2, S. 511 und auch S. 528. Ganz im Gegensatz dazu vertritt Steinberger zu Recht die Auffassung, die hegelsche Sittlichkeitstheorie sei die Weiterentwicklung der kantischen moralischen Position. Näher siehe Steinberger, Peter: Logic and Politics: Hegel’s Philosophy of Right. S. 153 f.

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deshalb, um ein ergebenes Mitglied der Gesellschaft zu sein, das nur gehorcht und den sittlichen Pflichten folgt. Vielmehr findet das Subjekt die Sitten vollkommen vernünftig, weil dadurch das gute und freie Leben für alle gesichert wird.75

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Die Unterscheidung, die Kant zwischen dem Politischen und dem Moralischen trifft, ist für Hegel nicht mehr gültig, denn wir können, so Hegel, die Objektivität der moralischen Normen teilweise in der wirklichen politischen Welt der modernen Gesellschaft beobachten. Die sittlichen Verhältnisse in Form der Gesetze, Normen usw., die diese moralische Eigenschaft in sich zum Ausdruck bringen, haben deswegen für Hegel nicht mehr die Aufgabe, ausschließlich die äußerliche Willkür der Individuen zu begrenzen, sondern sind vielmehr die Bestimmungen der Freiheit der Individuen, welche das Handeln im Rahmen des allgemeinen moralisch Guten ermöglichen.

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Sittlichkeit als Kontext der sozialen Freiheit Wir haben am Ende des „Moralitätskapitels“ gesehen, dass das Gute noch abstrakt blieb und sich die Subjektivität zu einer allgemeinen, aber leeren Form ohne konkrete Inhalte erhob. Allerdings bestand das Ziel der Freiheit darin, diese zwei Seiten miteinander zu versöhnen. Dieses Scheitern gründete in der Voraussetzung des moralischen Standpunkts, nach welchem das Gute durch den subjektiven Willen zu bestimmen sei. Im Gegensatz zu dieser Position entwickelt Hegel seine Alternative, die seiner Ansicht nach notwendig aus dem Widerspruch des moralischen Standpunkts folgt. Er behauptet, dass dieses Gute zum Teil in den Grundstrukturen der modernen Gesellschaft einzusehen ist. Die besonderen Inhalte des Guten aller reflektieren sich in den bestimmten Normen der Grundinstitutionen der Sittlichkeit. Dadurch, denkt Hegel, werde das Problem der Freiheit gelöst, denn in den sittlichen Normen würden das Gute aller und die subjektive Freiheit (das Gute des Einzelnen) miteinander versöhnt. Hegels Vorhaben in dem „Sittlichkeitskapitel“ besteht darin, diesen Punkt weiterzuverfolgen, dem zufolge das Individuum ausschließlich in einem bestimmten sozialen Kontext frei sein kann.1 Das Scheitern des moralischen Standpunktes bestand darin, dass die Inhalte des guten Willens unbestimmt geblieben sind und das Individuum deswegen seinen Willen nicht dem Begriff der Freiheit gemäß bestimmen konnte. 1 Siep beschreibt die aristotelischen Grundzüge von Hegels politischer Philosophie durch die folgenden Thesen: Erstens sehe Hegel den Menschen, wie Aristoteles, aus einer anthropologischen Sicht als ein politisches Wesen, dessen menschliche Fähigkeiten ausschließlich in einem politisch organisierten Gemeinwesen entwickelt werden könnten. Zweitens sei das Individuum nur durch das Leben in einem politischen Gemeinwesen in der Lage, das Normative bzw. das Gerechte zu erkennen – obwohl, im Gegensatz zu Aristoteles, die kantischen Elemente der Selbstbestimmung und der freien Subjektivität gleichzeitig in Hegels Bild vom Individuum integriert werden. Drittens teile Hegel mit Aristoteles die Ansicht, dass für den Menschen keine vorpolitische Identität bestimmbar sei, was einer Reduktion der Funktion des Staates auf Basis eines Vertrages und zum bloßen Schutz der grundlegenden Individualinteressen entgegensteht. Der Mensch wird erst zu einem Menschen durch seine Teilnahme an einem politischen Gemeinwesen. Viertens zeige sich das Telos bzw. die höchste Stufe der Gemeinschaftsform des Lebens in der Form des Staates oder des politischen Lebens. Näher siehe Siep, Ludwig (2010): Hegels Rezeption des Aristotelischen Politik, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, S. 68–76. Auch nach Quante stellt Hegels reife praktische Philosophie seinen Versuch dar, die Konzeption des Aristoteles vom Menschen als „zoon politikon“ mit der Autonomietradition von Rousseau und Kant zu verbinden. Siehe Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes: Studien zu Hegel, S. 20.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_007

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In der Sittlichkeit hingegen haben wir Inhalte als Bestimmungen des Guten oder der Pflichten, die „über das subjektive Meinen und Belieben erhaben“ und daher die objektive und konkrete Form des Begriffs sind. Die Lücke der Inhaltslosigkeit des moralisch Guten wird erst hier durch die Sitten, die „Gesetze und Einrichtungen“ gefüllt. Das Gute ist also nicht mehr abstrakt, denn es ist das „objektive Sittliche, das an die Stelle des abstrakten Guten tritt.“ Hier also hat der Wille einen „festen Inhalt“. (PR § 144) Die Sittlichkeit ist ein System von Bestimmungen des allgemeinen Begriffes der Freiheit, und die Gesetze und Normen sind wirkliche Formen dessen, was der vernünftige Begriff der Freiheit fordert: „Dass das Sittliche das System dieser Bestimmungen der Idee ist, macht die Vernünftigkeit desselben aus. Es ist auf diese Weise die Freiheit oder der an und für sich seiende Wille als das Objektive […]“ (PR § 145) Präziser ausgedrückt: Wenn von der Sittlichkeit im hegelschen Sinne die Rede ist, müssen wir die folgenden zwei Seiten vor Augen haben:2 Erstens bezeichnet dieser Begriff eine bestimmte objektive Sphäre, die aus Einrichtungen und Institutionen mit bestimmten Verhaltensnormen besteht, welche die Wirklichkeit dessen sind, was die Vernunft als notwendige Erscheinungen der Freiheit fordert, d. h. die objektive sittliche Seite besteht aus den Institutionen und Normen, die die Bestimmungen des allgemeinen Guten sind. Es ist an dieser Stelle wichtig zu beachten, dass die Sittlichkeit kein beliebiger gesellschaftlicher Zusammenhang ist. Sie hat, so Hegel, fundamentale Bedingungen zu erfüllen, und zwar die Wirklichkeit des allgemeinen Guten. Hegels Rekonstruktion der modernen Sittlichkeit ist normativ in dem Sinne, dass er nachvollzieht, wie und inwiefern die Institutionen und Normen die Wirklichkeit und Bestimmung des allgemeinen Guten in sich darstellen, was sich im letzten Kapitel als notwendige Bedingung der Freiheit ergab. Hegel versucht in den drei Institutionen dieser Sphäre zu beweisen, dass die grundlegenden Normen genau diese Bestimmungen des Guten aller sind.3 2 Vgl. Wood, Allen, Hegel’s ethical thought, S. 196. 3 Neben Hegels Bezeichnung der Sittlichkeit als „objektiv“ im Sinne der objektiven, wirklichen Strukturen können wir, mit Siep gesprochen, auf einen weiteren Sinn hinweisen. Laut Siep besitzt der Ausdruck „objektiv“ in Hegels Theorie zwei Bedeutungen: Die soziale Wirklichkeit ist objektiv erstens in dem Sinne, dass die Gesetze und Normen dieser Sphäre – im Gegensatz zu individualistischen Ansätzen (dazu später in diesem Kapitel) – nicht ausschließlich durch die subjektiven Interessen, Ziele, Wünsche usw. erklärt oder gerechtfertigt und auch nicht auf diese reduziert werden. Sie ist objektiv zweitens in dem Sinne, dass ihre Normen und Gesetze keine „bloße(n) Konventionen“ sind. Sie sind vielmehr die Verwirklichung des vernünftigen Freiheitsbegriffs, die durch die Taten der Individuen in einem geschichtlichen Prozess wirklich geworden sind. Siehe Siep, Ludwig: Objektiver Geist und soziale Evolution, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, S. 197.

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Zweitens bezieht sich dieser Begriff auf die subjektive Gesinnung der Individuen, auf ihr „Zutrauen“ und ihre „Einsicht“, dass die objektiven Verhältnisse der sittlichen Welt ihre Freiheit garantieren, damit sie in der Befolgung der sittlichen Normen gleichzeitig selbstbestimmend sein können. Die Sittlichkeit ist für Hegel, kurz gesagt, eine objektive Sphäre mit Institutionen der Freiheit, in der die Individuen von ihrem freiheitverwirklichenden Charakter überzeugt sind, eine Überzeugung, die notwendiger Bestandteil der Freiheit als Selbstbestimmung ist. Das Individuum findet sich dabei in Verhältnissen vor, die mit der gegenseitigen Liebe in der Familie anfangen. Im nächsten Schritt wird das Individuum Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, in der es die Möglichkeit hat, seinen Interessen nachzugehen. Und endlich begreift sich das Individuum in dem breiteren Horizont des Staates als Bürger, dessen Bestehen und Freiheit in diesem Kontext Bedeutung gewinnt. Die subjektive Seite besteht ihrerseits erstens in der Überzeugung, dass sie ihre Freiheit in der Sittlichkeit erreichen kann. Das Moment der Selbstbestimmung und Autonomie des „Moralitätskapitels“ bringt sich in der Sittlichkeit also durch die Forderungen der subjektiven Freiheit in dem Sinne zum Ausdruck, dass diese Seite der Freiheit nicht in einem blinden Gehorsam den herrschenden Sitten unterwirft. Subjektive Freiheit fordert vielmehr, dass die Sittlichkeit neben der objektiven Gültigkeit ihrer Normen – was Hegel objektive Freiheit nennt – auch aus der Sicht der Individuen die Sphäre der Freiheit ist. Was für Hegel für diese Seite der Freiheit zentral bleibt, ist das Recht der Individuen nicht nur auf die Bestimmung ihrer Ziele, sondern auch auf Einsicht in die Legitimität der sozialen Verhältnisse. Die Sittlichkeit kann nur dann als Sphäre der Freiheit bezeichnet werden, wenn diese beiden Seiten zusammen eine Einheit bilden, weil das Vernünftige der Freiheit die „Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens“ fordert. (PR § 258 Anm.)4 Um dieses Recht auf Einsicht und Überzeugung aufrechtzuerhalten, muss in der Sittlichkeit das Recht der Individuen, ihren subjektiven Interessen und Zwecken nachgehen zu können, was für Hegel zugleich das Recht auf subjektive Befriedigung der Besonderheit bezeichnet, anerkannt werden. Ethische Pflichten bestehen hauptsächlich in der Liebe für die Familienmitglieder, 4 Durch seine Sittlichkeitstheorie versucht Hegel, so Horstmann, das Ideal des antiken sittlichen Lebens mit der modernen individualistischen Forderung nach Autonomie und dem Recht auf Besonderheit der Interessen, Bedürfnisse und Zwecke zu versöhnen. Siehe RolfPeter Horstmann (1997): Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 158–256), in: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Siep, Ludwig (Hrsg.), S. 195 f.

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der Möglichkeit der Verwirklichung der eigenen Interessen und Ziele in der bürgerlichen Gesellschaft sowie in der Anerkennung, die man als Mitglied eines ethischen Ganzen erhält. All dies gibt dem Einzelnen ausreichend Motivation, seine sittlichen Pflichten zu erfüllen. Man liebt das eigene Kind allerdings nicht ausschließlich, weil es Pflicht ist, sondern in den Pflichten, die man gegenüber dem eigenen Kind hat, findet man vielmehr die eigene subjektive Seite wieder. Die Sittlichkeit ist das „lebendige Gute“, unter anderem deshalb, weil in ihr die Pflichten schon objektiv bestimmt sind. Diese sind daher auch kein bloßes „Sollen“ für die Subjekte, weil diese schon hinreichend motiviert sind, im Rahmen dieser Pflichten zu handeln.5 Außerdem hat die sittliche Freiheit, wie schon deutlich wurde, für Hegel tatsächlich zwei Seiten: auf der einen Seite objektive Gesetze und Normen und auf der anderen die Individuen. Wenn die erste Seite die Bedingungen der objektiven Freiheit erfüllt, sollte die andere Seite auch in der Lage sein, die Fähigkeit zur Freiheit in sich herauszubilden. Individuen, die in einem rein natürlichen Zustand bleiben, sind für Hegel nicht in der Lage, sich frei zu bestimmen. Sie sollten stattdessen durch aktive Aneignung der Normen dazu befähigt werden, vernünftige Gewohnheiten in sich auszubilden. Deswegen kann zweitens von einem grundlegenden Einfluss der objektiven Normen in den sittlichen Institutionen auf die Herausbildung des individuellen Charakters geredet werden. Die Individuen sind, Hegels Auffassung nach, von Natur aus roh und ihr Wille ist natürlich. Was in der Sittlichkeit stattfindet, ist die Bildung der Individuen, die für die Befreiung der Individuen aus diesem natürlichen Willen unentbehrlich ist.6 Das natürliche Individuum ist für Hegel nur eine Anlage, der 5 Hegels Sittlichkeitslehre weist ohne Zweifel Affinitäten zum Ideal des Lebens in der Polis auf, und zwar in der Hinsicht, dass sich das Individuum in beiden Modellen in der Sphäre des öffentlichen Lebens „zuhause“ fühlt und eine Harmonie zwischen dem individuellen und dem allgemeinen Leben besteht. Es ist aber notwendig, den wesentlichen Unterschied zwischen diesen Perspektiven im Auge zu behalten, der in der modernen Sittlichkeit im Recht auf Autonomie und in der Notwendigkeit eigener subjektiver Überzeugung besteht, während diese subjektive Seite in den antiken Theorien keine gewichtige Rolle spielt. 6 Über die Notwendigkeit der Bildung für erstens die Befreiung vom natürlichen Willen und zweitens für die Formierung eines Willens, der fähig ist, sich nach allgemeinen vernünftigen Bestimmungen und Gesetzen zu bestimmen, sagt Hegel: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.“ (PR § 187) Die eine Seite der Bildung, d. h. der Entwicklung der menschlichen Potentiale und Fähigkeiten, ist das, was Gutschmidt als die „humanistische“ Seite von Hegels Theorie der Bildung hervorhebt, während die andere

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es aber noch an der ausgebildeten Fähigkeit zur Selbstbestimmung mangelt. Erst durch die sittliche Transformation und Aneignung vernünftiger Normen wird es fähig, sich vernünftig und autonom zu bestimmen: „Die Pädagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so dass dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird.“ (PR § 151 Z)7 Es ist dabei wichtig zu betonen, dass es in Hegels Herleitung der Bildung der sittlichen Individualität an keiner Stelle um einen Zwang durch den Staat oder eine andere Autorität geht. Die Bildung bezeichnet vielmehr die aktive Aneignung der sittlichen Lebensverhältnisse, die durch das Individuum Schritt für Schritt selbst vorgenommen werden muss: durch die Disziplin und Liebe, die das Kind in der Familie erhält, durch die Änderung in den natürlichen Bedürfnissen, die Männer und Frauen durch sittliche Beziehungen der Liebe in der Familie vornehmen, durch die Verhältnisse, die im Bereich der Befriedigung der Bedürfnisse herrschen und welche die Struktur der individuellen Bedürfnisse ändern, durch die theoretische und praktische Bildung, die man in den Arbeitsverhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft erhält, usw. All dies sind für das Individuum die Ressourcen, seinen Charakter vernünftig zu gestalten und seinen Willen zur Selbstbestimmung zu erheben. Außerdem kommt im Bereich des Staates die Identifikation mit und das Vertrauen in die Sittlichkeit dann zustande, wenn das Individuum in sich einen reflektierenden Seite, d. h. der Versöhnung mit dem Allgemeinen, das ist, was laut Gutschmidt Hegels Theorie von der oben genannten Tradition unterscheidet. Näher siehe Gutschmidt, Holger (2018): Bildung des Menschen und Bildung des Geistes bei Hegel. Eine Erörterung mit Blick auf den Humanismus (Humboldt und Herder), in: Genealogien der Natur und des Geistes. Bomski, Franziska, Stolzenberg, Jürgen (Hrsg.), S. 257–272. 7 Neuhouser macht eine hilfreiche Unterscheidung in seiner Diskussion der sittlichen Institutionen und deren freiheitsverwirklichenden Charakter. Seiner Ansicht nach kann man die Weise, wie die Institutionen der Sittlichkeit unsere Freiheit garantieren und fördern, in zwei Kategorein einteilen: Zum einen übernehmen die Institutionen die Rolle der „externen Bedingungen“ der objektiven Freiheit in dem Sinne, dass die Strukturen die notwendigen äußerlichen Verhältnisse sind, die für die Verwirklichung des Willens der Individuen als Personen oder moralische Subjekte notwendig sind, wie etwa Eigentumsrechte, Rechtspflege usw. In dieser Sphäre kann jeder im Rahmen seiner Vorstellung eines guten oder wertvollen Lebens handeln, solange er nicht gegen die Rechte anderer verstößt. Zum anderen haben die Institutionen die Funktion der Formierung der freiheitsfähigen Individuen, was Neuhouser die „inneren Bedingungen“ der Freiheit nennt. Die Institutionen haben die Aufgabe der Bildung der Individuen, die dazu führen muss, dass diese die Freiheit nicht nur als das höchste Ideal ansehen, sondern auch dazu fähig werden, sich selbst im Rahmen der objektiven Freiheit zu bestimmen und diesen Willen in die Wirklichkeit umzusetzen. Näher siehe Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, S. 147 ff.

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Blick ausbildet und damit zur Einsicht in die Vernünftigkeit und Gültigkeit der Verhältnisse gelangt.8 Zusammenfassend besteht Hegels politische Philosophie in den Grundlinien also in dem Gedanken, dass die Freiheit als Grundlage der Politik auf zwei Grundpfeilern basiert: Erstens kann ein Subjekt als frei bezeichnet werden, wenn es nicht nur in der Lage ist, seine Lebenspläne und Zwecke selbst durch innerliche Reflexion – und nicht unmittelbar – zu gestalten, sondern wenn darüber hinaus auch die Normen seines Verhaltens in Harmonie mit dem allgemein Guten stehen bzw. wenn diese Normen gleichzeitig dem moralischen Rahmen entsprechen. Beides setzt freilich bereits einen sittlich gebildeten Charakter voraus. Diese subjektive Seite ist aber nicht ausreichend, wie im Abschnitt zum moralischen Standpunkt gezeigt wurde. Der Begriff der Freiheit fordert zweitens einen wirklichen objektiven Kontext, in dem den Subjekten die grundlegenden Normen der Selbstbestimmung im Hinblick auf das Gute aller zur Verfügung stehen – Normen, die diese Einheit zwischen der subjektiven Freiheit und der Freiheit aller ermöglichen. Hegel ist der Auffassung, dass diese Harmonie durch die Normen der Grundinstitutionen der modernen Sittlichkeit zu erreichen ist.9 Genau deswegen, weil die moderne Sittlichkeit diese grundlegende Bedingung der Freiheit erfüllt, ist sie für Hegel das Ziel der Untersuchung, die Idee der Freiheit: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige 8 Die Signifikanz der Bildung wird dann deutlich, wenn wir diese positiven Seiten der Normen außer Acht lassen und Freiheit nur in einem negativen Sinne, wie beispielsweise Pettits Nicht-Beherrschung verstehen. (Siehe Pettit, Philip, Republicanism: A theory of freedom and government) Die Frage ist, ob die Mitglieder eines primitiven Stamms, die angeblich zwar völlig unbeherrscht sind, aber nur den natürlichen Bedürfnissen nachgehen können, in der Qualität ihrer Freiheit gleich sind wie die Bürger eines zivilisierten Staates. Wenn wir von diesen positiven Aspekten der innerlichen Bestimmung absehen, können für die negativen Theorien Schwierigkeiten auftauchen. Wir nehmen Pettits Theorie als ein Beispiel: Wir sind frei, wenn Gesetze und Normen da sind, die jede Art von Beherrschung und Manipulation verhindern und ausschließen. Nun kann man sich eine Republik vorstellen, in welcher der Herrscher sehr schlau ist und die ungebildeten Bürger nicht in der Lage sind, herauszufinden, dass sie eigentlich die Interessen des Herrschers erfüllen. Um kohärent und durchsetzbar zu sein, kann sich diese Theorie also nicht auf die äußerlichen Bedingungen der Freiheit beschränken, sondern sollte darüber hinaus diese innerlichen Aspekte in sich integrieren. 9 Für die Bedeutung des sittlichen Geistes in der Phänomenologie des Geistes als Kontext der Wirklichkeit der praktischen Vernunft siehe Siep, Ludwig, Praktische Vernunft und sittlicher Geist, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, S. 177 ff. Siep sieht hier einerseits die Wirklichkeit der Normen in der objektiven, sozialen Welt und andererseits die Lebendigkeit dieser Normen im Bewusstsein der Individuen (angefangen mit dem unmittelbaren Individuum in der griechischen Polis bis hin zum modernen reflektierenden moralischen Bewusstsein) als die beiden Pfeiler von Hegels Theorie der Sittlichkeit.

