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German Pages 251 [254] Year 2020
Die Wirklichkeit der konkreten Freiheit G. W. F. Hegels Lehre vom Staat als ausgeführter Idee der Sittlichkeit
Herausgegeben von Michael Städtler
Staatsdiskurse | 37 Franz Steiner Verlag
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Wissenschaftlicher Beirat Andreas Anter, Erfurt Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Sebastian Huhnholz, Hannover Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London Band 37
Die Wirklichkeit der konkreten Freiheit G. W. F. Hegels Lehre vom Staat als ausgeführter Idee der Sittlichkeit Herausgegeben von Michael Städtler
Franz Steiner Verlag
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EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALT Michael Städtler Die Wirklichkeit der konkreten Freiheit? Zur Einleitung ......................................................................................................... 9 I. ZUR EINORDNUNG
Matteo Cavalleri Concept, Truth, Freedom. Logical-systematic traits of the Grundlinien der Philosophie des Rechts ............. 35 Holger Glinka Zur Genealogie von Hegels Begriff des Staates.................................................... 57 Frank Kuhne Vom „Staat in der Idee“ zur Idee des Staates. Kant, Fichte, Hegel ...................... 95 II. DER STAAT IN DEN GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS Michael Löbig Wille, Eigentum und Staat. Aspekte des abstrakten Rechts ............................................................................ 117 Dimitris Karydas Allgemeines – Besonderes – Einzelnes. Zur schlussförmigen Darstellung und zum gesellschaftlichen Gehalt der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie ........................................... 131 Michael Städtler Zum Verhältnis von Staat, Religion und Gesellschaft in Hegels Rechtsphilosophie ................................................................................... 159 Andrew Buchwalter Hegels Institutionenlehre. Politik, Sittlichkeit und die Philosophie des Geistes ........................................... 181
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Inhaltsverzeichnis
Mirko Wischke Gekränktes Wohl und seine Gewaltbereitschaft ................................................. 203 Johannes Rohbeck Recht und Geschichte. Zur Bedeutung der Geschichtsphilosophie in Hegels Philosophie des Rechts ... 213
III. AUSBLICK Georgios Sagriotis Hegels Rechtsphilosophie im Visier der Kritik: Gans, Marx und Adorno ...................................................................................... 231
Zu den Autoren.................................................................................................... 249
DIE WIRKLICHKEIT DER KONKRETEN FREIHEIT? ZUR EINLEITUNG Michael Städtler Ist Hegels Staat die Wirklichkeit der konkreten Freiheit? Um eine Antwort auf diese Frage zu ermöglichen, ist es unumgänglich, Hegels Begriff des Staates als sittliche Idee zu erörtern; das bedeutet aber, ihn als Einheit des Begriffs der Sittlichkeit – seiner unvermittelten Momente Familie und Gesellschaft – mit ihrer Wirklichkeit und deren gegenständlichen Bedingungen, in seinen philosophischen Zusammenhängen zu erörtern. Als Mittelpunkt dafür eignet sich Hegels am weitesten ausgeführte Staatslehre am Ende der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Staat gilt hier insofern als konkrete Freiheit, als er die in der modernen Welt, die Hegel grob gegen die Antike abgrenzt, hervor- und auseinandergetretenen individuellen Interessen mit dem Allgemeinen einer sittlichen Ordnung vermittelt, d.h. beides bewahrt und aufeinander bezieht und dadurch Freiheit überhaupt erst verwirklicht; weder im bloßen Kampf besonderer Interessen, noch in der Allgemeinheit einer selbstverständlichen Ordnung, in der Individualität gar nicht bewusst wird, gibt es Freiheit. Dieser Gedanke konkreter Allgemeinheit ist die geniale Antwort auf das naturrechtliche und vertragstheoretische Staatsverständnis, demzufolge das Allgemeine schließlich immer einer als individuell gedachten Freiheit beschränkend gegenübertritt.1 Allerdings ist dies konkrete Allgemeine von Kants Konzept praktischer Vernunft gar nicht fundamental unterschieden, denn mit der moralischen Reflexion auf die sittliche Möglichkeit der eigenen Maximen wird nicht bloß das rein subjektive Gewissen angerufen, sondern der Einzelne vermittelt seinen besonderen Willen mit der Idee eines allgemeinen Willens. Besonders deutlich wird das in Kants Formulierung vom Reich der Zwecke, in dem alle besonderen Zwecke miteinander systematisch und deshalb kollisionsfrei koordinierbar sein sollen. Freilich kommt es Kant nicht in den Sinn, dies im Rahmen einer konkreten Sozialphilosophie auszuführen; es bleibt formell. Der größere Unterschied ist jedoch, dass für Kant mit der freien Willensbestimmung ein Sollen verbunden ist, für Hegel jedoch eine Wirklichkeit. Freiheit ist für ihn nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit bestimmbar, sondern nur im Rahmen einer Wirklichkeit, die schon geschichtlich verwirklichte Freiheit ist; nicht als Ausdruck reiner praktischer Vernunft des Einzelnen, sondern als geschichtlich gewordene wirkliche Allgemeinheit der Einzelnen in einer Gesellschaft. 1
Zum nichtinstrumentellen Charakter des Staates bei Hegel vgl. Siep 2010b, 41. Zur Abgrenzung Hegels gegenüber dem Naturrecht vgl. Jaeschke 2003, 365f. Brooks 2017, 457ff. plädiert dafür, Hegel als Naturrechtstheoretiker zu lesen, aber im Unterschied zur Tradition des Externalismus (Beurteilung des Rechts nach äußeren Maßstäben) als Internalismus (Beurteilung des Rechts nach immanenten Maßstäben).
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Die entscheidende Frage ist nun, ob Hegels Begriff konkreter Allgemeinheit auf die geschichtliche Realität von Familie, Gesellschaft und Staat tatsächlich zutreffe; es muss sogar gefragt werden, ob auf diese Realitäten Hegels Begriff des abstrakten Allgemeinen, der noch nicht voll entfalteten Freiheit, zutreffe. Das abstrakte Allgemeine ist nämlich logisch ein Derivat des konkreten Allgemeinen, es ist dessen privative Negation. Beide hängen derart zusammen, dass die Notwendigkeit, die das konkrete Allgemeine beansprucht, aus der Mangelhaftigkeit des abstrakten begründet wird: Freiheit, die in Moralität, Familie und Gesellschaft nur defizitär verwirklicht ist, kann nur in der konkreten Allgemeinheit des Staates wirklich sein; und dies ist nicht als Sollen gemeint. Damit folgt das Verhältnis von abstrakter und konkreter Freiheit dem Modell des ontologischen Gottesbeweises, der aus der privativen Negation eines Gottesbegriffs ohne Existenz, den vollständigen Begriff des notwendig existierenden Gottes begründet; hiervon wird noch die Rede sein. – Weil der Begriff der Wirklichkeit der Freiheit, sein Verhältnis zu Notwendigkeit und Zufälligkeit sich somit als grundlegend für Hegels Rechtsbegriff erweist, soll der Schwerpunkt dieser Vorrede auf diesen logischen Problemen liegen, nachdem einige Bemerkungen zur Einordnung der Staatslehre im Allgemeinen vorangeschickt sein werden. 1. HEGELS STAATSLEHRE IM KONTEXT Insofern er den Endpunkt der rechtsphilosophischen Argumentation darstellt, ist der Staat als Resultat der Entwicklung der vorhergehenden Bestimmungen zu begreifen. Hegel beginnt in der Einleitung mit dem Begriff der Freiheit und geht über zu deren objektiven Bedingungen, den allgemeinen privatrechtlichen Bestimmungen im ‚abstrakten Recht‘. Anschließend erörtert er die subjektiven Grundlagen von Recht, womit die Begriffe der ‚Moralität‘ gemeint sind. Schließlich werden unter dem Titel ‚Sittlichkeit‘ kollektive Beziehungen von Menschen bestimmt, von der Familie über die Gesellschaft bis zum Staat, einschließlich der Staatenverhältnisse.2 Nachdem Kant zwischen Ethik und Recht aufgrund der unterschiedlichen Verpflichtungsformen – durch äußeren oder durch inneren Zwang – unterschieden hatte, fasst Hegel noch einmal, wie das frühere Naturrecht, alle Disziplinen der praktischen Philosophie in eine Einheit zusammen. So heißen die Grundlinien auch Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Schon innerhalb der Rechtsphilosophie selbst kommt den einzelnen Teilen deshalb keineswegs eine unabhängige Selbstständigkeit zu, als ob das abstrakte Recht die Regeln des Verkehrs auf dem Markt setze, der Familienabschnitt die Normen der Familie, die bürgerliche Gesellschaft soziale Normen und der Staatsabschnitt eben politisches Recht.3 Das Verhältnis ist komplizierter: Zwar ist jede Stufe „ein eigenthümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Daseyn der Freyheit ist“4, aber zugleich haben 2 3 4
Für einen präzisen Überblick über die Grundlinien vgl. Jaeschke 2003, 373–400. Vgl. Honneth 2015, 125. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 30 Anm.
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die höheren, konkreteren Stufen gegenüber den abstrakteren auch das höhere Recht, sie zu beschränken.5 Zudem ist die dialektische Entwicklung der Stufen nicht als historische Entwicklung zu sehen: Als selbstständige Gestalten können die abstrakteren Stufen erst im Rahmen konkreter Sittlichkeit fungieren.6 Zum Beispiel gibt es im abstrakten Recht selbst keinerlei Institutionen, die seine Wirklichkeit verbürgen könnten; die Rechtspflege fällt erst in die bürgerliche Gesellschaft.7 Im vollendeten Sinn von Recht zu reden ist erst im Staat möglich. Des Weiteren ist die praktische Philosophie als Ganzes in Hegels philosophischem System Bestandteil der Philosophie des Geistes, deren zentrale Themen Selbstbewusstsein und Freiheit sind, im Unterschied zur Philosophie der Natur, die sich auf unmittelbar naturgesetzlich notwendige Zusammenhänge bezieht, die nur an sich, in der unentwickelten Anlage, geistig sind. Innerhalb der Philosophie des Geistes ist Recht als objektiver Geist bestimmt, als die Sphäre, in der Subjektivität sich selbst ein äußeres Dasein gibt, gedachte Ordnungen objektiv setzt. Der objektive Geist geht direkt aus dem Praktischwerden des Denkens, aus dem Übergang theoretischer zu praktischer Erfassung der Welt hervor und entwickelt sich bis zum Staat, in dem die Freiheit zum selbstbewussten Prinzip der geistigen Wirklichkeit entwickelt sei. Aber der Staat ist noch immer ein einzelner, eine partikulare Verwirklichung des Geistes, weshalb die Beziehung der Staaten in der Weltgeschichte von ihrem immanenten Prinzip, dem Geist, über die Partikularität und Endlichkeit des objektiven Geistes hinausgetrieben wird zum absoluten Geist: „Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besondern Volksgeister abstreift, erfaßt seine concrete Allgemeinheit, und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit“8.
Diese geistige Allgemeinheit des absoluten Geistes stellt sich dar in den Stufen der Kunst (in der das Geistige äußerlich dargestellt wird), der Religion (in der schon ein gedachter, aber noch mit bildlicher Vorstellung verknüpfter Inhalt das Geistige darstellt) und der Philosophie (in der schließlich der Begriff sich denkend in begrifflicher Form entfaltet). Die konsequente Selbstdarstellung des Begriffs bloß im Medium von Begriffen formuliert Hegel in der Wissenschaft der Logik, die keine formale Logik ist, sondern eine Verbindung logischer und ontologischer Momente im klassischen Sinne von Metaphysik als Wissenschaft der Wissenschaften und des Wissens beabsichtigt. In der Wissenschaft der Logik sind alle Begriffe der wissenschaftstheoretischen Reflexion – vom Sein über Qualität und Quantität, Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit, Begriff, Urteil und Schluss, Objektivität und Idee, bis hin zum Absoluten – in ihrem Verhältnis zueinander und dem Anspruch nach allein aus ihren immanenten Bestimmungen entwickelt. Mit dieser ontologischen Logik beansprucht Hegel, die allgemeinen Formbestimmungen aller Gegenstandsbereiche und von deren Verhältnissen zueinander anzugeben. Selbstverständlich beruht auch in der 5 6 7 8
Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 30. Vgl. ebd., § 32. Vgl. Siep 2017, 197–218, 204. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552.
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Rechtsphilosophie „das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste“9. Damit ist nicht bloß gemeint, dass es in der Rechtslehre nicht unlogisch zugehe, sondern viel mehr, dass das Recht ein systematisch bestimmter und bestimmbarer Bestandteil der vernünftig strukturierten Wirklichkeit als eines Ganzen ist. Unterhalb dieses Anspruchs ist Hegels Rechtslehre weder angemessen zu begreifen noch auch angemessen zu kritisieren. 2. AKTUALISIERUNG ODER SYSTEMATISCHE KRITISCHE REZEPTION? Dem systematischen Anspruch Hegels zum Trotz ist es heute üblich geworden, seine Rechtsphilosophie zu ‚aktualisieren‘, indem einzelne Teile aus ihr herausgelöst werden und entweder als Glanzlichter zu neuen Theorien verarbeitet oder als veraltet eliminiert werden. In der ersten Manier ist z.B. Hegels Begriff der Arbeit als allgemeine Handlungstheorie missverstanden worden,10 oder ein Begriff der Anerkennung als ‚moralische Grammatik sozialer Konflikte‘ an Hegel angelehnt worden.11 Neuestens sind Hegels Begriff der Sittlichkeit und näher sein Konzept der Korporation als Grundlagen aktueller Sozialkritik erörtert worden.12 Auf der anderen Seite ist beispielsweise bemerkt worden, dass Hegels Staatslehre zwar modern sei, dass aber ihre Aktualität von historischen Grenzen und nicht mehr akzeptablen Prämissen befreit werden könne und müsse.13 Beide Aktualisierungsweisen verursachen Probleme, weil sie die systematische Form von Hegels Denken ignorieren. Das Hervorheben einzelner Lehrstücke reißt diese aus dem Zusammenhang, den Hegel für ihr Begreifen für notwendig erachtet hat. Das bedeutet aber, dass diese Lehrstücke von Hegel so konstruiert sind, dass in sie alle rechtlichen, sittlichen, geistphilosophischen und logischen Voraussetzungen des systematischen Ortes, an dem diese Stücke jeweils stehen, bestimmend einfließen: Ihr Begriff ist implizit mit diesen Voraussetzungen gesättigt. Wer einzelne Stücke davon isoliert, läuft Gefahr, die Voraussetzungen, die er nicht will, unbemerkt und unreflektiert sich einzuhandeln. 9 10 11
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Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 6. Vgl. Vieweg 2012, 26. Eine weniger enge Anbindung der realphilosophischen Abhandlungen und Vorlesungen an die Logik sieht Jaeschke 2003, 274. Vgl. Quante 1993. Vgl. Honneth 2010. Der Begriff der Anerkennung gehört bei Hegel nicht in die Rechtsphilosophie, sondern geht dieser voraus, und zwar näher als ein Verhältnis des Anerkennens, das mit der geschichtlichen Herstellung von Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen verbunden ist (vgl. Hegel, Realphilosophie, 213–217 und Hegel, Phänomenologie, GW 9, 109–116). Diese Verhältnisse sind Hegel zufolge im Recht bereits zur zweiten Natur geworden, Anerkennungskämpfe finden hier nicht mehr statt. Das Recht hat es Hegel zufolge nicht mit der Organisation von Anerkennung zu tun, sondern ist eine Form von Anerkanntsein. Vgl. zur Sittlichkeit Spieker / Schwenzfeuer / Zabel (Hg.) 2019, zur Korporation Ellmers / Herrmann (Hg.) 2017. Vgl. Siep 2010a.
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Das Entfernen ‚überholter‘ Stellen hingegen erweckt den Eindruck einer davon unabhängig gültigen Theorie. Für Hegel hat aber jedes Element der Rechtslehre dort, wo es steht, seinen systematischen Ort. Wer Brüche oder Widersprüche aus der Rechtslehre entfernt, um daraus eine akzeptable Theorie zu gewinnen, verdeckt damit, dass Hegels Rechtslehre an diesen Stellen aus eigener innerer Dynamik auf Brüche und Widersprüche führt. Damit wird auch die Erkenntnis möglicher Probleme des Ganzen verhindert. Anders gesagt: Das Problem, das es zu verstehen gilt, ist nicht, dass zum Beispiel Hegels Begriff des Monarchen obsolet ist und deshalb vielleicht zu anderen Begriffen schief steht; sondern es gilt zu verstehen, warum Hegel sich aus der inneren Systematik der Rechtslehre heraus veranlasst findet, eine solche Institution vorzusehen. Beide Aktualisierungsweisen sind auf aktuell anwendbare Teile der Rechtsphilosophie konzentriert. Erkenntnistheoretisch liegt dem häufig die Überzeugung zu Grunde, dass Hegels systemphilosophische Einbettung der Rechtsphilosophie für die heutige, nachmetaphysische, Philosophie ‚zu anspruchsvoll‘ sei.14 Abgesehen von dem, was Hegel dazu gesagt hätte – „Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten“15 – ist Hegels Philosophie, und das heißt, jeder Satz derselben, unterhalb dieses Anspruchs nicht zu bekommen.16 Kritik ist allemal nötig; aber sie kann ihre Stärke nur aus dem System ziehen, das sie kritisiert. Wird es stattdessen ignoriert, entstehen alltagstaugliche Lehrstücke, die Hegel nur mehr als Autorität im Namen führen. Die durchaus notwendige kritische Rezeption der Hegelschen Rechtslehre muss diese als avancierte Gestalt klassischer bürgerlicher Rechtsphilosophie, als entwickeltes theoretisches Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen auffassen – und aus den Brüchen im System dieses Selbstbewusstseins lernen. Mit Aristoteles sind Fehler in der Darstellung als Hinweise auf Probleme in der Sache zu deuten,17 nicht als zu eliminierendes Versagen des Autors. Wer aber die Brüche im Ganzen, die offenen Stellen erkennen und untersuchen will, muss das Ganze als Ganzes ernst nehmen. In dieser Absicht wird Hegels Staatslehre im vorliegenden Sammelband – soweit das im verfügbaren Rahmen möglich ist – in ihre Zusammenhänge gestellt. Am Anfang stehen theoriegeschichtliche sowie werk- und entwicklungsgeschichtliche Einordnungen und das Verhältnis zur Logik. Anschließend wird die Bedeutung des abstrakten Rechts und der Sittlichkeit für das Staatskapitel beleuchtet, bevor die einzelnen Aspekte des Staates selbst zur Diskussion kommen. Ein Ausblick auf diejenige Kritik an Hegel, 14 Vgl. z.B. Honneth 2013, 107. Honneth schlägt vor, Hegels Rechtslehre ohne Rücksicht auf „Geistmetaphysik“ zu interpretieren, oder gar „als eine Art von Steinbruch glänzender Einzelideen zu behandeln“ (vgl. Honneth 2001, 12). Vgl. auch Neuhouser 2000, 4 und Wood 1990, 5. 15 Hegel, Geschichte der Philosophie I, TWA 18, 13. 16 So auch Vieweg 2012, 33. Neuerdings wird die Verbindung von Rechtsphilosophie und Logik bei Hegel zunehmend wahrgenommen und bearbeitet. Vgl. vor allem Brooks / Stein (Hg.) 2017, 1ff. Der Sammelband befasst sich insgesamt ausschließlich mit logischen oder methodischen Fragen der praktischen Philosophie Hegels. 17 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, III, 995a.
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die sich nicht abstrakt von Hegel abstößt, sondern privativ an ihn anschließt, bildet den Schluss der Sammlung.
3. DER WISSENSCHAFTSBEGRIFF IN HEGELS VORREDE Hegel selbst hat seinen systematischen Begriff davon, was eine Rechtsphilosophie leisten muss, in seiner viel kommentierten und heftig kritisierten Vorrede offengelegt. Abseits von aller Polemik, die er gegen den aufkommenden Historismus im Recht ebenso wie gegen den etablierten Subjektivismus der Meinungen und des Gefühls entfaltet,18 abseits auch von der Frage, wie „peinlich“ Hegel sich damit in der politischen Landschaft seiner Zeit positioniert,19 geht es theoretisch um die Frage, was sich auf dem Gebiet der Praxis, der politischen und rechtlichen Praxis zumal, überhaupt wissen lasse, welche Erkenntnis- und Geltungsansprüche eine Rechtsphilosophie mit Gründen erheben kann und welche Gründe dies sind. Dabei steht schon in der Vorrede der Staat im Mittelpunkt. Im Klima tiefgreifender politischer Veränderung seit der Französischen Revolution ist das Verhältnis der Rechtsphilosophie zum Staat problematisch geworden: Ist die politische Philosophie Staatslegitimation, Staatskritik oder gar Staatsentwurf? Hegels Haltung scheint klar zu sein: „So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anders seyn, als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon seyn, einen Staat, wie er sein soll, construiren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er seyn soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll.“20
Mit dieser Haltung geht es Hegel aber zunächst nicht darum, das Bestehende um jeden Preis zu verteidigen; für ihn stellt sich vielmehr ein theoretisches Problem, wenn die Staatsphilosophie auf die bloße Aktualität eines „jetzige[n] Ausdenken[s] und Ergründen[s] und Begründen[s]“21 reduziert wird: „Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sey und das Wissen […] ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseyns verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der That in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne. Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkühr preisgegeben, es soll Gottverlassen seyn, so daß nach diesem Atheismus der
18 Zu Hegels Abgrenzung gegenüber Historismus und Subjektivismus sowie zu seiner Einordnung in die klassische deutsche Rechtsphilosophie und die zeitgenössische Rechtsdiskussion vgl. Jaeschke 2003, 365–369 und Siep 2010b. Zu historischen Hintergründen der Entwicklung von Hegels Rechtsdenken vgl. auch Pöggeler 1983, IX–XLVIII und Westphal 1999, 234–240. 19 Vgl. Siep 2010b, 25. 20 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 15. 21 Ebd., 8.
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sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde, und zugleich, weil doch auch Vernunft darin seyn soll, das Wahre nur ein Problema sey.“22
Ähnlich hatte bereits Kant in Bezug auf die Geschichte argumentiert, dass es irritierend sei, wenn in diesem Gebiet alles bloß der Willkür und dem Zufall überlassen bleibe.23 Der Versuch, eine vernünftige Struktur in der Geschichte zu entdecken, war schon bei Kant mit der Teleologie einer verborgen wirkenden ‚Naturabsicht‘ erkauft, die man nicht behaupten könne, sich aber denken können müsse. Für Hegel ist der Skandal ungleich größer, denn Staat, Recht und Politik sind seinem Verständnis nach im Unterschied zur unmittelbaren, nicht selbstbewussten Gesetzmäßigkeit der Natur Ausdruck selbstbewusster Vernunft: In der Geschichte realisiert sich – bei allen Zufällen – immer auch Vernunft. Deshalb enthält der moderne Staat als Resultat von Geschichte auch verwirklichte Vernunft, und deshalb ist in ihm philosophisch die politische Wahrheit erkennbar. Hegel wirft der Rechtsphilosophie seiner Zeit vor, dass sie diese rationale Voraussetzung für philosophische Erkenntnis im Gebiet des Praktischen überhaupt unterlaufe, wenn sie stets neue Staatsentwürfe aus eines jeden „Herzen, Gemüth und Begeisterung aufsteigen lasse“24 und so tue, „als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen, noch gegenwärtig vorhanden sey“25. Hegel polemisiert hier gegen die philosophische Preisgabe des Wahrheitsanspruchs, insbesondere in der praktischen Philosophie. Wahrheit gibt es nur im Verhältnis des Denkens zu einem durch eine wenigstens an sich rationale Form bestimmten Gegenstand. Deshalb sei es Aufgabe der Staatsphilosophie, die Rationalität des Staatsbegriffs aus den gegebenen Staaten herauszuarbeiten. Wenn Hegel freilich gegen den Subjektivismus geltend macht, dass, wenn man dem Volk die Beurteilung der Politik überlasse, man Gefühl und Frömmigkeit zum Maßstab erhebe,26 so wird damit rhetorisch zweierlei erschlichen: Erstens wird unterstellt, das Volk sei notwendigerweise auf Gefühl und Frömmigkeit beschränkt, so als könnte es nicht eine Aufgabe sein, durch Bildung diese Beschränkung aufzuheben. Zweitens muss die gegenüber diesem Gefühl aktuell herrschende Rationalität ja auch nicht zwingend die Wahrheit sein. Zwar argumentiert Hegel hier zugunsten des wissenschaftlichen Prinzips der Allgemeinheit gegenüber der Partikularität, aber er bildet es zugleich zugunsten der bestehenden Verhältnisse auf die Wirklichkeit ab. So zeigt er, wenngleich es ihm um die Erkennbarkeit im Praktischen geht, doch auch politisches Verständnis dafür, dass „die Regierungen auf solches [nämlich staatskritisches; M.St.] Philosophiren endlich die Aufmerksamkeit gerichtet haben“27, d.h. die Autoren dienstrechtlich verfolgen, bei denen es sich ja um Gelehrte „im Staatsdienste“28 handele. Aber auch bei dieser und ähnlichen Stellen, die Hegel den Ruf des preußischen Staatsphilosophen einbrach 22 23 24 25 26 27 28
Ebd. Vgl. Kant, IaG, 17f. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 9. Ebd. 8. Vgl. ebd. 9f. Ebd. 11. Ebd.
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ten,29 ist zu beachten, dass eine ähnliche Auffassung auch von Kant vertreten worden ist. Gerade in seiner Aufklärungsschrift unterscheidet Kant den öffentlichen vom privaten Vernunftgebrauch insofern, als ein Staatsdiener im Amt zu gehorchen habe. Ein Beamter darf sich als Gelehrter öffentlich kritisch über das Militär äußern, in Ausübung seines Dienstes muss er seine Erkenntnis den Dienstanweisungen unterordnen. Bei Hochschullehrern kommt es hier leicht zu Kollisionen. Dennoch ist das Problem, wie in der praktischen Philosophie von Wahrheit, von notwendig allgemein gültigem Wissen zu reden sei, nicht zu unterschätzen. Es ist damit die Frage verbunden, wie dieses Wissen ein fundamentum in re haben kann, wenn der Gegenstand, der Staat, ein historischer ist, der im Unterschied zur Natur Veränderungen unterliegt. Für Hegel sind freilich umgekehrt die historischen Gegenstände in besonderer Weise mit Vernunft aufgeladen und deshalb vernünftig erkennbar. Dafür aber muss in der Geschichte eine Rationalität angenommen werden, Geschichte muss Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit sein, wenn Recht und Staat Gestaltungen der Freiheit sind. Für Hegel geht es darum, die Rationalität der Freiheit im geschichtlich gewordenen Staat und Recht zu erkennen und deren logische Form herauszuarbeiten. Diese Voraussetzung lässt keinen Raum für die Frage, wie es darzustellen wäre, wenn der historisch gewordene Staat die Freiheit nicht angemessen zur Wirklichkeit bringt, sondern durch seine besondere Gestaltung von Freiheit die adäquate Wirklichkeit von Freiheit gerade verhindert, also eine zwar konsequente, aber in sich verkehrte Rationalität realisiert. Das Problem vertieft sich dadurch, dass keine Rechtsphilosophie die Rationalität der Freiheit rein logisch darstellen kann, sondern – wo sie nicht Utopie der bloß produktiven Einbildungskraft ist – diese stets am gegebenen historischen Material entfalten muss. Gerade dessen ist sich Hegel bewusst. Sein Ziel ist es, die Kontinuität der Rationalität der Freiheit über die im Material liegenden Brüche hinweg durch Vermittlung herzustellen. Eine fundamentale Kritik an Erscheinungen, die nicht von der Form der Freiheit durchdrungen sind, ist der methodischen Voraussetzung nach nicht mehr möglich, denn sie würde die Kontinuität der Vernunft in der geschichtlichen Genese des Gegenstands Recht und Staat in Frage stellen, was Hegel in der Vorrede scharf zurückweist, denn es zerfiele damit die von ihm methodisch geforderte Einheit von Form und Inhalt:30 Vernunft kann nur Vernünftiges erkennen, und ein Denken, dass das von ihm
29 So zuerst Haym 1962; des Weiteren vgl. Riedel 1982. Die These, dass Hegel aus Angst vor der Zensur ‚reaktionär‘ formuliert habe, ist längst obsolet. Vgl. Lucas / Rameil 1980. 30 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 5f., 16. Zu dieser Problematik vgl. Jaeschke 2003, 372f.: Wenn die Eigendynamik der Gesellschaft sich gegen die innere Logik der Freiheit verselbständige, schlügen sittliche Normen in eine ‚Normativität des Faktischen‘ um. Hegel oszilliere daher zwischen Normativität und Deskription, weil er an der Einheit festhalten wolle. – Ganz anders akzeptiert Herzog 2017, 222, die Verselbständigung von Märkten, deren Existenz sie für eine anthropologische Notwendigkeit der „Suche nach Anerkennung“ hält. Wenn Märkte sich von der Politik emanzipierten, sei das nur mehr ein ethisches Problem. Für Hegel war es immerhin ein sittliches.
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Erkannte als „ein Eitles“31 behauptet, ist selbst bloß eitel, d.h. unselbständig und vergänglich. Zwar ist Hegel bereit, Geschichte als ambivalente Entwicklung entgegengesetzter Momente zu denken, aber nur um den Preis von deren Einordnung in eine dialektische Vermittlungsbewegung, die am Ende ein verbindliches Resultat hervorbringt, in dem alle Gegensätze nicht getilgt, aber vermittelt sind. Ein Resultat hingegen, in dem Unvermittelbares bewahrt und das in sich zerrissen, angespannt und darum auch als Ganzes unwahr wäre, kann in dieser Dialektik nicht zustande kommen, ohne aus sich selbst heraus alsbald unterzugehen. Die eher beiläufigen Mängel, die in Hegels Konzept immerhin möglich sind, können nicht dargestellt werden, weil die Philosophie die innere Vernunft ihrer Gegenstände entwickelt. „Die unendlich mannichfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Aeußerlichkeit, durch das Scheinen des Wesens in sie, bilden, dieses unendliche Material und seine Regulirung, ist nicht Gegenstand der Philosophie. Sie mischte sich damit in Dinge, die sie nicht angehen; guten Rath darüber zu erteilen, kann sie sich ersparen“32.
Damit ist zunächst oberflächliche Kritik, die nur am Schein, nicht an der Sache selbst etwas ändern will, ausgeschlossen. Ob und inwiefern Kritik überhaupt möglich bleibt, ist noch offen. Die Entstehung einer kritischen Rechtsphilosophie ist extrem behindert dadurch, dass Rechtsphilosophie und politische Philosophie in der Neuzeit ganz überwiegend als formelle Disziplinen verstanden werden, in denen nach der gerechten oder vernünftigen Form politischer Herrschaft gefragt wird. Die Gesellschaft wird dabei zwar als Sphäre einbezogen, in der materielle Voraussetzungen politischen Lebens geschaffen werden, aber die Organisation der Gesellschaft fällt mit der politischen Form zusammen. In der Folge beschränkt sich das Reden über Politik und Recht bis heute auf institutionelle Fragen der Gesetzgebung, der Administration und der Rechtsprechung. Gerade Hegel war der erste, der die besondere Bedeutung der Gesellschaft für den Staat erkannte, aber er stellt beide bewusst so einander gegenüber, dass es entweder zu einer Vermittlung beider oder zu einer Überformung der Gesellschaft durch den Staat kommt. In der Entscheidung der bürgerlichen Rechtsphilosophie, vom Eigentum auszugehen, ist diese Entwicklung schon angelegt. Das privatrechtliche Eigentum bildet als notwendiges Institut bürgerlichen Rechts den Anfang eines Systems der rechtlichen und politischen Eigentumssicherung. Hegels Betonung der Gesellschaft ermöglicht zwar im Unterschied zu Kant eine institutionelle Überformung des vereinzelten Privateigentums durch soziale Interessenvertretungen, aber das Eigentumsprinzip wird nicht als solches revidiert. Mit dem Privateigentum ist aber die Gesellschaftsform vereinzelter Privatproduzenten gesetzt und mit ihr die Konkurrenz um Profite auf der Basis der Ausbeutung von Lohnarbeit.33 Wo es schon früh Versuche kritischer Rechtsphilosophie gegeben hat, wurde die historisch gegebene Eigentumsverteilung 31 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 14. 32 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 14f. 33 Vgl. James 2017, 12.
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wenigstens am Rande in Frage gestellt.34 Gleichwohl blieben diese Versuche ohne eine adäquate Theorie der modernen, kapitalistischen, Gesellschaft in sich widersprüchlich. Ausreichende theoretische Voraussetzungen einer Rechtskritik finden sich deshalb erst bei Marx.35
4. „WAS VERNÜNFTIG IST, DAS IST WIRKLICH; UND WAS WIRKLICH IST, DAS IST VERNÜNFTIG.“ Dieser Satz aus Hegels Vorrede zu den Grundlinien steht geradezu symbolisch für den Vorwurf, es handele sich um eine staatsapologetische, ja sogar den zeitgenössischen preußischen Staat legitimierende Rechtslehre. Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, und zwar zunächst von Hegel selbst, dass der Begriff der Wirklichkeit nicht die Gesamtheit der Erscheinungen bezeichne.36 Verwiesen wird dabei auf die Wissenschaft der Logik, vor allem das Kapitel über Die Wirklichkeit. Es lohnt sich, hier einige Überlegungen zum Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in den Grundlinien und daran anschließend zur Lehre von der Modalität in der Wissenschaft der Logik zu formulieren, weil dies selten über bloße Verweise hinaus geschieht, obwohl es für das Verständnis von Hegels praktischer Philosophie vorausgesetzt ist. Hegel betont in der Enzyklopädie, er habe nicht sagen wollen, dass jede Erscheinung, die existiere, vernünftig sei, schon weil sie existiere. Der Gegenstandsbereich des Begriffs der Wirklichkeit sei enger als die Erscheinungswelt. Wirklich ist demnach nur dasjenige in der Erscheinungswelt, in dem die Vernunft zur 34 Vgl. z.B. Rousseau 1977, I.9 Fn. 35 Wenn bei Hegel kritisches Potential darin gesehen wird (vgl. für viele Neuhouser 2008, 227), dass der Begriff wirklichen Rechts nicht der des empirisch existierenden sei und darum ein normativer Maßstab, wird – unabhängig davon, ob die Grundlinien dies so hergeben – regelmäßig übersehen, dass für eine triftige Kritik nicht allein die Differenz eines positiven Zustandes und eines normativen Ideals genügt, sondern dass in dem normativen Ideal eine adäquate theoretische Durchdringung des positiven Zustandes vorausgesetzt werden muss. Insofern bleiben Hegels Gesellschafts- und Staatsbegriff als kritische Maßstäbe zumindest halb blind. – Ein ähnliches Problem besteht bei James 2017, der Hegels Rechtsbegriff als Kriterium dafür versteht, alles, was nicht zur Selbstverwirklichung der Freiheit taugt, als Recht zu disqualifizieren (3). In der empirischen Realität sind aber die Erscheinungen nicht eindeutig zu differenzieren. So ist in der Privatautonomie des bürgerlichen Rechts (der individuellen Freiheit, Verträge zu schließen), gegenüber den persönlichen Bindungen des Lehnrechts zweifellos Freiheit verwirklicht, und doch ist zugleich ein individuell unkontrollierbarer Sachzwang gesetzt, tatsächlich Verträge zu schließen, auch einseitig ungünstige, wie Arbeitsverträge zu Minimalbedingungen bei Konkurrenz der Arbeitskräfte. Die Freiheit, die in der individuellen Macht, Vereinbarungen für sich selbst zu treffen, durchaus schon liegt, ist mit Unfreiheit vermengt und kann nicht durch eine Rechtskritik, sondern nur durch eine grundsätzliche Gesellschaftsveränderung freigesetzt werden: Fiele der Zweck, durch Ausbeutung Profit zu erzeugen, so fiele auch die freiheitsbeschränkende Seite des freien Vereinbarens weg. 36 Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 6 Anm. Vgl. statt vieler für die Rezeption Vieweg 2012, 24f.
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Wirkung komme.37 Damit wird aber der Begriff der Wirklichkeit von vornherein durch die Vernunft bestimmt: Wirklichkeit ist dann derjenige Teil der Erscheinungen, in denen Vernunft wirkt. Zu sagen, das Wirkliche sei vernünftig und umgekehrt, scheint so zunächst eine Tautologie zu sein. Der Inhalt der Begriffe ‚wirklich‘ und ‚vernünftig‘ ist derselbe, der Begriff des Wirklichen betont lediglich, dass der logische Inhalt der Vernunft eine Dimension realer Wirkung entfaltet. Das eigentlich Interessante liegt nun darin, dass die Identifizierung des Inhalts von Wirklichkeit mit dem Inhalt von Vernunft die Wirklichkeit zur Notwendigkeit werden lässt. Wenn zwischen der in sich logisch notwendigen Vernunft und der Wirklichkeit kein Moment des Zufälligen eingeschaltet ist, dann ist die Wirklichkeit die pure Selbstverwirklichung der Notwendigkeit der Vernunft. Wäre das anders, dann müsste es eine Vernunft geben, die der Modalität nach der Möglichkeit zuzuordnen wäre; das aber widerspricht dem Begriff der Vernunft. Hegels Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen folgt damit der Form des ontologischen Gottesbeweises, der von einem Mangel auf das mängellose Vollständige, vom Resultat einer privativen Negation auf deren vollständiges Subjekt schließt.38 In seiner klassischen Formulierung bei Anselm von Canterbury39 besagt dieser Beweis Folgendes: Es lässt sich nicht konsistent denken, dass Gott nicht existiert. Wer das denkt, muss dafür den Begriff Gottes denken können. Der Begriff Gottes ist der des absolut vollkommenen Wesens, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Wird nun gedacht, ein solches Wesen existiere nicht, dann ist der so gedachte Begriff Gottes der des absolut vollkommenen Wesens, aber verringert um seine Existenz. Es lässt sich aber zumindest denken, dass das absolut vollkommene Wesen auch existiert. Deshalb ist der Begriff des Wesens, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, das aber nicht existiert, eben nicht der Begriff des Wesens, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Das heißt, der Begriff des vollkommensten Wesens kann nicht ohne seine Existenz gedacht werden. Deshalb folgt aus dem Begriff Gottes – als absolut vollkommenen Wesens, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann – direkt, dass er auch existiert. In Analogie dazu behauptet Hegel, dass die in sich vollkommene Vernunft in die Wirklichkeit übergehe und die Wirklichkeit nur wirklich gewordene Vernunft sei. Gölte dies für den geschichtlichen Gegenstand Recht, den Hegel von der Freiheit her versteht, dann verwirklichte Freiheit sich notwendig, das heißt, Freiheit wäre der Modalität nach nicht als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit bestimmt. Das setzt einen Freiheitsbegriff voraus, der unter dem freien Willen nur den vernünftig bestimmten Willen versteht, das durch Zufall und Affekte bestimmte Wollen jedoch dem zuordnet, was Kant in der Metaphysik der Sitten Willkür 37 Vgl. Vieweg 2012, 25. 38 Vgl. Bulthaup 2007, 60: „Jede privative Negation setzt ein in sich vollständiges Subjekt voraus. Modell des Schlusses von den Resultaten der privativen Negation auf deren vollständiges Subjekt ist der ontologische Gottesbeweis“. 39 Vgl. Anselm von Canterbury 2005, Kapitel 2.
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genannt hat.40 Allerdings hatte Kant in der Religionsschrift die Freiheit als „intelligible Tat“41 noch einmal oberhalb von kontingenter Willkür und notwendiger Willensfreiheit angesetzt, weil die unter Menschen wirkliche Freiheit nur als bewusste vernünftige Bestimmung der nicht notwendig vernünftigen Willkür zu denken ist. In der praktischen Philosophie führt der ontologische Gottesbeweis nur bis zur Forderung der Wirklichkeit des Vernünftigen, die ihre kategorische Form freilich aus der begrifflichen Notwendigkeit des Vernünftigen bezieht. Damit ist allerdings der Modus des Sollens für moralische Normen verbunden, der auch bei Kant kein bloßes, sondern ein kategorisches Sollen ist. Dass es aber eben ein Sollen ist, drückt aus, dass die praktische Vernunft nicht ihre eigene Realisierung kausal verbürgen kann. Der Begriff eines kategorischen Sollens birgt allerdings den Widerspruch, notwendig und zufällig zugleich zu sein. Der Übergang von der Vernunft zur Wirklichkeit lässt sich bei Kant weder aus der Vernunft noch aus der Wirklichkeit hinreichend bestimmen. Damit treten Vernunft und Wirklichkeit, philosophische Einsicht und wirkliche Freiheit auseinander. Darin liegt für Hegel ein erkenntnistheoretischer Mangel der praktischen Philosophie: Ihren Erkenntnissen kommt nicht aus notwendigen Gründen objektive Realität zu. Wenn sich die objektive Realität praktischer Vernunft aber nicht begründen lässt, dann entsteht mit der praktischen Philosophie ein Bruch im System der Philosophie, in dem doch jede Stelle von jeder anderen aus erreichbar sein muss. Wie schon von Kant vorbereitet, vermittelt Hegel Vernunft und Wirklichkeit geschichtlich, und so wie die Begriffsbestimmungen der Logik durch eine immanente Bewegung zur absoluten Idee sich entwickeln, so entfaltet sich die Freiheit in der Geschichte zum Staat. Was im Staat an vernünftiger Freiheit zur Wirklichkeit kommt, ist dann notwendige Verwirklichung des Vernünftigen, das die rechtsphilosophische Darstellung herauszuarbeiten hat, unangesehen derjenigen Erscheinungen, die nicht vernünftig sind.42 In welchem Verhältnis das an den vernünftigen Kern der Freiheit sich anhängende irrationale Gehäuse zur Wirklichkeit der Freiheit steht, geht – so könnte man mit einer Formulierung Hegels sagen – den Staat nichts an: Ob es sich um Bestimmungen handelt, die von der Vernunft eingeholt und aufgehoben werden, oder um solche, die als endlicher Ballast unvermeidlich hinzunehmen sind, bleibt offen. Der Satz, dass das Vernünftige wirklich sei, behauptet nur, dass in den Gestaltungen menschlicher Freiheit, insofern Freiheit als ein Vernünftiges notwendig ist, ein vernünftiger Kern zur Wirklichkeit komme. So ist das Römische Recht, insofern es überhaupt objektiver Wille ist, eine Manifestation der Freiheit, auch wenn die Einrichtung der Sklaverei dem Recht zuwider ist. Und so kann Hegel einerseits sagen: „Daß Gewalt und Tyranney ein Element des positiven 40 Vgl. Kant, MS, 213. 41 Kant, RGV, 38. 42 Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, 46: „[W]er wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der That nicht so ist, wie es seyn soll? Aber diese Klugheit hat Unrecht sich einzubilden, mit solchen Gegenständen und deren Sollen sich innerhalb der Interessen der philosophischen Wissenschaft zu befinden.“
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Rechts seyn kann, ist demselben zufällig und geht seine Natur nicht an.“43 Andererseits: „Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existirt, ist er noch Idee, die Individuen gehorchen noch einem Machthabenden Begriffe.“44 Zwar hatte auch Kant die Positivität des Staates unter allen Umständen als realisierte Freiheit für unantastbar erklärt,45 aber bei ihm blieb der Freiheitsbegriff als Spontaneität der reinen praktischen Vernunft einerseits und als moralische Forderung nach Einheit der Vernunft mit sich selbst andererseits in einem Spannungsverhältnis zur historischen Wirklichkeit; bei Hegel ist die Freiheit als Moment mit der Wirklichkeit vermittelt. Mit dem ‚machthabenden Begriff‘ zitiert Hegel – wie modifiziert auch immer – den Ordnungsbegriff des frühneuzeitlichen Souveränitätsdenkens,46 das die unbedingte Notwendigkeit der Herrschergewalt aus der Abwendung eines perhorreszierten Naturzustandes legitimierte; eine Ausnahme bildete vor allem Rousseau, der eher nonchalant feststellte, dass eine Gesellschaft, deren Ordnungsinstitutionen nicht mehr funktionieren, sich eben zugunsten eines verbesserten Neuanfangs auflöst.47 Das Kriterium ergab sich für Rousseau schlicht aus der Umkehrung: Eine Gesellschaft, die sich auflöst, hat keine wirksamen Ordnungsinstanzen mehr und löst sich daher zu Recht auf. Anders gesagt: Eine notwendige Verbindung von Vernunft und Wirklichkeit gibt es in der praktischen Philosophie nur, soweit die Wirklichkeit nicht in die Erscheinungswelt eintritt: als Wirklichkeit des Denkens. Die Wirklichkeit des Vernünftigen in der Erscheinungswelt ist zufällig, nicht notwendig. Das allein ermöglicht ein selbstbewusstes Mitwirken vernünftiger Subjekte an der Geschichte. Geschichte kann den Bruch zwischen notwendiger praktischer Vernunft und Zufälligkeit ihrer Verwirklichung überbrücken. Denken lässt sich die gelungene Überbrückung aber nur vom Begriff des Resultats aus: Die Ordnung geschichtlicher Erfahrung nach vernünftigen Begriffen erfolgt vom Ende her, nur aus der Vorstellung des gelungenen Resultats lassen sich die für sich unvernünftig und unverbundenen Erscheinungen der Geschichte zu einer Reihe von Bedingungen ordnen, der Verlauf der Geschichte kann rückblickend als Reihe von Antezedentien erschlossen werden. Umgekehrt kann nur die Antizipation eines Zieles selbstbewusst-zielgerichtetes Handeln in der Geschichte ermöglichen. Die Vernunft in der 43 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 3 Anm. 44 Hegel, Logik II, 175f. Westphal 1999, 234 scheint das Gegenteil zu behaupten: „The mere fact that a state exists, on Hegel’s view, does not entail that it is […] rational“. 45 Vgl. Städtler 2015. 46 Zwar hebt Hegel die Äußerlichkeit frühneuzeitlicher Machtbegründung argumentativ auf, aber dennoch steht die objektive Stabilität im Vordergrund, die aber nun durch politische Vermittlung der Gesellschaft, nicht durch äußerliche Herrschergewalt wirklich sein soll. Herrschaft reproduziert sich aber bei Hegel dadurch, dass das Allgemeine, mit dem die Einzelnen vermittelt werden, nicht das vernünftige Allgemeine ist, dem alle Einzelnen qua Vernunft zustimmen können müssten, sondern es ist das geschichtliche Allgemeine, die Gesetzmäßigkeit der Interessenkonstellation der bürgerlichen Gesellschaft, die sich selbst im Staat als allgemeine denkt. 47 Vgl. Rousseau 1977, III.11. Damit spricht Rousseau freilich nur die Konsequenz der verbreiteten Lehre aus, dass ein Souverän, wenn er seine Macht faktisch verliert, zugleich die Legitimation einbüßt. Vgl. z.B. Hobbes 1996, 283.
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Geschichte hängt von der Antizipation der im Ziel verwirklichten Vernunft ab. Wird diese Antizipation jedoch aus der logischen Notwendigkeit praktischer Vernunft heraus als notwendige Wirklichkeit der Vernunft gedacht, schwindet nicht nur die Kontingenz, sondern auch die Geschichtlichkeit aus der Geschichte. Geschichtliches Handeln wäre aus den Folgen, den Konsequenzen heraus determiniert. Und als determinierte wäre sie nicht das Medium der Verwirklichung vernünftiger Freiheit. Um der Freiheit willen ist der Begriff der Gegenwart inkonsistent, durch Notwendigkeit und Zufälligkeit zugleich bestimmt. Das fällt in Hegels Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen weg. Die Gegenwart ist ein Übergangsmedium, in dem kontingente Konsequenzen sich zu Antezedentien weiterer Konsequenzen verfestigen. Zwar sind die zu Antezedentien verfestigten ehemaligen Konsequenzen nicht mehr im Modus der Möglichkeit, sondern in dem der Wirklichkeit – sie bilden die Erscheinungswelt und deren Geschichte, an der keine Zukunftskonzeption vorbeiagieren kann – aber notwendig sind sie nur in dem Sinne, dass sie nicht ungeschehen gemacht werden können, nicht aber in dem Sinne, dass nicht spätere Handelnde wieder gegen sie agieren und eine Wirklichkeit produzieren könnten, in der die Wirkung früherer Handlungen getilgt wird. Der andere Sinn von Notwendigkeit – dass Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann, setzt sich darin durch, dass reaktionäre Politik nie den status quo ante wiederherstellt, sondern dessen Wiederholung in einer durch das Gewesene vermittelten Form. 5. DIE LOGISCHEN KATEGORIEN DER MODALITÄT UND DIE FORM DES ONTOLOGISCHEN GOTTESBEWEISES Die Unterscheidung von emphatischer Wirklichkeit und bloßer Existenz beruht auf der Bestimmung der Modalität in der Wissenschaft der Logik. Ein Blick auf Hegels diesbezügliche Begriffskonstruktion kann die logisch-ontologische Voraussetzung der Grundlinien zusätzlich erhellen. Wirklichkeit, die Übereinstimmung von Begriff und Existenz, ist in einer Hinsicht grundsätzlich eingeschränkt: Die Übereinstimmung von Begriff und Existenz ist unmittelbar weder aus dem Begriff noch aus der Existenz hinreichend begründet und bleibt deshalb zufällig, das heißt die Wirklichkeit ist beschränkt durch die Möglichkeit. Lässt sich zeigen, dass diese Möglichkeit zu existieren oder nicht zu existieren selbst eine notwendige Bestimmung der Wirklichkeit ist, dann fallen im Ganzen von Begriff und Existenz die äußerlichen Differenzen von Möglichkeit und Wirklichkeit weg.48 Das Ganze ist dann als Notwendigkeit bestimmt, die in sich das Wirkliche und das Zufällige als Momente aufeinander bezieht: Bestimmungen, die dem Begriff selbst zugehören und solche, die zu ihm hinzutreten (müssen). 48 Vgl. Schmidt 1989, 167: „Die Zufälligkeit bringt die Substanz nicht in Gefahr, sie ist in ihr aufgehoben.“ Vgl. auch Requate 1997.
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Nicht zufällig bezieht Hegel sich bei der Bezeichnung dieses resultierenden Ganzen auf Spinoza, indem er es „Substanz“49 nennt und dadurch von dem zuvor verwendeten, Aristotelischen, Begriff des Wesens deutlich unterscheidet. Das Wesen ist die auf den Schein bezogene innere Wahrheit des Seins. Die Substanz ist die absolute Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit in der Notwendigkeit, mit Spinoza gesprochen: Sowohl die Attribute als auch die Affektionen (Modi) sind Selbstbestimmungen der absoluten Substanz. Ihr Unterschied besteht darin, dass die Attribute Bestimmungen sind, durch die die Essenz der Substanz erkannt wird, und die Modi Bestimmungen, die der Substanz anhängen und deshalb nicht selbst, sondern nur durch die Substanz hindurch erkannt werden.50 Die klassische Differenz von notwendigem Wesen, wirklichem Ding und zufälligen Akzidentien wird von Spinoza auf Unterschiede im Erkennen eines an sich aber notwendigen Ganzen reduziert. Mit dem so veränderten Begriff der Substanz setzt Spinoza den ontologischen Gottesbeweis an den Anfang seines Systems: Die Substanz ist Ursache ihrer selbst, existiert notwendig und ist identisch mit Gott.51 Hegel zeigt in der Logik, dass diese absolute Substanz zwar Inbegriff des philosophischen Systems ist, dass sie aber zugleich Resultat umfassender Vermittlung ist: Die Unbedingtheit des Ganzen kann nicht am Anfang behauptet, sondern erst am Ende begründet sein. Gleichwohl sind der abstrakte Anfang der Logik und alle Konkretisierungsschritte nur als privative Negationen des konkreten Absoluten am Ende bestimmbar, das umgekehrt aus deren Abstraktheit seine logische Legitimation bezieht. Mit der absoluten Substanz als Einheit von innerer Notwendigkeit und äußerer Wirklichkeit ist der Begriff der Objektivität vollständig, und mit der Kategorie Relation („Verhältnis“) fasst Hegel Kausalität und Wechselwirkung als Selbstverhältnis der absoluten Substanz. Dieses Selbstverhältnis des Absoluten, Ganzen, ist ein Verhältnis der Selbstbestimmung der Substanz: Ihr werden keine Attribute zugeordnet, sondern die Substanz bestimmt sich in ihren Attributen selbst, weil es außerhalb des Ganzen nichts gibt, es gibt kein Außerhalb. Das denkende Bestimmen tritt nicht von außen zur Totalität hinzu, sondern ist eines ihrer Attribute. Damit formuliert Hegel den Übergang der Logik zur subjektiven Logik, von den Lehren von Sein und Wesen zu den Lehren von Begriff, Urteil, Schluss und Idee, und in der Lehre vom Urteil wiederholt sich die Bestimmung der Wirklichkeit analog als assertorisches Urteil, das über das problematische Verhältnis von Subjekt und Prädikat in das apodiktische Urteil überführt wird, welches dann in die Lehre vom Schluss überleitet. Das Resultat dieser Lehre vom Schluss ist der Nachweis, dass der Begriff „sich zur Objectivität bestimmt“52. An dieser Stelle zitiert Hegel ausdrücklich den ontologischen Gottesbeweis als Form des Übergangs vom Begriff zur Objektivität. Insofern jedoch alle früheren logischen Bestimmungen gestufte Privationen der absoluten Idee sind, liegt diese Form auch früheren Übergängen zugrunde, und Hegel rekurriert in der Wissenschaft der Logik nicht bloß regelmäßig 49 50 51 52
Hegel, Logik I, GW 11, 392. Vgl. Spinoza 2007, I, Def. 3–5. Vgl. Spinoza 2007, I, Def. 1, Lehrsätze 7 und 11. Hegel, Logik II, GW 12, 127.
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auf diesen Beweis, sondern rekapituliert in der Einleitung zum Objektivitätskapitel diese Rekurse wie einen roten Faden, der bereits mit der Anmerkung 1 zum Werden, dem ersten resultativen Begriff der Wissenschaft der Logik, einsetzt.53 Im Übergang zur Objektivität kommt diese Argumentationsform gewissermaßen zu sich selbst, vollendet werden wird sie aber erst in der absoluten Idee am Schluss der Wissenschaft der Logik.54 Nun muss betont werden, dass die Form des ontologischen Gottesbeweises keine religiöse Hybris, sondern ein ernsthaftes erkenntnistheoretisches, und das heißt für Hegel: ein logisches, Problem ist, bei dem es um das Verhältnis von Begriff und Sein geht. Dieses Verhältnis, das auch als Subjekt-Objekt-Relation bezeichnet werden kann, ist tatsächlich die Grundlage jeder Erkenntnis. Wenn Wahrheit die Angleichung (adaequatio) von Begriff und Gegenstand ist, dann muss, wenn nicht beide in der Erkenntnis sogar zusammenfallen, mindestens eine Einheit von Begriff und Gegenstand gedacht werden können, die den Maßstab dafür abgibt, wann eine Angleichung erreicht ist. Der Begriff kann nicht bloß äußerlich zu seinem Gegenstand hinzutreten, denn sonst wäre entweder mit dem Begriff nicht der Gegenstand erkannt oder die Erkenntnis des Gegenstandes würde durch den Begriff nur zufällig ausgedrückt, wäre also keine notwendige begriffliche Erkenntnis. Dasselbe Argument verwendet bereits Aristoteles, um seinen Begriff des Wesens als die dem Gegenstand innewohnende Form gegenüber der Platonischen Idee abzugrenzen.55 Bei Hegel lautet es so: „[D]er Begriff ohne Sein [ist] ein Einseitiges und Unwahres, und ebenso das Sein, in dem kein Begriff ist“56. Ein Begriff ohne Sein wäre bloße Imagination, ein Sein ohne Begriff wäre ein unorganisiertes, formloses Sein, d.h. nur die Abstraktion von Sein überhaupt, also logisch gesehen so viel wie nichts. Aus rein erkenntnistheoretischen Gründen ist deshalb die Einheit von Begriff und Sein gefordert.57 Ob sie aus dem Begriff oder aus dem Sein motiviert ist, ließe sich gar nicht beurteilen, ohne die Trennung beider, die nicht denkbar ist, zu denken. Daher ist die Einheit beider nur „als absoluter Prozeß“58 der Vermittlung beider bestimmbar. Die absolute Vermittlung von Begriff und Sein wird als ewige Weltordnung, lex aeterna, oder als göttliche Vorsehung, als Begriff Gottes von sich selbst als absoluter Totalität vorgestellt. Man kann auch sagen, es geht um den Begriff der konkreten Reflexivität des Geistes, die Bestimmung alles Geistigen, in 53 Vgl. zur Rekapitulation: Hegel, Logik II, GW 12, 127f. und zum Werden: Hegel, Logik I, GW 21, 47–50. 54 Vgl. Hegel, Logik II, GW 12, 129. 55 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, VII, 6, 1031a f. 56 Hegel, Ausführung des ontologischen Beweises 1831, TWA 17, 531. 57 Seinen Grund hat die Validität dieses Beweises in dem, was Kant „Architektonik der Vernunft“ (Kant, KrV, B 860ff.) nennt, ihr Streben nach systematischer Vollständigkeit. Bei Kant bleibt dies freilich Idee im pejorativen Sinn, deren objektive Realität uns unzugänglich bleibt und schließt insofern den ontologischen Gottesbeweis konsequent aus. Bei Hegel tritt an die Stelle der subjektiven Architektonik, die er „Trieb des Denkens zur Einheit“ (Hegel, Beweise vom Dasein Gottes, TWA 17, 352) nennt, die Objektivität des Begriffs: Begriff und Sache sind nicht zweierlei; eine Sache, die nicht vom Begriff durchdrungen ist, ist nicht wirklich. Die Wirklichkeit kann dann nur vom Begriff gesetzt werden. 58 Hegel, Ausführung des ontologischen Beweises 1831, TWA 17, 533.
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jedem Inhalt zugleich Beziehung auf sich selbst zu sein; nur dadurch ist Wissen als bewusstes und selbstbewusstes Wissen möglich.59 Der Gottesbeweis ist deshalb die Darlegung der inneren Notwendigkeit des Denkens selbst und insofern auch der Objektivität des Begriffs. Deshalb behauptet Hegel, dass die Logik von der Theologie nicht wesentlich unterschieden sei: In den Gottesbeweisen würden nicht bloß logische Formen auf religiöse Inhalte angewendet, „sondern jener logische Verlauf [ist] die unmittelbare Darstellung der Selbstbestimmung Gottes zum Seyn“60. Der „metaphysische Begriff Gottes“ ist für Hegel nichts anderes als die Idee des „reinen Begriff[s] […], der durch sich selbst real ist“61; ‚Gott‘ bedeutet ‚Geist‘, in dem die Äußerlichkeit endlicher, vom menschlichen Geist ausgehender Erkenntnisrelationen grundlagentheoretisch aufgehoben ist. Dass in dem Beweis mit dem Begriff, dem Subjektiven, angefangen werde, liege an dieser Endlichkeit des menschlichen Geistes, der das Gleichzeitige nur nacheinander entwickeln kann. Daraus den Vorwurf zu bilden, das Sein werde aus dem Begriff unzulässig herausgeholt, falle aber nur in den Verstand, der sich zum spekulativen Denken der Vernunft nicht erhebe.62 Obwohl die Form des ontologischen Gottesbeweises in der theoretischen Philosophie eine systematische Funktion erfüllt, ist mit ihm ein fundamentales Problem verbunden: Zwar stellt Hegel ihn nicht mehr, wie Spinoza, an den Anfang des Systems, sondern bestimmt ihn als die dialektische Bewegungs- und Übergangsform logischer Begriffe. Aber diese Bewegung ist eine geschichtslose Bewegung; durch sie wird geschichtlich gewordenes Wissen als zeitlos gültiges Resultat dargestellt. Dass Voraussetzungen einer Erkenntnis an sich vernünftig sind, weiß man vom Resultat aus. Dazwischen liegt der Erkenntnisprozess, der durch individuelle Einfälle und Irrtümer gekennzeichnet ist. Auch für Hegel ergibt sich die Rationalität der Voraussetzung aus dem Resultat, aber er stellt dies als absolute logische und daher zeitlose Wechselbeziehung von Grund und Begründetem dar. Das Wissen erscheint so als unbedingtes. Seine Bedingtheit in menschlicher Anstrengung ist so nicht darstellbar. Wenn Hegel nun mit dem Satz über die Koinzidenz von Vernunft und Wirklichkeit in der Vorrede der Grundlinien den ontologischen Gottesbeweis auch als Form des Rechtsbegriffs zitiert, dann ist damit zwar keineswegs ein platter Positivismus der bestehenden Verhältnisse ausgedrückt, sondern im Gegenteil eine im erkenntnistheoretischen Sinn metaphysische Begründung von Recht als einer Objektivierung von Geist.63 Eine Bestimmung des Rechts als bloßer willkürlicher 59 Vgl. Hegel, Beweise vom Dasein Gottes, TWA 17, 356: „Diese Erhebung des denkenden Geistes zu dem, der selbst der höchste Gedanke ist, zu Gott, ist es also, was wir betrachten wollen.“ Das ist die Aristotelische Bestimmung Gottes als selbstbezügliches Denken (noäsis noäseos). Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII, 7, 1072b. Vgl. hierzu Städtler 2003, 205–219, bes. 212. 60 Hegel, Logik II, GW 12, 129. Vgl. Hegel, Beweise vom Dasein Gottes, TWA 17, 347ff. 61 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 205. 62 Vgl. Hegel, Logik II, GW 12, 129. Vgl. Hegel, Ausführung des ontologischen Beweises 1830 TWA 17, 532. 63 So ist auch Hegels Rede zu verstehen: „es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“. Hegel, Grundlinien,
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Durchsetzung partikularer Machtinteressen wäre theoretisch gar nicht möglich; der Versuch einer solchen Bestimmung liefe auf die bloße historistische Nacherzählung positiver Gesetzgebungen hinaus. Wenn am Recht überhaupt etwas Allgemeines und dadurch der Vernunft Zugängliches ist, kann es theoretisch nur als Objektivierung von Geist bestimmt werden, als ein Kern verwirklichter Vernunft in der ansonsten kontingenten Geschichte des Rechts. Aber damit droht auch hier – und in besonderem Maß – die geschichtliche Sterilisierung der Vernunft. Wenn daher Kritik an Hegels Grundlinien als einer affirmativen Rechtslehre formuliert werden soll, so ist sie präziser zu formulieren als Frage danach, ob und wie weit die geschichtliche Verwirklichung von Freiheit im Recht als Objektivierung reinen Denkens darstellbar ist. Im Rahmen der Verteidigung des ontologischen Gottesbeweises am Anfang des Objektivitätskapitels der Logik betont Hegel, dass es unmöglich sei, das Sein im Begriff zu entdecken, „wenn dasjenige, Seyn, Realität, Wahrheit genannt wird, was die Dinge als sinnliche, zeitliche und vergängliche haben. – Wenn ein Philosophiren sich beym Seyn nicht über die Sinne erhebt, so gesellt sich dazu, daß es auch beym Begriffe nicht den bloß abstracten Gedanken verläßt; dieser steht dem Seyn gegenüber.“64
In der Religionsphilosophievorlesung von 1831 heißt es außerdem: „Der Begriff hat aber nicht nur an sich das Sein in sich, nicht nur wir sehen dies ein, sondern er ist auch für sich das Sein; er hebt selbst seine Subjektivität auf und objektiviert sich. Der Mensch realisiert seine Zwecke, d.h. was nur erst Ideelles war, dem wird seine Einseitigkeit genommen, und es wird damit zum Seienden gemacht; der Begriff ist ewig diese Tätigkeit, das Sein identisch mit sich zu setzen.“65
Die hier vorgenommene Parallelisierung von menschlichem Handeln und absolutem Prozess des Begriffs ist problematisch; für Hegel gibt es nur einen Unterschied: Der Begriff tut dies ewig, d.h. ohne zeitliche Bestimmung, der Mensch tut es in der Zeit. Hegel denkt dies so, dass der Mensch den ewigen Prozess des Begriffs partiell in der Zeit ausführt, dass jener auf diese Weise erscheint. Allerdings dürfte der Unterschied ewiger logischer und zeitlicher menschlicher Prozesse ein eminenter Unterschied sein. Die logische Garantie begrifflicher Prozesse, dass in ihnen Vernunft und Wirklichkeit ihre Koinzidenz herstellen und bestätigen, kann es für menschliche Handlungen in der Zeit nicht geben. Menschliche Zwecke können unvernünftig sein und selbst vernünftige können sich als unausführbar unter gegebenen Bedingungen erweisen. Unter dieser Voraussetzung muss die zuvor zitierte Forderung, sich beim Denken über das Sinnliche zu erheben, in der praktischen Philosophie nicht mit der gleichen Notwendigkeit wie in der Logik auf die Wirklichkeit der Vernunft führen. Vielmehr wird die Notwendigkeit des über die sinnliche Erfahrung geschichtlichen Rechts erhobenen Begriffs gegenüber dieser Erfahrung selbst stehen bleiben. Noch das Vernünftige darin muss aus seiner Geschichte heraus TWA 7, § 258 Zus. Die metaphysische Erhöhung des Staates, die in dieser theoretischen Grundlegung liegt, betont vor allem Siep 2015. 64 Hegel, Logik II, GW 12, 129. 65 Hegel, Ausführung des ontologischen Beweises 1830 TWA 17, 532f.
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begriffen werden, die sich im Rückblick als Vermengung von Vernunft und Unvernunft zeigt und keine bloße Selbstverwirklichung des Geistes sein kann.