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Gute, das in dem Selbstbewusstsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.“ Was in diesem Abschnitt ins Auge fällt, ist der Ausdruck „die Idee der Freiheit“, den Hegel für die Beziehungen der Sittlichkeit verwendet. (PR § 142) Da die Sitten den notwendigen Begriff der Freiheit – d.  h., und wie auch schon deutlich wurde, die Harmonie zwischen subjektiver Freiheit und dem allgemein Guten – in sich darstellen, ist die Sittlichkeit „die Einheit des Begriffs des Willens und seines Daseins.“ (PR § 143) Genau aus diesem Grund nennt Hegel die Sittlichkeit die Idee der Freiheit. Beide Ausdrücke bezeichnen die Sittlichkeit als die Sphäre, in der sich der Begriff der Freiheit realisiert und Idee wird. Es scheint, dass wir nun unser Ziel erreicht haben, denn die Sittlichkeit ist genau diejenige Sphäre, in der sich die Idee der Freiheit zum Ausdruck bringt. Daher ist es notwendig zu erklären, warum dies so ist. Wie kommt dieser notwendige vernünftige Begriff in der Sittlichkeit zum Ausdruck? Unsere Aufgabe besteht nun genau darin, diese Behauptung zu explizieren und zu beweisen. Hegels Auffassung können wir ausgehend von den Bedingungen eines freien Willens, die in der „Einleitung“ der Rechtsphilosophie expliziert wurden, so zusammenfassen: Wir wissen bereits über den freien Willen, dass das Dasein des Willens nur dann Reflexion der subjektiven Zwecke und somit frei sein kann, wenn die Form und die Inhalte des Willens eine Einheit bilden – was dann möglich ist, wenn wir die Form und die Inhalte durch den Willensbegriff bestimmen. Anders gesagt sollten die Form oder die Zwecke und ihre besonderen Inhalte durch den Begriff bestimmt werden, damit die Wirklichkeit des Willens genau unser subjektives Wollen reflektiert. Im „Moralitätskapitel“ wurde uns deutlich, wie die Form und die Inhalte des Willens sein sollten: Die subjektive Form der Selbstbestimmung sollte dem Guten gemäß sein und die Handlungen des Subjekts sollten gleichzeitig durch das Subjekt als gut und moralisch angesehen und gewollt werden. Allerdings sind dort die moralischen Inhalte noch unbestimmt geblieben. In der neuen Sphäre wird diese Lücke dann durch die Sitten geschlossen: Die Sitten sind genau die Normen, weil sie sowohl dem Guten gemäß sind als auch durch das Subjekt gewollt werden, und wir haben nun bestimmte Inhalte, die unserer selbstbestimmten Form entsprechen. Wenn Hegel in diesem Kapitel erfolgreich beweisen kann, wie die Sitten die Einheit des allgemeinen Guten mit der subjektiven Freiheit ermöglichen, dann wird sich zugleich zeigen, dass diese Wirklichkeit des Willens die Reflexion der subjektiven, durch den Begriff bestimmten Zwecke ist, was für Hegel die wahre Freiheit bzw. die Idee der Freiheit bedeutet.

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Kapitel 6

Sittlichkeit als Reich der Einheit der konkreten allgemeinen Pflichten mit dem Recht auf subjektive Freiheit

Wir haben im Laufe der Untersuchung gesehen, dass für Hegel die objektiven moralischen Pflichten einerseits und die Rechte der Subjektivität andererseits die beiden Grundpfeiler bzw. die vernünftig notwendigen Hauptbestimmungen des Freiheitsbegriffs ausmachen. Wie wir im letzten Kapitel schon deutlich gemacht haben, fordert der Begriff der Freiheit die Bestimmungen des Guten, durch welche das Gute jedes Individuums, d. h. seine Rechte auf Selbstbestimmung, Wohl usw., im Kontext des allgemein Guten erfüllt wird. Um dem Guten aller gemäß zu handeln, brauchen die Individuen bestimmte Inhalte. Wir haben in der Moralität nach bestimmten Pflichten gesucht, aber haben bei dieser Suche noch keinen Erfolg verzeichnen können. Erst in der Sittlichkeit ist das Gute nicht mehr abstrakt, sondern bestimmt und wirklich, und so stehen uns auch erst in der modernen sittlichen Welt diese bestimmten Pflichten zur Verfügung.10 Dieses Gute ist in den Sitten unserer sozialen Welt verkörpert – und wird dort noch weiter verkörpert werden – und seine Bestimmungen werden von den Subjekten gewollt, denn durch die Sitten ist das Subjekt in der Lage, seine subjektive Freiheit zu verwirklichen. Für das Subjekt ist das Leben in der Sittlichkeit notwendig, weil es einerseits weiß, was seine Pflichten sind. Diese Pflichten existieren als bestimmt im Selbstbewusstsein des Subjekts, sodass es nicht länger seine Aufgabe ist, diese Pflichten zu bestimmen und zu verwirklichen: „Für das Subjekt haben die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten einerseits als Gegenstand das Verhältnis, dass sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit.“ (PR § 146) Andererseits sind die Pflichten, da sie gleichzeitig die subjektive Freiheit ermöglichen, dem Subjekt nicht fremd. Vielmehr sieht das Subjekt seine eigene Vernunft und Selbstbestimmung in diesen Sitten verwirklicht: „Andererseits sind sie dem Subjekte nicht ein Fremdes, sondern es gibt das Zeugnis des Geistes von ihnen als von seinem eigenen Wesen, in welchem es sein Selbstgefühl hat und darin als seinem von sich ununterschiedenen Elemente lebt.“ (PR § 147) Im Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit wurde gezeigt, dass Freiheit eine innerliche Selbstbestimmung nach allgemeinen moralischen Gesetzen erfordert. Diese Bedingung wird in der Sittlichkeit so erfüllt, dass die Sitten als Bestimmungen des moralisch Guten für die Individuen die Inhalte zur Verfügung stellen, die dann auch von den Individuen, durch ihre eigene Einsicht und ihr Wollen, als vernünftig angesehen werden. 10

„Die hier (in der Sittlichkeit) vorkommenden Willensbestimmungen sind das, was wir früher Pflichten nannten, die wesentlichen Verhältnisse.“ Nachschrift Anonymus, S. 122.

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Das Subjekt sollte sich bestimmen, und um wirklich frei zu sein, sollte es etwas Bestimmtes tun. Die Sitten ermöglichen es dem Subjekt, sich von den Zufälligkeiten der Natur bzw. seiner eigenen Willkür zu befreien und die Bestimmungen der Freiheit in seinen Willen zu setzen: „Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt.“ (PR § 149) Nur so ist es für Hegel möglich, dass das Individuum durch seine Sittlichkeit keine „Beschränkung“ erleidet, sondern echte „Befreiung“ erreicht. Solange nur eine abstrakte Vorstellung von Freiheit besteht, erscheinen einem die sittlichen Pflichten als Schranke, die den Individuen keinen freien Raum zur Bestimmung des Willens lassen. Sobald man aber die notwendigen Bedingungen der Freiheit kennt, sieht man ein, dass die wahre Freiheit durch die herrschenden Sitten zu erreichen ist: „Die Pflicht beschränkt nur die Willkür der Subjektivität und stößt nur gegen das abstrakte Gute an, welches die Subjektivität festhält.“ (PR § 149 Z) Wie schon gesagt wurde, muss sich das Individuum auch zu einem freiheitsfähigen Wesen bilden und seinen natürlichen Zustand verlassen. In der Sittlichkeit wird die Natur des Menschen durch „eine zweite Natur“ ersetzt, deren Gesetz nicht mehr die natürlichen Triebe sind. Es sind vielmehr die Gesetze der Freiheit, die den Willen von Willkür befreien und das Individuum zur Selbstbestimmung befähigen.11 Die allgemeinen sittlichen Handlungsweisen werden in der Form der „Gewohnheit“ in den Individuen konstituiert. (PR § 151 Z) Wie kommt nun in diesem Prozess die Autonomie der Individuen ins Spiel? Die sittlichen Gewohnheiten werden selbstverständlich nicht von außen in das Bewusstsein der Individuen indoktriniert. Die Autonomie der Individuen trägt zur Konstitution dieser Gewohnheiten dadurch bei, dass diese innerhalb einer bestimmten Gruppe und der in ihr herrschenden Lebensverhältnisse und Normen ihre eigenen freien Entscheidungen treffen. Die Individuen sind 11

Das Individuum ist für Hegel nicht von vornherein in der Lage, sich autonom zu bestimmen; es durchläuft vielmehr einen Bildungsprozess von den anfänglichen Stufen des sinnlichen Wahrnehmens, über die Ausbildung seines Gedächtnissystems im Bewusstsein, die Entwicklung seiner kognitiven Fähigkeiten bis zum Niveau des Denkens und Selbstbewusstseins. Selbiges gilt auch für die Aneignung der Fähigkeiten seines Willensvermögens, ausgehend von der Beherrschung natürlicher Triebe über die Durchführung bestimmter Willensinhalte bis zum autonomen Handeln. Für Hegels Erläuterung der verschiedenen Entwicklungsstufen des subjektiven Bewusstseins siehe das Kapitel zum „Subjektiven Geist“ in Hegels Enzyklopädie.

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autonom in dem Sinne, dass sie durch die Reflexion der sittlichen Normen und Gründe im Laufe ihrer Lebensgeschichte in sich ein Netz von Gewohnheiten aufbauen und ihre Handlungen ausgehend von diesem beurteilen. Freiheit in diesem Sinne ist ein Prozess, den das Subjekt in den objektiven Bestimmungen der Sittlichkeit selbst zu vollziehen hat. In dieser Hinsicht kann Freiheit, mit Menke gesprochen, immer als ein Kampf gegen oder als „Negation von Unfreiheit“ verstanden werden, ein Prozess – kein Zustand – des Sich-Befreiens.12 12

Siehe Menke, Christoph (2018): Autonomie und Befreiung: Studien zu Hegel. S.  52. Laut Pinkard ist der Begriff der Autonomie bei Kant mit einer „Paradoxie“ behaftet: Wir sind frei, wenn wir nur denjenigen Gesetzen gehorchen, die wir uns selbst gegeben haben. Mit anderen Worten sind wir autonom, wenn die Gesetze unserer Handlung weder durch äußerliche Einflüsse noch durch unsere innere Natur bestimmt werden. Das impliziert, dass keine vorherige Bestimmung unserem Akt der Gesetzgebung vorausgeht. Der Akt der Gesetzgebung sollte also nicht durch ein anderes Gesetz bestimmt oder beschränkt sein. Deswegen darf das Subjekt der Gesetzgebung durch kein vorheriges Gesetz bestimmt sein. Nun fragen wir uns, mit welchem Grund dieser erste Akt der Gesetzgebung des Subjekts gerechtfertigt werden kann. Das gesetzgebende Subjekt müsste nämlich vor dieser ersten Gesetzgebung für die Rechtfertigung dieses Aktes der Autonomie selbst einen Grund haben, der selbst wiederum verbindlich und gerechtfertigt ist, denn ohne einen solchen Grund wäre die Gesetzgebung willkürlich. Nun ist aber die Frage, ob dieser Grund selbst selbstbestimmt oder einfach vorgegeben ist. Im ersten Fall geraten wir in einen unendlichen Regress, weil jeder Grund durch einen vorherigen Grund begründet werden soll, und im zweiten Fall handelt es sich um Heteronomie. Näher siehe Pinkard, Terry, German philosophy: 1760–1860; The legacy of idealism, S. 226–233. Siehe auch hinsichtlich einer deutlichen Hervorhebung dieser Paradoxie Khurana, Thomas (2013): Paradoxes of Autonomy: On the Dialectics of Freedom and Normativity, Bd. 17, S. 7–24. In diesem Licht wird in der vorliegenden Untersuchung Hegels Theorie der Sittlichkeit als sein Versuch angesehen, diese Paradoxie aufzulösen, etwa dadurch, dass er Autonomie grundsätzlich erst in Form der Teilnahme an sozialen Praktiken für möglich hält. Laut Menke ist die Beziehung zwischen dem „Selbst“ und dem „Gesetz“ neu zu formulieren, denn solange für uns „das Selbst die Instanz ist, die sich das Gesetz gibt“, geraten wir in diesen Widerspruch. (Menke, ebd., S. 23) Für Hegel ist das autonome Subjekt kein abstraktes Wesen, das mit seinen Rationalitätskriterien die allgemeinen Gesetze beurteilt. „Nur in einer Welt des sich verwirklichenden Guten oder in einer Welt von Praktiken kann es autonome Subjekte geben.“ (Menke, ebd., S. 28) Die vernünftigen sittlichen Normen konstituieren die Subjekte in der Sittlichkeit und werden durch „Gewohnheit“ zu einem Teil ihres Charakters, nicht aber in der Weise, dass die Subjekte keinen Anteil daran haben – das wäre selbstverständlich ein Fall von Heteronomie –, die Subjekte machen sich vielmehr diese Normen zu eigen und errichten in einem Bildungsprozess in sich ein System der Gewohnheiten, die sowohl vernünftig als auch selbstbestimmt sind. In diesem Prozess gewinnt das Individuum sowohl ein Bewusstsein von sich als ein freies Wesen als auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Autonomie. Diese Seite der Autonomie, die durch den Ausdruck „Aneignung“ gut beschrieben ist, lässt sich auch in Sieps Definition der „Bildung“ in der Sittlichkeit bei Hegel deutlich erkennen: „Den Prozess, sich den Sinn dieser objektiven Institutionen anzueignen, und darin die eigene Autonomie zu bewahren,

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Es ist falsch zu glauben, dass das Individuum für Hegel nur dann frei ist, wenn es sich den bestehenden Sitten seiner Gesellschaft in einem völlig unreflektierten Gehorsam nur unterwirft. Für Hegel ist die Sittlichkeit in erster Linie nur dann wahr und als Idee oder Wirklichkeit der Freiheit zu bezeichnen, wenn ihre Sitten einerseits die objektiven Bestimmungen der Moral und Gerechtigkeit erfüllen und andererseits die Individuen nicht einem Zwang unterwerfen, sondern diesen die Ausübung ihrer subjektiven Freiheit ermöglichen und daher von ihnen auch als gerecht und motivierend erkannt werden. Nur dann können diese Sitten auch Gültigkeit erlangen. Die Individuen haben das Recht auf „ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit“, und es ist eindeutig, dass das Recht der Sittlichkeit nur dann erfüllt wird, wenn das zweite Recht auf subjektive Freiheit ihre Erfüllung bekommt. (PR § 153) In der Sittlichkeit sind wir sowohl Personen als auch Subjekte mit all den dazugehörenden Rechten. Was sich auf dieser Stufe nun allerdings grundlegend ändert, ist, dass die Persönlichkeit und Subjektivität in eine höhere Sphäre oder in ein größeres und umfassenderes Bild von Freiheit aufgehoben, oder mit Vieweg gesprochen, „überwunden, höhergehoben und darin bewahrt“ werden.13 In einem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem die Individuen diese Erwartungen nicht erfüllen können, kommt die Sittlichkeit auch nicht zu ihrem Recht. Für Hegel führt nicht jede politische und gesellschaftliche Gestalt zur Verwirklichung wahrer Sittlichkeit. Vielmehr muss die Sittlichkeit auf der Reflexion des vernünftigen Begriffs der Freiheit beruhen, der sich aus der Einheit der subjektiven Freiheit mit den guten und gerechten Gesetzen ergeben hat. Es ist genau dieses Prinzip, das die hegelsche Sittlichkeit von jedem beliebigen gesellschaftlichen Zusammenleben unterscheidet. Wir werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels sehen, wie und warum die Hauptinstitutionen der modernen Sittlichkeit mit ihren zugrundeliegenden Normen laut Hegel die allgemeinen notwendigen Prinzipien der Freiheit erfüllen. Hegels Auffassung nach entsprechen die Sitten, eben weil durch sie in der modernen Gesellschaft sowohl das Recht der Allgemeinheit als auch das Recht jedes Einzelnen auf subjektive Freiheit erfüllt werden, einerseits den Pflichten der Individuen, aber sie entsprechen andererseits auch ihrem Rechte auf Selbstbestimmung, und genau diese Einheit ist es, was die sittliche Substanz zusammenhält: „In dieser Identität des allgemeinen und besonderen Willens fällt somit Pflicht und Recht in Eins, und der Mensch hat durch das

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nennt Hegel ‚Bildung‘“. Siehe Siep, Ludwig, Aktualität und Grenzen der Praktischen Philosophie Hegels, S. 138. Siehe Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S. 254.

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Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat.“ (PR § 155)14 In der Tat sind diese allgemeinen Pflichten zugleich positive Bestimmungen der Freiheit für die Individuen, was sich im Moralitätskapitel als für die Freiheit notwendig ergeben hat. Hegel zeigt im Kapitel zur Sittlichkeit darüber hinaus, wie diese Pflichten gleichzeitig unser Recht auf Selbstbestimmung und subjektive Freiheit ermöglichen. Man darf also nicht meinen, dass Menschen in der Sittlichkeit nur Pflichten hätten und nur den allgemeinen Normen folgen müssten, und dass deswegen kein Raum für die Besonderheit der Individuen bliebe. Ganz im Gegenteil: „Das Recht der Individuen an ihre Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten.“ (PR  § 154) Hegel wird später zeigen, wie man in der Familie durch die eigenen Pflichten gegenüber den Familienmitgliedern gleichzeitig die Möglichkeit hat, die eigene Freiheit in der sittlichen Form der Liebe zum Ausdruck zu bringen. Und er wird zudem zeigen, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die persönlichen Interessen und Zwecke durch die Verhältnisse dieser Sphäre Ausdruck gewinnen, und wie letztlich der Staat als die die Sittlichkeit zusammenhaltende Institution der Existenz unserer Freiheit zugrunde liegt. Die Sittlichkeit ist deswegen nicht nur eine Sphäre der Pflichten, sondern vielmehr der Ort, an die Individuen die eigene Besonderheit entwickeln und realisieren können. Die Pflichten sind deswegen gleichzeitig Rechte auf die sittliche Verwirklichung der individuellen Freiheit und Rechte auf Befreiung von Unbestimmtheit. 6.2

Sphären der Freiheit in der Sittlichkeit

Bis jetzt wurde nur Hegels Behauptung wiedergegeben, der zufolge die Sittlichkeit die Idee der Freiheit ist, in der die Pflichten gleichzeitig Rechte der Individuen sind und das Individuum deswegen durch die Befolgung dieser Pflichten frei werden kann. Hegel muss aber beweisen, dass dies auch tatsächlich der Fall ist. Er muss deshalb darlegen, wie in den drei Sphären der Sittlichkeit diese 14

„Im Sittlichen fallen Recht und Pflicht durchaus zusammen, im abstrakten Recht sind Pflicht und Recht in zwei Personen verteilt; im Moralischen habe ich Pflichten zum Guten überhaupt; mein Recht ist hier formell, das Recht meines subjektiven Willens, meiner Freiheit. Im Sittlichen fällt diese Trennung hinweg. Indem ich sittlich bin, so erfülle ich meine Pflicht, und diese ist auch mein Recht.“ Hegel, G. W. F., Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Henrich, Dieter (Hrsg.), S.  127. Durch diesen Rechtsbegriff baut Hegel, mit Kervégan gesprochen, eine Brücke zwischen „einer rightsbased und einer duty-based Rechtsauffassung“. Näher siehe Kervégan, Jean-François (2020): Recht und Rechte in Hegels Rechtsphilosophie, S. 31.

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Einheit zustande kommt. Und er muss zudem eigens explizieren, wie durch die Sitten der Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft diese Einheit zwischen den Pflichten und den Rechten bzw. der allgemeinen und der besonderen Freiheit möglich wird. Wir werden im Folgenden genauer betrachten, wie die Grundnormen dieser Sphären, d. h. der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, dieser Einheit Ausdruck geben und wie die Individuen durch die allgemeinen Pflichten ihre eigene Befreiung und Befriedigung finden und deswegen beide Seiten in Harmonie zueinander stehen. Zwei weitere Punkte sind bei der Untersuchung der drei Institutionen der Sittlichkeit zu beachten: Erstens muss, laut Horstmann, die Beziehung zwischen den Institutionen und der gesamten Sittlichkeit so verstanden werden,, dass einerseits die Sittlichkeit die ratio essendi der Institutionen ist. Keine von diesen Sphären kann also allein für sich bestehen, sondern ist auf die jeweils andere angewiesen. Und andererseits sind die Institutionen die ratio cognescendi der Sittlichkeit in dem Sinne, dass das sittliche Leben als Gesamtheit der Beziehungen nur durch diese Institutionen und ihre Normen seine Bestimmung und Erkenntnismöglichkeit findet. Mit anderen Worten können wir nur durch diese Institutionen den Rahmen eines sittlichen Lebens erkennen. Zweitens ist die Beziehung zwischen den Institutionen selbst „konzeptueller“, also begrifflicher und nicht „genetischer“ Natur, d. h. die bürgerliche Gesellschaft und der Staat werden nicht durch die Familie erzeugt und umgekehrt. Es ist eine begriffliche Notwendigkeit, welche z.  B.  die  Existenz der bürgerlichen Gesellschaft als die Sphäre, in der selbständige Individuen ihren Interessen folgen können, fordert. Diese Sphären sind zwar als Bereiche des sittlichen Lebens miteinander verbunden, sie sind aber gleichzeitig Ausdifferenzierungen des Begriffs der Sittlichkeit in der Hinsicht, dass jede eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat.15 6.2.1 Die Familie Die moderne16 Familie als eine der Hauptinstitutionen der Sittlichkeit hat grundsätzlich, wie die anderen Institutionen, zwei Aufgaben zu erfüllen, und 15 16

Näher siehe Rolf-Peter Horstmann, Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 158–256), in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ludwig Siep (Hrsg.), S. 204 f. Hegels moderne Konzeption der Familie wird so von anderen Modellen unterschieden: „In contrast to ancient kinship structures, the modern family does not give priority to the broader kinship. Adult men and women do not remain attached to their birth families, they found new families. The ties to this new family are far more ethically significant than ties to parents or siblings. In contrast to the Greek world in which Antigone valued her relation with her brother above that with her future husband, the modern family gives

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alles andere ist diesen untergeordnet: In der Familie sollten sowohl das Recht des Ganzen oder das Gute aller Mitglieder als auch die Rechte des besonderen Individuums zum Ausdruck kommen. Dabei entsteht die Frage: In welchen Beziehungen und Verhältnissen kann dieses Ziel erreicht werden? „Liebe“ ist nach Hegel der zentrale Begriff in der Familie, die hier allen Normen zugrunde liegt. Durch die Liebe werden einerseits die Beziehungen aller zum Guten erfüllt, und andererseits ist das Einzelne in diesen Beziehungen bei sich und deswegen frei. Darüber hinaus muss Hegel hier explizieren, wie das Individuum seinen natürlichen Zustand durch diese Beziehungen aufgibt und in sich sittliche Bestimmungen der Freiheit bildet. Da die Liebe diese grundlegende sittliche Rolle in der Familie übernimmt, ist die Familie für Hegel in erster Linie eine „unmittelbare Substantialität des Geistes“.17 Das heißt, die Einheit des Individuums mit dem Allgemeinen ist hier nicht reflexiv, weil diese Einheit auf Empfindungen beruht, z. B. reflektieren die Eltern in ihrer Liebe zu ihren Kindern nicht, ob sie die Kinder lieben oder nicht; dieses Gefühl entstammt vielmehr der menschlichen Natur. Wie kommt nun durch die Liebesbeziehungen die Einheit zwischen dem Guten des Einzelnen und dem Guten aller zum Ausdruck? Zum einen sorge jedes Mitglied der Familie für das Gute aller. Die Mutter kümmere sich durch die sittlichen Normen, die ihre Rolle definierten, um das Gute der ganzen

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supreme value to the relation between husband and wife. In contrast to worlds in which the participants in marriage have no say, the modern family is the coming together of two free consenting individuals for the sake of their relationship with each other, rather than for the sake of increasing their wealth or dynastic considerations. It involves a symmetrical relation between husband and wife in which the rights of each are equally protected, something that Hegel argues is impossible with polygamous marriages. And in contrast to Catholic doctrine, in which celibacy is valued and sexual relations denigrated and permitted only for the procreation of children, the modern family is the location of sacred love.“ Siehe Hutchings, Kimberly (2017): Living the Contradictions: Wives, Husbands and Children in Hegel’s Elements of the Philosophy of Right, in: Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide, James, David (Hrsg.), S. 99 f. Die „unmittelbare Substantialität“ der Familie kann, so Bockenheimer, in „zweifacher Weise“ verstanden werden: Unmittelbar erstens, weil zu der Familie „der natürliche Gattungs- und Generationszusammenhang“ gehört, und zweitens, weil die natürliche „Empfindung der Liebe“ den Beziehungen zugrunde liegt. Siehe Bockenheimer, Eva (2013): Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, S. 128. Während es im Staat die Einsicht in die Vernünftigkeit der Normen ist, welche die selbständigen Individuen zu Handlungen motiviert, ist es in der Familie das Gefühl der Liebe, welche die Mitglieder motiviert, sittliche Inhalte in ihren Willen aufzunehmen, und in diesem Licht ist unreflektiert im Gegensatz zum Bereich des Staates: „Die Liebe ist aber Empfindung, das heißt die Sittlichkeit in Form des Natürlichen; im Staate ist sie nicht mehr: da ist man sich der Einheit als des Gesetzes bewusst, da muss der Inhalt vernünftig sein, und ich muss ihn wissen.“ (PR § 158 Z)

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Familie. Zum anderen implizierten diese Sitten keine Unterdrückung der Individualität der Mutter. Sie sehe vielmehr ihre Freiheit und Erfüllung in diesen Beziehungen. Sie gebe gerne manche Interessen und Wünsche auf, um Mitglied der Familie zu sein, denn diese Beziehungen betrachte sie als höher und wertvoller als das Beharren auf ihrer Selbstständigkeit:18 „Die Familie hat als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung, so dass die Gesinnung ist, das Selbstbewusstsein seiner Individualität in dieser Einheit als an und für sich seiender Wesentlichkeit zu haben, um in ihr nicht als eine Person für sich, sondern als Mitglied zu sein.“ (PR § 158) Nachdem Hegel den „Begriff“ dieser Freiheit in der Familie expliziert hat, ist nun über die wirklichen „Gestalten“, die objektiven Formen dieses Begriffes, zu reden. An dieser Stelle beginnt Hegel, die Hauptbeziehungen der Familie in der Wirklichkeit zu untersuchen und anhand ihrer zu beweisen, wie in diesen Beziehungen die Bedingungen des Freiheitsbegriffs erfüllt werden. In diesem Zusammenhang betrachtet Hegel die Familie unter drei Aspekten: Ehe, Eigentum der Familie, Erziehung der Kinder und Auflösung der Familie (PR § 160): Erstens ist die Ehe nach Hegel eine „rechtlich sittliche Liebe“, durch welche die natürlichen Gefühle und Triebe des Einzelnen in einer sittlichen Weise befriedigt werden, damit jede Seite in Einheit mit der anderen die eigene Freiheit und Besonderheit zum Ausdruck bringen kann: „Die Ehe enthält, als das unmittelbare sittliche Verhältnis, erstens das Moment der natürlichen Lebendigkeit, […] Aber im Selbstbewusstsein wird zweitens die nur innerliche oder an sich seiende und eben damit in ihrer Existenz nur äußerliche Einheit der natürlichen Geschlechter in eine geistige, in selbstbewusste Liebe, umgewandelt.“ (PR § 161) Die sittliche Seite dieser Beziehung besteht wesentlich darin, dass die Ehepartner einander nicht als Mittel zur Befriedigung eigener natürlichen Triebe ansehen. Vielmehr geht es in der Ehe um eine sittliche Einheit, worin beide Seiten einander respektieren und anerkennen, und ihren

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Dieses als widersprüchlich erscheinende Sich-Aufgeben und Im-Anderen-Wiedergewinnen bezeichnet für Hegel einen Widerspruch, der nur durch die Liebe zu lösen ist: „Das erste Moment in der Liebe ist, dass ich keine selbständige Person für mich sein will und dass, wenn ich dies wäre, ich mich mangelhaft und unvollständig fühle. Das zweite Moment ist, dass ich mich in einer anderen Person gewinne, dass ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht. Die Liebe ist daher der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann, indem es nichts Härteres gibt als diese Punktualität des Selbstbewusstseins, die negiert wird und die ich doch als affirmativ haben soll. Die Liebe ist das Hervorbringen und die Auflösung des Widerspruchs zugleich: als die Auflösung ist sie die sittliche Einigkeit.“ (PR § 158 Z)

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Bedürfnissen im Rahmen dieser sittlichen Einheit nachgehen.19 Um dies zu verdeutlichen, unterscheidet Hegel seinen Begriff von Ehe von drei anderen Theorien der Ehegründung, um seine Konzeption der Ehe und ihr Verhältnis zu seiner Diskussion der Freiheit weiter zu erläutern: Die erste Vorstellung komme in „den meisten Naturrechten“ vor, welche die Ehe „nach der physischen Seite“ betrachteten, in dem Sinne, dass der Hauptzweck der Ehe in der Fortpflanzung bestehe und die Befriedigung der natürlichen Triebe hier keine Rolle spiele. Diese Perspektive ist für Hegel beschränkt, weil dadurch die anderen natürlichen sowie sittlichen Aspekte vernachlässigt würden, die mit der Ehe wesentlich verbunden seien.20 Die andere zu verwerfende Vorstellung findet er bei Kant, demzufolge „die Ehe bloß als ein […] bürgerliche[r] Kontrakt zu begreifen“ sei. In erster Linie ist für Hegel die Ehe vom Vertrag dadurch zu unterscheiden, dass es in der Ehe um eine sittliche Einheit der beiden Ehepartner geht, während im Vertrag zwei selbständige Personen selbständig bleiben und ausschließlich miteinander über eine Sache einen Vertrag beschließen. Ein anderer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass die Inhalte des Vertrages durch den willkürlichen Willen der den Vertrag schließenden Partner bestimmt werden, während die Inhalte des Eheverhältnisses in der Sittlichkeit aus dem allgemeinen Begriff des Willens abgeleitet werden.21 Die dritte Theorie, „welche die Ehe nur in die Liebe setzt“ und damit die Tür für subjektive Willkür und Zufälligkeiten aufstoße, ist für Hegel ebenfalls unplausibel. Er ist vielmehr der Auffassung, dass die Ehe als eine sittliche Beziehung anzusehen sei, die neben der Befriedigung der subjektiven Besonderheit und Freiheit gerade aufgrund ihrer objektiven und sittlichen Form die subjektive Willkür ausschließe und den natürlichen Tendenzen eine allgemeine und sittliche Form gebe. (PR § 161 Z) Die Ehe hat zwar für Hegel ein Moment der Besonderheit in sich, was er als den „subjektiven Ausgangspunkt der Ehe“ bezeichnet, welcher darin besteht, dass demsubjektiven Geschmack und der Besonderheit in dieser Beziehung ein berechtigter Platz zukomme. Da aber die menschliche Freiheit nicht auf 19 20 21

„Das Sittliche der Ehe besteht in dem Bewusstsein dieser Einheit als substantiellen Zweckes, hiermit in der Liebe, dem Zutrauen und der Gemeinsamkeit der ganzen individuellen Existenz.“ (PR § 163) Für eine Diskussion dieser Kritik siehe Bockenheimer, Eva, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, S. 183–185. Der Grund dieser kantischen Position liegt darin, dass der Geschlechtsakt für Kant hauptsächlich einen dinglichen Aspekt hat, insofern sich die Ehepartner dabei als Mittel gebrauchen, und der Ehevertrag deswegen zum Ziel hat, diesem Aspekt eine rechtliche Form zu verleihen. Näher zur kantischen Position und zu Hegels Kritik siehe Bockenheimer, ebd., S. 185–195.

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die Befriedigung der leidenschaftlichen Triebe reduziert werden darf, sondern in einem objektiven sittlichen Rahmen zum Ausdruck kommen muss, besteht die sittliche Seite der Ehe darin, dass die Eheleute ihre „Einwilligung“ geben, eine Einheit, eine Person zu sein. Außerdem müssen sie einander als Menschen mit Würde behandeln. Nach Hegel stellt dieses Bewusstsein, worin die rohe Natur der Individuen innerhalb eines sittlichen Rahmens beschränkt wird – und in dem die Freiheit aller respektiert wird –, eine „Befreiung“ der Individuen dar. (PR § 162) Was für Hegel zentral ist, ist, dass beide Ehepartner nicht nur als Objekte der sinnlichen Liebe, sondern als Menschen Respekt und Rechte genießen, was genau durch diese sittliche Beziehung der Ehe geschieht. Denn in dieser Beziehung gehen die Menschen über ihre Sinnlichkeit hinaus und bringen ihre Natur substanziell und geistig zum Ausdruck. Das sinnliche und natürliche Moment wird dem sittlichen Verhältnis unterworfen und der „gegenseitigen Liebe und Beihilfe“ untergeordnet (PR § 164). In der Ehe sehen wir deutlich, wie neben der Besonderheit der Individuen die allgemeinen Bestimmungen der Freiheit durch die Pflichten erfüllt werden. Wir sind in einer Beziehung mit einem anderen Individuum, das Respekt genießt und seinen eigenen Wert hat. Außerdem ist die Form der Ehe zu betrachten, die für Hegel „Monogamie“ sein sollte. In der Ehe geben die Personen die eigene unmittelbare Persönlichkeit auf und treten in eine sittliche Einheit ein, worin keiner ein Sklave ohne Rechte und Ehre sein muss, sondern jeder eine Seite dieser Einheit bildet. In Beziehungen, in denen beispielsweise der Mann viele Frauen haben kann, werden den Frauen nicht die gleichen Rechte und die gleiche Ehre wie den Männern zugestanden, während in der Monogamie die Beziehung gegenseitig ist:22 „Die Frauen kommen nur in der Monogamie zu ihren eigentlichen Rechten. Die Monogamie gehört dem Christentum an, weil in ihm das Prinzip enthalten ist, dass das Individuum ganz unabhängig vom Unterschied der Geschlechter, vom natürlichen Unterschiede, dem des besonderen Charakters gilt, über beiden der Geist steht. Die Frau ist so gut Geist wie der Mann. Es ist hier der Geist des Subjekts als Zweck Gottes ausgesprochen, die Menschen sollen zur ewigen Seligkeit gelangen. Damit ist gesagt, dass die Seele, die geistige Individualität an und für sich einen unendlichen Wert habe nach diesem gleichen Wert ist es nun dass die Frau in die Monogamie eintritt.“23 22 23

Zu Hegels Kritik an der naturrechtlichen Begründung der Polygamie siehe Bockenheimer, ebd., S. 240–252. Siehe Vorlesungen, Bd. 4, S. 447. Für eine Kritik von Hegels Position zur Rolle der Frauen siehe Brauer, Susanne (2007): Natur und Sittlichkeit. Die Familie in Hegels Rechtsphilosophie, S. 129.

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Die moderne Vorstellung des unendlichen Werts des Menschen als Folge der christlichen Lehre fordert, dass die Menschen nicht als Mittel für die natürliche Befriedigung oder Fortpflanzung verwendet werden. Dies ist nur in einer Liebesbeziehung möglich, welche die Gleichheit beider Geschlechter garantiert und beiden Ehepartnern gleiche Anerkennung und gleichen Respekt zusichert. Nur durch „freie ungeteilte Liebe“ ist „die Ehre der Persönlichkeit“ möglich. (PR § 167 RN) Zweitens findet die Familie als sittliche Einheit eine weitere sittliche Gestalt im Eigentum der Familie. Sie hat als eine sittliche Beziehung zugleich Rechte auf Eigentum. Für die eigenen Bedürfnisse und das fortdauernde Bestehen braucht die Familie „Vermögen“. An dieser Stelle haben wir es nicht mehr mit dem Willen der Person zu tun, der willkürlich ist. Vielmehr hat dieser natürliche Trieb eine sittliche Form erhalten und wird durch die Sorge für die Familienmitglieder ersetzt. Was meinem Erwerbsstreben zugrunde liegt, ist nicht das Besitzen einer Sache als Verkörperung meines willkürlichen Willens oder als Befriedigung selbstsüchtiger Interessen; es geht hier vielmehr um eine moralische Sorge für die Unterstützung aller Mitglieder der Familie. Ich erstrebe das Eigentum für ein „gemeinsames“, „sittliches“ Ziel. Die natürlichen Triebe gewinnen auf diese Weise eine geistige Form und die „Eigensucht der Begierde“ wird in eine moralische Sorge für das gemeinsame Wohl der Familie umgewandelt. (PR  § 170) Da im Eigentum der Familie sowohl meine Bedürfnisse als auch die Bedürfnisse aller anderen Mitglieder befriedigt werden, bekommen meine Bedürfnisse eine geistige allgemeine Form. Drittens sind die Eheschließung sowie das Eigentum der Familie zwar objektive Gestalten der Familie, sie sind aber zugleich einer höheren objektiven Gestalt untergeordnet: Es ist für Hegel erst in dem Kind, dass die Einheit der Familie ihre wahre Form erreicht: „Eine solche erlangen die Eltern erst in ihren Kindern, in welchen sie das Ganze der Vereinigung vor sich haben.“ (PR § 173 Z). Diese sittliche Einheit durch das Kind ist eine Form, die höher ist als das Eigentum, weil dadurch ein geistiges Wesen hervorgebracht wird. Das Kind ist ein Wesen, das frei sein kann und die Fähigkeit zur Freiheit hat. Durch das Kind gibt sich die Liebe eine wahre objektive Form: „Während im Vermögen die Einheit nur in einer äußerlichen Sache ist, ist sie in den Kindern in einem Geistigen, in dem die Eltern geliebt werden und das sie lieben.“ (PR § 173 Z). Aus diesem Grund kann das Kind die Spitze der Einheit der beiden Geschlechter genannt werden. Das Kind ist für die Eltern die höchste Stufe ihrer Vereinigung, durch die sowohl der natürliche Zweck (Fortpflanzung) als auch die sittliche Liebe erfüllt und verwirklicht werden. Eine notwendige sittliche Aufgabe, die mit der Existenz der Kinder in der Familie verbunden ist, ist die „Erziehung“, die für die Bildung eines sittlichen,

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freien Charakters unentbehrlich ist. Durch die Erziehung bekommt das Kind das, was für seine geistige Entwicklung notwendig ist, und dadurch kann sich das Kind zu einem vernünftigen Wesen entwickeln: „Was der Mensch sein soll, hat er nicht aus Instinkt, sondern er hat es sich erst zu erwerben. Darauf begründet sich das Recht des Kindes, erzogen zu werden.“ (PR  § 174 Z) Das Kind ist für Hegel ein potentiell oder an sich freies Wesen, das bei der Geburt noch ganz natürlich ist. Es ist eine sittliche Pflicht der Eltern, die eigenen Kinder zu erziehen und die Konstitution der zweiten geistigen Natur in ihnen zu unterstützen. Mit anderen Worten sind die Kinder an sich, d.  h. nur potenziell frei. Erst durch die Erziehung erwirbt das Kind die wirkliche Fähigkeit zur Freiheit. Die Erziehung oder Bildung der Kinder hat für Hegel eine positive und eine negative Bestimmung: Die negative Bestimmung besteht darin, „die Kinder aus der natürlichen Unmittelbarkeit, in der sie sich ursprünglich befinden, zur Selbständigkeit und freien Persönlichkeit und damit zur Fähigkeit, aus der natürlichen Einheit der Familie zu treten, zu erheben.“ Durch die Erziehung wird der Eigenwille des Kindes gebrochen und es wird dazu gebracht, reflexiv und nicht mehr unmittelbar bestimmt zu werden. Die positive Bestimmung der Erziehung besteht darin, dass das Sittliche in den Kindern in Form einer zweiten Natur oder Gewohnheit zustande gebracht wird. (PR § 175) Die Erziehung ist also eine sittliche Bestimmung, durch welche die Kinder die Möglichkeit haben, ihre Natur sittlich und frei umzugestalten.24 (Neben diesem Recht des Kindes auf Erziehung steht natürlich seine Pflicht, den Eltern zu gehorchen.) Bevor wir zur nächsten Sphäre der Sittlichkeit übergehen, wollen wir den bisherigen Argumentationsgang noch einmal zusammenfassen und ihn unsvergegenwärtigen: Es wurde gesagt, dass sowohl das Gute aller als auch das Gute des Einzelnen die zwei notwendigen Momente der Freiheit sind, und 24

Auch bei Kant ist der Mensch nicht von Natur aus frei. Er braucht notwendigerweise verschiedene Stufen der Erziehung, um seine wesentliche Fähigkeit zur Freiheit zu entwickeln. Laut Höffe besteht der Erziehungsprozess für Kant – „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“ (Höffe, S. 93) – aus vier Stufen: Zuerst (die Vorstufe) kommt die Disziplinierung, in der das Kind von seiner wilden Natur befreit wird, ein Kampf, so Kant, gegen den „Despotismus der Begierden“; zweitens, und zugleich als die erste Hauptstufe, kommt der Prozess des Kultivierens, durch das die Geschicklichkeiten im Kind ausgebildet werden. Das Zivilisieren ist dann die zweite Hauptstufe im Erziehungsprozess des Kindes, durch das dieses auf das Leben als Sozialwesen vorbereitet wird. Erst durch die dritte Hauptstufe, nämlich durch das Moralisieren, entwickelt der Mensch die Fähigkeit in sich, mit einer moralischen Gesinnung wahrhaft frei zu handeln. Diese Stufe ist tatsächlich das höchste Niveau der menschlichen Freiheit. Siehe Kant, Über Pädagogik, S. 697–761. Näher dazu siehe Höffe, Otfried, Kritik der Freiheit: Das Grundproblem der Moderne, S. 93–103.

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dass man nur dann frei sein kann, wenn der Wille so bestimmt wird, dass die Besonderheit in Einheit mit dem allgemeinen Guten steht. Die Sittlichkeit stellt uns, so argumentiert Hegel, in ihren Grundinstitutionen bestimmte Inhalte bereit, welche die Bestimmungen des allgemeinen Guten sind und es den Individuen gleichzeitig ermöglichen, ihre subjektive Freiheit zu verwirklichen. In der ersten Sphäre, das heißt in der Familie, wurde gezeigt, wie durch die Liebe als Grundlage der Beziehungen sowohl in der Eheschließung als auch im Eigentum und schließlich in der Beziehung mit den Kindern die Einheit zwischen den Einzelnen und allen Mitgliedern in der Familie zustande kommt. Die Familie wurde also als die erste Sphäre der Sittlichkeit dargestellt, in der sowohl die Besonderheit des Einzelnen als auch das Gute aller als Bedingungen der Freiheit durch die sittliche Beziehung der Liebe erfüllt werden. Allerdings nennt Hegel die Familie die „unmittelbare Sittlichkeit“, weil in dieser Sphäre die natürliche Empfindung eine zentrale Rolle spielt. Da die Familie nur eine unmittelbare Form der sittlichen Freiheit ist, kann sie wegen dieser begrifflichen Beschränkung auch nur bis zu einem bestimmten Grad für die Individuen die Sphäre der Freiheit sein. Sie kann nicht alle Seiten des menschlichen Wesens abdecken. Wir brauchen vielmehr weitere Sphären, damit das Individuum in den verschiedenen Aspekten seines Wesens frei sein kann. Die Familie als eine beschränkte Form der Einheit unterliegt daher einer begrifflichen Auflösung. Die sittliche bzw. notwendige Form der Auflösung25 kommt durch die „Volljährigkeit“ der Kinder zustande. Das Kind wächst auf und wird eine „rechtliche Person“, die dann natürlich die eigenen freien Entscheidungen treffen und das eigene Leben gestalten möchte. Als eine rechtliche Person hat das Kind das Recht, eigenes Eigentum zu besitzen und eine eigene Familie zu gründen. Diese notwendige Auflösung führt zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft: „Die Familie tritt wesentlich durch das Prinzip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbständige konkrete Personen und daher äußerlich zueinander verhalten.“ (PR § 181) Mit der Auflösung der Familie ist natürlich nicht gemeint, dass die Familie durch eine höhere Institution zu ersetzen ist. Die Familie und ihre Funktionen bleiben unersetzbar. Vielmehr ist damit eine Erweiterung der institutionellen Verhältnisse in der Weise gemeint, dass das vielseitige menschliche Freiheitsbewusstsein unterschiedliche Beziehungen erfordert, welche die Familie allein 25

Hegel redet eigentlich von verschiedenen Arten der Auflösung: Scheidung (PR  § 176) und Auflösung durch den Tod der Mitglieder (PR § 178), während die sittliche Form im Wachstum der Kinder besteht, d. h. darin, dass die Kinder notwendigerweise selbständige Individuen werden.