6. ANGRIFFSPUNKTE DER KRITIK. GESELLSCHAFT UND STAAT Hegel unterscheidet dafür zwischen Wirklichkeit und bloßer Erscheinung. Erst das apodiktische Urteil drückt aus, was an der Erscheinung wirklich ist. Die zufälligen Elemente der Erscheinung werden zwar im assertorischen Urteil – soweit es problematisch bleibt – formuliert, aber aus der philosophischen Erkenntnis der Sache (bei der es auf die Übereinstimmung von Begriff und Erscheinung in der Sache ankommt, damit sich sagen lässt, was diese wahrhaft ist) fallen sie heraus.66 Das bedeutet einerseits, dass die Philosophie sich zu den bloß zufälligen Verwerfungen der Erscheinungswelt nicht äußert, andererseits bedeutet es aber auch, dass alles, was die Philosophie über die Wirklichkeit ihres Gegenstandes zutreffend sagt, notwendig und wahr ist.67 Die Möglichkeit, dass es historisch bestimmte Erscheinungen von Freiheit gebe, die in sich verkehrt sind, die zwar durchaus Fortschritte in der Verwirklichung von Freiheit sind, aber in einer verkehrten Gestalt, fällt aus der philosophischen Betrachtung heraus: Entweder gelten solche Erscheinungen als Adiaphora, Gleichgültiges, oder sie können gar nicht dargestellt werden, als gäbe es sie nicht. Hegels eigene kritische Anmerkungen zu sozialen und politischen Entwicklungen seiner Zeit können den eigenen logischen Voraussetzungen nach nur Adiaphora betreffen, zufällige Fehler, die bei der Verwirklichung der Freiheit gemacht werden und die erkennbar sind, weil sie mit dem erreichten Stand des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit nicht kompatibel sind. Dass die Manifestationen von Freiheit in ihrer Substanz mit Unfreiheit kontaminiert seien und dass das ihnen entsprechende Bewusstsein von Freiheit ideologische Täuschung sei und nur in seinen eigenen Widersprüchen noch theoretisch adäquat dargestellt werden könnte, kommt aufgrund von Hegels Voraussetzungen nicht in Frage. Die Einsicht, dass die Freiheit der modernen Gesellschaft nicht nur über allseitige Abhängigkeit verwirklicht wird, sondern dass diese Abhängigkeiten in heteronom institutionalisierten Gesetzmäßigkeiten (Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Kapitalverwertung als automatisches Subjekt) begründet sind, ist nicht formulierbar. Die Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft bleiben bei Hegel Adiaphora, die allein sozialpolitisch oder staatsrechtlich reguliert werden könnten.68 Zwar ist der Gedanke, dass die Entwicklung des Rechts abstraktere 66 Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 6 Anm. 67 Vgl. hingegen Arndt 2014, 15: Die absolute Idee sei „der normative Maßstab, der realphilosophisch zur Geltung zu bringen“ sei. Bezogen auf das Recht sei Freiheit als absolute Selbstbestimmung der normative Maßstab. – Aber: Normative Maßstäbe stehen ihrem Gegenstand entweder gegenüber und drücken ein Sollen aus, was Hegel nicht will; oder sie sind das innere Verwirklichungsprinzip des Gegenstands, dann gibt es keinen Grund zur Kritik. 68 So auch bei Westphal 1999, der zwar Hegels brillante Einsicht in die humane Bedeutung des Handels (246) betont, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft aber kaum im Vorbeigehen berührt (259), und auch dann nur als schon in den Korporationen aufgehobene.
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Formen aufheben müsse, ohne sie ganz zu vernichten, formal mit dem Gedanken einer Aufhebung der Verkehrtheit verkehrter Freiheit kompatibel,69 aber die Aufhebung der Verkehrtheit der bürgerlichen Gesellschaft kann nicht durch den Staat, wie Hegel ihn denkt, gelingen. Gesellschaftlich institutionalisierte Heteronomie wäre vom Prinzip her zu überwinden, nicht vom Staat zu regulieren, um der Freiheit näher zu kommen. Für Hegel ist auch das staatliche Verhältnis von Bürgern, Bedürfnissen und staatlicher Organisation ein logisches: „Wie das Sonnensystem, so ist z.B. im Praktischen der Staat ein System von drei Schlüssen. 1. Der Einzelne (die Person) schließt sich durch seine Besonderheit (die physischen und geistigen Bedürfnisse, was weiter für sich ausgebildet die bürgerliche Gesellschaft gibt) mit dem Allgemeinen (der Gesellschaft, dem Rechte, Gesetz, Regierung) zusammen. 2. Ist der Wille, Thätigkeit der Individuen das Vermittelnde, welches den Bedürfnissen an der Gesellschaft, dem Rechte u.s.f. Befriedigung, wie der Gesellschaft, dem Rechte u.s.f. Erfüllung und Verwirklichung gibt; 3. aber ist das Allgemeine (Staat, Regierung, Recht) die substantielle Mitte, in der die Individuen und deren Befriedigung ihre erfüllte Realität, Vermittlung und Bestehen haben und erhalten. Jede der Bestimmungen, indem die Vermittlung sie mit dem andern Extrem zusammenschließt, schließt sich eben darin mit sich selbst zusammen, producirt sich, und diese Production ist Selbsterhaltung. – Es ist nur durch die Natur dieses Zusammenschließens, durch diese Dreiheit von Schlüssen derselben Terminorum, daß ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft verstanden wird.“70
Die Einzelnen sind zunächst durch ihre Bedürfnisse auf das sittliche Allgemeine bezogen: Sie reproduzieren sich materiell in gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation mit anderen. Indem sie so handeln, realisieren sie einerseits ihre Reproduktion im sittlichen Zusammenhang, andererseits realisieren sie zugleich dadurch den sittlichen Zusammenhang selbst. Schließlich ist das Allgemeine des Sittlichen die Substanz, die die Reproduktion der Einzelnen kollektiv garantiert. So gesehen ist das Ganze des Staates die rationale politische Organisation eines arbeitsteiligen und kooperativen Kollektivs. Hegel verwendet dieses Modell sowohl in der Enzyklopädie als auch in der Logik als Erläuterung der logischen Form mechanischer Systeme, in denen äußerlich aufeinander bezogene Objekte ein Ganzes bilden. Im Staatsrechtskapitel der Grundlinien bezieht sich Hegel darauf nicht mehr explizit.71 Ebenso wenig gibt er Auskunft darüber, wie das in dem logischen Syllogismen-System formulierte Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat genau ausgeführt sein soll, obwohl offensichtlich die Gesellschaft als Moment im Staat aufgehoben wird. Der an Marx orientierte Haupteinwand hiergegen besagt, 69 Vgl. Arndt 2014. 70 Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 198 Anm. Vgl. auch Hegel, Logik II, GW 12, 144f. 71 Dass dies implizit doch der Fall sei, hat ausführlich Vieweg 2012, 366–434, rekonstruiert. Vieweg schließt aus seiner Rekonstruktion, dass nicht der Monarch, sondern die legislative Gewalt Mittelpunkt des Schlusses sein müsse und dass Hegel diesen lapsus einerseits zur Irreführung der Zensur, andererseits als Schlüssel für künftige Interpreten eingebaut habe. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass Hegel hier dem Horizont des frühmodernen Souveränitätsdenkens verpflichtet bleibt. Solange das Verhältnis des Staats zur Gesellschaft nicht kritisch geklärt wird, verschlägt die Personalfrage ohnehin wenig.
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dass es unmöglich sei, die bürgerliche Gesellschaft in einem sittlichen Ganzen nach Gesetzen der Freiheit aufzuheben. Dabei geht es auch der Marxschen und wichtigen Teilen der hegel-marxistischen Kritik gar nicht darum, dass das Ganze falsch sei, sondern dass es in sich von Gegensätzen, von Negativität gekennzeichnet ist, die nicht affirmativ vermittelbar ist: Das Wahre wird mithilfe des Falschen und so selbst als gefälschte Wahrheit zur Wirklichkeit gebracht.72 Die moderne Gesellschaft mit ihren politischen Institutionen, allen voran dem Staat, realisiert geschichtliche Freiheit in großem Maß, aber in einer Gestalt, die zugleich alle Individuen – nicht bloß einige – heteronomen Gesetzmäßigkeiten unterwirft, die sie der freien Selbstbestimmung entziehen: Wer in der kapitalistischen Gesellschaft nicht die geltenden ökonomischen Imperative bedient und für ihre politische Unterstützung Sorge trägt, riskiert die eigene Existenz, womöglich die des Ganzen auch. Diese unmittelbare Existenzbedrohung verhindert es, die optimale humane Versorgung aller Menschen zum sozialen Ziel zu erheben. Ein solches Ziel kann dann nur als Selbstverwirklichung eines blinden Absoluten erwartet werden: „Das blinde Uebergehen der Nothwendigkeit ist vielmehr die eigene Auslegung des Absoluten, die Bewegung desselben in sich, welches in seiner Entäusserung vielmehr sich selbst zeigt.“73 Gegen dieses Vertrauen in das absolute Ganze richtet sich die Kritik, die beansprucht, wissenschaftlich zu zeigen, dass das wirkliche Ganze zwar wie ein Absolutes funktioniert, aber die ihm zugetrauten Leistungen aus systematischen Gründen nicht erbringen kann. Damit setzt diese Kritik eine Dialektik voraus, die erstens die materielle Bedingtheit der Wirklichkeit noch einmal genau untersucht und zweitens das Verhältnis von Bedingtheit und Wirklichkeit aus sachlichen Gründen – als zeitlich konstituiertes – nicht in absolute Notwendigkeit aufhebt. Diese Dialektik bleibt insofern dort konsequent negativ, wo Hegel die Negativität wieder in eine übergeordnete Einheit aufhebt. Zwar behauptet Hegel nicht, dass sich aus den Formen der Logik die empirische Realität deduzieren lassen müsste; vielmehr entwickelt die Logik die Formen, in denen alles, was gedacht werden kann, zu denken ist. Das Ziel ist die absolute Selbstbestimmung der Idee, also ein innerlogisches Selbstverhältnis des Begriffs, von dem aus die Entwicklung von den einfachen zu den konkreten Begriffsgestalten gerechtfertigt ist.74 Diese Selbstbestimmung des Begriffs als Idee ist die theoretische Form praktischer Selbstbestimmung, Freiheit als Autonomie. Aber ein Problem besteht weiterhin darin, dass diese reine logische Form der Freiheit absolut notwendig ist und daher die kontingenten Bedingungen, die das empirische Problem von Freiheit ausmachen, nicht oder nur in einer der Notwendigkeit des Begriffs zugeordneten Weise berücksichtigt. 72 So auch Arndt 2014, 23–25. Dem wäre hinzuzufügen, dass Hegel nicht bloß mit den Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft eine konkrete Allgemeinheit ‚überstülpt‘, die ihr gar nicht zukommen kann, sondern dass dies mutatis mutandis auch für das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft gilt. 73 Hegel, Logik I, GW 11, 253. 74 Vgl. Hegel, Logik II, GW 12, 236ff.
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Für den Staat – wie für die bürgerliche Gesellschaft, mit der er eine funktionelle Einheit bildet – bedeutet diese Problematik, dass der Begriff des Staates nicht als gelingende Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, sondern als sich offen reproduzierender Konflikt aller Einzelnen begriffen werden muss, die nur durch die Allseitigkeit dieser Konflikte ein Ganzes bilden, das sich als politisch prozeduralisierte gesellschaftliche Herrschaft durch die Zeit hindurch stets prinzipiell gleich bleibt und so den Anschein von Notwendigkeit erzeugt. Der Weg von dieser Herrschaftsform hin zu vernünftiger Organisation des kollektiven Lebens von Menschen führt nicht bloß über die Korrektur unwirklicher, vom Begriff nicht wahrhaft erschlossener Erscheinungen, sondern setzt die Einsicht und die Absicht eines prinzipiellen, diesmal aus vernünftiger Freiheit begründeten Zweck- und Funktionswechsels politischer Organisation voraus, weg von der Realisierung abstrakter Wertproduktion um des Wachstums allein willen, hin zu selbstbewusster Verwirklichung menschlicher Belange, koordinierter gesellschaftlicher Arbeit um des menschenwürdigen Lebens aller willen.
*** Die theoretische Herausforderung der Kritik an Hegels Staatsdenken ist es, die Bestimmungen der Freiheit, die Hegel in den Grundlinien entwickelt, gegen die scheinbare Notwendigkeit zu wenden. Kritik bleibt dabei einerseits auf den systematischen Zusammenhang angewiesen, um theoretisch begründbar zu sein, andererseits muss sie das Durchbrechen des Systems selbstbewusst mit einplanen. Ohne diesen Widerspruch ist ein Begriff von Geschichte der Freiheit als Geschichte aus Freiheit nicht möglich. Der hierin angedeutete partielle Rückgriff auf Kants praktische Philosophie folgt keineswegs der Parole „Von Hegel zurück zu Kant!“75 Im Gegenteil führt kein Weg hinter Hegels konkreten Begriff der Sittlichkeit zurück, der die Wirklichkeit praktischer Vernunft nicht mehr unabhängig von gegenständlichen Bedingungen vernünftiger Praxis bestimmt und die Gültigkeit praktischer Gesetze als zweite Natur eines geistigen Kollektivs bestimmt; aber es führt ein Weg darüber hinaus zu einer kritischen Gesellschaftstheorie, die die historische gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts als verkehrte Gestalt von Freiheit begreifen kann. Dafür muss sie, ebenso wie an Marx, auch an Kant und Hegel anschließen. Wer hingegen Hegel gegen die gesellschaftstheoretisch begründete Kritik an seinem Staatsdenken verteidigen möchte, kommt der Sache nach nicht umhin, die systematische Systemkritik des 19. und 20. Jahrhunderts aus den Ressourcen des Hegelschen Systems heraus immanent zu kritisieren. Wer sich dieser Mühe überhoben wähnt, hat letztlich nicht mehr als ein Hegel vorab gewogenes Vorurteil auf seiner Seite. Er verfällt dem Motto des Marxschen Kapital:
75 Vgl. Schnädelbach 2000, 353.
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„Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung, der ich nie Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners: Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!“76
Hegel hatte hierfür die Vorlage gegeben: „Soll philosophisch von einem Inhalte gesprochen werden, so verträgt er nur eine wissenschaftliche, objective Behandlung, wie denn auch dem Verfasser Widerrede anderer Art als eine wissenschaftliche Abhandlung der Sache selbst, nur für ein subjectives Nachwort und beliebige Versicherung gelten und ihm gleichgültig seyn muß.“77
Die vorliegende Sammlung ist bemüht, dieser Aufforderung Folge zu leisten. LITERATUR Anselm von Canterbury, 2005: Proslogion, Stuttgart. Aristoteles, 1989/1991: Metaphysik, 2 Bde., hg. v. H. Seidl, Hamburg. Arndt, Andreas, 2014: Frei(heits)räume. Abstrakte und konkrete Allgemeinheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Aufhebung 5, 10–25. Brooks, Thom, 2017: Hegel’s Philosophy of Law. In: Moyar, Dean (Hg.): The Oxford Handbook of Hegel, Oxford, 453–474. Brooks, Thom / Stein, Sebastian (Hg.) 2017: Introduction. In: Hegel’s Political Philosophy. On the Normative Significance of Method and System, Oxford, 1–24. Bulthaup, Peter, 2007: Einige Überlegungen zu Adornos Theorie der Halbbildung. In: Pädagogische Korrespondenz 36/1, 60–66. Ellmers, Sven / Herrmann, Steffen (Hg.), 2017: Korporation und Sittlichkeit. Zur Aktualität von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, München. Haym, Rudolf, 1962: Hegel und seine Zeit, Hildesheim. Hegel, G.W.F., 1969: Jenaer Realphilosophie, Berlin. Hegel, G.W.F., 1980: Phänomenologie des Geistes, GW 9, Hamburg. Hegel, G.W.F., 1978: Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik, GW 11, Hamburg. Hegel, G.W.F., 1981: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, GW 12, Hamburg. Hegel, G.W.F., 2009: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, Hamburg. Hegel, G.W.F., 1986: Grundlinien der Philosophie des Rechts, TWA Bd. 7, Frankfurt a.M. Hegel, G.W.F., 1992: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, Hamburg. Hegel, G.W.F., 1986: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA Bd. 17, Frankfurt a.M., S. 7–344. Hegel, G.W.F., 1986: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (1829). In: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA Bd. 17, Frankfurt a.M., 345–501. Hegel, G.W.F., 1986: Ausführung des ontologischen Beweises (1831). In: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA Bd. 17, Frankfurt a.M., S. 528–535. Hegel, G.W.F., 1986: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, TWA, Bd. 18, Frankfurt a.M. Herzog, Lisa, 2017: Hegel als Denker des Marktes. In: Siep, Ludwig (Hg.), G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Auflage, Berlin, 209–224. Hobbes, Thomas, 1996: Leviathan, Hamburg. Honneth, Axel, 2001: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart.
76 Marx 1987, 17. 77 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, 18.
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Honneth, Axel, 2010: Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main. Honneth, Axel, 2013: Das Recht der Freiheit, Frankfurt am Main. Honneth, Axel, 2015: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Frankfurt am Main. Jaeschke, Walter, 2003: Hegel-Handbuch, Stuttgart. James, David, 2017: Introduction: Freedom and History in Hegel’s Philosophy of Right. In: Ders. (Hg.): Hegel’s Elements of the Philosophy of Right. A Critical Guide, Cambridge, 1–15. Kant, Immanuel, 1904: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl., 1787). AA, Bd. III, Berlin (KrV). Kant, Immanuel, 1907: Metaphysik der Sitten. AA, Bd. VI, Berlin (MS). Kant, Immanuel, 1912: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. AA, Bd. VIII, Berlin, 15–31 (IaG). Kant, Immanuel, 2003: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. B. Stangneth, Hamburg (RGV). Lucas, Hans-Christian / Rameil, Udo, 1980: Furcht vor der Zensur? Zur Entstehungs- und Druckgeschichte von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegel-Studien 15, 63–93. Marx, Karl, 1987: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin. Neuhouser, Frederick, 2000: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge. Neuhouser, Frederick, 2008: Hegel’s Social Philosophy. In: Beiser, Frederick C. (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, Cambridge, 204–229. Pöggeler, Otto, 1983: Einleitung. In: Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), Hamburg 1983, IX–XLVIII. Quante, Michael, 1993: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart. Requate, Angela, 1997: Das Verhältnis von Geschichte und Philosophie bei Hegel. In: Hegel-Jahrbuch, 66–71. Riedel, Manfred, 1982: Zwischen Tradition und Revolution, Frankfurt am Main. Rousseau, Jean-Jacques, 1977: Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart. Schmidt, Gerhart, 1989: Kausalität oder Substantialität? Zu Hegels Ontologie der Geschichte. In: Lucas, Hans-Christian / Planty-Bonjour, Guy (Hg.): Logik und Geschichte in Hegels System, Stuttgart, 147–171. Schnädelbach, Herbert, 2000: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt am Main. Siep, Ludwig, 2010a: Einleitung. In: Ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München, 11–22. Siep, Ludwig, 2010b: Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. In: Ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München, 25–43. Siep, Ludwig, 2015: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen. Siep, Ludwig, 2017: How Modern is the Hegelian State? In: James, David (Hg.), Hegel’s Elements of the Philosophy of Right. A Critical Guide, Cambridge, 197–218. Spieker, Michael / Schwenzfeuer, Sebastian / Zabel, Benno (Hg.), 2019: Sittlichkeit. Eine Kategorie moderner Staatlichkeit?, Baden-Baden. Spinoza, Baruch, 2007: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg. Städtler, Michael, 2003: Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin. Städtler, Michael, 2015: Warum ist „[d]er Ursprung der obersten Gewalt […] für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“? Über systematische Gründe politisch juridischer Verbindlichkeit bei Kant. In: Bunke, S. / Mihaylova, K. / Ringkamp, D. (Hg.): Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen, 145–160. Vieweg, Klaus, 2012: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München. Westphal, Kenneth, 1999: The basic context and structure of Hegel’s Philosophy of Right. In: Beiser, Frederick C. (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge, 234–269. Wood, Allen W., 1990: Hegel’s Ethical Thought, Cambridge.
I. ZUR EINORDNUNG
CONCEPT, TRUTH, FREEDOM. LOGICAL-SYSTEMATIC TRAITS OF THE GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS Matteo Cavalleri The Preface to the Grundlinien der Philosophie des Rechts begins with a clear, two-fold systematic notation with which Hegel indicates to the reader where precisely this work will be located within his system, and the conditions of possibility for its proper interpretation. The author warns that his “textbook is a more extensive, and in particular a more systematic, exposition of the same basic concepts which, in relation to this part of philosophy, are already contained in a previous work designed to accompany my lectures, namely my Encyclopaedia of the Philosophical Sciences.”1
Here he is referring to the section on the objective spirit, of which the Grundlinien appear as an integration both with respect to the development of its argument and in terms of delving deeper into its systematic nexuses. From this results one first hermeneutic indication: the Philosophy of Right is a constitutive part, in the form of an exploded view, of the whole Hegelian system, and if it is to be interpreted properly it has to be read in systematic terms, i.e. through a reading that is able to locate it in its proper, widest and interconnected context.2 In other words, the system should not here be understood as a simple architecture capable of playing host to the Philosophy of Right, but as an active interpreting context. The system’s own interpretative capacity is based on the speculative method that runs through it – the one that characterises Hegel’s entire philosophy and, by way of translation, differentiates his treatment of right from all that went before. It is thus the presupposition of any philosophical, scientific understanding of right itself. This method, the Preface again makes clear, should be gleaned from the Science of Logic: “I have fully developed the nature of speculative knowledge in my Science of Logic, I have only occasionally added an explanatory comment on procedure and method in the present outline. [...] I have presupposed a familiarity with scientific method; [...] it will readily be noticed that the work as a whole, like the construction [Ausbildung] of its parts, is based on the logical spirit. It is also chiefly from this point of view that I would wish this treatise to be understood
1
2
GPR, p. 11/9. Here we will indicate citations from Hegel’s works through the use of acronyms (see the bibliographical note at the end of this essay, for explanation) followed by the page – albeit in the case of GPR, EL and EG we will generally quote by §§ – of the German edition and, where relevant, the English one. The letter A refers to the Anmerkungen and Z to the Zusätze. See Brooks 2007, p. 13.
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and judged. For what it deals with is science, and in science, the content is essentially inseparable from the form.”3
Form and content, method and object of analysis, cannot be understood as independent of each other or simply as the opposite poles of an extrinsic relationship. Content is linked, bound [gebunden] to form. In a philosophical treatment, therefore, the object cannot be merely expounded. Likewise, the method cannot simply be applied to the content as something external that has itself already been predetermined. Rather, “the epistemic credentials of both must be established together”4, for “the speculative or positively rational apprehends the unity of the determinations in their opposition”5. And the concreteness of Hegel’s method – the one pursuant to which “philosophy has to do with Ideas and therefore not with what are commonly described as mere concepts”6 – is based on the link between form and content. Hegel presents concreteness as the necessary achievement of the work of the concept, insofar as philosophy must consider itself as the comprehension, in the concept, of the concreteness of the reality. This concreteness does not pre-exist the work of the concept itself, but rather appears as that which “constitutes […] by way of the concretion7 of its determinations”8. The very nature of the concept allows the manifestation of the concrete as such, and the overcoming of the abstractness inherent in the determinations of reflection: “The Concept is what is altogether concrete, [...] the moments of the Concept cannot be separated; [...] but since in the Concept their identity is posited, each of its moments can only be grasped immediately on the basis of and together with the others”9.
For these reasons, the speculative method through which the form of rationality is expressed cannot be presented by way of a taxonomy of procedural norms. In Hegel’s system, rationality acts as the immanent form of the contents of knowing. In consequence, philosophy’s task is to “bring out the generative processes through which each object of knowledge concretely takes form, thanks to a patient work explicating each moment of its conceptual articulation. In this sense, for Hegel the method of exposition has to coincide with the gradual and complete explication of the contents themselves.”10
This explanation assumes a plastic form within the system, and in so doing delineates the architecture of the system itself – one that Hegel defines as a “circle of circles”, pursuant to which “each of the parts of philosophy is a philosophical whole, a circle that closes upon itself”; yet as a totality the circle “breaks through 3 4 5 6 7
GPR, pp. 12–13/10. Thompson 2017, p. 57. EL, § 82, p. 176/131. GPR, §1 A, p. 29/25. The Italian maintains an echo of the Latin in which “concretus” is the past participle of “concrescĕre” (to grow up with). 8 Giuspoli 2013, p. 14. 9 EL, § 164, p. 313–314/241. 10 Giuspoli 2013, pp. 30–31.
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the restriction of its element as well […] and it grounds a further sphere”11. Each circle is thus both a necessary moment of the system, in the perspective of the fulfilment of the whole idea, and a specific site of the appearance of this same idea which, as a totality, mutually intersects with it.12 The reference to this same structure is reiterated in the very first paragraphs of the Grundlinien: “Philosophy forms a circle. [...] The starting point of philosophy is immediately relative, for it must appear at another end-point as a result. Philosophy is a sequence which is not suspended in mid-air; it does not begin immediately, but is rounded off within itself”13.
And what in the circle of Philosophy of Right appears a result is, paradoxically, the very “concept of right” whose “deduction is presupposed here and is to be taken as given”14. The task of the philosophical science of right is to bring to completion the nature of this concept, “to develop the Idea, which is the reason within an object [Gegenstand], out of the concept; or what comes to the same thing, must observe the proper immanent development of the thing [Sache] itself”15. Hence why §1 of the Grundlinien can assert that “the subject-matter of the philosophical science of right is the Idea of right – the concept of right and its actualization”16. But from where does the concept of right arrive as a “given”? Sticking to the structure of the system, it is the effect of the evolution of the idea within the “determinacy or element”17 of the subjective spirit. Likewise, following the same structure, the philosophy of right brings to completion the actualisation of the concept of right in the concept of “world history” – that moment which closes the circle of the objective spirit and begins that of the absolute spirit. It is thus clear that the very form of the system is at work within the philosophical interpretation of right and that this “systematic point is evidently crucial for the correct understanding of the demonstrative task of the Philosophy of Right. And this means that its entire argument is misunderstood if the connection to the system is left out”18.
If the concept of “world history” is the hinge between the sphere of the objective spirit and of the absolute spirit, the concept of the “free spirit” plays the same systematic function in the passage from subjective spirit to the objective one. Hegel grasps this spirit, within this passage, as the free will in its destiny toward objectivation: 11 EL, § 15, p. 60/39. 12 Based on this understanding Franco Chiereghin – in dialogue with the epistemology of complex systems – speaks of the “hologrammatic” vocation of Hegel’s system (see Chiereghin 2011, pp. 147–153). 13 GPR, § 2 Z, p. 30–31/26. 14 Ibid., § 2, p. 30/26. 15 Ibid. 16 Ibid., § 1, p. 29/25. 17 EL, § 15, p. 60/39. 18 Nuzzo 2017, p. 109. For a panorama of the various interpretative orientations that emphasise, relativise or deny the importance of a systematic reading of the Philosophy of Right or its consideration in light of Hegelian metaphysics, see Thompson 2017, pp. 44–45.
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“This will to freedom is no longer an urge which demands its satisfaction, but the character, – the spiritual consciousness that has become urgeless being. – But this freedom, which has the content and purpose of freedom, is itself initially only a concept, a principle of the spirit [Geist] and heart, and destined to develop into objectivity, into legal, ethical, religious actuality, as well as scientific actuality.”19
Only by virtue of this objectification can Hegel infer: “Right is any existence in general that is the existence of the free will. Right is therefore in general freedom, as Idea”20. As we can see from the structure of the system, this objectivation does not play out in full in the Philosophy of Right, but rather must proceed within the moments of the absolute spirit. As a result, those interpretations that not only decouple the objective spirit from the system, but deny its – even problematic – translation within the ultimate sphere of the spirit, appear to be rather truncated. THE SPECULATIVE TRUTH OF THE BECOMING-OBJECTIVE OF FREEDOM The objectivating nature of freedom, the intentionality that leads it to its realisation in the world, is a direct effect of Hegel’s decision to study freedom in a speculative perspective. There is, indeed, a “methodological necessity that links the idea of freedom to a movement of objectivation”21, which colours and determines the very meaning of its actualization [Verwirklichung]. And this necessity is not something that freedom undergoes, as if it were a merely conditioning and external necessity, but something that characterises it from within, to the point of making it not only a theme and an object of Hegel’s philosophy of right, but the very element that propels it: “Freedom requires, commands and determines the process by which the structures of right are realised, and is not at all their consequence – in other words, freedom is not the result of a realisation process imposed by the general logic of the objective spirit, for it is instead this latter that is necessarily determined by the internal and ‘material’ logic of the concept of freedom, once this latter is speculatively assumed.”22
The choice to deploy the speculative method, like at the beginning of the Science of Logic, is not characterised as the decision in favour of one of multiple options, but rather as the only choice that makes it possible to grasp the truth of freedom, because it simply stands and watches it,23 leaving it to be in the act of its own selfexposition. Analysing the Introduction to the Grundlinien, Giorgio Cesarale also notes a homology with the dialectical structure at the beginning of the Science of Logic: 19 20 21 22 23
EG, § 482 A, p. 302/215. GPR, § 29, p. 80/58. Nuzzo 2000, p. 149. Ibid., p. 150. See GPR, § 2, p. 30/26.
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“In a certain sense, we could say that here the free will discharges the very functions of the logical beginning: that is to say, it opens up the whole field of visibility of the philosophy of the objective spirit, just as we could say that in the Logic the being-nothing-becoming triad does not purely represent the chronological primum of development, but a general structure of movement, a preview of the subsequent modalities of the realisation of logical transformations. [Likewise] the will posed and ‘deducted’ in the Introduction remains the skeleton of each subsequent conceptual movement.”24
If free will, qua individuality, is moved by the same dynamic of thought – the dynamic of free circulation between the moment of abstraction and the moment of particularity – substantial freedom obtains its own adequate manifestation only in the ethical will, thus confirming that it has the very nature of speculative thought. Likewise, the peculiarity of this latter is the “substantial and actual freedom that connotes a spiritual subject”25. The result of the development that freedom undergoes in the passage from the sphere of abstract right to the sphere of ethical life, passing by way of the sphere of morality, consists in the fact that in the world of ethos the idea of freedom shows how truth and freedom possess one same logic; a result that Hegel compresses into the expression “[ethical life] is the truth of the concept of freedom”26. The task that the Philosophy of Right ascribes to speculative thought, pursuant to the evident structural isomorphism that brings truth and freedom together, is the task of leaving the concept of freedom free to move according to its own “immanent progression”, which is to say according to the movement of the “production of its own determinations”, which does not depend on the “application of the universal to such material of extraneous origin“27. Hegel ascribes this indication – one that is seemingly only methodological in character – the task of presenting the dialectical nature of his thought, or better, the nature of his understanding of the dialectic: “The moving principle of the concept, which not only dissolves the particularizations of the universal but also produces them, is what I call dialectic. I consequently do not mean that kind of dialectic which takes an object [Gegenstand] [...] and dissolves it, confuses it, develops it this way and that [...]. The higher dialectic of the concept consists not merely in producing and apprehending the determination as an opposite and limiting factor, but in producing and apprehending the positive content and result which it contains; and it is this alone which makes it a development and immanent progression. This dialectic, then, is not an external activity of subjective thought, but the very soul of the content which puts forth its branches and fruit organically.”28
There thus exists a necessity inherent to the operation of the dialectic, a need that belongs to the very essence of the content. Here there emerges an idea of the rational that does not trap or destroy particularity from the outside, but moves within the content and, simultaneously, moves it, celebrating its freedom. Likewise, the 24 Cesarale 2009, pp. 35–36. The homology functions as long as we understand the beginning as a generative Ursprung and not a temporal Anfang. On this distinction, see Theunissen 1978, p. 203 et sqq. and Angehrn 1977, p. 23. 25 Nuzzo 2000, p. 154. 26 GPR, § 141 A, p. 287/186. 27 Ibid., § 31, p. 84/59. 28 Ibid., § 31 A p. 84/60. On the role of the dialectical method in the Grundlinien, see Ilting 1976.
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content is not understood as a conditioning element, as a hypostasis that puts the brakes on the free action of the concept, but rather as its positive instance, as the necessary material in which the dialectic of the concept can be experienced – in the act in which it produces this material – as “development“, in which it can free itself of indeterminacy and know itself as freedom. The methodological indication in the Grundlinien systematically corresponds to the pages in The Doctrine of the Concept that begin the section on objectivity, where the problematicity that characterises the concept’s freedom of becoming-object – and which links it to its understanding, to its truth – is retraced at the level of ontological proof: “Now it might appear that the transition from the concept into objectivity is quite another thing than the transition from the concept of God to God’s existence. But, on the one hand, it must be borne in mind that the determinate content, God, makes no difference in a logical progression, and that the ontological proof is only one application of this logical progression to that particular content. On the other hand, it is essential to be reminded [...] that the subject obtains determinateness and content only in its predicate; that prior to the predicate [...] so far as conceptual cognition is concerned it is only a name; but in the predicate, with determinateness, there begins at the same time the process of realization in general. – The predicates, however, must be grasped as themselves still confined within the concept, hence as something subjective with which no move to existence has yet been made.”29
Just as the speculative knowledge of the determination of God allows an understanding of the dialectical tension that runs throughout the necessary relation of mutual belonging between the concept of God and his existence, speculative thought as applied to the concept of freedom similarly consists of letting it be, without wishing to determine it in a unilateral, external fashion by way of a predicative chain: “To consider something rationally means not to bring reason to bear on the object from outside in order to work upon it, for the object is itself rational for itself”30. This rationality does not express itself in the simple product of the externalisation of the concept of freedom, but in the processuality of the externalisation of freedom: “it is the spirit in its freedom, the highest apex of selfconscious reason, which here gives itself actuality and engenders itself as an existing world”31. In confirmation of the fact that what interests Hegel is the process in itself, more than its fruit, it is telling that the same formulation appears in the first paragraph of ethical life, where this latter is defined as “the concept of freedom which has become the existing [vorhandenen] world and the nature of self-consciousness”32. Just as the Boden of right, namely the spirit, is the unfolding of a processuality heralded in §4 of the Grundlinien, but completed only in ethical life (in §151), likewise freedom does not express its own objectivity in a fact, a reality confirmed once and for all, but in a development that spreads across all of the Philosophy of Right. A theoretical, intellectualistic understanding of freedom has as its object reality, understood as the sequence of its specific hypostases, whereas speculative thought instead 29 30 31 32
WLII, pp. 403/626. GPR, § 31 A, p. 85/60. Ibid. Ibid, § 142, p. 292/189.
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seeks out and grasps the dynamic of this objectivation, in which the truth of the concept of freedom completely expresses itself only at the level of ethical life.33 As we have seen, freedom becomes objective not only in the determinations of abstract right, morality and, at most, ethical life and its institutions, but also within a becoming-conscious of the will expressed as a “Wissen”34, as the “adequate cognition [Erkenntnis]”35 of freedom itself. This understanding is not immediate and – confirming its speculative matrix – it relies on taking a backward step. Unlike moral will, which is based on a unilateral and unrelated act in confirmation of its own subjectivity,36 ethical will consciously “allows its own activity to be guided and informed by laws, institutions and existing customs that make freedom possible by giving it its concrete actuality”37. Angelica Nuzzo highlights, in this disposition to discretion – to which the ethical will devotes itself – a reflection of the attitude of Enthaltsamkeit, abstinence, that characterises the action of the reasoning attitude in the Preface to the Phenomenology of Spirit.38 The understanding’s will (here comparable to moral will) to act as an arbitrating principle driving the content is counterposed to speculative thought’s decision (here comparable to ethical will) in favour of the “reines Zusehen“39, the pure watching, of the movement of the content. The institution of this twofold connection – between understanding and moral will and speculative thought and ethical will – is loaded with consequences. In primis, it allows us to identify an ethical coloration within the system’s logical-speculative opening (proposed in the Phenomenology and then re-elaborated in the theme of beginning the Science of Logic): inherent within the decision for reines Zusehen is a reference to the otherness of the content, to an intersubjectivity that allows the other freely to be and which finds in this other freedom the necessary “possibility” for its own freedom to become effective.40 A freedom operates at the mature level of the objective spirit that leads the ethical will to allow freedom to expose itself in the very process of its objectivation: “in this sense we can say that it is precisely the ethical determination of freedom that guides the unfolding of the speculative logic of the Philosophy of Right”41. The development of freedom and of truth thus proceed in parallel, and in the actuality [Wirklichkeit] of their product there take root both the evolution of the determinations of cognition and that of the determinations of practical will: the adequate cognition [adäquate Erkenntnis] underlined in the Anmerkung to §147 converts into the adequate existence [adäquate Existenz] proposed by the Anmerkung to §152, to which it corresponds:
33 34 35 36 37 38 39 40 41
See ibid., § 141, A 287/186. Ibid., § 143, p. 293/189. Ibid., § 147 A, p. 296/191. See ibid., § 137–138. Nuzzo 2000, p. 155. See PG., p. 56. Ibid., p. 77. On the relationship between logical beginning and freedom, see Samonà 2012. Nuzzo 2000, p. 156.
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“Subjectivity, which is the ground in which the concept of freedom has its existence, and which, at the level of morality, is still distinct from this its own concept, is, in the ethical realm, that [mode of] existence of the concept which is adequate to it”42.
Lastly, this connection between truth and freedom entails a further repercussion, which is ontological in nature. The truth that speculative thinking “sees” and follows in the process in which the determinations of right are produced shows the freedom that moves these determinations and continually reaffirms and reproduces itself therein. To speak of the “truth” of freedom means recognising that both freedom and truth are nothing other than the processual modality that characterises their manifestation: freedom appears as constitutively linked to its own objectivation; this latter is not a possibility of freedom but its necessity, the necessity to leave what is other than itself to be. Pursuant to this, we can say that the “existing world” is a “becoming”, a product of the development of the concept of freedom:43 it is “neither an independent empirical reality nor a transcendent metaphysical entity”44; rather, its givenness implies the work of the spirit, which “has its knowledge and volition in self-consciousness, and its actuality through self-conscious action”45. Thus the world together with the concept of freedom makes up part of the idea of freedom and continually “becomes” in that it is an “ethical reality”46 which has “in ethical being […] its motivating end and a foundation which has being in and for itself”47. Knowing freedom, possessing its truth, thus implies its actualisation: the “unity of the concept [...] with its existence [Dasein] [...] is knowledge [Wissen]”48. The practical-political and logical-speculative perspectives overlap: the terror and violence produced by an universally abstract freedom that escapes and dissolves any determinacy convert into the impossibility of knowing freedom, if they do not allow what is to be and volatilise its contents in an arbitrary and subjectivistic intellectual act. The unilateralism of both perspectives can be overcome only in ethical life, in that “spirit living and present as a world”49 where universality becomes concrete and objective and where, as an immanent motor, it guarantees the actuality of both subjective freedom and its certainty: “The right of individuals to their subjective determination to freedom is fulfilled in so far as they belong to ethical actuality; for their certainty of their own freedom has its truth in such objectivity, and it is in the ethical realm that they actually possess their own essence and their inner universality.”50
At the level of awareness reached in ethical life, the objectivation of freedom is thus assumed as the fulfilment of its subjective dimension; this subjectivity is neither denied nor suffocated, insofar as objectivity acts not as an extrinsic, conditioning 42 43 44 45 46 47 48 49 50
GPR, § 152 A, p. 303/196. See GPR, § 142, p. 292/189. Nuzzo 2000, p. 157. GPR, § 142, p. 292/189. Nuzzo 2000, p. 157. GPR, § 142, p. 292/189. Ibid., § 143, p. 293/189. Ibid., § 151, p. 301/195. Ibid., § 153, p. 303/196.
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limit, but as an internal action that gives concreteness to the very existence of subjectivity and which, even as it confirms its own objectivity and otherness, becomes the “internal” universality of individual subjects. Objectivity reflects its own universality within these subjects, as something that confirms and ensures their consistency, as their “living good”51. THE OBJECTIVATION OF FREEDOM AND THE LOGIC OF THE CONCEPT Once we have ascertained the centrality of the act of freedom’s objectivation – both in the ontological and ethical-practical domains – we now need to turn our attention to the logic of this externalisation. This implies rethinking the surviving relationship between the nature of the concept and the nature of freedom. The logic of the development of freedom is suggested and safeguarded by the very framework of the Grundlinien. It is grasped in their textual anchoring in the Science of Logic and in their positioning within the system. The objective spirit is the world produced by the idea at a certain stage of its development. Right, understood in its highest meaning, is thus the idea, the mutual intersection of the concept and its actualisation. The speculative specificity of Hegelian philosophy depends on the union of the rational element and the actual element. One of philosophy’s critical tasks is to demonstrate that mere concepts are “one-sided and lacking in truth”, that they are the fruit and object of that “abstract determination of understanding”52 which characterises the philosophy of reflection. Hegel’s polemical target is Kantian philosophy, with respect to which the Stuttgart philosopher positions himself in antithetical relation, establishing his own conception of right on the basis of a different conception of the – not only epistemic but also ontological – status of rationality: “we shall see […] the speculative concept counterposed to the mere concept, proper to the understanding. The first is the concept integrated with actuality, the second a concept independent of actuality. The speculative concept of which Hegel speaks, being at one with its actualisation, can also be called the idea”53.
Yet the idea does not present itself as an indistinct rational-actual whole, unless we overlook its internal dialectic: “The concept and its existence [Existenz] are two aspects [of the same thing], separate and united, like soul and body. The body is the same life as the soul, and yet the two can be said to lie outside one another. A soul without a body would not be a living thing, and vice versa. Thus the existence [Dasein] of the concept is its body, just as the latter obeys the soul which produced it. The buds have the tree within them and contain its entire strength, although they are not yet the tree itself. The tree corresponds entirely to the simple image of the bud. If the body does not correspond to the soul, it is a wretched thing indeed. The unity of existence [Dasein] and
51 Ibid., § 142, p. 292/189. 52 Ibid., § 1, p. 29/25. 53 Marini 1990, p. 206.
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the concept, of body and soul, is the Idea. It is not just a harmony, but a complete interpenetration. Nothing lives which is not in some way Idea. The Idea of right is freedom, and in order to be truly apprehended, it must be recognizable in its concept and in the concept’s existence [Dasein].”54
Equally, nor is the idea a static harmony, the holistic coexistence of its moments, but the mutual intersection of elements that necessarily implicate one another, which necessarily link to their own other; an otherness that in remaining distinct allows the existence and truth of both the idea and its components. The concept cannot, therefore, fully and dynamically exist unless it is linked to its own actualisation, and vice versa. The radicalism of Hegel’s position pushes further, emphasising that the idea is “ontologically exhaustive” with regard to the spectrum of actuality: “if the Idea is seen as ‘only an idea’, a representation in the realm of opinion, philosophy affords the opposite insight that nothing is actual except the Idea. For what matters is to recognize in the semblance of the temporal and transient the substance which is immanent and the eternal which is present.”55
To assert that nothing is actual outside of the idea has two linked consequences. On the one hand, the rational acquires actuality when it simultaneously enters into external existence; on the other hand, the power of the concept is the only “subjectivity” capable of grasping this consubstantiality, thanks to the fact that its very logic and internal dialectic is built on such a form of relationality. In the Anmerkung to §1 the relationship between concept, actualisation and idea embraces a well-defined topica: “Philosophy [...] shows that [...] it is the concept alone [...] which has actuality, and in such a way that it gives actuality to itself. Everything other than this actuality which is posited by the concept itself is transitory existence [Dasein], external contingency, opinion, appearance without essence, untruth, deception, etc. The shape which the concept assumes in its actualization, and which is essential for cognition of the concept itself, is different from its form of being purely as concept, and is the other essential moment of the Idea.”56
The speculative concept is the true object of philosophy because it alone has actuality. This sets it in contrast to the philosophy of reflection, which is based on the abstractive capacity of the intellect which stops at (producing) the unilateralism and falsity of mere concepts, which do not grasp the whole and are unable to reach the immanent truth. The concept, conversely, “grasps entirety, it is true, it is the concrete determination of reason”; thanks to its truth “it is actual, it entails actuality, from which it cannot be distinguished, except by the artifice of our intellect which breaks down what is unitary”57. The concept not only effects its own actualisation, but is already this actuality “held within it, as a potential”58: 54 55 56 57 58
GPR, § 1 Z, p. 30/25–26. Ibid., p. 25/20. GPR, § 1 A, p. 29/25. Marini 1990, p. 207. Ibid.
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“The derivation of the real from the concept, if ‘derivation’ is what we want to call it, consists at first essentially in this, that the concept in its formal abstraction reveals itself to be incomplete and through a dialectic immanently grounded in it passes over into reality: it passes over into it, however, as into something which it generates out of itself, not as if it were falling back again onto a ready-made reality which it finds opposite it, or as if it were taking refuge, because it sought for something better but found none, into something that has already been proven to be the unessential element of appearance.”59
Even the reality which seems unrelated to the concept’s action, as if resisting it, turns out to be generated by the concept, but not in the usual topic of the potential expressed in the contest between subject and object, between producer and produced, but rather in a wholly new form. Through this form, the reality doesn’t stand “against” the concept, but positions itself in a relation of co-belonging with the concept, which links them in a bind of necessity that sanctions and constantly renovates the freedom of both moments. This relationship of consubstantiality between the speculative concept and actuality, between the rational and the actual, holds firm and finds legitimacy exclusively on the basis of one specific and qualitatively restricted usage of ‘actuality’: actuality is in fact Wirklichkeit: the “unity, become immediate, of essence and existence, or of what is inner and what is outer”60, the “positedness of that unity” removed from “passing-over, and its externality is its energy”61. Conversely, the passing, the transitory, the contingent, “appearance without essence, non-truth, illusion”62 are attributes of Dasein. To fail to recognise this decisive distinction between Wirklichkeit and Dasein entails an ontological and gnoseological degradation of experience itself: “In common life people may happen to call every brain wave, error, evil, and suchlike “actual”, as well as every existence, however wilted and transient it may be. But even for our ordinary feeling, a contingent existence does not deserve to be called something-actual in the emphatic sense of the word; what contingently exists has no greater value than that which somethingpossible has; it is an existence which (although it is) can just as well not be. But when I speak of actuality, [...] I distinguished it quite clearly and directly, not just from what is contingent, even though it has existence too, but also, more precisely, from being-there, from existence, and from other determinations.”63
Not to contemplate this distinction is to reduce the Philosophy of Right to an apologetic mirroring of the historically-politically given. But retaining a proper understanding of actuality’s different ontological pattern, and of its connection with the concept, allows us to grasp the authentic meaning of Hegel’s proposition that “what is rational, is actual, and what is actual, is rational”. For this reason, this latter does not mean “simply being reconciled with the already-givenness of a present state, in the sense of political quietism. Or in the sense of a political empiricism that must check its own understanding of
59 60 61 62 63
WLII, p. 264/522. EL, § 142, p. 279/213. Ibid., § 142 A 279/213–214. Marini 1990, p. 207. EL, § 6 A, p.48/29–30. For a treatment of the role that the concept of contingency plays within the economy of the system, see Henrich 1971, pp. 157–186.
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‘what is the case’ against this, too, and which in this regard knows neither processes or gradations of being […]. Also from this point of view, then the conception of both the rational and the effective, in relation to the comparative grades of effective actuality […] does not transform Hegel’s Philosophy of Right into an apologia for the latest existing status quo. That, insofar as it stands opposed to a subjective and ideal ought [Sollen] and its pretensions, to an abstract utopianisation […]. The rational is the actual: this means that the important thing is to see the pattern of dialectical-objective mark within the actual itself.”64
THE STATE, THE IDEA AND THE FINITE In the aforementioned Anmerkung to §1 we can find this decisive double parallelism between the gradations of being – Dasein/Wirklichkeit – and the gradations of the modalities of cognition – abstract thought/speculative thought: the correspondence between mere concepts and contingency moves side-by-side with the correspondence between speculative concept and actuality. Indeed, Hegel designates the components of this former pairing with the same attribute of non-truth [Unwahrheit]:65 “being unilateral, abstract thought stops at what does not have meaning, swaps the transitory for the eternal, and falls into opinion, falsehood, illusion”66. The idea, conversely, enjoys an internal, bipolar solidity – it is the concept and, at the same time its actualisation – which is in turn inflected according to both form and content. In terms of form, the idea should be understood in its two-fold Gestaltung, of being an idea in the form of the rational and in the form of the actual. As for content: “The Idea is what is true in and for itself, the absolute unity of Concept and objectivity. Its ideal content is nothing but the Concept in its determinations; its real content is only the presentation that the Concept gives itself in the form of external thereness; and since this figure is included in the ideality of the Concept, or in its might, the Concept preserves itself in it.”67
Only by holding on to the interdependent tension between objectivity and the concept – here understood as a moment of the idea, as subjectivity, and not as thinking on the idea, its truth – can we grasp and preserve the concreteness of the idea, escaping from the doubts arriving from many quarters with regard to its supposed logical formality and abstractness: “Inasmuch as the Idea does not have an existence as its starting point and support, it is often mistaken for something belonging only to formal logic. We must leave this view to the standpoints for which the existing thing, and all the further determinations that have not yet penetrated to the Idea, still count as so-called realities and genuine actualities. – Equally mistaken is the notion according to which the Idea is only what is abstract. That the Idea is abstract is true enough in the sense that everything untrue is consumed in it; but in its own right the Idea is essentially concrete, because it is the free Concept that determines itself and in so doing makes itself real. It would only be what is formally abstract, if the Concept, which is its
64 65 66 67
Bloch 1977, pp. 253–254. GPR, § 1 A, p. 29/25. Marini 1990, p. 207. EL, § 213, p. 367/286.
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principle, were taken to be the abstract unity, and not how it really is, i. e., as the negative return into itself and as subjectivity.”68
Obviously, the counterpart and polemical target of such a conception of the threeway rational-actual-idea nexus is Kant’s philosophy of ought and reflection. The distance that separates Hegel’s conception from Kant’s conception of right also descends from this logical-ontological opposition, since for the Stuttgart philosopher right “is not the imposition of limits, following a universal law of freedom, on a world of decomposed wills; it is already this both rational and actual freedom, it is the idea of freedom”69, whose Offenbarung is the system of right as a “realm of […] freedom” realised “as a second nature”70. A nature, a manifest and conscious product of the spirit, within which freedom plays the decisive and determining role that gravity plays in the physical world: “freedom is just as much a basic determination of the will as weight is a basic determination of bodies”71. Freedom like gravity is the necessity to have a “body”, or to be linked to a determination, to something particular that in remaining as such allows abstract freedom to be concrete, to be actuality and not only concept, to be the ethical world expressed in institutions and laws that tend toward justice; it allows the identity of the indeterminate universal being-with-self-in-being-other-than-self. But this is only the ontological structure of the spirit, a structure that Hegel presents in his Lectures on the Philosophy of World History, precisely by way of the representation that connects it to the force of gravity.72 In the sphere of right, actualised by the objectivation of freedom, the subject cannot therefore become separate from the determinations of the free will – either the organic, somatic ones that characterise the individual’s body, or the intersubjective ones that weave the dynamics of recognition of the ethical body: “freedom is in fact the substance of will just as weight is the substance of the body – one cannot escape that weight, and it is necessarily to allow oneself to be entirely determined by it (the freedom of the spirit is a necessity)”73. This “liberating” weight is thus expressed in the “existence of the free will” that is right; in logical terms, it is expressed as “die Freiheit, als Idee”74. And this is the level at which Hegel pursues his opposition to Kant. For Hegel, to define freedom as the union of concept and objectivity, as a concrete necessity that assumes historical connotations and determinations, means liberating it from the abstract necessity of the ought and a reflective rationality: the fact that “man is free is an actuality, and not a demand of reason”75. Hegel himself reproduces the abstract necessity that characterises Kant’s definition of right – though without remaining faithful to his text – in the Einleitung in die Rechtslehre in the Metaphysik der Sitten: 68 69 70 71 72 73 74 75
Ibid., § 213 A, p. 368–369/287. Marini 1990, p. 208. GPR, § 4, p. 46/35. Ibid., § 4 Z, p. 46/35. The same comparison appears in ibid., § 7. See VPW, vol I, pp. 31–32. Nuzzo 2000, p. 163. GPR, § 29, p. 80/58. Marini 1990, p. 210.
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“In the Kantian definition of right [...], which is also more widely accepted, the essential element is ‘the limitation [Beschränkung] of my freedom or arbitrary will [Willkür] in such a way that it may coexist with the arbitrary will of everyone else in accordance with a universal law’”76.
This abstract necessity relies on a double vacuum. The first corresponds to Beschränkung, the negative dynamic that serves as a motor of the definition itself; the second, for its part, also concerns the positive dimension of the definition, which rests on the coexistence of arbitrary wills, since their concordance [Übereinstimmung] takes root in “formal identity” and in the “law of contradiction”77. From this results the impossibility for Kant’s perspective – an abstract one animated by the philosophy of the intellect – of indicating and demarcating what the actual juridical content of action is. In the last instance, this impossibility derives from the intellect’s inability – notwithstanding the reference to the universality of law – to overcome the viewpoint of particularity and thus to reach the rationality of the concrete whole. Such an intellectualistic rationality – just like the universal connected to it – cannot, therefore, be more than a “limiting”, “external” and “formal”78 one. Hegel restores this triad of attributes in full in §183 of the Grundlinien, in order to denote the political hypostasis that derives from reflective consciousness: civil society. Indeed, this latter is the fruit of a “relation of reflection [Reflexionsverhältnis]”, represents the “stage of difference” and entails a “loss of ethical life”79. Since civil society is governed by the principles of particularity – that of the particular person who must satisfy his own needs – and formal universality – that patterned by the relations of unilateral dependence –: “One may regard this system in the first instance as the external state, the state of necessity and of the understanding”80. The extrinsic character of civil society perfectly fits with that of intellectualistic rationality, being a “state of understanding” with this latter’s formality, and the expression “state of necessity”81 acquires its true meaning precisely when it is considered as part of a relation of equivalence with the limiting function of the intellect. Civil society, the relations of force that cut through it, and the institutions suitable to governing them, in fact appear as a necessity in the most “naturalistic” sense of the term, as a dimension wholly extrinsic to individuals’ wills and perceived by these latter exclusively as an opposition and a limit. The political state embodies a very different necessity; as a “state of freedom, it lives in the self-consciousness of its citizens, it is a state of reason and concrete substantiality”82. What turns necessity from liberating to oppressive is precisely this translation from interiority to exteriority; a shift that can occur in a change that takes place in the internal dialectic of the idea. In the system of lost ethical life, founded on the intellectual separation between particularity and universality, the idea of freedom loses its Wirklichkeit, 76 77 78 79 80 81 82
GPR, § 29 A, p. 80/58. Ibid. Ibid., p. 81/58. Ibid., § 181, p. 338/219. Ibid., § 183, p. 340/221. On the concept of Notstaat, see Cesa 1986, pp. 135–151. Marini 1990, p. 211.
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and is relegated to the reflexive relationship with the “abstract moment of [its] reality [Realität]”; it is “relative totality” and its capacity to be and act as an internal necessity transforms into an “external appearance”83, in a merely oppositional, conditioning givenness. The “sociological”84 triad of exteriority, necessity and intellect in § 183 is thus re-read in speculative-logical terms, by way of a reference to the dynamic of separation to which the idea is subjected within civil society: “the idea in its Realität in fact sets out its terms as a banner under which to do what Jean Hyppolite has brilliantly called the ‘unhappy conscience of ontology’, the doctrine of essence as a dualistic gradation of the Logic, as a gradation that plays a mediating role between two still-separate extremes.”85
The reference to the processuality to which the idea of freedom is subjected allows us to underline the phenomenological tension which runs throughout the whole Philosophy of Right: “the idea, the absolute, the whole, is not something static, it is substance and subject […], it appears to our eyes as a phenomenology of freedom, an ideal development and progressive becoming of diversified intersubjective forms directed toward a growing fullness”86.
In Hegel’s perspective, the rhythm of this progress is set by the dialectic of speculative logic; it is the self-movement – animated by the logical motor of the negation of negation, as expressed in the structure of Manifestation – from concept to actualisation, to the idea: “The Idea is essentially process, because its identity is only the absolute and free identity of the Concept, because this identity is the absolute negativity and hence dialectical. The Idea is the course in which the Concept (as the universality that is singularity) determines itself both to objectivity and to the antithesis against it, and in which this externality, which the Concept has with regard to its substance, leads itself back again, through its immanent dialectic, into subjectivity.”87
To underline the processual nature of the idea obviously does not mean denying the dimension of totality; it is, in fact, this latter that proceeds, that moves. What changes is simply the perspectives from which we watch and grasp this movement: the objective spirit, considered in its fullness, is the idea, the rational and actual, concept and objectivity; from the dynamic viewpoint of its specific determinations, it is becoming captured at different levels and gradations of the mutual intersection of the rational and the actual: abstract right, morality, ethical life, but also family, civil society and state. This progression of the idea, travelled either in the figures of the Science of Logic or that of the Grundlinien, shows itself to be non-linear, or at least that its linearity is not one-sided: “According to the speculative method, we start out from a concept and follow it in its development, in its actualisation or objectivation, until reaching the fullness of the idea, which thus
83 84 85 86 87
GPR, § 184, p. 340/221. See Cesarale 2009, p. 50. Ibid. For Hyppolite’s quote, see Hyppolite 1953, p. 226. Marini 1990, p. 212. EL, § 215, p. 372/290.
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appears to us as a result, but is in actuality an omnipresent moment, a mediator, a ground for what preceded it in the exposition, and thus came first.”88
In the specific sphere of ethical life, the state is a protagonist, first passively and then actively, in a two-fold movement: from the side of the “development of the scientific concept” it “appears as the result” of the development that concerns the “immediate ethical life” of the family once it has passed via the “division of civil society”; from the side of “actuality” and its configurations, the state “emerges” as the “true ground [wahrhafter Grund]”89 of the spheres that had seemingly preceded it, revealing itself to be the motor of their internal mediation. The state – like ethical life with respect to abstract right and morality, like the idea with respect to the concept and actualisation, like the concept with respect to being and essence – founds the moments that the Folge des Begriffs of scientific demonstration portray as the product of their evolution. But at the same time, it is the foundation that comes out of these moments; “it is not simply and immediately behind and before them, their foundation. It is this, too, but not only this. It founds them, it entails their rationale, but at the same time it emerges and comes out of them, as a quality of its own foundation”90.
It produces itself as their foundation.91 If we are to grasp this complex dynamic of result-foundation and appearancemediation, it is decisively important that we underline the ontological quality of the moments in question. Civil society and the family are in fact ideal moments92 – and thus finite ones – of the ethos; the state, conversely is “the actual idea”, “the spirit which divides itself up into the two ideal spheres of its concept – the family and civil society – as its finite mode”; again, the state is “infinite and actual spirit for itself”93. The finiteness and ideal character of the family and civil society are in tension with the infinity of the idea embodied in the state. The infinite rises from within the finite, as its raison d’être: this reciprocal relation94 – which can be grasped from the perspective of the result as from that of the foundation – reverberates through the entire speculative structure of Hegel’s framework. Finite moments – be they called being and nothing, being and essence, logos and nature, abstract right and morality, or family and civil society – pass over into the infinite – be they 88 89 90 91
Marini 1990, p. 213. GPR, § 256 A, p. 397–398/273–274. Marini 1990, p. 52. We can see the same movement in EL, § 159 A, p. 304–305/233–234: “Since being has shown itself to be a moment of the Concept, the latter has thereby proven itself to be the truth of being; as its inward reflection and as the sublating of mediation, the Concept is the presupposing of the immediate presupposing which is identical with the return-into-self: the identity that constitutes freedom and the concept. Hence, if the moment is called the imperfect, then the Concept, as what is perfect, is more precisely its own self-development from the imperfect, for it is essentially this sublating of its presupposition. But at the same time it is the Concept alone which, by positing itself, makes the presupposition”. 92 See GPR, § 256 A. 93 Ibid., § 262, p. 410/258. 94 See EL, § 159 A.
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called, respectively, becoming, concept, spirit, ethical life, or the state – that relates them back to itself,95 drawing its own meaning from them and at the same time seeing them emerge from itself, giving them a new fullness of meaning. In this passage, which is a being related back to another, in this dialectic of action and passivity, we find the very soul of idealism and of its speculative matrix: “The claim that the finite is an idealization defines idealism. The idealism of philosophy consists in nothing else than in the recognition that the finite is not truly an existent”96. This is an awareness through which the differentiation with the philosophies of the intellect once again proceeds: “The determination of finite things does not go past their end. The understanding persists in this sorrow of finitude, for it makes nonbeing the determination of things and, at the same time, this non-being imperishable and absolute”97. Reason, conversely, experiences the authentic finiteness of the finite, and identifies infinity as the origin and objective of finiteness. The dialectical nature of the idea plays a fundamental role in this labour of reason, and is able to shed light on the nature of the finite from a different angle. Indeed, in the first pages of the section on the idea in the Doctrine of the Concept, Hegel further specifies the essence of finitude: “That actual things are not congruent with the idea constitutes the side of their finitude, of their untruth”98. In the Doctrine of Being, conversely, he adopts a representation of Platonic origins99: “It is the definition of finite things that in them concept and being are different; that the concept and reality, soul and body, are separable; that they are therefore perishable and mortal“100. But as against the insuperable dualism in Plato, for Hegel “finite actuality, in its non-correspondence to the concept, must also correspond to it: it is precisely this that defines finitude, which is to say that it corresponds and simultaneously does not correspond to its concept. Any form of finitude […] is thus defined: not only [the finitude] of ‘things’ that are in every respect separate (from their concept, from consciousness, from each other) and thus finite in the very modality of their being, but also the finitude of the spirit that has not yet risen to the absolute.”101
The Science of Logic explicitly states that there is simultaneously both correspondence and non-correspondence102. If it were not for this synchronicity, a sort of dualism would instead risk being reproposed: on the one hand, a “factual non-correspondence” of the finite, and on the other an “ideal of correspondence doomed never to be actualised, or only in a distant future”103; in other terms, an ought [Sollen]. The co-presence of correspondence and non-correspondence constitutes the skeleton of effective actuality, of the actual present: 95 96 97 98 99 100 101 102 103
See GPR § 141 A. WLI, p. 172/124. Ibid., p. 140/102. WLII, p. 465/672. See Plato: Phedon. WLI, p. 92/66. Theunissen 1993, p. 122. See WLII, p. 464/671–672. Theunissen 1993, p. 122.
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“the objective and the subjective world, ought to be in principle congruent with the idea; the two are themselves rather the congruence of concept and reality [...] When it is said that there is no subject matter to be found in experience which is perfectly congruent with the idea, the latter is opposed to the actual as a subjective standard; but there is no saying what anything actual might possibly be in truth, if its concept is not in it and its objectivity does not measure up to this concept; it would then be a nothing.”104
Here emerges an intermediate ontological status of the finite, able to explicate its ideal quality. This specificity rests precisely on the punctual synchronicity of the two dimensions, through which finitude “is (and not: ought to be) at one time the congruence that it is missing; this ‘at one time’ has the meaning of the αμα in the fourth book of the Metaphysics, indicating a simultaneity”105. This contradiction – which is consubstantial with the finite – is home to the fundamental distinction between not-being and nothing; a distinction that proceeds through the determination of non-truth. We have seen that the finite can reach the level of truth only if its actuality corresponds to the concept, even if not corresponding to it in the form of freedom. An essential non-truth is thus at the foundation of this correspondence, which is, in turn, truth’s field of existence. And the nature of this non-truth becomes clear precisely in relation to the ontological status of the finite: “in this sense, the non-true is what is not in truth – it is not true being, but nor is it nothing. It descends to that shine whose essence debases the being-here of the finite world in the second book of the Logic”106. The – ontologically deceptive – nature of the finite consists of precisely this, in situating itself between the fullness of being, which owes to the complete correspondence between concept and actuality, which characterises the idea – which is to say, the infinite moment – and the total lack of being proper to nothingness. If in the finite, actuality did not correspond in toto to the concept, there would reign the exclusive sterilisation of existence: “But if a subject matter, say the state, did not at all conform to its idea, that is to say, if it were not rather the idea of the state; if its reality, which is the self-conscious individuals, did not correspond at all to the concept, its soul and body would have come apart; the soul would have taken refuge in the secluded regions of thought, the body been dispersed into singular individualities.”107
As well as this constitutive fracture between correspondence and non-correspondence, internal to the finite, it is important to underline the non-monolithic and mobile soul of correspondence itself. Indeed, this latter should be read, in a Hegelian perspective, as a continual tension between processuality and result. Correspondence is not, therefore, ever a given, but rather incessantly reproduces itself in a dynamic patterned by dialogical and dialectical instances.108 In this processuality, correspondence divides into two with respect to the contradictory character of the finite, into a formal side and a concrete one: 104 105 106 107 108
WLII, p. 464/671–672. Theunissen 1993, p. 123. Ibid., p. 124. WLII, p. 465/672–673. See Wiehl 1972.
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“Finite actuality corresponds to the concept insofar as it can be subsumed underneath it, whereas it does not correspond to it insofar as it is prevented from passing into its actuality. Its correspondence is simultaneously non-correspondence – a concrete non-correspondence – precisely in that it is formal”109.
For this reason, Hegel could conclude that “finite things are finite because, and to the extent that, they do not possess the reality of their concept completely within them“, a concept that proves to be an “external determination” of theirs.110 This, then, is the nature of the finite, its ideal nature and its relationship with the conceptactualisation-idea triad. A nature that certainly exhibits a defective hue with respect to the fullness of the idea and its absolute mutual intersection of rational and actual – a mutual intersection, grounded on the dialectic of Wechselwirkung, through which the full binding of freedom and necessity is expressed in the state sphere. In individuality [Einzelheit], this binding assumes the form of a “relational freedom”111, within which the subject’s freedom is expressed thanks to a necessary and consciously-known link with an otherness; that is, with the necessity of “ethical potentials”, a necessity that casts off the vest of mere exteriority and – without denying its own objectivity – becomes the content and motor of subjective will. “The […] moment [of individuality] is that ‘I’ is with itself in its limitation, in this other; as it determines itself, it nevertheless still remains with itself and does not cease to hold fast to the universal. This, then, is the concrete concept of freedom […]. Here, we are not one-sidedly within ourselves, but willingly limit ourselves with reference to an other, even while knowing ourselves in this limitation as ourselves.”112
On the other hand, the finite is shot-through with a further representation of freedom. To be true and thus actual, the finite must necessarily correspond to its concept, and is compelled to do so, or else it would be nothing, the slave of the most brutal conditioning. But if it is not assumed “in its own free form”113 – an assumption characteristic of the idea alone – this correspondence to the concept risks in turn conditioning the finite, and risks making the Dasein wholly transparent to the action of the concept and thus dissolving its particular determinations. Therefore, to retrace the distinction between the formal and concrete sides of correspondence allows us to protect a space of freedom, or better, a form of freedom that can be defined as “leaving the other to be”, through which the abstractness of the finite is free to remain as such, to not become genuinely concrete. The accidental does have to do with the rational – for otherwise it would once again fall into nothingness – but it is not compelled to penetrate into the sphere of pure concreteness, to be a mere moment of passage, a merely instrumental support for some other becoming. Translating all this into the relations between finite and infinite characteristic of the Philosophy of Right may perhaps be useful for rethinking what space of freedom Hegel grants to the finite moments that spring to life within the state and, even more 109 110 111 112 113
Theunissen 1993, p. 123. WLII, p. 465/672. Cortella 2015, p. 23. GPR, § 7 Z, p. 57/42. WLII, p. 464/672.
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so, what form of freedom the state assumes in the moments in world history in which it acquires the form of particularity114. That, on one condition; namely, that the relationship between the logical and practical planes is not grasped in applicational terms or as a neutral mirroring, and that the logic of the philosophy of right is not identified with the repetition of particular moments or logical triads. Rather, it is to be found in the explication – even by way of different levels and circles – of the same processuality that generates and objectivates the concept. LITERATURE Works by G.W.F. Hegel: GPR: Grundlinien der Philosophie des Rechts, vol. 7, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1970. English translation: Elements of the Philosophy of Right, (ed.) Allen W. Wood, (trans.) H. B. Nisbet, Cambridge1991. EL: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), vol. 8, Erster Teil, Die Wissenschaft der Logik, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1970. English translation: The Encyclopaedia Logic: Part I of the Encyclopaedia of Philosophical Sciences, (trans.) T.F. Geraets, W.A. Suchting, and H.S. Harris, Indianapolis / Cambridge, 1991. EG: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), vol. 10, Dritter Teil, Die Philosophie des Geistes, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1970. English translation: Hegel's Philosophy of Mind, (trans.) W. Wallace, A.V. Miller, and revised with an Introduction by M.J. Inwood, Oxford, 2007. PG: Phänomenologie des Geistes, vol. 3, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1970. VPW: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, (eds ) J. Hoffmeister, Hamburg 1955. WLI: Wissenschaft der Logik I, vol. 5, Erster Teil, Die objektive Logik, Erstes Buch, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1969. English translation: The Science of Logic, (trans. and ed. by) G. Di Giovanni, Cambridge, 2010. WLII: Wissenschaft der Logik II, vol. 6, Erster Teil, Die objektive Logik, Zweites Buch. Zweiter Teil, Die subjektive Logik, (eds) E. Moldenhauer and K.M. Michel, Frankfurt am Main, 1969. English translation: The Science of Logic, (trans. and ed. by) G. Di Giovanni, Cambridge, 2010.
Other works: Angehrn, Emil, 1977: Freiheit und System bei Hegel, Berlin-New York. Bloch, Ernst, 1977: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Gesamtausgabe, vol. 8, Frankfurt am Main. Brooks, Thom, 2007: Hegel’s Political Philosophy. A Systematic Reading of the Philosophy of Right, Edinburgh. Cesa, Claudio, 1986: Notstaat. Considerazioni su un termine della filosofia politica di Hegel. In: Scritti per Mario Delle Piane, Napoli 1986, pp. 135–151. Cesarale, Giorgio, 2009: La mediazione che sparisce. La società civile in Hegel, Roma. Chiereghin, Franco, 2011: Rileggere la Scienza della logica di Hegel, Roma.
114 See GPR, § 340.
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Cortella, Lucio, 2015: The Ethics of Democracy. A Contemporary Reading of Hegel’s Philosophy of Right, New York. Giuspoli, Paolo, 2013: Idealismo e concretezza. Il paradigma epistemico hegeliano, Milano. Henrich, Dieter, 1971: Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. Hyppolite, Jean, 1953: Logique et existence. Essai sur la logique de Hegel. Ilting, Karl-Heinz, 1976: Zur Dialektik in der Rechtsphilosophie. In: Hegel Jahrbuch 1975, Köln pp. 38–44. Marini, Giuliano, 1990: Libertà soggettiva e libertà oggettiva nella “Filosofia del diritto” hegeliana, Napoli. Nuzzo, Angelica, 2000: La “verità” del concetto di libertà secondo Hegel. “Dasein” e idea della libertà nell’eticità. In: Duso, Giuseppe / Rametta, Gaetano (ed. by): La libertà nella filosofia classica tedesca. Politica e filosofia tra Kant, Fichte, Schelling e Hegel, Milano, pp. 147–170. Nuzzo, Angelica, 2017: The Relevance of the Logical Method for Hegel’s Practical Philosophy. In: Brooks, Thom / Stein, Sebastian (ed. by): Hegel’s Political Philosophy. On the Normative Significance of Method and System, Oxford, pp. 103–123. Samonà, Leonardo, 2012: Libertà e necessità nell’inizio della Scienza della logica. Un confronto tra la prima e la seconda edizione. In: Giornale di Metafisica, n. 3, pp. 73–89. Theunissen, Michael, 1978: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. Theunissen, Michael, 1993: Concetto e realtà. Il superamento hegeliano del concetto metafisico della verità. In: Nuzzo, Angelica (ed. by): La logica e la metafisica di Hegel. Guida alla critica, Roma, pp. 109–136. Thompson, Kevin, 2017: Systematicity and Normative Justification. The Method of Hegel’s Philosophical Science of Right. In: Brooks, Thom / Stein, Sebastian (ed. by): Hegel’s Political Philosophy. On the Normative Significance of Method and System, Oxford, pp. 44–66. Wiehl, Reiner, 1972: Dialog und philosophische Reflexion. In: Neue Hefte für Philosophie, n. 2–3, pp. 41–94.
ZUR GENEALOGIE VON HEGELS BEGRIFF DES STAATES Holger Glinka „Die objective Wirklichkeit des Rechts ist, theils für das Bewußtseyn zu seyn, überhaupt g e w u ß t zu werden, theils die Macht der Wirklichkeit zu haben und zu g e l t e n und damit auch als a l l g e m e i n g ü l t i g e s g e w u ß t zu werden.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 210
„Am schlechtesten aber kommt man mit Begriffen und Vernunft über Materien des Staats an.“ Hegel an Friedrich Immanuel Niethammer, 18.7.1822
1. GENEALOGIE UND HEGEL-EDITION Wenn es heute möglich ist, Hegels Rechtsdenken abseits „der alten ideenpolitischen Gegensätze und Grabenkämpfe um seine politischen und religiösen Optionen“1 zu rekonstruieren, so liegt der Grund hierfür nicht nur in der historischen Distanz, die uns von der einstmaligen Gegenwart Hegelschen Philosophierens trennt, sondern nicht zuletzt auch an den Möglichkeiten, die der entwicklungsgeschichtlichen Erforschung der Philosophie Hegels heute gegeben sind. Die wichtigste Voraussetzung hierfür stellt die gegenwärtig noch andauernde Herausgabe der historisch-kritischen Edition der Hegelschen Schriften dar – auch wenn die Entwicklungsgeschichte nicht das durchgängige Kriterium ihrer Konzeption darstellt: Sie ist für die Präsentation der Schriften der ‚ersten Abteilung‘ maßgeblich.2 Insbesondere die sog. ‚zweite Abteilung‘ der Akademie-Ausgabe: die Edition der von Hegels Schülern angefertigten Vorlesungsmit- und -nachschriften,3 erweist sich zunehmend als hilfreich für die Erhellung separater Lehrstücke der Hegelschen Philosophie. Hegels zwischen 1816 und 1831 – gleichwohl nicht lückenlos überlieferte – Kollegien seiner Vorlesungen über die Philosophie des Rechts liegen inzwischen vollständig in historisch-kritischer Edition vor.4 Unser Wissen über Hegels zwischen 1802 und 1805 in Jena turnusmäßig abgehaltene Vorlesungen über Naturrecht – die er unter diesem Titel ankündigt, um der tradierten Disziplin Genüge zu 1 2
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Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. XI. Zu den aus der ersten Gesamtausgabe der Schriften Hegels: den Sämtlichen Werken, herausgegeben von einem Verein von Freunden des Verewigten (Berlin 1832–1845), ausgeschlossenen Texten vgl.: Bauer/Jaeschke 2014, S. 42f. Zur Einstufung vgl. Jaeschke 2001. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1–4.
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tun5 – beruht auf Karl Rosenkranz’ kargem Bericht über zwei heute verschollene Fragmente: Hegel habe „den Begriff des Unterschiedes der Verfassungen“ sowie „den Begriff des religiösen C u l t u s “6 weiter ausgearbeitet. Im Bereich der Rechtsphilosophie Hegels wären diese Dokumente die einzige Quelle einer Manuskriptvorlesung. Hegels Manuskriptvorlesungen kommen eine höhere Dignität zu als Nachschriften der Kompendiumvorlesungen, wie sie u.a. zur Philosophie des Rechts überliefert sind. Ruft man sich in Erinnerung, dass auch die sog. Jenaer Systementwürfe (1803–1806) zu Hegels Vorlesungsmanuskripten zählen – von denen die Mehrzahl als verloren gelten muss7 –, wird um so deutlicher, dass sich Hegels „System in Vorlesungen“8, also anlässlich und im Rahmen seiner akademischen Lehrverpflichtung, herausbildet. Systematisch ausgearbeitet sind lediglich die Phänomenologie des Geistes (1807) – als Einleitung in das „System der Wissenschaft“9 (und damit streng genommen außerhalb seiner angesiedelt) – sowie die Wissenschaft der Logik (1812–1816 bzw. 1832 mit der zweiten Auflage der „Lehre vom Seyn“). Und auch diese entsteht, wie die maßgebliche Ausgabe der Nürnberger Schriften zeigt,10 im Kontext einer Lehrtätigkeit Hegels an einem Gymnasium, dem er „für seine Philosophie viel verdankt“11. Zudem zählen auch die schon genannte Encyclopädie12 sowie die im Oktober 1820 publizierten Grundlinien der Philosophie des Rechts (auf dem Titelblatt: „Berlin, 1821“) zu den Vorlesungskompendien aus Hegels Heidelberger (1816–1818) bzw. Berliner Zeit (1818–1831). Bis etwa 1825 verfolgt Hegel auch das Projekt, für die Philosophie des subjektiven Geistes ein Kompendium abzufassen.13
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Anstelle von „Naturrecht“ sagt Hegel später „Philosophie des Rechts“ bzw. „Rechtsphilosophie“. Gleichwohl behandelt noch Hegels letztes Kolleg im Wintersemester 1831/32 „Naturrecht und Staatswissenschaft“. Rosenkranz 1844/1972, S. 132–141. – Bruchstückhaft bezeugt durch Rosenkranz sind auch Hegels Nürnberger Gymnasialkurse über „Rechts-, Pflichten- und Religionslehre“. – Vgl. Hegel, Unterklasse[.] Rechts-[,] Pflichten- und Religions-Lehre aus den Schuljahren 1809/10 bis 1815/16, GW 10/1, S. 369–420. – In den §§ 22–31 des Abschnitts über „Rechtslehre“ skizziert Hegel „Die Staatsgesellschaft“, welche in der Familie als Keimzelle der Nation (§ 22) gründe, durch Eintritt in die Staatsgesellschaft den Naturzustand überwinde (§ 25) und sich gemäß einem allgemeinen Vernunftwillen Gesetze und eine Regierung gebe: „In einer Monarchie ist die bürgerliche Freiheit mehr geschützt, als in andern Verfassungen.“ (§ 28) Zur Staatsgewalt heißt es: „Der Inhalt und Zweck derselben […] ist die Verwirklichung der natürlichen d.h. absoluten Rechte der Bürger, welche im Staat darauf nicht Verzicht thun, vielmehr zum G e n u ß u n d z u r A u s b i l d u n g derselben allein in ihm gelangen.“ (§ 29) Vgl. Jaeschke 2001, S. 28. Vgl. Jaeschke 2001, S. 21ff., 25; ders. 3. Aufl. 2016, S. 292–298. – Zu der Leitdifferenz von Kompendium- und Manuskriptvorlesungen vgl. ibid. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 3 (das ist das Titelblatt der Erstausgabe 1807). Vgl. GW 10/1–2. Rosenkranz 1844/1972, S. 248. Das Werk trägt den Untertitel „Zum Gebrauch seiner Vorlesungen“; in der Vorrede spricht Hegel von einem „Leitfaden“. Vgl. Hegel, Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, GW 15, S. 207–249.
Zur Genealogie von Hegels Begriff des Staates
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Zwischen Hegels Naturrechtsaufsatz (1802/03) und der frühesten überlieferten Vorlesung über die Philosophie des Rechts, dem Kolleg Peter Wannemann,14 liegen vierzehn Jahre. Zentrale Themen des Naturrechtsaufsatzes behandelt Hegel bald nur noch marginal oder in gänzlich anderer Weise, wie schließlich den Grundlinien zu entnehmen ist. Die Voraussetzungen für den dort explizierten Staatsbegriff erarbeitet sich Hegel in einer Reihe von Schriften, die im Folgenden – stets mit Blick auf den Begriff des Staates – näher erkundet werden. 2. ZUR HISTORISCH-SYSTEMATISCHEN VERORTUNG DER STAATSLEHRE 2.1. Disziplinengeschichtliches Disziplinengeschichtlich entwickelt sich die Staatslehre aus der Lehre von der Politik in ihren beiden Hauptströmungen, der auf Aristoteles zurückgehenden Naturrechtslehre und der insbesondere Machiavelli verpflichteten Staatsraison, sprich der der Alleinherrschaft („solo al principato“) unterstellten empirischen Staatsklugheitslehre.15 Das rationalistische Naturrecht, wie es im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland Samuel von Pufendorf sowie sein Schüler Christian Thomasius und im Anschluss Christian Wolff vertreten, bleibt in dieser Zeit auf diese genannten beiden Hauptströmungen beschränkt. In Folge juristischer Fragestellungen jedoch wird es bald um die Staatsrechtslehre erweitert. In Hegels Zeit ist der Juristenfakultät die Disziplin des deutschen Staatsrechts gleichwohl wieder abhandengekommen. Alarmierender noch steht es um die Philosophie, die mit dem Ende der „Schulphilosophie“ – dem Resultat des Kantischen Kritizismus – ihrer grundlegenden Bestandteile: der metaphysica generalis bzw. Ontologie, der metaphysica specialis sowie der Logik und des Naturrechts, verlustig geht.16 Auch Hegels Lehre vom objektiven Geist als systematischem Ort seiner „Philosophie des Rechts“ stellt eine Reaktion auf die Neuordnung des Disziplinenkanons um 1800 dar.17 2.2. Verfassungsgeschichtliches Schon früh beschäftigt sich Hegel mit Verfassungsgeschichte, und dieses Interesse mündet in der schließlich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts vertretenen Einsicht, dass die Verfassung „die Organisation des Staates und der Proceß 14 Die Nachschrift nach Diktaten von Friedrich Wilhelm Carové, der gemeinsam mit Wannemann im „Winterhalbjahr“ 1817/18 „Naturrecht und Staatswissenschaft“ bei Hegel hört, ist verschollen. – Vgl. zur Quelle der Angaben zur Nachschrift: Nicolin 1975. 15 Vgl. Machiavelli 1961/1513, IIf. – Am 9.6.1821 schreibt Hegel an Friedrich Immanuel Niethammer, er habe im Winter 1820 daran gedacht, „ein Buch über Staatspädagogik zu schreiben.“ Diesen Plan führt Hegel aber nicht aus. – Hegel: Briefe II, S. 271. 16 Vgl. hierzu auch Hegel, Hamann-Rezension, GW 16, S. 131. 17 Hierzu mehr in Kap. 8 „Objektiver Geist“.
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seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst“18 sei. Vor dem Hintergrund der Hegelschen These zur Geschichtsphilosophie, universal- und verfassungsgeschichtlicher Fortschritt seien untrennbar miteinander verwoben,19 erscheint der Staat endlich als objektiv verwirklichte Rechtsform subjektiver Freiheit. So bedeutet für Hegel auch die Terreur der Jakobinerherrschaft (1793–1794) keinen Beweis für die Widerlegung desjenigen ‚Mantras‘, dem seine gesamte Philosophie des Geistes unterstellt ist: dem „Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit“20. Verfassungsgeschichtlich betreffen die folgenden Ausführungen fünf „Durchgangspunkt[e]“21: A. Aufgeklärter Absolutismus in Brandenburg-Preußen, der mit der langen Regierungszeit Friedrich II. „des Großen“ (1740 bis zu seinem Tod 1786) unverbrüchlich verbunden ist. B. Die Verfügung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (Verkündung 1791, gemilderte Kodifikation 1794). C. Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806).22 D. Die anschließenden Stein-/Hardenbergschen Reformen in Preußen (1806– 1813). E. Nach dem Wiener Kongreß (1814/15) infolge des Abdankens Napoléons die Konstituierung des Deutschen Bundes (Deutsche Bundesakte 8.6.1815) und die Anfänge des Konstitutionalismus;23 Karlsbader Beschlüsse (1819). 1830, ein gutes Jahr vor Hegels Tod, beendet die Nachricht von der Juli-Revolution in Frankreich die politische Ruhe in Preußen.24 Hegel weist den aus seiner Sicht missratenen Verlauf der französischen Restauration zurück mit der Begründung, Staat und Religion dürften nicht gegeneinander agieren.25 Vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832 findet das Hambacher Fest statt. 2.3. Rechtsgeschichtliches Den rechtsgeschichtlichen Ausgangspunkt dieses Panoramas bildet für Hegel das in seinem Naturrechtsaufsatz gepriesene De l’Esprit des Lois (1748) des Baron de 18 19 20 21 22
Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 271. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27/1, S. 14f. Hegel, Vorlesungsmanuskripte II, GW 18, S. 153. Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 575. Die Ursachen dieses herannahenden Ereignisses stellen den rechtspolitischen Analysegegenstand von Hegels Verfassungsschrift (1802/03) dar. 23 In und bis kurz nach Hegels Zeit: 1814: Verfassung von Nassau; 1816: Verfassungen weiterer mitteldeutscher Kleinstaaten; 1818: Verfassungen von Baden und Bayern; 1819: Verfassung von Württemberg (für Hegel von besonderem Interesse); 1820: Verfassung von Hessen-Darmstadt; 1831: Verfassungen von Kurhessen und Sachsen; 1833: Verfassung von Hannover; 1837: Protest der Göttinger Sieben. 24 Vgl. Lucas/Pöggeler (Hrsg.) 1986. 25 Zu Hegels differenzierter Ansicht zur Französischen Revolution und deren politischen Folgen vgl. Maier 1973.
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Montesquieu,26 an dem sich auch schon Friedrich der Große zu orientieren27 und welches der romantische Anhänger des Ständestaates Adam Heinrich Müller um „d i e G e s c h i c h t e d e s l e b e n d i g e n G e s e t z e s “28 zu ergänzen sucht. Montesquieu bleibt Hegels rechtsgesetzlicher Leitstern auch noch in der in seinem Todesjahr 1831 publizierten Schrift Über die englische Reformbill: „Montesquieu hat die T u g e n d , den uneigennüzigen Sinn der Pflicht gegen den Staat, für das Princip der demokratischen Verfassung erklärt […].“29 Mit dem Problem einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion des Rechtsbegriffs sieht sich Hegel nicht erst mit dem Aufkommen der historischen Rechtsschule konfrontiert.30 Gegen eine lediglich historisch verfahrende Rechtswissenschaft argumentiert er schon im Naturrechtsaufsatz sowie in dem zeitgleich konzipierten System der Sittlichkeit (Herbst/Winter 1802/03),31 indem er sich gegen einen geschichtsphilosophischen Positivitätsbegriff wendet.32 Dieser ist auch in den Grundlinien leitend, wo die „positive Rechtswissenschaft“ als „historische Wissenschaft“33 rangiert. Als sich die historische Rechtsschule formiert, ist Hegel also längst munitioniert; seine Erörterungen im „abstrakten Recht“34 fußen schon auf seiner Kritik am (früh-)neuzeitlichen Naturrechtsdenken. Und auch der Volksgeistbegriff35 in Hegels erstem Entwurf einer Philosophie des Geistes (1803/04) zeigt bereits eine Differenz zu der späteren historischen Rechtsschule an, indem dieser dort nicht naturalistisch, sondern bewusstseinsphilosophisch gedeutet wird: nämlich als tätige „S u b s t a n z “, die im „gemeinschafftliche[n] Werk aller“36 allererst zu sich selbst komme. 26 Montesquieu erachtet einen esprit général – in Hegels Diktion „Volksgeist“ – für die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens, den ein Herrscher nicht zu ignorieren habe. – Vgl. Montesquieu 1995/1748, Livre XIX. Des lois dans le rapport qu’elles ont avec les principes qui forment l’esprit général, les mœurs et les manières d’une nation. – Gegen eine – auch von Hegel kritisierte – Isolierung des Rechts vgl. ibid., insbes. chap. 5, 12, 14, 21 und 27. – Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 3. 27 Vgl. Dietrich (Bearb.) 1986, S. 96. 28 Müller 1809, S. X. 29 Hegel, Reformbill-Schrift, GW 16, S. 329. – Vgl. auch Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 261, Anm. 30 Vgl. hierzu Kap. 9 „Hegels uneingelöstes Anliegen“ der vorliegenden Untersuchung. 31 Noch die Theorie-Werkausgabe (1970ff.) spart diesen Text aus. Zu den editorischen Gründen vgl. die Anmerkung der Redaktion zu Bd. 2, S. 584f. 32 Vgl. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 482. 33 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 212. 34 Ibid., §§ 34–104. 35 Zur wort- und geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. Mährlein 2000, S. 17–24. 36 Hegel, Jenaer Systementwürfe I, GW 6, S. 315 (Fragm. 22: „Es ist absolut nothwendig …“); vgl. zudem S. 270–272 (Fragm. 17. „Die einfache wesentliche Vielheit …“); S. 281 (Fragm. 19: „Die erste Form der Existenz des Geistes …“). – In Fragm. 22 kommt Hegel nicht nur auf den Volksbegriff zurück, sondern entwickelt – basierend auf einem erstmaligen Konzept einer systematischen Geschichte des Selbstbewusstseins – auch zum ersten Mal seinen Begriff der „Anerkennung“; vgl. zudem Hegel, Jenaer Systementwürfe III, GW 8, S. 215. – Dies weiß nicht zu würdigen: Zander 2014.
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3. VON BERN NACH FRANKFURT ODER: ÜBER RELIGION UND LIEBE ZUM REICH 3.1. Volksreligion und Staatsrecht In preußischem Geist betont Hegel bereits in seiner Rede beim Abgang vom Gymnasium (25.9.1788) die hohe Bedeutung, „dem Staat für seine Bedürfnisse brauchbare und nützliche Mitglieder zu erziehen“37. In der Zeit des Übergangs von Tübingen nach Bern (1793–1794) beginnt Hegel, über den Zusammenhang von Zivilreligion – in seinen Worten „Volksreligion“ – und Christentum nachzudenken38 und macht als ein Erkennungszeichen ersterer aus, „sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die öffentlichen StaatsHandlungen daran anschließen“39 – eine Forderung indes, von der Hegel selbst sagt, dass die christliche Religion sie nicht erfülle, gehe es ihr doch darum, die Menschen zu „Bürgern des Himmels“ zu erziehen. Vorbild politisch-religiösen Existierens bleiben für Hegel zu dieser Zeit noch die schönen Lebensverhältnisse des antiken Griechenland. Hegels politisches Interesse beginnt sich in der Berner Zeit (1793–1796) nachhaltig auszubilden. Das Fragment man mag die widersprechendste Betrachtungen … (1795)40 behandelt zwar die Frage nach der Ursache der Positivität der christlichen Religion, doch das beherrschende Thema ist das Verhältnis von Staats- und Kirchenrecht. Die opponierende Rechtslage in früher Kirche bzw. ihren späteren staatsähnlich organisierten Formen betrifft die bürgerlichen Rechte, die beim Austritt sowohl aus protestantischen als auch katholischen Kirchen aberkannt werden, entspricht hier doch der bürgerliche dem geistlichen Staat (freiwilliger Beitritt zum kirchlichen Unterwerfungsvertrag41). Die Probleme, die mit diesem im Resultat „vermischte[n] Kirchenrecht“ einhergehen, bringen Hegel jedoch nicht davon ab, die freie Religionsausübung als „das unveräusserliche MenschenRecht“ auf Selbstgesetzgebung anzuerkennen, „das durch keinen Eintritt, in welche Art von Gesellschaft es sei, aufgegeben werden kan“42. Dieses – wie Freiheit überhaupt, wie sich bald zeigen wird, – sei allerdings, so Hegel, eher staats- als kirchenrechtlich zu garantieren. Nach dieser Forderung ist es wenig angebracht, Hegel die Autorschaft des – obzwar in seiner Handschrift überlieferten – Fragments … eine Ethik 37 Hegel, Frühe Schriften I, GW 1, S. 49. 38 Vgl. die hier einschlägigen Texte in Hegel, Frühe Schriften II, GW 2. GW 2 ersetzt: Nohl 1907. – Texttitel Nohls wie Der Geist des Christentums und sein Schicksal, Volksreligion und Christentum u.a. sind nicht haltbar, vielmehr verfasst Hegel eine lange Reihe von Entwürfen zu Judentum, Christentum und „Liebe“, von denen er selbst keinen einzigen datiert. 39 Diese Charakterisierung findet sich in Hegels wichtiger Studie Religion ist eine der wichtigen Angelegenheiten … (Text 16). – Hegel, Frühe Schriften I, GW 1, S. 103. 40 Ibid., S. 281–351, hier: S. 306–351 (Marginalie: „Das zum Staate werden einer moralischen oder religiösen Gemeinschaft“). 41 Traditionell pactum subiectionis zwecks Eintritt eines Volkes, sprich mehrerer Familien, in einen Staat. – Vgl. Pütter/Achenwall 1750, § 656. – Gleichwohl wird hier noch nicht zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat unterschieden wie in Hegels Grundlinien. 42 Hegel, Frühe Schriften I, GW 1, S. 335; S. 351.
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(Dezember 1796 oder Anfang 1797), sc. des sog. Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus (so der Titel nach Franz Rosenzweig), zuzuschreiben.43 Seit seiner Jugendzeit hält sich Hegel über die politischen Veränderungen in der Schweiz, in Frankreich, dessen Entwicklung sich für ihn insbesondere in der Abfolge von Verfassungen spiegelt, und England auf dem Laufenden, v.a. durch die Lektüre und das Studium einschlägiger Zeitungen bzw. Zeitschriften.44 So entspringt auch Hegels Beschäftigung mit der politischen Situation in der Schweiz45 in erster Linie seinen Analyseinteressen hinsichtlich der Auswirkungen der Französischen Revolution. Hegels kommentierte Übersetzung und Herausgabe der Tendenzschrift Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern46 (1798; die Schrift erscheint zuerst 1793 in Paris47) versteht sich als Entlarvung der Berner Oligarchie, die das „alte Recht“ der Waadt illegitim außer Kraft setze. Damit nimmt Hegel eine kritische Haltung zu Frankreich ein. Hierbei interessieren ihn insbesondere die „Nutzanwendungen“ gegen die absolutistischen Strukturen innerhalb der deutschen Kleinstaaten, deren Ende er bereits heraufziehen sieht. 3.2. Liebe und Vereinigung Hegel ist schon in Frankfurt „von dem enzyklopädischen Interesse beherrscht, das ihn dann Zeit seines Lebens auszeichnet“48. Der frühe Briefwechsel mit Schelling zeugt zunächst von Hegels Beschäftigung mit Fragen zum Verhältnis von Religion und Staat49 – ein thematischer Strang, der sich in Hegels Frankfurter Zeit verstärkt. Rosenkranz berichtet, Hegel suche im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Kants 43 Hegel, Frühe Schriften II, GW 2, S. 615–617. – Dortige Formulierungen wie „das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzgebung – bis auf die Haut entblösen“ oder auch die Rede von der „M a s c h i n e “ eines leblosen Staates passen nicht zu Hegel. – Vgl. dagegen Herder, den Verfechter der Staatsüberwindung: „Jeder Staat als solcher ist eine Maschiene und keine Maschiene hat Vernunft, so Vernunftähnlich sie auch gebauet seyn möge.“ – Herder 1887, S. 453 (Anhang. Ältere Niederschrift zum 9. Buch, 4. Kapitel). 44 „Es ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, daß Hegel bereits früh, vielleicht schon als Student, eher vermutlich seit seiner Berner Zeit, Zeitungs-Cafés frequentiert hat, später – sofern dies möglich war – Mitglied einer Lesegesellschaft (Journalgesellschaft) war und Lesekabinette besucht hat, um Zeitungen und Zeitschriften zu lesen.“ – Hegel, Exzerpte und Notizen, GW 22, S. 240. 45 Vgl. Hegels Exzerpte aus der Berner Zeit bzw. mit Blick auf das Berner Staatswesen (1794– 1796) in: Hegel, Exzerpte (1785–1800), GW 3, S. 207–233. 46 Hegel, Frühe Schriften II, GW 2, S. 397–581. 47 Der Autor ist der Schweizer Jurist Jean-Ja[c]ques Cart (1748–1813), der bereits 1782 als Patriot des Kantons Waadt in Erscheinung tritt. 1791 macht er eine schriftliche Eingabe, die Bern das Recht auf Steuererhebung im Kanton ohne vorherige Zustimmung der betroffenen Gemeinden abzusprechen fordert. 48 Jaeschke 2015, S. 49. 49 Hegel schreibt Schelling Ende Januar 1795, die „Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, solange ihre Profession mit weltlichen Vorteilen verknüpft in das Ganze e[ine]s Staats verwebt ist.“ – Hegel: Briefe I, S. 16.
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Metaphysik der Sitten (im August 1798) auch nach Möglichkeiten der Überwindung der Opposition von Kirche und Staat.50 Ebenso weist Rosenkranz auf einen Kommentar Hegels zu Steuarts Untersuchungen der Grundsätze der Staatswirtschaft hin, „der noch vollständig erhalten ist“51. Hegel greift die Frage nach dem Verhältnis von Kirchen und Staat immer wieder auf – oder er wird dazu gezwungen, so im Kontext des Religionsstreits, in den er gegen Ende der 1820er Jahre in Berlin verwickelt ist. Die Grundlage der praktischen Konzeption Hegels,52 wie er sie im Austausch mit seinem Jugendfreund Hölderlin zuerst in Frankfurt entwickelt, bildet die These, dass die Konstituierung der Lebensformen, innerhalb derer ein neues Freiheitsbewusstsein seine Verwirklichung findet, auf der Vereinigung zu einer Gemeinschaft beruht, die den Ausdruck der Lebenseinheit ermöglicht. Diese Vereinigungsthese besagt weiter, dass der Ursprung des gesellschaftlichen Lebens weder ein Naturzustand noch ein Gesellschaftsvertrag53 ist, sondern eine Form gemeinsamen Lebens, in der die gesellschaftlichen Sphären unmittelbar vereinigt sind. Geschichtliche Entwicklung bringt die Differenzierung der Gemeinschaft hervor, die jedoch ihre Legitimation in der jeweils existierenden Form der Vereinigung findet. Die Vereinigung ist mithin keine Substanz, sondern vielmehr Entwicklung, d.h. sie ist Prozess des Vereinigens, der je verschiedene konkrete Formen aus sich entlässt. Innerhalb dieser sich geschichtlich ausbildenden Vereinigungsformen entsteht die allgemeine Verständigung über Grundvorstellungen (wie Freiheit, Vernunft, Gott), die sie in konstitutive Prinzipien überführt. Diese grundlegende These zur Praxis ermöglicht Hegel, die kritische Prüfung der existierenden Gemeinschaftsverhältnisse mit deren (geschichtlicher) Legitimation zu verbinden. Die Ausbildung dieser Konzeption verläuft in drei Schritten: A. Hegel entwirft das Konzept einer „Volksreligion“, welche die Spaltung der privaten und öffentlichen Sphäre in der modernen Welt zu überwinden ermöglichen soll. So fungiert die „Volksreligion“ als Mittel der Verwirklichung der Freiheit in der Gesellschaft. Sie übt aber zugleich eine gemeinschaftsstiftende Funktion aus, nämlich die geistige Vereinigung des Volkes zu restituieren. B. Die bereits in seiner Berner Zeit erfolgte Formulierung eines ursprünglichen Konzepts in Form einer praktischen Metaphysik stellt Hegel vor das Dilemma einer ethischen und ästhetischen Deutung der Vereinigungsthese: Als Einheitsprinzip gilt einerseits die absolute Autonomie der Vernunft (Kant und Johann Gottlieb Fichte); andererseits gipfelt die Idee der Autonomie in der Idee der Schönheit, die als höchste Vereinigung von Vernunft und Sinnlichkeit verstanden wird (Hölderlin). C. Als Lösung dieses Dilemmas entwickelt Hegel eine Lebensphilosophie, die sich an der Vorstellung der Lebenseinheit der Gemeinschaft orientiert, aber zugleich eine Philosophie jenseits der Spaltung von theoretischer und praktischer 50 Vgl. Hegel, Frühe Schriften II, GW 2, S. 588. 51 Rosenkranz 1844/1972, S. 86. 52 Eine aufschlussreiche Lektüre vor dem Hintergrund der Hegelschen Geistphilosophie bietet: Ranchio 2016. 53 Verträge gehören für Hegel ausschließlich dem Privatrecht an: „der Staat ist überhaupt nicht ein Vertrag“. – Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 100, Anm.
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Vernunft darstellt. Hegels Frankfurter Ausführungen über „Strafe“ und „Schiksal“54 geben ein Beispiel, wie Hegel die Geltung der Gesetze aus dem Lebenszusammenhang heraus deutet und nach dem Grund der Entstehung des Rechtssystems fragt, aber zugleich eine übergreifende Einheit des Lebens denkt, die den legalistischen Standpunkt relativiert. Schließlich wird das Vereinigungsprinzip, das auch sein Gegenteil – die Trennung – enthält, auf die Vorstellung der Struktur unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche angewandt.55
4. STAATLICHKEIT UND VERFASSUNGSRECHT „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Goethe/Schiller, Xenien 95. Das Deutsche Reich (1796)
4.1. Staat und Religion 1799 scheitern die Rastatter Verhandlungen über einen Friedensvertrag zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das Franz II. von Österreich von 1792 bis zur Niederlegung der Kaiserkrone am 6.8.1806 regiert. Der anschließende Zweite Koalitionskrieg gegen Frankreich wird erst am 9.2.1801 durch den Friedensschluss von Lunéville beendet. Hegels Arbeiten der Jahre 1799– 180156 reflektieren diese Ereignisse als „das Verstehen dessen was ist“57. Auch die seit 1802/03 begonnene Reinschrift der Verfassungsschrift reagiert fortlaufend auf die zeitgeschichtlichen Vorkommnisse; insofern kann sie schwerlich als konsistente Analyse der politischen Verhältnisse der Zeit gewertet werden. Motive zur Abfassung der Schrift über die „Kritik der Verfassung Deutschlands“58 wurzeln in Hegels Homburger Freundeskreis.59 Mit der Textgruppe um die Verfassungsschrift setzt Hegel seine staatsphilosophischen Erörterungen des Verhältnisses von Staat und Religion in Form politischer Flugschriften fort. Im Fragment Religion vermerkt er: „Indem die Protestanten ihre ReligionsRechte in den Staat einwebten, indem sie [die] wichtigsten Theile des Staatsrechts von der Religion abhängig machten, sind dadurch 2 Religionen doch in den Staat verwebt worden, und dadurch eine Unabhängigkeit des Staats von der Kirche zum theil gar nicht festgesetzt, aber doch vorbereitet worden, es liegt immer der Grundsaz dem
54 Vgl. Hegel, Frühe Schriften II, GW 2, Die Tugend ist nicht nur Positivität … (Text 55), S. 179– 244, hier: S. 192,28–194,27. – Eine bemerkenswerte begriffliche Analyse der Rechtmäßigkeit von Strafe bietet: Stekeler-Weithofer 2014, S. 29–36. 55 Vgl. hierzu: Plotnikov 2004; Jamme 1983. 56 Vgl. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 3–158. 57 Ibid., S. 163. 58 Hegel, Schriften und Entwürfe 1799–1808, GW 5, S. V. 59 Vgl. Jamme/Pöggeler (Hrsg.) 1981.
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zwar in der That selbst ganz zuwider gehandelt worden ist, darin, daß verschiedener Religionen ungeachtet, ein Staat möglich ist.“60
In seiner Ablehnung einer religionskonfessionellen Einheit – und wie gesehen auch einer Einheit von Kirche und Staat – tritt nun aber gerade Hegels Antiromantizismus zu Tage: „Die Religion, statt durch ihre eigne Spaltung sich vom Staate abzusondern, hat vielmehr diese Spaltung in den Staat hineingetragen, und am meisten beygetragen, den Staat aufzuheben, und sich so in das was Verfassung heißt hineingeflochten, daß sie Bedingung von Staatsrechten ist.“61
Dessen ungeachtet und auch trotz ihrer Partikularinteressen – erinnert sei an die verheerende Politik der Reichsstände – beharrten die deutschen Fürsten darauf, dass „Deutschland schlechthin als ein Staat gelten“62 solle. Das Faktum der innerchristlichen Konfessionsspaltung habe jedoch, so Hegel, nicht nur die innere Zersetzung des Reiches befördert, sondern beseitige letztlich das herkömmliche Prinzip der Einheit von Religion und Staat.63 Hieraus erklärt sich, dass Hegel im Zuge der Abfassung der Verfassungsschrift aus Pütters deutschem Staatsrecht exzerpiert64 und darin zum einen solche Stellen aufsucht, wo dieser sich mit Fragen der Konsequenzen der Säkularisation in der Folge des Friedens von Lunéville sowie den daraus resultierenden neuerlichen Konflikten hinsichtlich der Verschiebung in den konfessionell traditionell komplex tarierten Stimmenverhältnissen des Reichstages befasst, und zum anderen „Darstellungen solche[r] Wandlungen und Rechtsfälle des alten Reiches […], bei denen im Falle einzelner souveräner Fürsten durch einen Wechsel des persönlichen Bekenntnisses ein Widerstreit zu dem Bekenntnis des betreffenden Untertanenverbandes eintrat.“65
In seinen Berliner Jahren revidiert Hegel gleichwohl seine indifferente Haltung hinsichtlich eines konfessionellen Bekenntnisses, und zwar wiederum aus Gründen der Fragen um Staat und Religion. Zum Sachstand der möglichen Realität eines säkularen – oder wie Hegel sagt: „liberalen“ – Staates nimmt der späte Hegel nunmehr einen eindeutigen Standpunkt ein: „In dieser Beziehung ist der ungeheure Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Staaten. In der protestantischen Religion ist der Mensch als frei erkannt, von der Wahrheit muß er sich selbst überzeugen. Diese Religionsform stimmt also mit einem liberalen Staate zusammen. Aber in katholischen Staaten ist das Prinzip der Religion die Unfreiheit, was mit liberalen Institutionen im Widerspruch steht.“66
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Hegel, Schriften und Entwürfe 1799–1808, GW 5, S. 22. Hegel, Über die Reichsverfassung, S. 92f. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 194. Vgl. ibid., S. 22; S. 99. Pütter 1786–1787. Meist in: Hegel, Über die Reichsverfassung, S. 272. – Vgl. Hegel, Fragm. Versuche der katholischen Religion …, GW 5, S. 207–210. 66 Strauss, D. F.: Auszüge aus einer Nachschrift von Hegels Religionsphilosophie. Vorlesung 1831. In: Hegel, V 3, S. 351–363, hier: S. 362. – Vgl. Jaeschke 1979; ders. 2003. – Anders: Kalscheuer 2010. – Hegel sagt, beide: Staat und Religion, verfolgen den Gedanken der Freiheit
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Hegel verbindet wie gesagt die politisch aufsteigende Nation Frankreich mit dem Prinzip der Staatlichkeit; aber er erkennt in den absehbaren politischen Folgen, die dem dem Untergang geweihten Deutschen Reich bevorstehen, gleichfalls das Signum der Freiheit als Maxime neuerer Geschichte. Und so muss Hegel die Rolle Deutschlands für die nähere Zukunft in Frage stellen: „wen geht diß Land noch was [an]“67?
4.2. Kritik des verfassungsrechtlichen Partikularismus Ob Hegel tatsächlich als Potentat des ‚Machtstaatgedankens‘ (Heinrich von Treitschke) firmiert,68 hängt daran, ob die staatsrechtliche Realität der höchsten Gewalt69 des deutschen Staatenbundes als eine lediglich geforderte – als vernunftrechtlicher „Gedankenstaat“ oder „blosses Gedankending“70 – oder als eine politisch verwirklichte bewertet wird. Im ersten Fall missdeute man, so Hegel, die politische Realität des gegenwärtigen deutschen Reichsverbandes; im zweiten Fall wäre zu konstatieren, dass sie in Hegels Gegenwart nicht mehr existiert, ja in dieser Form wohl nie existiert hat. Jedenfalls erblickt Hegel um 1800 die Bestimmung des Staates in der Sicherung des Eigentums seiner Angehörigen,71 was durch eine geschlossen geführte Armee sowie eine einheitliche Finanzverwaltung zu gewährleisten sei. Hegels unbestechliche Analyse der damaligen politischen Konstitution des Deutschen Reiches kulminiert in der bekannten Formel „Deutschland ist kein Staat mehr“. Hegel will damit sagen, das öffentliche sei zu einem privaten Recht herabgesetzt.72 Bedeutet der Reichsdeputationshauptschluss das letzte ‚Grundgesetz‘ des Heiligen Römischen Reiches und zugleich den letzten Einhalt im Laufe seiner langwierigen politischen Abwicklung, diagnostiziert Hegel diese Entwicklung in seiner Verfassungsschrift schon vier Jahre früher, 1802. Dabei vergleicht Hegel die nachrevolutionäre Außenpolitik Napoléons mit den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges: Damals wie heute ziehe die zu registrierende Destruktion der Fürstentümer die
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– wenn die Religion (sc. der Protestantismus) sich nur richtig versteht: „Es ist Ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat.“ – Das Verhältnis der Religion zum Staat – nach der Vorlesung von 1831 (Sekundäre Überlieferung). In: Hegel, V 3, S. 339–350, hier: S. 340. – Weil er die Sittlichkeit des Staates als säkularen Bereich anerkenne, sei nur mit dem Protestantismus Staat zu machen. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 154. Zum Staat als transpersonalem Wert rezeptionsgeschichtlich bedeutsam: Heller 1921. – Vgl. dagegen: Jaeschke 2010. Vgl. zur „summa potestas“: Bodin 1976/1576, 8. Kap. – Vgl. Glinka 2. Aufl. 2012, S. 85–98; Gonza 2006, S. 114–116. Hegel, Fragm. Deutschland ist kein Staat mehr …, GW 5, S. 210. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 165; vgl. S. 66–68. – Dieser Überzeugung ist Hegel später nicht mehr. – Vgl. z.B. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 100, Anm. – Vgl. hierzu insgesamt Mohseni 2015. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 11; ibid., S. 38: „[…] einem falschen Princip, Verwechslung von Staatsrechten, mit Privatrechten.“ (Fragm. d. politischer Grundsaz …) – Vgl. hierzu auch Hegels Kritik an v. Haller: Jaeschke 1986, S. 227–234.
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Auflösung des Reiches nach sich. Die Ohnmacht moralischer Appelle resultiere aus der Unnachgiebigkeit politischer Machtszenarien: „So thöricht sind die Menschen, über idealischen Gesichten der uneigennützigen Rettung von Gewissens- und politischer Freyheit, und in der innern Hitze der Begeisterung die Wahrheit, die in der Macht liegt, zu übersehen, und so ein Menschwerk der Gerechtigkeit, und ersonnene Träume gegen die höhere Gerechtigkeit der Natur und der Wahrheit sicher zu glauben, welche aber der Noth sich bedient, die Menschen unter ihre Gewalt, aller Überzeugung und Theorie und innern Hitze zum Trotz zu zwingen.“73
Wenn Hegel schon früher auch von der „Nothwendigkeit des Krieges“74 spricht, erkennt er jetzt umso deutlicher den gegenwärtigen Partikularismus der deutschen (Klein-)Staaten.75
5. JENA ODER: NATURRECHT UND ABSOLUTE SITTLICHKEIT 5.1. Kant und Fichte: das neue Vernunftrecht Hegel sucht nunmehr Gelegenheit „zum Eingreifen in das Leben der Menschen“, wie er Schelling am 2.11.1800, also kurz vor seiner Begegnung mit „dem literarischen Saus von Jena“76, schreibt. Dort beginnt Hegel im Wintersemester 1801/02 übereilt seine akademische Lehrtätigkeit und spricht in der Vorlesung Introductio in philosophiam darüber, „inwiefern die Philosophie praktisch“ , d . h . wie „von ihr und durch sie leben zu lernen“77 sei – Aspekte, welche er zeitgleich auch in der Differenzschrift, seiner ersten eigenständigen philosophischen Arbeit, als „Bedürfniß“ der Philosophie ausgibt.78 Die Lehre des Vernunftrechts bildet einen Gegensatz zum Rechtspositivismus, der das Recht als freie Setzung eines Volkes und eines Staates versteht.79 Hiernach bedarf das Recht keiner überpositiven (ethischen) Begründung. Ein Recht aus Vernunft – gleichwohl ein dem Absolutismus dienliches!80 – wird bereits in Christian 73 Hegel, Verfassungsschrift, GW 5, S. 107. 74 Im Naturrechtsaufsatz im Zusammenhang mit Erörterungen zum römischen Reich: GW 4, S. 456; vgl. auch die Phänomenologie des Geistes, in welcher die römische Welt als das „formale Rechtsverhältniß“ gilt: GW 9, S. 260–264. 75 Hegel, Fragm. Deutschland ist kein Staat mehr …, GW 5, S. 161f. 76 Hegel: Briefe I, S. 58. 77 Hegel, Schriften und Entwürfe 1799–1808, GW 5, S. 261. 78 „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie […].“ – Hegel, Jenaer kritische Schriften, GW 4, S. 14. – Dieser fraglos Probleme der theoretischen Philosophie betreffende Passus liest sich alternativ wie ein Kommentar zum regredierenden Alten Reich. 79 Im Naturrechtsaufsatz beklagt Hegel, die Geltung kodifizierter Gesetze sei außer Kraft gesetzt, weil sie nicht mehr befolgt werde: „eine erstorbene Hülle“. – Hegel, Jenaer kritische Schriften, GW 4, S. 483. 80 Vgl. Klippel 1976, S. 92ff.
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Wolffs Naturrechtslehre vertreten.81 Kants Vernunftrecht wird bekanntlich in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ seiner Metaphysik der Sitten dargelegt. Lt. dieser regelt Recht äußere Beziehungen von Personen, sofern es sich um Handlungen, nicht jedoch um Absichten und Wünsche handelt. Zu den Merkmalen des Rechts gehört Kant zufolge a priori die Befugnis zu zwingen. So bestimmt er das (Vernunft-)Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“82. Für Hegel stellen sowohl Kants als auch Fichtes praktische Philosophie jeweils eine Form des Vernunftrechts dar. Nachdem Hegel Fichtes Gesellschaftslehre, die einer naturrechtlich begründeten Staatslehre gleichkommt, bereits in der Differenzschrift der Kritik aussetzt,83 analysiert er dessen sowie auch Kants Ansatz im Naturrechtsaufsatz erneut. Dabei argumentiert Hegel, dass sowohl die gesetzlose Freiheit des Naturzustandes, wie sie Hobbes insinuiert, als auch das naturunabhängige Freiheitsbewusstsein, von dem Kant und Fichte ausgehen, jeweils ein sowohl logisch als auch moralisch unterbestimmtes Moment betreffen, weil sie nicht wie „Hegels Konzeption der Freiheit als Selbstüberwindung“84 über einen Bewusstseinsbegriff – oder eine „Intelligenz“, wie Hegel auch sagt, – verfügen, der „fähig“ sei, indem er „absolute Einzelnheit ist, absolute Allgemeinheit zu seyn“85.
5.2. Kritik der „empirischen Behandlungsart“ des Naturrechts Hegel spricht den „frühern Behandlungsarten des Naturrechts […] für das Wesen der Wissenschaft [sc. der Metaphysik, H. G.] alle Bedeutung“86 ab. Nichtsdestoweniger unterzieht er sich der Mühe, die Lehre des Naturrechts, die er in eine „reinformelle“ und eine „empirische“ Form zerfallen sieht, der Kritik zu unterziehen. Die Frage, ob die genannte Typologie gerechtfertigt sei, ist hier nicht zu beantworten. Erinnert sei lediglich daran, dass Hegels Ausgangspunkt nicht mehr die Naturrechtskompendien des späten 17. Jahrhunderts: Grotius’ De jure belli ac pacis (1625) sowie Pufendorfs naturrechtliche Hauptwerke De Iure Naturae et Gentium libri octo (1672) und De officio hominis et civis (1673), bilden. Schröder und Pielemeier merken an: 81 Zum Bedingungsverhältnis von obligatio und ius vgl. Wolff 1969/1750, §§ 44 und 46; Wolff 1756, § 26. – Vgl. Horn 2016, S. 192. 82 Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 230. 83 Vgl. Hegel, Jenaer kritische Schriften, GW 4, S. 60. 84 Siep 1980, S. 225. 85 Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 464. 86 Ibid., S. 419. – Im Kolleg 1817/18 (Nachschrift Wannemann) spitzt Hegel dann unmissverständlich zu: „Der Nahme des N a t u r r e c h t s verdient aufgegeben und durch die Benennung philosophischer RechtsLehre, oder, wie es sich auch zeigen wird, Lehre von dem objectiven Geiste, ersetzt zu werden.“ – Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 8.
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„Über Kant hätte man bis 1796 nur nach der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ lesen können, woraus sich aber keine Naturrechtsvorlesung machen ließ. Kant selbst las jedenfalls bis 1788 nach Achenwall. Erst nach dem Erscheinen der ‚Metaphysik der Sitten‘ (Rechtslehre, 1797) lag ein brauchbares Kompendium vor, das dann auch sofort – schon im Sommersemester 1797 – eifrig benutzt worden ist.“87
Hegels zeitgemäße Anknüpfungspunkte stellen Kants und Fichtes „rein-formelle“ Vernunftrechtslehren dar. Gleichwohl behandelt Hegel auch das alte, in seiner Bezeichnung „empirische“ Naturrecht und dessen Zusammenhang mit der Staatslehre.88 Das fundamentale Gebrechen der empirischen Behandlungsart des Naturrechts erblickt Hegel darin, dass der Verstand mehr oder minder wahllose allgemeine, sprich abstrakte Bestimmungen exponiere und für das Wesen der Sache erkläre. Gezeigt werde so, „wie die absolute Idee nach den Momenten der absoluten Form in ihr erscheint“89. Konkret: „So wird z.B., um das Verhältnis der Ehe zu erkennen, bald die Kinderzeugung, bald die Gemeinschaft der Güter usw. gesetzt und von einer solchen Bestimmtheit aus, welche als das Wesentliche zum Gesetz gemacht wird, das ganze organische Verhältnis bestimmt und verunreinigt […].“90
Hegel spricht mehrfach von der „Verunreinigung“ des Empirischen durch seine ihm wesenhaft fremde Tendenz, in eine Form der Wissenschaft überzugehen. In der Perspektive der Totalität – des Absoluten – wird aber deutlich, dass Empirismus und Formalismus in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Demnach eigne dem empirischen Naturrecht zugleich Formalistisches, denn wenn sowohl Empirismus als auch Formalismus notwendig auf das Ganze ihres Gegenstands bezogen seien, erscheine dies der empirischen Behandlungsart als „Totalität des Mannichfaltigen, oder als Vollständigkeit“, dem Formalismus hingegen als „Consequenz“91, mithin als Inbegriff dessen, was aus abstrakt-allgemeinen Prinzipien folge. Die Perspektive des Formalismus adaptierend spricht Hegel hier unverhohlen von dem „Ekelnahmen des Empirischen“. In der empirischen Behandlungsart trenne daher der Verstand die Form vom Inhalt, das Allgemeine vom Besonderen, das Notwendige vom Zufälligen – für Hegel die Voraussetzung dafür, bezogen auf den Maßstab positiven Rechts überhaupt von einem „N a t u r z u s t a n d “ des Menschen, welcher die „Allgemeinheit“, die „Totalität“ oder den „Staat“92 notwendig verfehle, sprechen zu können. Und Hegel wäre nicht Hegel, wenn er ein solches Begründungsverhältnis nicht sogleich seines Widerspruchs entlarvte: nämlich als Projektion des Faktischen in eine Normativität a priori.93 Als Beispiel nennt er 87 88 89 90
Schröder/Pielemeier 1995, S. 262f. Kein Wort über den Naturrechtsaufsatz verliert: Avineri 1972. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 421. Ibid., S. 421. – In den Grundlinien schließlich versteht Hegel die Ehe, die er auch noch bei Kant als „bürgerlichen Kontrakt“ unterbestimmt ansieht, als „rechtlich sittliche Liebe“. – Siehe: Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 161, Anm. 91 Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 423. 92 Ibid., S. 423f. 93 Ibid., S. 425f.
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Hobbes’ „bellum omnium contra omnes“94. Zudem, so Hegel, sei das empiristisch verfahrende Naturrechtsdenken, „insofern die Einheit als Ganzes gesetzt wird, [darauf angewiesen,] den leeren Nahmen einer formlosen und äußern Harmonie, unter dem Nahmen der Gesellschaft und des Staats zu setzen“.95 So trete an die Stelle des Göttlichen „der Vereinigung ein äußeres für die vereinigten Vielen, welche mit demselben nur im Verhältniß der Herrschaft gesetzt werden müssen, weil das Princip dieser Empirie die absolute Einheit des Einen und Vielen ausschließt“.96 Der Verstand dominiere also genau dort, wo das „Göttliche der Vereinigung“ aus einer gelebten Wirklichkeit entschwunden sei, so dass nun „allein Herrschen und Gehorchen möglich“97 sei. Umgekehrt vermöge der Verstand, die gelebte Wirklichkeit lediglich in Modellen des Herrschens und Gehorchens zu denken. So projektiert Hegels Naturrechtskritik – vergleichbar mit dem programmatischen Vorlauf der Differenzschrift – eine Überwindung des in Kontradiktionen befangenen Verstandesdenkens, und zwar diesmal um willen der Diskreditierung des Herrschaftsprinzips als solchen: nämlich in Gestalt der Idee absoluter Sittlichkeit als „wahrhafte[r] Sittlichkeit des Einzelnen“98, wie Hegel auch sagt und dies in der zeitgleich abgefassten, gleichwohl unvollendeten Reinschrift System der Sittlichkeit (Titel nach Rosenkranz) näher ausführt. 5.3. Absolute Sittlichkeit Dass Hegels Philosophie seit ihren Anfängen und bis zuletzt Beiträge zur politischen Philosophie leistet, steht nicht in Widerspruch dazu, dass sie mit dem System der Sittlichkeit (1802/03) schon früh um willen einheitlicher Beschreibungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse die Ethik systematisch aussondert. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts machen Hegels Ausführungen zu dem seit der Jenaer und Heidelberger Zeit vielmals revidierten Begriff der „Sittlichkeit“ sodann den vergleichsweise größten Umfang innerhalb des Werkes aus. Seine ‚praktische Philosophie‘ legt Hegel aber erstmals mit dem System der Sittlichkeit dar; gleichwohl bleibt die im Titel beanspruchte Systematizität, die hier so deutlich wie später nicht mehr Schelling verpflichtet ist – in Form einer wechselseitigen Subsumtion von „Anschauung“99 und „Begriff“ –, selten gewahrt. Womöglich strebt Hegel mit der Schrift eine öffentlich beabsichtigte Kritik des Fichteschen Naturrechts an.100 Im Unterschied zum Naturrechtsaufsatz lässt die Untersuchung die 94 95 96 97 98
Vgl. Hobbes 2017, I, 12. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 426. Ibid., S. 426. Ibid., S. 427. Ibid., S. 427. – Zu der Vollständigkeit der Momente des Prinzips der Sittlichkeit: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staatsverfassung, vgl.: Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 517; Hegel, Grundlinien, GW 14/1, §§ 33 und 157. 99 Die „Anschauung“ thematisiert Hegel noch einmal in Jenaer Systementwurf III (1805/06) mit dem Ziel ihrer Aufhebung. – Vgl. Hegel, Der Geist nach seinem Begriffe, GW 8, S. 185–191. 100 Vgl. Meist 2002, Einleitung, S. IX–XXXIX.
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für das (früh-)neuzeitliche Natur- bzw. Vernunftrecht typischen Themenfelder wie Naturzustand,101 Vertrag (Hobbes) sowie Pflichten- bzw. Tugend- und Rechtslehre (Kant) außer Betracht; unter der Vielzahl der stattdessen verhandelten Themen – wie z.B. „Arbeit“ und die auch in den Grundlinien behandelte „Nationalökonomie“ – sucht der Leser auch Ausführungen zum Begriff des Staates vergebens; fündig wird er jedoch zu Volk, Staatsverfassung und Regierung (jene als „Ruhe“, diese als „Bewegung“ der „Momente“ der „Idee“ der „Totalität“102), Gerechtigkeit sowie zur Staatsformenlehre und – Hegels altem Thema – ihrer Verbindung zur Religion. Wichtig ist hier etwas anderes. Im System der Sittlichkeit geht es Hegel darum, das Projekt einer „Begründung“ des Rechts mit dem Argument zurückzuweisen, dass Begriffen wie „Person“, „Anerkennung“ und „Freiheit“ die Form des Rechts in Gestalt normativ strukturierter gesellschaftlicher Praxis (die Hegel „Sittlichkeit“ nennt) bereits ‚logisch‘ inhäriere – und sie also nicht auf diesen „begründet“ werden könne. Die Reflexion über diese Gestalt der „Sittlichkeit“ ist dann zugleich die Reflexion über den Modus, in welchem der Begriff (moderner) Subjektivität („Autonomie“) bereits auf die vielfältige Einbettung in die Formen des gesellschaftlichen und politischen Lebens verweist, oder wie Hegel einleitend formuliert: „Nun ist die Idee der absoluten Sittlichkeit das Zurücknehmen der absoluten Realität in sich, als eine Einheit; so daß dieses Zurüknehmen und diese Einheit absolute Totalität ist; ihre Anschauung ist ein absolutes Volk; ihr Begriff ist das absolute Einsseyn der Individualitäten.“103
Und später: „Die Anschauung dieser Idee der Sittlichkeit aber, die Form in der sie von Seiten ihrer Besonderheit erscheint, ist das Vo l k .“104 In den Grundlinien der Philosophie des Rechts erklärt Hegel schließlich, Recht und Sittlichkeit seien ihrem Begriff nach selbstbewusste Freiheit – und zwar eine solche, die zur „Welt“ oder „Natur“ geworden sei.105 Der Volksbegriff ist hier der Theorie des Willens bzw. eines stärkeren Rechtsgrades des Politischen gewichen – und nicht zuletzt auch gegen einen romantischen Kulturnationalismus gerichtet. Die absolute sittliche Totalität fasst Hegel in diesem Zusammenhang als Volk i.S. eines sittlich organisierten Kollektivs, als welches er das idealisierte Volk der antiken Polis feiert. Die innerhalb des (früh-)neuzeitlichen Naturrechts vorgenommene Unterscheidung von Recht und Moral (Pufendorf, Thomasius) firmiert in Hegels Begriff der Sittlichkeit als intern differenzierte Einheit: „Hier ist […] der Unterschied der Moral vom Naturrecht gesetzt, nicht als ob sie getrennt, jene von diesem ausgeschlossen wäre, sondern ihr Inhalt ist völlig im Naturrecht, die Tugenden erscheinen im absolut sittlichen, aber nur in ihrer Vergänglichkeit.“106
101 In den Grundlinien (vgl. § 289) firmiert die „bürgerliche Gesellschaft“, sprich der Bereich des Privatinteresses, als Naturzustand. 102 Hegel, System der Sittlichkeit, GW 5, S. 327. 103 Ibid., S. 279. 104 Ibid., S. 325. 105 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 142; Enzyklopädie 1830, GW 20, § 430 („Das anerkennende Selbstbewußtseyn“). 106 Hegel, System der Sittlichkeit, GW 5, S. 328. – Vgl. Schmidt 2007.
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6. KORPORATIONEN 6.1. Parteien-Opposition 1816, mit seiner Übersiedlung an die Heidelberger Universität, wo er bis 1818 bleibt, nimmt Hegel seine akademische Lehrtätigkeit nach der Zeit seiner Jenaer Privatdozentur wieder auf. Seine „Antrittsrede“ (28.10.1816) legt offen, was Hegel unter dem „Reich Gottes“, das er im Verbund mit seinen Freunden Hölderlin und Schelling seit 1794 beschwört,107 recht eigentlich versteht: nämlich „die reine Wissenschaft, die freye vernünftige Welt des Geistes“108. In Abgrenzung zum politischen Bezirk des Staates, „der alles Interesse in sich verschlungen“, bzw. der deutschen Nation sei zukünftig diese Sphäre des Geistes zu kultivieren. Im Wintersemester 1817/18 liest Hegel über Naturrecht. Zu dieser Zeit verfügt er weder schon über eine Philosophie des Geistes noch eine Philosophie der Kunst bzw. der Religion. Dies will sagen: Hegels reife Philosophie des Geistes ist nicht zu verwechseln mit frühen Ansätzen, wie sie mit dem Fragment Das Wesen des Geistes … sowie der Geistphilosophie in den sog. Jenaer Systementwürfen vorliegen. Die Lehre vom objektiven Geist legt Hegel in der ersten Fassung seiner Enzyklopädie (1817) erstmals dar.109 Seine Vorlesungen über die Philosophie des Rechts sind erst seit dieser Zeit breiter überliefert. Der vermeintliche Konservative Hegel plädiert ein halbes Jahrzehnt früher als der badische Staatsmann Alexander von Dusch (1789–1876)110 für ein parlamentarisches Regierungssystem. So betont Hegel in seinem Heidelberger Kolleg über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18, Nachschrift Wannemann) – d.h. zwei Jahre vor den Karlsbader Beschlüssen – die Notwendigkeit politischer Opposition; zudem fordert er die interne Disposition der Ständeversammlung in untereinander rivalisierende Fraktionen.111 Über eine reine Vermittlungsfunktion hinaus bezeichnet Hegel hier „Opposition“ sowie „Controlle über die Regierungsangelegenheiten überhaupt“ als „Hauptmoment“112 der Ständeversammlung. Auffällig ist jedoch v.a. die scharfe Kritik, die Hegel an der altliberalen Auffassung übt, die von einer 107 Vgl. Hegel: Briefe I, S. 9 bzw. S. 18. 108 Hegel, Rede zum Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Heidelberg, GW 18, S. 3. 109 Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1817, GW 13, § 400–452. – Jaeschke bemerkt, Hegels Lehre vom subjektiven Geist sei vergleichsweise ausführlicher ausgearbeitet; zudem liege die Entstehung der Konzeption des objektiven (oder wie Hegel zunächst noch sagt: des „realen“) Geistes „im Dunkeln“. – Vgl. Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. 342–346 („Systemform der Philosophie des objektiven Geistes“). 110 Duschs anonym publizierte Schrift Ueber das Gewissen eines Deputirten oder von dem System der Abstimmung in ständischen Versammlungen […], Deutschland [sic!] 1823, würdigt z.B.: Schneider 1974, S. 49f. 111 Bereits im System der Sittlichkeit präsentiert Hegel eine – für die damalige Zeit als fortschrittlich zu bewertende – Ständelehre, die zwischen ökonomisch und politisch beeinträchtigten Einzelnen und dem von ihnen aus den Augen verlorenen Ganzen zu vermitteln sucht. – GW 5, S. 334–336. 112 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 205f.
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Polarität von (parteifreier) Regierung vs. Ständevertretung (als einheitlich gewachsener Oppositionsfront) ausgeht.113 Nur einige Jahre später warnt er in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) davor, die Stände, sprich die Pluralität der Territorialstaaten, von der Regierungsarbeit auszuschließen:114 Wiederum betont er, Opposition sei „notwendig“ und „gerechtfertigt“115. Die restriktive Vereinsgesetzgebung im Vormärz verhindert zunächst noch die organisatorische Entwicklung der v.a. liberalen und demokratischen Opposition.116 Gemessen an der damaligen restaurativen Repräsentationstheorie in Deutschland117 macht Hegel einen erstaunlichen Vorschlag: Die eigentliche Kontroverse solle nicht länger zwischen der Kammer als ganzer und einer den Parteienkonflikten entbundenen, grundsätzlich unantastbaren Regierung stattfinden, sondern zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des Parlaments: „Es müssen 3 Partheyen in der Ständeversammlung seyn, 2 die sich gerade zu gegen über stehen, die des Volks, und die absolut immer für die Regierung ist, und dann eine bedeutende 3te Parthie, die meistens auf der Seite des Ministeriums ist, im ganzen aber als unpartheyisch dasteht.“118
Zur selben Zeit kommentiert Hegel – anonym – in den Heidelberger Jahrbüchern (1817) in seinen Besprechungen der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände die seit 1815 sich ereignenden Auseinandersetzungen um die württembergische Verfassung wie folgt: „Wer nur etwas über die Natur einer Ständeversammlung nachgedacht hat, und mit ihren Erscheinungen bekannt ist, dem kann es nicht entgehen, daß ohne Opposition, eine solche Versammlung ohne äussere und innere Lebendigkeit ist, daß gerade ein solcher Gegensatz in ihr zu ihrem W e s e n , zu ihrer R e c h t f e r t i g u n g gehört, und daß sie nur erst, wenn eine Opposition sich in ihr hervorthut, eigentlich constituiert ist; ohne eine solche hat sie die Gestalt nur einer P a r t h e y , oder gar eines Klumpens.“119
Zwar denkt Hegel den Staat als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“120; aber dieser Staat ist auch als Verfassungsstaat zu begreifen, genauer: als ein freiheitlich 113 Vgl. ibid., S. 205. 114 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 302. – Gemäß Hegels Rechtsphilosophie ist die Rolle intermediärer Organisationen bei der Vermittlung von Staat und Gesellschaft nicht hoch genug einzuschätzen. 115 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 205f. 116 Vgl. Schwentker 1988, S. 18. – Demgemäß erkennt Rohe im Vormärz bereits „Vorformen eines modernen Parteiensystems“. Damals existiert noch kein gesamtdeutsches Parlament, die Entwicklung setzt daher auf der Ebene der Einzelstaaten in Süd- und Mitteldeutschland ein. – Rohe 1997, S. 41f. – Vgl. auch: ders. 1992, S. 38–44. 117 Man denke etwa an die Parlamentsidee i.S. einer beratschlagenden Körperschaft zur Auslotung „d e s G e s a m m t w i l l e n s “, als deren „n a t ü r l i c h e s O r g a n “ die von der Regierungsgewalt kategorisch ausgeschlossenen Landstände firmieren, bei: von Rotteck 1819, S. 65. – Hegel argumentiert im Kolleg 1817/18 konträr. 118 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 205. 119 Hegel, Verhandlungen der Landstände, GW 15, S. 67. – Vgl. auch: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 205. 120 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 257.