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nicht erfüllen kann. Die bürgerliche Gesellschaft und der Staat sind Sphären, die zu der Freiheit der Individuen in der Familie eine komplementäre Rolle in dem Sinne einnehmen, dass sie die weiteren Sphären der menschlichen Freiheit abdecken, während die Rolle der Familie in der Befriedigung der psychologischen Bedürfnisse, der Erziehung der Kinder zur Selbständigkeit und Freiheit usw. unersetzbar bleibt. Daraus wird deutlich, dass Hegels Theorie ihren Wert bis heute nicht verloren hat und nach wie vor attraktiv ist. Es ist zwar richtig, zu sagen, dass sich vieles seit seiner Zeit verändert hat, wie z. B. die Rolle der Frauen in den Familien, weil die Männer nicht mehr die einzigen Ernährer sind, oder auch die Anerkennung und der Respekt für Frauen in der Gesellschaft. Außerdem haben Kinder mehr Selbständigkeit gewonnen im Vergleich zu damals. Was aber trotz vieler Veränderungen dennoch gültig geblieben ist, ist die Entwicklung der Normen im Rahmen seiner Theorie. Die neuen Normen geben den Individuen mehr Rechte im Rahmen des allgemein Guten und daher auch einen größeren Raum für ihre Freiheit, und diejenigen, die am Rande standen, haben heute das Recht, ihrer Freiheit nachzugehen. Die Freiheit als ein unendliches Ziel fordert in jeder Zeit eine neue Rekonstruktion des Wirklichen, und wir können heute einsehen, dass unsere Wirklichkeit eine vollständigere Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen in sich enthält. 6.2.2 Die bürgerliche Gesellschaft Die bürgerliche Gesellschaft ist ein Bereich, in dem wir es mit selbständigen Individuen zu tun haben, die im Rahmen der Gesetze den eigenen Zielen und Zwecken nachgehen. Jeder sieht sich als ein „Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür.“ (PR § 182) Hier „ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts.“ (PR §182 Z) In der Familie orientiert man sich am Guten aller, und durch die Liebe ist das Gute aller erfüllt. In der bürgerlichen Gesellschaft hingegen sind die Individuen auf ihre eigenen Interessen fokussiert und ihre Beziehungen werden nicht durch Liebe und Empfindungen, sondern im Licht der Interessen definiert: „Das Sittliche ist hier in seine Extreme verloren, und die unmittelbare Einheit der Familie ist in eine Vielheit zerfallen.“ (PR § 184 Z)26 Die Individuen sind selbständig und einander fremd und das, was die Mitglieder in der Familie zusammengehalten hat, die Liebe, kann hier nicht die Rolle der Vermittlung zwischen dem Guten des Einzelnen und dem Guten aller spielen. Hier scheint diese Einheit verloren gegangen und jeder in die Welt eigener Besonderheit versunken zu sein, und der einzige Grund, aus dem sich das Individuum verpflichtet sieht, in 26

Vgl. Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S. 267.

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dieser Sphäre zu bleiben, ist der Gedanke, dass es die anderen für seine eigene Befriedigung braucht.27 Hierin liegt jedoch zunächst einmal ein Problem für die Freiheit: In der Familie war es die Liebe, welche die versöhnende Rolle zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen übernahm, während in der neuen Sphäre die Beziehungen zwischen den selbständigen Individuen nicht auf Liebe beruhen können. Im Laufe des bisherigen Arguments wurde deutlich, dass die Kinder selbständige Personen werden, die den eigenen Wünschen nachgehen wollen. Durch diesen Übergang entsteht der Schein, dass in der bürgerlichen Gesellschaft nur die besonderen Interessen der Individuen im Vordergrund stünden und dass, da diesen Beziehungen die Liebe nicht mehr zugrunde liegt, die Einheit zwischen Besonderheit und Allgemeinheit in der Familie völlig verloren gegangen wäre: „Jetzt aber tritt das Verhältnis ein, dass das Besondere das erste für mich Bestimmende sein soll, und somit ist die sittliche Bestimmung aufgehoben.“ (PR § 181 Z) Können wir also sagen, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Sphäre der Freiheit ist, weil die Besonderheit des Individuums in keiner Einheit mit der Allgemeinheit, mit dem Guten aller steht? Hegels Antwort ist negativ. Er wird auf Normen und Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft hinweisen, die neben der individuellen Besonderheit das allgemein Gute verwirklichen und die Einheit in dieser Sphäre ermöglichen: „[…] indem ich das Besondere festzuhalten glaube, bleibt doch das Allgemeine und die Notwendigkeit des Zusammenhangs das Erste und Wesentliche: ich bin also überhaupt auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestimmende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit, welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.“ (PR § 181 Z) Wir werden also in dieser neuen Sphäre sehen, wie das Individuum unbewusst in der Befolgung seiner eigenen Wünsche und Interessen gleichzeitig einen Beitrag zur Verwirklichung des Guten aller leistet. Die Besonderheit des Einzelnen hat sich im Laufe des „Moralitätskapitels“ als ein notwendiges Moment der Freiheit erwiesen. Jede Rede über Freiheit ohne Anerkennung der Rechte der Individuen auf die eigene Besonderheit ist einseitig. Genau deswegen kritisiert Hegel Platon, weil er in seinem idealen Staat keine Besonderheit der Individuen zulässt: „Platon in seinem Staate stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und Wahrheit dar; er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen Besonderheit, das in seiner 27

„Diese Beziehung auf andere ist eine Beziehung der Notwendigkeit. Ich muss mich fügen, denn ich kann meine Bedürfnisse nicht befriedigen ohne Hilfe der anderen, und ich bin dadurch in der Abhängigkeit von anderen. Es ist dies überhaupt die Sphäre der Abhängigkeit und Not.“ Nachschrift Anonymus, S. 147 f.

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Zeit in die griechische Sittlichkeit hereingebrochen war, nicht anders fertig zu werden, als dass er ihm seinen nur substantiellen Staat entgegenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum (§ 46 Anm.) und in der Familie hat, und dann in seiner weiteren Ausbildung als die eigene Willkür und Wahl des Standes usf. ganz ausschloss.“ (PR § 185 Anm.)28 Für Hegel, wie für Adam Smith, spielt der Markt und seine Beziehungen keine marginale Rolle. Der Markt macht vielmehr ein Grundelement von Hegels politischer Philosophie aus, weil darin ein Pfeiler der Freiheit, nämlich die Besonderheit, Ausdruck gewinnt. Der moderne Markt funktioniere, so Adam Smith, wie eine „unsichtbare Hand“, durch die die Individuen die Möglichkeit hätten, ihren Interessen, Bedürfnissen und ihrer Besonderheit nachzugehen und gleichzeitig, wenn auch zumeist unbewusst, einen Beitrag zur Befriedigung der Interessen aller zu leisten.29 Wie gesagt stehen für die Individuen in dieser Sphäre die eigenen Bedürfnisse im Vordergrund. Daher entsteht hier der Schein des Gegensatzes zwischen der Besonderheit und der Allgemeinheit, welche Hegel als die zwei Grundlagen der Freiheit bezeichnet. Was die Individuen zur Teilnahme an diesen Beziehungen motiviert, sind die eigenen Wünsche und Zwecke: „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zweck haben.“ (PR § 187) Wie wird dann in dieser Sphäre die Einheit des einzelnen Willens mit der Allgemeinheit erreicht? Hegel 28

29

Hegel ist, trotz dieses Unterschieds, mit Platon einverstanden, dass das Beharren auf die Besonderheit zur „Ausschweifung und Elend“, zum „physischen und sittlichen Verderben“ führt. Wenn die Besonderheit im Vordergrund steht und den Individuen nur die subjektive Freiheit wichtig ist, bleibt nur die Willkür der Individuen übrig, die ihrerseits von natürlichen Trieben abhängt. (PR § 185) Es war diese Sorge, weshalb Platon die Besonderheit aus seinem Idealstaat ausschloss und nur das Prinzip der Allgemeinheit anerkannte (siehe Platons Politeia, wo er den Wächtern den Besitz von Privateigentum (416–417) und das Recht auf Kinder und Frauen (457–471) verbietet, Aspekte, die notwendige Bestandteile der modernen subjektiven Freiheit sind). Allerdings ist sie für Hegel das Prinzip der modernen Welt. Es gelte daher, „die Besonderheit in Harmonie mit der sittlichen Einheit zu setzen.“ (PR § 185 Z) Herzog, Lisa (2013): Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory. Es ist aber gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass der Markt für Hegel, im Gegensatz zu Smith, keine harmonische Sphäre ist, die von Angebot und Nachfrage reguliert wird. Er ist für ihn vielmehr nicht zuletzt ein Feld der Willkür und Konkurrenz, das sowohl intern durch Institutionen der Rechtspflege, Polizei und Korporation als auch durch Unterordnung unter eine höhere Sphäre, den Staat, zu regulieren ist. Näher siehe S. 3 ff. auch S. 54. Ein weiterer Unterschied bei den beiden Denkern besteht darin, dass Smith davon überzeugt ist, dass der Markt durch seine „unsichtbare Hand“ die Ungleichheit reduzieren könne, während für Hegel dieser Optimismus unplausibel bleibt, denn es sei nicht zuletzt der Markt selbst, der u. a. in breiten Schichten zur Armut führe. Siehe dazu ebd., S. 85.

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behauptet, dass die sittliche Freiheit in dieser Sphäre nur durch die Vermittlung der allgemeinen Sitten zustande kommen kann. Die Bedürfnisse des Einzelnen könnten nämlich im eigentlichen Sinne nur dann befriedigt werden, wenn das Individuum seine „Natürlichkeit“ und „Willkür“ aufgebe und diese Bedürfnisse in einer sittlichen Art und Weise zu erfüllen versuche. Die Bedürfnisse müssten folglich zu sozialen Bedürfnissen umgewandelt werden, weil diese allgemeinen Normen genau diejenigen Bestimmungen sind, durch welche die Wünsche überhaupt erfüllt werden können.30 In der Tat werden wir in diesem Kapitel sehen, wie die notwendige Harmonie zwischen dem Einzelnen mit dem Allgemeinen zustande kommt bzw. wie „das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in dieser Form sein Bestehen suche und habe.“ (PR § 186) Mit anderen Worten versucht Hegel in diesem Teil zu explizieren, wie durch das „System der Bedürfnisse“ die natürlichen Neigungen des Einzelnen in einer sittlichen Form erfüllt werden; wie die Einzelnen durch die Arbeitsverhältnisse und durch die „theoretische sowie praktische Bildung“ die Fähigkeit in sich ausbilden, sowohl für das eigene wie für das Wohl anderer zu sorgen; wie durch die „Rechtspflege“ ihr Eigentum geschützt durch die „Polizei“ die ganze Sittlichkeit gegen die Willkür gesichert wird und wie letztlich die „Korporation“ dazu führt, dass die Einzelnen durch ihre Arbeit für das Ziel der Korporation gleichzeitig die subjektive Seite der Freiheit erfüllen können. In dieser Vermittlung zwischen den einzelnen und allgemeinen Interessen spielt die Bildung eine gewichtige Rolle. Hegel bezeichnet sie als einen Prozess, in dem das Einzelne allmählich seine Natürlichkeit aufgibt und seinen Interessen in einem sittlichen Rahmen nachgeht, und dann schließlich auch zur Einheit mit dem Sittlichen gelangt: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit.“ (PR § 187 Anm.) Durch die Bildung lernt der zunächst unmittelbar oder willkürlich handelnde Einzelne, dass er seine Ziele nur durch die sittlichen Verhältnisse erreichen kann, und weil diese

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Laut Avineri begründet die gemeinsame Abhängigkeit der Individuen, obwohl das Eigeninteresse der Individuen die eigentliche Triebkraft der Handlungen in der bürgerlichen Gesellschaft sei, die Befriedigung der Bedürfnisse aller, und es sei diese „unsichtbare Hand“ im Sinne von Smith, welche die allgemeine Befriedigung ermögliche. Siehe Avineri, Shlomoh, Hegel’s theory of the modern state, S. 146 f.

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Einheit mit dem Sittlichen die Grundlage der Freiheit ist, ist Bildung für Hegel die „Befreiung“ des Individuums.31 Hegel versucht also zu veranschaulichen, wie sich die Individuen durch Bildung von ihrer rohen Natur und Willkür distanzieren und eine sittliche oder geistige bzw. zweite Natur in sich konstituieren. Im Abschnitt zur Familie wurde darauf hingewiesen, wie durch die auf Liebe basierenden Beziehungen und Normen der natürliche Wille des Einzelnen gebrochen und sittlich wird. In der bürgerlichen Gesellschaft befindet sich das Individuum in sittlichen Beziehungen, in denen das Individuum für seine subjektive Befriedigung auf seine Willkür Verzicht leisten soll. Die erste Sphäre der Bildung wird in der Befriedigung der Bedürfnisse ersichtlich: Der Einzelne sieht ein, dass seine vielfältigen Bedürfnisse nur durch Kooperation mit anderen befriedigt werden können, und damit die eigenen Bedürfnisse anerkannt werden, sollte das Individuum in gegenseitigen Beziehungen mit anderen stehen, die wiederum eigene Interessen und Bedürfnisse haben. Diese Bedürfnisse können nur dann Befriedigung finden, wenn sie im Rahmen der akzeptierten Normen zum Ausdruck kommen. Zudem wird die Arbeit als ein sittliches Medium der Bildung mit seinen eigenen Normen angesehen, für welche die Individuen wiederum bestimmten Normen und Prinzipien zu folgen haben. Durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Arbeit erwirbt der Einzelne die Fähigkeit, in einer sittlichen Form für sich und für die anderen zu sorgen.32 Um zu explizieren, wie und auf welche Weise in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmte, dem allgemein Guten gemäße Normen am Werk sind, die mit der subjektiven Besonderheit und Freiheit in Einheit stehen und diese eigentlich erst ermöglichen, und wie der Einzelne nur in Einheit mit diesen sittlichen Normen seine Besonderheit erfüllen kann, betrachtet Hegel die verschiedenen Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, und zwar hauptsächlich 31 32

Näher siehe Rózsa, Erzsébet (2007): Das Prinzip der Besonderheit in Hegels Wirtschaftsphilosophie, in: Hegels Konzeption praktischer Individualität: von der „Phänomenologie des Geistes“ zum enzyklopädischen System, Erzsébet (Hrsg.), S. 182–213. Die Arbeit des Einzelnen für das Gute aller ist allerdings noch nicht mit der Einsicht oder dem Bewusstsein in die Notwendigkeit der Einheit mit dem Allgemeinen verknüpft. In der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft sind die Individuen noch nicht fähig einzusehen, dass diese Normen eine Notwendigkeit der Freiheit sind. Sogar in der zweiten Sphäre der Sittlichkeit, wo alle selbständige Individuen sind, werden diese Beziehungen nicht aus dieser Sicht, sondern ausschließlich aus dem Grund verfolgt, dass sie für die Befriedigung der Bedürfnisse und eigene Freiheit notwendige Mittel sind. Aus diesem Grund wird diese Sphäre durch Hegel als „Staat der Not“ bezeichnet: „Das Besondere ist hier Zweck, und das Allgemeine nur Mittel.“ Nachschrift Anonymus, S. 151. Dieses Bewusstsein der Notwendigkeit der sittlichen Beziehungen für unsere Freiheit kommt erst in der Sphäre des Staates zum Vorschein.

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das System der Bedürfnisse, den Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege sowie die Vorsorge gegen Willkür durch Polizei und Korporation (PR § 188): Als Erstes diskutiert Hegel das System der Bedürfnisse: Jeder Einzelne hat bestimmte Bedürfnisse, die er zu befriedigen versucht. Es ist daher einleuchtend, dass Hegel fordert, wir sollten zunächst die Natur menschlicher Bedürfnisse kennen. Menschliche Bedürfnisse seien in erster Linie von denen der Tiere zu unterscheiden. Die Bedürfnisse der Tiere und ihre Befriedigung sind beschränkt. Ein Löwe beispielsweise hat Hunger, sexuelle Bedürfnisse usw., und die Weisen der Befriedigung dieser Bedürfnisse sind nicht kompliziert. Man kann sagen, dass die tierischen Bedürfnisse und ihre Befriedigung durch ihren Instinkt bestimmt werden. Bei den Menschen wiederum ist die Natur oder der Instinkt nicht alles. Der Mensch ist nicht durch den Instinkt bestimmt. Er kann eigentlich über seine Bedürfnisse reflektieren und diese „in einzelne Teile“ zergliedern. Er kann darüber hinaus seine Bedürfnisse beurteilen und nach bestimmten Kriterien befriedigen. Dadurch wird das System der menschlichen Bedürfnisse vielseitig und kompliziert. (PR § 190)33 Diese Vervielfältigung der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung macht zugleich die „Mittel“ unserer Befriedigung komplizierter und vielfältiger: „Ebenso teilen und vervielfältigen sich die Mittel für die partikularisierten Bedürfnisse und überhaupt die Weisen ihrer Befriedigung, welche wieder relative Zwecke und abstrakte Bedürfnisse werden.“ (PR § 191) Aus diesem Grund ist es eindeutig, dass keiner in der Lage ist, alle Bedürfnisse allein und unabhängig von anderen zu befriedigen. Jeder braucht die anderen, die ihm die Mittel der Befriedigung seiner Bedürfnisse zur Verfügung stellen. Dadurch tritt man notwendig in gegenseitige Beziehungen mit den anderen, was impliziert, dass meine Bedürfnisse nicht im rohen Zustand meiner Willkür zum Ausdruck kommen können: „Dadurch, dass ich mich nach dem anderen richten muss, kommt hier die Form der Allgemeinheit herein. Ich erwerbe von anderen die Mittel der Befriedigung und muss demnach ihre Meinung annehmen.“ (PR  § 192 Z) Da ich meinen Bedürfnissen in einer gesellschaftlichen Sphäre nachgehe, bin ich genötigt, die allgemeinen Arten der Befriedigung anzunehmen, damit meine Bedürfnisse von den anderen anerkannt werden. In der Tat sollten bei der Befriedigung 33

„Das Tier hat einen beschränkten Kreis von Mitteln und Weisen der Befriedigung seiner gleichfalls beschränkten Bedürfnisse. Der Mensch beweist auch in dieser Abhängigkeit zugleich sein Hinausgehen über dieselbe und seine Allgemeinheit, zunächst durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mittel und dann durch Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürfnisses in einzelne Teile und Seiten, welche verschiedene partikularisierte, damit abstraktere Bedürfnisse werden.“ (PR § 190)

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der Bedürfnisse des Einzelnen die natürlichen Bedürfnisse eine allgemeine sittliche Form übernehmen: „[D]iese Allgemeinheit als Anerkanntsein ist das Moment, welches sie in ihrer Vereinzelung und Abstraktion zu konkreten, als gesellschaftlichen, Bedürfnissen, Mitteln und Weisen der Befriedigung macht.“ (PR § 192) Niemand kann allein bestehen, sondern jeder braucht die anderen, weswegen es notwendig ist, die besonderen Interessen in einer allgemeinen und sittlichen Form zum Ausdruck zu bringen. Im Anschluss an die Analyse der Notwendigkeit der sittlichen Umwandlung unserer Bedürfnisse untersucht Hegel die Notwendigkeit der Arbeit: Es gebe nur wenige Materialien, die direkt gebraucht werden könnten. Fast alle natürlichen Materialien benötigen daher die menschliche Arbeit: „Das unmittelbare Material, das nicht verarbeitet zu werden braucht, ist nur gering.“ (PR § 196 Z) Die Arbeit ist daher eigentlich der Versuch, die von der Natur gewonnenen Materialien durch bestimmte Mittel der Produktion zum Gebrauch vorzubereiten. Die Produkte, welche unseren Bedürfnissen angemessen sind (PR § 196), sind also menschliche Produkte. Wir müssen demnach, um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können, notwendigerweise in Arbeitsverhältnisse eintreten. Der Mensch hat also vielfältige Bedürfnisse, die auf keine natürliche oder primitive Art und Weise befriedigt werden können. Um die Produkte für die Befriedigung dieser Bedürfnisse herstellen zu können, benötigen wir die geeigneten Arbeitsfähigkeiten, die selbst wieder die Notwendigkeit der Bildung deutlich machen. Für die Arbeit braucht man eigentlich „allgemeingültige Geschicklichkeiten“, die man durch die Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft erreichen kann. (PR § 197) Dadurch erwerben wir objektive und allgemeine Fähigkeiten, die von unserer rohen Natur oder Willkür abgehoben sind, d. h. der Einzelne bildet in sich Elemente des sittlichen Lebens, die ihn dazu fähig machen, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Sittlichkeit ist aber nicht eine Einbahnstraße, durch die nur der Einzelne profitiert. Es gibt in der Arbeit der Einzelnen zugleich eine implizite Einheit zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, und von daher auch eine Befreiung durch die Arbeit, denn das Individuum leistet in der Befriedigung seiner Bedürfnisse auch einen Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller, was zeigt, dass das Individuum indirekt für das Gute oder Wohl aller arbeitet: „In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um.“ (PR § 199) Man tritt in die bürgerliche Gesellschaft zur Befriedigung