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verfasster Staat;121 so empfiehlt Hegel ausdrücklich, „die Ansichten und Gedanken der V i e l e n “122 zu erkennen und plädiert zudem für die Etablierung intermediärer, d.h. zwischen Staat und gesellschaftlichen Kräften vermittelnden Organisationen.123 Hegel geht hier allerdings von Ständen und noch nicht von politischen Parteien aus. Entscheidend ist jedoch, dass er nicht mehr mittelalterliche Feudalstände, sondern bereits ein organisches Repräsentationsmodell ansetzt. Stände sind nach Hegel nichts anderes als Organisationsformen verschiedener ökonomischer und gesellschaftlicher Bedürfnisse – und somit integrale Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft. Häufig wird Hegels angebliches Ressentiment gegenüber Parteien behauptet;124 andererseits äußert er Bedenken gegen ein allgemeines, direktes Stimmrecht bei den Wahlen zur zweiten Kammer.125 So bemerkt Hegel verschiedentlich den hohen Stellenwert des Wählens für die Artikulation und Eingabe gesellschaftlicher Interessen in den Bereich staatlicher Entscheidungen. Allein das Wahlrecht ermögliche dem Volk, „an den öffentlichen Angelegenheiten, den höchsten Interessen des Staats und der Regierung, Theil zu nehmen.“ Seine Ausübung sei folglich „eine hohe Pflicht, da die Constituirung eines wesentlichen Theils der Staatsgewalt, der Representanten-Versammlung, darauf beruht.“ Die Ausübung des Wahlrechts sei nichts weniger als „der Act der Souveränetät des Volkes und zwar sogar der einzige […]“126. Hegel denkt sogar laut über die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht nach.127 Indes bleibt festzuhalten, dass Hegels Einschaltung in den politischen Tageskampf um willen der Stützung der Partei Friedrich II., seit 1797 Herzog von Württemberg, geschieht, sc. des neuen Rechts eines königlichen, aus Hegels Sicht auf der Höhe der Zeit angesiedelten Verfassungsgesetzes, „die W i r t e m b e r g i s c h e n L a n d e z u e i n e m S t a a t e z u e r r i c h t e n “128. Wenn die Opposition gegen die Verfassungspläne des Monarchen agiert, also die Rückkehr zur altständischen Verfassung, die Friedrich II. 1805 einseitig und ohne Rechtstitel aufhebt, verlangt, entgegnet Hegel der Haltung der Stände: „Man konnte von den Wirttembergischen Landständen sagen, was von den französischen Remigranten gesagt worden ist, s i e h a b e n n i c h t s v e r g e s s e n u n d n i c h t s g e l e r n t ; sie scheinen diese letzten 25 Jahre, die reichsten, welche die Weltgeschichte wohl gehabt hat, und die für uns lehrreichsten, weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören, v e r s c h l a f e n zu haben.“129
Zur Einordnung in die Entwicklungsgeschichte der politischen Philosophie Hegels im Speziellen bzw. in die Entstehungsgeschichte des deutschen Parlamentarismus 121 122 123 124 125 126 127
Ibid., § 258. Ibid., § 301. Ibid., § 302. Vgl. ibid., § 311. Vgl. ibid., § 305 ff. – Die erste Kammer soll aus Mitgliedern des Adels zusammengesetzt sein. Hegel, Reformbill-Schrift, GW 16, S. 373f. Hegel, Verhandlungen der Landstände, GW 15, S. 45. – Zur notwendigen Mitgliedschaft des Einzelnen in einer „Corporation“ siehe: Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 253. 128 Hegel, Verhandlungen der Landstände, GW 15, S. 31. 129 Ibid., S. 61f.
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im Allgemeinen bleibt zu sagen, dass Hegels Heidelberger Idee von „Opposition“ noch weit entfernt ist von einer solchen Einrichtung in modernen Programm-, Parteien- und Parlamentsdemokratien (zumal vergleichbare Forderungen von ihm später nicht mehr erhoben werden). Auch ist die Bedeutung der Ständekammer und etwa darüber hinausgehender öffentlicher Debatten in Hegels System nur begrenzt; ein Wettstreit der korporativen Interessen wird z.B. in § 309 der Grundlinien der Philosophie des Rechts dezidiert ausgeschlossen. So kann von einem eigenen korporativen Interesse des Standes der Allgemeinheit in der Rechtsphilosophie Hegels keine Rede sein.130 Hegels Favorisierung korporativer Repräsentation dokumentiert auch noch seine Abhandlung Über die englische Reformbill. Zum Ende des Kapitels über die „bürgerliche Gesellschaft“ der Grundlinien heißt es sogar: „Zur F a m i l i e macht die C o r p o r a t i o n die zweyte, die in der bürgerlichen Gesellschaft gegründete s i t t l i c h e Wurzel des Staats aus.“131 Gleichwohl obliegt dem Staat die Aufsicht über die Korporationen.
6.2. Kritik des englischen Privat- und Staatsrechts In der Abhandlung Über die englische Reformbill (1831) lobt Hegel die „in Deutschland […] mehrhundertjährige stille Arbeit der wissenschaftlichen Bildung, der Weisheit und Gerechtigkeitsliebe der Fürsten“, welche „die englische Nation von ihrer Volksrepresentation nicht erlangt“ habe – und die zu erreichen die Engländer allein durch ihren „Nationalstolz“132 abgehalten würden. Nun soll ein Gesetz: die (Great) Reform Act des Jahres 1831, zukünftig eine gerechte Aufteilung der Wahlkreise für die Wahlen zum House of Commons garantieren. Hegels Reformbill-Schrift beabsichtigt, den Nachweis zu erbringen, dass die angestrebte parlamentarische Lösung – sollte sie denn in einer National- und nicht in einer Ständerepräsentation bestehen – gefährdet sei, weil auch sie nicht vor revolutionären Umtrieben schütze,133 solange die materiellen Missstände nicht beseitigt würden. Hegel schlägt sich somit auf die Seite der konservativen Gegner (Tories) besagter Gesetzesvorlage. Aber er vermag genauso wenig nun für England wie auch in früheren Jahren für Württemberg Wege aufzuzeigen, wie eine Verbesserung der wirtschaftlichen Grundlagen erreicht werden könne.134 Hegels Motivation zur Abfassung der Schrift ist durch zwei Aspekte bestimmt: 1. Änderungen formeller Verhältnisse im Staat müssten materielle Änderungen gesellschaftlicher Umstände vorausgehen – und zwar nicht zuletzt auch um willen der Abtragung der „ungeheuren Staatsschuld“, die kraft des „enormen Reich 130 „Es ist eine Schwierigkeit wie man mit diesem Triebe für das Allgemeine zu rechte kommen soll […].“ – Hegel, Nachschrift Griesheim 1824/25, GW 26/3, S. 1398. – Die Enzyklopädie (1817) nennt die Korporationen noch nicht einmal dem Namen nach. 131 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 255. 132 Hegel, Reformbill-Schrift, GW 16, S. 357 bzw. S. 360. 133 Vgl. ibid., S. 404. 134 Vgl. Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. 290.
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thum[s] der Privatpersonen“135 zwar möglich gewesen, bislang jedoch auf Grund eines innenpolitischen Machtvakuums zu leisten versäumt worden sei. 2. Die Politik der Nationalrepräsentation unterminiere das Recht der „reellern Freyheit“136 einzelner; so spricht Hegel auch die Unterschiede zwischen den „Classen“ an, die in Eigentumsverhältnissen gründeten („Kapitalwerth“, „Geldgewinn“ bzw. „Geldwerth“137). Hegel ist der Überzeugung, eine nach Ständen gegliederte Vertretung repräsentiere diese Differenzen von landbesitzender Klasse und Gewerbe besser als dies im englischen Parlament gegenwärtig der Fall sei. Das eigentliche Problem der privatrechtlichen Unterhöhlung der in England zu dieser Zeit durch das positive Recht legitimierten öffentlich-rechtlichen Verhältnisse138 wertet er aber als bisheriges Versäumnis Englands, privatrechtliche bislang noch nicht in staatsrechtliche Verhältnisse überführt zu haben.139 Indes bleibt fraglich, ob die genannten Forderungen Hegels einer Transponierung auf englische Verhältnisse fähig seien.140 7. KODIFIKATION UND RESTAURATION 7.1. Preußisches Gesetzbuch 1768 fordert der preußische König Friedrich II., eine „gut geleitete Staatsregierung muss ein ebenso fest gefügtes System haben wie ein philosophisches Lehrgebäude“141. Einem solchen sich selbst organisierenden Ganzen von aufeinander bezogenen Unterschieden142 gilt schon früh auch Hegels Interesse, und so schreibt er am 2.11.1800, unmittelbar vor seiner Übersiedelung von Frankfurt nach Jena, hoffnungsfroh an Schelling, sein jugendlich-ideales Denken möge sich „zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln“143. Die Kodifikation des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten bietet eine Zusammenfassung des gesamten Rechts in einem einzigen Gesetzeswerk und sucht so einer allenthalben postulierten ‚aufgeklärten‘, vernünftigen Forderung Genüge zu tun. 1791 wird das 135 136 137 138 139 140
Hegel, Reformbill-Schrift, GW 16, S. 342. Ibid., S. 404. Ibid., S. 332 u.ö. Vgl. ibid., S. 333. Vgl. ibid., S. 334ff. Zur politischen Bewertung s. Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. 291. – Vgl. Hegel, Reformbill-Schrift, GW 16, S. 354; S. 404. – Vgl. Jamme/Weisser-Lohmann (Hrsg.) 1995. 141 Volz (Hrsg.) 1912, S. 133. 142 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, §§ 200f. 143 Henrich macht zudem auf Hegels Habilitationsschrift über die Planetenbahnen (1801; vgl. Hegel, Dissertatio Philosophica de Orbitis Planetarum, GW 5, S. 235–253) aufmerksam, die Hegel zu der nachhaltigen Einsicht verhelfe, das Sonnensystem „als das einfachste und prägnanteste Beispiel für ein wirkliches Ganzes, dessen Verfassung nur in der spekulativen Begriffsform aufgefaßt werden kann“, zu fassen. – Henrich 1982, S. 428. – Vgl. auch Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 464; Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 380. – Auch für Herder beginnt die Geschichte der Menschheit mit der Entstehung des Sonnensystems.
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Gesetzbuch zwar ordnungsgemäß verkündet, tritt jedoch erst am 1. Juni 1794 in Kraft, und dies in abgeschwächter reformerischer Tendenz.144 Sucht es dem Verwaltungsinteresse des Staates sowie der Ausübung seiner absoluten Herrschaft vorzubeugen, bildet es in mitteleuropäischer Perspektive insofern einen Anachronismus, als es der Festigung des Absolutismus, der v.a. in Frankreich überwunden ist, das Wort redet – auch wenn § 79 hat lauten sollen: „Die Gesetze und Verordnungen des Staates dürfen die natürliche Freiheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert.“145 Ist es Friedrich II. um eine wohlgeordnete Rechtspflege zu tun, sieht Hegel diese nicht als Staatsgewalt verankert, sondern vielmehr in der „bürgerlichen Gesellschaft“ lebendig.146 Recht werde sonach nicht ‚von oben‘ oktroyiert, sondern erzeuge sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft selbst; dort müsse es auch ausgesprochen und verkündet werden.147 Mit Friedrich II. findet sich schon die Preisgabe des dynastischen Gedankens zugunsten der Idee des Staates als einer von der Person des Herrschers zu trennenden politischen Größe. Doch ist ihm und seinem Jahrhundert das „Volk“ im heutigen demokratischen Sinne noch völlig fremd; anders hingegen, wie schon gezeigt, denkt der junge Hegel über Volksgeist – den Grundbegriff der späteren historischen Rechtsschule – und Volksreligion nach. 7.2. Historie oder Vernunft des Rechts? Die politische Lage in Hegels Berliner und damit preußischer Zeit (1818–1831) changiert zwischen Restauration und Reformbestrebungen. Noch immer hat König Friedrich Wilhelm III. dem Staat keine Repräsentativverfassung gegeben.148 Metternichs staatsdoktrinäre Politik wird allgemein unterstützt; insbesondere die Universitäten werden von restaurativen Tendenzen erfasst. Nach dem Code Napoléon (21.3.1804), zu dessen Grundsätzen auch die strikte Trennung zwischen Religion und Staat zählt – die Voraussetzung für den Laizismus des Frankreich der 144 So entfallen zusätzlich die §§ 77 und 78: „Das Wohl des Staates überhaupt, und seiner Einwohner insbesondere, ist der Zweck der bürgerlichen Vereinigung, und das allgemeine Ziel der Gesetze.“ Bzw.: „Das Oberhaupt des Staats, welchem die Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls obliegen, ist, die äußern Handlungen aller Einwohner, diesem Zwecke gemäß, zu leiten, und zu bestimmen, berechtigt.“ 145 Vgl. Königliches Patent wegen Publication des neuen allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten vom 20. März 1791. Berlin 1791. – Vgl. hierzu: Conrad 1971, S. 25f. 146 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, §§ 209–229. – Nicht etwa Hegel führt den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft als Übersetzung des englischen civil society in die deutsche Sprache ein, sondern bereits Lessing kennt ihn. – Vgl. Lessing 1771/1979, S. 453. 147 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 209. 148 Wie gesehen hält Hegel die Frage, „w e r d i e V e r f a s s u n g m a c h e n s o l l “, für abwegig, da eine verfassungsrechtliche Ordnung nichts lediglich Gemachtes, der Staat mithin kein vernunftrechtliches „Gedankending“ sei. – Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 273. – Der Landesfürst Großherzog Karl August ist der erste Fürst, der einem deutschen Land – SachsenWeimar-Eisenach – eine landesständische Verfassung gibt (1816).
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Gegenwart149 –, wird am 1.6.1811 das vom Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts beeinflusste Österreichische Allgemeine Gesetzbuch (ABGB) erlassen.150 Um 1814 kursieren in Berlin Gerüchte, auf dem Wiener Kongress (1814/15) solle das ABGB auch in Deutschland eingeführt werden. Dies führt in Deutschland zum Streit um die Kodifikation eines „bürgerlichen Gesetzbuches“151, sprich des deutschen Privatrechts im Sinne des alten ius civile, und einer Verfassung. Hegels rechtsphilosophischer Standpunkt in dieser Angelegenheit ist nicht leicht zu bestimmen, zeigen die Grundlinien doch unterschiedliche, schwerlich miteinander zu vermittelnde Ausrichtungen, so dass das Urteil, Hegel sitze nach der Publikation des Kompendiums seiner spekulativen Rechtsphilosophie zwischen allen Stühlen, letztlich nicht unberechtigt erscheint. Das Werk ist einerseits gegen Savigny gerichtet, indem es deutlich für die Kodifikation eines Gesetzbuches (und somit implizit auch einer Verfassung152) votiert. Damit fungiert es als Kontrapunkt gegen die aufstrebende historische Rechtsschule, was sich auch an Hegels – nicht immer einsichtiger – Kritik an den Arbeiten ihres Begründers, des Juristen Gustav von Hugo, einem Gegner des alten Naturrechts,153 zeigt: „Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, daß sie dann bewußtlos das Gegentheil dessen thut, was sie beabsichtigt.“154 Im besagten Streit der ‚geschichtlichen‘ mit der ‚vernunftrechtlichen‘ Partei, vertreten durch Savigny bzw. Anton Friedrich Justus Thibaut, sucht sich Hegels Rechtsphilosophie salomonisch zu positionieren, wie auch der Nachschrift Wannemann (1817/18) zu entnehmen ist: „Die Sphäre des Rechts ist nicht der Boden der Natur […], sondern […] die geistige, und zwar d i e S p h ä r e d e r F r e y h e i t […].“155 Andererseits betrifft die nachfolgend näher in Augenschein zu nehmende Philosophie des objektiven Geistes einen von der historischen Rechtsschule divergierenden Geschichtsbegriff, schafft sich nach Hegel doch der Geist seine eigene Wirklichkeit: Er „ist d i e s i t t l i c h e W i r k l i c h k e i t “ in der „Gewißheit, alle Realität zu seyn […]“156.
149 Vgl. Art. 1, Verfassung der Fünften Französischen Republik (4.10.1958). 150 Damit ist es das älteste gültige Gesetzbuch des deutschen Rechtskreises. 151 „Ich bin […] der Meynung, daß unser bürgerliches Recht (worunter ich hier stets das Privatund Criminal-Recht, und den Proceß verstehen werde) eine gänzliche schnelle Umänderung bedarf, und daß die Deutschen nicht anders in ihren bürgerlichen Verhältnissen glücklich werden können, als wenn alle Deutschen Regierungen mit vereinten Kräften die Abfassung eines, der Willkühr der einzelnen Regierungen entzogenen, für ganz Deutschland erlassenen Gesetzbuchs zu bewirken suchen.“ – Thibaut 1814, S. 12. – Dagegen vertritt Friedrich Carl von Savigny die These einer Degeneration des gegenwärtigen Rechtszustandes, welche allein kraft rechtshistorischer Quellenstudien zu beheben sei. – Vgl. Savigny 1814. 152 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 211; vgl. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 470. 153 Vgl. Hugo 1799, S. 51f., S. 55. – Vgl. Stühler 1978, S. 139f. 154 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 3. 155 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/1, S. 8. – Die Grundlinien betonen zudem den freien Willen (vgl. § 4). 156 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 238.
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7.3. Freiheit und Geist vs. Geschichte und Natur Hegels Grundlinien wenden sich gegen die „Restauration“ und ihren Begriffsschöpfer, den Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller, indem sie die Aufrechterhaltung der politischen Souveränität der deutschen Kleinstaaten des nach dem Wiener Kongress (1814/15) neu entstandenen Deutschen Bundes – wird doch dem Reich eine rechtskonforme Restitution versagt – als rückschrittlich desavouiert.157 Noch 1817 beklagt Hegel den „Unsinn der Einrichtung, welcher d e u t s c h e s R e i c h genannt“ wird, an dessen Stelle sich eine Ansammlung von „wirklichen d e u t s c h e n R e i c h e n “ erhalten habe. Das Resultat der Befreiungskriege erblickt er denn auch darin, „die Souveränität der deutschen Reiche von der Beschränkung, unter der sie noch lagen, zu befreyen […]“158. Julius Löwenstein bemerkt: „Diese neuen s o u v e r ä n e n d e u t s c h e n L ä n d e r w a r e n a b e r m i t HEGELS S t a a t s i d e e g a n z u n d g a r n i c h t i n E i n k l a n g zu bringen. […] So blieb […] HEGEL nichts übrig, als diesen Staat wohl als derzeitige realpolitisch allein mögliche Staatsform zu bejahen, aber das Deutsche Reich als wahre Idee des deutschen Staates in die Zukunft zu projizieren […].“159
Wie gesehen lehnt Hegel jegliche Form von Nationalismus im Geiste der Gefolgschaft, die das Wartburgfest (1817) gebiert, entschieden ab, dies v.a. mit der scharfen Polemik der „Vorrede“ der Grundlinien und deren berüchtigter Gnome „W a s vernünftig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist v e r n ü n f t i g . “160 Hegel wendet sich aber nicht nur gegen völkisch-nationale Auslegungen des Naturrechts, sondern auch gegen die historische Rechtsschule, obgleich diese ja gerade die historische Bedingtheit des Rechts wieder zu Bewusstsein bringen will. Wenn aber Hegel im „O r g a n i s m u s “ des Staates „die Wirklichkeit der concreten Freyheit“161 erkennt, heißt dies für ihn nicht zuletzt auch, dass weniger Sittlichkeitsformen als vielmehr die Geschichte des Geistes Verfassungen gezeitigt habe. Konstitutiv für Hegels Rechtsbegriff sind Freiheit und Geist, nicht aber die unzureichenden Begriffe der Geschichte und der Natur, wie die historischen Rechtsschule sie versteht.
157 „Der Zweck [des deutschen Bundes, H. G.] ist Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten.“ (Art. 2, DBA) 158 Hegel, Verhandlungen der Landstände, GW 15, S. 31ff. 159 Löwenstein 1927, S. 54. 160 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, S. 14. – Vgl. die lichtvollen Studien bei: Peperzak 1987. – Mit Blick auf politische Morde in Hegels Zeit und dessen Stellung zu den nationalistisch und teilweise antisemitisch gestimmten Burschenschaften habe Hegels Staatslehre auf Zeitgenossen mäßigend gewirkt. – Vgl. Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. 40. 161 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, §§ 267 bzw. 260.
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8. OBJEKTIVER GEIST „Es ist mir umso mehr Bedürfniß, dadurch […] zu gründlicherer Erkenntniß der Natur des Geistes das Meinige beyzutragen, da sich […] nicht leicht eine philosophische Wissenschaft in so vernachlässigtem und schlechtem Zustande befindet, als die L e h r e v o m G e i s t e , die man gewöhnlich Psychologie nennt.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4
8.1. Zur Form geistigen Wissens Bereits im Jenaer Systementwurf III (1805/06) erklärt Hegel: Was uns als Geist erscheine, erscheine uns als Objektivität, als – wie er hier noch formuliert – „Anschauung“; in Wahrheit handele es sich jedoch um geistige Selbstanschauung: um das Selbstverhältnis des Geistes also. Indem der Geist sich auf sich zurückwendet, gewinnt er Bewusstsein über sich selbst: Er wird „absoluter Geist“. Erst hier entfaltet sich der vollständige Begriff des Geistes,162 denn hier finden sich Versuche des Geistes, sich über sich zu verständigen: nämlich in Kunst, Religion und Philosophie.163 Unter Selbstbewusstsein des Geistes versteht Hegel demnach dasjenige Selbstverhältnis, welches der Geist mit sich unterhält. Im Unterschied dazu repräsentiere der „objective Geist“ keine Gestalt des Selbstbewusstseins des Geistes, hier liege vielmehr der Akzent auf der Pflege und der Gestaltung von Institutionen, „auf eine ä u ß e r l i c h e vorgefundene Objectivität“164, die der Geist gleichwohl selbst ins Leben ruft. Insofern kann Hegels Philosophie des objektiven Geistes als Gestalt der Sittlichkeit durchaus „selbstbewusste Vernünftigkeit“ für sich beanspruchen. Die Spontaneität des Geistes bewirkt jedoch mehr als ‚nur‘ reinen Selbstbezug: Geist absolviert auch das Andere (die Phänomenologie des Geistes unterscheidet mehrere Begriffe geistiger „Entfremdung“165), wobei die dreipolige Struktur des Geistes aufscheint: Er ist Sich-wissen im Anderen seiner selbst.166 Diese Denkfigur überbietet das Konzept des Selbstbewusstseins, wie es in den transzendentalen
162 Vgl. auch den Übergang von ‚seiner selbst gewissem Geist‘ zur ‚Religion‘ in der Phänomenologie des Geistes. – Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 361f. 163 Vgl. Theunissen 1970, S. 103–322; zu Religion und Philosophie innerhalb der Geistphilosophie der Enzyklopädie siehe: Hermann Drüe et alii 2000, S. 389–414; Fulda 2001, S. 171–198; ders. 2003, S. 242–255; zur im absoluten Geist realisierten reinen Selbstbeziehung, die ihre Voraussetzung in der Logik hat: de Vos 1983. 164 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 483. 165 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 264–266. – Vgl. Siep 2000, S. 189–193. 166 Hegels Gedanke einer Rückkehr des Geistes zu sich begegnet schon in der ersten Jenaer Systemskizze aus dem WS 1801/02. – Vgl. Hegel, Die Idee des absoluten Wesens …, GW 5, S. 262. – Siehe zudem ibid. (Fragm. Das Wesen des Geistes … 1803), S. 371. – Auch in der Enzyklopädie heißt es: „Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seyende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität […].“ – Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 554.
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Erkenntnislehren nach Kant167 und Fichte168 entwickelt wird. Das Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins verfehlt das – tatsächlich exklusiv geistphilosophisch realisierbare – Sich-wissen als Form der Einheit real Differenter, es erreicht keinen wissenden Selbstbezug und vermag aus diesem Grund auch keine Prozesse der realen Wissenschaften von Natur und Geist zu beschreiben. Allererst die in und durch Hegels Geistphilosophie begriffene intentionale Korrelation ermöglicht es, dass auch ich vom Anderen weiß. Dagegen muss im transzendentalen Begriff des Selbstbewusstseins sowohl die subjektive als auch die objektive Relation notwendig der „Tiefe der Nacht des Ich = Ich“169 überlassen bleiben. 8.2. Geist und Substanz Als Hegels wichtigstes Problem für die Geistphilosophie ergibt sich die spezifische ontologische Bestimmung des Geistes. Dass Geist nicht substanzontologisch zu definieren sei, erklärt Hegel bereits zu Beginn des Textes Das Wesen des Geistes … (1803): „Der Geist i s t nicht, oder er ist nicht ein S e y n , sondern ein gewordenseyn; ein aus dem vernichten herkommen und so in diesem idealen Elemente, dem Nichts, das er sich bereitet hat, sich frey zu bewegen und zu geniessen.“170 Geist ist für Hegel also wesentlich Prozeß, Entwicklung, eine Ganzheit von Verhältnisrelationen: „Was er i s t , ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen. Diß ist sosehr seine Substanz selbst, daß man von ihm nicht als einem so feststehenden Subjecte sprechen darf, welches diß oder jenes thue oder wirke, als ob solche Thätigkeit eine Zufälligkeit, eine Art von Zustand wäre, ausser welchem es bestehe, sondern seine Thätigkeit ist seine Substantialität, die Actuosität ist sein Seyn.“171
167 Vgl. zur kategorialen, d.h. objektiven (und nicht empirisch-subjektiven, psychologischen) und damit transzendentalen Einheit der Apperzeption: Kant, KrV, B 138, § 17. 168 Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, S. 96. 169 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 419. – Noch im Jenaer Systementwurf I (1803/04) fasst Hegel das Bewusstsein als das Absolute: Es sei der ausgezeichnete Ort, „die Mitte“, wo Ideelles und Reelles koinzidierten, die Innen-Außen-Dichotomie aufgehoben werde. – Hegel, Jenaer Systementwurf I, GW 6, S. 290ff. – Zu fragen bleibt, von welchem ‚Standpunkt‘ aus ein solches Bewusstsein als diese beschriebene Einheit ‚beobachtet‘ wird. Bemerkenswert ist, dass die Phänomenologie des Geistes, d.h. der Begriff des „absoluten Wissens“ als Entäußerung des Selbstbewusstseins zwecks Setzung der „Dingheit“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 422), in den Jenaer Systementwürfen konzeptionell nicht vorbereitet wird. Wenn Hegel den Begriff des Bewusstseins schließlich fallen lässt, geschieht dies (auch schon in der Phänomenologie) um Willen der Lehre des absoluten Geistes – nicht aber des absoluten Bewusstseins! –, worin schließlich sein gesamtes System kulminiert. 170 Hegel, Schriften und Entwürfe 1799–1808, GW 5, S. 370. 171 Hegel, Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, GW 15, S. 249. – Dieses Fragment stellt insofern einen Glücksfall dar, als es eine Einleitung in die Geistphilosophie, die in den jeweiligen Fassungen der Enzyklopädie besonders kurz gehalten werden, bietet. Auch betont Hegel hier wie kaum andernorts die Zwischenstellung des Geistes („eine Mitte zwischen zwey
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Im Terminus „Actuosität“ klingt eine theologische Tradition an, die sich um den Begriff actus purus versammelt.172 Hegels Gedanke reicht aber auch zurück bis in die griechische Philosophie: einerseits zu dem Herakliteischen πάντα ῥεῖ, andererseits zu Aristoteles’ „speculativem“ Seelen-Konzept, in welchem Hegel seine eigene Geistlehre in nuce vorgeformt sieht: „Das Selbstgefühl von der l e b e n d i g e n Einheit des Geistes setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbstständig vorgestellten V e r m ö g e n , K r ä f t e oder was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten T h ä t i g k e i t e n .“
Aristoteles sehe also die einzelnen Seelenteile nicht als für-sich-seiende, ‚zersplittert‘, sondern zeige bereits, wie die „V e r m ö g e n “ interagieren.173 Zudem erinnert Hegels Betonung der Prozesshaftigkeit des Geistes an Fichtes „Thätigkeit“ des „absoluten Ich“ („Thathandlung“).174 Wenn Hegel „zum S u b s t a n t i e l l e n , dem Geiste selbst“175 handelt, werde dies dem „Zweck des Geistes in sich selbst“ gerecht176: „Die Philosophie des Geistes kann weder empirisch noch metaphysisch seyn, sondern hat den B e g r i f f des Geistes in seiner immanenten, nothwendigen Entwicklung aus sich selbst zu einem Systeme seiner Thätigkeit zu betrachten.“177 Da die Logik als das Erste178 die Strukturen des Geistes begreift,179 stellt sich für Hegel die herkömmliche metaphysische Frage, was ‚eher‘ sei: Natur oder Geist, nicht. Natur entstehe aus logischen Bestimmungen als – wie der Geist schließlich erkenne – das Andere seiner selbst. So koinzidieren im Geist Begriff und Gegenstand, Geist ist gleichermaßen Begreifendes und Begriffenes.180 Indem der Geist auf Geistiges gerichtet ist, ist er bei sich oder, wie Hegel auch sagt, frei. 8.3. Realität des Geistes Die Wirklichkeitsform des Geistes – im Unterschied zu derjenigen der Natur – begreift Hegel als Wissen und Wollen. Geist objektiviere sich vermöge des Willens 172 173 174 175 176 177 178
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Extreme[n], die N a t u r und G o t t “). Der Endzweck des Geistes ist freilich nicht Gott, sondern der Geist schreitet fort zu seiner Freiheit. – Ibid., S. 249. Vgl. 2. Mose 3,14. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 379. Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, S. 231. – Vgl. zudem Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, S. 255–259. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 377. Hegel, Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, GW 15, S. 211, Fußnote 4, γγ). Ibid., S. 217. „In jeder besondern philosophischen Wissenschaft ist das Logische, als die reine allgemeine Wissenschaft, […] als das Wissenschaftliche in aller Wissenschaft vorausgesetzt.“ – Ibid., S. 218. Mit Ausnahme des „Vorbegriffs“ dispensiert die Logik von dem Begriff des Geistes. Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 376.
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(„S e t z e n “181) und schaffe so seine eigene Welt.182 Objektivierung ist laut Hegel stets Selbst-Objektivierung (s. auch Kap. 8.1.). Der Begriff des Geistes impliziert Selbstbezüglichkeit und Selbstproduktion. Die Frage, wie etwas, das noch nicht zum Sein gekommen sei, sich selbst zu produzieren vermag, beantwortet Hegels „Idee der Philosophie […], daß die Natur der Sache, der Begriff, es ist, der sich fortbewegt und entwickelt und diese Bewegung ebensosehr die Thätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich seyende Idee sich ewig als absoluter Geist bethätigt, erzeugt und genießt.“183
Dem absoluten Geist kommt also keine lediglich an-sich-seiende, sondern mehr noch eine an-und-für-sich-seiende Existenz zu. Wenn Hegel sagt: „Der B e g r i f f des Geistes hat seine R e a l i t ä t im Geiste“184, dann scheint dies auf eine Kontinuation hinzudeuten, erinnert diese Sentenz doch an die gedankliche Figur des ontologischen Gottesbeweises, gemäß welchem Gott als Identität von Begriff und Realität gefasst wird.185 In Bezug auf die Natur folge daraus: Begriff und Realität fallen auseinander.186 Im Gegensatz zu tradierten dualistischen Systemen geht Hegel aber von einem Immanenzverhältnis von Geist und Natur aus: „Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich seiner Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt.“187 Darüber hinaus erhebt Hegels Philosophie den Anspruch, nicht nur den Übergang von der Natur zum Geist, sondern auch denjenigen von der Idee (Logik) zur Natur begrifflich zu explizieren.188 Philosophiegeschichtlich gesehen gewährleistet Gott die Verbindung der Pole Geist und Körper (Natur) („commercium mentis et corporis“).189 Der letzte Satz des letzten Paragraphen der „Philosophie der Natur“, aus welcher sich der Übergang in die „Philosophie des Geistes“ vollzieht, bleibt in allen drei Auflagen der Enzyklopädie nahezu unverändert: 181 In Hegels Vorlesungen über die Philosophie des Rechts ist der rechtssystematische Ausgangspunkt der Grundlinien: die Willenslehre, weniger prominent ausgebildet. Separat abgehandelt wird der „Begriff des Willens“, im Anschluss an Ausführungen zur „Philosophie des Rechts“ sowie den „Begriff des Rechts“, ausschließlich laut der Nachschrift Griesheim (1824/25). – Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26/3, S. 1073–1106. – Sämtliche andere überlieferte Kollegien gehen nach der „Einleitung“ oder „Eintheilung“ sogleich zum „abstrakten“ oder „formellen Recht“ über. 182 Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 384; „[…] zu wissen, d.i. schlechthin m a n i f e s t i r t zu seyn.“ – Ibid., § 386. – Hegel ersetzt den theologischen Begriff der „Offenbarung“ durch den Begriff „Manifestation“. 183 Ibid., § 577. 184 Ibid., § 553. – Mit diesem Satz stellt sich Hegel das Problem des Anderen nicht mehr. 185 Vgl. Drüe et alii 2000, S. 395f. 186 Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 376. 187 Hegel, Fragm. Das Wesen des Geistes … 1803, GW 5, S. 370–373, hier: S. 370. – Diesem wichtigen Jenaer Fragment hat die Hegel-Forschung bislang noch keine gebührliche Aufmerksamkeit geschenkt. 188 Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 244. – Hegel folgt hier „der Trias der neueren, durch Descartes und Kant bestimmten Philosophie in Vernunft, Natur und Geist […].“ – Riedel 1969, S. 12. 189 Weitere, für Hegel inakzeptable Lösungen bieten der Occasionalismus oder Leibniz’ Metaphysik (Monadenlehre).
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„Die Natur ist damit in ihre Wahrheit übergegangen, in die Subjectivität des Begriffs, deren O b j e c t i v i t ä t selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelnheit, die c o n c r e t e A l l g e m e i n h e i t ist, so daß der[jenige] Begriff gesetzt ist, welcher die ihm entsprechende Realität, den Begriff zu seinem D a s e y n hat, – der G e i s t .“190
Daher ist nach Hegel Geist, wie schon gesehen, keine Form einer verlängerten, ‚verfeinerten‘ Natur (πνεῦμα): „In solcher Betrachtungsweise tritt das, wodurch der Geist Geist ist, nicht ein.“191 8.4. Geist und Seele Philosophiegeschichtlich wird die einfache, unsterbliche und substantielle Seele (anima) unterschieden vom in sich differenzierten, vergänglichen Geist (mens) als Oberbegriff für den Bereich der „Intellektualität der Welt“,192 wie Hegel sich ausdrückt, im Gegensatz zum Empirischen.193 Hegels Geistphilosophie unterscheidet sich von der überkommenen psychologia rationalis194 durch den der zeitgenössischen Philosophie entlehnten Begriff des Bewusstseins, der schließlich zu dem für die Geistlehre zentralen Begriff der Unendlichkeit, d.h. der freien Selbstbestimmung und der selbstbestimmten Freiheit führt. Hegel formuliert in lateinischen Ankündigungen seiner Lehrveranstaltungen „philosophia mentis“, was in deutschen Vorlesungsverzeichnissen zunächst mit „Seelenlehre“ (gemäß den damals gängigen Disziplinen rationale bzw. empirische Psychologie) und schließlich mit „Philosophie des menschlichen Verstandes“ jeweils unzutreffend übersetzt wird – Indizien dafür, dass zu dieser Zeit dem wissenschaftlichen Publikum eine „Philosophie des Geistes“ noch unverständlich ist.195 8.5. Zur systematischen Verortung der Philosophie des objektiven Geistes Was unter dem „Begriff des Geistes“ genauer zu verstehen sei, handelt Hegel in allen drei Fassungen der Enzyklopädie im Vorgriff auf den subjektiven Geist,196 welcher dem objektiven Geist systematisch vorgelagert ist, ab.197 Erst vom subjektiven Geist aus realisieren sich frei gesetzte, d.h. dem Denken entsprungene, 190 191 192 193
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Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 376. Hegel, Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, GW 15, S. 213. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, TWA 18, S. 458. Eine Problemgeschichte der „mens“ ist ein dringendes Desiderat. Sie hätte zur Klärung auch darüber beizutragen, wie Hegel überhaupt dazu kommt, eine Philosophie des Geistes auszuarbeiten. Womöglich unternimmt er während seiner Mitarbeit an Heinrich Eberhard Gottlob Paulus’ Spinoza-Edition (Jena 1802/03) erste Schritte in diese Richtung. Vgl. Wolff 1740, § 112, S. 51f. Vgl. hierzu Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 378. Hegels mit dem vergleichsweise größten Formenreichtum versehene Lehre vom subjektiven Geist ist rudimentär bereits im Jenaer Systementwurf III enthalten. – Vgl. Hegel, GW 8, S. 185–201. Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, §§ 381–384.
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vernünftige Willensakte198 menschlichen Lebens. Zwar handeln Hegels Grundlinien an insgesamt nur noch vier Stellen vom „Volksgeist“ (bzw. „Volksgeistern“), dennoch verleiht die Idee eines überpersönlichen „objectiven Geistes“ dem von Hegel schon früh erarbeiteten Volksgeist-Konzept ein philosophisch tragfähiges Fundament.199 Im Vergleich zur Jenaer Zeit, als Hegel wie gesehen noch die Leistungskraft des Sittlichkeitsbegriffs auszuloten sucht, stellt die Lehre des objektiven Geistes eine tiefgreifende systematische Optimierung dar. Das Sittlichkeits-Kapitel der Grundlinien verdeutlicht, inwieweit die einzelnen Subjekte von den jeweiligen Sittlichkeitsmomenten einerseits bestimmt werden, sie diese andererseits aber auch als deren eigene, willentlich, sprich in Freiheit erzeugte erkennen. „In der Akzentuierung dieser immanenten Widersprüchlichkeit liegt ein Spezifikum der Hegelschen Philosophie des objektiven Geistes – und ihr Vorzug besteht darin, keine der beiden widerstreitenden Aussagen ignorieren oder ihre Wahrheit dementieren zu müssen.“200
Für Hegel entwickelt sich der Geist „in der Form der R e a l i t ä t als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten W e l t , in welcher die Freiheit als vorhandene Nothwendigkeit ist, – o b j e c t i v e r G e i s t […]“201. Der Begriff des objektiven Geistes resultiert aus dem freien Geist.202 Hegel fasst den objektiven Geist als endlichen Geist, weil praktische und theoretische Philosophie, d.h. die Idee des Staates als Sphäre verwirklichter Freiheit bzw. die logische Freiheit im Geist, erst im „absoluten Geist“ zur Deckung gebracht werden.203 Im Unterschied zu Rechtsverhältnissen, die der objektive Geist durchgreift, realisiert sich hier etwas Tieferes als praktische Freiheit und Autonomie: nämlich logische, Identität bewahrende Freiheit. Zugleich liegt im Freiheitsprinzip für Hegel das innere Bewegungsprinzip der Weltgeschichte.204 Weltgeschichte, die er konkret aus dem Verhältnis der Staaten zueinander hervorgehen sieht, bedeute den Drang, die Definition des Absoluten als des Geistes zu finden.205 Damit ist der bei Hegel allerdings erst nur angedeutete Zusammenhang von Geist und Geschichte – oder seine rechtsphilosophische Ansiedelung zwischen Normativität und Deskription – angesprochen: „Eine immanente und consequente Pflichtenlehre kann aber nichts anders seyn, als die Entwickelung d e r V e r h ä l t n i s s e , die durch die Idee der Freyheit nothwendig, und daher w i r k l i c h in ihrem ganzen Umfange, im Staat sind.“206
198 „[…] der Wille […], indem er sich d e n k t , diesen seinen Begriff weiß, W i l l e als freie I n t e l l i g e n z ist.“ – Ibid., § 481. – Hegels Lehre eines sich denkenden Willens wäre bei anderer Gelegenheit zu erörtern. 199 Mit Referenz auf Hegel, Enzyklopädie 1827, GW 19, § 540, Anm., denkt ähnlich auch: de Vos 2009, S. 40f. 200 Jaeschke 3. Aufl. 2016, S. 354. 201 Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, § 385. 202 Vgl. ibid., § 482. 203 Vgl. hierzu Knappik 2013, S. 317–330. 204 Vgl. Hegel, Enzyklopädie 1830, GW 20, §§ 381–384. 205 Vgl. Thiele 2008. 206 Hegel, Grundlinien, GW 14/1, § 148, Anm.
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Anders als für Herder beginnt für Hegel die Geschichte der Gesellschaft erst mit dem Entstehen des Staates.207 9. HEGELS UNEINGELÖSTES ANLIEGEN Der Begriff des Rechts208 darf als geborener Gegenstand für die Philosophie gelten, ist er doch verbunden mit Begriffen wie Vernunft, Freiheit, Subjektivität und den verschiedenen politischen Lebensformen, wie sie durch sich wandelnde Gesetzesbegriffe geregelt werden. So betrifft Recht für Hegel ein geistiges, nicht aber ein natürliches Verhältnis. Um so bemerkenswerter ist es, dass Hegel nicht über Ansätze einer Rechtsgeschichte hinauskommt, obgleich seine Philosophie wie kaum eine andere die Möglichkeit zu einer solchen bietet. Weder vor noch nach Hegel ist eine in eine Rechtsphilosophie eingebettete Rechtsgeschichte konzipiert worden. Unter der Voraussetzung der Idee der Entwicklung sowie des Fortschritts finden sich bei Herder Anfänge zu einer Geschichtsphilosophie, aber noch keine Rechtsgeschichte.209 Und auch bei Kant und Fichte bleiben Anläufe hierzu aus, beiden Philosophien ermangelt ein Instrumentarium für eine geschichtliche Rekonstruktion des Rechtsbegriffs.210 Dieses Defizit bleibt bis ins 19. Jahrhundert bestehen, Savigny z.B. konzipiert das System des heutigen Römischen Rechts und richtet sich damit gegen das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten und besonders gegen den Code civil. Zu denjenigen, die nicht nur Savigny, sondern die historische Rechtsschule insgesamt für eine solche „gedankenlose“ juristische Mikrologie kritisieren, gehört der Hegelianer Eduard Gans, der seines Meisters Diktum, die Philosophie möge das Gegenwärtige begreifen, nicht nur zu befolgen, sondern es in seinen vor großem Publikum gehaltenen Berliner „Vorlesungen über die Geschichte der neuesten Zeit“ mehr noch durch die Thematisierung der naturgemäß eher flüchtigen politischen Tagesgeschichte anzureichern sucht.211 Aber auch Gans kann Hegels Vorarbeiten für eine philosophische Rechtsgeschichte nicht nutzen, und so entwickelt sich im 19. Jahrhundert ausgehend von der historischen Rechtsschule zwar eine juristische, nicht aber eine philosophische Rechtsgeschichte. Schließlich entfernt sich die Rechtsgeschichte zunehmend von den Rechtswissenschaften, da es zu einer Verfeinerung der in dieser Zeit ebenfalls ausgebildeten geschichtswissenschaftlichen Methodenlehre kommt, und nähert sich zunächst noch den Geschichtswissenschaften an. Im engeren Sinne relevante Ausführungen Hegels zu einer Philosophie der Rechtsgeschichte begegnen erstmalig in der Phänomenologie des Geistes. 207 Vgl. Gulyga 1978, S. 58–68. 208 Ein neues Rechtsverhältnis, welches über die bloße Geltung hinausreiche, eröffne sich in der Sphäre der „Allgemeinheit“. Die Geschichte rechtsgesetzlicher Gleichheit wird so an den Prozess der Vermittlung gebunden. – Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 267. 209 Vgl. Herder 1887, S. 352. 210 Der Kontraktualist Fichte behandelt das römische Recht erstaunlicherweise so gut wie gar nicht. 211 Vgl. Glinka 2019, S. 165.
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Beschrieben wird hier der Übergang von der „schönen Welt“ zur Sittlichkeit (Sophokles’ Antigone) und anschließend dargelegt, was bei diesem Übergang verloren geht („Verwüsten“) bzw. gewonnen wird (in „Entfremdung“212) – und zwar durch die (logisch unmittelbare) „Bewegung“ der Sittlichkeit selber.213 Hegel sucht hier den geschichtlichen – und auch geographischen (das sind Montesquieus und Lessings214 Einflüsse) – Übergang von der griechischen zur römischen Welt zu begreifen; er betont aber auch eine tiefere Bedeutung: nämlich die Ausbildung kodifizierter Rechtsverhältnisse. Im Zuge dieser Entwicklung – und dieser Gedanke ist Hegel wichtig – ändert sich das rechtsgesetzliche Verständnis des Einzelnen: Die „nun w i r k l i c h e W e l t “ sei „nichts anderes, als das Bewußtseyn, welches das Princip des Rechtszustands, die geistlose Selbstständigkeit, auf seine abstracte Form bringt […]“.215 Gleichwohl tragen Hegels Erörterungen eher idealtypische Züge; Rechtshistoriker würden sicherlich zu abgestuften Betrachtungen kommen. Das Geist-Kapitel der Phänomenologie dreht sich größtenteils um die „Welt“ des Rechts. Durchzogen ist es von zeitgeschichtlichen Problemen, die Hegel anspricht. Das Unterkapitel „c. Rechtszustand“ ist an der römischen Welt modelliert,216 an einer geistigen Epoche also, die bis in das Mittelalter hineinreicht und den nach Hegels Worten „wahren Geist“ der antiken Sittlichkeit verabschiedet. Die nach Hegels Verständnis im Römischen Reich realisierte „persönliche Selbstständigkeit des R e c h t s “ wird bezogen auf die „Faseley des Negativen“, wie sie alsdann die „sceptische Verwirrung des Bewußtseyns“ ausmache, welche auf die „abstracte Selbstständigkeit des Stoicismus“ folge. Resultat sei jedesmal die „gleiche allgemeine Verwirrung und gegenseitige Auflösung.“ Sich ablösende Rechtszustände glichen somit einem „Verwüsten“: „Die rechtliche Persönlichkeit erfährt also, indem der ihr fremde Inhalt sich in ihr geltend macht, […] ihre Substanzlosigkeit. Das zerstörende Wühlen in diesem wesenlosen Boden gibt sich dagegen das Bewußtseyn seiner Allherrschafft, aber dieses Selbst ist bloses Verwüsten, daher nur außer sich, und vielmehr das Wegwerfen seines Selbstbewußtseyns.“
Zu denken ist hier auch an die über Jahrhunderte verfolgte Expansionspolitik der Römer. Der „Herr der Welt“, der römische Kaiser in seiner politisch-militärischen 212 „Die in der sittlichen Welt nicht vorhandne Wirklichkeit des Selbsts ist durch ihr Zurückgehen in die P e r s o n gewonnen worden, was in jener einig war, tritt nun entwickelt aber sich entfremdet auf.“ – Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 264. 213 Wo Kreon sich auf das menschliche Gesetz beruft, insistiert Antigone auf der Herkunft der Sitte. In der römischen Welt dagegen ist das Recht vorhanden in der Sitte: im natürlichen Zusammenschluss der familiären Blutsgemeinschaft (οἶκος) und deren unmittelbarem Rechtsbewusstsein. Dieser Begriff der Familie unterscheidet sich von demjenigen der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien, der (auch) ökonomisch bestimmt ist. Hegel erkennt, dass Rechtsdurch Blutverhältnisse zwar vorgeformt, die Entstehung des Rechtssubjekts („das allgemeine Blut“) dadurch aber verhindert wird (vgl. Aischylos’ Orestie). 214 Vgl. Lessing 1771/1979, S. 462. 215 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 261. 216 Nicht diese Quelle („zweifellos weniger klar“), sondern v.a. Hegels 1825 gehaltene Vorlesungen über die römische Welt schöpft Villey 1975, S. 138–142, aus, für den Hegel, der sich eher an Wolff, Kant und Fichte orientiere, „seine Theorie auf ein Trugbild des römischen Rechts stützt“ (S. 145).
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Macht in der Zeit nach dem Ende der römischen Republik, sei in Wahrheit „die einsame Person“: „Alle machen die geltende Allgemeinheit der Person aus, denn das Einzelne als solches ist wahr nur als allgemeine Vielheit der Einzelnheit, von dieser abgetrennt ist das einsame Selbst in der That das unwirkliche, krafftlose Selbst.“217 Trotz dieser Tendenz zur Zersetzung des Reiches beweist die Entwicklung Roms von der Republik über den Prinzipat bis hin zum Codex Iustinianus (534), sprich zum christlichen Gemeinwesen, in Hegels Sicht gleichwohl die Fähigkeit des römischen Rechts, unterschiedliche Formen von Staatlichkeit zu inkludieren. Daher erkennt Hegel im Rechtszustand der römischen Welt eine enorm positive Bedeutung: Es werde deutlich, dass er nicht das Ende einer Entwicklung ausmachen könne. Denn die neue Basis der Rechtspersönlichkeit erfordere eine neue Rechtsbasis: Frei – und damit Person – seien nach römischem Recht lediglich einige. „Das rezipierte römische Recht blieb bis zum Inkrafttreten des Preußischen Landrechts (1794), des Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuches (1863) und im Gesamtgebiet des Deutschen Reiches bis zum Inkrafttreten des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900 in Geltung […].“218
Mithin findet es in Hegels Zeit überall dort noch Bestätigung, wo nicht das Landrecht oder der Code civil (1804) erlassen ist. So erscheint Hegels gegenüber der historischen Rechtsschule erhobene Forderung nach einem neuen Gesetzbuch berechtigt. Wie gesehen wünscht Hegel anders als Hugo und Savigny, dass nicht die Jurisprudenz, sondern vielmehr die Gesetzgebung mit der Rechtsreform beauftragt werde. Aber nicht aus Hegels unter Juristen bis heute umstrittener, von z.B. Marx jedoch adaptierter219 Deutung des römischen Rechts als „abstraktes Recht“220 (Eigentums-, Vertrags- und Strafrecht), sondern aus der von Savigny und seinen Mitstreitern praktizierten Neubefassung mit den römischen Rechtsquellen resultiert schließlich die Kodifikation des BGB, in welchem die römisch-rechtlichen Pandekten (Digesten) fortleben. Andererseits führen ungeachtet der Tatsache, dass die drei Teile der Hegelschen Grundlinien (abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit) keine explizit rechtsgeschichtlichen Beziehungen unterhalten – so wenig wie die im Corpus Iuris Civilis zusammengefassten Institutionen und Pandekten auch –, gerade die nach Hegels Tod teils heftig ausgetragenen Kontroversen um die Deutung und die Konsequenzen seiner Rechtsphilosophie zu neuen Verhältnisbestimmungen von Recht und Geschichte. Hegels Kritik an einer geschichtsvergessenen Erforschung des römischen Rechts steht im Dienste der Konzeption seiner Philosophie des Geistes und der Geschichte. Gleichwohl ist die Frage nach Hegels
217 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 260–264. 218 Härtel in Codex Justinianus 1991, S. 280. 219 Vgl. Marx/Engels 1976, Teil 4, S. 315. 220 Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14/1, §§ 34–104.
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Stellung zur Romanitas bzw. zum römischen Recht im Besonderen noch nicht hinreichend beantwortet.221 LITERATUR I. Hegel Hegel, G. W. F., Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen (1968–1995: Rheinisch-Westfälischen) Akademie der Wissenschaften (seit 2009: …und der Künste). Hamburg 1968ff. (= GW + Bandzahl) Hegel, G. W. F., 1970: Werke 2. Jenaer Schriften (1801–1807). In: Theorie-Werkausgabe, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main. Hegel, G. W. F., 1970: Werke 18. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: TheorieWerkausgabe, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main. Hegel, G. W. F., 1983: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion, hrsg. v. Walter Jaeschke. In: Hegel. Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg (= V 3). Hegel, G. W. F., 1997: Berliner Schriften (1818–1831), voran gehen Heidelberger Schriften (1816– 1818), hrsg. v. Walter Jaeschke, Hamburg. Hegel, G. W. F., 2002: Über die Reichsverfassung, hrsg. v. Hans Maier. Nach der Textfassung von Kurt Rainer Meist. München (= Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Herausgegeben von Hans Maier und Michael Stolleis. Band 10). Hegel, G. W. F., 2002: System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts]. Mit einer Einleitung von Kurt Rainer Meist hrsg. v. Horst D. Brandt. Hamburg. Hoffmeister, Johannes (Hrsg.), 1952: Briefe von und an Hegel. Band I: 1785–1812, Hamburg. Hoffmeister, Johannes (Hrsg.), 1953: Briefe von und an Hegel. Band II: 1813–1822, Hamburg. Nohl, Herman (Hrsg.), 1907: Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin. Tübingen.
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221 Vgl. hierzu: Illetterati, Luca/Moretto, Antonio (Eds.) 2004. – Hegels seit 2015 in historischkritischer Edition vorgelegten Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (GW 27/1ff.) bieten neue Quellen.
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VOM „STAAT IN DER IDEE“ ZUR IDEE DES STAATES KANT, FICHTE, HEGEL Frank Kuhne Am Anfang der Epoche, die erst nach ihrem Ende und mit deutschtümelndem Unterton „Deutscher Idealismus“ genannt wurde,1 steht die Überzeugung Fichtes, Schellings und Hegels, dass „über Kant hinauszugehen“ sei. Das Wort Reinholds von den fehlenden „Prämissen“2 der Kantischen Philosophie bringt Fichte auf eine Formel, die die Verbeugung vor Kant mit der Kritik an ihm prägnant verbindet. Kant habe „überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen“3. Er habe mit dem „Ich“ der transzendentalen Einheit der Apperzeption zwar die absolute Bedingung allen Bewusstseins gefunden, es aber unterlassen, dieses näher zu bestimmen und aus ihm alle weiteren Bedingungen abzuleiten. Statt eines Systems der Philosophie habe er nur ein Aggregat von Vernunftbestimmungen geliefert. Der Zusammenhang seiner praktischen Philosophie der Freiheit mit seiner theoretischen Philosophie sei ungeklärt. Tatsächlich kann das „Ich denke“ Kant zufolge über den Aufweis seines Vollzugs hinaus nicht Gegenstand einer Theorie sein, da eine solche schon immer unter der Bedingung des „Ich denke“ stünde.4 Wesen und Sein des „Ich denke“ bleiben daher notwendig unbestimmt.5 Und Kants Aufweis der Wirklichkeit der Freiheit durch die Lehre vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als „Faktum der Vernunft“6 impliziert die radikale Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Ihre Einheit kann Kant nur proklamieren, ihr gemeinsames Prinzip aber nicht aufweisen.7 Infolge dieser Trennung gilt die Natur in theoretischer Hinsicht als durch die synthetischen Leistungen des spontanen „Ich denke“8 konstituiert, in praktischer Hinsicht dagegen als Inbegriff der Heteronomie. Für die zweite Kritik sind die Nicht-Determiniertheit und die Spontaneität des transzendentalen Subjekts, das in der ersten Kritik thematisch ist, ohne Bedeutung. Die Wirklichkeit der Freiheit ist hier durch das „Vernunftfaktum“-Theorem erwiesen, dem zufolge das Ich sich selbst nur in praktischer Hinsicht und nur im Medium praktischer Vernunft in seinem Wesen und Sein begreifen kann. 1 2 3 4 5 6 7 8
Jaeschke 2000, S. 219 ff. Reinhold 1789, S. 67. Fichte im Dezember 1793 an H. Stephani: GA III,2, S. 28; ähnlich Schelling 1795 an Hegel: Frank/Kurz 1975, S. 119. Kant, KrV, S. 374 (B 404). Ibid., S. 174 (B 157). Kant, KpV, S. 141 (A 56). Vgl. Kuhne 2007. Kant, KrV, S. 140 (B 131 f.).
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Frank Kuhne
Das „Hinausgehen über Kant“ geschieht bei Fichte zunächst „im kantischen Geiste“, während Schelling9 und Hegel schon früh zu erkennen meinen, dass nicht nur über Kant, sondern auch über Fichte hinauszugehen sei, insofern dieser wie jener eine Reflexionsphilosophie der Endlichkeit treibe und somit den der Philosophie eigentümlichen Gegenstand, das Absolute, verfehle. In der Tat beansprucht Fichte mit der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/5) sowie mit seinem Naturrecht (1796) und seiner Sittenlehre (1798) „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ zu begründen, was Kant nicht (mehr) begründen konnte, nämlich eine Philosophie in Systemgestalt, die sich streng innerhalb der transzendentalphilosophisch allein zulässigen Grenze des Bewusstseins hält, während Schelling und Hegel einen „höheren Standpunkt“ reklamieren, von dem aus sich die Unterscheidung zwischen zulässiger Bewusstseinsimmanenz und unzulässiger -transzendenz als obsolet erweisen soll. Die Wissenschaftslehre zielt auf „den Grund aller Erfahrung“, der „nothwendig außer aller Erfahrung“10 liegt. Er besteht in den vorbewussten apriorischen Handlungen des Geistes, welche die philosophische Reflexion ins Bewusstsein hebt. Die Erfahrung ist das durch diese Handlungen Konstituierte. Als a priori konstituierte hat sie nicht die Seite der Kontingenz, sondern ist „das System aller nothwendigen Vorstellungen“.11 Für sie gilt, dass Apriori und Aposteriori dasselbe sind, nur aus verschiedenen Ansichten betrachtet. Die Philosophie leitet „ohne alle Rücksicht auf die Wahrnehmung, a priori ab, was ihr zufolge eben in der Wahrnehmung, also a posteriori, vorkommen soll. Ihr bedeuten sonach diese Ausdrücke nicht verschiedene Objekte, sondern nur eine verschiedene Ansicht eines und eben desselben Objekts.“12
Der Inhalt der Wissenschaftslehre ist selbst „Form“, weil er den Erkenntnissen, die die Inhalte empirischer Bewusstseine ausmachen, keine neuen hinzufügt, sondern nur über den „Mechanismus des Geistes“ aufklärt, der ihrem Zustandekommen zugrunde liegt. „Es kommt […] dem Inhalte der Philosophie keine andere Realität zu, als die des nothwendigen Denkens, unter der Bedingung, daß man über den Grund der Erfahrung etwas denken wolle.“13 Was das natürliche Bewusstsein erkennt, ist seiner Form bzw. Struktur nach konstituiert durch notwendige Handlungen des Ich und hat deshalb, nicht anders als bei Kant, den ontologischen Status einer Erscheinung. Fichte überwindet die Dualismen der Kantischen Philosophie, aber er bleibt Transzendentalphilosoph. Die transzendentale Subjektivität ist das System der Möglichkeitsbedingungen des wirklichen Bewusstseins endlicher Vernunftwesen, das durch die Erfahrung einer unabhängig von ihrem Zutun vorhandenen Welt bedingt ist. Die „Erklärung“ dieser Erfahrung überschreitet nicht den Bereich dessen,
9 10 11 12 13
Schelling bleibt hier unberücksichtigt. Fichte, Erste Einleitung, S. 425. Ibid., S. 446. Fichte, Sonnenklarer Bericht, S. 355. Fichte, Erste Einleitung, S. 449.
Vom „Staat in der Idee“ zur Idee des Staates
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was „im“ Bewusstsein liegt und vermeidet damit den „Spinozismus“, der „in einem Felde sich befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann“14. Hegel zufolge bezieht Fichte damit wie schon Kant den einseitigen Standpunkt eines subjektiven Idealismus, der nur das Ich, nicht aber die Natur als Subjekt-Objekt bestimmt und infolgedessen das Andere des Ich nicht als sein Anderes begreifen kann. Hegel vollzieht schon früh den „spekulativen“ Schritt über diese nur subjektive Subjekt-Objekt-Einheit hinaus, indem er das Bewusstsein holistisch, als Totalität fasst und „die Momente des sich organisierenden Bewußtseins weder auf der Seite des Subjekts in der Form von Vermögen, Neigungen, Leidenschaften, Trieben u.s.w. [betrachtet], noch auf der andern Seite des Gegensatzes als eine Bestimmtheit der Dinge, sondern wie es als Einheit und Mitte von beidem absolut für sich ist“15.
Das sich organisierende Bewusstsein ist konkreter als „Geist“ zu fassen, als ein den Individuen vorausgesetztes überindividuelles Ganzes, das gleichwohl durch sie auch hervorgebracht wird und sich in geschichtlichen „Welten“ realisiert. „Der Geist ist […] das Individuum, das eine Welt ist.“16
1. RECHTSLEHRE Hegel und Fichte stimmen darin überein, dass das Recht im Anschluss an Kant nicht mehr unter Rekurs auf die egoistisch motivierten und zweckrational begründeten Entscheidungen der Individuen (Hobbes) oder auf allgemeine Utilitätserfahrungen und -erwägungen (Hume) zurückgeführt werden kann. Das Recht muss vielmehr als Vernunftrecht verstanden werden, Vernunft aber als reines Selbstbewusstsein oder reine Subjektivität. Die Geltung des Rechts ist demnach die der Vernunft selbst. Hegel und Fichte fassen allerdings Subjektivität, wie eben skizziert, unterschiedlich, der eine als transzendentale, Denken und Handeln des endlichen Vernunftwesens konstituierende Form, der andere als überindividuelle, Geist und Natur übergreifende Struktur eines sich auf sich beziehenden, sich von sich unterscheidenden und sich darin als identisch begreifenden Ganzen. Diese unterschiedliche, einmal transzendentalphilosophische, einmal spekulative Auffassung von Subjektivität hat zwei unterschiedliche Varianten von Vernunftrecht zur Folge, die beide erheblich von Kant differieren. Als Philosophie des objektiven Geistes fassen Hegels Grundlinien das Recht als „eine zweite Natur“17. Es ist nicht „der Inbegriff von Bedingungen“18, die die Koexistenz der Individuen als Freier garantieren (Kant, Fichte) und deren Geltung
14 15 16 17 18
Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 101. Hegel, Jenaer Schriften, S. 203. Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, S. 326. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 4 S. 46. Kant, RL, § B, S. 337.
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in reiner praktischer Vernunft (Kant) bzw. in reiner Vernunft (Fichte)19 gründet, sondern ist das „Dasein des freien Willens“ oder „die Freiheit, als Idee“20. In seiner konkreten Gestalt als Sittlichkeit ist es eine Totalität historisch gewachsener und kulturell geprägter Lebensformen, Ordnungen und Institutionen, deren immanente Vernunft aufzuweisen der Philosophie obliegt. Da der Geist neben der Natur die zweite Art ist, in der sich die logische Idee ein Dasein gibt, ist die immanente Vernünftigkeit der „zweiten Natur“ ontologisch garantiert. Die dialektische „Methode“ der Logik präformiert, wie in der Wissenschaft des Rechts „der Begriff sich aus sich selbst entwickelt und nur ein immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen ist“21. Die grundlegenden Bestimmungen des Begriffs des Willens: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, sind die des „Begriffs“22. Hegel fasst den Begriff des Willens zu Beginn der Rechtsphilosophie als „Willen des Begriffs“23. Diesem ist die Beziehung auf das ihm Äußerliche immanent.24 Der Begriff allein hat Wirklichkeit, „und zwar so, daß er sich diese selbst gibt“25. Die „Idee“ des Rechts ist als Einheit von Begriff und Dasein der Prozess und das Resultat seiner Selbstverwirklichung. Fichte „deduziert“ den Begriff des Rechts „aus der reinen Form der Vernunft, aus dem Ich“26. Der Begriff des Rechts ist der eines Verhältnisses zwischen endlichen Vernunftwesen, von denen jedes „seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränke, unter der Bedingung, dass das erstere die seinige gleichfalls durch die des anderen beschränke“.27 Deduziert wird das Rechtsverhältnis aus dem Begriff des Individuums, der seinerseits deduziert wird als Bedingung wirklichen Selbstbewusstseins. Das Naturrecht spezifiziert die Frage der Wissenschaftslehre nach den notwendigen Bedingungen wirklichen Selbstbewusstseins überhaupt zu der nach den notwendigen Bedingungen des Selbstbewusstseins des individuierten Ich. Gegenstand der Untersuchung ist nicht mehr das transzendentale Ich überhaupt, das zwar Eines (Einheit), aber nicht notwendig Einzelnes ist, sondern das einzelne Ich. Fichte will nachweisen, dass Selbstbewusstsein logisch zwingend das von sich wechselseitig als Vernunftwesen anerkennenden Individuen ist. Er will aus dem Ich überhaupt die Sozialität des Menschen ableiten.28 „[D]as vernünftige Wesen [kann] sich nicht als ein solches mit Selbstbewusstseyn setzen [...], ohne sich als Individuum, als Eins unter mehreren 19 Der Begriff des Rechts ist „ein ursprünglicher Begriff der reinen Vernunft“, der als „ein praktischer Begriff“ gedacht, „bloss technisch-praktisch“ ist. Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 8; 10. Dazu weiter unten. 20 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29, S. 80. 21 Ibid., § 31, S. 84. 22 Ibid., §§ 5–7. 23 Theunissen 1982, S. 332. 24 Hegel, Logik II, TWA 6, S. 253. 25 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 1 Anm., S. 29. 26 Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 53. Fichte konnte zur Zeit der Abfassung des ersten Teils seines Naturrechts die Kantische Rechtslehre nicht kennen. Kants vermutliche Auffassung entnahm er dessen Schrift Zum ewigen Frieden. 27 Ibid., S. 52. 28 Dazu bspw. Lauth 1986.
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vernünftigen Wesen, zu setzen, welche es ausser sich annimmt, so wie es sich selbst annimmt.“29 Ist demnach für das einzelne Selbstbewusstsein die Selbstunterscheidung von Individuen derselben Art konstitutiv, dann schließt die Deduktion der Bedingungen des Selbstbewusstseins die Bedingungen dieser Selbstunterscheidung ein. Das Ich muss mit seinesgleichen in einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung freier Vernunftwesen stehen, und dies ist nicht denkbar ohne seine leibliche Individuierung. Die Rechtslehre „nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ ist auch „reine“ Anthropologie. Ihr erster „Lehrsatz“ und sein „Folgesatz“ betonen den schon in der Grundlage aufgewiesenen Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft, hier aber in Bezug auf ein einzelnes Selbstbewusstsein. Die Art der Darstellung ist dabei an der Wissenschaftslehre „nova methodo“ orientiert. „Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben.“30 Und: „Durch dieses Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit setzt und bestimmt das Vernunftwesen eine Sinnenwelt ausser sich.“31 Nur im freien Wollen vermag das endliche Vernunftwesen sich selbst „unmittelbar“32 wahrzunehmen, denn im Vorstellen ist es nicht auf sich, sondern auf die Welt bezogen. Das freie Wollen schließt aber das Setzen, nämlich das Vorstellen einer äußeren Sinnenwelt notwendig ein. Das endliche Vernunftwesen kann sein ursprüngliches praktisches Selbstverhältnis nur setzen in Abgrenzung von einer vorgestellten Welt außer ihm als der Sphäre seiner Wirksamkeit. „Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft; das Vorstellen steht mit demselben […] freilich in Wechselwirkung.“33 Der wechselseitigen Anerkennung endlicher Vernunftwesen vorausgesetzt ist die Aufforderung. Damit das endliche Vernunftwesen sein Gegenüber als autonome Person anerkennen kann, muss es sich seiner Autonomie bewusst sein. Das Bewusstsein seiner Autonomie ist das eines raumzeitlich existierenden Wesens. Wie kann individuelles Selbstbewusstsein in der Zeit entstehen? Zufolge der Wissenschaftslehre ist das Ich nur als Handeln, und die Konstituentien seines Handelns sind Wollen und Vorstellen. Wie können diese nur analytisch zu trennenden Konstituentien des Ich im Nacheinander der Zeit sich wechselseitig voraussetzen und dennoch in Einem Zeitpunkt zusammenfallen. Wollen und Vorstellen sind entweder in jedem Zeitpunkt in Einheit, dann lässt sich die Genese des Selbstbewusstseins in der Zeit nicht erklären, weil in dieser Erklärung das zu Erklärende immer schon vorausgesetzt wird; oder sie sind nicht in Einheit, dann gerät die Erklärung in den unendlichen Regress.34 Zirkel bzw. Regress ließen sich nur vermeiden, wenn Wollen und Vorstellen nicht mehr sich wechselseitig vorauszusetzende Handlungen desselben Ich wären, sondern diesem Ich von außen und in Einem Moment 29 30 31 32 33 34
Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 8. Ibid., S. 17. Ibid., S. 23. Ibid., S. 20. Ibid., S. 20. Ibid., S. 30.
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gegeben würden. Dies geschieht dergestalt, dass ein wirkliches individuelles Selbstbewusstsein das potentielle Selbstbewusstsein „auffordert“ zur freien Selbstbestimmung. Die Aufforderung ist ein „Anstoß“, ein äußerliches Einwirken auf das potentielle Ich. In diesem ausgezeichneten Fall muss das aufgeforderte Ich nicht eigens den Zweck als Objekt seines Wollens vorstellen. Denn die Aufforderung ist als äußerliche Einwirkung zwar Objekt, aber ein Objekt, das selbst die freie Wirksamkeit des Subjekts bedeutet. Die Aufforderung, die wohl sprachliche Gestalt haben muss, ist nicht bloße physische Einwirkung, bloße Abfolge von Lauten, sondern von Lauten, die einen geistigen Gehalt ausdrücken, eine Bedeutung. Was dem aufgeforderten Ich äußerlich, als Objekt, gegeben wird, und was es, wenn es dieses Objekt begreift, vorfindet, ist der Begriff seiner Autonomie: sein „Bestimmtseyn [...] zur Selbstbestimmung“35. Mit der Aufforderung ist die in der Grundlage eingeführte transzendentale Reflexionsbestimmung des „Anstoßes“, der jeder bestimmten Erfahrung a priori zugrunde liegt und daher nicht selbst erfahrbar ist, verwandelt in etwas, das in der Zeit erfahrbar ist.36 Als „nothwendige Bedingung alles Selbstbewusstseyns“ ist die Aufforderung ein „nothwendiges Factum.“37 Der Ausdruck ist „transzendental“ zu verstehen: „Es ist so, heisst, wir müssen es so setzen: und weil wir es so setzen müssen, darum ist es so.“38 Ohne Aufforderung und mithin ohne aufforderndes Subjekt kein wirkliches Selbstbewusstsein. „Der Mensch (so alle endliche Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch, […] sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn.“39 Deren Verhältnis ist aber notwendig ein Rechtsverhältnis, denn „keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen, und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln“40. Das Rechtverhältnis ist das einer wechselseitigen Beschränkung individueller Freiheitssphären. Jedes Vernunftwesen schreibt sich eine Sphäre seiner Freiheit zu, von welcher es die anderen ausschließt, und schreibt umgekehrt den anderen eine Sphäre ihrer Freiheit zu, von der es sich selbst ausschließt, gemäß dem „Rechtssatz“: „Ich muss das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken.“41 Das „Müssen“ darf dabei nicht als moralisches „Sollen“ verstanden werden. Der Rechtsbegriff „hat mit dem Sittengesetze nichts zu tun“. „Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgesetz erlaubt nur, aber gebietet nie, das man sein Recht ausübe.“42 Das rechtliche Sollen ist nicht unbedingt, sondern bedingt. Von moralischer Verbindlichkeit ist 35 36 37 38 39 40 41 42
Ibid., S. 33. Dazu Siep 1992, S. 81. Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 35 Ibid., S. 72. Ibid., S. 39. Ibid., S. 44. Ibid., S. 52. Ibid., S. 54. Aus einer Bemerkung in Zum ewigen Frieden über das „Erlaubnisgesetz“ meint Fichte schließen zu können, dass seine Deduktion des Rechtsgesetzes mit Kants Auffassung
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„in der Rechtslehre nicht die Rede; jeder ist nur verbunden durch den willkürlichen Entschluss, mit anderen in Gesellschaft zu leben; und wenn jemand seine Willkür gar nicht beschränken will, so kann man ihm auf dem Gebiete des Naturrechts weiter nichts entgegenstellen, als das, dass er sodann aus aller menschlichen Gesellschaft sich entfernen müsse.“43
Die rechtliche Verbindlichkeit gründet in dem „freien Entschluss“44 des endlichen Vernunftwesens, mit anderen in Gesellschaft zu leben. Es gibt keine Rechtspflicht, mit anderen in Gesellschaft zu treten, aber der freie Entschluss dazu hat rechtlichnormative Folgen. Aus der Perspektive der Sittenlehre und mithin der Moral verhält es sich anders. Hier erhält die Rechtsregel der wechselseitigen Freiheitsbeschränkung „durch das Gesetz der absoluten Uebereinstimmung mit sich selbst (das Sittengesetz) eine neue Sanction für das Gewissen“, das heißt eine moralische Verbindlichkeit. „Ich muss mich nothwendig in Gesellschaft mit den Menschen denken, mit denen die Natur mich vereiniget hat; aber ich kann dies nicht, ohne meine Freiheit durch die ihrige beschränkt zu denken; nach diesem nothwendigen Denken muss ich nun auch handeln, ausserdem steht mein Handeln mit meinem Denken, und ich sonach mit mir selbst im Widerspruche; ich bin im Gewissen, durch mein Wissen, wie es seyn soll, verbunden, meine Freiheit zu beschränken.“45
Um der „Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs“ (zweites Hauptstück) willen müssen bestimmte äußere Bedingungen erfüllt sein – zunächst die Leiblichkeit der endlichen Vernunftwesen, ohne die sie aufeinander nicht empirisch einwirken könnten, dann aber auch Luft und Licht als Medien solcher Einwirkung. Das dritte Hauptstück enthält die „Systematische Anwendung des Rechtsbegriffs, oder die Rechtslehre“. Fichte betrachtet hier den „Inbegriff“ dessen, was notwendig ist, „dass jemand überhaupt frei oder Person sey“. Dieser Inbegriff der Möglichkeitsbedingungen des „Beisammenseyns freier Wesen“ heißt „ein Recht“46. Das Recht „oder diese Rechte“ liegen im Begriff der Person als des leiblich individuierten Vernunftwesens. Aus der Analyse des Begriffs der Persönlichkeit folgen „Urrechte“, die „jeder Person als einer solchen absolut zukommen“47 sollen. Sie bestehen in dem „Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes“ und dem „auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt“48. Auch sie bezeichnen Möglichkeitsbedingungen des „Beisammenseyns freier Wesen“. Sie sind „eine blosse Fiction […] zum Behuf der Wissenschaft“49 und nicht etwa ursprüngliche Rechte, die jedem Menschen „kraft seiner Menschheit“50 zukommen, wie es bei Kant heißt. 43 44 45 46 47 48 49 50
übereinstimme (Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 13). Fichte unterliegt hier einer Fehldeutung. Dazu Kersting 2001, S. 30 ff. Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 11. Ibid., S. 14. Ibid., S. 10 f. Ibid., S. 94. Ibid., S. 113. Ibid., S. 119. Ibid., S. 112. Kant, RL, S. 345 (B 45).
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Das Bewusstsein des endlichen Vernunftwesens, dass sein Personsein nicht ohne wechselseitige freie Anerkennung zwischen Personen zu denken ist, sollte „Konsequenzen“ für sein Handeln haben. Faktisch vermag es aber jederzeit inkonsequent zu handeln und anderen die Anerkennung zu versagen. Soll die Sicherheit der Personen nicht zufällig sein, muss deshalb „eine mit mechanischer Nothwendigkeit wirkende Veranstaltung getroffen werden“51, die jede rechtswidrige Handlung in das Gegenteil ihres Zwecks verkehrt und auf diese Weise einen jeden motiviert, Unrechtshandlungen zu unterlassen. Gefordert ist eine Macht, die das Zwangsrecht ausübt – der Staat. Der Staat selbst kann „keine mechanische“, sondern muss „eine freie Macht seyn“52. Er kann daher nur auf einen Vertrag der an ihrer langfristigen Sicherheit interessierten Personen gegründet werden. Die genauere Bestimmung dieses „Staatsbürgervertrags“ erfolgt im zweiten, ein Jahr später publizierten Teil der Fichteschen Rechtslehre, dem „Angewandten Naturrecht“, das den Staatsbürgervertrag in mehrere Teilverträge unterscheidet.53 2. HEGELS KANT- UND FICHTE-KRITIK IN DEN GRUNDLINIEN Hegels Kritik der Vorgänger verfährt nicht immanent, sondern erfolgt von dem vorausgesetzten „höheren Standpunkt“ der spekulativen Philosophie. Deren Betrachtung hat es nur mit dem „gedachten Begriffe zu tun“. Zustimmung erfahren Kant und Fichte (und Rousseau) dort, wo ihnen gewisse Schritte „in Ansehung des Aufsuchens dieses Begriffes“ 54 attestiert werden können, generell erfahren sie aber Kritik, weil sie es bei ersten Schritten beließen. So markieren Kants Begriff der Autonomie des Willens und Fichtes bewusstseinsimmanente Überwindung kantischer Dualismen einen Fortschritt in der Philosophie. Kant habe der „Erkenntnis des Willens“ „ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie gewonnen“. Sein Festhalten „des bloß moralischen Standpunkts, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht“, setze aber „diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter“. Zwar könne man „von außen her wohl einen Stoff hereinnehmen und dadurch auf besondere Pflichten kommen, aber aus jener Bestimmung der Pflicht, als dem Mangel des Widerspruchs“55, könnten weder besondere Pflichten bestimmt werden, noch sei Widerspruchsfreiheit ein geeignetes Kriterium, um äußerlich aufgenommene besondere Inhalte daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Pflicht seien oder nicht. Schlagend sei hier das Depositum-Beispiel, mit dem Kant in der zweiten Kritik illustrieren will, dass der „gemeinste Verstand ohne Unterweisung“ sich des 51 Ibid., S. 142. 52 Ibid., S. 146. 53 Ob die Teilverträge als „Mehrzahl von Verträgen“ oder als „Momente eines einzigen“, des Staatsbürgervertrags, zu interpretieren sind, ist umstritten: Maus 2001, S. 142. 54 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 258, S. 400. 55 Ibid., § 135 Anm., S. 252.
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kategorischen Imperativs als eines Beurteilungsprinzips bedienen könne, um moralisch erlaubte von moralisch verbotenen Maximen zu unterscheiden. Die Maxime, „daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“, hebt sich nach Kant als „Gesetz“ selbst auf, „weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe“56. „Daß kein Eigentum stattfindet“, entgegnet Hegel, enthalte „für sich“ keinen Widerspruch. Ein Widerspruch könne „sich nur mit etwas ergeben, das ist, mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde liegt. In Beziehung auf ein solches ist erst eine Handlung entweder damit übereinstimmend oder im Widerspruch.“57 Hegels Kritik des Depositum-Beispiels erfolgt vom Standpunkt der Sittlichkeit, das Beispiel selbst erfüllt aber die ihm zugedachte Funktion nur, wenn ihm gegenüber der moralische Standpunkt eingenommen wird. Der Selbstwiderspruch der versuchsweise verallgemeinerten Maxime liegt dann darin, dass derjenige, der Depositen unterschlagen will, durch eben diesen seinen Willen deren Möglichkeit fordert.58 Einen Fortschritt in der Philosophie erzielt auch Fichte, wenn er den Kantischen Dualismus von Unendlichkeit und Endlichkeit immerhin bewusstseinsimmanent, „in der Immanenz und Abstraktion“59, auffasst. Allerdings habe er das Allgemeine, das Ich, „nur als Positives genommen“. Zu erkennen, dass das Negative dem Ich nicht irgendwie „hinzukommt“ durch Affektion (Kant) oder durch eine der Tathandlung des Ich entgegengesetzte Ich-Tätigkeit (Fichte), sondern ihm „immanent“ ist, blieb der spekulativen Philosophie vorbehalten.60 Gemessen am spekulativen Begriff des Rechts verfallen die vorhegelschen Rechtslehren nicht nur der Kritik, ihre geltungstheoretischen, methodischen und inhaltlichen Differenzen sind für Hegel auch unerheblich. Der Fortschritt, den Kants Fundierung der Rousseauschen volonté générale in reiner praktischer Vernunft darstellt, relativiert sich rasch, wenn bedacht wird, dass das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (Kant) rein formal bzw. „leer“ ist. Fichtes moral-unabhängige Begründung des Rechts nimmt zwar als Theorie der Anerkennung und Intersubjektivität zentrale Themen Hegels vorweg, verbleibt aber im Rahmen des subjektiven Idealismus und muss daher in ihrer Eigenständigkeit gegenüber Kant nicht gewürdigt werden. Der Unterschied zwischen einer Rechtslehre, die das Rechtsgesetz aus dem kategorischen Imperativ ableitet (Kant), und einer, die das Recht ohne Rekurs auf die Moral begründet (Fichte), ist einer innerhalb der Transzendentalphilosophie und somit akzidentell. Wesentlich ist dagegen, dass beide Philosophen das Recht im Allgemeinen und den Staat im Besonderen nicht als objektiven Geist fassen und damit von vornherein verfehlen. Weder Kant noch Fichte haben „die seit Rousseau vornehmlich verbreitete Ansicht“ überwunden, „nach welcher der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger […], sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, 56 57 58 59 60
Kant, KpV, S. 136 (A 49). Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 135 Anm., S. 252. Vgl. Ebbinghaus 1968, 155. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 6, S. 53. Ibid., § 7, S. 54.
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die substantielle Grundlage und das Erste sein soll“61. Es ist deshalb nur konsequent, wenn sie wie dieser die Vertragsidee, die ihren systematischen Ort im Eigentumsrecht hat, auch für das Staatsrecht reklamieren.62 Weil sie die volonté générale nicht vernünftig, als sich „durchdringende[] Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit und hier [in Bezug auf den Staat] konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d.i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens“63
fassen können, müssen sie auf die Vertragsfigur zurückgreifen. Sie transponieren damit eine Bestimmung des „Privateigentums“ in die ganz andere und höhere Sphäre der Sittlichkeit. Die Vereinigung der Einzelnen durch Vertrag resultiert aber nur in eine den Einzelwillküren äußerliche Gemeinsamkeit. Hegels Kritik an der vermeintlich unzulässigen Anwendung des Vertragsgedankens auf den Staat erinnert von Ferne an die – berechtigte – Kritik des staatsrechtlichen Kontraktualismus, der zirkulär argumentiert, wenn er den Staat auf einen Vertrag gründet und zugleich behauptet, dass Verträge nur im Staat Gültigkeit haben können – wie exemplarisch bei Hobbes zu sehen.64 Sie ist aber nicht das Ergebnis einer immanenten Überprüfung der Stichhaltigkeit der Argumente Kants und Fichtes, sondern ergibt sich aus der Feststellung, dass diese es zu keinem „vernünftigen“ Begriff von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit gebracht haben. Der begriffliche Status und der Inhalt der Vertragsidee bei Kant und Fichte sind für Hegel ohne alles Interesse. Ohne Interesse ist, dass Kant eine Rechtspflicht zum Verlassen des Naturzustandes kennt und deshalb nicht in die Nähe von Vertragstheoretikern gerückt werden darf, für die „das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck“65 ist. Kant unterscheidet explizit zwischen der „Verbindung vieler zu irgendeinem gemeinsamen Zwecke (den sie haben)“, und der „Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder haben soll)“66. Wenn Kant die praktische Notwendigkeit des Staates thematisiert, geht es ihm nicht um die Gründung des Staates,67 sondern um dessen Rechtfertigung als Bedingungsmöglichkeit gesicherten Besitzes. Der Staat ist Bedingung der Möglichkeit des 61 Ibid., § 29, S. 80 f. Rousseau hat „den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen […] nur als das Gemeinschaftliche“ gefasst und somit die Vereinigung der Einzelnen qua Vertrag zum Staat ihrer Willkür ausgeliefert: Ibid., § 258, S. 400. 62 Ibid., § 75, S. 157: Die „Natur des Staates“ liegt nicht im Vertragsverhältnis. „Die Einmischung dieses, sowie der Verhältnisse des Privateigentums überhaupt, in das Staatsverhältnis hat die größten Verwirrungen im Staatsrecht und in der Wirklichkeit hervorgebracht.“ Analog die Kritik an der Ehe als Vertrag: „Unter den Begriff vom Vertrag kann daher die Ehe nicht subsumiert werden; diese Subsumtion ist in ihrer – Schändlichkeit, muß man sagen, bei Kant […] aufgestellt.“ Ibid., § 75, S. 157. 63 Ibid., § 258 Anm., S. 399. 64 Hobbes 1994, S. 131: „Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte.“ 65 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 258, S. 399. 66 Kant, GS, S. 144 (A 233). 67 Vgl. Ludwig ²2005, S. 155.
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„peremtorischen“ Besitzes, selber aber durch den „provisorischen“ Besitz bedingt. Der Begriff des Eigentums verweist daher auf den des Staates, und der des Staates auf den des Eigentums, ohne dass aber ein Zirkel vorliegt. Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes ist rechtlich nur unter der Bedingung der Affirmation der Idee der a priori vereinigten Willkür aller bzw. unter der Bedingung „der Konformität der Idee eines bürgerlichen Zustandes“68 möglich. Deshalb ist von dem Recht, etwas ursprünglich erwerben zu dürfen, die Pflicht, mit allen anderen in einen rechtlichen Zustand einzutreten, nicht zu trennen. Die unbedingte Forderung reiner praktischer Vernunft zum Verlassen des „Privatrechts im natürlichen Zustande“ und zum Eintritt in den staatlichen Zustand einer „austeilenden Gerechtigkeit“ ist „analytisch“ in dem Begriff des Rechts enthalten und deshalb auch aus ihm zu entwickeln – ganz ohne Rekurs auf den Vertragsgedanken. Der „ursprüngliche Kontrakt“ ist „eine bloße Idee der Vernunft“, die als „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ dient. Die Idee des Vertrages fungiert als Maßstab, durch den Verfassungen und Handlungen existierender Staaten auf ihre Rechtmäßigkeit hin beurteilt werden können. Sie hat „praktische Realität“, denn sie verbindet jeden Gesetzgeber, „daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willens eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe“69. Ohne Interesse ist für Hegel weiter, dass auch Fichte keineswegs den Willen „des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür“ zur „substantiellen Grundlage und zum Ersten“ macht. Fichtes Begriff des Individuums schließt dies gerade aus. Der Begriff des Individuums ist „nie mein; sondern meinem eigenen Geständniss, und dem Geständniss des Anderen nach, mein und sein; sein und mein; ein gemeinschaftlicher Begriff, in welchem zwei Bewusstseyne vereinigt werden in Eines“70. Den Anderen nicht als freies Vernunftwesen anzuerkennen, obwohl dieser mich als solches anerkennt, ist theoretisch inkonsequent, faktisch aber möglich. Die Einsicht des Vernunftwesens, dass seine freie Individualität bedingt ist durch die wechselseitige Anerkennung der Individuen, reicht nicht hin, um es zur Selbsteinschränkung zu motivieren. Zu dieser Einsicht hinzu kommt aber nach Fichte ein notwendiges Interesse an seiner Selbsterhaltung als der Bedingung „aller Aeusserung der Freiheit“. Dieses Interesse ist zwar eines an der Erhaltung seines „gegenwärtigen Leibes“71. aber nicht das an der bloßen Fortdauer seiner körperlichen Existenz als solcher. Weil und insofern der Leib bestimmt ist „als Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person; und nichts weiter“72. ist dieses Interesse das an der „Selbsterhaltung des selbstbestimmten Wollens selbst“73. 68 Kant, RL, § 14, S. 375. 69 Kant, GS, S. 153 (A 249 f.). Im Hinblick auf die Ehe bleibt außen vor, dass sie nach Kant „kein beliebiger, sondern durchs Gesetz der Menschheit notwendiger Vertrag“ ist: RL, § 24, S. 390. 70 Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 47 f. 71 Ibid., S. 118. 72 Ibid., S. 59. 73 Siep 1992, S. 36.
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3. FRAGEN AN HEGEL Dass Hegels Rechtsphilosophie nicht von Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie abstrahiert und das Recht als daseiende und nicht nur sein sollende Freiheit begreift, gilt seit jeher als ihr großer Vorzug im Vergleich zu den Rechtslehren Kants und Fichtes, die nur ein formales Apriori kennen. Dieser Lesart zufolge gelangen Kant und Fichte nur zu dem „Staat in der Idee“74, während Hegels „Idee des Staates“ ihn auch historisch begreifen lässt, und während die Transzendentalphilosophen der politischen und rechtlichen Empirie nur abstrakte Vernunftprinzipien entgegenhalten, bringt Hegel wieder zur Geltung, wovon diese abstrahieren. Die Attraktivität der Hegelschen Kritik am vermeintlich „leeren Formalismus“ Kants (und Fichtes) zeigt sich daran, dass sie heute längst nicht mehr nur gegen Kant ins Feld geführt wird, sondern auch gegen Theoretiker, die, wie etwa Apel, Habermas oder Rawls, zunächst getrennt von der Sittlichkeit gegebener Praktiken und Institutionen normative Prinzipien entwickeln, und diese erst hernach auf die gesellschaftliche Realität beziehen.75 Ihnen wird entgegengehalten, ein solches Vorgehen führe zu der bekannten Entgegensetzung von Sein und Sollen und zu Anwendungsproblemen – also zu Problemen, die Hegel schon bei Kant kritisiert habe. So sieht sich Honneth nicht in Kantischer, sondern Hegelscher Tradition, wenn er den Begriff des „Marktes“ dem bloß ökonomischen Denken entwinden und das normative Versprechen der „kapitalistischen Marktgesellschaft“76 freilegen will. Die Formalismus-Kritik an Kant und Fichte greift nun entweder zu kurz oder sie geht zu weit. Sie greift zu kurz, wenn sie sich darauf verlegt, die Welt der historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Tatsachen gegen die „reine“ Vernunft der Transzendentalphilosophen auszuspielen. Denn dass Menschen immer schon in bestimmte Traditionen, Normensysteme und institutionelle Zusammenhänge hineingeboren werden, bestreiten diese gar nicht. Sie stellen gar nicht in Abrede, dass das Recht historisch und gesellschaftlich vermittelt ist. Sie bestehen nur darauf, dass damit noch gar nichts über seine nicht nur juristische, soziale oder faktische, sondern normative Geltung gesagt ist. Die Kritik geht aber zu weit, wenn sie mit Hegel die Philosophie darauf verpflichten will, die der Empirie immanente Vernunft darzustellen getreu dem Satz aus der Vorrede: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.“77 Näheres Hinsehen zeigt nämlich, dass die Aufhebung des Hiats zwischen Vernunft und Geschichte und zwischen Sein und Sollen in der Philosophie des objektiven Geistes durchaus problematisch ist. Das ist im Folgenden zu skizzieren. 74 Kant, RL, § 45, S. 431: Der „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welcher jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient“. 75 Honneth 2011, S. 14 f.; S. 21 ff., sieht in Habermas und Rawls Vertreter einer „kantianischen Gerechtigkeitstheorie“. 76 Ibid. 77 Hegel, Grundlinien, TWA 7, S. 26.
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3.1. Geschichte und Vernunft Hegel zufolge haben die Bestimmung der Prinzipien des Staates als eines sittlichen Ganzen und die Darstellung der Weltgeschichte als des Prozesses der zeitlichen Entwicklung des Staates beide ihren systematischen Ort in der Rechtsphilosophie. Deren Darstellung gilt sowohl der Wirklichkeit als auch der Verwirklichung der Idee der Freiheit als Idee des Rechts.78 Wirklichkeit hat die Idee der Freiheit im modernen Staat. Dieser ist das – geographisch (noch) auf Westeuropa und Nordamerika begrenzte – Resultat der Weltgeschichte, welche ihrerseits aber nichts anderes ist als die Selbstverwirklichung des Begriffs der Freiheit in der Zeit. Bedingung der Möglichkeit der systematischen Darstellung des Rechts ist, dass der Begriff in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung „fertig“ ist, sich ein Dasein gegeben hat. Dies ist der Fall im modernen, auf den Prinzipien der Französischen Revolution beruhenden Staat, in dem der Mensch als Mensch Subjekt des Rechts ist. Die Rechtsphilosophie beansprucht, Begriffliches und Historisches in ihrer notwendigen Einheit darzustellen. Dies erscheint nur folgerichtig für eine Philosophie, die als Philosophie des Absoluten zwischen beiden keinen Gegensatz gelten lassen kann.79 Ein solcher Gegensatz ist vielmehr ausgeschlossen, wenn „die Unterschiede der besonderen philosophischen Wissenschaften nur Bestimmungen der [absoluten] Idee selbst sind und diese es nur ist, die sich in diesen verschiedenen Elementen darstellt“80. Hegel kritisiert die bloß geschichtliche „Erklärung“ des positiven Rechts durch die Historische Rechtsschule und die apriorische Konstruktion des Naturrechts bei Kant und Fichte.81 Beide sind unwahr, insofern sie von dem jeweils anderen abstrahieren.82 Ihre Vermittlung hat die Form der Selbstentwicklung des Begriffs. Sie kann nicht in der „Anwendung“ des apriorischen Begriffs auf einen gegebenen historischen Stoff bestehen. Diese unterstellte die Selbständigkeit der Relata. Sie wäre „nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffs, sondern Subsumtion des Verstandes“83. Der apriorische Begriff ist nicht anzuwenden auf Geschichtliches, sondern als in sich geschichtlich zu erweisen. Der Erweis hat dabei „die Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung“84 der historischen Bestimmungen. Dem Anspruch der Vermittlung von Begriff und Geschichte anscheinend entgegen, begreift Hegel die Abfolge der Kategorien in der Rechtsphilosophie als rein 78 Ibid., § 30, S. 83: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.“ 79 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 53: „Gott regiert die Welt […], die Vollführung seines Plans ist die Weltgeschichte. Diesen will die Philosophie erfassen; denn nur was aus ihm vollführt ist, hat Wirklichkeit, was ihm nicht gemäß ist, ist nur faule Existenz.“ 80 Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, S. 64. 81 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 3, S. 34 ff. 82 Ibid., § 3, S. 34 ff.; § 57 Anm., S. 123 f. 83 Ibid., § 3, S. 34. 84 Ibid., § 3 Anm., S. 35 f.
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begriffliche, die sich mit der historischen nicht deckt.85 Die „wissenschaftliche[] Entwicklung der Idee“ des Rechts muss von der „zeitlichen Entwicklung“86 seiner Gestaltungen unterschieden werden. Die Differenz der begrifflichen Genesis, die die Geltung ist, zur bloß historischen Genesis, drückt sich in der von begrifflicher und historischer Abfolge der Gestaltungen aus. „So kann man z. B. nicht sagen, daß das Eigentum vor der Familie dagewesen sei, und trotzdem wird es vor derselben abgehandelt.“87 Doch die Differenz von begrifflicher und historischer Entwicklung ist für die Darstellung selbst nicht konstitutiv. Den Gestaltungen kommt unabhängig von der Selbstexplikation des Rechtsbegriffs keine philosophisch relevante Bedeutung zu.88 Die begriffene Wirklichkeit des Rechts im modernen Staat ist somit die Wahrheit der historischen Entwicklung, die in diesen Staat mündet. Die Vermittlung von Begriff und Geschichte als Aufhebung der Geschichte in den Begriff impliziert die Nichtigkeit der historischen Bestimmungen als solcher. Nur als begriffene, das heißt vom Begriff gesetzte sind sie. Insofern ist es nur konsequent, wenn abgesehen vom Unterabschnitt „Weltgeschichte“ Geschichte nur in der Einleitung, den Anmerkungen und Zusätzen der Rechtsphilosophie thematisch ist. Allerdings entsteht damit der „Anschein, daß der Staat [...] erst im Kontakt mit anderen Staaten von der Geschichte affiziert wird“. Die Weltgeschichte erscheint infolgedessen „selbst als eine formale Entwicklung eines abstrakten Prinzips in der Zeit – des fortschreitenden Bewußtseins von Freiheit – nicht im direkten Zusammenhang mit den Begriffen Person, Moralität, Familie, Sittlichkeit, Staat, die ihr erst Sinn verleihen“89.
Der logische Ort der „Weltgeschichte“ in der Rechtsphilosophie ist paradox.90 Der moderne Staat, das Resultat der Selbstobjektivierung der Idee der Freiheit in der Geschichte, resultiert in die Geschichte. Das notwendige Resultat der Geschichte ist im „Verhältnis der Staaten gegeneinander [...] der Zufälligkeit ausgesetzt“91. 3.2. Normatives und Deskriptives Die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte in der Philosophie des objektiven Geistes zieht die nach dem Verhältnis von Normativem und Deskriptivem nach sich. Die Vermutung, dass eine Philosophie des Absoluten zwischen beiden keine Kluft anerkennen kann, bestätigt die berühmt-berüchtigte Formel: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“92. Hegel zufolge hat die Idee des Staates Wirklichkeit im modernen Staat, auch wenn 85 86 87 88 89 90 91 92
Ibid., § 32 und Zs, S. 85 ff. Ibid., § 32 Anm., S. 85. Ibid., § 32 Zs., S. 86. Ibid., § 3 Anm., S. 35. Brauer 1982, S. 22. Vgl. Hartmann 1982, S. 313; Hösle 1987, S. 457. Vgl. Brauer 1982, S. 19. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 340, S. 503. Ibid., S. 24.
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sie in keinem der faktisch existierenden Staaten vollständig realisiert ist. „Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben.“ 93 Von den besonderen Staaten ist aber auch nicht ganz abzusehen, denn der Idee des Staates als einem Gedachten muss in der historischen Staatenwelt etwas korrespondieren, wenn das Gedachte womöglich nicht nur ein Gesolltes sein soll. Zumindest ansatzweise muss die Struktur des Staates in den modernen Staaten auffindbar sein, wenn die Rechtsphilosophie ihren Lesern mit der „vernünftigen Einsicht“ in die Sache zugleich auch „die Versöhnung mit der Wirklichkeit“94 gewähren soll. Wenn der Begriff des Staates in den modernen Staaten Wirklichkeit hat, dann sind diese vor den anderen Staaten, die die Geschichte kennt, offenbar normativ ausgezeichnet. Die Unterscheidung von modernem und vormodernem Staat setzt einen normativen Begriff von Staat und Recht voraus. Dieser müsste in der Rechtsphilosophie dargestellt werden, doch intendiert diese laut der Vorrede explizit keine normative Theorie. Die Philosophie des objektiven Geistes scheint einen normativen Begriff von Staat und Recht in Anspruch zu nehmen und zugleich von sich zu weisen. Das Dilemma löst sich auf, wenn näher betrachtet wird, welche Art von Normativität sie in Anspruch nimmt und welche sie kritisiert. Was den modernen Staat vor seinen historischen Vorläufern auszeichnet, ist, dass in ihm Subjektivität und Substantialität des Sittlichen konkret zur Einheit gebracht sind. Während in den antiken Staaten die substantielle Allgemeinheit der polis den Individuen logisch und ontologisch vorgeordnet ist – der Mensch kann nur in der polis seine menschliche Bestimmung erfüllen (Aristoteles) –, und in der Neuzeit umgekehrt die Individuen dem Staat – der Staat ist ein menschliches Kunstwerk (Hobbes) – , ist im modernen Staat die Subjektivität der Individuen ein konstitutives Element der vernünftigen Allgemeinheit des Staates.95 Die Norm, deren Erfüllung den modernen Staat auszeichnet, ist spekulativ-logischer Natur. Die Einheit von Subjektivität und Substantialität hat ihren systematischen Ort in der Logik. Sie ist eine Bestimmung des Begriffs. Es ist mithin die dem Begriff immanente Normativität, welche der moderne Staat im Unterschied zu seinen historischen Vorläufern erfüllt. Das Kriterium der Modernität von besonderen Staaten ist nicht ihr zeitliches Erscheinen in der Geschichte, sondern der Grad ihrer Übereinstimmung mit der Idee des Staates, welche ihrerseits qua Idee den Strukturen der spekulativen Logik genügt. Der moderne Staat ist zwar ein – notwendiges – Resultat der Geschichte, aber nicht alle Staaten, die sich in der Moderne faktisch vorfinden, sind modern. Die dem Begriff eigene Normativität ist ein Implikat des ontologischen Wahrheitsbegriffs Hegels. Hegel definiert Wahrheit als „Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst, d. h. mit seinem Begriff“96. Die wahrhafte Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff ist nur im Falle des Absoluten gegeben; nur das 93 94 95 96
Ibid., § 258 Zs., S. 403. Ibid., S. 27. Vgl. ibid., § 260 Anm. u. Zs, S. 407; § 262 Zs., S. 410. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 172 Zs., S. 323; vgl. ibid., § 213 Zs., S. 369.
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Absolute, Unendliche ist absolut wahr, alle anderen, endlichen Gegenstände sind auch immer unwahr. „Gott allein ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird.“97
Hegel unterscheidet zwischen der absoluten Wahrheit des Absoluten und der graduellen Wahrheit endlicher Dinge. Gemessen am Absoluten sind die endlichen Dinge als solche unwahr, gemessen an ihrem Begriff sind sie mehr oder weniger wahr. „In diesem Sinne ist ein schlechter Staat ein unwahrer Staat, und das Schlechte und Unwahre überhaupt besteht in dem Widerspruch, der zwischen […] dem Begriff und der Existenz eines Gegenstandes stattfindet.“ 98 Einige Staaten sind wahr, weil und insofern sie den Begriff des Staates hinreichend realisieren. Einige Staaten sind unwahr, weil und insofern sie ihren Begriff nicht hinreichend realisieren. Dabei hat ihre Unwahrheit ebenso wie die Wahrheit anderer Staaten einen zeitlichen Kern.99 So ist etwa nach der „welthistorischen Begebenheit“100 der Französischen Revolution, durch die der Mensch gilt, „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“101, eine dahinter zurückbleibende staatliche Ordnung unwahr, weil sie den Begriff des Staates nur unzureichend realisiert. Umgekehrt ist den Staaten der griechischen Antike, die nur wenige freie, und zwar männliche Bürger kannten und deren materielle Reproduktion weitgehend auf Sklaverei beruhte, im Hinblick auf ihre Epoche durchaus Wahrheit zuzusprechen, denn in „den Staaten des klassischen Altertums findet sich […] schon die Allgemeinheit vor“102, die für den Staat überhaupt konstitutiv ist. Die Unterscheidung zwischen wahren und unwahren Staaten erfolgt nicht auf der Grundlage einer im Kantischen Sinne normativen und verpflichtenden Staatsidee.103 Die dem Begriff eigene Normativität ist damit unvereinbar. Dem Sollen gilt gerade die Kritik der Rechtsphilosophie. Die Qualifizierung eines Staates als „schlecht“ schließt daher auch nicht die Aufforderung an die Individuen ein, ihn evolutionär zu verbessern oder revolutionär zu ersetzen. Jeder Staat ist qua Staat eine Existenzweise des Begriffs, ungeachtet dessen, ob er diesen hinreichend oder nicht hinreichend realisiert. Auch der „schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe.“104 Weil der Begriff die 97 Vgl. ibid., § 24 Zs. 2, S. 86. 98 Ibid. 99 Die Formulierung spielt an auf Adornos These vom „Zeitkern der Wahrheit“: Adorno ³1984, S. 364. 100 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 535. 101 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 209 Anm., S. 360. 102 Ibid., § 260 Zs., S. 407. 103 Vgl. Anmerkung 74. 104 Hegel, Logik II, TWA 6, S. 465 f.
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Beziehung auf die Realität zu seiner immanenten Bestimmung hat,105 bedeutet die Auskunft, dass ein Staat dem Begriff „am wenigsten“ entspricht, zugleich, dass er immer noch eine Existenzweise des Begriffs und also der Vernunft ist. Was dem Begriff in keiner Weise entspricht, lässt sich auch nicht begreifen. Hegels ontologischer Wahrheitstheorie zufolge ist die Vernunft in ihrer Erkenntnis auf die Selbsterkenntnis festgelegt. Wenn Hegel auch dem schlechtesten Staat noch Vernünftigkeit konzediert, dann spricht er damit nicht nur aus, was unmittelbar in der Lehre vom Begriff und der ihm immanenten Normativität angelegt ist, sondern demonstriert auch, dass diese Lehre in ihrer Konsequenz einem Machtpositivismus106 wenig entgegenzusetzen hat. Der Hinweis, „die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe“, ist eine euphemistische Umschreibung für den Sachverhalt, dass die Individuen noch einer Macht gehorchen. Verwiesen wird auf ein factum brutum, das über die Vernünftigkeit der Macht nichts besagt. Dass diese Macht noch vernünftig ist, ist eine bloße Behauptung. Für die zuverlässige Identifizierung einer historisch vorfindlichen Macht, der die Individuen gehorchen, entweder als Staat oder als Nicht-Staat, findet sich bei Hegel kein Kriterium.
105 Ibid., S. 466; Grundlinien, TWA 7, § 6, S. 52. 106 Der junge Marx spricht von dem „falschen Positivismus Hegels“, den er nicht auf dessen Person, sondern auf dessen „Prinzip“ zurückführt, wonach die „Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wesen des Gegenstandes, […] das wahre Wissen und Leben“ sei. „Von einer Akkommodation Hegels gegen Religion, Staat etc. kann also keine Rede mehr sein, da diese Lüge die Lüge seines Prinzips ist“ (Marx 1985, S. 581).
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II. DER STAAT IN DEN GRUNDLINIEN DER PHILOSOPHIE DES RECHTS
WILLE, EIGENTUM UND STAAT ASPEKTE DES ABSTRAKTEN RECHTS1 Michael Löbig „Der Mensch besteht aus Materie und Geist; in ihm hört die Tierheit auf und beginnt das Göttliche.“2
In der gegenwärtigen Entwicklung der Staaten West- und Osteuropas sowie der übrigen Länder scheint sich das von Hegel in seiner Philosophie der Geschichte und den Grundlinien der Philosophie des Rechts formulierte Telos der sich durch die äußeren Staatsverhältnisse vollendenden Weltgeschichte zu realisieren. Die utopischen Vorstellungen vergangener Epochen, wonach sich in der „Menschengattung“ die Vernunft durch die sukzessive Vervollkommnung der ‚Denkungsart‘3 hat realisieren sollen, um einen „allgemeinen weltbürgerlichen Zustand“4 hervorzubringen, in dem dann die „Noth und das Elend“ abgeschafft und somit die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“5 als der Vorgeschichte angehörig hätte betrachtet werden können, erscheinen nun selbst nur als eine Entwicklungsstufe des Hegelschen Absoluten in der Geschichte. Die nun entstandene Einheit der Menschheit, als der sich durch die Staaten vollendenden Weltgeschichte, ist Resultat eines sich in der Geschichte entfaltenden Allgemeinen, dessen innere Dynamik sich anschickt, alle Differenzen zwischen den Menschen eines Staates, wie zwischen den Nationen und den Völkern „aufzuheben“. Der sich gegenwärtig ausbreitende Nationalismus, die zunehmende Anzahl regional begrenzter Kriege, sind danach nur noch Ausdruck der in ihrer Subjektivität verharrenden „weltlichen Reiche“, der „seienden rohen Willkür und der Barbarei der Sitten“, denen jedoch bereits eine „jenseitige Welt, ein intelligentes Reich“6 gegenübersteht. Die Nationalismen, zu denen die Völker inzwischen in weiten 1 2 3 4 5 6
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines früheren Vortrags des Autors, siehe: Löbig 1995. Balzac o.J., S. 77. Vgl. Kant, KpV, S. 127 f. Kant, IaG, S. 28. Marx, Kapital I, S. 743. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 359. Die unter Rückgriff auf Religion, ethnische Gruppen etc. stattfindende Partikularisierung verkennt den Zusammenhang von „Nationalstaaten“ und dem die Erde umspannenden Gesetz der liberalistischen Ökonomie. Durch dieses werden die Völker zur raison gezwungen. Dass ihnen dies später nicht den erhofften Lebensstandard sichert, während sie doch zugleich in den Kreis derjenigen aufgenommen werden, die der Menschheit als ganzer die Lebensgrundlagen zu entziehen drohen, ist selbst den Verhältnissen geschuldet, die ihnen durch die Beschränkung der Bildung auf das für das individuelle Überleben notwendige Wissen die Einsicht in den objektiven Zusammenhang des Ganzen verwehrt.
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Teilen zurückzukehren sich anschicken,7 sind Ausdruck eines ideologischen Bewusstseins, das seine eigenen Existenzbedingungen unter der Herrschaft des die westlichen Industriestaaten beherrschenden Allgemeinen nicht reflektiert und daher, um einen Begriff von Ernst Bloch zu bemühen, gleichsam in der „Ungleichzeitigkeit“ gefangen ist. Erst wenn die derzeit noch in ihrer bornierten Subjektivität verharrenden Individuen und Völker von dem nun universal herrschenden Allgemeinen durchdrungen sein werden, erst wenn sie bereit sein werden zur Einsicht, dass sich unter der nun die Erde umspannenden kapitalistischen Produktionsweise mit dem ihr innewohnenden Prinzip der ‚Verwertung des Werts‘8 als ‚automatischem Subjekt‘9 ihre Subjektivität sich vollständig muss bestimmen lassen, erst dann werden überall „geordnete“ bürgerliche Verhältnisse entstehen, in denen der Not- und Verstandesstaat im Hegelschen Sinne über die Macht verfügen wird, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Doch hierzu bedarf es zunächst der Herrschaft eines Bewusstseins des bürgerlichen Rechts, dessen Voraussetzungen Hegel in der Einleitung zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts und dem Kapitel über Das abstrakte Recht formuliert hat. Die Idee10 des Rechts ist für Hegel die allgemeine Grundlage, in der sich die Freiheit für alle Menschen unmittelbares Dasein gibt11. Entgegen den traditionellen Rechtstheorien, in denen das Recht stets bezogen war auf die jeweilige hierarchische Struktur einer Gesellschaft, unternahm Hegel nun den Versuch, eine den sich verändernden ökonomischen Verhältnissen adäquate Rechtstheorie zu formulieren. Bis zu Hegel war die jeweilige Form der gesellschaftlichen Reproduktion einer Epoche nicht durch ein universal geltendes Prinzip bestimmt. Es gab noch keine universelle industrielle Produktion, die durch ihre Organisation den Lebenszusammenhang der Menschen und damit zugleich die Gestaltung des individuellen Lebens aller prägte. War der Einzelne durch seine Geburt in einen Stand mit einer für den Erhalt dieses Standes in der Gesellschaft entsprechenden, nur beschränkten Rechtsfähigkeit versehen, so wurde dieses auf das feudale Gesellschaftssystem bezogene Recht zum Hindernis für die mit dem aufstrebenden Bürgertum sich universell ausbreitende industrielle Produktion. Erst mit der Aufhebung der an den jeweiligen Stand gebundenen eingeschränkten Rechtsfähigkeit des Subjekts wurden 7 8 9 10
Vgl. hierzu Baumann 2017. Marx, Kapital I, S. 166. Marx, Kapital I, S. 169. Vgl. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 1. An anderer Stelle (Hegel, Philosophie der Geschichte, SW 11, S. 557 f.) heißt es: „Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einemmale geltend, und dagegen konnte das alte Gerüste des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basirt seyn. So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hat zuerst gesagt, dass der νοῦς (nous) die Welt regiert, nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, dass der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. […] Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sey es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.“ 11 Vgl. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 40.
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alle Voraussetzungen geschaffen,12 um die der neuen gesellschaftlichen Produktion adäquate Form der Organisation des menschlichen Lebens, die bürgerliche Gesellschaft, entstehen zu lassen. Doch die Aufhebung der Stände und der an sie gebundenen Rechtsfähigkeit der Individuen musste unter der Maßgabe der Beibehaltung der tradierten realen Ungleichheit der Menschen sich vollziehen. Die Voraussetzung hierfür bildete die Bestimmung des Menschen als einer Person,13 die die Möglichkeit einschließen musste, die Einheit zweier entgegengesetzter Bestimmungen zu sein: Die Menschen sollten als Bürger der bürgerlichen Gesellschaft ungleich 12 Vgl. Conrad 1954, S. 217; auch Marx, Kapital I, S. 743: „Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt. Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer anderen Person leibeigen oder hörig zu sein.“ 13 Vgl. Marx, Kapital III, S. 628 f.: „Nichts kann komischer sein als Hegels Entwicklung des Privatgrundeigentums. Der Mensch als Person muß seinem Willen Wirklichkeit geben als der Seele der äußern Natur, daher diese Natur als sein Privateigentum in Besitz nehmen. Wenn dies die Bestimmung ‚der Person‘ ist, des Menschen als Person, so würde folgen, daß jeder Mensch Grundeigentümer sein muß, um sich als Person zu verwirklichen. Das freie Privateigentum an Grund und Boden – ein sehr modernes Produkt – ist nach Hegel nicht ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, sondern ein Verhältnis des Menschen als Person zur ‚Natur‘, ‚absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen‘. (Hegel, ‚Philosophie des Rechts‘, Berlin 1840, S. 79.) Soviel ist zunächst klar, dass die einzelne Person sich nicht durch ihren ‚Willen‘ als Eigentümer behaupten kann gegenüber dem fremden Willen, der sich ebenfalls in demselben Fetzen Erdkörper verleiblichen will. Es gehören dazu ganz andre Dinge als der gute Wille. Es ist ferner absolut nicht abzusehn, wo ‚die Person‘ sich die Schranke der Verwirklichung ihres Willens setzt, ob das Dasein ihres Willens sich in einem ganzen Land realisiert oder ob sie einen ganzen Haufen Länder braucht, um durch deren Aneignung ‚die Hoheit meines Willens gegen die Sache zu manifestieren‘. [S. 80.] Hier gerät Hegel denn auch vollständig in die Brüche. ‚Die Besitznahme ist ganz vereinzelter Art; ich nehme nicht mehr in Besitz, als ich mit meinem Körper berühre, aber das zweite ist sogleich, daß die äußern Dinge eine weitre Ausdehnung haben, als ich fassen kann. Indem ich so was in Besitz habe, ist auch damit ein andres in Verbindung. Ich übe die Besitznahme durch die Hand, aber der Bereich derselben kann erweitert werden.‘ (p. 90, 91.) Aber mit diesem andren ist wieder etwas andres in Verbindung, und so verschwindet die Grenze, wie weit sich mein Wille als Seele in den Boden auszugießen hat. ‚Wenn ich etwas besitze, so geht der Verstand gleich dahin über, daß nicht bloß das unmittelbar Beseßne, sondern das damit Zusammenhängende mein sei. Hier muß das positive Recht seine Feststellungen machen, denn aus dem Begriffe läßt sich nichts weiter herleiten.‘ (p. 91.) Dies ist ein außerordentlich naives Geständnis ‚des Begriffs‘ und beweist, daß der Begriff, der von vornherein den Schnitzer macht, eine ganz bestimmte und der bürgerlichen Gesellschaft angehörige juristische Vorstellung vom Grundeigentum für absolut zu halten, von den wirklichen Gestaltungen dieses Grundeigentums ‚nichts‘ begreift. Es ist zugleich das Geständnis darin enthalten, daß mit den wechselnden Bedürfnissen der gesellschaftlichen, d.h. ökonomischen Entwicklung das ‚positive Recht‘ seine Feststellungen wechseln kann und muß.“ Marx kritisiert hier mit unzureichenden Argumenten die Hegelsche Bestimmung der Person und verkennt dadurch ihre Tragweite im Hinblick auf die damit einhergehende abstrakter werdende Form der Herrschaft von Menschen über Menschen. Diese findet ihren Ausdruck in einem Selbstbewusstsein des „Bürgers“, dem das Bewusstsein der Existenz von Herrschaft abhandengekommen ist. Dieses wird konstitutiv für die permanente Reproduktion des Kapitalverhältnisses.
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und doch als Personen gleich sein können. Ausgangspunkt hierfür ist der „an und für sich freie Wille“, nicht als der „Wille eines Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür“14, sondern der Wille als das Dasein des vernünftigen, wahren Geistes,15 in der „Bestimmtheit der Unmittelbarkeit“16. Als solcher ist er der abstrakte Begriff eines „Subjekts“ in seiner negativen Beziehung zur Realität, sich auf sich beziehender Wille, dessen Selbstbezogenheit in seiner „ausschließenden Einzelheit“ sich erst dadurch, dass dieses Subjekt zugleich das Moment der Besonderheit an sich hat, sich auf eine „äußere, unmittelbar vorgefundene Welt“17 bezieht. Die Trennung des Willens von einem Zweck, auf den er sich bezöge, ermöglichte es Hegel von dem Willen in seiner „Unbestimmtheit“, seiner Abgeschlossenheit gegenüber der äußeren Welt zu sprechen. In dieser Gestalt ist der Wille in der Form der Allgemeinheit die „inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person“18. Da zwar „alles Lebendige überhaupt ein Subjekt ist“19, jedoch die Person „das Subjekt, für das diese Subjektivität ist“20, so ist die Person nach Hegel wesentlich die Beziehung eines „reinen Willens“ – im Unterschied zur „Willkür“21 – auf sich selbst. „Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung, aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als sein Anderssein aufgehoben; der Unterschied ist nicht und es nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich; indem ihm der Unterschied nicht auch die Gestalt des Seins hat, ist es nicht Selbstbewußtsein.“22
Die Form des Selbstbewusstseins einer Person ist die noch unentwickelte Gestalt des vorhandenen vernünftigen Geistes, dem die äußeren Gegenstände noch das Fremde, noch nicht durch den vernünftigen Geist bestimmte sind. Daher ist zwar 14 15 16 17 18 19 20 21
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29. Ibid. Ibid., § 34. Ibid. Ibid., § 35. Ibid., § 35 Zus. Ibid. Vgl. Hösle 1987, S. 61 f.: „Aus dem Gesagten erhellt, daß Freiheit nach Hegel nur dadurch möglich sein kann, daß die Inhalte des Willens identisch mit dem Willen selbst sind; wahrhaft frei ist nur ‚der freie Wille, der den Willen will‘ (§ 27, 7.79), weil nur in dieser reflexiven Struktur jeder Fremdbezug abgestreift ist und nur hier eine absolute Selbstbegründung statthat (vgl. § 23, 7.74 f.). Dagegen ist ‚der unmittelbare oder natürliche Wille‘ (§ 11, 7.62) dadurch gekennzeichnet, daß er den Stoff seines Wollens in seinen Trieben ‚vorfindet‘ (§ 12, 7.63); als Willkür vermag der Wille aus diesem Stoff nur auszuwählen (§ 14, 7.65). Die Willkür ist zwar nach Hegel ein Fortschritt gegenüber dem völlig triebbestimmten Willen, insofern mit ihr ein Moment der Reflexion gegeben ist; gegenüber der wahren Freiheit ist sie aber – […] – noch eine defiziente Form, auch wenn man gewöhnlich sie meint, wenn man von Freiheit redet. […] Das Defiziente an der Willkür ist, daß der Inhalt vorgegeben ist (a.a.O.); Hegel stimmt dem Determinismus zu, daß die Willkür‚ wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden‘ kann (§ 15, 7.67). An dieser Defizienz ändert auch nichts, daß die Triebe mit der Bildung gereinigt und auf das Ganze der Befriedigung – die sogenannte Glückseligkeit – bezogen werden (§ 21, 7.70 f.). Erst ‚die sich selbst bestimmende Allgemeinheit‘ (§ 21, 7.71) ist nach Hegel die wahre Freiheit“. 22 Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, S. 138.
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die Person der Ausgangspunkt, Ziel der Bewegung jedoch ist es, sich zur Persönlichkeit zu bilden. „In der Persönlichkeit liegt, daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichem Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß“23.
Der Persönlichkeit kommt daher a priori die Rechtsfähigkeit zu,24 weil in ihrer Bestimmung bereits implizit die durch sie vollständig als vernünftig bestimmte Welt enthalten liegt. Ist sie die als „dieser nach allen Seiten [...] bestimmte und endliche“ und zugleich „das Unendliche, Allgemeine und Freie“, so stellt sie die vollständige Entfaltung der Vernunft in der Welt an einem Subjekt dar, das sich mit der ‚absoluten Vernunft‘ in Übereinstimmung weiß. Die Bestimmung der Person ist ihr Ausgangspunkt, daher gilt: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“25. Die Bestimmung der Person, als der an und für sich freie Wille eines Subjekts hat somit der immanenten Teleologie des Hegelschen Systems zufolge sich zur Persönlichkeit zu entfalten, um als solche „in das Interesse des Allgemeinen teils über[zu]gehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist an[zu]erkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig“26 zu sein. Solange jedoch noch von der „Besonderheit des Willens“27 gesprochen werden kann, hat sich die Person noch nicht zur Persönlichkeit in ihrer Bestimmung als „Freiheit“28 erweitert. Vielmehr verharrt sie noch in der Form des durch „Begierde, Bedürfnis, Triebe, zufälliges Belieben“29 etc. bestimmten Naturwesens. Begierde, Bedürfnis und Trieb sind bei Hegel nicht in systematischer Absicht aufeinander bezogen.30 Doch gilt ihm die Begierde als Äußerungsform oder Erscheinungsweise des Triebes, der auf den ‚Verzehr‘ eines Objekts geht bzw. auf 23 24 25 26 27 28 29 30
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 35. Vgl. ibid., § 36. Ibid. Ibid., § 260. Ibid., § 37. Ibid. Ibid. Dass Hegel in der Einleitung zu den Grundlinien den ‚Trieb‘ in seinem Verhältnis zum Willen und der Willkür abhandelt, ist zentral für die Ausführung seines Systems, in dem der Primat des sich durch die reine Vernunft bestimmenden Willens ausgeführt wird. Nur indem der Trieb und die mit ihm in Verbindung stehende Begierde und Neigung bereits in seinen Voraussetzungen eskamotiert werden, gelingt es, Freiheit mit dem sich selbst wollenden Willen in eins zu setzen und deren Dasein in der äußeren Sphäre an die tradierten Institutionen der Gesellschaft, als Gestalten der Vernunft, zu binden. Mit der Eskamotierung des Triebes, als der Freiheit entgegenstehender Naturgewalt, wird als Telos der Entwicklung der Vorrang des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen in einem historischen Moment postuliert, in dem mit dem Glücksversprechen für alle empirischen Subjekte die Herrschaft des Bürgertums über die Feudalherren und die alte Aristokratie etabliert wird und durch die damit verbundene Entfesselung der ökonomischen Triebkräfte die Subsumtion des Besonderen unter das sich als invisible hand geltend machende allgemeine Gesetz des freien Marktes zur conditio sine qua non der Existenz aller wird.
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die Übereinstimmung mit dem für den Trieb äußerlichen Gegenstand. In der Begierde nach einem Gegenstand kommt die Bestimmtheit des Triebes zum Ausdruck. Auch in der Phänomenologie des Geistes findet sich eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Bestimmungen, die der physischen Existenz des Menschen, seiner Natur geschuldet sind, und ihrem Verhältnis zum Willen, respektive seiner Bestimmung. Danach muss der sich auf sich beziehende Wille, um als Freiheit zu sein, sich durch etwas, nämlich das Andere des Bewusstseins, bestimmen, um sich in der äußeren Sphäre seine Freiheit zu geben. Dieses noch nicht vernunftgemäße31 Andere „sollizitiert“ das Bewusstsein dahingehend, dass der Wille von den Trieben, Neigungen und Leidenschaften, als dem Anderen des Bewusstseins, dessen Grund in der physischen Natur des Menschen liegt, präformiert (nicht determiniert) wird. Weil das Andere des Bewusstseins nicht vernunft- oder verstandesgemäß ist, sondern sich deren Bestimmungen entzieht, ist der durch das Andere präformierte Wille nicht der reine, sich auf sich beziehende Wille, sondern Willkür. In der Bestimmung der Willkür findet die durch die Natur und die sozialen Verhältnisse geprägte physische Natur des Einzelnen ihren Ausdruck. Als durch die Willkür bestimmter Wille ist der Wille endlicher Wille, gebunden und geprägt durch die vergängliche physische Natur des Menschen. Diese so konstituierte Endlichkeit des durch die Willkür affizierten Willens soll dadurch aufgehoben werden, dass sich der Wille durch die Gesetze/Regeln, nach denen er sich bestimmt, in einer Weise seine Präformation transzendiert, die ihn mit anderen nach allgemeinen Regeln verbindet.32 31 Sowohl in den Grundlinien wie auch der Phänomenologie sind die Bestimmungen Trieb und Begierde als das Andere der Vernunft zentral. In nur wenigen Arbeiten wurde bisher untersucht, inwieweit die Entstehung der Freudschen Psychoanalyse, die Bestimmung des „Unbewußten“ auch auf die Philosophie Hegels zurückgeht. Exemplarisch: Völmicke 2005, sowie: Etgeton 2005. 32 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 19. Vgl. auch Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, S. 112. Vgl. weiter zu den neueren Diskussionen über den Willen und Willensfreiheit: Roth 2001, S. 427 ff. In seinem kurzen geschichtlichen Rückblick skizziert G. Roth lediglich die Bestimmung des Willens von Platon bis Kant. Die philosophischen Bestimmungen der Tradition reichen nach ihm nicht hin, um das Problem der Willensfreiheit zu klären. Nach seiner Auffassung haben die Untersuchungen von Libet u.a. gezeigt, dass der Wille nicht frei ist, sondern biochemische Prozesse den Willen bedingen und sich daher für ihn die Frage danach ergibt, ‚warum wir uns frei fühlen‘, ‚wenn das Gehirn bereits entschieden hat‘? (ibid., S. 445 f.) Vgl. weiter das als Grundlagenwerk angepriesene Buch: Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften (Bennett / Hacker 2015). In ihm wird der Versuch unternommen, zu zeigen, dass die neue Generation von Neurowissenschaftlern zwar einen noch von der ersten Generation vertretenen Zwei-Substanzen-Dualismus cartesianischer Prägung ablehnt, sie sich jedoch gleichfalls der auf Descartes zurückgehenden Argumentationsmuster bedienen. Vgl. Bennett / Hacker 2015, S. 314 ff. Unerörtert bleibt hierbei, dass die Frage nach der Willensfreiheit aus der Perspektive der Neurowissenschaft implizit die Frage zu beantworten sucht, wie aus materiellen Vorgängen im Gehirn ein Wille erwächst – damit aber zugleich grundsätzlicher: die philosophische Frage nach dem Ursprung allen Seins, danach, was zuerst existiert, Materie oder Geist, zu beantworten intendiert wird.
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Die der physischen Existenz des Menschen geschuldeten Bestimmungen aber sind in ihrer konkreten Erscheinungsweise abhängig von der jeweiligen konkreten Gestalt ihrer materiellen Reproduktion und damit für Hegel heteronomen Bedingungen geschuldet. Der Person, die sich zur Persönlichkeit erhebt, ist die Aufgabe gegeben, sich in und durch die konkreten Gestalten ihrer eigenen Bedürftigkeit eine Freiheit zu geben, in der ihre Gebundenheit an den materiellen Reproduktionsprozess verschwunden ist. In dem sich hierin ausdrückenden Vorrang des Allgemeinen, dem Ziel, Subjekt und Objekt durch die immanente Bestimmung der Besonderheit durch die jeweils vorgefundene Allgemeinheit zu versöhnen, die zuletzt im „absoluten Staat“ besteht, liegt das affirmative Verhältnis der idealistischen Philosophie Hegels zu jeglicher staatlichen Herrschaftsordnung begründet. Ihm, wie der traditionellen idealistischen Philosophie, galten seit jeher die dem Menschen als natürlichen Wesen zukommenden Bestimmungen als das Unsubstantielle, dasjenige, dem nur ein geringeres Sein und darum auch eine geringere Bedeutung hinsichtlich seiner Bestimmung der Freiheit zukommen sollte. Daher muss die Person in ihrer abstrakten Bestimmung die sich ihr gegenüberstellende, vorgefundene Welt aneignen, und durch ihre Tätigkeit „jenes Dasein als das ihrige [...] setzen“33. Darin liegt das „Zueignungsrecht“ der Person auf alle „Sachen“ begründet. Aus der Unangemessenheit des Körpers für den Geist,34 in der Gestalt des Daseins des substantiellen Willens als Person folgt, dass mit der Entfaltung der Persönlichkeit sich der Mensch alles Äußere, seinen durch ihn gesetzten rechtlichen Bestimmungen subsumieren muss. Solange die Person in ihrer abstrakten Bestimmung festgehalten wird, kann es keine äußere Sphäre der Freiheit, als die durch sie gesetzte und mithin vernünftige geben. Erst durch die Beziehung auf diese äußere Sphäre vermittelt kann sich die Freiheit realisieren. „Die Person als freie Person ist aus der Äußerlichkeit in sich zurückgegangen, als freies Wesen hat der Mensch das Wissen von sich selbst, dass er als Ich eine andere Selbständigkeit hat als sein Körper“35. Von dem Körper, als dem gegenüber dem gewonnenen Selbstbewusstsein oder dem an und für sich freien Willen Unselbständigen, muss die Person Besitz ergreifen. Er ist das der Person in der äußeren Sphäre unmittelbar Gegebene und das Erste, worin der Wille der Person sich Geltung verschaffen muss, das, wodurch er sich in der äußeren Sphäre setzt. Die Hegelsche Kritik an Kant,36 „das Recht der besonders bestimmten Person vor dem allgemeinen Rechte der Persönlichkeit abzuhandeln“37, zielt darauf, dass das einer Person durch einen Vertrag zukommende Recht „nur an ein ihr Äußerliches oder etwas von ihr zu Veräußerndes, immer an eine Sache“38 gebunden ist und bereits die allgemeine Bestimmung der Person, die sich zu einer Persönlichkeit entfaltet, voraussetzen muss. Nur darin, dass sich alle 33 34 35 36 37 38
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 39. Ibid., § 48. Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), S. 18, § 15. Vgl. hierzu auch: Löbig 2004, S. 19 ff. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 40. Ibid.
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Personen in der „äußeren Sphäre ihre[] Freiheit“39 geben und durch die Inbesitznahme ihres Körpers, welcher Eigentum der Person ist, sich zur Persönlichkeit zu entfalten suchen, kann diese vorausgesetzte allgemeine Bestimmung bestehen. Durch sie erst ist die für die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft notwendige Grundlage gegeben. Danach sind die Personen im Hinblick auf die Realisierung der Freiheit in der äußeren Sphäre darauf verwiesen, von sich als empirisch existierenden Wesen Besitz zu ergreifen. „Die Subjektivität hat also teils eine ganz partikulare, teils eine hochberechtigte Bedeutung, indem alles, was ich anerkennen soll, auch die Aufgabe hat, ein Meiniges zu werden und in mir Geltung zu erlangen. Dies ist die unendliche Habsucht der Subjektivität, alles in dieser einfachen Quelle des reinen Ich zusammenzufassen und zu verzehren.“40
Die Inbesitznahme des dem Willen unmittelbar gegebenen Körpers konstituiert die formelle Gleichheit der Personen als Rechtssubjekte. Denn „erst im Eigentum ist die Person als Vernunft“41. Indem Hegel das der Person Gegenüberstehende, „die Sache [als] das Gegenteil des Substantiellen“42 bestimmt, degradiert er den Körper des Menschen, das, worin sich die Vernunft in Gestalt einer Person in der äußeren Sphäre ihre Freiheit gibt, zum bloßen Mittel, wodurch sie sich sukzessive zur absoluten Vernunft in der durch die „Nationalstaaten“ hindurch sich konstituierenden Weltgeschichte realisiert. Die freie Disposition der Person über ihr Eigentum, ihren Körper, der als Sache zum gemeinsamen Gegenstand eines Vertrages zweier freier Willen erklärt werden kann, begründet die universal werdende Verdinglichung aller Beziehungen der in der bürgerlichen Gesellschaft lebenden Individuen. Durch sie wird das „System der Atomistik“ ebenso begründet, wie der universal zu werden drohende „Verblendungszusammenhang“43, durch das in der Warenform begründet liegende „verkehrte“ Verhältnis der sich als unabhängig voneinander individuell reproduzierenden Individuen zueinander. In ihr liegt zugleich bereits die Möglichkeit des noch vor einigen Jahren von Ökonomen zur Abwendung einer drohenden ökologischen Katastrophe unterbreiteten Vorschlags, doch auch die Luft, die die Menschen zum Atmen, die „intakte“ Natur, deren wir für unsere Existenz bedürfen, zu „Wirtschaftsgütern“ zu erklären und sie auf dem „freien Markt“, als Waren zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Da dadurch, dass die „Begriffsbestimmung der Natur dies [ist], das Äußerliche an ihr selbst zu sein“44, sie ihre wahre, substantielle Bestimmung darin hat, zum Eigentum zu werden, worin die Vernunft der Person sich Dasein gibt, wird alles 39 Ibid., § 41. 40 Ibid., § 26, Zusatz. Der Terminus ‚verzehren‘ drückt die Schwierigkeit Hegels aus, nicht schon an früherer Stelle bereits rechtliche Bestimmungen, die doch erst begründet werden sollen, einzuführen. Im Gegenstand des Bewusstseins drückt sich der auf es gerichtete Wille (Aufmerksamkeit, die er erheischt) aus, ohne dass damit durch die Beziehung des Bewusstseins auf den Gegenstand bereits ein rechtliches Verhältnis gesetzt wäre. 41 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 41 Zus. 42 Ibid., § 42. 43 Adorno 1966, S. 395. 44 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 42.
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Vergängliche, Materielle nur zu einem Mittel, wodurch die Vernunft im äußeren Dasein Gestalt annimmt. Der sukzessiven Entfaltung der Vernunft Hegels in der Welt ist die sukzessive Verrechtlichung aller Verhältnisse des Menschen, wie die sukzessive Subsumtion alles Existierenden unter die Rechtskategorie des Eigentums kongruent. Aus den Bestimmungen, dass der Mensch seine „Triebe, Begierden, Neigungen“ als die „seinigen“ durch den Willen „bestimmen und setzen“45 muss, um dahin zu gelangen, „daß Ich als Sache, Natur, untergehe, und frei werde“46, folgt „der Staat [...] als die Wirklichkeit des substantiellen Willens“47. In ihm erst ist der an und für sich freie Wille zu dem gelangt, wozu er seiner Bestimmung nach gelangen muss: zur vollständigen Bestimmung alles Äußerlichen durch die sich durch den Willen betätigende Vernunft. Der Staat ist danach das „zu seiner Allgemeinheit erhobene[] besondere[] Selbstbewußtsein“48. In ihm ist die Hypostase des „Interesses der Einzelnen“49, das noch die bürgerliche Gesellschaft als das „System der Atomistik“ kennzeichnete, durch die „Bildung und Zucht“ der Einzelnen mittels Polizei, Korporation und Rechtspflege, aufgehoben. Er ist „die Vereinigung als solche [...] der wahrhafte Inhalt und Zweck“50 und erscheint danach nicht mehr als der Repräsentant von zum Allgemeinen erhobenen partikularen Interessen, sondern als die institutionalisierte Form, in der jede für sich Geltung beanspruchende „Besonderheit“ ihre eigene Existenzgrundlage erkennt und dadurch a priori sich in ihren besonderen Interessen als mit dem Allgemeinen identisch weiß.51 Weil „die Wahrheit der Welt [...] nur ihre Idealität“ ist, weil „ihr Sein [...] ihr nur ein gesetztes“52 ist, müssen die Individuen die ihrer Willkür entspringenden partikularen, auf reale Befriedigung gerichteten Zwecke aufgeben und dazu übergehen, sich mit dem im Staat vorhandenen Allgemeinen identisch zu wissen. Ihre Besonderheit war daher von Anbeginn nur aufzuhebender Schein, der in ihnen sich realisierenden, an und für sich vernünftigen Idee. Das durch den Staat repräsentierte Allgemeine wird damit als die Sittlichkeit, wie „der die Natur durchdringende Aether“53, in allen Einzelnen zu dem sie im innersten Bestimmenden. Kein Mensch auf dieser Erde vermag mehr unabhängig von der Geltung des durch die herrschende Gestalt der Vernunft zum absoluten erhobenen Verwertungsgesetzes des Kapitals sich zu reproduzieren. Als die das Leben aller Menschen bestimmende Realabstraktion des kapitalistischen Produktionsprozesses ist es gegen die jeweilige politische Organisationsform eines Staates indifferent, weil die Reproduktion dieser Gesellschaft nur möglich ist vermittelst seiner Partizipation am bzw. Integration in den Weltmarkt. So entscheidet über das Schicksal des Einzelnen weniger seine unmittelbare Umgebung oder gar seine „Besonderheit“, sondern 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Ibid., § 11 Zus. Ibid., § 66, handschr. Anm. Ibid., § 258. Ibid. Ibid. Ibid. Vgl. ibid., § 260. Hegel, Philosophie der Religion II, SW 16, S. 250. Hegel, Naturrechtsaufsatz, SW 1, S. 510.