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eigener selbstorientierter Bedürfnisse ein, aber tatsächlich hat man durch die eigene Arbeit Anteil an der allgemeinen Produktion zur Bedürfnisbefriedigung, weil die Tätigkeit selbst eine allgemeine Bedeutung bekommt. Die letzte Frage, die Hegel in diesem Teil aufgreift, bezieht sich auf den Maßstab der Verteilung des durch die Arbeit hervorgebrachten Vermögens. Die Frage ist, nach welchen Kriterien das Vermögen gerechterweise verteilt werden sollte. Wir haben im „Abstrakten Recht“ gesehen, dass Hegel gegen die Idee der gleichen Verteilung des Eigentums ist, denn die Individuen haben, seiner Ansicht nach, ungleiche Talente, unterschiedlichen Fleiß usw., und deswegen muss das Eigentum eines Einzelnen als die objektive Reflexion seines Willens Ausdruck dieses besonderen Willens sein. Diese Idee taucht in der bürgerlichen Gesellschaft wieder in der Form der „Ungleichheit der Geschicklichkeit, des Vermögens und selbst der intellektuellen und moralischen Bildung“ der Individuen auf. Die Gerechtigkeit fordert, dass die Individuen gemäß ihrem Fleiß, ihren Fähigkeiten und Anlagen usf. am allgemeinen Vermögen teilhaben, wohingegen die „Forderung der Gleichheit“ der Gerechtigkeit widerspricht. Die Vernachlässigung dieser Unterschiede ist für Hegel ein Verstoß gegen die „Rechte der Besonderheit des Geistes“. (PR § 200 Anm.) Nun unterteilt Hegel die Gruppen von Einzelnen, die ähnliche Fähigkeiten, einen ähnlichen Grad an Bildung usw. haben, in drei unterschiedliche „Stände“, die durch verschiedene Faktoren voneinander unterschieden werden, „so dass der ganze Zusammenhang sich zu besonderen Systemen der Bedürfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung – Systemen, denen die Individuen zugeteilt sind –, zu einem Unterschiede der Stände ausbildet.“ (PR § 201) Aber was sind diese drei Hauptstände? „Die Stände bestimmen sich nach dem Begriffe als der substantielle oder unmittelbare, der reflektierende oder formelle und dann als der allgemeine Stand.“ (PR § 202) In diesen Ständen haben wir Individuen mit Bedürfnissen, Interessen, Fähigkeiten, Bildung usw., die ähnliche Mittel und Arbeit zur Verfügung stellen können. Der erste, der „Stand des Ackerbaus“ bearbeitet den Boden, den es besitzen kann, und ist davon abhängig für die Befriedigung der Bedürfnisse. Das Individuum in diesem Stand lernt, dass es sich und seine Bedürfnisse den Bedingungen der Natur anpassen muss. Außerdem ist die subjektive Gesinnung des Individuums hier unmittelbar. Der Mensch lernt von den Familientraditionen und handelt ziemlich unreflektiert nach deren Sitten. (PR § 203) Der zweite, der „Stand des Gewerbes“ ist anstatt an die Natur an die eigene Arbeit gebunden. Die Natur ist nicht das Wesentliche, sondern das rohe Material zur Produktion. Zu diesem Stand gehören Händler, Handwerker sowie Hersteller. In ihm ist das Individuum reflexiv und beharrt auf Selbständigkeit und Freiheit, während es im ersten von der Natur abhängt und sein Schicksal in den Händen der Natur Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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sieht. (PR § 204) Zum dritten, „allgemeinen Stand“ gehören diejenigen, welche die „allgemeinen Interessen“ der Gesellschaft zum Geschäft haben, wie die Polizei, Staatsbeamte usw. (PR § 205) Welchem Stand das Individuum angehört, ist in der modernen Gesellschaft natürlich der Entscheidung des Individuums überlassen. Diese Entscheidung beruht auf dem Prinzip der Besonderheit, das ein Fundament der Freiheit ist, während im politischen Leben des Altertums dieses Recht auf Besonderheit nicht anerkannt war. In Platons Idealstaat z. B. hatte das Individuum kein Recht auf die Wahl seines Standes. Auch im indischen Kastenwesen müssen die Individuen in dem Stand bleiben, in den sie hineingeboren wurden. In solchen Konzeptionen wird die Besonderheit des Individuums als ein Faktor betrachtet, der zur Korruption führt. Hegel hingegen ist der Auffassung, dass „die subjektive Besonderheit“ als notwendiges Moment der Freiheit, als „Prinzip aller Belebung der bürgerlichen Gesellschaft, der Entwicklung der denkenden Tätigkeit, des Verdiensts und der Ehre“ in der Wirklichkeit der modernen Gesellschaft schon präsent ist. (PR § 206 Anm.) Ohne dieses Prinzip gibt es für ihn eigentlich gar kein Individuum, und die moderne bürgerliche Gesellschaft sei genau die Sphäre, in der es hauptsächlich darum gehe, dieser Besonderheit aller Ausdruck zu verleihen. Im Anschluss an das System der Bedürfnisse wendet sich Hegel der Rechtspflege zu: Bisher haben wir gesehen, wie die Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft den Individuen allgemeine Normen oder Sitten zur Verfügung stellen, in deren Rahmen sie ihre Besonderheit zum Ausdruck bringen können. Obwohl diese Normen die Einheit zwischen der Freiheit des Einzelnen und aller ermöglichen, lässt sich die Möglichkeit eines Konflikts bzw. von Rechtskollisionen nicht ausschließen, solange die Individuen hauptsächlich ihre besonderen Interessen im Auge haben. Es gibt in der bürgerlichen Gesellschaft also keine Garantie, dass die Individuen den allgemeinen Normen folgen, weil das, was sie hier motiviert, hauptsächlich ihre besonderen Wünsche sind. Hegel wendet sich daher auch somit, mit Vieweg gesprochen, gegen den „Marktoptimismus“ im Sinne von Adam Smith, demgemäß sich die Kräfte des Marktes ausgleichen. Die Beschränkung der Willkür der Einzelnen brauche vielmehr Institutionen, die den Markt regulieren.34 Für die Beseitigung solcher Konflikte zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Guten bezieht sich Hegel auf die „Rechtspflege“, d. h. das System des Rechts mit Gesetzen und einem Gerichtssystem, deren Hauptaufgabe darin besteht, das allgemein Gute vor verbrecherischen oder unbeabsichtigten Interventionen zu schützen.35 34 35

Näher siehe Vieweg, Klaus, Das Denken der Freiheit, S. 288. Das Rechtssystem hat die Aufgabe, Konflikte zu lösen, und in diesem Sinne ist es ein unentbehrlicher Bestandteil der Freiheit: „Das System der Bedürfnisse und dessen Verwirklichung kann gar nicht bestehen ohne das Recht.“ Nachschrift Anonymus, S. 168. Mostafa Samizadeh - 978-3-8467-6779-5

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Wichtig ist zu beachten, dass die Gesetze, deren Befolgung für alle eine Pflicht ist, nur dann legitim sind, wenn sie die Wirklichkeit des Rechts als Wirklichkeit der Freiheit darstellen: „Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d. i. durch den Gedanken für das Bewusstsein bestimmt und als das, was Recht ist und gilt, bekannt, das Gesetz; und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt.“ (PR § 211) Mit anderen Worten ist das Gesetz nur dann wahres Gesetz, wenn es dem, was an sich Recht ist, gemäß ist. Daher können auch nicht alle Gesetze als wahrhaft gerecht bezeichnet werden. Obwohl die positiven Gesetze nicht notwendigerweise dem Recht als deren legitimer Grundlage widersprechen, steht Hegel, wie im Kapitel 4 schon gesagt, methodologisch in einem expliziten Gegensatz zum Rechtspositivismus, der u.  a. behauptet, dass das positive Gesetz stets auch Recht sei: „Im positiven Rechte ist daher das, was gesetzmäßig ist, die Quelle der Erkenntnis dessen, was Recht ist, oder eigentlich, was Rechtens ist.“ Aber nach Hegel kann ein Gesetz als Pflicht der Individuen nur dann wahrhaft sein, wenn es sich notwendig aus dem vernünftigen Begriff der Freiheit ableiten lässt. (PR § 212 Anm.)36 Wie im abstrakten Recht kann man hier vom Verbrechen als der Negation des Rechts oder der Gesetze reden, das als eine Verletzung der Freiheit vernichtet werden sollte. Wie muss nun das Verbrechen behandelt werden? Erst hier in der Sittlichkeit haben wir für die Behandlung des Verbrechens eine wirkliche Institution, die des „Gerichts“. Wie das Recht in der Form des Gesetzes zum allgemeinen Ausdruck kommt und der subjektiven Meinung über das, was Recht ist, gegenübersteht, muss auch die Betätigung und Verwirklichung des Rechts einer objektiven Institution überlassen werden, die ohne irgendein besonderes Interesse das Recht und Gerechte durchsetzt. (PR § 219) Diese Institution hat die Aufgabe, die Gesetze in die Wirklichkeit umzusetzen. Es ist nicht das verletzte Individuum – im Gegensatz zur Rache –, welches das Verbrechen negiert, sondern „das Allgemeine“, das Gerechte in seiner Wahrheit. Diese Durchsetzung des Rechts nimmt die Form der gerechten Strafe an. Neben der Pflicht des Einzelnen, den Gesetzen zu gehorchen, fordert das Recht auf Selbstbestimmung, dass Gesetze den Individuen bekannt sein müssen: „Die Verbindlichkeit gegen das Gesetz schließt von den Seiten des Rechts 36

Ein weiterer Punkt im Hinblick auf die Gesetze ist, dass nur das Gegenstand der Gesetzgebung sein kann, was seiner „Natur nach fähig ist, die Äußerlichkeit an sich zu haben.“ Liebe, Moral usw., die die innerliche Seite des Menschen betreffen, können nicht durch Gesetzgebung gefordert werden. Z.  B. kann ein Individuum nicht durch das Recht gezwungen werden, eine bestimmte Person zu lieben oder andere ehrlich zu behandeln. (PR § 213 Z)

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des Selbstbewusstseins (§ 132 mit der Anm.) die Notwendigkeit ein, dass die Gesetze allgemein bekannt gemacht seien.“ (PR § 215) Es ist also ein Recht des subjektiven Selbstbewusstseins, dass es nur unter solchen Gesetzen steht, die ihm bewusst sind. Deswegen ist es notwendig, die Gesetze zu kodifizieren und den Individuen in Form von Gesetzbüchern und anderen Mitteln bekannt zu machen. Denn man muss nach Hegel kein Jurist sein, um zu wissen, was die Gesetze sind, ebenso wie man nicht Schuhmacher sein muss, um zu wissen, ob einem die Schuhe passen oder nicht. Allerdings muss jeder wissen, was eine bestimmte Handlung nach dem Gesetz impliziert und inwiefern sie verbindlich ist. (PR § 215 Z) Die Bedingung hierfür ist lediglich, dass die Gesetze in ihrer einfachen und allgemeinen Form bekannt gemacht werden müssen.37 Als Drittes sind die Polizei und Korporation die letzten Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, an denen Hegel die Entwicklung der Freiheitsidee nachzeichnet. Es können, wie schon gesagt, Kollisionen zwischen den Interessen der Individuen mit den Rechten aller sowie der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes hervortreten. In diesem Fall ist es die Aufgabe der Polizei als „sichernde Macht des Allgemeinen“, die bürgerliche Gesellschaft vor diesen Konflikten zu schützen. Eine zentrale Aufgabe dieser Institution besteht darin, zu kontrollieren, ob die Individuen gesetzeskonform handeln. Die Polizei ist für die Individuen demnach eine Institution, deren Zweck der Schutz der Gesetze und der Rechte aller ist. Ein besonderes Merkmal dieser Institution liegt aber in dem Mittel, das sie in Anspruch nimmt, um das Allgemeine durchzuführen, und in diesem Mittel, nämlich Zwang und Notwendigkeit des Gehorsams, besteht genau der Grund, warum die Polizei als eine „äußere Ordnung“ erscheint. (PR § 231)38 Bevor wir zu der letzten Institution der bürgerlichen Gesellschaft, der Korporation, übergehen, ist an dieser Stelle noch auf das Phänomen der Armut in dieser Sphäre hinzuweisen, was zeigt, dass Hegel die pathologischen Aspekte der modernen Gesellschaft sehr realistisch gesehen und nicht einfach 37

38

In diesem Licht ist es Hegels Ansicht nach nötig, dass die Durchführung der Gesetze auch öffentlich gemacht werde, damit die Individuen dieses allgemeine Verfahren auch kennenlernen, was Hegel als die Notwendigkeit der „Öffentlichkeit der Rechtspflege bezeichnet“. (PR § 224) Das wesentliche Merkmal der Öffentlichkeit liegt in dem Recht der subjektiven Freiheit: „Das Recht des Selbstbewusstseins, das Moment der subjektiven Freiheit, kann als der substantielle Gesichtspunkt in der Frage über Notwendigkeit der öffentlichen Rechtspflege und der sogenannten Geschworenengerichte angesehen werden.“ Dadurch, dass die Gesetze den Individuen bekannt sind, bleibt das Recht kein „äußerliches Schicksal“. (PR § 228) Für Hegel hat die Polizei einen breiteren Aufgabenbereich abzudecken als nur das Garantieren der öffentlichen Ordnung, etwa auch für „Straßenbeleuchtung, Brückenbau“ usw. zu sorgen (PR § 236 Z), was heute nicht mehr der Fall ist.

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optimistisch über sie hinweggegangen ist. Obwohl für Hegel die bürgerliche Gesellschaft die zweite Sphäre der Sittlichkeit ist, in der allgemeine, vernünftige Sitten oder Normen herrschen, welche die subjektive Freiheit ermöglichen, ist sie zugleich mit eigenen Defiziten konfrontiert. Die Armut ist, Hegels Beobachtung nach, eine ungewollte und auch unvermeidliche Schwierigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Es wurde gesagt, dass es zuvörderst die Familie war, in der die Bedürfnisse der Individuen erfüllt werden. Das Individuum als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft wird nun aber für seine Subsistenz von dieser abhängig, und es ist dementsprechend die Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft, den Individuen die Mittel der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen: „Zunächst ist die Familie das substantielle Ganze, dem die Vorsorge für diese besondere Seite des Individuums“ überlassen ist. Durch die bürgerliche Gesellschaft wird das Individuum nun aus der Familie gerissen und wird zum „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft.“ (PR § 238) Trotz der Möglichkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Individuen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung stehen, gibt es das Problem der Armut, das durch das Prinzip der Besonderheit zustande kommt: Die Individuen sind ungleich in ihren Talenten, Fähigkeiten, Zielen usw., was dazu führt, dass sie einen ungleichen Anteil an den Ressourcen und Gütern erhalten. In der Tat führt das freie Marktsystem in Anbetracht der unterschiedlichen Fähigkeiten und Leistungen notwendig dazu, dass manche unter der Schwelle dessen liegen, was man für ein anständiges Leben braucht. Die Armut zeigt sich als die widersprüchliche Seite der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre der Verwirklichung individueller Wünsche.39 Was diese Schwierigkeit für Hegel noch zuspitzt, ist die entsprechende Gesinnung, die mit der Armut als eine „quälende“ Frage der modernen Gesellschaft verbunden sein kann.40 Als Folge dieses Zustandes könne sich ein Pöbel formieren, der die Meinung vertritt, dass das System der bürgerlichen Gesellschaft keine gerechte Verteilung der Güter hervorbringe: „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, 39

40

Da die Armut für Marx in kapitalistischen Gesellschaften systematisch reproduziert wird, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Marx und Hegel darin, dass Hegel uns in der modernen Gesellschaft zuhause sieht, während für Marx die soziale Welt nur nach einer Revolution ein Zuhause werden kann. Siehe O. Hardimon, Michael (1994): Hegel’s Social Philosophy: The Project of Reconciliation, S. 139. Es gibt zwar Hegels Auffassung nach Lösungen wie Hilfe durch die Reicheren; dies seien aber keine wirklichen Lösungen, weil das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, Selbstständigkeit und Ehre der Subjektivität, fordere, dass jeder durch seine eigene Arbeit seine Subsistenz erhalten kann. (PR § 245)

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gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ (PR § 244 Z) Hieraus resultiert der Verlust der Überzeugung, dass das Individuum seine subjektive Freiheit überhaupt durch die Normen der bürgerlichen Gesellschaft gewinnen kann. Für ein solches Individuum ist die bürgerliche Gesellschaft gerade kein Reich der Freiheit.41 Wie wir gesehen haben, ist die bürgerliche Gesellschaft eine Sphäre, in der selbständige Personen ihre subjektive Besonderheit zu befriedigen versuchen. Im Laufe des Kapitels wurde erklärt, wie das Allgemeine in diesem Prozess am Werk ist. Außerdem wurde die Institution der Polizei erwähnt, deren Aufgabe der Schutz der Individuen sowie der allgemeinen Ordnung vor der Willkür anderer ist. Dabei wurde die Polizei allerdings noch als eine äußerliche Macht angesehen, da der Hauptzweck der Individuen die besonderen Zwecke und Interessen sind und alles andere diesem Zweck dienen sollte. Die sittliche Gesinnung wie bei der Einheit des Familienmitglieds mit dem allgemeinen Sittlichen findet fand hier noch keinen Ausdruck, weil die Individuen nur an ihre selbstsüchtigen Zwecke denken; in diesem Zustand wurde „die polizeiliche Vorsorge […] als eine äußere Ordnung und Veranstaltung zum Schutz und Sicherheit der Massen von besonderen Zwecken und Interessen“ angesehen. (PR § 249) Mit der Diskussion der Korporation will Hegels diese letzte Lücke in der Theorie schließen: Wie schon gesagt besteht Freiheit für Hegel darin, die besonderen Ziele in Einheit mit den allgemeinen Sitten, die das Gute aller erfüllen, zu bestimmen. Darüber hinaus wurde im Laufe des Moralitätskapitels deutlich, dass die Überzeugung oder die Perspektive des Subjekts für eine freie Selbstbestimmung notwendig ist, was impliziert, dass das Subjekt etwas innerlich und nicht durch äußerlichen Zwang als einen möglichen Willensinhalt für sich bestimmen muss. Diese Gesinnung und Einsicht des Einzelnen, dass die Sittlichkeit mit ihren Normen oder Sitten und Institutionen das Reich der Freiheit ist und es nur dort zuhause sein kann, entsteht in vollständiger Form erst im Staat, und die Diskussion der Korporation fungiert dabei als eine Brücke für diesen Übergang.42

41 42

Näher siehe Ruda, Frank (2017): That Which Makes Itself: Hegel, Rabble and Consequences, in: Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide, James David (Hrsg.), S. 161 f. Die bürgerliche Gesellschaft ist das Reich der Eigeninteressen, in dem laut Avineri das Grundmotiv der Individuen ihr „allgemeiner Egoismus“ ist, während es im Staat der „allgemeine Altruismus“ ist, der die Individuen zur Handlung motiviert. Die Individuen sehen ein, dass die Gemeinschaft als Grundlage ihrer Individualität fungiert. Siehe Avineri, Hegel’s theory of the modern state, S. 134.

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Hegel bezeichnet die Korporation als diejenige Institution in der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Individuen das Bewusstsein erlangen, dass ihre Zwecke nur durch Zusammenarbeit mit den anderen, für das gemeinsame Ziel der Korporation, zu verwirklichen sind, dass also das Gute des Einzelnen in Einheit mit dem Guten anderer zu suchen ist: „Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihren immanenten Interessen ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus.“ (PR § 249)43 Was wir als sittliches Leben in der Familie sahen und was durch die bürgerliche Gesellschaft gebrochen wurde, die Harmonie zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Willen, keht an dieser Stelle zurück, allerdings nicht in einer unmittelbaren Art und Weise.44 Eigentlich arbeitet das Individuum durchaus für sich, dabei jedoch zugleich, wenn auch noch unbewusst, immer auch für die anderen in der bürgerlichen Gesellschaft. Erst durch die Korporation kommt der Einzelne zu diesem Bewusstsein.45 Es ist wichtig zu beachten, dass nicht alle Individuen Mitglieder der Korporation sein können. Die Korporation ist vielmehr nur im Stand des Gewerbes zu suchen. Lässt sich nun sagen, dass nur diese bestimmte Gruppe von Individuen, die einer Korporation angehören, zu diesem Bewusstsein der Freiheit kommen können und deswegen nur einige frei sind? Obwohl Hegel sein Argument an dieser Stelle nur auf die Korporation beschränkt, tut diese Beschränkung seiner Theorie keinen Abbruch, denn der Kern des Arguments ist deutlich: Der Einzelne ist frei, insofern er nicht nur in einem objektiven Kontext lebt, in dem die Bestimmungen der Freiheit wirklich sind. Er muss 43

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Oder: „Indem solches an sich Gleiche der Besonderheit als Gemeinsames in der Genossenschaft zur Existenz kommt, fasst und betätigt der auf sein Besonderes gerichtete, selbstsüchtige Zweck zugleich sich als allgemeinen, und das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, nach seiner besonderen Geschicklichkeit, Mitglied der Korporation, deren allgemeiner Zweck damit ganz konkret ist und keinen weiteren Umfang hat, als der im Gewerbe, dem eigentümlichen Geschäfte und Interesse, liegt.“ (PR § 250) Es gibt in der Tat zwei Institutionen in der Sittlichkeit vor dem Staat, in denen diese Einheit realisiert wird: die Familie und die Korporation, obwohl in der letzteren die Einheit für Hegel eine höhere Form hat, weil sie nicht mehr unreflektiert ist: „Zur Familie macht die Korporation die zweite, die in der bürgerlichen Gesellschaft gegründete sittliche Wurzel des Staats aus. Die erstere enthält die Momente der subjektiven Besonderheit und der objektiven Allgemeinheit in substantieller Einheit.“ (PR § 255) „Wir sahen früher, dass das Individuum, für sich in der bürgerlichen Gesellschaft sorgend, auch für andere handelt. Aber diese bewusstlose Notwendigkeit ist nicht genug: zu einer bewussten und denkenden Sittlichkeit wird sie erst in der Korporation.“ (PR § 255 Z) Erst hier taucht dieses Bewusstsein auf.

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allerdings darüber hinaus den allgemeinen Normen reflexiv und mit Bewusstsein folgen und darf ihnen gegenüber keinen blinden Gehorsam leisten. In der Korporation wird folglich deutlich, dass das eigene Ziel mit dem allgemeinen Ziel der Kooperation harmonisch sein sollte. Der Bildungsprozess, der in seinen ersten Schritten dem Individuum die Notwendigkeit der Normen für die Befriedigung der eigenen selbstsüchtigen Interessen aufgezeigt hat, führt an dieser Stelle seiner Entwicklung dazu, dass das Individuum einsieht, dass seine eigenen Zwecke nur durch die Verwirklichung gemeinsamer Zwecke erreicht werden können.46 Warum ist aber der Übergang in den Staat ein notwendiger Schritt in der Dialektik der Freiheit? Oder anders gefragt: Warum muss man nicht nur ein Bourgeois, sondern auch ein Citoyen sein, um frei sein zu können? Hegel gibt dafür, wie schon anhand der bisherigen Analyse zu erwarten ist, zwei Gründe an: Zum einen ist die Einsicht des Einzelnen in die Notwendigkeit der Allgemeinheit Bestandteil seiner innerlichen, reflexiven Freiheit, was sich in dem Moralitätskapitel als notwendig für die subjektive Freiheit erwies. Zum anderen braucht die Sittlichkeit eine objektive Struktur, die als Grundlage aller anderen Institutionen der Sittlichkeit fungiert; diese Rolle kann die Korporation nicht übernehmen: „Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit […] in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über.“ (PR § 256) Erst der Staat bezieht sich also nicht mehr ausschließlich auf eine objektive Struktur. Der Staat symbolisiert zugleich eine Einstellung, welche die Individuen in sich ausbilden müssen, um frei zu sein – und zwar die Einstellung, dass die eigene Freiheit nur dann möglich ist, wenn man als Citoyen zur Einsicht gelangt ist, dass die Rechte aller zu respektieren sind, dass die objektiven Institutionen für die eigene Freiheit

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Die verschiedenen Stufen des Bildungsprozesses in den drei Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. im System der Bedürfnisse, in der Rechtspflege und in der Polizei und Korporation, kann man mit Buchwalter so zusammenfassen: „While Bildung in the first stage empowers the utility-maximizing strategies inimical to the ends of ethicality, and while Bildung in the second stage lends support to a notion of formal justice that addresses problems encountered in the System of Needs while introducing new ones, Bildung in the final stage – especially in the Corporation – actualizes the complex mediation of individual and community required of a genuine account of ethical life.“ Siehe Buchwalter, Andrew (2017): The Ethicality in Civil Society: Bifurcation, Bildung and Hegel’s Supersession of the Aporias of Social Modernity, in: Hegel’s Elements of the Philosophy of Right: A Critical Guide, James, David (Hrsg.), S. 125.

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notwendig sind und dass der Staat als deren Kern die Institutionen der Freiheit zusammenhält.47 Bevor wir zum Übergang zum Staat als letzte notwendige Bestimmung der politischen Freiheit kommen, muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass der Staat für Hegel eine komplementäre Rolle zu den anderen zwei Institutionen der Sittlichkeit übernimmt und sie keinesfalls ersetzt. Der Saat darf deswegen nicht mit der ganzen Gesellschaft gleichgesetzt werden. Er hat als ein Teil der Sittlichkeit bestimmte Aufgaben zu erfüllen und er macht zusammen mit der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft die ganze Sphäre der Sittlichkeit aus. Sein spezifischer Aufgabenbereich lässt sich grob so zusammenfassen: Erstens brauchen die Individuen, um wahrhaft frei zu sein, einen bereiteren innerlichen Horizont als die reine Konzentration auf ihre Selbstinteressen, und zweitens bedarf die Sittlichkeit einer politischen Struktur, die alle ihre Bereiche zusammenhält. 6.2.3 Der Staat als Reich der konkreten Freiheit des Einzelnen Für Hegel ist der Staat die höchste Stufe der Freiheit in der Sittlichkeit. Die Existenz des Staates ist in seiner Theorie also nicht nur legitim, sondern für die Verwirklichung der Freiheit notwendig. Der Staat gewinnt seine Legitimität und Notwendigkeit nicht hauptsächlich dadurch, dass er das Reich der göttlichen Gesetze, das Medium der Selbsterhaltung der Individuen oder das Mittel zur Sicherheit der Individuen und ihres Eigentums ist.48 Hegel ist der mit Rousseau beginnenden Tradition der politischen Philosophie zuzurechnen, für deren Theorie des Politischen die Freiheit ausschlaggebend ist. Es ist daher der Begriff der Freiheit, der die Existenz des Staates für Hegel notwendig macht. Um die Frage mit Bezug auf diese Notwendigkeit zu beantworten, müssen wir uns an die Bedingungen der Freiheit bei Hegel zurückerinnern: Freiheit fordert ein selbstbestimmtes Subjekt, das sich in einem objektiven Zusammenhang 47

48

„[I]n der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gewinnt die sittliche Substanz ihre unendliche Form, welche die beiden Momente in sich enthält: 1. der unendlichen Unterscheidung bis zum fürsichseienden Insichsein des Selbstbewusstseins, und 2. der Form der Allgemeinheit, welche in der Bildung ist, der Form des Gedankens, wodurch der Geist sich in Gesetzen und Institutionen, seinem gedachten Willen, als organische Totalität objektiv und wirklich ist.“ (PR § 256 Anm.) Nach der Französischen Revolution ist es, laut Ritter, nicht mehr akzeptabel, den Staat durch Bezug auf den menschlichen Trieb zur Sozialität als notwendig für den Schutz des Eigentums oder als die Verkörperung des Göttlichen auf der Erde zu rechtfertigen. Nach diesem Ereignis sei die Freiheit für Hegel das grundlegende Kriterium für jeden Versuch, den Staat philosophisch zu begründen. Aus diesem Grund bezeichnet Ritter Hegels System als „Philosophie der Revolution“. Siehe Ritter, Hegel und die Französische Revolution, S. 39 f.

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befindet, in dem die Sitten oder Normen sowohl das Gute des Einzelnen als auch das Gute aller zum Ausdruck bringen, eine Einheit, die durch den Einzelnen mit innerer Überzeugung zustande gebracht werden soll. Wir müssen also untersuchen, warum solch ein Verständnis von Freiheit zugleich die Existenz des Staates erfordert.49 Durch die bürgerliche Gesellschaft in der Korporation erreichen wir, wie schon erläutert, den Punkt, an dem die Notwendigkeit der Harmonie unserer Willensbestimmungen mit dem Zweck des Ganzen oder Guten aller ersichtlich wird, d. h. an diesem Punkt können wir einsehen, dass, wenn der allgemeine Zweck der Korporationen wirklich wird, zugleich auch die subjektiven Zwecke der Mitglieder dieses Ganzen erfüllt werden. Was aber der Befreiungskraft der Korporation eine Grenze setzt, ist die Beschränktheit ihrer Ziele. Der Staat hingegen ist die Sphäre, in der es um das Gute aller in der Gesellschaft als Ganzes geht. Im Moralitätskapitel argumentierte Hegel für die Notwendigkeit der Moral. Dort wurde gesagt, dass wir nur dann frei sein können, wenn unsere Besonderheit und subjektive Freiheit in Einklang mit dem moralischen Guten bzw. mit dem Guten aller steht. Der Staat ist nun die Sphäre, wo der Einzelne, der seine Vollständigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft schon erreicht hat, anfängt, über seine selbstsüchtige Perspektive hinauszugehen und in seiner Reflexion das allgemein Gute im Auge hat. Die Notwendigkeit des Lebens im Staat sowie der Durchführung eines allgemeinen Lebens erweckt den Eindruck, dass für Hegel das Kollektive oder die Sittlichkeit als ein Ganzes frei ist und die Freiheit dementsprechend in einem holistischen Sinne dem Kollektiv und nicht dem Einzelnen zugewiesen ist.50 49

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Obwohl Hobbes und Hegel die Notwendigkeit des Staatswesens durch unterschiedliche Mittel rechtfertigen, sind sich beide gegenüber anarchistischen Kritiken des States darin einig, dass ohne das Staatswesen nur Unfreiheit und Wildheit herrschen würde. Für Hobbes ist nur der Staat in der Lage, das Chaos und den Krieg des Naturzustandes zu beenden und unser Leben, unsere Interessen und unsere Freiheit zu sichern. Die folgende Aussage von Hobbes macht diesen gemeinsamen Punkt deutlich: Denn seiner Ansicht nach gibt es im Naturzustand „no place for industry, because the fruit thereof is uncertain, and consequently, no culture of the earth, no navigation, nor use of the commodities that may be imported by sea, no commodious building, no instruments of moving and removing such things as require much force, no knowledge of the face of the earth, no account of time, no arts, no letters, no society, and which is worst of all, continual fear and danger of violent death, and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short.“ Siehe Hobbes, Leviathan. E. Curley (Hrsg.), Kapitel 13.9. Für Hegels diesbezügliche Übereinstimmung mit Hobbes siehe seine VGPh, Bd. 2, S. 108. Ilting geht einen Schritt weiter in diese Richtung und weist nur dem Staat als Ganzes die Freiheit zu: „From §266 onwards, therefore, the freedom of the citizens ist replaced by the freedom of the state. It ist not the freedom of the citizens that ist actualized in the institutions of the state; rather ‚the mind‘ or the Idea of the state becomes, in the organs of

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Im Laufe der Untersuchung der Grundlinien haben wir gesehen, dass es Hegel jedoch durchaus um die Verdeutlichung der Bedingungen geht, unter denen im ersten Schritt ein persönlicher Wille und im zweiten ein subjektiver Wille in Gemeinschaft mit anderen Willen frei sein kann. Er spricht nirgendwo vom Willen einer Ganzheit oder von irgendeinem holistischen Willen, vom Willen einer holistischen Person oder eines holistischen Subjekts. Selbst der Übergang zur Sittlichkeit wird auch als eine notwendige Phase der individuellen Freiheit untersucht. Wir können zwar von einer Form der Freiheit des Ganzen in der Sittlichkeit reden, denn der Einzelne kann in seinem vorgesellschaftlichen Zustand nicht frei sein; die Möglichkeit der Freiheit erreicht er erst in einem sittlichen Reich, in dem auch andere Individuen einen bestimmten Grad der Freiheit genießen und in dem die Institutionen und Einrichtungen objektive Verkörperung der Freiheit sind. Diese Abhängigkeit der Freiheit des Einzelnen von der Sittlichkeit darf aber nicht den Eindruck erwecken, dass das Ganze oder die Gemeinschaft oder der Staat für Hegel ein transzendentes Subjekt ist, dem die Freiheit zugesprochen wird. Dieses Ganze ist für Hegel tatsächlich nur der Kontext, in dem die Individuen frei sein können.51 In diesem Licht ist tatsächlich die Antwort auf die Frage, ob Hegel Kollektivist ist bzw. ob seiner Theorie in dem Sinne ein holistischer Ansatz zugrunde liegt, dass bei der Erläuterung der grundlegenden Ziele der sozialen Ordnung in seiner politischen Philosophie die Interessen des Kollektivs entscheidend oder übergeordnet sind, während die Individuen und ihre Interessen im Hintergrund stehen, ein eindeutiges Nein. Worin aber besteht dann die Beziehung zwischen seiner Theorie und den individualistischen Ansätzen, die mit den fundamentalen Interessen der Individuen als Individuen, unabhängig von

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the state, ‚aware of itself as its own object and end‘ and thus ‚a shape of freedom‘ (§ 266). Siehe Ilting, Karl Heinz (1984): Hegel’s concept of the state and Marx’s early critique, in: The State and Civil Society: Studies in Hegel’s Political Philosophy. Pelczynski, Z. A. (Hrsg.), S. 103. In diesem Teil der Grundlinien, den Ilting zitiert, geht es Hegel um die Verfassung als die Grundlage des Staates und ihre Bestimmungen. Es ist allerdings nicht einzusehen, warum Ilting der Auffassung ist, Hegel verfolge hier eine andere Richtung in seinem Argumentationsgang, nämlich von der Freiheit des Einzelnen hin zu der des Staates. Siehe auch Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, S. 47, wo er das sittliche Ganze, in dem die Individuen frei sind und die Institutionen die notwendige Verwirklichung des Freiheitsbegriffs darstellen, als einen „Organismus“ in einem schwachen – im Gegensatz zu einem starken – holistischen Sinn bezeichnet: „[…] like individual cells that can severally be called alive but that have this property only by being joined together with other cells so as to form a biological organism, socially free individuals themselves acquire a species of self-determined will that depends on (and consists in) their being united with other individuals into the three kinds of social groups that make up the institutions of Sittlichkeit.“

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ihrer Mitgliedschaft in einer sozialen Ordnung, beginnen und das Ziel des Staates als die Verwirklichung und Ermöglichung dieser Interessen bezeichnen? Es gibt zweifelsohne Stellen in Hegels Text, die ein kollektivistisches Verständnis seiner Theorie nahelegen. Etwa dort, wo Hegel beispielsweise den Staat als „Gang Gottes in der Welt“ beschreibt und die Individuen nur auf „Momente“ herabsetzt, deren „höchste Pflicht es sei, Mitglieder des Staates zu sein.“ (PR  § 258)52 Es scheint dennoch verfehlt, Hegels Theorie anhand solcher Formulierungen als kollektivistisch anzusehen. Wir sind selbstverständlich nur dann in der Lage, diese Stellen richtig zu beurteilen, wenn wir uns den Argumentationsgang Hegels in den Grundlinien genau vor Augen führen: Hegel fängt in diesem Werk nicht mit der Erläuterung der kollektiven Ziele einer Gemeinschaft oder mit einem anderen holistischen Ansatz an. Hegel beginnt vielmehr mit den notwendigen Bedingungen, unter denen der Wille einer Person und später eines Subjekts wirklich frei sein kann. Der Übergang zur Sittlichkeit wurde auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass Hegel für die Vervollständigung seiner Theorie einen kollektivistischen Ansatz für notwendig erachtete. Er resultierte allein durch die mangelnde Kraft des subjektiven moralischen Standpunktes, aus sich selbst bestimmte moralische Pflichten hervorzubringen. Das Subjekt ist, Hegels Auffassung nach, nur dann in der Lage, seinen Willen moralisch zu bestimmen, wenn es schon in einem wirklichen sozialen Zusammenhang, in dem bestimmte Institutionen der Freiheit schon wirklich sind, lebt. Erst hier stehen dem Subjekt Normen für ein freies Wollen und Handeln zur Verfügung. Erst durch die Mitgliedschaft in einem sittlichen Wesen erhalten die Individuen die Fähigkeit sowie die Möglichkeit zur Freiheit.53 Es ist in Hegels Augen nicht richtig, eine Individuum-Kollektiv-Dichotomie aufzustellen und den Vorrang bzw. die Priorität des einen oder des anderen zu

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53

Das vollständige Zitat lautet: „Bei der Freiheit muss man nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbstbewusstsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewusstseins, denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind: es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Will e verwirklichenden Vernunft.“ (PR § 258 Z) Wood ist deswegen zuzustimmen, wenn er die liberalen Freiheiten in Hegels Theorie schon als erfüllt ansieht, obwohl er die subjektivistischen und atomistischen Grundlagen der liberalen Theorien für Hegels Meinung zu verwerfen hält und vor allem das individuelle Gute nicht als konfligierend mit dem Guten des Kollektiven betrachtet. Siehe Wood, Allen, Hegel’s Ethical Thought, S. 258. Für eine gute Diskussion siehe auch Neuhouser, Frederick, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, Kap. 6.

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fordern, wozu seiner Ansicht nach die politische Philosophie tendiert.54 Da für Hegel aber weder der eine noch der andere Gesichtspunkt allein gültig ist, versucht er zwischen den beiden Positionen einen Einheitspunkt zu finden, den er dann als „Einheit des Einzelnen und Allgemeinen“ bezeichnet. Mit anderen Worten sind die Bedingungen der individuellen und der kollektiven Freiheit miteinander verbunden in dem Sinne, dass weder das Individuum frei sein kann, ohne in einem freien Staat zu sein, in dem alle frei sind, noch der Staat ohne freie Individuen überhaupt als freier Staat bezeichnet werden kann. Diese beiden Seiten gehen nur miteinander einher.55 Sein Ansatz ist einerseits individualistisch, weil das höchste Ideal eines Gemeinwesens für ihn in der Freiheit der Individuen besteht. In dieser Hinsicht ist das Kollektiv oder der Staat diesem Wert untergeordnet. Der Staat selbst hat Wert nur dann, wenn seine notwendige Existenz aus dem Begriff der individuellen Freiheit abgeleitet 54 55

„Beim Sittlichen sind daher immer nur die zwei Gesichtspunkte möglich, dass man entweder von der Substantialität ausgeht oder atomistisch verfährt und von der Einzelheit als Grundlage hinaufsteigt.“ (PR § 156 Z) Diese These liegt in ähnlicher Weise Pettits Theorie der republikanischen Freiheit zugrunde: „[…] the conditions under which a citizen is free are one and the same as the conditions under which the city or state is free.“ Pettit, Philip, Republicanism: a Theory of Freedom and Government, S. 37. Allerdings ist trotz dieser grundlegenden Ähnlichkeit auf einen Unterschied zwischen diesen zwei Positionen hinzuweisen: Pettit sagt zwar, dass die Republik nicht allein aus Gesetzen bestehen kann; sie braucht darüber hinaus, um die Freiheit im Sinne der Nicht-Beherrschung (non-domination) ermöglichen zu können, Normen eines sozialen Verhaltens bei den Individuen, was er als Normen der „civility“ oder sittliche Tugenden bezeichnet (S. 245), welche darin bestehen, dass die Individuen sich mit den anderen solidarisch fühlen und diese Normen innerlich akzeptieren. (S. 259) Mit anderen Worten muss die Republik, seiner Ansicht nach, neben den Gesetzen diese Normen fördern, um seine Art von Freiheit zu ermöglichen. Was aber ziemlich unklar bleibt, ist die Ebene der persönlichen Freiheit: auf der kollektiven, allgemeinen Ebene braucht die Republik diese Normen, aber wenn er von der Freiheit auf der persönlichen Ebene redet, versucht er einen negativen Sinn der Freiheit zu unterstützen und von der Notwendigkeit der positiven, innerlichen Bestimmungen für die Bürger der Republik nicht zu reden. Das impliziert, dass man in dieser Republik mit ihren Gesetzen und Normen frei sein kann, ohne sich notwendig innerlich mit diesen Normen identifizieren zu müssen. (Er nennt seine eigene Theorie auch, wie in der Einleitung dieser Arbeit schon gesagt, eine Theorie äußerer Freiheit. Siehe Pettit, Philip: The Instability of Freedom as Noninterference: The Case of Isaiah Berlin, S. 694) Wenn also Freiheit hauptsächlich in einem negativen, äußerlichen Sinne darin besteht, dass man von den anderen nicht beherrscht wird, warum soll man sich dann innerlich im Rahmen dieser Normen der Solidarität bestimmen? Dieses Problem entsteht bei Hegels Theorie nicht, denn für ihn sind die Bestimmungen der persönlichen und der kollektiven Freiheit gleich. Die Gesetze und Normen sind nicht in einem negativen Sinne als die Mittel definiert, jede Beherrschung zu vermeiden. Sie sind vielmehr Reflexion des persönlichen und des allgemeinen Guten, und ich kann nur in der Befolgung dieser Bestimmungen frei sein.