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vielmehr die Stellung und Abhängigkeit des Landes, in dem er lebt, vom Weltmarkt. Selbst die jeweils Regierenden eines Landes, die nach Hegel die jeweils fortschrittlichste Gestalt der Vernunft in der Welt darstellen, können sich den Bedingungen, die ihnen der Weltmarkt diktiert, nicht entziehen. Die hieraus resultierende Ohnmacht des Einzelnen, das latent in widerständiges Denken irgendeiner Art umzuschlagen droht, muss von den jeweils im Dienste des Allgemeinen stehenden Herrschenden neutralisiert werden. „Wo nicht mehr das Handeln einzelner Individuen, sondern die Treue der Massen zum Streitobjekt wird, ist das logische Ziel nicht Vergeltung, sondern die Sicherung äußerer Fügsamkeit. Das regierende System muß auf die Weise in Gang gehalten oder vielleicht sogar gestärkt werden, daß die Masse der Andersdenkenden wirksamer Antriebe zum Angriff auf das Regime beraubt und das Fußvolk im gegnerischen Lager verleitet wird, in der Passivität zu verharren: dazu kann eine Politik gestaffelter Benachteiligungen und Belohnungen mit demonstrativen Unterwerfungsakten einzelner Gegner oder ganzer Gruppen von Gegnern beitragen.“54
Der Einzelne erscheint so in der „Weltgeschichte“ bloß als das verschwindende Moment, durch das vermittelt sich die absolute Vernunft im Staat zu entfalten und zu realisieren sucht. Da nach Hegel die Vernunft die Weltgeschichte regiert, ist diesem „an und für sich Allgemeine[n] und Substantielle[n] […] alles Andere untergeordnet, ihm dienend, und Mittel für dasselbe“55. Die Hegelsche Bestimmung der Person im abstrakten Recht stellt eine Voraussetzung für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und die Genesis des dieser adäquaten modernen Staates dar. In ihr liegt zugleich, durch ihre Bindung an das Eigentum, die sich allmählich realisierende Liquidation des Individuums als „Besonderes“ begründet. Seine „Besonderheit“ ist purer Schein und es selbst, als sich selbst veräußerndes Eigentum, nur Mittel zur Realisierung eines sich hinter dem Rücken der Individuen realisierenden Allgemeinen. Nur insofern es als Eigentum ist, ist es für das herrschende Allgemeine. Hegel hatte Kants „Idee“ einer „Absicht der Natur“ dechiffriert als die sukzessive Entfaltung der Vernunft in der Welt, da ein Plan der Natur als Konstituens der Weltgeschichte sich ihm als subjektive Konstruktion erwies und damit implizit auf „ein irreduzibles Moment“56 verwies, das nicht auf reinen Geist zu reduzieren war. Marx hingegen hatte das Agens der idealistischen Konstruktion Hegels entlarvt als ideellen Ausdruck für das die bürgerliche Gesellschaft und den Staat im innersten bestimmende Moment, dessen Grund jedoch kein konkret materielles sein57, sondern vielmehr sich aus den materiellen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen der Menschen, ohne deren bewusste Zutat, ergeben sollte. Dieses sich aus der menschlichen Tätigkeit, sich ihnen gegenüber verselbständigende Moment der „Verwertung des Werts“58 schuf den universalen, das Leben jedes Menschen 54 55 56 57 58
Kirchheimer 1981, S. 28. Hegel, Philosophie der Geschichte, SW 11, S. 54. Mensching 1987, S. 142. Krahl 1971, S. 146. Marx, Das Kapital I, S. 166.
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bestimmenden Zusammenhang, die Einheit der Menschheit, in der jeder bornierte Eigendünkel nur als subjektive Willkür erscheint und dem Zwang äußerer, vom Staat, der das allgemeine Prinzip nach innen wie nach außen vertritt, erlassener Gesetze unterworfen werden muss. Die Herstellung der Einheit der Menschheit unter dem herrschenden Allgemeinen ist nicht das bewusste Resultat menschlicher Tätigkeit, sondern dem Zwang ökonomischer Verhältnisse geschuldet und wird daher jede subjektive Regung aller Individuen auf ein Maß reduzieren, das es gestattet, mit dem Allgemeinen zusammen bestehen zu können, ja so modifizieren, dass sich dieses Allgemeine in der bestehenden Form durch sie beständig zu reproduzieren vermag.59 Dies ist jedoch nicht das „Ende der Geschichte“60, wie es der ehemalige amerikanische Regierungsberater F. Fukuyama in Anlehnung an Hegel verkündete, sondern der Beginn einer Epoche, in der die „Barbarei und unrechtliche Willkür“ sich als die „Wahrheit“ der nach Hegel in der Weltgeschichte zu sich gelangenden (idealistischen) Vernunft erweist.61 Entgegen der nach Hegel objektiv gewordenen „wahrhaften Versöhnung [...], welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet“62, kündigt sich in der gegenwärtigen Entwicklung der Zerfall der Menschheit in zwei sich entgegengesetzte Extreme an. Diese hat Hegel mit der „seienden rohen Willkür und der Barbarei der Sitten“, als der Form des Kampfes um das individuelle Überleben des Einzelnen und mit der „jenseitigen Welt, ein intelligentes Reich“63, der Herrschaft eines durch wenige Mächtige repräsentierten Allgemeinen, beschrieben. Die Herstellung der Einheit der Menschheit durch das „automatische Subjekt“64 ist damit zugleich ihr Zerfall in zwei Reiche, in denen sich der „Herr und der Knecht“ in dem Kampf um ihre Anerkennung und ihr Überleben gegenüberstehen. So erweist sich die List der Vernunft, die durch die in Gesellschaft lebenden Individuen hindurch das Ganze als das Wahre hat konstituieren sollen, am Ende als das Unwahre, weil die reklamierte Versöhnung von Subjekt und Objekt, Besonderem und Allgemeinem, sich als eine erzwungene erwiesen hat. In der Bestimmung des Menschen als einer (Rechts-)„Person“ ist der die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnende und sie beständig vorwärtstreibende prozedierende Widerspruch, durch den sich die antagonistisch verfasste Gesellschaft reproduziert, enthalten. Die logische Form dieses Widerspruchs hat die Gestalt der Identität von Identität und Nichtidentität: Der Mensch als juristische Person begreift sich, um seiner individuellen Reproduktion willen, in der Verfügung über sich selbst als sein Eigentum mit allen anderen Individuen als identisch, zugleich als besonderes natürliches Wesen jedoch auch als 59 Vgl. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 340. 60 Fukuyama 1992. 61 Vgl. hierzu: Koniez 2016. Koniez verweist zu Beginn auf eine im Auftrag der NASA erstellten Studie, wonach „die ‚industrielle Zivilisation‘ auf einen ‚irreversiblen Kollaps‘ zusteuere, der in den kommenden Dekaden unausweichlich eintreten werde, sollten der Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung nicht überwunden werden“ (S. 7). 62 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 360. 63 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 359. 64 Marx, Das Kapital I, S. 169.
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different. Diese Differenz resultiert aus der Nichtidentität von Eigentum und der Existenz als Mensch. Der Mensch ist mehr als bloßes Eigentum seiner selbst, obgleich er in der warenproduzierenden Gesellschaft sich in seinen wesentlichen Beziehungen zu anderen Menschen auf sich als sein Eigentum reduzieren muss. LITERATUR Adorno, T.W., 1966: Negative Dialektik, Frankfurt am Main. Balzac, Honoré de, o.J.: Geliebtes Leben. Ein Brevier, hrsg. v. W. Fuchs-Hartmann, Basel. Baumann, Zygmunt, 2017: Retrotopia, Berlin. Bennett, M.R./Hacker, Peter M.S., 2015: Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt (darin: Wollen und Willkürbewegung, S. 302–318). Conrad, Hermann, 1954: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, Karlsruhe. Etgeton, Stefan, 2005: Im Schatten des absoluten Geistes – Hegel und Freud. In: Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.): Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse, Band 1, S. 157–179, Gießen. Fukuyama, Francis, 1992: Das Ende der Geschichte, München. Hegel, G.W.F., 1980: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Theorie-Werk-Ausgabe, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt am Main. Hegel, G.W.F., 1965: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: Sämtliche Werke Bd. 1, hrsg. v. H. Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt (Naturrechtsaufsatz). Hegel, G.W.F., 1971: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Sämtliche Werke Bd. 11, hrsg. v. H. Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt. Hegel, G.W.F., 1965: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II. In: Sämtliche Werke Bd. 16, hrsg. v. H. Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt. Hegel, G.W.F., 1983: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18) – Nachschrift P. Wannenmann. In: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 1, Hamburg. Hösle, Vittorio, 1987: Das abstrakte Recht. In: Jermann, Christoph (Hrsg.): Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart, S.183 ff. Kant, Immanuel, 1968: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke (Akademie Ausgabe), Bd. V, Berlin (KpV). Kant, Immanuel, 1968: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kants Werke (Akademie Ausgabe), Bd. VIII, Berlin (IaG). Kirchheimer, Otto, 1981: Politische Justiz, Frankfurt am Main. Koniez, Thomasz, 2016: Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft, Hamburg. Krahl, Hans Jürgen, 1971: Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik. In: Negt, Oskar (Hrsg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt am Main, S.141–154. Löbig, Michael, 2004: Persönlichkeit, Gesellschaft und Staat. Idealistische Voraussetzungen der Theorie Lorenz von Steins. (Contradictio. Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, hrsg. von Günther Mensching, Bd. 3) Würzburg. Löbig, Michael, 1995: Zur Genesis des Staates: Das abstrakte Recht. In: Arndt, Andreas/Bal, Karol/Ottmann, Henning (Hrsg.): Hegel-Jahrbuch 1993/1994, Berlin, S. 83–88 Marx, Karl, 1972: Das Kapital, Band 1, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main (seitenidentisch mit MEW 23), (Kapital I). Marx, Karl, 1972: Das Kapital, Band 3, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main (seitenidentisch mit MEW 25), (Kapital III).
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ALLGEMEINES – BESONDERES – EINZELNES. ZUR SCHLUSSFÖRMIGEN DARSTELLUNG UND DEM GESELLSCHAFTLICHEN GEHALT DER SITTLICHKEIT IN HEGELS RECHTSPHILOSOPHIE Dimitris Karydas „[…] die unerträgliche Hypothek der nach-Kantischen Philosophie, daß Freiheit ohne Gesetz keine sei.“ T.W. Adorno1
Im Lichte des Selbstverständnisses von Hegels Rechtsphilosophie aber auch ihrer Nachgeschichte lässt sich mit Recht behaupten, dem Streit und den interpretatorischen Auseinandersetzungen um dieses Werk liege das umstrittene Verständnis der Moderne zu Grunde. Denn es nimmt sich vor, die sozialpolitische Verfasstheit der modernen Welt, als deren Prinzip die Freiheit der Individuen ohne jegliche Diskriminierung erkannt wird, an logisch-vernünftig entwickelten Rechtsformen abzulesen. Es mag die Polemik, die Hegel eine Apologie des Bestehenden oder einen die Empirie verachtenden Panlogismus vorwirft, zurückgewichen sein. Gleichwohl hält die Kritik noch immer seine Rechtphilosophie für das anhaltende Paradigma, an dem die Hauptzüge seines Denkens auf die Probe gestellt werden können. Kritiken entzünden sich daran, „daß das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht.“ Von dem aus „möchte“ Hegel „vornehmlich, daß diese Abhandlung gefaßt und beurteilt würde“2. Am Verständnis dieses logischen Geistes und seines Anspruchs, die objektiven Weltverhältnisse zu fassen, entfacht sich jeder Streit um die Interpretation des Hegelschen Rechtsdenkens bzw. kann darauf zurückgeführt werden. Der eigentümliche Charakter der Rechtsphilosophie wie des Hegelschen Philosophierens überhaupt liegt darin, dass die Allgemeinheit mit der Besonderheit vermittelt und nicht einfach als dieser entgegengesetzt gedacht wird. Dies liegt dem Anspruch zugrunde, empirische Inhalte adäquat erfassen zu können. Diese Vermittlung wird durch die Entwicklung der reinen Gedankenbestimmungen oder Kategorien in der Wissenschaft der Logik geleistet, die vom einfachen, formellen oder abstrakten Allgemeinen zum konkreten Allgemeinen als der strukturierten Totalität dieser Bestimmungen führt. In Bezug auf das Recht als realphilosophischen Gegenstand kommt es darauf an, unter Verwendung dieser logischen Kategorien die sozialpolitische Realität, ihre Institutionen sowie ihre rechtliche Kodifizierung in Begriffsform zu bringen. Die Sachverhalte des Rechts werden erst begriffen, wenn 1 2
Adorno 1975, 246. Hegel, Grundlinien, TWA 7, 12 f.
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sie eben in den Bestimmungen des Begriffs Allgemeines, Besonderes, Einzelnes (fortan: A, B, E) gedacht werden. Nach der Bestimmung, das Recht sei das „Dasein des freien Willens“3, das auch das „Dasein aller Bestimmungen der Freiheit“4 und nicht bloß Gesetze und juridische Regelungen umfasst, wird der Begriff der Freiheit nach den konstitutiven Momenten A, B, E in den Gestalten des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit bis zur Gestalt des Staates entfaltet. Hegel will in kategorial einheitlicher Form Metaphysik und sozialpolitische Bilanz fassen; damit wird das Weltverhältnis in der Verständigung des menschlichen Geistes über sich artikuliert. Dieses Wissen des Geistes über seine Tätigkeit ist Ausdruck der jeweils in der Welt waltenden Verhältnisse und auch tätiges Moment in ihrer Einrichtung. Den fortrückenden Prozess der Selbsterfassung des Geistes stellt die Weltgeschichte dar, deren geistigen Gehalt nach Hegel der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ausmacht. Und der ist soweit gediehen, dass Hegels Philosophie meint, eine Wende in den Verhältnissen der Zeit daran diagnostizieren zu können, dass sich „[d]as Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit“5 in die Verhältnisse eingebildet hat. Als Resultat der Weltgeschichte ist es die Voraussetzung dafür, dass der Gedanke der Freiheit zum „Eigentum der Individualität“6 wird. Auf dieser Folie wird der Geist in der von Hegel entworfenen, begrifflichen Form als Freiheit gefasst. Die subjektive Freiheit, exponiert als Ausdruck des „Wille[ns] des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür“7, wird in ihrem Dasein gewährt und zugleich eingeschränkt von der Übermacht der Allgemeinheit. Das Folgende handelt davon, die dialektische Entwicklung der Kategorien der Rechtsphilosophie anhand der gegenseitigen Formbestimmung der Begriffsmomente Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit zu illustrieren. Daraufhin soll transparent gemacht werden, wie sie inhaltlich sozial-politisch belegt sind und auch wie die Verzahnung dieser Momente ineinander die logische Grundstruktur von Hegels Philosophie der Freiheit in seinem Rechtsdenken auf den Plan treten lässt. Der Versuch wird in drei Schritten unternommen. Es werden: 1. die Struktur des Begreifens anhand von A-B-E in den Hauptzügen dargetan im Hinblick auf die anvisierte Einheit des logischen Begriffs und der Form seines äußerlichen Daseins in den Kategorien der Rechtsphilosophie, 2. die von der Geltung des Rechts der Besonderheit vorangetriebene Vermittlung des abstrakt Allgemeinen zu angereicherten, konkreteren Formen der Freiheit an Schaltstellen der Darstellung exemplarisch vorgeführt, 3. die Vernünftigkeit des Staates, in dem sich die abstrakte Allgemeinheit des Rechts als konkrete Allgemeinheit fortentwickelt und zu Geltung gebracht wird,
3 4 5 6 7
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29, 80 und Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 486, 304. Ibid. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 124 Anm., 233. Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, 34. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29, 81.
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hinsichtlich der Realisierung des Prinzips der „Freiheit der Subjektivität“8 problematisiert.
1. ZUR LOGISCHEN FORM DER IDEE DES RECHTS 1.1. Vorausgeschickt sei zunächst die Klärung der begriffslogischen und systematischen Forderungen, die nach den ersten, grundlegenden Paragraphen der „Einleitung“ die Exposition des Rechts zu erfüllen hat. Da sie nicht mehr als eine auf den Gegenstand ‚Recht‘ bezogene Kontur darlegen, setzen sie Methode und System Hegels voraus, von deren Verständnis die Nachvollziehbarkeit der Rechtsphilosophie insgesamt wie auch die Auslegung der Rechtsformen im Einzelnen abhängen. Als Recht werden die objektivierten geistigen Prozesse gefasst. Sie entstehen aus den Vollzügen menschlicher Tätigkeit, die sich über die eigenen Hervorbringungen verständigt. „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht“9. Damit wird die Freiheit als diejenige Bestimmung des Willens als des Geistes gegeben, die den Ausgang, den Einsatz und die Substanz des Rechts bildet. Die Welt wird auf der Grundlage des freien Willens oder freien Geistes gestaltet, der „das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“10, ist. Diese Objektivierung des Geistes ist aber nach Hegel nichts anderes als eine Erscheinungsweise der Idee, deren andere die Natur ist: „Die Idee erscheint so nur im Willen, der ein endlicher, aber die Tätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Dasein, welches als Dasein der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, – objektiver Geist“11. Das Recht ist „überhaupt Dasein des freien Willens“12 in den Gestalten des abstrakten Rechts, der Moralität, der Sittlichkeit und schließlich der Weltgeschichte. Hegel macht in der späteren Klärung der damals schon angefeindeten Aussage der „Vorrede“ zu den Grundlinien, das Vernünftige sei das Wirkliche, deutlich, „daß überhaupt das Dasein zum Teil Erscheinung und nur zum Teil Wirklichkeit ist“13. Zwischen diesen beiden zu unterscheiden, ist die wahrhafte philosophische Betrachtung in sozusagen performativem Vollzug angehalten, um die Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen. Ferner, und das ist für die Rechtsphilosophie äußerst wichtig, fällt die kategoriale Darstellung der Wirklichkeit nicht unmittelbar mit deren empirisch vorhandenen oder historisch manifestierten Gestalten zusammen. Den einzelnen Gestalten des Rechts, wie den in ihnen enthaltenen Gliedern, kommen Wahrheit und Wirklichkeit nur dadurch zu, dass sie vom Systemzusammenhang prinzipiiert sind, d.h. sich als Moment einer explizit vorausgesetzten 8 9 10 11 12 13
Ibid., § 273 Zus., 439. Ibid., § 4, 46. Ibid., § 4 Zus., 47. Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 482, 301. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29, 80. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 6, 47 f.
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Ganzheit im Gang der Darstellung der Rechtsphilosophie erweisen. Die Wirklichkeit in der „Gestalt des Begriffs“14 darzustellen, macht die Aufgabe der Rechtsphilosophie aus, die sich immer weiter differenzierenden Bestimmungen des Begriffs des Rechts als Idee der Freiheit zu entfalten.15 Auf die dafür einzusetzende Methode weist Hegel explizit hin, ohne sie näher zu explizieren, da sie aus der Wissenschaft der Logik vorausgesetzt wird: „Das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich Dialektik“16. Für das reflektierende Subjekt ist diese Selbstbewegung äußerlich-objektiv. Indem es diese Bewegung nachvollzieht, eignet sich seine Reflexion den Begriff in seiner Entwicklung an. Genauer gesagt, prägt sich der Begriff bzw. die Vernunft dem menschlichen Subjekt mit der Folge ein, dass er ‚in unser Wissen fällt‘17. Dabei wird auch verdeutlicht, dass es sich nicht um eine Anwendung des Allgemeinen auf beliebig, zufällig oder sonst wie herbeizitierte Verhältnisse handelt, sondern um die Ausfaltung des Begriffs des Rechts, ohne jeglichen Eingriff seitens des Betrachters.18 Die logische Begriffsbewegung oder Entwicklung der Idee, nach welcher der Fortgang der Bestimmungen vom Rechtsbegriff gestaltet wird, führt vom Sein über das Wesen bzw. die Reflexion zum Begriff. Es reicht hier zu vergegenwärtigen, dass der Begriff die „absolute Einheit des Seins und der Reflexion“ als „ihr Resultat“ ist, insofern er sich als die „Grundlage und Wahrheit“ erweist, in der sie „untergegangen und enthalten“ im Hegelschen Sinn von ‚aufgehoben‘ sind. Die Lehre vom Begriff führt von seiner unmittelbaren zur „adäquate[n]“19 Gestalt, deren logische Struktur die Übereinstimmung des Begriffs mit der Realität, soweit sie in Bezug auf einen realphilosophischen Gegenstand erfolgen kann, vorprägt. Die Bildung der dem zugrundeliegenden Formen sei hier kurz erläutert, da sie die Mittel bereitstellen, um die Rechtsphilosophie zu erschließen. 1.2. Die Schritte zum selbstbezüglichen Begriff oder dem Begriff des Begriffs, die sich entlang der Beziehung der Subjektivität zur Objektivität entwickeln, bestehen zunächst in durch Urteile hergestellten Verbindungen. Gegen Kant hält Hegel urteilsförmige Verbindungen für unzulänglich, um die Wahrheit/Wirklichkeit der Vernunft zur Darstellung zu bringen, weil sie nur die Fixierungen des Verstandes ausdrücken können. Der Gang der Rechtsphilosophie stellt eine ausgezeichnete Probe aufs Exempel dafür. Wahrhafte, vernünftige Zusammenhänge können nicht durch die Kopula im Urteil hergestellt werden, sondern sind aus Hegels Sicht als begriffslogische Vermittlungen darzutun. Dafür müssen sie als Totalitäten durch 14 15 16 17 18
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 32 Zus., 87. Vgl. ibid. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 31 Anm., 84. Vgl. Hegel, Logik II, TWA 6, 552. Vgl. ebd. sowie Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 2, 30: „Die Rechtswissenschaft […] hat daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriff zu entwickeln oder, was dasselbe ist, der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen.“ 19 WdL II, 213.
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Vernunftschlüsse zwischen dem Allgemeinen, dem Besonderen und dem Einzelnen konstituiert werden. Die logische Gestalt des Hegelschen Begriffs kommt als Vorgang der Vermittlung der Momente Allgemeines (A) – Besonderes (B) – Einzelnes (E) in der Form des Schlusses zustande. Das Allgemeine als Ensemble der Merkmale oder Prädikate, die sich aus einem Sachverhalt, einem Ding oder einer Begebenheit abstrahieren lassen, ist vor dem Schlussvorgang ein nur abstrakt Allgemeines. Es ergibt sich aus dem analysierenden, partikulare Merkmale fixierenden Verstand. Die Kategorie der Gattung wäre das typische Beispiel einer abstrakten Allgemeinheit. Das Besondere entspricht Bestimmungen, durch welche sich dieser Sachverhalt, dieses Ding oder diese Begebenheit auszeichnet. Ein typischer Fall wäre das Merkmal oder die Teilmenge der Merkmale, die besondere Dinge einer bestimmten Art zuordnen lassen.20 Das Einzelne steht für ein singuläres Individuum oder ein Einzelexemplar einer Menge, das nach dem principium individuationis identifiziert werden kann. Die einzelnen gemeinsamen Eigenschaften, die zusammengenommen eine Allgemeinheit darstellen, ergeben nur eine Abstraktion von ihr. Dieses abstrakte Allgemeine ist die niedrigste Stufe, von der ausgegangen wird, insofern es unmittelbar, im Grunde zufällig als Summe von Eigenschaften festgehalten wird. Als Abstraktion subsumiert es durchaus das Besondere, sowie das Einzelne unter sich. Die Bewegung der Reflexion führt über das anfängliche Allgemeine hinaus, ohne es aber hinter sich zu lassen. Denn diese ist in der Besonderheit und der Einzelheit immer mitenthalten.21 Der Schluss konstituiert dieses interne Verhältnis der Momente A, B, E zueinander, indem er konfiguriert, dass und wie sie ineinander mit enthalten sind, ineinander übergehen und durcheinander greifen. Die Vermittlung wird geleistet, wenn zwei Momente als Extreme über das dritte Moment als deren gemeinsame Mitte zusammengeschlossen werden. Dafür wird jedes Extrem auf die Mitte des Schlusses durch ein Urteil bezogen, z.B. E=A als Obersatz und A=B als Untersatz des Schlusses. In der Verbindung durch das Urteil sind sowohl die Identität als auch der Gegensatz der Momente im Sinne des angesprochenen Verhältnisses der Inhärenz impliziert. „Die Beziehung der beiden Extreme aufeinander ist die vermittelte und heißt der Schlußsatz, conclusion“22. Das logische Verhältnis zwischen A, B und E fasst das interne inhaltliche Gefüge eines Sachverhalts. Es kommt als die in sich unterschiedene Identität zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen zustande, die beide als Totalität ihrer Bestimmungen durch die Vermittlung ausweist: „jedes enthält die Bestimmung des Anderen in sich, und darum sind diese Totalitäten ebenso schlechthin nur eine“23. 20 Vgl. Hegel, Logik II, TWA 6, 245 f. 21 Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 179, 331: „Alle Dinge sind eine Gattung (ihre Bestimmung und Zweck) in einer einzelnen Wirklichkeit von einer besonderen Beschaffenheit; und ihre Endlichkeit ist, daß das Besondere derselben dem Allgemeinen gemäß sein kann oder auch nicht.“ 22 Hegel, Propädeutische Logik für die Unterklasse des Gymnasiums, § 71, 23. 23 Hegel, Logik II, TWA 6, 252.
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1.3. Ohne die Hegelsche Schlusslehre vertiefen zu können, ist zu verzeichnen: Die Schlussform bestimmt sowohl die Konstruktion des Systems überhaupt aus Logik, Natur und Geist, sowie die innere Gestaltung jedes Systemteils, so dass das System sich als Kreis von Kreisen darstellt. Die im gleichnamigen Abschnitt der subjektiven Logik entwickelte Schlusslehre24 führt die logische Entwicklung des Schließens als triadische Konstruktion aus. Die Momente des Schlusses werden untereinander vertauscht (E-B-A, A-E-B, B-A-E), bis ihre Einheit konstituiert wird. Durch die Wiederholung des Kreislaufs für die jeweilige Schlussform des Daseins, der Reflexion und der Notwendigkeit wird die Einheit der Momente auf der entsprechenden Stufe etabliert. Ungeachtet der hier nicht weiter interessierenden Einzelheiten der logischen Kombinatorik, die Ordnung und Abfolge der Momente bestimmt,25 ist festzuhalten, dass der Unterschied zwischen Mitte und Extremen bzw. aller Momente untereinander sich im Kreis aufhebt. Wenn jedes Moment alle Stellen besetzt, enthält es alle anderen Momente bzw. Formbestimmungen an sich und deshalb stellt es auch die Totalität dieser Formbestimmungen für sich. Demzufolge wird am Ende der Entwicklung der Schlüsse „die objektive Allgemeinheit ebenso sehr als Totalität der Formbestimmungen gesetzt“ und „der Unterschied des Vermittelnden und Vermittelten [ist] weggefallen“26. Dieser logische Fortgang durch die Schlüsse führt durch die Objektivitätsformen hindurch dazu, dass sich der Begriff mit sich selbst zusammenschließt. Damit wird der Begriff durch den Begriff selbst erfasst und als rein selbstbezügliche Struktur etabliert.27 Als methodischer Vorgang fällt dies zusammen mit dem logischen Gefüge der Wirklichkeit, das Hegel absolute Idee nennt. Darin vollendet sich der Begriff als Substanz und Subjekt oder als die Wahrheit logischer Notwendigkeit – er hat sich „das Reich der Freiheit eröffnet“28, insofern er durch das Zusammenfallen von Objekt und Subjekt von keinen Bedingungen außer sich abhängt. Die Idee ist keine in sich ruhende Identität, in der alle Unterschiede verschwinden, sondern die instabile, in sich unterschiedene Einheit vom Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen. Diese Einheit ist die konkrete Form der Allgemeinheit – eine Abstraktion von allen Inhalten der Wirklichkeit, die dennoch anhand ihrer zu begreifen sind. „[D]as Konkrete und Wahre (und alles Wahre ist konkret) ist die Allgemeinheit, welche zum Gegensatze das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist. – Diese Einheit ist die Einzelheit“29. Die durch A-B-E gegebene interne Struktur eines begriffenen Sachverhalts bedeutet, dass er seinem Begriff entsprechend erfasst wird. Ob die Bestimmungen, die um einen realen Sachverhalt zu erfassen, eingesetzt werden, sich auch als Begriff dieses Sachverhalts erweisen, zeigt sich daran, inwiefern er schlussförmig dargestellt werden kann. Eine Sache entspricht ihrem Begriff, nur sofern sie als Schluss 24 25 26 27
Vgl. ibid., Zweiter Teil, Drittes Kapitel, „Der Schluß“, 351–401. Siehe u.v.a. Ottmann 1982, 382–383. Hegel, Logik II, TWA 6, 400. Sie stellt die Einheit dar, die „die Diremtion ihrer selbst in freien Schein dieser Zweiheit ist“ (ibid., 252). 28 Ibid., 251. 29 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 7 Anm., 55.
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adäquat gefasst wird. An dem Momentzusammenhang, wo die Vermittlung misslingt, muss sich die Sache neu bestimmen, wobei mit ihrer an Bestimmungen angereicherten Form anzufangen wäre. In diesem Prozess wird das abstrakte Allgemeine konkreter, während der Fortgang der Begriffsentwicklung jeden Sachverhalt dementsprechend reicher an Bestimmungen darstellt. Entscheidend für das Verständnis der Vermittlung ist, dass das konkrete Allgemeine als die Einheit der Begriffsmomente das Besondere sowie das Einzelne enthält30 und nicht im Gegensatz zu ihnen steht. Es behält jedoch auch das abstrakte Allgemeine in sich als seine anfängliche Bestimmung. Vor dem Hintergrund verzeichnet die Vermittlung kein Verhältnis der Subsumtion mehr. Unter das in sich konkrete Allgemeine oder den sich bestimmenden Begriff wird nicht ein gegebenes Besonderes subsumiert, sondern das Besondere hat sich dabei mitbestimmt, genauso wie das Einzelne in seiner Identität mit dem konkreten Allgemeinen.31 Die Entwicklung des Begriffs zur Idee ist freilich keine Logik, die formal auf vorgefundene Inhalte anzuwenden wäre. Stattdessen entwirft Hegel eine Theorie der logischen Formbestimmtheit, die die logischen Formen nach der Bestimmtheit ihres logischen Inhalts entwickelt. Der Bezug der Idee zu ihrer Realisierung oder das Verhältnis der Form zum Inhalt ist bekanntlich der wohl umstrittenste Sachverhalt der Rechtsphilosophie Hegels. Es kann nicht genug unterstrichen werden, dass sich die Idee grundsätzlich von ihren Daseinsweisen, Natur und Geist, unterscheidet. Die Idee als absolute Methode zeigt nur den Pfad an, entlang dessen sich der Begriff realisiert, jedoch nicht dessen vollständige Wirklichkeit. Sie ist an den Gegenständen der Realphilosophien von Natur und Geist herauszuarbeiten. Anhand der Bestimmungen, die der Idee ihre strukturierte Einheit als Form verleihen, ist zwar die Realität zu begreifen, ohne dass aber diese Realität mit dem Begriff identisch ist. Dem Begriff entspricht nur die Wirklichkeit, die in Hegels Gebrauch von der Realität zu unterscheiden ist. „Die endlichen Dinge sind darum endlich, insofern sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen, – oder umgekehrt, insofern sie als Objekte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äußerliche Bestimmung an ihnen haben.“32
In dieser Perspektive wird unmissverständlich, dass Gegenstände und Sachverhalte der Realphilosophie nicht mit dem Begriff zusammenfallen. Deshalb behauptet Hegel weder, sie lediglich aus der Vernunft abzuleiten, noch sie restlos zu begreifen. Sein freilich nicht geringer Anspruch besteht darin, die in der Idee enthaltenen Bestimmungen und Formen in der Wirklichkeit ausfindig zu machen. Aus dem Grund kann er behaupten, die Wirklichkeit sei vernünftig – als wirklich legitimiert werden nur die mit dem Begriff kongruierenden Verhältnisse realer Erscheinungen angesehen. Damit wird ein normativer, insoweit vernünftiger Maßstab gelegt. Dessen kategoriale Setzungen aus der Vermittlung vom Allgemeinen, Besonderen und 30 „Das Allgemeine ist das mit sich Identische ausdrücklich in der Bedeutung, daß in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei.“ (Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 164 Anm., 314). 31 Zum Zusammenhang der hier thematisierten Entwicklung des Begriffs, siehe Sans 2004. 32 Hegel, Logik II, TWA 6, 465.
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Einzelnen in der Form des logischen Schlusses seien im Hinblick auf die Rechtsphilosophie präzisiert.
2. DIE RECHTSPHILOSOPHISCHE VERMITTLUNG VON A-B-E: ZUR SCHLUSSFÖRMIGKEIT DER RECHTSGESTALTEN 2.1. Den Leitfaden für die dialektische Entwicklung des Begriffs des Rechts von der abstrakten bis zur konkreten Allgemeinheit gibt die Vermittlung der Begriffsmomente A, B und E. Sie bürgt zugleich für die relative Wahrheit der jeweiligen Gestalt gemäß dem Grad der Konkretisierung des Allgemeinen, die durch diese Vermittlung entsteht. Und dies jeweils konkretere Allgemeine ist der Abdruck der Freiheit des Einzelnen, die in der entsprechenden Stufe verwirklicht wird. Die Entwicklung ergibt sich aus dem systematisch bedingten Gang durch die Kategorien von der ersten abstrakten, dem Eigentum, zur konkretesten, dem Staat. Jede stellt die begriffliche Fassung einer Stufe der Realisierung von Freiheit entsprechend der Konkretisierung des Begriffs von Freiheit dar. Die Gestalten der Rechtsphilosophie erfolgen aufeinander als vermittelte nach den Prinzipien des Schließens. Jede Stufe zu begreifen, d.h. sie als eine getrennte zu konstituieren, bedeutet, sie in der Form des Vernunftschlusses zu fassen. Rechtsphilosophisch wäre in der abstrakten Allgemeinheit die nicht weiter differenzierte gesellschaftliche Ordnung zu sehen als das komplexe Gefüge der vielfältigen Verhältnisse, in welchen das Individuum sein Leben zu führen hat. Sobald das Allgemeine zu den einzelnen Individuen einerseits und zu ihrem besonderen Wirken andererseits in Beziehung gesetzt wird, wie noch zu zeigen ist, entsteht die Vermittlung unter ihnen. A, B und E treten auf jeder Stufe anders besetzt auf, bedingt durch die Inhalte, die dort zu behandeln sind, während das Allgeneine in seiner jeweils anfänglichen abstrakten Form dasjenige ist, das sich aus der vorangegangenen Stufe konkretisiert hat. So werden jeweils A, B, E zur Vermittlungsfigur zusammengeschlossen, nach der die inhaltlichen Bestimmungen des gemeinschaftlichen Lebens zur vernünftig strukturierten Gestalt geordnet werden. Welche Form sie genau annimmt, bedingt sich durch das inhaltliche Ineinandergreifen von A, B, E. Daraus entsteht zwar ein an Bestimmungen angereichertes Allgemeines, insofern die Vermittlung seinen internen Zusammenhang mit dem Besonderen und dem Einzelnen aufgezeigt hat. Indem es dadurch seine Abstraktheit abgestreift hat, tritt es ins Dasein als reale Gestalt. Es bleibt aber noch defizitär, soweit ihm Abstraktheit anhaftet, und es aufgrund dessen immer noch dem Besonderen entgegengesetzt ist. Die Anordnung der Gestalten der Rechtsphilosophie, deren jede als vermittelte nach den Prinzipien des Schließens begriffen wird, folgt dennoch nicht dem Gang der Hegelschen Schlusslehre. Zunächst folgt die äußerliche Gliederung der Rechtsphilosophie der Bewegung der Reflexion. Danach entspricht das abstrakte Recht als der unmittelbar daseiende Wille dem Sein, die Moralität als der „in sich reflektierte“ Wille der Reflexion und die Sittlichkeit der „Idee in ihrer an und für sich
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allgemeinen Existenz“33. Die fernere Verschränkung von der Entfaltung logischer Bestimmungen mit der realphilosophischen Entwicklung des Rechtsbegriffs hat immer wieder komplexe Diskussionen veranlasst.34 Deren Ertrag zeigt sich fruchtbarer in Bezug auf die innere Gliederung der Staatsform (s. unten Teil 3) als auf die Gliederung der rechtsphilosophischen Darstellung durch die Übernahme der Gesamtstruktur der logischen Begriffsform.35 Denn unterhalb der schlussförmigen Maßgabe, die die Explikation einer Sache regiert, gibt es keinen logisch zwingenden Kalkül für die Darstellung realphilosophischer Gehalte. Der Gang der Darstellung in den Grundlinien folgt den sachlichen Bestimmungen des Rechts als des spezifischen Gegenstandes der Philosophie des objektiven Geistes. Dem Anspruch nach ist es die ‚Logik der Sache‘, die ihre begriffliche Erfassung leitet, und nicht der Aufbau der Logik, der ihr aufoktroyiert wird. An die Darstellung der Rechtsgestalten wird zwar ein normativer Maßstab durch die Vernünftigkeit des Begriffs angelegt, der bezieht sich aber auf die Bildung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse und ihre Kodifizierungen im Recht. Die diesen Verhältnisse zugrundeliegenden vernünftigen Strukturen werden als notwendige Gestaltungen des freien Willens erfasst, der sich bewusst seine Freiheit behaupten will. Sie erfolgen nicht aus der abstrahierten Entwicklung der Reflexion über die Freiheit. Notwendigkeit der Verhältnisse und Idee der Freiheit treffen sich nicht in der Apologie des Bestehenden, sondern in der Diagnose des geschichtlichen Horizonts, in den sie sich einschreiben. Dies wird aber wieder am Ende zum Thema, wenn das Verhältnis des gesellschaftlichen Allgemeinen zum Einzelnen in den Gestalten der Sittlichkeit weiter geklärt ist. Die Abfolge der Rechtsgestalten wird der Entwicklung logischer Formen lediglich angenähert, weil diese Gestalten dem Anspruch nach das vorgefundene Material logisch formieren und, schon prinzipiell, nicht eins zu eins ins Verhältnis zu jeder einzelnen Schlussfigur setzen sollen. Dies vorgefundene Material besteht freilich aus historisch gewordenen kulturellen, institutionellen und polit-ökonomischen Kristallisierungen. Sie sind die Verhältnisse und Institutionen moderner Staatlichkeit, die sich nach dem Bürgerkrieg in England, im Frankreich der revolutionären und napoleonischen Zeit und im deutschen Raum vom Zerfall der Kleinstaaterei bis zu den Karlsbader Beschlüssen herausgebildet haben, während freilich Bildungen des römischen Rechts auch in die Rechtsphilosophie eingearbeitet werden, soweit sie Verhältnisse moderner Freiheit präfigurieren. Ihre Aufnahme wird jedoch nicht bloß in der zufälligen, unmittelbaren Form gelassen, in der sie sich der Empirie präsentieren. Da jegliche Empirie immer schon vermittelt ist, werden sie zunächst in die Ordnung gebracht, die die möglichen Vermittlungen der Empirie systematisch ergeben. Hegel hat sie im Zusammenhang der „[D]rei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ als Rationalismus, Empirismus/Kritische Philosophie und Unmittelbarkeitsdenken verarbeitet.36 33 34 35 36
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 33, 87. Siehe Vieweg 2012 durchgehend. Siehe die ausführliche Diskussion von Mertens 2008, 194–241. Siehe Daniel 1983, 155.
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Viel entschiedener greift die Rechtsphilosophie die Konzepte und Kategorien der neuzeitlichen Staats- und Naturrechtslehre auf. Sie, wie auch die vorange-gangenen Systematisierungen der Rechtslehre37 werden in systematische und nicht bloß äußerliche, formelle Einheit gebracht. Dadurch werden sie umgebildet und umfunktioniert, während der immanente Gehalt selbst den Zusammenhang hergibt, den die Methode oder die Form als der ihm einzig angemessene Ausdruck der „Sache selbst“38 zur Darstellung bringt. Gerade weil jeder realphilosophische Gegenstand nach dem ihm eigenen logischen Gefüge, seinem Begriff, behandelt werden soll, können Geltung und Tragweite der einzelnen rechtsphilosophischen Erörterungen Hegels nur in Bezug auf ihre Einbettung in die Bewegung des Begriffs ermittelt werden. Hegel hat freilich keine vollständige Philosophie des objektiven Geistes geliefert, da die Verarbeitung der Rechtsgeschichte fehlt.39 In den Grundlinien und in den Vorlesungen mag sich Hegel aus bestimmten systematischen oder auch politischen Gründen mit historischen Bildungen des Rechts auseinandergesetzt haben. Es geht aber in der vorliegenden Rechtsphilosophie programmatisch nicht um die Entwicklung von Rechtsgestalten in der Zeit, sondern um die logisch strukturierte Aufeinanderfolge der Zusammenhänge, in welchen sich der Begriff Wirklichkeit gibt. Sie fällt keineswegs mit der zeitlichen Abfolge zusammen: „die Ordnung der Zeit in der wirklichen Erscheinung [ist] zum Teil anders […] als die Ordnung des Begriffes“40. 2.2. Der freie Wille als Muster der Vermittlung von A-B-E: Der Wille hat sich als freier im Sinne einer ganz abstrakt allgemeinen Form des Geistes hervorgebracht. Abstrakt allgemein zu sein, weist auf die „absolute Möglichkeit“ des Willens, „von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde oder die Ich in mich gesetzt habe, abstrahieren zu können“41. (A) Die abstrakte Allgemeinheit erweist sich als anfängliche Bestimmung des Willens, da die Unbestimmtheit, die sie auszeichnet, auch schon eine Bestimmtheit impliziert. Inhaltlich wäre dies als Kennzeichnung des Willens überhaupt zu verstehen. In der Abstraktion von jeder inhaltlichen Bestimmung ist jedoch auch schon die Beziehung zu dem, wovon abstrahiert wird, notwendigerweise mit enthalten. Es wird zwar von der Abstraktionsleistung ausgeblendet bzw. negiert, muss aber einbezogen werden, sofern der Wille als abstrakt allgemein keinen Inhalt gewinnen kann. Deshalb muss der Wille sich fortbestimmen, indem er sich besondert, d.h. von sich aus, immanent sich einen besonderen Inhalt gibt. So schreitet er „aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands“42 fort. (B) Das zweite Moment als Besonderung besteht darin, dass der abstrakten Allgemeinheit 37 Vgl. die Einteilung im Naturrechtsaufsatz, in dem die empirische Behandlungsart des Rechts zuerst dargestellt wird, der das Vernunftrecht folgt, um dann synthetisiert und aufgehoben zu werden. 38 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 2, 30. 39 Es sollte auch die „vollendete Gestalt“ des Begriffs noch folgen. Siehe Jaeschke 2003, 374. 40 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 32 Zus., 86. 41 Ibid., § 5 Anm., 50. 42 Ibid., § 6, 52.
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des Wollens Inhalt durch das besondere Ich eines Individuums verliehen wird. Damit kommt die jeder Form, so auch dem Willen, innewohnende Negativität zum Ausdruck, denn er kommt durch bestimmte Negation zum weiteren Setzen und Bestimmen. Der besondere Wille ist aber der Allgemeinheit, die noch abstrakt formell ist, völlig gleichgültig. Daraus entsteht ein Gegensatz, der die Produktion des Rechts in seiner zunächst formellen Allgemeinheit nach sich zieht. Denn das zweite Moment ist „im ersten schon enthalten und nur ein Setzen dessen, was das erste schon an sich ist; – das erste Moment […] ist nicht die wahrhafte Unendlichkeit, oder konkrete Allgemeinheit, der Begriff, – sondern nur ein Bestimmtes, Einseitiges“43. Da die beiden Momente (A) und (B) sowohl einander gegensätzlich als auch zusammengehörig sind, müssen sie in ihrer Einheit begriffen werden. In ihr kommen das Sich-Voneinander-Trennen und das Einander-Gehören zusammen als die Einzelheit: „die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit; – Einzelheit“44. Inhaltlich zeigt die logische Bildung den Willen als allgemeine Disposition, die im Grunde das Individuum in seinem Kern ausmacht. Als solche stellt der Wille eine Abstraktion dar, die als das Moment der „reinen Unbestimmtheit“ zwar allen Individuen innewohnt, in der Beziehung jedoch von der besonderen Individualität, die jedes von ihnen auszeichnet, zum Ausdruck kommen kann.45 Hegel weist an der gleichen Stelle bezüglich der Bestimmung des Willens auf den Zusammenhang der Momente, der dem Übergang von A zu B zu E als Rückkehr und Zusammenschluss entspricht. Er besteht einmal in Identität, Unterschied und Grund, während der Zusammenschluss von Unendlichkeit, Endlichkeit und wahrer Unendlichkeit auch die Begriffsbewegung kennzeichnet.46 Zum Erweis dieses „Innersten der Spekulation, der Unendlichkeit als sich auf sich beziehender Negativität“47 wird zwar auf die Logik verwiesen, festgehalten werden soll aber die programmatische Konsequenz dieser knappen Ausführungen. Denn damit ist „in Ansehung des Inhalts die Notwendigkeit der Sache an und für sich selbst (hier des Rechts), in Ansehung der Form aber die Natur des Begriffs, beiseite gestellt. Vielmehr ist in der philosophischen Erkenntnis die Notwendigkeit eines Begriffs die Hauptsache, und der Gang, als Resultat, geworden zu sein, [ist] sein Beweis und Deduktion.“48
Die logische Notwendigkeit, mit welcher sich der Begriff als Einheit herstellt, gewährt die Wahrheit der Darstellung der Sache. Die Ausführungen zur Bestimmung des Willens zeigen die Kontur der Bewegung des Begriffs des Rechts zur Einheit hin, die prozessual zur Darstellung kommt. Den Werdegang des Begriffs, der seine Verwirklichung ist, beweist der Begriff des Rechts selbst. Der Wille wird als frei erwiesen, wenn er ihre Freiheit im Verhältnis zu der durch ihn gestalteten sozial 43 44 45 46 47 48
Ibid., § 6 Anm., 52. Ibid., § 7, 54. Vgl. Giusti 1987, 58. Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 164 A. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 7 Anm., 55. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 2 Anm., 31f.
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politischen Welt zur Geltung bringt. Die logische Geltung geht mit der Deduktion des Rechtsbegriffs zusammen, die aus seiner Entfaltung erfolgt, womit die Totalität der Formen des freien Willens erfasst wird. Somit wird das in der Phänomenologie des Geistes dargelegte Programm, dass „[d]er ausgeführte Zweck oder das daseiende Wirkliche […] Bewegung und entfaltetes Werden“49 sei, auf das Recht bezogen. In den Rechtsgestalten, die sich stufenweise gemäß der kategorialen Entwicklung der Grundlinien ergeben, wird der sich in logischer Bewegung artikulierende bzw. formierende Inhalt gefasst. Die Verlaufsform gestaltet sich als doppelte Bewegung, deren Schritte zugleich einen Fortgang und einen Rückgang darstellen, wie in der Bestimmung des Willens illustriert. So nimmt die Bewegung ihren Anfang an der ersten Stufe, der des abstrakten Rechts, von welcher aus sich alle weiteren Bestimmungen des Rechts über Moralität und Sittlichkeit bis zur Bestimmung des Staates als der letzten sittlichen Gestalt entwickeln. An dieser Endstufe wird sich noch zeigen, dass sie, im Kern, dieser Bewegung zu Grunde gelegen hat. Anhand des Zusammenschlusses von A, B und E seien die Hauptgestalten der Rechtsphilosophie erörtert, die den sozial-politischen Gehalt der Begriffsbewegung exemplifizieren. 2.3. Das abstrakte Recht: Die erste Gestalt des Rechts wird vom Begriff des abstrakten Rechts gefasst – der „an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist“50. Daher ist das abstrakte Recht „das unmittelbare Dasein, welche sich die Freiheit auf unmittelbare Weise gibt“51. So wäre es durch die erste Form des Schließens zu formalisieren, nämlich als Daseinsschluss E-A-B.52 Zusammengeschlossen werden dafür die Momente des an sich freien Willens, die nach den unterschiedlichen Bestimmungen identifiziert werden, in die sich der Wille einer Person setzen kann. Die Bewegung der Vermittlung kommt dadurch zustande, dass Hegel die Inhärenz jedes Moments im anderen nachweist. Indem die sie verbindenden Urteile deren Widersprüchlichkeit und Identität unter einander demonstrieren, geht das eine Moment in das andere über und zugleich zeigen sie sich als mit einander identisch. Das Eigentum steht für die Einzelheit, da „die Freiheit […] hier die des abstrakten Willens überhaupt oder eben damit einer einzelnen, sich nur zu sich verhaltenden Person [ist]“53. (E) Auf der Grundlage des „absolute[n] Zueignungsrecht[s] des Menschen auf alle Sachen“54, manifestiert sich die Freiheit für den zunächst unmittelbar freien Willen im Eigentum. Ausgespart werden muss in der vorliegenden Thematisierung die breite, mehrdimensionale Diskussion, die Hegel dem Eigentum widmet und die eigens problematisiert werden müsste.55 Entscheidend für 49 50 51 52 53 54 55
Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, 26. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 34, 92. Ibid., § 40, 98. WdL II, 324 f. Hegel, Grundlinien, TWA 7, ebd. Ibid., § 44, 106. Vgl. ibid., §§ 41–62.
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die Begriffsbildung des abstrakten Rechts ist, dass der Wille sich im Eigentum gegenständlich macht. Mit der Freiheit, sich Eigentum anzueignen, gelten die Personen als gleich vor dem Recht. Das Moment des Eigentums steht für die Einzelheit, da jede Person ihr Dasein am Eigentum, womit zunächst die Versachlichung aller Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft impliziert ist,56 in der ihr eigenen, kontingenten Weise gewinnt. Damit trägt Hegel den privatrechtlich geregelten Beziehungen unter freien Personen Rechnung, insofern er sie als verdinglichte Form gesellschaftlicher Verhältnisse auf den ihnen adäquaten Begriff bringt.57 Das Vertragsverhältnis ist die allgemeine Form, die die Beziehungen unter Personen als Besitzern von veräußerlichen Sachen regelt. (A) Das für das Eigentum konstitutive Moment der Entäußerung führt zum Vertragsverhältnis, weil durch sie sich der Wille im Vertrag objektiv macht.58 Der Vertrag stellt „die Einheit unterschiedener Willen“ her, während jeder im Vertrag mit dem anderen identisch wird, als er auch „für sich eigentümlicher Wille sei und bleibe“59. (E-A) Die gemeinsame Grundlage aller Willen erfährt im Unrecht eine Besonderung, indem sich der Wille gegen die allgemeine Gültigkeit des Vertrags geltend macht und sich ein „besonderes Recht“60 schafft. (B) Die Strafe negiert diese Negation des Rechts, während sie zugleich des Verbrechers „eigenes Recht enth[ält]“61 und die Allgemeinheit seiner als Person anerkennt. In der Negation der Negation des sich im Verbrechen manifestierenden besonderen Willens wird die Allgemeinheit wiederhergestellt (AB).62 Das wiederhergestellte Recht ist nicht mehr nur der an sich freie Wille, sondern nimmt in Anspruch, Dasein zu gewinnen, damit es auch für den Willen für sich Recht wird. (E-A-B) Die Vermittlung der Momente zeigt aber, dass die rechtliche Allgemeinheit den Widerspruch zum individuellen Willen, der sich im Verbrechen manifestiert, nicht aufheben kann, solange sie abstrakt bleibt. Ansonsten bliebe es bei einem dem Zufall überlassenen unendlichen Kreislauf von Verbrechen und Strafe. Um die Negation zu negieren, muss sich das Recht in den Willen einbilden, d.h. konkret werden. Das Scheitern des Schlusses E-A-B des abstrakten Rechts zeigt, dass ein „moralische[r] Standpunkt[]“63 erforderlich sei. Logisch ausgedrückt bedeutet es, dass der Grund der Vermittlung außerhalb ihrer gefunden 56 Vgl. „Ich [bin] mir in der Sache als positiver Wille objektiv und zugleich nicht objektiv.“ (ibid., § 62, 132, auch § 66 Anm., 143) 57 Es wäre schon an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Hegel die Arbeitsform in der bürgerlichen Gesellschaft unter Abstraktion von den Bestimmungen der Lohnarbeit betrachtet. Er sieht an ihr eine Ware, wie alle anderen Waren, ohne der Verdinglichung des auf der Grundlage von Lohnarbeit unter privatrechtlichen Verhältnissen vergesellschafteten Individuums genügend Rechnung zu tragen. 58 Vgl. ibid., § 73, 156. 59 Ibid. 60 Ibid., § 100, 191. 61 Ibid., § 99, 187 ff. 62 Dazu wie zu den anderen Gestalten siehe de Vos 1981, 103–104, 107–109, 111, 113–114. 63 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 104, 198.
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werden muss; sie muss „in einer außer diesem Schlusse liegenden Vermittlung ihren Grund haben“64. 2.4. Moralität: Somit wird der Übergang in eine höhere Stufe, die die Moralität darstellt, dadurch motiviert, dass sich der Wille/die Person als frei begriffen hat. Sie begreift sich dennoch nur als Subjekt, das für sich und nicht objektiv frei ist. Aufgrund dieser subjektiv konstituierten Freiheit nimmt das Subjekt einen „moralischen Standpunkt“ ein, der ein bloßes Ideal geltend macht. Das Subjekt setzt sich mit seinen besonderen subjektiven Beweggründen in seiner Einzelheit, indem es die Moralität verinnerlicht. Das erste Moment der Moralität ist dessen Verwirklichung, die durch eine moralische Handlung als der „Vorsatz“ gesetzt wird. Das Subjekt weiß um die Äußerung des Willens als seines eigenen, wird aber mit den Folgen seiner Handlung konfrontiert und wird gezwungen, auch die allgemeinen Auswirkungen seiner subjektiven Zwecksetzung zu reflektieren. Denn gegen die von der Person beanspruchte Freiheit stellt sich das abstrakt Allgemeine des Rechts, dessen Forderungen nun das Subjekt als die eigenen zu verinnerlichen in der Form der „Schuld“ angehalten ist (E). Die Abstraktion von ihnen führt zur Einsicht in die Triebe, Leidenschaften und sonstigen inneren Beweggründe des Subjekts, das versucht, sich unter ein formelles Gesetz zu stellen (A). Da zeigt sich die Freiheit des Willens eine bloß vermeinte zu sein, solange ihr noch nicht objektiv Geltung verschafft wird. Mit der inhaltlichen Qualifizierung des Willens wird das zweite Moment der Moralität gewonnen, das das Wissen um den allgemeinen Charakter der Handlung als das „Wohl“ dartut (E-A). Die Einsicht in die Allgemeinheit der Handlung ist aber auch eine Besonderung, weil sie mit den besonderen Zwecken des Subjekts im Zusammenhang steht (B). Das ist ein Recht, das dem Subjekt zusteht und im Rechtsbegriff der Person als seine Freiheit etabliert wurde. Dieses Recht der Besonderheit wird mit der Allgemeinheit der Freiheit durch die Verschränkung des Guten und des Gewissens zusammengebracht (A-B).65 Damit sollte die Einheit hergestellt werden, in der sich das Einzelne als konkret Allgemeines behaupten kann. Die Analyse im letzten Abschnitt der Moralität zeigt dennoch, dass die Struktur des Gewissens – der „abstrakte[n] Selbstbestimmung“ – amphibolisch bleibt, weil auf der Grundlage der moralischen Reflexion, d.h. der Verinnerlichung abstrakt formellen Rechts, Gut und Böse nicht eindeutig differenziert werden können. Damit ist der Widerspruch zwischen Allgemeinheit und Besonderheit, entlang dem die Rechtsgestalten sich entwickeln, nicht gelöst. Denn das Subjekt ist gefordert, das allgemeine Recht sich zu eigen zu machen, was es aber als nur in sich reflektiertes nicht vermag. Dafür muss es der Totalität der Verhältnisse innewerden, unter welchen es sich Dasein gibt – unter der unaufhebbaren Voraussetzung seiner Freiheit. Um dieser Vermittlung willen muss es in die Stufe der Sittlichkeit übergehen. 64 Hegel, Logik II, TWA 6, 325. 65 Es sind „das Gute, als das erfüllte, an und für sich bestimmte Allgemeine, und das Gewissen, als die in sich wissende und sich den Inhalt bestimmende unendliche Subjektivität“ (Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 128, 241).
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Die inhaltliche Perspektive auf die Moralität erhält ihre logisch-systematische Form darin, dass die Moralität sich der Sphäre der Reflexion zuordnet: Ihr Subjekt ist der in sich reflektierte an und für sich freie Wille. Insofern sich diese Reflexion des Willens in sich gegen die Unmittelbarkeit des Wollens stellt, lässt sie „die Person zum Subjekte“66 sich weiterbestimmen. Über den moralischen Standpunkt kann sich der Wille des Subjekts ein Dasein geben, indem sich die Person als Rechtssubjekt auf der Grundlage des abstrakten Rechts begreift.67 Dieser Begriff der Freiheit, in dem der endliche Wille des Subjekts mit seiner objektiv bürgerlichen Freiheit vermittelt wird, profiliert das konkreter werdende Allgemeine in der Form der Moralität. Der Tenor von Hegels Moralkritik besteht darin, dass die Moralität von den historisch-gesellschaftlichen Umständen abhängt, die sie allererst hervorbringen. Denn sie entsteht im Prozess der Verarbeitung der Natur (der ersten, äußeren, wie der inneren des Menschen) durch Arbeit in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen,68 die im System der Bedürfnisse als kritischer Theorie gesellschaftlicher Sittlichkeit thematisch werden.
3. SCHLUSSFORMEN DER SITTLICHKEIT: DIE SCHLUSSTRIAS DES STAATES Die kurzen Ausführungen Hegels in den begriffslogischen Abschnitten seiner Abhandlungen tragen genau so viel zur Aufklärung der Züge der schlussförmigen Bildung der Verhältnisse der Sittlichkeit bei, wie die Hinweise in den rechtsphilosophischen Werken. Ein klarer Ausdruck des sozialpolitischen Gehalts des Schlusses findet sich sowohl als einschlägige Manifestation der Schlussform im „Mechanismus“-Kapitel in der enzyklopädischen Logik69 als auch in der Wissenschaft der Logik: „So sind auch die Regierung, die Bürgerindividuen und die Bedürfnisse oder das äußerliche Leben der Einzelnen drei Termini, deren jeder die Mitte der zwei anderen ist. Die Regierung ist das absolute Zentrum, worin das Extrem der Einzelnen mit ihrem äußerlichen Bestehen zusammengeschlossen wird; ebenso sind die Einzelnen Mitte, welche jenes allgemeine Individuum zur äußerlichen Existenz betätigen und ihr sittliches Wesen in das Extrem der Wirklichkeit übersetzen.“70
Damit sollte gezeigt werden, dass „im Praktischen der Staat ein System von drei Schlüssen“71 ist. Es veranschaulicht, dass nur durch den Durchgang durch die Realphilosophie die Idee zu erreichen wäre. Verortet ist diese letzte Stufe vor der Idee im Mittelstück der subjektiven Logik über das „Objekt“, das sich an die 66 Ibid., § 105, 203. 67 Siehe insgesamt Siep 1992. 68 Marx schätzt es als ein großes, wenn auch unbewusstes Verdienst Hegels, „nach der Seite hin den Staat, der eine solche Moral zur Voraussetzung hat, für die reale Idee der Sittlichkeit“ dargestellt zu haben (Marx 1981, 313). 69 Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 198, 356. 70 Hegel, Logik II, TWA 6, 425. 71 Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 198 Anm., 356.
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Behandlung des Begriffs anschließt. Das Objekt ist auf dieser Stufe „frei von Zutat subjektiver Reflexion“72, weil es nunmehr aus dem Begriff entspringt und sich nicht unmittelbar vorfindet. Denn im ersten Stück über den Begriff wurden alle vorangehenden Denkbestimmungen der Objektivität eingeholt und begründet. Der Staat wäre als Schlusstrias zu begreifen, die wiederum als Allgemeinheit dem internen Zusammenhang der in der rechtsphilosophischen Behandlung des Staates auftretenden Gestalten (inneres Staatsrecht und seine Institutionen) zugrunde liegt.73 Dafür werden die drei ersten Formen des Daseinsschlusses eingesetzt, da die logische Folge des Schließens immer mit dem Daseinsschluss ansetzt.74 Erste Form: E-B-A Das Gefüge der Bedürfnisse, in dem die Individuen eingebunden sind, vermittelt sich nach der ersten Figur E-B-A mit der Allgemeinheit. Mit der ersten Form wird die Grundstruktur der Vergesellschaftung gemäß den basalen Bedingungen menschlicher Reproduktion erfasst. In der aus Bedürfnissen und dem Streben nach ihrer Befriedigung entstehenden Struktur von Interessen als der Mitte (B) des Schlusses treten dessen extreme (E-A) in Beziehung zueinander. Die Besonderheit des Individuums, die sich in der Verfolgung seiner Interessen artikuliert (E-B), vermittelt den für sich seienden Willen eines Individuums in seiner Einzelheit als Person mit der sozial-politischen Welt (B-A). So schreibt sich die Allgemeinheit gesellschaftlichen Lebens in die Einzelnen durch ihre besondere Bedürfnis- und Interessenkonstellation ein, während sich die Einzelnen im Geflecht ihrer besonderen Umstände zur Allgemeinheit zusammenschließen. Damit wird die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums zwar erwiesen, aber noch nicht expliziert. Diese Stufe wäre als die Schwelle zur vergesellschafteten Subjektivität anzusehen, die damit den Übergang in sittliche Verhältnisse markiert. Die erste Schlussfigur treibt logisch über sich hinaus, weil die von ihr geleistete Vermittlung unvollständig ist. Sie erweist sich als Schein, insofern das Dasein, zu dem das Einzelne, das für den individuellen Willen steht, nur ein naturhaftes, äußerliches ist. „[D]ie Einzelnen [sind] durch ihre Bedürfnisse und das äußerliche Dasein an diese allgemeine absolute Individualität geknüpft“75. Die logische Forderung nach weiteren Bestimmungen formalisiert die von den inhaltlichen Verhältnissen gestellte. Aufgrund der unmittelbaren Setzung einer – nicht vermittelten aber bloß vorausgesetzten – Bedürfnisstruktur erscheint die Vergesellschaftung der Einzelnen als naturhaft, wenn sie ihrerseits nicht aus der Struktur des gesellschaftlichen Allgemeinen erklärt wird. Denn die nur durch ihre Bedürfnisstruktur vermittelte Einzelheit tritt nicht als geistige Subjektivität hervor,76 die wiederum der Bildung 72 73 74 75 76
Hegel, Logik II, TWA 6, 408. Siehe Henrich 1982, 445 f. Siehe die darauf gemünzte ausführliche Diskussion von Reusswig 1994, 178–204. Hegel, Logik II, TWA 6, 425. Vgl. Reusswig 1994, 179.
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dieser Struktur mittels der Verhältnisse der gesellschaftlichen Allgemeinheit Rechnung tragen würde. Das nur an den Familienverband angebundene Individuum kann ja auch nicht innerhalb dessen den natürlichen Charakter des Verhältnisses abstreifen.
Zweite Form: B-E-A In der zweiten Schlussform B-E-A nimmt nun die schon, wenn auch nur äußerlich, etablierte Einzelheit die vermittelnde Stelle ein. In ihr werden die Bedürfnisse mit der gesellschaftlichen Allgemeinheit in ein Verhältnis inhaltlicher Fülle und nicht mehr, wie im ersten Schluss, in eine unmittelbare, äußerliche Beziehung zueinander gebracht. Das Verhältnis individueller, besonderer Bedürfnisse (B) wird durch die sie vermittelnde Individualität (als B-E-A) konfiguriert.77 Die Korrelation besonderer Bedürfnisse und Interessen, die im allgemeinen gesellschaftlichen Gefüge eingebettet ist, erhält ihre besondere Gestalt durch die Entäußerung der jeweiligen Einzelnen als die basale Struktur subjektiven Geistes. Indem sie durch die Vermittlung in der Allgemeinheit eingebettet wird, erhält diese eine konkrete Gestalt. Die Bedürfnisstruktur des individuellen Menschen, seine Zwecksetzung und Handlung, folgen aus den allgemeinen sozialpolitischen Bedingungen seiner Existenz, aber in der Gestalt, die seiner Individualität eigen ist. „[D]ie Bedürfnisse oder das äußerliche Leben der Einzelnen“78 bildeten sich zwar durch diese selbst (B-E). Die daraus entstehenden Bildungen ergeben aber die Allgemeinheit sozialpolitischer Strukturen (E-A), die sich ihrerseits nicht unmittelbar, sondern über die Vermittlung eines jeden Einzelnen besondern können. (B-E-A) Damit hält Hegel fest, dass sich das gesellschaftliche Allgemeine seinerseits nur durch den freien Willen der einzelnen Individuen ein Dasein geben kann. Dies ist das zweite Moment der Sittlichkeit, die durch die in sich reflektierte Einzelheit vermittelt wird, während diese in jener ihr Bestehen hat, insofern sich ihre Vorstellungen, Handlungen, etc. – ihre Willensakte – realisieren. Die geistige Subjektivität der Individuen, die ihnen ihre Individualität verleiht, wird zum vermittelnden Moment, insofern die Entäußerung der Subjektivität sowohl ihre Besonderheit darstellt, als auch in die Gestaltung des Gemeinwesens eingeht. Es kann damit aber deshalb nicht sein Bewenden haben, weil das dergestalt konstituierte gesellschaftliche Allgemeine zwar aus den Individuen hervorgeht, ihnen gegenüber jedoch noch äußerlich bleibt. Insofern individuelle Entäußerungsmuster aufgrund der dem Subjekt gewährten Freiheit kontingent bleiben, verhält sich die etablierte allgemeine sozialpolitische Ordnung als „äußeres, formelles 77 Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, 356. „[D]er Wille, Tätigkeit der Individuen [ist] das Vermittelnde“. Die Erfüllung der Bedürfnisse erfolgt in der gegenseitigen Abhängigkeit der Individuen im Gemeinwesen, das selbst durch diese Tätigkeit der Bedürfniserfüllung zustande kommt. 78 Hegel, Logik II, TWA 6, 425.