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werden kann. Hegels Ansatz ist aber auch holistisch in dem Sinne, dass das freie Individuum für Hegel ohne das sittliche Gemeinwesen ein leeres Wort bleibt. Freiheit der Individuen besteht für ihn in der Befolgung bestimmter Normen und Pflichten in einer Sittlichkeit. Der individuelle Wille findet nur in einem wirklichen sittlichen Kontext festgelegte Inhalte der Freiheit.56 Die Freiheit der Einzelnen ist für Hegel durchaus das Hauptthema, und er sucht überall nach den notwendigen Bedingungen der individuellen Freiheit. Er beginnt aber nicht wie die kritisierten individualistischen Ansätze mit einem vermeintlichen Zustand, in dem die grundlegenden und genuinen Interessen der Individuen zu finden sind. Hegel setzt sich vielmehr die Aufgabe, zuzusehen, was ein wirklich freier Wille notwendig impliziert. Seine Aussage über den Staat als „Gang des Gottes in der Welt“ ist so zu verstehen, dass der Begriff als die Wahrheit der Vernunft, als der göttliche Logos, für die Freiheit die Existenz des Staates erfordert. Die höchste Pflicht der Individuen ist die sittliche Welt, der der Staat zugrunde liegt und die er zusammenhält, weil für Hegel ohne die Institutionen und Normen von Freiheit nicht die Rede sein kann. Die natürlichen Interessen benötigen zunächst Bildung und Formierung, um überhaupt genuin sein zu können, und diese Formierung erhält das Individuum erst im sittlichen und politischen Leben.57 Dem Staat kommt daher für Hegel eine zentrale Rolle zu, denn er ist die wirkliche Grundlage,

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Laut von der Pfordtens „normativ individualistischem“ Ansatz in seinem Werk Normative Ethik sind die Individuen „letzter Bezugspunkt der Rechtfertigung“ ethischer Normen. (S. 17 f.) Das bedeute, dass es bei der Bestimmung der ethisch relevanten Normen ausschließlich um die Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen der Individuen gehe, was auch nur durch die Individuen selbst zu bestimmen sei. Für eine ausführlichere Darstellung dieser Position siehe von der Pfordten, Dietmar (2010): Normative Ethik. Was in dieser kurzen Skizze ins Auge fällt, ist der Unterschied in der Bestimmung der Normen: Bei Hegel erfolgt die Bestimmung der Inhalte der Normen durch den vernünftigen Begriff der Freiheit, was schon im Laufe der Grundlinien gesehen wurde, während in von der Pfordtens Theorie die Individuen selbst ihre Belange und dadurch die relevanten ethischen Normen erkennen. (S. 211) Diesem Ansatz fehlt aber ein objektiver Maßstab, der uns bei der epistemischen Feststellung dieser Belange hilft. In den Worten von Gutschmidt geht es um die Frage, „wie wir die genannten Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele identifizieren, welche die Grundlage unserer ethischen Rechtfertigungen darstellen. Sie geht damit auf ein Erkenntnis-, nicht auf ein Begründungsproblem.“ Für eine eingehende Diskussion und Kritik von von der Pfordtens Position siehe Gutschmidt, Holger (2014): Immanuel Kant und der normative Individualismus. Ein Essai, in: Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht, S. 161 ff. Nur in besonderen Zeiten, wie etwas in einem Krieg, haben die Individuen die Pflicht, durch „Aufopferung ihres Eigentums und Lebens“ die „Souveränität des Staates“ zu verteidigen. (PR § 324)

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welche die Institutionen der Freiheit zusammenhält, und daher ist er auch die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“. (PR § 260) Der Staat hat, wie bereits gesagt, zwei Grundlagen: die Sitten und Gesetze einerseits und das Selbstbewusstsein, das durch seine „Gesinnung“ – nämlich seine Ziele und Zwecke in Harmonie mit den Sitten zu bestimmen – seine „substantielle Freiheit“ gewinnt, andererseits: „An der Sitte hat er (der Staat) seine unmittelbare und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“ (PR § 257) Mit anderen Worten: Der Staat als Institution ist zum einen notwendig, weil er die Sittlichkeit zusammenhält, zum anderen aber auch deshalb, weil er die Freiheit des Einzelnen garantiert, die nur in dieser Form des Lebens zu erreichen ist.58 Hegel ist zwar prinzipiell mit Rousseau darin einig, dass eine Untersuchung der Wahrheit des Staates mit der politischen Philosophie des freien Willens beginnen sollte. Die Tatsache, dass der Staat vom freien Willen abgeleitet werden und Freiheit die Grundlage der Rechtfertigung des Staates bilden muss, ist Hegels Ansicht nach Rousseaus Verdienst. Worin er Rousseau aber nicht zustimmt, ist, dass dieser nur den einzelnen Willen und nicht „das an und für sich Vernünftige des Willens“ oder den vernünftigen Begriff des Willens in Betracht ziehe, denn nur so könne vermieden werden, dass die Unbestimmtheit und folglich die Willkür ins Spiel komme. (PR § 258 Anm.)59 Außerdem kritisiert Hegel Rousseau sowie allgemein den Kontraktualismus in der politischen Philosophie in der Hinsicht, dass sie den Staat in der Form eines Vertrages begründeten.60 Der Hauptpunkt von Hegels Kritik liegt in sei58 59

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Der moderne Staat erfüllt seine Aufgabe, so Hegel, nur dadurch, „das Besondere seinen Weg gehen zu lassen und es dennoch im Ganzen zusammenzuhalten.“ Nachschrift Ringier, S. 162. Neuhouser ist zwar zuzustimmen, dass die soziale Freiheit es für Hegel wie für Rousseau erforderlich macht, dass die Individuen die Normen und Gesetze als vernünftig ansehen. Was er aber ignoriert, ist der Unterschied in den Grundlagen der beiden Theorien: Rousseau beginnt mit den grundlegenden Interessen der Individuen als „das Gemeinschaftliche“ im Willen aller als Grundlage des Gemeinwillens, während für Hegel dieser Ansatz, wie im Kap.3 bereits gezeigt, zur Willkür führt und folglich keine wahren Inhalte der Freiheit erzeugen kann. Daher beginnt Hegel auch nicht mit den gemeinsamen Interessen der Einzelnen, sondern mit den notwendigen Bedingungen eines wirklich freien Willens bzw. mit dem Begriff des Willens. Siehe Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, S. 202 ff. Hegel schreibt im § 75 der Grundlinien, dass der Vertrag aus der Willkür der Individuen hervorgeht und über eine äußerliche Sache geschlossen wird, während der Staat die vernünftig notwendige Grundlage eines freien Lebens ist: „Im Vertrage aber sind zwei identische Willen, die beide Personen sind und Eigentümer bleiben wollen; der Vertrag geht

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nem Verständnis von Freiheit, Denn nach diesen Theorien sei der Mensch in einem angeblichen „Naturzustand“ frei, und der Grund, warum er akzeptiere, in den Staat einzutreten, bestehe darin, dass er durch den Schutz des Staates seinen Zielen oder seiner Konzeption eines guten Lebens nachgehen könne. Was für Hegel in solchen Theorien unhaltbar ist, ist genau diese grundlegende Annahme. Für ihn ist ein natürlicher Mensch nur potenziell und nicht wirklich frei. Der Naturzustand ist eigentlich ein Zustand der „Rohheit“ und „Unfreiheit“. (PR § 194) So wie Hobbes bezeichnet er „die Fiktion des Naturzustandes“ als Zustand des „Kriegs aller gegen aller“, wo von keiner Freiheit die Rede sein könne.61 Erst in einem sittlichen Kontext biete sich dem Menschen die Möglichkeit eines freien Lebens. Freiheit erfordere nämlich nicht nur die negative Fähigkeit der Reflexion und des Abstand-nehmen-Könnens von gegebenen natürlichen Trieben, sondern auch die nach menschlicher Vernunft bestimmten Inhalte, die in einem sittlichen Kontext existieren, d. h. Fähigkeiten, die dem natürlichen Menschen fehlten. Nach Hegel kann das freie Individuum ohne Staat nicht existieren, und der einzelne freie Wille selbst hat nur Sinn und Bestehen im Staat. Die Vertragstheorien dagegen begreifen die Individuen, Hegels Verständnis nach, als von Natur aus frei, und der Staat hat hauptsächlich die Aufgabe, die grundlegenden Interessen der Individuen zu fördern. In diesem Zusammenhang wird die Mitgliedschaft im Staat als Gegenstand des Vertrages der Willkür der Individuen überlassen – ein Gedanke, den Hegel in Anbetracht seiner Theorie der Freiheit grundsätzlich verwirft.62

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also von der Willkür der Person aus, und diesen Ausgangspunkt hat die Ehe ebenfalls mit dem Vertrage gemein. Beim Staat aber ist dies gleich anders, denn es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen, da man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist. Die vernünftige Bestimmung des Menschen ist, im Staate zu leben, und ist noch kein Staat da, so ist die Forderung der Vernunft vorhanden, dass er gegründet werde.“ (PR § 75 Z) Siehe Hobbes, Leviathan. Kapitel 13.8. In diesem Zustand haben wir es nicht mit geistigen, sondern mit unmenschlichen Wesen zu tun: „Wir sind es gewohnt, von der Fiktion eines Naturzustandes auszugehen, der freilich kein Zustand des Geistes, des vernünftigen Willens, sondern der Tiere untereinander ist. Der Krieg aller gegen alle ist der wahre Naturzustand, wie Hobbes sehr richtig bemerkt hat.“ (VGPh, Bd. 2, S. 108) Zur Kritik Hegels an den Vertragstheorien siehe auch Patten, Hegel’s Idea of Freedom, Kapitel 4. Diejenigen Theorien, welche die Hauptaufgabe des Staates im „Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit“ sehen und „das Interesse des Individuums als solchem“ als den letzten Zweck des Staates definieren, verwechseln nach Hegel den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft. (PR § 258) Der Staat ist für Hegel kein Mittel zur Sicherung privater Interessen; er ist vielmehr konstitutiv für die Identität der Individuen. Siep weist auf diese grundlegende Rolle der „politischen Existenz“ der Individuen für ihre Selbstverwirklichung hin, vgl. ders., „Selbstverwirklichung, Anerkennung und politische Existenz“, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, S. 131–146.

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Hegels Bestehen auf die Notwendigkeit des Lebens in einem Staatswesen sollte auch nicht mit bloßem Etatismus gleichgesetzt werden, laut dem die besondere Freiheit der Individuen dem Staat untergeordnet wird.63 Es wurde bereits gezeigt, wie im Argumentationsgang der hegelschen Sittlichkeitstheorie die beiden Prinzipien zusammenwirken und jede Seite ohne die andere einseitig bleibt, denn die „Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, das heißt, Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln.“ Der Staat ist dementsprechend nur dann gerechtfertigt, wenn seine Gesetze und Institutionen die objektiv vernünftigen Bestimmungen der Freiheit sind, und sie auch durch reflektierende Individuen gewollt werden. Erst in dieser „substanzielle[n] Einheit“ zwischen dem Einzelnen mit dem Staat kommt „die Freiheit zu ihrem höchsten Recht.“ (PR § 258 Anm.)64 Im Kapitel „Das innere Staatsrecht“ expliziert Hegel dieses Affirmative in der Verfassung des Staates. Bevor er aber beginnt, über die Verfassung des Staates zu reden, betont er immer wieder, dass der Staat als die die ganze Sittlichkeit zusammenhaltende Institution nur dann das Reich der „konkreten Freiheit“ genannt werden kann, wenn darin die besondere Freiheit der Einzelnen ihren Ausdruck findet. Für Hegel ist die subjektive Besonderheit eine unentbehrliche Grundlage der Freiheitstheorie. Im Staat sollte zwar diese besondere Seite „ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres 63

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Es muss zugegeben werden, dass Hegel selbst zu diesem Missverständnis beigetragen hat, wenn er den Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (PR § 257) oder den „Gang Gottes in der Welt“ (PR § 258 Z) bezeichnet, oder wenn er sagt: „Man muss daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren […]“ (PR § 272 Z). Allerdings können diese Aussagen nur innerhalb seiner Theorie der Freiheit richtig verstanden werden, und es ist falsch, ihm daraus einen „Etatismus“ vorzuwerfen. Hier gilt es zu beachten, dass Hegel mit dem Staat in erster Linie keinen beliebigen Staat vor Augen hat, sondern dieser muss tatsächlich so verfasst sein, dass, wie Hegel im inneren Staatsrecht expliziert, bestimmte Bedingungen erfüllt werden. In Hegels Idealstaat kann nicht alles vernünftig und Wirklichkeit der Freiheit sein. Vielmehr ist ihm durchaus bewusst, dass der von ihm gemeinte Staat seine Schwächen und Defizite hat: „Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren.“ Was er in der Grundstruktur des Staates hervorheben möchte, ist jedoch die affirmative Seite des modernen Staates und darin die Gesetze und Institutionen der Freiheit in den unendlich vielen Verhältnissen, denn „um dieses Affirmative ist es hier zu tun.“ (PR § 258 Z)

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Rechts“ erhalten, was bedeutet, dass die Individuen ihren eigenen besonderen Zwecken nachgehen können müssen. Aber um völlig selbstbestimmend zu sein und den vernünftigen Gesetzen und Normen mit Einsicht zu folgen, muss sich der Einzelne bilden, um einsehen zu können, dass die Verhältnisse des Staates notwendig für die Freiheit aller sind. Nur dadurch kann der Einzelne die Gesetze in seinem „Wissen und Willen“ auch anerkennen. Diese Seiten der Besonderheit sind so zentral für Hegel, dass sie die „Stärke und Tiefe“ der modernen Staaten ausmachen. Die Freiheit der Besonderheit findet hingegen im platonischen Idealstaat keinen Ausdruck und die Ziele der Individuen werden dort nicht durch die eigene „freie Wahl der Individuen“, sondern durch den Staat bestimmt: „Im Platonischen Staate gilt die subjektive Freiheit noch nichts, indem die Obrigkeit noch den Individuen die Geschäfte zuweist.“ (PR § 262 Z) Das ist eine große Schwäche von Platons politischer Philosophie, die nach Hegel im modernen Staat überwunden wird. In der Familie kam die Vereinigung von Rechten und Pflichten dadurch zustande, dass man beispielsweise in den eigenen sittlichen Pflichten gegenüber seinen Kindern gleichzeitig der eigenen Freiheit und Besonderheit Ausdruck geben konnte. In der bürgerlichen Gesellschaft spiegelten unsere Pflichten in den Verhältnissen des Arbeitsmarkts usw. unsere Möglichkeiten wider, unsere vielseitigen Bedürfnisse befriedigen zu können. Auch im Staat sehe ich nun meine Pflichten gleichzeitig als meine Rechte auf freie Selbstbestimmung an, und in diesem Sinne sind meine Rechte und Pflichten in ihm vereinigt: „Der Staat, als Sittliches, als Durchdringung des Substantiellen und des Besonderen, enthält, dass meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle zugleich das Dasein meiner besonderen Freiheit, d. i. in ihm Pflicht und Recht in einer und derselben Beziehung vereinigt sind.“ Das Individuum kommt zum Bewusstsein dieser Vereinigung der Pflichten mit seinen Rechten, wenn es in den sittlichen Pflichten „den Schutz seiner Person und seines Eigentums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls und die Befriedigung seines substantiellen Wesens findet.“ (PR § 261 Anm.) In der Tat braucht der Staat für sein Bestehen diese Anerkennung und das Vertrauen der Bürger. Wenn die Einzelnen ihre Besonderheit im Staat nicht erfüllt sehen, steht der Staat auf keinen festen Füßen: „Worauf es ankommt ist, dass sich das Gesetz der Vernunft und der besonderen Freiheit durchdringe und mein besonderer Zweck identisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft.“ (PR § 265 Z)65 65

In diesem Licht kann man Hegel auch einen liberalen Denker nennen, wenn man mit Höffe das Hauptziel sowie den zugrundeliegenden Wert verschiedener liberaler Theorien in der Beförderung individueller Freiheit sieht. Siehe Höffe, Otfried: Kritik der Freiheit: das Grundproblem der Moderne, S. 128. Dieses grundliegende Kriterium liegt Hegels Theorie

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Die eine Grundlage des wahren Staates besteht, wie bereits gesagt, in seiner „Verfassung“, welche die wirkliche Vernünftigkeit ist. Die andere Seite des Staates machen für Hegel die Individuen aus, welche die „politische Gesinnung“ des Vertrauens in die Vernünftigkeit des Staates haben, dass sie nur in ihm ein freies Leben führen können. (PR § 267) Worin aber besteht diese politische Gesinnung? Sie besteht aus der „Gewissheit“, dass die Gesetze des Staates die wahren Gesetze der Freiheit sind, und daraus folgt „das zur Gewohnheit gewordene Wollen“. Die Individuen haben ein „Zutrauen“ in den Staat und seine Institutionen und handeln daher gemäß den allgemeinen Normen und Gesetzen: „Diese Gesinnung ist überhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht übergehen kann), das Bewusstsein, dass mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewusstsein frei bin.“ (PR  § 268) Zutrauen bedeutet letztlich nichts anderes als die Überzeugung und Gewissheit der Individuen, dass die Gesetze der Sittlichkeit der Freiheit aller Spielraum geben. Für Hegel sind die Individuen, die ohne dieses Bewusstsein den Gesetzen folgen, keine freien Wesen, sondern „Knechte“.66 Wie kann das Subjekt aber diese Einsicht in die Vernünftigkeit der sittlichen Normen erreichen?67 Ist es für die Einzelnen notwendig, Hegels Rechtsphilo-

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der Freiheit tatsächlich zugrunde, denn von Anfang an geht es ihm um die Explikation der Bedingungen der Freiheit der Individuen, die für Hegel gleiche Rechte haben. Der Grund seines Übergangs zum sittlichen Leben bedeutet daher nicht, dass ihn die individuelle Freiheit nicht interessiert; Sittlichkeit ist vielmehr der notwendige Kontext der Verwirklichung dieser individuellen Freiheit. Wir haben darauf hingewiesen, dass Hegels Theorie ein kantisches Bild der Freiheit zugrunde liegt, das Hegel dadurch verbessern möchte, dass er uns beweist, wie uns die grundlegenden Normen und Werte, die für eine moralische Selbstbestimmung notwendig sind, in manchen Verhältnissen der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit bereits zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass Höffe selbst mit seinem Werk versucht, das Potential der Moderne zur Befreiung von Naturzwängen, durch Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, herauszustellen und die Politik vor skeptischen Vorwürfen zu verteidigen, bedeutet meiner Ansicht nach eine implizite Zustimmung seitens eines Kantianers zu Hegels These, dass die Moderne (in den Grundlinien die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft) das höchste Gute des menschlichen Lebens, d. h. die Freiheit, grundsätzlich in sich trägt und dass eine freie Selbstbestimmung in dieser Welt daher möglich ist. „Die höchste Freiheit hat der Mensch im Staate, weil ihm der Begriff derselben hier Gegenstand ist. Weiß der Mensch dies nicht, so muss er als Knecht dem Gesetze gehorchen.“ Hegel, Nachschrift Anonymus, S. 226 f. Die Notwendigkeit des Staates hat für Hegel, wie schon erläutert, eine objektive Seite, die darin besteht, dass der Staat als eine objektive Institution die Sittlichkeit als ein Ganzes zusammenhält. Die subjektive Seite beruht hingegen nicht darauf, dass der Staat

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sophie zu lesen, um zu dieser Einsicht in das allgemein Gute zu gelangen? In diesem Fall könnte diese Freiheit nur von Philosophen erlangt werden. Hegel dagegen redet in einer Vorlesung von verschiedenen Stufen des Wissens: „Das Gute hat nun weiter vielerlei Formen. Zunächst hat es die Bestimmung des Gesetzmäßigen, dessen, was gesetzlich erlaubt oder geboten ist. Von dem Gesetzlichen kann ich wissen, und mein Wissen davon ist nur dieses Wissen überhaupt, dass es gilt. Das weitere Wissen aber ist, dass ich aus Gründen weiß, nicht bloß auf diese unmittelbare Weise. In diesem Fall nennen wir das Wissen Überzeugung. Ein Höheres ist dann, dass ich die Bestimmung des Zwecks aus dem Begriff erkenne. Ich kann in Folge meines moralischen Rechts nun etwa die Forderung machen, es solle etwas mir nicht bloß als gesetzlich überhaupt und als auf bestimmten Gründen beruhend gelten, sondern es solle die Sache aus ihrem Begriff als vernünftig dargetan werden.“68

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die Individuen zwinge, Vertrauen in den Staat zu haben. Es geht hier vielmehr um eine Identität zwischen dem Einzelnen und dem Staat oder der Sittlichkeit, die dadurch zustande kommt, dass die Einzelnen ihre subjektive Freiheit wirklich sehen. Es kann daher gesagt werden, dass es Hegel um eine Versöhnung zwischen einer liberalen und einer kommunitaristischen Theorie geht, wenngleich diese Kategorien dann natürlich ex post an seine Theorie herangetragen werden, denn einerseits hat der Staat die Aufgabe, sich um die Freiheit der Einzelnen zu kümmern, damit jeder seiner eigenen Konzeption des Guten nachgehen kann, was einer liberalen Theorie entspricht. Und andererseits, insofern das Individuum seine Freiheit im Staat erfüllt findet, fühlt es sich identisch und versöhnt mit der in der Gesellschaft herrschenden Sittlichkeit, was wiederum einer kommunitaristischen Theorie nahekommt. Freiheit besteht für Hegel genau in dieser Vereinigung beider Aspekte. Für eine Einführung in die Grundlagen des Kommunitarismus siehe Bell, Daniel (2002): „Communitarianism“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Edward N. Zalta (ed.), URL = . Für die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft im Liberalismus siehe The Metaphysics of Liberalism, in: Gaus, Gerald, Shane D. Courtland, and David Schmidtz (2020): „Liberalism“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Edward N. Zalta (ed.), URL = . Nachschrift Anonymus, S. 106. Für eine ähnliche Position Hegels siehe ebd., S. 123 f., wo er von diesen drei Stufen des Wissens, d. h. der „Form des unmittelbaren Zutrauens“, der „Erkenntnis aus Gründen“ und schließlich der „spekulativen Erkenntnis“ spricht: „Es können hier mannigfaltige Stufen stattfinden. Die nächste Stufe ist die des Glaubens. Der sittliche Mensch erkennt das Allgemeine nicht als eine ihm fremde Macht. – Dadurch haben wir Wert und Würde, dass wir das vernünftige Gesetz vollbringen. Es kann dies überhaupt das Zeugnis des Geistes von diesem Gesetze genannt werden. – Die Form des unmittelbaren Zutrauens entwickelt sich nun weiter. Es wird zur Erkenntnis aus Gründen fortgeschritten. Gründe haben Voraussetzungen, die als unmittelbar gelten. Das sittliche Bewusstsein bleibt noch unerschüttert, insofern solche Voraussetzungen an und für sich wahrhaft sind. Diese Bewegung des Erkennens ist sonach rechter Art. Wenn aber das Bewusstsein seine Besonderheit und insbesondere seine Eitelkeit zum Grunde macht, so

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Wie dieser Textpassage zu entnehmen ist, spricht Hegel von drei Stufen der Einheit mit der Sittlichkeit: Die erste Stufe ist ein unmittelbarer und unreflektierter Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Sittlichkeit. Obwohl das Leben in der Sittlichkeit Freiheit mit sich bringt und man in ihr einen gewissen Grad der Freiheit erreicht, kann dies nicht die Art der Freiheit sein, die Hegel vor Augen hat, wenn er von der Notwendigkeit der Einsicht in die Vernünftigkeit dieser Gesetze redet. Auf der dritten, der philosophischen Stufe haben wir es mit dem Erkennen aus dem Begriff zu tun. Damit ist aber nicht gemeint, dass jeder, Hegels Grundlinien lesen und verstehen muss, um diese Einsicht zu erlangen. In kürzer Form sind die Stufen des sittlichen Bewusstseins die folgenden: 1) „Glaube und Zutrauen“, 2) „Reflexion“ oder „Einsicht durch Gründe“, 3) „adäquate Erkenntnis“. Was für Hegel im Vordergrund steht, ist die zweite Stufe, auf welcher der Einzelne nicht unmittelbar, sondern durch Reflexion und mit Gründen handelt. Der Punkt um den es dabei geht, ist, einzusehen, dass meine Freiheit als rechtschaffener Citoyen darin besteht, in meinen Handlungen nicht nur meinen selbstsüchtigen Zielen und Interessen zu folgen, sondern stets zugleich das allgemein Gute im Auge zu haben. (PR § 147) Um diese notwendige Stufe der Freiheit zu erreichen, muss sich der Einzelne zur Stufe der Reflexion durch Gründe erheben, was dann auch für die moralische Selbstbestimmung von zentraler Bedeutung ist.69 Für das Verständnis der hegelschen Position dieses nicht-philosophischen Niveaus ist es daher relevant zu wissen, was Hegel von einem sittlichen Subjekt erwartet. Das sittliche Subjekt sollte selbstverständlich eine bestimmte Stufe der Erkenntnis ohne Hilfe der philosophischen Perspektive erreichen, um in der Lage zu sein, die Vernünftigkeit der geltenden Normen und Sitten

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ist das sittliche Bewusstsein aufgehoben. – Die spekulative Erkenntnis ist demnächst die des Begriffs überhaupt.“ Wenn Hegel die Notwendigkeit der Einsicht und der Reflexion im Staat als Voraussetzung für Freiheit bestimmt, wirft dies für ihn zugleich die Frage nach der Freiheit der Bauern auf, die er als den „unmittelbaren“ Stand bezeichnet, der weit weniger der Reflexion fähig sei. (PR § 203) Ist das Individuum, das „hier mit unmittelbarer Empfindung das Gegebene und Empfangene“ (PR § 203 Z) aufnimmt, frei? Hegel ist sogar der Auffassung, dass der Mensch in diesem Stand, im Gegensatz zum Menschen im zweiten Stand, d. h. im „Stand des Gewerbes“, zur Freiheit unfähig ist: „Der erste Stand ist daher mehr zur Unterwürfigkeit, der zweite mehr zur Freiheit geneigt.“ (PR § 204 Z) Die Frauen trifft bei Hegel das gleiche Schicksal; sie haben – im Gegensatz zu den Männern – das „Wissen und Wollen des Substantiellen in Form der konkreten Einzelheit und der Empfindung“ und nicht in Form „des begreifenden Gedankens“. Sie sind deswegen mehr geeignet für das familiäre Leben. (PR § 166) Es ist also offensichtlich, dass Hegel dem ersten Stand sowie den Frauen eine niedrigere Stufe der Freiheit zugesteht als dem zweiten Stand bzw. den Männern. Diese seiner Zeit geschuldeten Gedanken können heutzutage nicht mehr überzeugen.