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Allgemeines“79. Die besondere Individualität kommt zwar in der bürgerlichen Gesellschaft zur Geltung. Dies kann gelingen, insofern sie „eine Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner in einer somit formellen Allgemeinheit“ darstellt. Als „äußerliche[r] Staat“ schützt sie Personen und Eigentum, damit sie in dieser „äußerliche[n] Ordnung für ihre besonderen und gemeinsamen Interessen“ sorgen können.80 Die bürgerliche Gesellschaft erhält sich als ein nur von formeller Allgemeinheit geprägtes Gebilde, wo das Subjekt seine Existenz durch die freie Gestaltung der Bedürfnisbefriedigung bestreitet. Die damit gewonnene Sphäre der Besonderheit, in welcher die Freiheit, wenn auch nur in der abstrakten Form des Rechts auf Eigentum und dessen Erwerb durch Arbeit garantiert wird, ist die konstitutive Errungenschaft der modernen Welt und liegt zugleich der sie durchziehenden Widersprüchlichkeit zu Grunde. Sie ist auf ein Bestimmungsdefizit zurückzuführen, das schon in der logischen Unzulänglichkeit der zweiten Form aufscheint. Sie erbringt auch im Zusammenhang mit der ersten nicht die angeforderte Vermittlung. Um sie einzuholen und dadurch das Allgemeine als in sich vermittelt, d.h. substantiell und konkret zu deduzieren und zu beweisen, wird in die dritte Schlussform übergegangen. Dritte Form: E-A-B Die dritte Schlussform E-A-B etabliert nun die Sittlichkeit (A) als die substantielle Allgemeinheit, nunmehr „die Regierung“81, in der die einzelnen Bürger-Individuen (E) und ihr „äußerliche[s] Leben“82 (B) zusammengeschlossen werden. Wenn das äußerliche Leben in unmittelbarer Gestalt als Bedürfnisstruktur im ersten Schluss E-B-A und die in sich reflektierte Gestalt der Einzelheit im zweiten B-E-A mit der Allgemeinheit zusammengeschlossen wurden, bleibt diese dennoch an sich zufällig. Denn bisher wird sie zwar vermittelt, jedoch diese Bindung an die Besonderheit und Einzelheit kann kaum als notwendige Gestalt ausgewiesen werden, die den wesentlichen, verbindlichen Zusammenschluss aller Einzelnen darstellt. Dies bedeutet, konform mit der logischen Forderung, die Allgemeinheit auch als vermittelnde auszuweisen. Demzufolge wird in die dritte Schlussform E-A-B übergegangen, um sozialpolitische Strukturen als selbstständige, vernünftige Form zu begreifen, mittels derer sich Individuen als einzelne geistige Subjekte konstituieren und zur differenzierten, auf ihre Bedürfnisse bezogenen Tätigkeit kommen. Die einzelnen Individuen lassen das Gemeinwesen entstehen und werden durch es als vergesellschaftete und polit-ökonomische Subjekte, jedes in der ihm eigenen Weise, formiert (E-A). Das Allgemeine lässt sich in die Einzelnen ein, die dadurch seine substanziellen Bestimmungen miterhalten. Dies Allgemeine besondert sich in 79 80 81 82
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 29, 81. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 157, 306. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, 356. Hegel, Logik II, TWA 6, 425, vgl. auch Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 290–294, 459–463.
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den unterschiedlichen Lebensentwürfen und -vollzügen von Individuen oder auch deren möglichen gesellschaftlichen, ökonomischen sowie politischen und institutionellen Zusammenschlüssen (A-B). Zugleich wird damit dem Rechnung getragen, dass Wollen und Handeln der Subjekte die Allgemeinheit konstituieren, während diese durch jene ihr Dasein erhält. Der Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen, der im Schluss vollzogen wird, erhält durch die vermittelnden Bezüge der Momente untereinander seine formale Begründung. Wenn man aber darin nur eine instrumentelle Beziehung der besonderen Subjekte zum Allgemeinen sieht – sie ist zweifellos vorhanden als „alleinige Bedingung der Erreichung des besonderen Zwecks und Wohls“83 –, dann wird der inhaltliche Anspruch des Schließens unterschlagen. Wird dem nicht Rechnung getragen, führt es zum oft und unterschiedlich artikulierten Vorwurf, Hegel bediene sich einer bloß formellen logischen Konstruktion, um zur Allgemeinheit des sittlichen Staates zu gelangen. Es sollte aber an der vorangegangenen Diskussion hinreichend deutlich hervorgetreten sein, dass die im Schluss implizierte Aufhebung die aufgehobenen Momente weder tilgt noch von einem hierarchischen Verhältnis unter ihnen ausgeht. Den Wendepunkten der Zeit – bewusstseinstheoretisch dem Protestantismus, politisch der französischen Revolution – entnimmt Hegel die Berechtigung seiner systematischen Annahme: Dem Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen immaniert eine Latenz durch Vergesellschaftung, die dem freien Willen des Subjekts die potenzielle Einsicht in allgemeine Zwecksetzung ermöglicht. Sie allein ist vernünftig, insofern sie sich über partikulare Zwecke erhebt. Die vollzogene Vermittlung bedeutet, dass das Subjekt zum Bewusstsein dieser Zwecke gekommen ist, die es auch als die seinigen über seine besonderen Interessen anerkennt und sich dadurch als Einzelnes mit dem politischen Gemeinwesen als konkrete Allgemeinheit einig weiß.84 Da die sozialpolitische Realität der besonderen Bildung von Bedürfnissen und Interessen der Einzelnen durch ihre Bestimmung wie die ihrer Lebensumstände eingeschrieben ist, steht sie weder der Besonderheit der Subjekte noch der einzelnen Subjektivität äußerlich gegenüber. Mit dem Zusammenschluss von E und B durch A konstituiert sich dieses als die „substantielle Mitte“85, die sich zum konkreten Allgemeinen fortbestimmt hat. Dass es konkret wurde, heißt aber nicht, dass seine Abstraktheit verschwunden sei. Sie besteht immer noch und wird als Moment mitgeschleppt in der Einheit, die E-A-B bilden. Denn diese Einheit ist nicht, wie so oft bemerkt wurde, ohne Unterschiede zwischen den Momenten zu vermitteln. Der Gegensatz zwischen E und A wie zwischen A und B wird nicht getilgt, sondern bleibt wirksam als mitgestaltendes Verhältnis der Totalität des Gemeinwesens. In den Grundlinien wird freilich eine sehr komplexe Argumentation entwickelt, die die hier am Beispiel der Logik rekonstruierte Vermittlung durch die Gliederung des inneren Staatsrechts am Gefüge der konstitutionellen Monarchie inhaltlich sehr detailliert ausführt. Es würde den vorliegenden Rahmen sprengen, den Gang der 83 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 261 Zus., 410. 84 Zur Rekonstruktion dieses Sachverhalts aus den Grundlinien siehe Bourgeois 2017. 85 Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, 356.
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Vermittlung über die staatlichen Instanzen und Institutionen nachzuvollziehen. Für Hegels Staats- und Freiheitsverständnis ist aber wesentlich, dass er noch zwischen der Realität und der Idealität des Staates unterscheidet. Die Realität, in der die Subjekte ihre Lebensvollzüge realisieren, ist die Erscheinung des Geistes, die als „Verfassung […] im Besonderen“86 die im Staat institutionalisierten Momente, die von der Familie bis zu den staatlichen Instanzen reichen, umfasst. In ihnen wird die Freiheit in der Hinsicht der Subjektivität realisiert; sie sind dem Subjekt noch Mittel zum Zweck und insofern noch äußerlich. Der politische Staat ist dessen ideelle Seite, an der die Freiheit substantiell ist, insofern dieser Staat sich selbst Zweck ist: „Aber der Geist ist nicht nur als diese Notwendigkeit und als ein Reich der Erscheinung, sondern als die Idealität derselben und als ihr Inneres sich objektiv und wirklich; so ist diese substantielle Allgemeinheit sich selbst Gegenstand und Zweck und jene Notwendigkeit hierdurch sich ebensosehr in Gestalt der Freiheit.“87
Die ideelle Staatsverfassung ist das konkrete Allgemeine, in dem Substanz insofern zum Subjekt wird, als die substantielle Freiheit im Subjekt im Sinne des Wissens um die Notwendigkeit statthat. Darin ist „die Vernünftigkeit wirklich vorhanden“; das Bewusstsein des freien um sich wissenden Subjekts nennt Hegel „politische Gesinnung“ oder „Patriotismus überhaupt“88. Es ist das Selbstbewusstsein des Subjekts, das nunmehr als Einzelnes seine Interessen und Zwecksetzung so gestaltet, dass sie im (Selbst-)Zweck des Allgemeinen „bewahrt und enthalten“89 sind. Zusammenfassend: Mit dem Abschluss der Schlusstrias wird das Allgemeine als der Staat expliziert,90 indem es in der dritten Form wesentlich gegenüber der zweiten konkreter bestimmt wird. Der Staat resultiert als das konkrete Allgemeine, dem kein Moment von denjenigen, die es konstituieren, mehr äußerlich ist. Die zwei ersten Schlussformen lassen die Bestimmungen der zweiten Form als die der sittlichen Sphäre hervortreten. Hegel identifiziert sie auf dieser Stufe der Bestimmung mit der bürgerlichen Gesellschaft, indem er in ihr die Familie verschleift. Dies Allgemeine sowie auch die Einzelnen stellen keinen objektivierbaren freien Willen dar, weil die Willensbildung der Einzelnen zwar das Allgemeine mitprägt, ohne dass sie sich aber dessen als notwendiger Grundlage ihrer Willensbildung bewusst sind. Das äußerliche Verhältnis wird durch die Vermittlung in der dritten Form verinnerlicht, d.h. dass der Zweck des Allgemeinen von den Einzelnen auch als der eigene erkannt wird. Aus dem Grund hält Hegel den Staat für „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“91. Gegenüber den besonderen Interessen bleibt er „eine äußere Notwendigkeit“, sie müssen sich aber zu ihm erheben, um die Bewahrung dieser Interessen zu sichern. Angesichts dessen wird eine nicht aufhebbare Spannung erzeugt, die vom immerwährenden Gegensatz des Besonderen auch zur konkreten 86 87 88 89 90 91
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 265, 412. Ibid., § 266, 412. Ibid., § 268, 413. Ibid.. Siehe zur Schlussform des Staates insgesamt Wolff 1984. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 257, 398.
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Form des Allgemeinen getrieben wird. Sie wird noch vor dem Hintergrund der dargelegten systematischen Kontur kurz kommentiert.
4. ZUR BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT: FORM UND INHALT DER NEGATIVITÄT Die Stufe der Sittlichkeit legt die Vermittlung der beiden vorangehenden dar. Demnach wird der Wille als „die Einheit und Wahrheit dieser beiden abstrakten Momente, – die gedachte Idee des Guten realisiert in dem in sich reflektierten Willen und in äußerlicher Welt“92. Die Freiheit realisiert sich, indem der in sich reflektierte Wille, den das in sich reflektierte Einzelsubjekt verkörpert, sich Dasein gibt. 4.1. Die Abstraktheit von Moralvorstellungen motiviert den Übergang von der Objektivität der Moralität zur „empfindenden Einheit“93 des Familienlebens. Die Familie als die basale Form der Vergesellschaftung stellt das vorgefundene Material dar, das als notwendiges Moment in den systematischen Zusammenhang der sittlichen Totalität eingeordnet wird. Leitend ist dabei die in der Familie hervorgebrachte Bewusstseinsform, in der diese erste Gestalt sittlicher Verhältnisse konfiguriert wird: „in welcher Gesinnung und Wirklichkeit der natürliche Trieb zur Modalität eines Naturmoments […] herabgesetzt wird, das geistige Band in seinem Rechte als das Substantielle […] sich heraushebt“94. Anhand der Formbestimmtheit der Familie als systematischer Gestalt kann sie als Keim und Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens ausgewiesen werden. In der Familie stellt sich die sittliche Bestimmung her, in welcher der Wille der Individuen zum Ausdruck kommt, ein Allgemeines in Anspruch zu nehmen. Als die Form unmittelbarer, quasi natürlicher Vergesellschaftung wird die Familie auf ihre Stellung in der Konstitution des Ich und folglich der Gemeinschaftlichkeit überhaupt analytisch transparent gemacht. Die Subjekte als vergesellschaftete wirken in der Familie in sittlicher Bestimmung, weshalb diese erste Stufe der Sittlichkeit die anfängliche Konkretisierung des Allgemeinen als Ineinandergreifen des Einzelnen mit den konkreten Bedingungen seiner Welt darstellt. Einmal aus der Familie entlassen, tritt das Subjekt in das gesellschaftliche Leben als konkrete Person, welche sich als besonderer Zweck ist, ein: „als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür“95. Die Gesellschaft ist zunächst ein äußerliches Gefüge als „System allseitiger Abhängigkeit“96, innerhalb dessen sich die einzelnen Subjekte insofern besondern, als sie in Beziehungen untereinander treten. Diese entstehen durch das zweckrationale Handeln der Subjekte, die sich dadurch ihre zunächst nur materielle 92 93 94 95 96
Ibid., § 33, 87. Ibid., § 158, 307. Ibid., § 163, 313. Ibid., § 182, 339. Ibid., § 183, 340.
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Existenzgrundlage sichern. Das Zweckmittelverhältnis liegt dem „äußeren Staat, – Not- und Verstandesstaat“97 zu Grunde, in dem das Besondere mit seinen „selbstsüchtigen Zwecken“ und das Allgemeine im Sinne der fixierten Relata im Urteil des Verstandes auseinander treten (B-A). Das Allgemeine als abstrakte, äußerlich verbundene Summe aller Besonderen, die kein inneres Verhältnis zu ihm haben, kann nur Zwang ihnen gegenüber ausüben. Die in der bürgerlichen Gesellschaft statthabende Freiheit ist nur eine abstrakt allgemeine, deren Prinzip das „Recht des Eigentums in sich, […] als Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege, ist“98. Aus dem Grund wird die bürgerliche Gesellschaft durch eine nicht aufzuhebende Negativität gekennzeichnet. Sie ist die Negativität der Besonderheit, die als Moment des Schlusses logisch eine Totalität darstellt und zur positiven Totalität der konkreten Allgemeinheit vermittelt wird, in der sie mit der Einzelheit zur Einheit kommt. Der bürgerlichen Gesellschaft haftet noch Abstraktheit an, insofern der dem Gemeinwesen immanente, allgemeine Zweck nicht verinnerlicht vermittelt wird. Diese Verinnerlichung ist die materiale Grundlage der entsprechenden logischen Vermittlung. Der konfliktlose Ausgleich zwischen besonderem und allgemeinem Interesse wäre in der Perspektive von Hegels Konzeption völlig utopisch, da die permanente Konfliktualität in der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat zwar kompensiert, aber aufgrund des Antagonismus zwischen besonderen Interessen nie widerspruchsfrei aufgehoben werden kann. 4.2. In der bürgerlichen Gesellschaft treten noch Besonderheit und Allgemeinheit auseinander, weshalb sie „das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“99 ist. Da in ihr die sittliche Substanz entzweit ist, betrachtet sie Hegel als „die Stufe der Differenz“100. Sie stellt ein Reflexionsverhältnis dar, insofern sie darlegt, dass in ihr das Einzelne sich in sich reflektiert. Aufgrund dessen, dass das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen keines der Subsumtion ist, behält das Besondere sein Recht gegenüber dem Allgemeinen. Dementsprechend bleibt die persönliche Freiheit bestehen, weil die Bedürfnisse der Individuen zwar vom Gemeinwesen vermittelt, aber darin nicht vollständig aufgehoben sind, da die Zufälligkeit der individuellen Willkür als Ausdrucksform des einzelnen Menschen die unaufhebbare Widersprüchlichkeit der Verfasstheit moderner Gesellschaft ist. Einerseits besteht die Freiheit des Individuums darin, sich und seine Welt als besonderes nach den eigenen, besonderen Moralvorstellungen zu gestalten. Nach der Logik hegelscher Darstellung wird jedoch deutlich, dass die individuelle Freiheit, die von der Freiheit der anderen begrenzt wird, nicht vorausgesetzt wird. Gegen Kants negatives Konzept von Freiheit geht sie umgekehrt aus den Rechtsverhältnissen hervor und wird durch sie begründet. Eine solche Freiheit, mag sie auch wie andere kontraktualistische, positivrechtliche oder historische Konzepte, eine empirische Berechtigung haben, geht dennoch „die Idee des Staates selbst nicht 97 98 99 100
Ibid. Ibid., § 208, 360. Ibid., § 184, 340. Ibid., § 181, 338.
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an“. „Die philosophische Betrachtung hat es nur mit den Inwendigen von allem diesem, dem gedachten Begriffe zu tun“101, aus dem Deduktion und Beweis der Gestalten von Recht und Sittlichkeit zu erfolgen haben. Andererseits impliziert dies, dass die Rechtsverhältnisse nicht nur individuelle Freiheit garantieren, sondern sie auch eingrenzen sollen. Freilich ist diese Aufgabe des Staates schon in der Logik seiner Schlussform eingeschrieben, weshalb sie auch nur im Lichte des Verständnisses vom Verhältnis der begrifflichen Darstellung zur Realität zu interpretieren wäre. Die bürgerliche Gesellschaft gestaltet sich als widersprüchliches Gebilde vor dem Hintergrund der Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, die sie durchzieht. Inhaltlich betrachtet sind es die Verhältnisse der Individuen untereinander, nach welchen sich das inhaltliche, materielle Band zwischen ihnen herstellt. Die allgemein verbindliche Form, in der die Befriedigung der Bedürfnisse zu erfolgen hat, ist keine andere als das Recht des Eigentums, das die abstrakte Form der Allgemeinheit und der Freiheit darstellt (s. o. Teil 2.3.). Sie wird im System der Bedürfnisse aufgehoben, d.h. sie gestaltet sich in besonderer Weise nach den geltenden sozialökonomischen wie rechtlichen Verhältnissen, während sie immer in ihrer Abstraktheit bewahrt wird. Jedes Individuum besondert sich innerhalb dieses Systems, das ihm gewährt, sich auf der Grundlage des durch Arbeit erworbenen Eigentums unter den vom Staat garantierten Rechten in der ihm eigenen, besonderen Weise zu entfalten. Der letzte Zweck der Individuen wird in der bürgerlichen Gesellschaft vom „Interesse der Einzelnen als solcher“102 bestimmt. Die Personen, die in der unmittelbaren, natürlichen Sittlichkeit der Familie leben und in die bürgerliche Gesellschaft eintreten, gehen ihren privaten Interessen nach, wobei sie die sittliche Idee nur in jeweils defizienter Form realisieren können. Wenn die Besonderheit der partikularen Zwecke auch in diesen Formen waltet, kann das in der Familie und im Privatrecht der bürgerlichen Gesellschaft lebende Subjekt nichtsdestotrotz die Besonderheit zur Allgemeinheit erheben, da diese in jene immer schon eingeschrieben ist. Dafür hält der Begriff der Gesinnung her. In der Gesinnung hebt sich das Individuum über seine Besonderheit, indem es sich der ihm zustehenden Pflichten bewusst wird, und verinnerlicht das Allgemeine, das in der Form des politischen Gemeinwesens die konkrete Gestalt der Freiheit darstellt. 4.3. Der Staat stellt die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“103 dar. Die Sitte ist sein unmittelbares Dasein, während er „an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen […] seine vermittelte Existenz“ habe. Hegel schärft noch einmal ein, dass das Selbstbewusstsein „Wissen und Tätigkeit“ ist, in denen sich die sittliche Idee verwirklicht. Die im Staat erlangte „substantielle Freiheit“ hat in der Gesinnung des Einzelnen statt. Die geleistete Vermittlung auf dieser letzten Stufe der Sittlichkeit stellt die 101 Ibid., § 258 Anm., 400. 102 Ibid,, § 258 Anm., 399. 103 Ibid., § 257, 398.
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„sich durchdringende[] Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit“104 her, in welcher Hegel die Vernünftigkeit des Staates behauptet sieht. In der verwirklichten sittlichen Idee als der konkreten Allgemeinheit, in der das vernünftige Staatsgebilde besteht, wird der politische Prozess als „das Wollen des an sich seienden gedachten Zweckes“105 ausgetragen. Die dadurch zustande kommende substantielle Einheit nimmt zwar in Anspruch, durch die schlussförmige logische Begründung der Rechtsform vernünftig zu sein. Dennoch: Mit der Verortung der dafür erforderlichen Vermittlung im Bewusstsein des Einzelnen als Träger des Geistes leistet die Figur der konkreten Allgemeinheit zweierlei: Zum einen wird der Rahmen politischer Vergesellschaftung normativ abgesteckt und zum anderen ein Spannungsfeld aufgemacht. Beide lassen Hegels Konzeption realer Freiheit hervortreten, an der sich auch die Tragweite ihrer dialektisch logischen Verfasstheit bemessen lässt. Die Forderung nach der schlussförmigen Fassung des Verhältnisses der bürgerlichen Gesellschaft zur Staatsform, wie in Teil 2.4. dargelegt, rückt die inhaltlichen Spannungen zwischen ihnen weiter ans Licht. Den Instanzen bzw. Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft kann die Vermittlung mit dem Staat nur dann überantwortet werden, wenn sie auch im Staat wirken. Besteht der Zweck etwa von Korporationen in der Vertretung der besonderen Bedürfnisse und Interessen der ihnen zugehörigen Einzelindividuen in der bürgerlichen Gesellschaft, kann dieser Zweck rechtens nur dadurch erfüllt werden, dass der einzelne Wille im Allgemeinen aufgeht. Sollen diese Institutionen, umgekehrt, auch im Staat wirksam sein, um die besonderen, partikularen Bedürfnisse und Interessen in ihm geltend zu machen, muss der Zweck in der konkreten Allgemeinheit eingeschrieben sein. Die dadurch erfolgte Umkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses, die zugleich das Kausalverhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat darstellt, lässt diesen nicht nur als Folge jener hervortreten, sondern ihn zugleich „als ihren wahrhafte[n] Grund“106 ausweisen. Die durch die Staatsform geleistete Begründung tilgt aber nicht die Negativität der bürgerlichen Gesellschaft. In der Wirklichkeit der sittlichen Idee, in welcher die Allgemeinheit und die Besonderheit identisch sind, bleibt die Negativität als aufgehobenes Moment erhalten. Sie enthält ein Potential, das wie Sprengstoff im Fundament des Staates eingelagert ist. Es erwächst aus den gerade konstitutiv vom Recht garantierten Eigentumsverhältnissen, die zur Anhäufung von Reichtum bei einigen und zur extremen Armut bei vielen anderen führen. Hegels Konzeption sieht Ungleichheit und Armut als quasi natürliche Konsequenzen des Systems der Bedürfnisse vor.107 Palliativmittel gegen solche Folgen der Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft versucht Hegel noch in seine Darstellung einzubauen, damit 104 105 106 107
Ibid., § 258 Anm., 399. Ibid., § 257, 398. Ibid., § 256 Anm., 397. In der bürgerlichen Gesellschaft „vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer“ auf der einen Seite, sowie „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klassen“ auf der anderen (ibid., § 243, 389).
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die Vermittlung der Sittlichkeit in sich gelingen kann.108 Denn die immanente Negativität der Besonderheit, die aufgrund privater Eigentumsverhältnisse ihr Recht als solche behauptet, widerstrebt dieser Vermittlung mit der Folge, dass durch „diese ihre Dialektik […] die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben [wird]“109. Äußerste Konsequenz dieser Dialektik ist die Entstehung sozialer Gruppen, die ihre Existenz durch Arbeit nicht mehr bestreiten können oder aber auch gar nicht brauchen. Im ersten Fall sind es verarmte Schichten, die auf dem Arbeitsmarkt keine Beschäftigung mehr finden können. Im zweiten sind es Individuen, die Reichtümer angehäuft haben, ohne dass sie für ihre Reproduktion arbeiten müssen. Für beide verwendet Hegel die Bezeichnung Pöbel aufgrund dessen, dass sie, wenn einmal aus dem Arbeitsverhältnis herausgefallen, keine rechtliche Gesinnung mehr entwickeln können. Die Armen verwerfen die Rechtsverhältnisse in abstrakter Weise, da sie sie für ihren Zustand verantwortlich halten. Die Reichen glauben sich über die Rechtsverhältnisse erhaben und meinen, über deren Regelungen hinweg agieren zu können, wenn sie Reichtum aneignen, da diese den Erwerb von Eigentum grundsätzlich gestatten. Diese der bürgerlichen Gesellschaft innewohnende Tendenz lässt sich nicht durch den Staat systematisch mit der sittlichen Totalität vermitteln, sondern nur durch seinen äußerlichen Eingriff bändigen. Die Entstehung des Pöbels stellt ein grundsätzliches Problem insofern dar, als er die Gesinnung, die zur Wirklichkeit des politischen Gemeinwesens gehört, verliert oder gar nicht entwickeln kann, da es sich außerhalb des Rechts weiß und stellt.110 Aber auch unterhalb dieses systematischen Problems muss die Rechtsphilosophie mit der Frage nach der Interessenvertretung Einiger zum Nachteil Anderer im Staat konfrontiert werden. Dagegen wäre ein Eingriff dennoch erforderlich, wo sich wirtschaftliche Macht zur politischen herauskristallisiert. Dass aber dies immer der Fall mit der Rechtsform ist, die mit den auf Lohnarbeit gründenden Produktions- und Eigentumsverhältnissen zusammenhängt, wäre wohl die am weitesten reichende Einsicht, die man Hegels Darstellung abgewinnen kann, auch gegen Hegels Intention. Er selbst hat versucht, die Konsequenzen aus dem Übergriff der Wirtschaft auf die Politik, die mit dem Liberalismus zusammenhängt, dadurch abzuwehren, dass er dem Staat abverlangt, die zügellose Ausübung der Individuen, Gruppen oder Ständen gewährten Rechte in die Schranke zu weisen. Dies ist freilich in seiner Konzeption von Vermittlung auch systematisch angelegt, während es ihm den Vorwurf, vormundstaatliche Ansichten vertreten zu haben, eingebracht hat. Die Rechtsphilosophie enthält aber eine Kritik an Liberalismus genauso wie eine scharfe Abgrenzung gegen Autoritarismus jeglicher Art. Der Staat muss zwar nach Hegel seinen Selbsterhalt sichern, darf aber nicht die Freiheiten der einzelnen Individuen 108 Vgl. ibid., §§ 239–242, 386–388. 109 Ibid., § 246, 391. 110 Als systematischen blinden Fleck der hegelschen Konzeption hat F. Ruda die mit der sittlichen Totalität nicht zu vermittelnde pöbelhafte Gesinnung ausgewiesen, die zu intern bedingten Verdorbenheit der sittlichen Verhältnisse führt. Siehe v.a. Ruda 2011, 37–46, 65–81, 95–116.
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einschränken. Dass er begriffen wird und als Subjekt sich denkt, bedeutet, dass die konkrete Allgemeinheit, die er ist oder sein soll, auch die Besonderheit als unterschiedlich von sich wisse. Wenn dieses Moment getilgt wird, fällt die Vermittlung, die das gesellschaftliche Verhältnis zusammenhält, auseinander. Deshalb durchzieht die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft auch den Staat, der angehalten ist, das Wohl aller, d.h. sein eigenes, aber auch das jedes Einzelnen zu sichern.111 Die vermittelte und vermittelnde Allgemeinheit als konstruktiver Grund der Einzelheit und ihrer Besonderungen unter den jeweils gegebenen Bedingungen der Gemeinschaftlichkeit ist die Signatur des hegelschen Gesellschafts- und Rechtsdenkens. Sie zeigt an, dass es immer schon intersubjektiv angelegt ist: Die sozialpolitische Welt wird nicht als Summe grundsätzlich voneinander unterschiedener Individualitäten zusammengesetzt, sondern sie bildet sich als Gefüge intern miteinander zusammenhängender geistiger Subjekte. Der Widerspruch, der die Bildung einer solchen, die Freiheit gewährenden, Welt durchzieht, wäre aber auf die Verhältnisse zurückzuführen und weniger auf deren kategoriale Durchdringung. Diese Verhältnisse zeichnen den Horizont von Hegels Zeit, die er in Gedanken zu fassen versuchte. Wenn sich eine Überschreitung dieses Horizonts in den darauffolgenden ein bis zwei Jahrzehnten abzeichnete, verdanken sich zumindest einige ihrer theoretischen wie praktischen Möglichkeiten Hegels rechtsphilosophischen Einsichten samt ihrer Kritik. Und sie kehren wieder, solange sich die Frage nach der Bildung von Verhältnissen der Freiheit stellt, die von den Grenzen der institutionalisierten Absicherung von Freiheit nicht zu trennen ist. Wenn die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat das sozialpolitische Signum der Moderne und die Gestaltung ihres Verhältnisses deren Einsatz ist, bringt die dialektische Strukturierung der sozialpolitischen Gehalte dieser Moderne ihre Errungenschaft, die zugleich ihr destruktives Potential bereithält, ans Licht. Das auf Lohnarbeit gründende System der Bedürfnisse, dem der Staat die freie Gestaltung nicht absprechen kann, weil er ansonsten sich selbst aufheben würde, vermag nicht, sich ohne staatliche Eingriffe zu reproduzieren. Ohne sie wären die von diesem System generierten Widersprüche zerstörerisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zum anderen aber indiziert die dialektisch konstruierte konkrete Allgemeinheit, gerade insofern in ihr die Vermittlung mit dem Bewusstsein über diese Widersprüche zusammenfällt, die grundlegende Problematik der modernen Welt. Sie ist zum Bewusstsein der Freiheit gekommen. Aber in ihren Verhältnissen ist die Umsetzung des Prinzips der Freiheit außer Kurs geraten. In diesem Bewusstsein besteht die enorme Leistung der modernen bürgerlichen Welt, die zugleich prekär bleibt, wenn sie nicht sogar grundsätzlich rückgängig gemacht wurde, weil sie von ihrer inneren Verfasstheit her ihr Prinzip nicht einzulösen vermag bzw. es nur im Sinne eines unendlichen Aufschubs, aber ohne Hoffnung auf Erfolg, in die eigene Realität einzubilden, trachten kann. In der Unwahrheit der Verhältnisse wäre demnach die Wahrheit von Hegels Rechtsdenken zu suchen. 111 Siehe die eingehende Diskussion von Arndt 2014.
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ZUM VERHÄLTNIS VON STAAT, RELIGION UND GESELLSCHAFT IN HEGELS RECHTSPHILOSOPHIE Michael Städtler Die religiöse Gesinnung der Individuen gilt Hegel als ‚Grundlage‘ staatlicher Sittlichkeit.1 Gleichwohl wird Hegels Staatsbegriff im Rahmen einer philosophischen Rechtslehre entwickelt, deren Argumentation ohne religiöse Elemente auskommt.2 Er ist „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“, indem in ihm „die persönliche Einzelnheit und deren besondere Interessen“ mit dem „Interesse des Allgemeinen“3 systematisch vermittelt sind: Im Staat sollen die Individuen ihre Interessen realisieren können und dadurch zugleich die allgemeine Form des Staates erhalten und befördern, die ihrerseits Voraussetzung gelingender individueller Interessenverfolgung ist. Der Staat scheint somit die systematische Organisation der Einzelzwecke zu einer durch rationale Arbeitsteilung und Kooperation bestimmten Allgemeinheit zu sein, in der die Einzelnen weder untergehen, noch in ihrer Interessenverfolgung sich wechselseitig lädieren. Diese Rationalität gilt Hegel als Legitimationsgrund des Staates, dieser sei die „Wirklichkeit des substantiellen Willens, […] das an und für sich Vernünftige“4. Wenn es Hegel nun gleichwohl für angemessen hält, die sittliche Gesinnung in der Religion zu verankern, hat es den Anschein, als traue er seinem eigenen Argument nicht;5 als sei das sittliche Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem im Staat zwar theoretisch klar, aber in der Realität gestört. Diese Störung der 1 2
3 4 5
Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm. Vgl. Siep 2015, S. 6ff. und Siep 2017, S. 214–217. Siep betont, mit Blick auf das hier zu diskutierende Problem der Gesinnung, dass nur eingeschränkt von einer säkularen Staatsbegründung bei Hegel zu reden sei. – In noch einer anderen Hinsicht ist ein religiöser Bezug grundlegend: Wie oben in der Einleitung zu diesem Band entwickelt, ist die Rechtsphilosophie Hegels Bestandteil eines logischen Systems, in dem die Form des ontologischen Gottesbeweises eine zentrale Rolle spielt. Als eine rein logische Form ließe sich dieses Vorgehen nur gegen Hegels explizite Selbstbeurteilung verstehen. Vgl. Hegel, Gottesbeweise, TWA 17, 347ff. und parallel dazu Hegel, Logik II, GW 12, S. 127ff. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 260. Ibid., § 258. Vgl. Jaeschke 2017, S. 252. Vgl. Siep 2010, S. 95. – Die Vereinbarkeit von säkularer Staatslehre und gesinnungsbildender Funktion der Religion bei Hegel ist oft mit einer in den 1820er Jahren zunehmenden Bevorzugung des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus erklärt worden. Vgl. Jaeschke 2009 und 2017. Vgl. zum Protestantismus als Religion der Moderne auch Hegel, Oratio, GW 16. – In der Tat hat Hegel diesen Vorzug des Protestantismus nicht erst in den späteren Vorlesungen, sondern bereits in den Grundlinien hinreichend klar behauptet. Hier soll dieser Aspekt nicht im Vordergrund stehen; es geht vielmehr darum zu zeigen, warum Hegel überhaupt an der religiösen Gesinnung festhält.
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Sittlichkeit, als deren Symptom die Funktion religiöser Gesinnung bei Hegel erst verstanden werden kann, hat ihren Grund in der bürgerlichen Gesellschaft und deren Funktion im Staat. Deshalb soll das Verhältnis von Staat und Religion im Folgenden vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Staat und bürgerlicher Gesellschaft erörtert werden. 1. GESELLSCHAFT 1.1. Gesellschaft und Staat In den frühen politischen Schriften hat Hegel die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer äußerlichen Sittlichkeit als das bloß negative, vom Staat zu unterwerfende und zu kontrollierende materielle Gegenstück politischer Sittlichkeit bestimmt.6 Äußerlich sei die Sittlichkeit der Gesellschaft, weil ihre Kollektivität das Prinzip in der Verfolgung partikularer Interessen der Einzelnen habe, die sich auf andere nur bezögen, um ihre eigenen Zwecke zu realisieren. Im Gegensatz dazu habe politische Sittlichkeit ein geistiges Prinzip. Zur Bearbeitung der materiellen Bedingungen politischen Lebens sei sie auf die Gesellschaft angewiesen, müsse sie aber kontrollieren. Diese Auffassung modifiziert Hegel später in zwei Hinsichten: Erstens wird die Gesellschaft als materielle Voraussetzung im Staat aufgehoben, zweitens wird die rein begriffliche frühe Konstruktion im Zusammenhang der beginnenden Industrialisierung und der ersten Krisen mit der historischen Erfahrung einer gründlichen Veränderung der Gesellschaft konfrontiert. Einerseits ist die Gesellschaft für Hegel der Ort, an dem die materiellen Voraussetzungen politischen Lebens arbeitsteilig und kooperativ erarbeitet werden, andererseits verläuft dies offensichtlich in Formen, die die sittliche Integration in Frage stellen, indem die Reichtumsproduktion systematisch Armut mitproduziert und die Armen von der selbstständigen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausschließt.7 Allein daraus ergibt sich der Sache nach das Desiderat einer expliziten Integration der Gesellschaftsbürger in den staatlichen Zusammenhang durch die subjektive Gesinnung. Das Konzept der Gesinnung, soweit diese nicht direkter subjektiver Ausdruck der objektiven Vernünftigkeit, Zustimmung zu einem Wahren, ist, sondern zusätzliche Gründe heranziehen muss, kann als ein Moment verstanden werden, das der Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft zur Desintegration8 entgegenwirken soll. 6
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Vgl. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 450. Im Tenor dieser frühen Auffassung schreibt offenbar Arndt 2009, S. 154, dem Totalitätsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft und der Religion könne „das politische Gemeinwesen nur begegnen, indem es sich von diesen Sphären absondert und in dieser Absonderung behauptet“. Aber wie sollte ein von der Gesellschaft abgesondertes Gemeinwesen aussehen? Anstelle der Absonderung wäre doch an eine aus politischer Vernunft begründete Veränderung der Gesellschaft zu denken. Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 243. Vgl. Pauly 2009, S. 16: Die Gesellschaft könne sich nicht „aus sich heraus vor der Selbstzerstörung bewahren“.
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Nach Hegels Vorstellung ist dieses subjektive Moment der Integration geradezu anthropologisch gesetzt, weil die Integration der Einzelnen in den Staat nicht durch bloß positives Recht oder durch Vertrag gelingen kann, sondern nur durch ein ‚substantielles‘ Moment, dessen Herkunft in familiären Bindungen liegt und über die Kooperationen als „zweite Familie“9 vermittelt in der ‚Gesinnung‘, dem zur Gewohnheit gewordenen sozialbezogenen Handeln, bestehen soll.10 Wird diese Gesinnung hingegen nicht anthropologisch, sondern als Kompensation sozialer Desintegration verstanden, so bietet Hegel selbst die entscheidende sozialphilosophische Diagnose an, derzufolge die Gesellschaft aus eigenen Prinzipien ihre Mängel nicht überwinden kann: „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“11
Hegel schließt daraus aber nicht auf die Notwendigkeit, die bürgerliche Gesellschaft vom Prinzip her zu verändern, sondern erblickt die Aufhebung ihrer Mängel im höheren Prinzip des Staates. Hegel beabsichtigt damit, politische Begriffe nicht im luftleeren Raum zu konstruieren, sondern sie mit historischer Erfahrung zu sättigen. Umgekehrt wird die Geschichte als Entfaltung von Vernunft verstanden, in deren Phänomenen an sich immer Vernunft enthalten sei.12 Eine bewusste planmäßige Veränderung der Gesellschaft scheint Hegel demgegenüber abstrakt und äußerlich zu sein. Mit Bezug auf die Marxsche Einsicht, dass es lebende Menschen seien, die Geschichte machten,13 hat Max Horkheimer in der These, dass in der Welt nur so viel Vernunft sei, wie Menschen in ihr verwirklicht hätten,14 diesen Anschein des Abstrakten jedoch als falschen Schein entlarvt und im Gegenteil die Forderung nach einer bewussten Veränderung der Gesellschaft als vernünftige Konsequenz gerade aus Hegels Historisierung der Vernunft erwiesen, womit er dann freilich den Rahmen des Hegelschen Denkens verlassen hat: Wenn Vernunft in der Geschichte überhaupt wirklich wird, dann sind die subjektiven Träger der Vernunft aufgerufen, die Resultate der bisherigen Geschichte kritisch zu prüfen und wo nötig praktisch zu revidieren. Die sittliche Gesinnung wäre dann kritische Gesinnung und könnte unmöglich in einem unreflektierten Bewusstsein gründen, wie es das religiöse ist. Hegels Begriff der Gesinnung hat direkte Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Religion: Wäre die Sittlichkeit mit ihren Momenten Staat und 9 Ibid., § 252. 10 Vgl. Wischke 2010, S. 141. Gesinnung ist eine Bewusstseinseinstellung, die nicht durch Reflexion erzeugt zu werden braucht, sondern die im Gegenteil immer eines Moments verinnerlichter Gewohnheit bedarf. Damit knüpft dieser Begriff an den alten Habitusbegriff an, der eine erworbene, aber nicht mehr verlierbare Haltung meinte und insofern ein Grenzbegriff zur Substanzbestimmung war. Gewissermaßen sind Habitus in die Substanz eingewachsene Eigenschaften, anders als Dispositionen, die auch wieder verschwinden können. 11 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 245, Sperrdruck von mir. 12 Dies ist ein Punkt, an dem Idealismus in Positivismus übergeht. Vgl. Iber 2010, S. 171. 13 Marx/Engels 1990, S. 28. 14 Vgl. Horkheimer 1987, S. 268.
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Gesellschaft ein Kollektiv, in dem tatsächlich alle Individuen bewusst und klar durchsichtig ihre individuellen Zwecke mit dem Allgemeinen verbinden könnten, so könnte sich daraus unmittelbar die sittliche Gesinnung als Einsicht in die Rationalität des kollektiven Zwecks ergeben. In einer Gesellschaft, in der alle Realisierung und Begrenzung von Zwecken vernünftig erkennbar wäre, bedürfte es keiner religiösen Gesinnung zum Zusammenhalt. Umgekehrt ist religiöse Gesinnung durchaus in der Lage, subjektive Zustimmung auch dort zu erzeugen, wo objektiv irrationale, herrschaftliche Verhältnisse bestehen,15 weil das religiöse Bewusstsein in seinem Transzendenzbezug der Form nach absolut hierarchisch, d.h. herrschaftsaffin ist. Hegels Beachtung der individuellen Gesinnung und der Notwendigkeit, sie eben als individuelle Gesinnung, bzw. die Individuen qua Gesinnung in den Staat zu integrieren, nimmt im Laufe seiner Berliner Zeit, von Vorlesung zu Vorlesung, zu. Dem liegt zugrunde, dass er die Vereinzelung der Menschen selbst zunehmend als notwendiges Produkt der bürgerlichen Gesellschaft begreift. So ordnet er dem Staat den citoyen zu, der Gesellschaft den bourgeois.16 Überhaupt werden auch seine Bemerkungen zur bürgerlichen Gesellschaft umfangreicher und präziser, und auch ihre Beurteilung ändert sich. Dabei umfasst die bürgerliche Gesellschaft keineswegs nur Ökonomie,17 aber deren substantielle Bedeutung für die Gesellschaft registriert Hegel durchaus. Viele Motive aus dem Umkreis der Industrialisierung, vor allem die Abstumpfung durch geistlose Tätigkeit infolge innerbetrieblicher Arbeitsteilung, sind seit den Notizen zur Enzyklopädie (1817) vorhanden, aber die Armut und vor allem die Verelendung infolge von Industrialisierung spielen in der Vorlesung über Naturrecht von 1817/18 eher eine untergeordnete Rolle. Zudem besteht in dieser Zeit noch eine stärkere Diskrepanz, beinahe eine Opposition zwischen Gesellschaft und Staat: Jene soll nicht in diesen übergehen, sondern der Staat kann die Gesellschaft nur integrieren, wenn er sie immer dann, wenn der ihr wesentliche Partikularismus sich behaupten will, eher abstrakt seinem Prinzip der Allgemeinheit unterordnet: „Der Staat hat die Zwecke des Notstaats nicht in sich einwurzeln zu lassen, sondern sie in seine Substanz immer zurückzuführen.“18 Bereits in den Notizen, dann aber in den Grundlinien wird die Gesellschaft als Gesellschaft zum integralen Moment des Staates. Der Staat unterwirft sie nicht seinem Prinzip der Sittlichkeit, sondern sie gilt Hegel schon selbst als Vorstufe der Sittlichkeit, die aus eigenem Antrieb in den Staat übergeht und in ihm als Gesellschaft seine materielle Substanz bildet. 1822/23 heißt es dann, im Staat seien Familie und Gesellschaft „vernünftig gemacht“19. 15 16 17 18 19
Vgl. Marx 1981c, S. 357f. Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts (1822/23), Ilting Bd. 3, S. 580. Vgl. Jaeschke 2003, S. 387f. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), V 1, § 128. Hegel, Philosophie des Rechts (1822/23), Ilting Bd. 3, S. 722. Vgl. auch ibid., S. 638.
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Mit dieser Betonung der Gesellschaft trägt Hegel den massiven technischen und ökonomischen Veränderungen Rechnung, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts, forciert aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgehen und die hier kursorisch in Erinnerung gebracht werden sollen, um den Gegenstand ‚Gesellschaft‘ historisch und auch systematisch zu konturieren. 1.2. Materielle Elemente gesellschaftlicher Dynamik um 1800 Mit der Erfindung der Werkzeugmaschine, desjenigen Teils der Maschinerie, der den Arbeitern das Werkzeug aus der Hand nimmt und die Produktion von den Grenzen menschlicher Geschicklichkeit unabhängig macht, beginnt im 18. Jahrhundert die industrielle Revolution.20 In direkter Konsequenz wird der Mensch auch als Antriebskraft des Mechanismus zufällig, zugleich machen Verbesserungen der Dampfmaschine diese industriell nutzbar. Die Verbesserung der Transmissionsmechanismen schafft die Möglichkeit, viele Werkzeugmaschinen gleichzeitig von einer Antriebsmaschine bewegen zu lassen; das Fabriksystem entwickelt sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Menschliche Arbeitskraft wird zwar nicht überflüssig, aber sie wird von den Konjunkturen der Industrie abhängig. Die dadurch auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft geschaffene systematisch organisierte Wirtschaftskraft kann Hegel nicht mehr als Ausdruck gesellschaftlichen Partikularismus’ abtun, dessen Selbstbehauptung der Staat als Gewalt entgegentreten könne. Für Hegel entsteht die Aufgabe, gerade diese verselbstständigte Gesellschaft im Staat aufzuheben.21 Nun registriert Hegel durchaus die katastrophalen Folgen der Industrialisierung. Während in den frühen Dokumenten vor allem die Abstumpfung der Arbeiter durch arbeitsteilige Prozesse im Kontrast zur Produktivitätssteigerung bemerkt wurde, ist es seit den Grundlinien zunehmend die Erwerbslosigkeit mit allen Folgeerscheinungen, die als direkte Folge der Industrialisierung aufgefasst wird. In den Vorlesungen von 1821/22, 1822/23, besonders aber 1824/25 geraten die Ausführungen zum System der Bedürfnisse, zur Polizei und zur Korporation zu umfangreichen Referaten über industrielle Kapitalisierung und die daraus folgenden sozialen Schwierigkeiten, bei deren Darstellung und Lösung Hegel oftmals in der Aufzählung von Widersprüchen steckenbleibt.22 Zu dem von Anfang an präsenten Beispiel der Produktivkraftsteigerung in der Stecknadelfabrikation, das Hegel Adam Smith’ Wealth of Nations (1776) verdankt,23 tritt bald die Beobachtung des Zusammenhangs von Industrialisierung und Arbeitslosigkeit, von Bevölkerungsentwicklung und Verelendung, wie er in den Jahren vor Erscheinen der Grundlinien von David Ricardo und Thomas R. Malthus diskutiert wird. Erst mit Ricardos 20 Vgl. Marx, Kapital I, S. 396. 21 Vgl. hierzu Jaeschke 2003, S. 371f. 22 Arndt 2014, S. 23, nennt die Korporationen „Palliativmittel gegen die Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft“. 23 Vgl. Smith 2009, Buch I, Kapitel 1.
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Principles of Political Economy and Taxation (1817) wird die empirische Erscheinung der Armut, wie sie bis dahin vor allem in England, dem Vorreiter der industriellen Revolution, zu beobachten war, zu einem wissenschaftlich darstellbaren Merkmal der modernen bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, und zwar als mögliche direkte – paradoxe – Folge der Produktivkraftsteigerung durch Industrialisierung.24 Malthus widerlegt in seinen Principles of Political Economy (1820) die gängige Auffassung, dass Bevölkerungswachstum zu vermehrtem Wohlstand führe. Im Gegenteil müssten unter bestimmten Bedingungen Massenarbeitslosigkeit und Armut die Folge sein.25 1.3. Antizipation und Grenzen einer Theorie der Gesellschaft bei Hegel In der Vorlesung über Philosophie des Rechts von 1824/25 äußert Hegel sich zum Eigentum als dem ökonomischen Prinzip der Verarmung, besonders unter dem Aspekt der Kapitalkonzentration; den ‚Kapitalisten‘ kennzeichnet Hegel dadurch, dass er über Mittel verfüge, aber zur Allgemeinheit nichts beitrage.26 Diese Beobachtung bleibt aber theoretisch unverarbeitet. Hegel hat keine allgemeine Gesellschaftstheorie des Kapitalismus; eine solche ist auch vor der durchgesetzten Industrialisierung, zumindest in einem Land, nicht möglich, weil erst dadurch ein allgemeiner systematischer Zusammenhang wirtschaftlichen Handelns erzeugt wird, der adäquater Gegenstand theoretischer, d.h. allgemeingültig notwendiger gesetzmäßiger Aussagen sein kann: Das wissenschaftliche Problem der politischen Ökonomie sei es, „aus der unendlichen Menge von Einzelheiten […] die einfachen Principien der Sache“27 herauszufinden. Die notwendigen geschichtlichen Voraussetzungen dafür hatte indes Marx 1867 in England, und von dort aus ließ sich auch die Dynamik der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise darstellen. Die Widersprüche, um deren ökonomische Erklärung Marx sich bemüht, bleiben bei Hegel im Stadium der Beschreibung:28 24 Ricardo korrigiert hier seine zuvor stärker an Smith orientierte Industrialisierungsthese; nun ist er „davon überzeugt, daß die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Maschinen den Interessen der Arbeiterklasse oft sehr schädlich ist […], daß dieselbe Ursache, die das Reineinkommen eines Landes vermehrt, gleichzeitig eine Überbevölkerung herbeiführen und die Lage des Arbeiters verschlechtern kann. […] [U]nd die Lage der arbeitenden Klassen wird elend und armselig sein.“ Ricardo 1972, S. 287 und 289. 25 Vgl. Malthus 1986, S. 250ff. Auch auf die Folgen der Industrialisierung bezieht sich Malthus ibid., S. 281ff. 26 Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 494, 499. 27 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 189 Anm. Hegel verweist hier auf A. Smith, J.B. Say und D. Ricardo. 28 Vgl. Arndt 2014, 23: Hegel liefere eine „erstaunlich hellsichtige Diagnose, weiß aber nicht wirklich eine Therapie“. Dies hat einen Grund darin, dass die Diagnose noch nicht theoretisch begriffen wird.
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„Die bürgerliche Gesellschaft ist zu arm einerseits, andererseits ist sie zu reich. Die Armut besteht darin, daß zuviel produziert ist – zu reich. Es sind die Arbeiter, die zu arm sind – doch produzieren sie. Es ist zuviel Kapital vorhanden, d.h. Produktivität.“29
Reichtum besteht demnach nicht in der Menge der verfügbaren Güter, sondern paradoxerweise darin, dass die Arbeiter sich diese nicht leisten können und so durch mangelnde Kaufkraft den Mangel als Überfluss erscheinen lassen. Hegel folgert, man müsse noch mehr produzieren und die Produkte anderswohin verkaufen, damit die Arbeiter viel beschäftigt würden und über ihr wachsendes Einkommen wieder partizipieren könnten. 1824/25 stellt Hegel dann fest, dass alle Lösungsversuche in sich widersprüchlich sind. Almosen nähmen die Freiheit, Überproduktion vermehrte die Arbeitslosigkeit wieder. Das eher hilflose und nicht weniger widersprüchliche Resultat lautet: „Das beßte Mittel ist die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie so auf den Bettel anzuweisen. […] Betteln schreckt ab, lieber arbeiten die Meisten, […] ehe sie dazu ihre Zuflucht nehmen.“30 Philosophisch hat Hegel das Problem, die sich massiv durchsetzende bürgerliche Industriegesellschaft systematisch in eine als Sittlichkeitssystem angelegte Rechtslehre zu integrieren. Die Gesellschaft kann nicht mehr als bloße Konkurrentin des Staates begriffen werden, dazu bestimmt sie zu sehr die politischen Verhältnisse: Der Staat hänge ohne Gesellschaft in der Luft.31 Außerdem steht hinter dem Problem der Gesellschaft die an Kants Religionsschrift anschließende Einsicht: „Der Mensch ist Selbstzweck aber nur in der Vermittlung durch andere Individuen“32. Deshalb wird die bürgerliche Gesellschaft in den Staat hineinreflektiert, der sittliche Staat wird insoweit bürgerlicher Staat.33 Zwar affirmiert Hegel nicht, wie Marx unterstellt, den bestehenden Staat in Bausch und Bogen, aber durch die Verbindung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft gerät der vernünftige Staatsbegriff der Grundlinien zugleich zum bürgerlichen Staat, und diesen Widerspruch trägt er unter anderem in dem spezifischen Begriff der Gesinnung aus, aber auch in seiner weiteren inneren Verfassung.34 29 Hegel, Philosophie des Rechts (1819/20), S. 147. Selbst wenn Ringier hier unzureichend mitgeschrieben hätte, so finden sich doch ganz parallele Widersprüche auch in Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 611. – Iltings These, Hegel sei ein „weit vorausschauende[r] Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft“ gewesen, ist daher falsch. Hegel überschaute nicht viel mehr, als was unmittelbar vor ihm lag. Vgl. Ilting 1974b, S. 71. 30 Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 612. Auch dieses Mittel, die Armenfürsorge im Interesse der Armen einzustellen, wird von Ricardo und Malthus diskutiert. Vgl. Neumark 1972, S. 15f. 31 Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 628. 32 Ibid., S. 482. Vgl. Kant, Religion, B 135f. 33 Hierin dürfte ein Grund liegen für die von Jaeschke bemerkte Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die intendierte Dominanz des Staates. Vgl. Jaeschke 2003, S. 389f. 34 Vgl. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 204ff., 324f. und hierzu Iber 2010, S. 169–189. Für Siep 2017, 207, ist Hegels Gesellschaftsbegriff dadurch modern, dass er vom Staatsbegriff funktional differenziert wird. Es ist aber andererseits zu erinnern, dass Hegel den funktionalen Zusammenhang von Staat und Gesellschaft nicht durchschaut. Die Vorstellung, der Staat sei Regulativ der Gesellschaft, geht von einem rein politisch gedachten Staatsbegriff
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Gleichzeitig nahm die politische Bedeutung der Religion im modernen Staat nicht ab zugunsten reflektierter Bewusstseinsformen, sondern sie nahm wieder zu.35 Dieser Vorgang ist nur einerseits reaktionär; andererseits hat er auch – unbewusst und daher ziellos – ein Moment des Protestes gegen die zunehmend als fremd empfundenen – wenngleich nicht verstandenen – Verhältnisse der sich modernisierenden Gesellschaft.36 Hegel weist der Religion zunehmend rechtsphilosophisch den Ort zu, den sie in der Gesellschaft faktisch behauptet oder wieder gewinnt: Sie behauptet sich als vermittelnde Instanz von Gesellschaft und Staat, wird zum sozialen Kitt; allerdings bemüht Hegel sich darum, sie nicht zum sachlich bestimmenden Prinzip zu machen, wie jene Romantiker, die eine Einheit von Kirche und Staat unter Leitung der Kirche wünschen.37 Hegel erkennt indes inzwischen, dass archaisierende Vorstellungen von einem sittlichen Staat, zu dem durch Rücknahme der bürgerlichen Entwicklung zurückzukehren wäre, ihrerseits Abstraktionen sind.38 Gegen den absoluten Vorrang der Sittlichkeit, wie Hegel ihn teils noch 1817 vertritt, entwickelt er eine Konzeption der bewussten politischen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Allerdings unterschätzt er dabei deren eigene Dynamik; diese macht sich geltend in den vielen Problemen und Widersprüchen, die Hegel nur registrieren kann als im Staat aufzuhebende Schranken des Sittlichen. Der Staat reguliert hier aber letztlich nicht, sondern wird – z.B. durch die Organisation von internationalen Märkten und gar die Eroberung von Kolonien – selbst zum Mittel ökonomischer Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft.39 Die Absicht der politischen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft führt somit nicht auf eine sittliche Gesellschaft, sondern auf einen bürgerlichen Staat. Dessen Entfremdung soll zwar nicht durch seine Rückführung in einen religiösen Staat aufgehoben werden, aber die religiöse Gesinnung kann doch als Komplement des bürgerlich entfremdeten Staates verstanden werden. Diese Funktion der Religion ist mit Recht als Geist geistloser Zustände bezeichnet worden.40 35 36 37 38 39
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aus und bleibt insofern vormodern; der Staat wird nicht als substantiell gesellschaftlicher Staat verstanden. Vgl. Jaeschke 2003, S. 395, 397. Vgl. auch Pöggeler 1983, XXXIf. Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 477f., bezieht sich auf Rousseaus Zivilisationskritik. Vgl. Westphal 1999, S. 234–240. Vgl. Pöggeler 1983, S. X, XXIIff., XXXVIIff. James 2017, 14 scheint nahezulegen, dass der Staat in solche funktionelle Abhängigkeit von der Gesellschaft erst neuestens getreten sei; tatsächlich entwickelt sich der moderne Staat seit dem ausgehenden Mittelalter in dieser Funktion. Vgl. Jaeschke 2003, 389f.: „Inzwischen […] scheint es, als habe die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ das ihr von Hegel zugewiesene Unterordnungsverhältnis gegenüber dem Staat umgekehrt und auch diesen für die Durchsetzung ihrer Interessen instrumentalisiert – und zumal unter der Vorspiegelung der Befreiung des Individuums von Herrschaftsverhältnissen.“ Vgl. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S. 378.
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1.4. Konsequenzen für den Staatsbegriff Hegels Staatsbegriff ist nicht die Vollendung der Sittlichkeit.41 Er ist nicht die Wirklichkeit vernünftiger Freiheit, die Hegel intendiert. Die Vermittlung von allgemeinem Zweck und individuellen Absichten durch die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft stellt nicht das bonum commune auf der Basis individueller sittlicher Subjekte wieder her, sondern koordiniert das gesellschaftliche Handeln unter dem Zweck privaten Profits in der Form der Konkurrenz. Dies ist nicht nur deshalb irrational, weil dabei Kräfte verloren gehen, die durch rationale Kooperation gewonnen werden könnten, sondern auch weil dieser ökonomischen Ordnung ein Herrschaftsverhältnis zugrundeliegt: Mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln ist die private Aneignung des Produkts und mit dieser die Ausrichtung der Produktion auf den Zweck der Kapitalverwertung gesetzt; daraus ergeben sich Funktionen und Sachzwänge, die das gesellschaftliche Handeln bestimmen. Die Menschen verfügen innerhalb dieser Ordnung allenfalls verstandesmäßig, nicht aber durch praktische Vernunft über die Zwecke ihres Handelns; sie sind unfrei. Die ‚konkrete‘ Allgemeinheit des Staates setzt auch in Hegels eigener Konzeption ihren Inhalt nicht selbst, ihrer Form gemäß, sondern sie überformt funktional institutionelle Gehalte der bürgerlichen Gesellschaft, die ihrerseits „die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen aus[machen] und […] darum die feste Basis des Staats, sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben“42 sind. Die bürgerliche Gesellschaft vertritt im Staat dann mehr als bloß das notwendige gegenständliche Moment, das Andere der sittlichen Form des Staates: Sie repräsentiert innerhalb des Staates durch die in den Staat eingebrachten Institutionen die von Hegel zuvor als defizitär ausgewiesene sittliche Gestalt der gesellschaftlichen Organisation der gegenständlichen Lebensbedingungen. Nun hat Hegel die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft, auch innerhalb der bestehenden Staaten, durchaus aufmerksam beobachtet.43 So sieht er zwar die Brisanz unausgeglichener gesellschaftlicher Verhältnisse, aber er geht davon aus, dass ihr durch Verfassungs- und Staatsgesetzgebung zu steuern sei. Die Notwendigkeit oder nur die Möglichkeit einer bewussten vernünftigen Neuorganisation der Gesellschaft zieht Hegel nicht in Betracht. 41 Vgl. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 320: Der Staat „ist nicht die verwirklichte Macht. Er ist die gestützte Ohnmacht“; sowie Marx, Judenfrage, MEW 1, S. 358: „[D]er wirkliche Staat, bedarf nicht der Religion […] weil in ihm die menschliche Grundlage der Religion in weltlicher Weise ausgeführt ist“. Vgl. Iber 2009, S. 141 und Siep 1992a, S. 324. 42 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 265. Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft, insbesondere zur Bedeutung der Ökonomie für den Staat vgl. m.v.w.N. Wischke 2010, S. 140–146. Die Differenzierung von Not- und Verstandesstaat und sittlichem Staat scheint der Philosophiegeschichtsvorlesung zufolge keineswegs strikt zu sein. Hegel beschreibt dort die staatliche Sittlichkeit in Analogie zur industriellen Arbeitsteilung. Vgl. Hegel, Geschichte der Philosophie II, TWA 19, S. 227f. 43 Auch hat er sie polemisch kommentiert, beispielsweise in Hegel, Grundlinien, GW 14.1, §§ 140 und 244f., deutlicher aber noch in Hegel, Reformbill, GW 16, S. 403f.
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Allein durch staatliche Reformen in der Gesetzgebung sollen die sozialen Verhältnisse ausgeglichen werden. Nun stellen die institutionell manifestierten Verhältnisse der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft ein System der Abhängigkeit aller voneinander dar.44 In dieser ‚relativen Totalität‘45 bestehe die Basis des Staates schon deswegen, weil sie die Form der kooperativ organisierten arbeitsteiligen Reproduktion der Gesellschaft sei: Alle sind Produzenten bestimmter Produktsorten oder von Teilprodukten, und nur über die am Markt vermittelte Beziehung aller zueinander kann jeder Einzelne sich und die Gesellschaft erhalten. Hegel kritisiert nun diese relative Totalität, weil ihre Vermittlung nicht aus einem vernünftigen Prinzip, sondern durch „Zufälligkeit und Willkühr“46 erfolge. Aber dieses „Prinzip der Besonderheit geht eben damit, daß es sich für sich zur Totalität entwickelt, in die Allgemeinheit über“47; diese Allgemeinheit ist aber keine sittliche Identität, sondern eine äußerliche Verbindung aller Besonderen, denen das Allgemeine nicht etwa Zweck ist, sondern Mittel, um ihre partikularen Interessen wirksam durchzusetzen: „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Thun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhanges machen.“48
Entgegen Hegels Absicht, die auf die systematische Vermittlung der Einzelnen zum Allgemeinen geht, wird hier zunächst die Instrumentalisierung des Allgemeinen für partikulare Interessen ausgedrückt.49 Der Übergang des Prinzips der Besonderheit zu einem Allgemeinen ist daher keineswegs bloß die äußerliche Regelung der Partikularinteressen durch die Rechtsordnung des Not- und Verstandesstaates. Es handelt sich um eine Allgemeinheit von eigener Art: Das Prinzip der Partikularität der Interessen avanciert aus eigner Dynamik zum Allgemeinen. Das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist die allgemeine soziale Assoziation der bürgerlichen Subjekte aus dem ihr entgegengesetzten Prinzip allgemeiner Dissoziation. Dessen Erscheinungsform ist die Vermittlung der bürgerlichen Beziehungen durch Konkurrenz. Ein gemeinsames Resultat 44 45 46 47 48 49
Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 183. Vgl. ibid., § 184. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 185. Ibid., § 186. Vgl. ibid., § 187. Dieser Gedanke gehört von Anfang an zu Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und wird mit zunehmender Deutlichkeit vorgetragen. Vgl. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), V 1, §§ 94, 121; sodann: Hegel, Philosophie des Rechts (1822/23), Ilting Bd. 3, S. 567 und 572f. Allerdings sieht Hegel hier liberalistisch „das Wunderbare“ (S. 614), dass die Einzelnen bloß glaubten, egoistisch zu agieren, in Wahrheit aber die Zwecke anderer realisierten, so dass „die Selbstsucht für die Allgemeinheit sorgt“ (S. 616). In Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, formuliert er nüchterner und widmet dann dem Phänomen der Konkurrenz bemerkenswert viel Raum. Vgl. z.B. S. 495, 624ff.
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wird in diesen Beziehungen dadurch erzeugt, dass der Einzelne gegen die Anderen seine Interessen durchzusetzen versucht. Kooperation als materielle Basis von Sittlichkeit wird in solchen Beziehungen nicht vernünftig, sondern bloß zufällig, bestenfalls strategisch, erzeugt. Die gesellschaftliche Allgemeinheit der zufälligen Einzelinteressen besteht nun nicht bloß in äußerlichen Rechtsformen. Diese reflektieren vielmehr die gesellschaftlich institutionalisierten ökonomischen Handlungszwänge. Nur weil Hegel die Eigendynamik der bürgerlichen Gesellschaft nicht absehen kann, vermag er diese als geeignete Basis des Staates anzusehen, der dann bloß ihre Abstraktheit überwinden müsse. In der Vorlesung zur Rechtsphilosophie von 1819/20 heißt es, die verstandesmäßige Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft sei bereits eine Art ‚Vorschein‘ der Vernunft des Staates, ja „oft die Vernünftigkeit selbst“50. Im Staat solle sich die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr der vorbürgerliche Staat ‚fortbilden zu seiner höheren Notwendigkeit‘. Auch in der Vorlesung von 1824/25 verschwimmen in der Bestimmung der Korporation die Grenzen von Staat und bürgerlicher Gesellschaft.51 Hegel bezweckt damit – in Abgrenzung zu abstrakten Staatsbegriffen – Gesellschaft als das immanente materielle Moment des Staates selbst zu entwickeln.52 Tatsächlich aber trägt er dadurch die schlechte Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft in die ‚ideale‘ Allgemeinheit des Staats ein, die dann ihrerseits verstandesmäßig bleibt.53 Aufgrund dieses substantiellen Mangels an Selbstbestimmung gelingt es Hegel nicht, in der Konstruktion der Staatsidee vor-rationale Gesinnungen durch politisches Selbstbewusstsein zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund kann nun die Bedeutung der Religion für Hegels Staatsverständnis erklärt werden. 2. RELIGION UND STAAT Nachdem Hegel in der Berner Zeit noch ähnlich wie Kant in der Religionsschrift54 die praktische Funktion von Religion darin gesehen hat, dass „unsere Pflichten und die Gesetze einen stärkeren Nachdruck dadurch erhalten, daß sie als Gesetze Gottes uns vorgestellt werden“55, vertritt er in seinen frühen politischen Schriften die These einer strikten Trennung von Staat und Religion. Die Einheit des Staates sei nach der Konfessionsspaltung nur durch religiöse Neutralität und Reduktion auf die 50 51 52 53
Hegel, Philosophie des Rechts (1819/20), V 14, S. 113. Vgl. Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 619ff. Vgl. ibid., S. 628. Karásek 2009, S. 71f. irrt darin, dass der § 258 die Aufgabe habe, die konkrete Verschränkung von Einzelnen und Allgemeinem im Staat zu entwickeln; tatsächlich geht es dort nur um Bewusstseinsverhältnisse, deren materielle gesellschaftliche Grundlagen im Staatsabschnitt gar nicht mehr explizit thematisiert werden. 54 Vgl. Kant, Religion, B 139. 55 Hegel, Volksreligion und Christentum, TWA 1, S. 11.