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einzusehen. Im Moralitätskapitel wurde gesagt, dass die Freiheit es erfordere, dass das Subjekt in der Lage sei, aus allgemeinen moralischen Prinzipien zu handeln. Der Grund des Übergangs zur Sittlichkeit bestand dann aber nicht darin, dass Hegel eine höhere Forderung an das moralische Subjekt stellte. Vielmehr lag der Grund für diesen Übergang in der Unfähigkeit des Subjekts, allein aus seinem eigenen Bewusstsein die grundlegenden moralischen Pflichten zu bestimmen. Die prinzipielle Fähigkeit zur Autonomie und Selbstbestimmung wurde hingegen nie infrage gestellt. Man kann daher sagen, dass Hegel hier eine ähnliche Position wie Kant vertritt: Das Subjekt kann nur dann frei sein, wenn es zu dem Bewusstsein gelangt, dass das Handeln in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Moral stehen muss. Das bedeutet dann aber für Hegel, dass die Subjekte in ihren Zwecken nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern gleichzeitig das Gute aller vor Augen haben müssen. Und damit ist das Subjekt, das zu dieser Einsicht gekommen ist, dass das allgemein Gute für seine Freiheit grundlegend ist, zugleich auch schon zu der Einsicht in die Notwendigkeit der allgemeinen sittlichen Normen gekommen.70

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Hegel warnt uns vor der Gewohnheit, die dazu führe, dass man zuweilen vergisst, inwiefern die Forderungen der Vernunft in unserem sozialen Leben schon wirklich geworden sind: „Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, dass dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur andern Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei.“ (PR § 268 Z)

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Schluss In der vorliegenden Untersuchung wurde der Versuch unternommen, Hegels Begriff der Freiheit in der sozialen Welt zu erläutern. Für dieses Ziel wurde auf eine Rekonstruktion seiner Grundlinien fokussiert und systematisch Schritt für Schritt die Grundlage seines Argumentationsgangs nachvollzogen. Die grundlegenden Thesen, die in der Vorrede zum Ausdruck gekommen sind, sind zum einen Hegels metaphysische Hauptthese, welche besagt, dass die Wahrheit von etwas in der Übereinstimmung seiner Wirklichkeit und des Begriffs – grob gesagt, die notwendige Vernunft in der Sache – besteht und dass eine Wirklichkeit, die keine Reflexion des Begriffs ist, bzw. umgekehrt ein Begriff ohne Wirklichkeit, leer und unwesentlich ist. Sein Doppelsatz ist der pointierte Ausdruck dieser These: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Aus dieser These folgt Hegels Überzeugung, dass die Wahrheit der Politik, nämlich die Freiheit, in der Wirklichkeit zu suchen ist. Zum anderen benötigten wir die wahre Methode der Philosophie, um diese Wahrheit erkennen zu können, d. h. Hegels spekulative oder dialektische Methode. Es ist insbesondere diese Methode, die seine politisch philosophische Abhandlung von anderen philosophischen Untersuchungen in diesem Bereich unterscheidet. In der Einleitung geht es Hegel um die Explikation der notwendigen Bedingung eines freien Willens, welche darin besteht, dass zunächst das Wollen kohärent bestimmt und anschließend der Inhalt dieses Wollens erfolgreich in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Hegel zeigt plausibel, dass dieses Wollen nur durch den Begriff des Willens kohärent und ohne Widersprüche bestimmt werden kann.1 Was danach ins Spiel kommt, ist das Recht als der Raum der Handlungsfreiheit bzw. die objektive Seite unseres durch den Begriff bestimmten Wollens, welche gemeinsam die Bestimmung der Idee der Freiheit als das Ziel der Untersuchung ausmachen. In den ganzen Grundlinien geht es Hegel tatsächlich um die Ausdifferenzierungen und Bestimmungen dieser Idee: Es geht ihm einerseits um die begrifflichen und vernünftigen 1 Anders gesagt kann von einem kohärenten Wollen nur dann gesprochen werden, wenn sowohl seine Form (Zwecke) als auch seine besonderen Inhalte miteinander in einer Einheit bzw. Harmonie stehen, was nur durch die Ableitung vom Begriff des Willens möglich ist. So haben wir z. B. in der Glückseligkeit einen allgemeinen Zweck, d. h. Glück als unsere Form, für welche die Inhalte nicht genau zu bestimmen sind, denn es gibt kein objektives Kriterium, mit dessen Hilfe die geeigneten Inhalte zu bestimmen wären, die unser Glück maximieren. Aus diesem Grund ist Hegel der Auffassung, dass nur durch den Begriff des Willens die besonderen Bestimmungen eines widerspruchsfreien Wollens herauszufinden sind.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767795_008

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Notwendigkeiten der Freiheit und andererseits um die Rechtsbestimmungen als die wirklichen Strukturen des Willensbegriffs. Ein wesentlicher Punkt, den es dabei zu beachten gilt, ist, dass Hegel mit Wirklichkeit in seinem Doppelsatz nicht jede beliebige Existenz vor Augen hat. Vielmehr besteht die Wirklichkeit für ihn ausschließlich aus den Rechtsverhältnissen, die aus dem vernünftigen Begriff der Freiheit abgeleitet werden. Alles andere in der objektiven sozialen Welt ist für Hegel ein „vorübergehendes“ Dasein, und nur diejenigen Verhältnisse, die in diesem Rahmen gerechtfertigt sind, können als Recht oder als Verkörperung der Freiheit erkannt werden. Was für Hegels Theorie des freien Willens entscheidend ist, ist einzusehen, dass ein einzelner Wille nur dann wahrhaft frei ist, wenn sich das Individuum nicht in jeder beliebigen Weise – durch Willkür – bestimmt. Der wahrhaft freie Wille soll im Rahmen derjenigen Bestimmungen (Form und Inhalte) wollen und handeln, welche aus dem notwendigen, vernünftigen Willensbegriff abgeleitet werden. Diese Bestimmung eines Rahmens für die Freiheit durch den notwendigen Begriff impliziert jedoch keine Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen, sondern bestimmt den geeigneten Handlungsraum für ein vernunftbegabtes Subjekt. Hegel beginnt seine Untersuchung mit dem Kapitel über das abstrakte Recht, in dem er die anfängliche Konzeption der Freiheit in Betracht zieht. Nach seiner allgemeinen Definition, welche die Grundlage jeder Theorie der Freiheit sein muss und ohne die von Freiheit keine Rede sein kann, besteht Freiheit in der Fähigkeit der Person, sich von jedem Inhalt abstrahieren und den Willen so bestimmen zu können, wie sie will. Der Grundgedanke besteht genau in dieser bestimmungslosen allgemeinen Form, und alles andere ist an dieser Stelle noch sekundär, was für Hegel natürlich über die Willkür nicht hinausgeht. Die mit diesem anfänglichen Begriff der Freiheit verbundenen hauptsächlichen Rechtsbestimmungen sind u.  a. das Eigentum- und Vertragsrecht. Allerdings taucht am Ende dieses Kapitels ein Widerspruch auf, der eine Aufhebung bzw. eine die notwendigen Bestimmungen der Freiheit in sich aufbewahrende Veränderung unseres anfänglichen Begriffs von Freiheit erfordert und deswegen den Übergang zur Moralität impliziert: Für die in Eigentums- und Vertragsverhältnissen stehenden Personen hat es sich noch nicht als notwendig erwiesen, die Rechte anderer einzuhalten, wenn sie durch den Rechtsbruch ihre eigenen Interessen garantieren können. Allerdings ist jeder Verstoß gegen die Rechte anderer eigentlich ein Verstoß gegen deren Freiheit – und das kann in unserem System der Freiheit selbstverständlich nicht zugelassen werden. Diese Rechtskollisionen, entweder unbeabsichtigt oder mit Absicht, fordern deswegen eine Veränderung in der Form des Willens. Der eigene Wille einer Person darf nicht mehr bloß

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willkürlich bestimmt werden, sondern muss so bestimmt werden, dass in seiner Bestimmung zugleich die Rechte anderer respektiert werden. Außerdem muss diese Bestimmung innerlich sein, d.  h. sie darf von keiner außenstehenden Autorität aufgezwungen werden. Diese neue und explizit gewordene Notwendigkeit impliziert nun eine moralische Konzeption der Freiheit, nach der wir frei sind, wenn wir unseren Willen autonom in Übereinstimmung mit den Rechten oder dem Gerechten bestimmen. Diese neue Form, die der kantischen Konzeption der Freiheit nahe steht, fungiert folglich als der neue begriffliche Rahmen für die Bestimmung der Rechtsverhältnisse. Im Moralitätskapitel wird das Individuum grundsätzlich als ein vernunftbegabtes Wesen angesehen, das der Reflexion fähig ist und mithilfe seiner Vernunft die Prinzipien seiner Handlungen bestimmen kann. Die mit dieser moralischen Konzeption der Freiheit zusammenhängende Rechtsbestimmung ist u. a. das „Recht der Absicht“, das besagt, dass das Subjekt für das verantwortlich ist, was in der „allgemeinen Natur“ der Handlung schon enthalten ist. Ein wesentlicher Punkt in diesem Kapitel ist der Paradigmenwechsel, der im Notrecht zustande kommt. Im Notrecht haben wir eine Aporie zwischen zwei Rechtsbestimmungen: zum einen dem Recht eines Subjekts auf Eigentum und zum anderen dem Recht eines anderen Subjektes auf Leben, auch wenn es dadurch gezwungen ist, sich am Eigentum des anderen zu vergreifen. Durch diese Kollision verschiedener Rechtsbestimmungen kommt Hegel zu dem Schluss, dass die Freiheit einen breiteren Horizont benötigt als die abstrakten Rechte der selbständigen Personen. Mit anderen Worten kann der Widerspruch bzw. die Rechtskollision im Notrecht nur dann aufgelöst werden, wenn das handelnde Subjekt nicht nur an seine eigenen Rechte und die Rechte anderer, sondern auch an das Gute anderer denkt. Aus diesem Grund ist das Gute anderer bzw. ein positives Verhältnis zu dem Guten anderer für Hegel eine notwendige Bedingung der Freiheit des Subjekts. Dahinter steht eine moralische Vorstellung von Freiheit, die als eine umfassendere Perspektive gleichzeitig die abstrakten Rechte in sich einschließt. Die Freiheit fordert nun Inhalte, mit denen das allgemein Gute geschützt wird.2

2 Das persönliche Gute ist nicht mehr, wie in negativen Freiheitstheorien, der letzte Bezugspunkt von Hegels Philosophie der Freiheit. Für ihn bedeutet Freiheit nicht, dass jeder für sich seine eigene Vorstellung vom Guten verwirklicht, sondern es gehe bei der Freiheit vielmehr um das Gute aller. Die Struktur von Hegels Argument der Notwendigkeit der positiven Freiheit ist immanent in dem Sinne, dass seiner Ansicht nach jede negative Theorie der Freiheit notwendigerweise, um haltbar und kohärent sein zu können, einen positiven Rahmen der Selbstbestimmung erfordert, wodurch er sich etwa von Taylor unterscheidet, für den die positive Freiheit nur dadurch zu rechtfertigen ist, dass durch sie unser Leben wertvoller

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Am Ende des Moralitätskapitels taucht jedoch erneut ein Widerspruch, in diesem Fall ein Widerspruch des moralischen Standpunkts auf, dessen Aufhebung den Übergang zur Sittlichkeit erforderlich macht. Dem kantischen Standpunkt dieser Position mangelt es an einer wichtigen Sache, und zwar an der Bestimmung der Inhalte des moralischen Willens oder der moralischen Pflichten. Genauer gesagt bleibt der kantische kategorische Imperativ eine reine Form und ist unfähig, bestimmte Inhalte zu erzeugen. Diese Formel ist nur dann in der Lage, moralische Pflichten zu bestimmen, wenn ihr Grundnormen zur Verfügung stehen, die als Grundlage der Pflichten bereits gegeben sind, wie etwa das Eigentum für das Depositum usw. Diese bestimmten Grundnormen, die keine beliebigen sind, sondern notwendig aus dem Begriff des freien Willens abgeleitet werden, sind für Hegel in einem wirklichen sittlichen Leben zu suchen. Die sittliche Freiheit hat für Hegel zwei Komponenten: subjektive und objektive Freiheit. Die subjektive Freiheit erfordert, dass die Ziele und Zwecke, welche aus der freien Selbstbestimmung der Subjekte resultieren, in Harmonie mit dem allgemeinen Guten stehen. Mit anderen Worten sollte das Subjekt sein für sich bestimmtes Gutes in Harmonie mit dem Guten aller bestimmen, was durch die Sitten oder Normen der Sittlichkeit möglich wird. Die objektive Freiheit erfordert, dass die allgemeinen Sitten, Normen, Pflichten und Institutionen der Sittlichkeit in einem objektiven Sinne die Verkörperung der subjektiven Freiheit aller sind und aus keiner bloß beliebigen und willkürlichen Quelle stammen. Hegel versucht in seiner Sittlichkeitstheorie zu erläutern, wie die Grundnormen der drei Hauptinstitutionen der modernen Gesellschaft seiner Zeit mit ihren Normen und Sitten diese Harmonie und Vermittlung zwischen der subjektiven und objektiven Freiheit ermöglichen. Erst hier wird uns ersichtlich, was der Doppelsatz für die Freiheit bedeutet: Der vernünftige Begriff der Freiheit bringt sich in den Grundnormen der sozialen Wirklichkeit zum Ausdruck, sodass für Hegel nur diejenigen Seiten der Wirklichkeit von Relevanz und Wert sind, welche zugleich die Verkörperung des vernünftigen Freiheitsbegriffs sind. Zusammengefasst beginnt Hegel seine Untersuchung der Freiheit in den Grundlinien mit einer negativen Konzeption, der gemäß jedem als Rechtsperson der notwendige Freiraum gesichert ist, um den eigenen Willen so zu bestimmen, wie er will. Im nächsten Schritt wird deutlich, dass Freiheit eine innere Selbstbestimmung im Rahmen der Moral erfordert, was aber nur in einem wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhang gelingen kann. Eine werde. Siehe Taylor, Charles, What’s Wrong with Negative Liberty, in: Miller, David (Hrsg.), The Liberty Reader, S. 141–162.

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negative Konzeption der Freiheit impliziert notwendig die positive Freiheit.3 Für Hegel ist also nur eine bestimmte Gruppe von Handlungen als frei zu bezeichnen und nicht, wie in negativen Freiheitstheorien, jede beliebige Handlung, die das Individuum selbst nach seiner eigenen Konzeption eines guten Lebens ausführt. In der Tat ergibt sich der negative Ansatz in der Form einer positiven sozialen Form von Freiheit, welche zeigt, dass Hegel beide Perspektiven von die Freiheit in seine Theorie integriert.4 Man kann Hegel vorwerfen, dass in seiner praktischen Philosophie kein Platz für Kritik bleibt, weil es in seiner Theorie keine allgemeinen Kriterien gibt, mit deren Hilfe die bestehenden Normen und Verhältnisse kritisiert werden können. Denn wenn Hegel selbst der Überzeugung ist, dass jedes Individuum „Sohn seiner Zeit“ ist, wie können wir dann überhaupt von unserer jetzigen Ordnung Abstand nehmen und sie aus einer allgemeinen Perspektive kritisieren? Oder inwiefern können wir die bestehende Sittlichkeit bewerten und kritisieren? Ein wesentlicher Punkt, den wir für die Beantwortung dieser Frage zu beachten haben, ist die Rolle der Wirklichkeit in Hegels Theorie der Freiheit. Die wirkliche soziale Welt hat für Hegel einen notwendigen ontologischen Status, wie er in seiner Logik zu zeigen versucht. Damit aber hängt auch jede Rede von Wahrheit oder Idee genau von der Wirklichkeit als der Objektivität des Begriffs ab. Jedes Ideal, das keine Wirklichkeit oder Existenz

3 Quentin Skinner ist der Auffassung, Berlin komme in seiner Analyse positiver Freiheitskonzeptionen am Ende zu folgender Definition dieser Theorien: Positive Freiheit „of human agents consists in their having managed most fully to become themselves. Freedom is thus equated not with self-mastery but rather with self-realisation, and above all with selfperfection, with the idea (as Berlin expresses it) of my self at its best. The positive concept is thus that, as Berlin finally summarises, ‚whatever is the true goal of man […] must be identical with his freedom‘.“ Laut dieser Definition, die Skinner den Neuhegelianern Bernard Bosanquet und T. H. Green zuweist, seien wir im positiven Sinne frei, wenn wir das verwirklichen, was zum Wesen des Menschen gehöre; z. B. bestehe laut der christlichen Lehre die Perfektion des menschlichen Lebens darin, es Gott zu widmen. Nur durch die Verwirklichung dieses Ideals seien wir im eigentlichen Sinne frei. Siehe Skinner, Quentin (2016): A Third Concept of Liberty in David Miller (Hrsg.), The Liberty Reader, S. 244–247. Hegels Theorie der Freiheit, die auch positive Elemente in sich integriert, kann allerdings nicht im Rahmen dieser Definition positiver Freiheitstheorien verstanden werden, denn Hegel beginnt seine Theorie nicht mit einem vermeintlichen Ideal, in dessen Verwirklichung unsere Freiheit bestehe. Er beginnt vielmehr mit einer grundlegenden Konzeption der Freiheit, und zwar mit einer negativen Idee der Freiheit im Abstrakten Recht, und versucht die Notwendigkeiten dieser Konzeption zu explizieren. Im Laufe seiner Analyse wird sich dann allerdings zeigen, dass diese negative Konzeption einen positiven Rahmen braucht, um vollständig zu werden. 4 Siehe Wellmer, Albrecht (1993): Freiheitsmodelle in der modernen Welt, in: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne: Essays und Vorträge, S. 15–53.

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hat, ist daher für Hegel nur eine Utopie. Wie aber kann diese ontologische Notwendigkeit dann noch Raum für einen kritischen Standpunkt bieten? Erstens war Hegels Unternehmen selbst eine implizite Kritik der wirklichen sozialen Welt seiner Zeit. Und es bestanden selbstverständlich verschiedene Verhältnisse und Normen zu seiner Zeit, welche in seiner Theorie keinen Ausdruck und auch keine Rechtfertigung finden. Zudem gab es manche von Hegel als vernünftig dargelegte Strukturen noch nicht, und Hegel hat deren implizite Form des Zustandekommens eingesehen. Wie Rosenkranz betont, herrschte in Preußen zu Hegels Zeit kein „konstitutioneller Staat“, keine „Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz“, kein „Anteil des Volkes an der Gesetzgebung,“ usw.,5 was zeigt, dass Hegel die Wirklichkeit seiner Zeit mit einem kritischen Blick betrachtete. Zweitens gab es auch für Hegel in seiner Rekonstruktion Phänomene, wie etwa Armut, die für ihn Defizite der modernen Gesellschaft darstellten, für die er aber keine Lösung gesehen hat. Drittens war Hegel der Auffassung, die Philosophie müsse in jeder Zeit zu einem neuen, ihr entsprechenden Ausdruck finden; deswegen hat er auch nicht beansprucht, die letztgültigen Wahrheiten der Welt schon erkannt zu haben. Es war ihm bewusst, dass er nur seine eigene Zeit in „Gedanken erfasst“ hat. Heute ist es nun unsere Aufgabe, über unsere soziale Welt im Rahmen der Logik des Sozialen in den Grundlinien neu zu reflektieren. Für Hegel gibt es selbstverständlich den „Begriff des freien Willens“ als allgemeinen normativen Maßstab der Bewertung und auch der Kritik, was jeden Relativismus ausschließt. Was für Hegel jedoch unmöglich scheint, ist eine „radikale Kritik“6, welche die Wirklichkeit fundamental verändern möchte, und ebenso eine konstruktivistische Position, die mit einer abstrakten Formel eine Theorie darüber aufstellen möchte, wie die soziale Welt sein sollte. Hegel ist tatsächlich kein Revolutionär, sondern in erster Linie daran interessiert, die Vernunft und Notwendigkeit bestimmter bestehender Verhältnisse für die Freiheit deutlich zu machen; er ist also vielmehr ein Reformist in Bezug auf das, was sich in seiner Analyse noch nicht als vernünftig erwiesen hat.

5 Rosenkranz, Karl (1870): Hegel als deutscher Nationalphilosoph, S. 152. 6 Siehe Neuhouser, Frederick (2008), Hegel’s Social Philosophy, in: The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy. Frederick Beiser (Hrsg.), S. 229. Ferner Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, S. 260 ff.

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