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formale rechtliche Einheit zu erhalten.56 Diese Argumentation ist rein staatstheoretisch. Je stärker Hegel seit 1817 die bürgerliche Gesellschaft rechtsphilosophisch berücksichtigt, desto deutlicher tritt im Staatsrecht das Bedürfnis einer Gesinnung überhaupt und einer religiösen insbesondere hervor. Die theoretische Beachtung der bürgerlichen Gesellschaft selbst dürfte auf deren reale Verselbstständigung reagieren: Sie wird um die Jahrhundertwende zum politischen Problem, indem sie ungeachtet politischer Entwicklungen massive Krisen hervorbringt, in denen der soziale Zusammenhalt aus der Gesellschaft heraus in Frage gestellt wird, was die politische Stabilität vor völlig neue Probleme stellt.57 Geht Hegel noch im Naturrechtsaufsatz davon aus, dass die Gesellschaft das ewig Negative des Staates sei, das von ihm äußerlich kontrolliert werden müsse,58 drängt die Verselbstständigung der gesellschaftlichen Krisendynamik dazu, Gesellschaft und Politik in ein Momentverhältnis zu setzen. Da die ökonomischen Gesetze, die die bürgerliche Gesellschaft zum Antagonisten vernünftiger Sittlichkeit machen, zu dieser Zeit theoretisch noch unverstanden sind, ist keine grundsätzliche Kritik denkbar; dass gerade diese historische Gestalt von Gesellschaft der sittlichen Funktion gesellschaftlicher Produktion nicht gerecht wird, bleibt unerkannt. Hegel will der materiellen Bedeutung der gesellschaftlichen Sphäre Rechnung tragen, indem er eine Reihe von palliativen Maßnahmen gegen Armut und Krise entwickelt. Auch der Staat, in dem doch die sittliche Äußerlichkeit der Gesellschaft aufgehoben sein soll, überwindet diese nicht vom Prinzip her, sondern ist auf – in letzter Instanz religiöse – Gesinnung verwiesen. So kommt der Religion im Abschnitt über den Objektiven Geist in der Enzyklopädie von 1817 noch keine besondere Bedeutung zu. Ebenso wenig unterscheidet Hegel dort explizit ein allgemeines integrierendes Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft von einem solchen des Staates. Beides wird unter dem Begriff der Sittlichkeit abgehandelt, deren Integration eine historische Bewusstseinsstufe sei.59 Überlegungen sowohl zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in bürgerlich entwickelten Gemeinwesen60 als auch zu einer sittlichen Funktion der Religion finden sich bereits mehrfach in den späteren Notizen Hegels zur Enzyklopädie von 1817.61 Auch in den Vorlesungsnachschriften kommt der Religion dementsprechend wachsende Bedeutung zu. Die Frage nach der Religion als Grund des Staates wird in den frühen Vorlesungen nur am Rande und entweder ablehnend oder doch sehr 56 57 58 59
Vgl. Hegel, Verfassungsschrift, GW 5. Vgl. Schick 2009. Vgl. Hegel, Naturrechtsaufsatz, GW 4, S. 450. Darin besteht noch eine Reminiszenz an die frühen sittlichen Entwürfe, wenngleich der „tragende Begriff“ der Rechtslehre insgesamt „nicht mehr, wie in Jena, der Begriff der ‚Sittlichkeit‘, sondern der des ‚Geistes‘“ ist. Jaeschke 2003, S. 367 und 385. 60 Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1817), GW 13, §§ 433 und 437. 61 Die Überlegungen zur Religion stehen dabei am Ende des Sittlichkeitsabschnittes und am Anfang des Kunstabschnittes, bilden also auch dort gewissermaßen einen Übergang vom objektiven zum absoluten Geist. Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1817), GW 13, §§ 451f., 454 und die Notiz zu § 455.
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vorsichtig behandelt. Das Prinzip der staatlichen Allgemeinheit ist dort vor allem der Volksgeist, der sich aus sittlichen Quellen speist, die 1817/18 noch recht antikisierend durchklingen, etwa in der Betonung der Funktion politischer Tugenden für die Verbindung von Staat und Gesellschaft. Der Staat, den Hegel hier konzipiert, beabsichtigt noch nicht Vermittlung und Integration gesellschaftlicher Elemente, sondern deren Kontrolle: Nichts dem Staat Äußerliches darf in ihn einwurzeln, sondern alles Derartige muss von ihm in seine Substanz zurückgeführt werden.62 So müsse eine Kirche im Staat sein, weil nach der verstandesmäßigen Trennung von Staat und Kirche „das Bedürfnis wieder eingetreten“63 sei; aber Kirche und Staat dürften nicht in Gegensatz geraten; sonst überwiege das Prinzip des Staats. So könne die Religion „eine Form des Grundes des sittlichen Lebens genannt werden, aber sie ist nichts weiter als das Gefühl und die Anschauung dieses Grundes“64. Ebenso gilt Religion auch 1819/20 als „notwendig in einem Volke“65, auch als wesentliches Moment des Staats, der seinerseits „selbst die Offenbarung Gottes“66 sei; aber die Religion ist doch nicht der eine letzte Grund des Staates. Dagegen betont Hegel dessen Vorrang als gewusster Wahrheit gegenüber der religiös bloß empfundenen Wahrheit. Daraus folgt aber durchaus, dass der Staat die Religion sich nützlich machen solle.67 Doch schon in den Grundlinien wird der Religion der Grundlagencharakter nur insofern noch bestritten, als sie beanspruchen könnte, Grundlage der formalen oder inhaltlichen Bestimmung des Staates, also objektiver politischer Maßstab zu sein.68 In subjektiv gesinnungsbildender Hinsicht gewinnt sie hingegen an Bedeutung, und zwar obwohl Hegel an der Bestimmung des religiösen Bewusstseins als bloß anschaulich und empfindsam festhält. Diese Form des Bewusstseins selbst wird nun zunehmend zu einem Moment der sittlichen Integration des Staates. Im allgemeinen Teil des inneren Staatsrechts sei nun „der Ort, das Verhältniß des Staats zur Religion zu berühren“69. Der § 270 ist im Zusammenhang mit den §§ 268 und 269 zu sehen, in denen von Gesinnung, Patriotismus und Organismus die Rede ist. Diese Bestimmungen zur Integration der Individuen in den 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), V 1. Ibid., § 158. Ibid., § 71. Vgl. Pöggeler 1983, S. XLIV. Hegel, Philosophie des Rechts (1819/20), V 14, S. 158. Ibid., S. 160. Vgl. ibid., S. 161. Das ist die Bedeutung der Wendung, die Religion sei als göttlicher Wille die Grundlage von Sittlichkeit und Staat, und „zugleich nur Grundlage“ (Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm.). Dies hebt hervor: Vieweg 2012, S. 465–474. Der Grundlagencharakter der Religion selbst wird kaum kommentiert. Vgl. Jaeschke 2017, S. 251. Jaeschke 2003, S. 396, betont, dass Religion nur dann Grundlage des Staates sein könne, wenn sie sich in die staatliche Sittlichkeit einfüge (was letztlich vor allem dem Protestantismus gelinge). 69 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm. Diese Funktion der Religion für die sittliche Gesinnung hat Siep in seiner ‚Verteidigung‘ des Hegelschen Gesinnungsbegriffs m. E. zu Unrecht ausgeklammert. Vgl.: Siep 1992b. Auch Bourgeois 2017 schenkt dem wenig Beachtung und kommt deshalb zu einer recht säkularen Interpretation der Anmerkung zu § 270 (vgl. S. 243).
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staatlichen Zusammenhang folgen ihrerseits der Bestimmung der bürgerlichen Institutionen als Grundlage der Staatsverfassung (§§ 263–267), nachdem eingangs der Staat als sittliche Synthese von Familie und Gesellschaft eingeführt worden war (§§ 257–262). Gegenüber Gesinnung, Patriotismus und Organismus hebt nun der § 270 hervor, dass die Einheit im Staat gewusste und gewollte Einheit sei. Daher ist an dieser Stelle, in der Anmerkung, auch zu klären, welche Funktion den nicht dem Denken, sondern der Anschauung zuzuordnenden religiösen Bewusstseinsformen zukommt, zumal ihnen traditionell – und aktuell in der Restaurationszeit70 – durchaus politische Bedeutung beigemessen wird.71 Hegel versucht nun, diese Bewusstseinsformen seinem Konzept von Staatsbürgergesinnung als „in Wahrheit stehende[r] Gewißheit […] und […] zur Gewohnheit gewordene[n] Wollen[s]“72 und des diesem korrespondierenden Organismus’ zu assimilieren. So stellt Hegel durch die zunächst folgende Polemik gegen bestimmte politische Anmaßungen bestimmter Religionen eine Vorstellung von Religion heraus, die als Grundlage der sittlichen Integration des Staates entwickelt werden kann.73 Das Verhältnis von Staat und Religion ist nicht unmittelbar das von Staat und Kirche. Diese will Hegel durchaus getrennt wissen. Das gilt aber für die Religion nicht in gleicher Weise.74 Abseits von allen seinen Einwänden gegen die weltflüchtige Religion einerseits und die politisierenden Kirchen andererseits formuliert Hegel in den Grundlinien, die Religion habe „die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt, und damit fällt auch das Höchste der Gesinnung in sie“75. Die Bürger vergewissern sich in der inhaltlichen Gleichheit der Prinzipien von Religion und Staat sowohl der eigenen Pflichten als auch der Legitimität staatlicher Normen. In dieser Funktion ist die Religion Grundlage, ja sogar „Substantialität […] der Sittlichkeit selbst und des Staats […]. Der Staat beruht nach diesem Verhältniß auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen“76. Aber diese Legitimation ist nicht bloß subjektiv: Gerade weil der Staat absolute Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, reklamiert er einen der wirklichen Sittlichkeit transzendenten Geltungsgrund.77 In den späten Vorlesungen gewinnt das Verhältnis von Staat und Individuum, von Äußerlichkeit und Verinnerlichung des Rechts, an Gewicht. 1822/23 wird die 70 Vgl. Jaeschke 2009. 71 Insofern stellt der § 270 nicht einfach eine Unterbrechung des Gedankengangs dar, wie Jaeschke 2017, S. 247, behauptet. 72 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 268. 73 Vgl. Siep 2006, S. 119. 74 Die Funktionen von Religion und Kirche werden öfters verwechselt, bzw. nicht unterschieden. Vgl. z.B. Ilting 1974a, S. 40. Hegel selbst geht zwar, wie gesagt, vom neuerlichen Bedürfnis im Staat nach einer Kirche aus, beantwortet dieses aber durch die Entwicklung eines funktionalen überkirchlichen Religionsbegriffs. 75 Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm. 76 Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552 Anm. Vgl. Maurer 1971, S. 393: „Die (christliche) Religion ist demnach für Hegel ihrem Wesen nach für den Staat wie sogar für die Kirche Privatsache, aber eine Privatsache von größter Bedeutung für alle Arten von politischem Zusammenhalt.“ 77 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 70.
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Achtung vor dem Staat dem Bewusstsein davon zugeordnet, dass der Staat im Höchsten wurzele.78 Dies vermittele zwar die Philosophie, aber nicht jeder Bürger erlange philosophische Bildung: „Insofern diese Bestätigung nicht vorhanden ist, bleibt nur die übrig, wie sie in der Religion vorhanden ist.“ Deshalb „hat der Staat zu seinem Bestehn einen solchen Glauben, solche Gesinnung nöthig“79. Der Staat und die von ihm gesetzten Rechtspflichten haben immer eine Seite der Äußerlichkeit; aber beide können nicht bestehen, wenn die Bürger nicht das rechtliche Verhältnis, samt seiner Äußerlichkeit, moralisch oder religiös verinnerlichen. In der Vorlesung von 1824/25 scheint Hegel dann mit besonderer Vehemenz das Thema ‚Religion als Grund und Wahrheit des Staates‘ durchgeführt zu haben. Jedenfalls notiert Griesheim Formulierungen dieses Sinnes auf der ersten Seite zu § 270 Anm. gleich ungefähr zehnmal. Im Unterschied zu früheren Äußerungen heißt es nun: „Wenn man sagt, wie dieß oft geschieht, es besteht ein Staat und es muß auch Religion da sein, so wird sie vorgestellt als etwas, was zum Nutzen des Staats dient, dieß ist jedoch ganz unrichtig, der Staat wird durch die Religion authorisiert, gestärkt, sie ist seine Wahrheit […]. […] [D]ie Religion ist vielmehr der Grund des Staats.“80
Dem entspricht auch der weitere Duktus der Nachschrift. Deutlich erscheint hier auch ein Zusammenhang der Anmerkung zu § 270 mit den vorherigen Erörterungen zu Gesinnung und Patriotismus im Staat: „Das Selbstgefühl der Individuen macht seine Wirklichkeit aus“81. Der einleitende Teil zum Staatsrecht bezieht sich nicht mehr nur darauf, dass die gesellschaftlichen Institutionen im Staat aufgehoben sein sollen, sondern stärker auch darauf, wie die Vermittlung von individuellen und allgemeinen Interessen den Individuen zu Bewusstsein gebracht werden soll. In der Enzyklopädie von 1827 heißt es, es gehe die „wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität […] nur aus der Sittlichkeit hervor, und ist die denkende d.i. der freien Allgemeinheit ihres concreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit“82. Diese Formulierung übernimmt Hegel in die Fassung von 1830, aber mit der entscheidenden Wendung: „Aber dies Hervorgehen gibt sich zugleich selbst wie überall im Speculativen die Bedeutung, daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint“83. Die wahrhafte Religion geht zwar historisch aus der Sittlichkeit hervor, erweist sich aber dann als systematischer Grund von Sittlichkeit; der historische 78 In der anonymen Mitschrift Hegel, Philosophie des Rechts (1821/22) fehlt alles zum Staat ab § 261. In dem einleitenden Abschnitt zur Sittlichkeit wird aber der sittliche Geist eines Volkes immer wieder mit Gottesmetaphern beschrieben (§§ 144, 145, 151), die ausdrücken, dass die sittlichen Inhalte nicht individuell gewusste sein müssen, sondern auch autoritativ geglaubt werden können. 79 Hegel, Philosophie des Rechts (1822/23), Ilting Bd. 3, S. 734. Diese Argumentation wird auch in Hegels Fragment Das Verhältnis der Religion zum Staat von 1831 verwendet. 80 Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 646. 81 Ibid., S.639. 82 Hegel, Enzyklopädie (1827), GW 19, § 552 Anm. 83 Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552 Anm.
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Hervorgang war nur Erscheinung dieses Verhältnisses von Grund und Begründetem. In dem Maße, in dem bürgerliche Gesellschaft und Staat in den Fassungen der Enzyklopädie fortschreitend unterschieden werden, tritt zu den Integrationsprinzipien Volksgeist und Gesinnung ein religiöses Moment hinzu: War 1817 die dem sittlichen Geist entsprechende Bewusstseinsform noch die Wissenschaft, deren Einsicht durch ‚Regulierung‘ gegen die besonderen Interessen durchgesetzt werden soll,84 und war es 1827 noch das Wissen der Vermittlung des Einzelnen mit dem Ganzen, sein begründetes Vertrauen, das die wenn auch schicksalhafte sittliche Gesinnung bestimmte,85 so wird 1830 die Religion zur „Substantialität […] der Sittlichkeit und des Staats“86, insofern religiöse Gesinnung die sittliche begründe. Zwar fordert Hegel die Trennung von Staat und Kirche, die Möglichkeit einer Trennung von Staat und Religion bezeichnet er jedoch als „ungeheure[n] Irrthum unserer Zeit“87. Die Religion gilt als gesinnungsbildender Faktor, der in Philosophie aufgehoben werden könne, aber nicht müsse. Das gilt auch für die anderen Formen der Gesinnung: Wie diese näher bestimmt sei, ob durch Nationalstolz und „ein Wissen der grossen Thaten seines Volks“ oder durch „nähere Einsicht in die Institutionen“88, sei gleichgültig. Der Geist eines Volkes gilt somit als „eine Individualität, die in ihrer Wesentlichkeit, als der Gott, vorgestellt, verehrt und genossen wird: in der Religion, – als Bild und Anschauung dargestellt wird: in der Kunst, – erkannt und als Gedanken begriffen wird: in der Philosophie. Um der ursprünglichen Dieselbigkeit ihrer Substanz, ihres Inhalts und Gegenstandes willen sind die Gestaltungen in unzertrennlicher Einheit mit dem Geiste des Staats; nur mit dieser Religion kann diese Staatsform vorhanden sein, sowie in diesem Staate nur diese Philosophie und diese Kunst.“89
Dass am Ende, im Protestantismus, die Entgegensetzung von Religion und Recht aufgehoben sei, eliminiere nicht die Religion aus der Geschichte, sondern stelle ihre volle sittliche Entfaltung dar.90 Hegel betont zwar wiederholt, dass der Staat in politischen Dingen, die von der religiösen Sittenlehre zwangsläufig berührt würden, die Lehrhoheit behalte und daß z.B. die Ehe ihre Geltung aus der Form der Zivilehe beziehe;91 die subjektive Vergewisserung und Beglaubigung, die Bildung der Gesinnung als solcher, weist Hegel aber der Religion zu, deren Inhalt seiner Form nach sogar „die Sanctionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit“92 zukomme. Diese vom Inhalt inspirierte Form ist zwiespältig. Einerseits sei sie „Gefühl, Anschauung, 84 85 86 87 88 89 90 91
Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1817), GW 13, § 441. Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1827), GW 19, §§ 515f. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552 Anm. Vgl. auch Jaeschke 2003, S. 396. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552 Anm. Hegel, Philosophie des Rechts (1824/25), Ilting Bd. 4, S. 642. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 73. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 539. Dies impliziert aber keine Zustimmung zu ‚offensiver Religionspolitik‘. Vgl. Jaeschke 1979, S. 354. 92 Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, § 552 Anm.
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Vorstellung“93 und müsse aus dieser Unmittelbarkeit erst zur Philosophie vermittelt werden; andererseits aber soll sie schon „ein Denken und Wissen“94 sein. Letztlich sind für Hegel beide, Religion und Philosophie, Gestalten des Geistigen, die über ihren identischen Inhalt, die absolute Wahrheit, nicht bloß diachron sondern auch synchron kompatibel seien und deren Gewissheitsmodi – Glauben und Wissen – sich komplementär ergänzten. In der Politik begründe zwar die göttliche Autorität nur formell die Geltung von Gesetzen, deren Inhalt die Philosophie zu ermitteln habe, jedoch führe deren konsequente Analyse zu Gott zurück.95 Demgemäß heißt es: „Es ist Ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat.“96 Dies könnte Hegel jedoch im Ernst nur behaupten, wenn der Staat zuvor von Grund auf religiös definiert wäre; umgekehrt ist es nicht möglich: Religion, die sich auf den vernünftigen Freiheitsbegriff des sittlichen Staates einließe, gäbe sich als Religion auf – das gilt selbst für einen wie immer idealisierten Protestantismus. Jeder Staat muss als Rechtsordnung sein Verständnis von Freiheit auf Handlungsfreiheit und Zurechnungsfreiheit – gegebenenfalls rechtsstaatlich in einem rechtlich und grundrechtlich zu definierenden Rahmen – beschränken. Selbst wenn ein Staat Freiheit moralisch verstehen sollte und sich der Aufgabe annähme, die Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns zu organisieren, wäre es immer eine Freiheit mit Bezug auf Zwecke, die in der endlichen Wirklichkeit terminieren. Religiöse und theologische Freiheitskonzepte sind dagegen systematisch auf transzendente Normativität bezogen und daher in die theologische Aporetik eines Freiheitsbegriffs verwickelt, der angesichts eines allwissenden und allmächtigen Gottes nicht mehr als eine pragmatische Illusion sein kann: Wenn Gott ewig allmächtig und allwissend ist, so ist in diesem Wissen das menschliche Handeln vorhergesehen. Freiheit wird pragmatisch angenommen, damit Begriffe wie Verantwortung, Sünde und Erlösung nicht gegenstandslos werden. – Hegels These vom ‚Einen Freiheitsbegriff‘ setzt voraus, dass in der Geschichte sich in allen Formen des Geistes – Staat, Religion, Kunst, Philosophie – die an sich einheitliche Vernunft realisiert: Freiheit ist das Prinzip, das in Religion und Staat unterschiedlich realisiert wird, und insofern Eines.97 Insofern gilt der theologische Freiheitsbegriff als eine Vorstufe des philosophischen; aber nachdem dieser 93 Ibid. 94 Ibid. 95 Vgl. Hegel, Philosophie der Religion, V 3, S. 341, 345. Zwar stimmt das Urteil von Lutz-Bachmann 2002, S. 382, über Hegel: „Bei ihm beginnt bereits die Geschichte einer Aufhebung von Religion durch Philosophie.“ Aber in der politischen Theorie kann Hegel diesen Weg nicht durchhalten. 96 Hegel, Philosophie der Religion, V 3, S. 340. Jaeschke 2009 macht diesen Satz zum Angelpunkt seiner Interpretation, dass der späte Hegel in der protestantischen Anerkennung staatlicher Freiheit die Lösung des Problems gesehen habe. Aber selbst dann blieben beide Freiheitsbegriffe durch die Distanz von subjektivem Glauben und objektivem Wissen systematisch getrennt. Dieser Sachverhalt ist für Hegel theoretisch auch vollkommen klar. Angesichts der zeitgenössischen religiösen Reaktion hätte er aber ebenso die politische Neutralisierung der Religion fordern können. 97 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 69f.
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entwickelt ist, kann jener nicht mehr als mit ihm einig behauptet werden. Noch weniger taugt das religiöse Freiheitsverständnis als sittliche Basis des vernünftigen Staates; dieser müsste die Gesinnung seiner Mitglieder selbst begründen können. Wenn Hegel auch die Sittlichkeit der Religion in die des Staates integriert, so wird aus jener doch kein Wissen, sondern sie besteht fort als „Glaube, Empfindung“ und als „auf Autorität gegründete Verpflichtung“98. Diese sind nach Hegel die formalen Mittel, mit denen Religion die Individuen vom Rückfall in die bloße Einzelnheit abhalte, das heißt sie zu überzeugten Gemeinschaftsmitgliedern bilde. Ihre Wirksamkeit liegt in der Form der Lehre,99 die, wie zitiert, insgesamt auf unreflektierten, insofern heteronomen, Vorstellungsarten beruht.100 Der besondere Inhalt ist gleichgültig – das ist die Kehrseite von Hegels Toleranzpostulat wie auch der Überzeugung, dass der säkulare Staat Resultat der Religionsspaltung sei, deren überwindendes Einheitsprinzip er darstellen solle. Als solches muss er von seinen Bürgern fordern, „daß sie sich zu einer Kirchen-Gemeinde halten, – übrigens zu irgend einer, denn auf den Inhalt, insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen“101. Wenn es zuvor hieß, die Prinzipien von Staat und Religion seien identisch, bezog sich das nicht auf die besonderen Inhalte empirischer Religionen; dann aber muss es sich auf die Religiosität ihrer Inhalte als solcher, auf den Inhalt, soweit er durch die Form gegeben ist, beziehen lassen. Dieser allgemein-formale Gehalt von ‚Religion als solcher‘ ist aber nicht die Form absoluter Wahrheit in volkstümlicher Gestalt. Vielmehr bleibt von Religion, wenn alle besonderen Inhalte abgezogen werden, als ihr allgemeines Kennzeichen allein die Form bedingungslosen Gehorsams übrig, die Form des Bekenntnisses zur Abhängigkeit von einer – wie immer weiter bestimmbaren – unverfügbaren heteronomen Instanz.102 Ein Grund für diese Abstraktion ist ihre pragmatische Gleichgültigkeit gegenüber der Tendenz zur besonderen Bestimmtheit im ungebildeten, des Allgemeinen nicht fähigen, Denken: „Die Gesinnung nimmt nicht notwendig die Form der Religion an; sie kann auch mehr beim Unbestimmten [d.h. bei der begrifflichen Allgemeinheit der Philosophie; M.St.] stehenbleiben. Aber in dem, was man, das Volk nennt, ist die letzte Wahrheit nicht in Form von Gedanken und Prinzipien, sondern was dem Volk als Recht gelten soll, kann das nur insofern, als es
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Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm. Vgl. ibid. Vgl. Siep 1992b, S. 273 sowie Siep 1992a, S. 324. Hegel, Grundlinien, GW 14.1, § 270 Anm. Diese Gleich-Gültigkeit der Bekenntnisse in ihrer politischen Funktion ist eine realitätsnähere Konsequenz aus Rousseaus religion civile. Vgl. Rousseau 2010, IV 8. 102 Hiervon distanziert sich übrigens: Hegel, Philosophie der Religion (1822/23), V 3, S. 732f. Gefügig mache nur der (katholische) Aberglaube, nicht aber Religion als solche. Vgl. auch Schick 2009, S. 25 und 27.
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Bestimmtes, Besonderes ist. Dies Bestimmte des Rechts und der Sittlichkeit hat nun für das Volk seine letzte Bewährung nur in der Form einer vorhandenen Religion.“103
Dieser Eintrag politischer Pragmatik in die Systematik des Staatsbegriffs ist ambivalent. Auf der einen Seite ist er das bloß negative Bemühen, die Fassungskraft der Bürger nicht zu überfordern und geschichtlich gegebene religiöse Empfindungen nicht zu brüskieren. Auf der anderen Seite benötigte Hegels Staat aber auch positiv eine pragmatische Verankerung von Sittlichkeit, falls nämlich der Staatsbegriff die proklamierte Integrität von Einzelnem und Allgemeinem systematisch nicht leisten sollte. Dann wäre der Begriff des Staates selbst insuffizient, weil die spezifische Gestalt seiner Allgemeinheit für die Einzelnen in ihren partikularen Lebenszusammenhängen nicht erkennbar ist. Hegels Argument, dass der Staat als das höhere sittliche Prinzip die Defizite der Gesellschaft aufhebt, die Gesellschaft, die an sich schon vernünftig sei, versittliche und zur Vernunft bringe, ist eine Illusion, die darin gründet, dass die bürgerliche Gesellschaft zu Hegels Zeit noch nicht in ihrem Prinzip, der kapitalistischen Produktionsweise, theoretisch erkannt war. Von dieser Erkenntnis aus rückblickend zeigt sich jedoch „[d]ie Religion […] [als] Geist geistloser Zustände […]. Die Forderung, die [religiöse; M.St.] Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.“104 LITERATUR Arndt, Andreas, 2009: Staat, bürgerliche Gesellschaft und Religion. Anmerkungen zu Hegel und Walter Benjamin. In: Arndt, Andreas/Iber, Christian/Kruck, Günter: Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, Berlin, S. 147–155. Arndt, Andreas, 2014: Frei(heits)räume. Abstrakte und konkrete Allgemeinheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Aufhebung 5, 10–25. Bourgeois, Bernard, 2017: Der Begriff des Staates. In: Siep, Ludwig (Hrsg.), G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Klassiker Auslegen 9), Berlin, S. 225–245. Hegel, G.W.F., 1968: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: Gesammelte Werke, Band 4, Hamburg, S. 417–485 (Naturrechtsaufsatz, GW 4). Hegel, G.W.F., 1998: Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands. In: Gesammelte Werke, Band 5, Hamburg, S. 1–220 (Verfassungsschrift, GW 5). Hegel, G.W.F., 1981: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. In: Gesammelte Werke, Band 12, Hamburg (Logik II, GW 12). Hegel, G.W.F., 2000: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). In: Gesammelte Werke, Band 13, Hamburg (Enzyklopädie (1817), GW 13). Hegel, G.W.F., 2009: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Gesammelte Werke, Band 14.1, Hamburg (Grundlinien, GW 14.1). Hegel, G.W.F., 2001: Oratio in Sacris Saecularibus tertiis Traditae Confessionis Augustanae. In: Gesammelte Werke, Band 16, Hamburg, S. 311–322 (Oratio, GW 16).
103 Hegel, Verhältnis der Religion zum Staat, S. 347. Vgl. Maurer 1971, S. 407, Anm. 52. – Die entwicklungsgeschichtlichen Differenzen in Hegels Berliner Zeit, auf die Jaeschke 1979, S. 353, hinweist, können hier im einzelnen nicht berücksichtigt werden. 104 Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, S. 378f.
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HEGELS INSTITUTIONENLEHRE. POLITIK, SITTLICHKEIT UND DIE PHILOSOPHIE DES GEISTES Andrew Buchwalter Institutionen spielen in Hegels praktischer Philosophie eine Schlüsselrolle. Das ist nicht nur daraus ersichtlich, dass er den institutionellen Strukturen und Praktiken viel Aufmerksamkeit zukommen lässt. Es geht außerdem klar aus seiner Theorie der Sittlichkeit hervor, dem letzten Abschnitt der Rechtsphilosophie, wo er viele der zentralen gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen moderner Gesellschaften behandelt. Für die zentrale Bedeutung, die Institutionen für Hegels Auffassung von praktischer Philosophie haben, spricht zum Beispiel seine Behauptung, dass Individuen immer von Praktiken und Institutionen umgeben und geprägt werden, die ihre Identität, Autonomie und ihr praktisches Handeln bedingen. Praktische Philosophie ist seiner Meinung nach eine Theorie des objektiven Geistes. Obwohl Hegel anderen modernen Theoretikern darin folgt, die praktische Philosophie in einer Auffassung von Freiheit zu verankern, benötigt diese, um realisierbar zu sein, eine fundierte Vorstellung von bestehenden Praktiken und Institutionen. In Bezug auf das Selbstsein im Anderssein behauptet er, dass die individuelle Freiheit vom Vorhandensein objektiv bestehender Regelungen abhängt, die dieses Verhältnis fördern. Dazu zählen institutionelle Regelungen, die es Individuen ermöglichen, sich selbst in den objektiven Bedingungen ihrer Existenz erkennen zu können, und auch solche, welche die Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung erleichtern, die für eine Freiheit wesentlich sind, die als Selbstsein im Anderssein verstanden wird.1 In all diesen Hinsichten konzeptualisiert Hegel die praktische Philosophie eindeutig im Sinne der institutionellen Ressourcen einer konkreten Theorie der Sittlichkeit. Weniger Klarheit besteht hingegen über den genauen Platz, der den Institutionen in Hegels praktischer Philosophie zukommt. Eine zentrale Frage kreist um das Verhältnis von individueller Erfahrung und institutionellen Vereinbarungen. In manchen Interpretationen wird Hegel eine ziemlich asymmetrische Sicht auf jenes Verhältnis angelastet. Laut einer konstruktiven Auslegung tritt Hegel für eine „Abhängigkeitsthese“2 ein, wonach individuelle Erfahrung und Handeln nur vor dem Hintergrund von Normen und Praktiken möglich und sinnvoll sind, die bestehende soziale Vereinbarungen und Institutionen einbeziehen. In einer anderen Version 1 2
Zum letzteren Punkt, siehe insbesondere Honneth 2001. Pippin 2008, S. 241 und Kapitel 6 allgemein.
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wird behauptet, dass Hegel einen „starken Institutionalismus“3 unterstützt, der die subjektiv-rechtlichen und moralischen Freiheiten von Individuen den autotelisch aufgefassten politischen Strukturen unterordnet. Ungeachtet der Unterschiede stützen beide Interpretationen eine generell einseitige Auslegung von Hegels Sicht der Beziehung zwischen Institutionen und Individuen. In diesem Kapitel werfe ich einen alternierenden Blick auf Hegels institutionelle Theorie. Es geht hier nicht darum, die zentrale Rolle der Institutionen für Hegels praktische Philosophie anzuzweifeln, sondern ich stelle eine eher „dialektische“ Auslegung vor, bei der Institutionen selbst von der kognitiven und willentlichen Bestätigung durch betroffene Individuen abhängen. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass Institutionen für Hegel lediglich eine Funktion des Wissens und Willens von Individuen sind, das wäre auch wieder eine asymmetrische Sicht. Hegel führt gewiss keine Elemente der Gesellschaftsvertragstheorie an, nach der soziale und politische Institutionen durch vorpolitische und vorinstitutionelle Vorstellungen von individueller Identität und Autonomie geprägt sind und sich diesen gegenüber verantworten müssen. Seine Meinung ist, dass die individuelle Identität, Autonomie und das Handeln in bestehenden Praktiken und Institutionen bedeutsam sind und durch diese bedingt werden. Gleichzeitig werden jene Institutionen und Praktiken jedoch nur richtig gebildet und wiederhergestellt, wenn sie betroffene Individuen als ihre eigenen bestätigen und anerkennen. Im Einklang mit dem Begriff des Geistes, der Hegels praktische Philosophie durchdringt, d.h. die Verbindung von Substanz und Subjektivität, erlangen Institutionen nur die volle Realität, wenn ihre bestehende so neu postuliert werden kann, damit sie das subjektive Bewusstsein und den Willen der betroffenen Individuen reflektiert.4 Bei dieser Sicht sind Individuen und Institutionen enger miteinander verflochten als das die Abhängigkeitsthese vorsieht. Diese Anschauung stimmt mit den dialektischen Neigungen von Hegels Denken überein, auch mit der allgemeinen Forderung, dass Philosophie ein „Kreis von Kreisen“5 ist. Wenn Individuen von Institutionen geformt werden, so werden auch Institutionen durch die Individuen geprägt, die ihnen unterstehen. Institutionen sind bei dieser Sichtweise eine Funktion und das Produkt eines laufenden Wechselspiels von Individuen und gesellschaftlichen Praktiken. Aus dieser Anschauung ergibt sich eine zentrale, dynamische Dimension, die mit Hegels Vorstellung von Institutionen verbunden ist. Diese sind für ihre Wirklichkeit und anhaltende Lebendigkeit auf das laufende Wechselspiel von Individuen und bestehenden gesellschaftlichen Praktiken und Vereinbarungen angewiesen. Außerdem werden die Wirklichkeit und anhaltende Lebendigkeit von Institutionen durch die konstante gegenseitige Anerkennung der Individuen untereinander aufrechterhalten, die für Hegels intersubjektive Vorstellung von individueller Identität wesentlich ist. Übereinstimmend mit der für Hegels Begriff des Geistes 3 4 5
Henrich 1983, S. 30–38. Siehe auch Honneth 2001, S. 102–127. Siehe Buchwalter 2018. Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 15.
Hegels Institutionenlehre
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grundlegenden Selbstreflexivität werden Institutionen durch die ständige Beachtung der Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft für die Bedingungen ihrer Gemeinschaftlichkeit aufrechterhalten, geschaffen und sogar wiederhergestellt. Im Folgenden werde ich Elemente aus Hegels einzigartiger Institutionenlehre skizzieren und sie in seiner Vorstellung von Sittlichkeit und breiter gefassten Theorie des Geistes verankern. Die vorliegende Analyse ist in sechs Teile untergliedert: Im 1. Teil wird die „Abhängigkeitsthese“ mit ihrer asymmetrischen Sicht auf Hegels Auffassung vom Verhältnis zwischen Institutionen und Individuen besprochen. Der 2. Teil widmet sich der „verflochtenen“ Vorstellung von Hegels Theorie der Institutionen, mit Schwerpunkt auf der interaktiven Beziehung zwischen subjektivem Gefühl und objektiven Angelegenheiten, die der Theorie der Sittlichkeit zugrunde liegen. Im 3. Teil wird ausgeführt, wie Hegels Theorie der Institutionen, selbst wenn sie die Reflexivität, die einer Theorie des Geistes eigen ist, instantiiert, mit einer zweiten Natur (ein wesentliches Element der Idee der Sittlichkeit) kompatibel ist und von ihr gefördert wird. Im 4. Teil werden die vorausgehenden Überlegungen durch die Untersuchung der Vorstellung von Institutionen in Hegels Lehre der bürgerlichen Gesellschaft konkretisiert, mit dem Fokus auf der abschließenden Besprechung der Korporationen. Im 5. Teil werden die Institutionen betrachtet, wie sie Hegel in seiner Lehre des Staates und der damit verbundenen Verfassungstheorie präsentiert, mit Schwerpunkt auf der letzten der drei konstitutiven Gewalten, der gesetzgebenden Gewalt, zusammen mit der Öffentlichkeit, die sie ermächtigt. Der 6. Teil schließt mit einigen Beobachtungen zur Normativität von Hegels institutioneller Theorie. 1. DIE ABHÄNGIGKEITSTHESE Wie bereits erwähnt, ist die zentrale Rolle der Institutionen in Hegels praktischer Philosophie mit der Ansicht verbunden, dass die Freiheit, Handlungsfähigkeit und individuelle Autonomie für ihre Bedeutung und Wirklichkeit von objektiv bestehenden Normen, Praktiken und anderen gesellschaftlichen Vereinbarungen abhängen. Um Hegels Sicht richtig würdigen zu können, ist es wohl nicht ratsam, diese Abhängigkeit als eine allgemeine These von der „Priorität der Sozialität“6 zu charakterisieren, wie das Robert Pippin in seiner Interpretation vorschlägt. Es stimmt zwar, dass die Bedingungen der Sozialität für Hegels Vorstellungen von individueller Freiheit und Identität von zentraler Bedeutung sind, sie können aber nicht allein auf diese Bedingungen reduziert werden. Ein derartiger Reduktionismus ist nicht empfehlenswert, nicht zuletzt weil er nicht mit Hegels Freiheitsvorstellung übereinstimmt. Es ist auch richtig, dass Freiheit an ihre äußerliche Versachlichung gebunden ist, diese deckt sich an sich jedoch nicht mit der Abhängigkeitsthese. Für die verwirklichte Freiheit ist nicht nur die Idee wesentlich, dass Individuen frei sind, oder als frei gelten können, sondern dass sie sich selbst als frei erkennen. Das 6
Pippin 2008, S. 241.
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steht im Einklang mit dem Verständnis eines Willens, der „nicht nur [...] an sich, sondern ebenso […] für sich“7 frei ist. Nach dieser Sicht sind Individuen nicht einfach durch die Mitgliedschaft in einer bestehenden institutionellen Gemeinschaft frei, sondern die Freiheit erfordert auch, dass Individuen positiv erkennen und anerkennen, dass ihr Wille von institutionellen Einrichtungen verkörpert wird. In Hegels Anschauung sind Individuen, um frei zu sein, auf institutionelle Einrichtungen angewiesen, aber jene hängen wiederum selbst von der Autonomie der Akteure und deren Fähigkeit ab, sie als ihre eigenen akzeptieren und befürworten zu können. Für die Freiheit ist ein „Selbstgefühl“8 wichtig, mit dem ein Akteur äußerliche „Bestimmungen innerlich als die seinigen gesetzt und von ihm gewollt“9 betrachten kann. Ein ähnliches Argument kann in Bezug auf Institutionen selbst vorgebracht werden. Für Hegel sind Institutionen keine Strukturen oder Praktiken, die dem Verhalten der Akteure von außen auferlegt werden. Als Elemente der allgemeinen Verwirklichung von Freiheit existieren sie in und durch die bewusste Aktivität von Individuen und die vermittelnden Unterstrukturen, die ihren Willen zum Ausdruck bringen. Institutionen stellen reflexiv gebildete Gesamtheiten dar.10 Der Verfassung einer Nation vergleichbar, deren Morphologie sie nachbilden, sind sie an das „wesentliche Selbstbewusstsein“ bestimmter Personen und deren „auf einen allgemeinen Zweck gerichtetes Geschäft“11 gebunden. Was Hegel über politische Institutionen sagt, gilt auch für Institutionen ganz allgemein: „Das Selbstgefühl der Individuen macht ihre Wirklichkeit aus“12. Für die richtige Wirklichkeit von Institutionen ist ihre „reflektierende Befürwortung“13 durch jene wesentlich, zu denen sie gehören. Damit soll gewiss nicht behauptet werden, dass sich Hegel letztlich für eine Idee des Selbst oder der Subjektivität einsetzt, die institutionellen Beziehungen vorausgeht. Für Hegel ist Selbstidentität immer mit Bedingungen der Sozialität und der gesellschaftlichen Verkörperung verflochten. Das schließt aber nicht aus, dass er auch eine Idee des Selbst vertritt, das in der Lage ist, einen reflektierenden Standpunkt gegenüber solchen Beziehungen einzunehmen und zu halten. Ganz im Gegenteil, so ein Selbst wird durch die Bedingungen der Sozialität sogar vorgeschrieben. Hegel versteht verkörperte Sozialität als die Arten der Anerkennung, durch die Handeln und Identität sozial bedeutsam sind. Solche Formen hängen für Hegel von der Gegenseitigkeit ab, durch die Teilnehmer zumindest prinzipiell ihre Identität etabliert und bestätigt finden können. Das bedeutet inter alia, dass das Selbst und die sozialen Bedingungen eng miteinander 7 8 9 10 11 12 13
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 21. Ibid., § 265 Zus. Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 503. Siehe auch Weisser-Lohmann 2011, S. 228–231. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 264. Ibid., § 265 Zus. Pippin 2008, S. 213.
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verflochten sind: Wenn Individuen ihre Identität in sozialen Beziehungen finden, dann hängt Sozialität von Individuen ab, die erkennen, dass jene Beziehungen tatsächlich ihre Identität spiegeln. Hegel verbindet die individuelle Identität und Autonomie zu einem objektiven „Zustand des Anerkanntseins“, wobei für ihn so ein Anerkanntsein zunächst nur formal oder „an sich“14 Gültigkeit besitzt. Ein ganz verwirklichter, anerkennender Zustand erfordert, dass er auch „für sich selbst“ sein kann, was bedeutet, die von ihm Betroffenen erkennen sich selbst in jener Situation wieder. Eine anerkennende Situation wird tatsächlich nur durch eine solche Selbsterkenntnis der Betroffenen richtig gebildet: „Das Selbstgefühl der Individuen macht seine [des Staates] Wirklichkeit aus“15. Mit dieser Vorstellung von Selbstbewusstsein appelliert Hegel wiederum nicht an eine ursprüngliche oder vorinstitutionelle Idee des Selbst, sondern es geht hier um eine generelle oder allgemeine Vorstellung von Subjektivität, die sich nur als Folge der intersubjektiven Sozialität herausbildet. Die durch das „allgemeine Wiederscheinen des Selbstbewußtseins“16 artikulierte Allgemeinheit besteht aus einer Kenntnis vom „Begriff, der sich in seiner Objektivität als mit sich identische Subjektivität“17 weiß. Für eine objektiv vermittelte Subjektivität ist eine vielfältige Wertschätzung der intersubjektiven Gestaltung der Identität wichtig. Das allgemeine Selbstbewusstsein besteht nicht nur aus der Anerkennung der Selbstwahrnehmung der anderen, sondern auch daraus, wie der andere sie wahrnimmt. Dabei wird (i) eine solche Wahrnehmung in die eigene Selbstwahrnehmung integriert, (ii) anerkannt, dass die eigene Identität so eine Integration erfordert, und (iii) es werden die Beziehungen der Gegenseitigkeit unterstützt, die eine Ausbildung dieser allgemeinen Idee des Selbst fördern.18 Insofern das Subjekt sowohl seine Abhängigkeit vom anderen erkennt, als auch daran arbeitet, entsprechende Beziehungen der Gegenseitigkeit zu pflegen, trägt es zur Stabilisierung und Stärkung der institutionellen Bindungen bei, die auch die Identität und das Handeln des Individuums formen. In dieser Hinsicht verleiht die von Hegel entwickelte Auffassung von der „allgemeinen Subjektivität“19 jenem „Kreis von Kreisen“20 eine Stimme, der für seine Vorstellung von Dialektik allgemein von zentraler Bedeutung ist. Einerseits wird Subjektivität durch ihre Abhängigkeit von bestehenden Beziehungen der intersubjektiven Sozialität geformt, und andererseits führen jene Beziehungen zu einer intersubjektiv gebildeten Auffassung vom Selbst, das wiederum gerade jene Beziehungen aufrechterhält und stärkt. Wie die subjektive Identität von bestehenden Praktiken und Institutionen abhängt, so hängen jene Praktiken und 14 Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, S. 470. 15 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 265 Zus. 16 Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 436, Hervorhebung hinzugefügt. Für eine instruktive Besprechung siehe Williams 1977, S. 88–91. 17 Ibid., § 436. 18 Siehe Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 112–113. 19 Ibid., § 112. 20 Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 15.
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Institutionen selbst von einer stabilen Auffassung von Subjektivität ab. In Hegels Sicht wird die Beziehung zwischen subjektiver Identität und institutioneller Faktizität von Ko-Implikation und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt.
2. ZWEITE NATUR, SITTLICHKEIT UND DIE TÄTIGKEIT DES GEISTES Hier wird nicht behauptet, dass institutionelle Normen und Praktiken einfach eine Funktion der subjektiven Produktion oder von intersubjektiven Interaktionen haben.21 Solche Normen und Praktiken werden von Individuen und Gemeinschaften immer so erfahren, wie sie in bereits existierenden historischen und kulturellen Praktiken verkörpert sind. Ihre soziale Wirksamkeit hängt tatsächlich zum Teil davon ab, dass sie von Mitgliedern einer Gemeinschaft als Gewohnheiten erlebt werden, die fest etablierte Sitten und Gebräuche sind und auf „mechanische“22 und „unbewusste“23 Weise fortbestehen. In dieser Hinsicht deuten institutionelle Normen und Praktiken auf Aspekte der „zweiten Natur“24 hin, die für eine als objektiv verkörperter Geist verstandene Sittlichkeit wesentlich sind. Es wäre jedoch falsch daraus zu folgern, dass Praktiken und Institutionen deshalb eine Kraft und Autorität besitzen, die unabhängig von Bewusstsein und Willen fortbestehen. Das schließt nicht zuletzt Hegels Auffassung von Sitten und Gebräuchen selbst aus. Während es die Arten der sittlichen Substanz Individuen ermöglichen, sich sozial auf eine Weise zu orientieren, die nicht durch die Notwendigkeit einer expliziten Reflexion und Rechtfertigung gehindert wird, artikulieren Sitten und Gebräuche auch eine Idee der Freiheit, die als „Beisichselbstsein im Anderen“25 verstanden wird. Obwohl sie auf einen objektiv verkörperten Geist hindeuten, bleiben sie Verkörperungen des Geistes selbst, dessen Manifestationen und Phasen im Phänomen der Sitten und Gebräuche verschiedenartig zum Ausdruck kommen.26 Wenn solche Gewohnheiten gleichsam die Form einer zweiten Natur annehmen, so ist dies noch immer eine zweite Natur, die durch einen Prozess gebildet wird, in dem eine bestimmte Materialität der Erfahrung umgeformt wird, um die Regelmäßigkeit und beständige Bedeutung zu erlangen, mit denen die alltägliche Lebenspraxis von Individuen und Gemeinschaften erleichtert werden kann. Gewohnheiten resultieren aus der Pädagogik, welche die Fähigkeit hat, die „erste Natur zu einer zweiten, geistigen umzuwandeln“27. Dieser Punkt spiegelt sich im Rechtsbewusstsein, das für Hegel ein bestimmendes Merkmal der Mitgliedschaft in modernen Gesellschaften darstellt. 21 22 23 24 25 26 27
Siehe Testa 2009. Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 410 Zus. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 144. Ibid., § 151. Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 401 Zus. Siehe ibid., § 410. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 151 Anm.
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Hegel behauptet, dass ein solches Bewusstsein zu den Gewohnheiten und üblichen Praktiken solcher Gesellschaften gehört. Dennoch nimmt es dadurch nicht die Form der präreflexiven Erfahrung an, die durch die Befürworter der historischen Rechtsschule hervorgehoben wird. In seiner Ausrichtung auf den allgemeinen Respekt für Personen als Personen ist so ein Bewusstsein ein dezidiert reflexives Phänomen. Durch eine solche Reflexivität wird jedoch nicht die abstrakte, körperlose Vernunft konnotiert, die mit Varianten des Kosmopolitismus verbunden ist, sondern sie durchströmt in Form einer kulturell gewachsenen Bereitschaft, sich „im Willen nach einem Allgemeinen [zu] richten“28, die üblichen Praktiken selbst. Jene Reflexivität ist das Ergebnis eines sozialen Lernprozesses, der mit der historischen Schaffung einer Sozialordnung verbunden ist, die auf gegenseitiger Abhängigkeit und dem Prinzip der meritokratischen Gleichheit basiert, und ist auch Teil der alltäglichen Lebenspraxis selbst. Institutionelle Normen und Praktiken besitzen eine präexistente Kraft und Autorität, die dem aktiven Willen und der Erkenntnis von Individuen, einzeln und auch gemeinsam, vorausgeht. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass sie nicht auch Prinzipien des Willens und der Erkenntnis sein können, sondern nur, dass Sitten und Gebräuche in einer Auffassung von verkörperter Normativität selbst von solchen Prinzipien gebildet werden. Übereinstimmend mit Hegels Vorstellung von einer „vergeistigten zweiten Natur“ enthalten die üblichen Elemente einer sittlichen Substanz „das Moment, als Gedanken zu sein und gewusst zu werden“29. Selbst wenn darüber hinaus bestehende institutionelle Normen und Praktiken auf „unbewusste“ und „mechanische“ Weise funktionieren, sind sie noch immer offen für eine vollständiger reflektierende Neuartikulierung. Als Verkörperungen des Geistes können sie in ein „durch weitere Reflexion vermitteltes“ Verhältnis „übergehen, in eine Einsicht durch Gründe“30. Die Fähigkeit zu einer expliziteren Reflexion folgt aus den Sitten und Gebräuchen selbst. Sofern letztere Phänomene sind, die den Willen der Individuen fördern, sich in den Bedingungen ihrer Existenz wohl zu fühlen, fordern sie nur für die Verfolgung dieses Ziels Lebendigkeit und Gültigkeit. Wenn sie diese Funktion nicht mehr erfüllen, weil sie zur Routine oder alt geworden sind und nicht mehr mit dem Selbstgefühl der in ihnen aufgenommenen Individuen übereinstimmen, dann verordnen sie ihre Erneuerung und Verjüngung, was wiederum ihre reflektierende Neubewertung erfordert.31 Auch hier ist die Wertschätzung der vorreflexiven Bedingungen der institutionellen Normen und Prinzipien auf jeden Fall mit deren reflektierender Aneignung und der Fähigkeit vereinbar, das Wissen und den Willen der sozialen Subjekte zu artikulieren. „Die Form der Gewohnheit umfasst alle Arten und Stufen der Tätigkeit des
28 29 30 31
Ibid., § 209 Zus. Ibid., § 211 Anm. Siehe ferner Buchwalter 2016. Ibid., § 147. Siehe Lumsden 2016.
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Geistes“32, nicht zuletzt jene, die der Wiedergabe von Substanz als Subjektivität gewidmet ist.
3. INSTITUTIONEN UND SITTLICHKEIT Hegel präsentiert seine Vorstellung von Institutionen hauptsächlich in der Theorie der Sittlichkeit, der Domäne von objektiv verwirklichter Freiheit, die im Gegensatz zum abstrakten Recht und zur subjektiven Moral steht. Es ist bekannt, dass Sittlichkeit drei allgemeine Sphären objektiv verwirklichter Freiheit umfasst: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft (zu der für Hegel auch die moderne Wirtschaftsgesellschaft gehört) und den Staat. Generell weisen alle Elemente auf, die häufig als Merkmale sozialer Institutionen verstanden werden: Stabilität, über-individuelle soziale Formationen, gesellschaftliche Normen und Standards für das Verhalten zueinander.33 Es wurde jedoch bereits erwähnt, dass es Eigenschaften gibt, die Institutionen der Sittlichkeit bei Hegel einzigartig machen. Drei davon sind besonders bemerkenswert: Erstens liefern die Institutionen der Sittlichkeit die Voraussetzungen für die Ausbildung der Identität der Individuen. Im Einklang mit seiner Kritik an vorpolitischen und vorgesellschaftlichen Vorstellungen steht, dass Individuen nach Hegel ihre Identität nur in sozialen Beziehungen und durch die Mitgliedschaft in gemeinschaftlichen Körperschaften richtig schaffen oder „errichten“ können. Zweitens behauptet er, übereinstimmend mit der „lebendigen“, verkörperten und verwirklichten Natur der Sittlichkeit, dass die Institutionen der Sittlichkeit selbst durch die Unterstützung von Individuen und deren Verpflichtung ihnen gegenüber aufrechterhalten und sogar gebildet werden. Drittens führt Hegel entsprechend der „dialektischen“ Verbindung von Rechten und Pflichten aus, die für die Theorie der Sittlichkeit wesentlich ist,34 dass sich die ersten beiden Forderungen gegenseitig andeuten und voneinander abhängig sind. Individuelle Autonomie und Identität gehen mit der Verpflichtung gegenüber institutionellen Praktiken und Vereinbarungen einher, ebenso wie jene auf die Akzeptanz, Befürwortung und Unterstützung durch betroffene Individuen angewiesen sind. Je nach ihrer spezifischen Ausbildung haben die verschiedenen institutionellen Sphären der Sittlichkeit unterschiedliche Formen. In der Familie macht das Individuum die Mitgliedschaft in organisch strukturierten und relativ unreflektierten Praktiken und Vereinbarungen aus, wie auch jene hauptsächlich durch emotionale Bindungen aufrechterhalten werden. In der bürgerlichen Gesellschaft werden Individuen durch die Mitgliedschaft in Institutionen kommerzieller Interdependenz geformt, ebenso wie jene Institutionen hauptsächlich durch den Wohlstand maximierende Strategien von Privatpersonen getragen werden. Im Staat oder Gemeinwesen werden Individuen durch ihr bewusstes Engagement für die Ziele des öffentlichen 32 Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 410 Anm. 33 Siehe Jaeggi 2009. 34 Siehe Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 261 Anm.
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Lebens richtig gebildet, wie auch öffentliche Institutionen in jener expliziten Aktivität aufrechterhalten und vollständig verwirklicht werden. Hegel sieht diese drei Medien sicher nicht als gleichwertige Formen der Sittlichkeit an. Für ihn hat der politische Bereich Vorrang, denn er untermauert und umfasst die anderen nicht nur, sondern existiert als Selbstzweck. Diese Priorität ergibt sich aus der besonderen Art und Weise, auf die ein Gemeinwesen das Prinzip des Geistes artikuliert, jenes Prinzip, das seine praktische Philosophie und seine Philosophie des Geistes generell (subjektiv, objektiv und absolut) durchzieht. Als die Verbindung von Substanz und Subjektivität wird Geist in den Institutionen des modernen Staates und der modernen politischen Gemeinschaft generell am angemessensten ausgedrückt. Von Hegel stammt der berühmte Satz: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten“35.
Diese Beschreibung unterscheidet zwischen den Institutionen eines modernen Gemeinwesens und jenen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft. Obwohl sowohl der Staat als auch die Familie eine organische Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft ausdrücken, ist der Organizismus des Staates derart, dass er nicht nur die subjektive Freiheit der Individuen betont, sondern nur durch subjektive Reflexion selbst fortbesteht, durch die bewusste Beachtung der Bedingungen der Gemeinschaftlichkeit durch die Gemeinschaftsmitglieder. Gleichermaßen verbinden die bürgerliche Gesellschaft und der Staat die subjektive Freiheit mit dem kollektiven Wohlbefinden. Im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft wird jene Einheit im Staat nicht als zufälliges Nebenprodukt von Individuen gebildet, die ihre privaten Interessen verfolgen, sondern in der ausdrücklichen Verpflichtung von Individuen zueinander und zu den Bedingungen ihrer Gemeinschaftlichkeit. Zu behaupten, der Staat würde die umfassende, differenzierte und selbstreflexive Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft darstellen, hieße auch, dass er vollkommen die Natur der Institutionen selbst bezeichnet. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass die Form, die Institutionen im Staat annehmen, irgendwie ihre früheren Formen annulliert. Das Gegenteil ist der Fall, gerade weil der Staat die umfassende und differenzierte Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit darstellt, ist er auf die Domänen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft angewiesen, die auf verschiedene Weise die Besonderheit liefern, auf der „die feste Grundlage des Staates“ beruht. Die Institutionen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft sind gewiss „die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit“36. Es stimmt, dass das Wohlbefinden der Institutionen von Familie und bürgerlicher Gesellschaft für ihr eigenes Wohl von den Ressourcen und regulierenden Strukturen abhängt, die von staatlichen Institutionen bereitgestellt 35 Ibid., § 260. 36 Ibid., §§ 264–5.
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werden. Außerdem klärt und – im Einklang mit Hegels rechtfertigender Methode – validiert das Gemeinwesen die Idee der sittlichen Institutionen selbst, einschließlich jener der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft. Als „die selbstbewusste sittliche Substanz“37 zeigt ein Gemeinwesen seinen Mitgliedern die Natur und den Wert der institutionellen Praktiken und Vereinbarungen auf, die auf der gründlichen Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft beruhen. In Bezug auf die Familie und bürgerliche Gesellschaft geht das Gemeinwesen zuerst „unmittelbar“ vor, indem es die Natur und spezifische Funktion jener Sphären anerkennt. Aber es macht das auch auf eine vermittelte Weise, indem es den Platz der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in der umfassenden und differenzierten Verbindung von Allgemeinem und Besonderem, wie von politischen Institutionen konnotiert, bestätigt.38 Der Staat ist demnach in Hegels Vorstellung von Institutionen die unübertroffene Einheit. Dennoch ist für ihn die Natur des Politischen so, dass dadurch die Institutionen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur bekräftigt und ermächtigt werden, sondern dass eine eigene Realität und Allgemeinheit nur unter Einbeziehung der familiären und gesellschaftlichen Subsphären gebildet werden können. Anstatt die beiden anderen Institutionen der Sittlichkeit zu schmälern, werden die Institutionen des Staates im laufenden Wechselspiel der familiären und gesellschaftlichen Sphären einerseits und jenen des eigentlichen Staates andererseits gebildet und aufrechterhalten. In den beiden folgenden Unterabschnitten wenden wir uns Hegels Institutionenlehre zu, wie er sie in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und der Staatslehre ausführt. Obwohl ich mich auf die Natur jeder Theorie allgemein beziehe, liegt der besondere Fokus auf den institutionellen Medien, die am Ende jeder Darstellung einzeln aufgeführt werden: die Korporation in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft sowie die gesetzgebende Gewalt und die Sphäre der öffentlichen Meinung in der Staatslehre. Am Ende der jeweiligen Abschnitte artikulieren sie die institutionellen Formen, die ein rechtfertigendes Programm am besten zum Ausdruck bringen, wie es aus einer Philosophie des Geistes folgt, die der progressiven Darstellung von Substanz als Subjektivität gewidmet ist. Darüber hinaus erläutert jede Form auf einzigartige Weise eine Theorie der Institutionen, die auf die umfassenden und differenzierten Vermittlungen von Individuum und Gemeinschaft ausgerichtet sind. 4. DIE BÜRGERLICHE GESELLSCHAFT UND DIE KORPORATION Hegels Haltung zeigt sich beispielhaft in seiner Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft, eine der zentralen Institutionen in seiner Theorie der Sittlichkeit und für die moderne Gesellschaft ganz allgemein. In der bürgerlichen Gesellschaft behandelt Hegel die modernen Marktwirtschaften, deren Abläufe durch zwei Haupt 37 Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 535. 38 Siehe Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 264.
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„Prinzipien“ geprägt werden: die Bedürfnisse und Interessen bestimmter Individuen einerseits und das allgemeine oder generelle Wohl der Gesellschaft andererseits. Moderne kommerzielle Gesellschaften sind daher in erster Linie in den Wohlstand maximierenden Strategien von Privatpersonen verwurzelt, die ihre besonderen Wünsche und Bedürfnisse verfolgen. Solche Strategien artikulieren das moderne Prinzip der „selbständigen Besonderheit“39 und „[d]as Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder […] das Recht der subjektiven Freiheit“40. In zweiter Linie stellen moderne Gesellschaften, die durch zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung geprägt sind, auch „ein System allseitiger Abhängigkeit“41 dar, in dem Individuen ihre besonderen Bedürfnisse und Wünsche nur befriedigen können, wenn sie sich auf Güter und Dienstleistungen verlassen, die von anderen beschafft werden – und diese machen das wiederum, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche befriedigen. Das letztere Prinzip wird durch die Wissenschaft von der politischen Ökonomie (selbst ein Produkt der Neuzeit)42 thematisiert, wonach das Streben eines Individuums nach seinem eigenen Wohlbefinden mit dem Wohlbefinden anderer und der Gesellschaft allgemein verflochten ist. Durch die Unterscheidung dieser beiden Prinzipien suggeriert Hegel nicht, dass sie getrennt oder unverbunden sind, ganz im Gegenteil sind sie in ihren konkreten Manifestationen deutlich miteinander verbunden. So eine gegenseitige Verbindung folgt aus der Einbeziehung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer verschiedenen Institutionen in eine Vorstellung von Sittlichkeit, die selbst eine „Vermittlung“43 des Allgemeinen und des Besonderen ist. Zum einen sind die beiden Prinzipien mitkonditionierend: Ein Individuum kann nur seine eigenen Bedürfnisse verfolgen, wenn es sich auf Ressourcen verlässt, die von der Gesellschaft als ganzer verfügbar gemacht werden, wie auch die Lebendigkeit der Sozialordnung vom Streben eines Individuums nach besonderem Gewinn abhängt. Zum anderen sind die beiden Pole mitkonstituierend: Individuen verwirklichen sich nur in Bezug auf andere und die Ressourcen der Sozialordnung, wie auch die Sozialordnung im Handeln bestimmter Individuen verwirklicht wird. Somit werden Individuen durch die Mitgliedschaft in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht. Das Verständnis bestimmter Bedürfnisse, insbesondere der menschlichen Bedürfnisse, das Konzept und die Realität der Gleichberechtigung und die Idee von der Menschenwürde selbst, werden alle auf unterschiedliche Weise durch die Vermittlungen und Interdependenzen der bürgerlichen Gesellschaft geklärt.44 Wie die individuelle Freiheit durch die Formen der Sozialität verwirklicht wird, die eine bürgerliche Gesellschaft zur Verfügung stellt, wird Letztere selbst durch die Arten der subjektiven 39 40 41 42 43 44
Ibid., § 185 Anm. Ibid., § 124. Ibid., § 183. Siehe ibid., § 189 Anm. Ibid., § 182 Anm. Vgl. ibid., § 190; Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 482.
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Freiheit konstituiert. Das Wohl der gesamten Gesellschaft, durch das System der Interdependenz konnotiert, hängt vom bewussten Handeln von Individuen ab, die verstehen, dass ihr privates Wohlbefinden die Anerkennung von sozialen Normen der Interaktion und Kooperation erfordert. Individuen haben in bürgerlichen Gesellschaften ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke. Dieser kann „von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen“45. Und indem sie so auf allgemeine Weise handeln, aktualisieren sie auch die Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Gleichzeitig bleibt die Natur der Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen in der bürgerlichen Gesellschaft jedoch unvollständig und abgeschwächt. Jedes beliebige gesellschaftliche Engagement durch bestimmte Individuen ist weitgehend auf das beschränkt, was instrumentell vorteilhaft ist. In diesem Stadium hat soziales Handeln wenig beabsichtigtes Engagement für die Ziele der Gemeinschaft zur Folge. Umgekehrt bleibt die Gemeinschaft selbst hauptsächlich das zufällige Nebenprodukt von Individuen, die ihre besonderen Bedürfnisse verfolgen. Sie nimmt nicht die Form an, die von der Auffassung des Geistes oder einer modernen Vorstellung von Sittlichkeit vorgeschrieben wird: d.h. eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich kognitiv und willentlich den Bedingungen ihrer Gemeinschaftlichkeit gegenüber verpflichtet fühlen. Eine bürgerliche Gesellschaft, der ein explizites Selbstbewusstsein fehlt, wird leicht zum Opfer zahlreicher Pathologien (wie systemische Armut, aufwändige Lebenshaltung und entfremdende Arbeitsbedingungen), wodurch sie weniger ihren Hauptprinzipien gerecht werden kann und was die Realisierbarkeit als Ort der Sittlichkeit untergräbt. Aufgrund dieser Unfähigkeit, eine gründliche und selbstbewusste Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft oder von Allgemeinem und Besonderem zu bilden, verursacht die bürgerliche Gesellschaft selbst einen „Verlust der Sittlichkeit“46. Diese Überlegungen basieren auf der Logik der Argumentation, von der die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft unterrichtet wird. Diese Lehre besteht aus drei Hauptabschnitten, von denen jeder eine für die bürgerliche Gesellschaft typische sittliche Institution beschreibt: das System der Bedürfnisse, die Rechtspflege und die Polizei und Korporation. Die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft skizziert die Entwicklung der Angemessenheit dieser Institutionen gegenüber den beiden Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Beziehung. Die zwei nachfolgenden Arten stellen eine Bemühung dar, die Mängel zu korrigieren, die bei der Erklärung der Formen der Vermittlung der beiden vorhergehenden Arten offenkundig geworden waren. Den Abschluss bildet eine Beschreibung der Korporation, Hegels Begriff für auf die Arbeit bezogene Sozialgenossenschaften. In seiner Präsentation bezeichnet die Korporation die vollständigste Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen, die es in der bürgerlichen Gesellschaft gibt. Sie stellt nicht nur eine besonders komplexe und weitreichende Darstellung der Beziehung 45 Ibid., § 187. 46 Ibid., § 181.
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zwischen Individuum und öffentlichem Wohl dar, sondern macht das auf eine Weise, die durch das Wissen und die Willenskraft der Mitglieder selbst erzielt wird. Dank dieser internen Reflexivität, die der Begriff des Geistes zum Ausdruck bringt, ist die Korporation der Ort, an dem „das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück[kehrt]“47. In Anbetracht der zentralen Rolle der Korporation für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft beschränken sich die folgenden Ausführungen auf einige Beobachtungen zu ihrer Natur und Bedeutung. Es wird näher auf einzelne Arten eingegangen, auf welche die Korporation Hegels Auffassung von Institutionen veranschaulicht, nicht nur im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch auf seine politische Philosophie generell. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf (i) die nuancierte Art, auf welche die Korporation zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen vermittelt, (ii) die Rolle, die historische und rechtfertigende Überlegungen in Hegels Theorie der Institutionen spielen und (iii) die unverwechselbare Weise, auf welche die Korporation im Staat (der dritten und letzten institutionellen Sphäre der Sittlichkeit) „aufgehoben“, außer Kraft gesetzt und bewahrt wird. Für Hegel bezeichnet die Korporation eine besonders vielfältige Verbindung von Individuum und Gemeinschaft. Das ist hauptsächlich deshalb so, weil die Körperschaft als das „Allgemeine“ das Wohlbefinden des Individuums als das Besondere bestätigt. Eine Korporationsgemeinschaft erkennt ein Individuum für die einzigartigen Fertigkeiten, Talente und das Können an, die es nur aufgrund der Mitgliedschaft in jener Korporation besitzt. Mitglieder der Korporation werden daher anders anerkannt und geschätzt als das in der Marktwirtschaft allgemein und im Rechtssystem, das sie untermauert, der Fall ist. In ersterer werden Individuen in ihrer Besonderheit normalerweise überhaupt nicht geschätzt oder anerkannt, eine Situation, die besonders jene in Mitleidenschaft zieht, die durch systemische Armut und die destabilisierenden Auswirkungen der Marktdynamik marginalisiert sind. In letzterem werden sie normalerweise einfach als abstrakte juristische Personen anerkannt, die formal identisch mit anderen Personen und von diesen nicht zu unterscheiden sind. Im Gegensatz dazu werden Mitglieder einer Korporation kommunal gerade für ihre einzigartigen Eigenschaften und Charakteristiken geschätzt. Während sich ein Individuum in den anderen Domänen der bürgerlichen Gesellschaft gemeinhin wie ein „Niemand“ fühlt, wird das Individuum von der Korporation, die auf seine Besonderheit achtet, als „Etwas“48 anerkannt. Wenn ein Individuum in der Korporation allgemein oder kommunal für seine Besonderheit anerkannt wird, so erkennen Individuen wiederum, dass ihre besonderen Identitäten nur in und durch die Gemeinschaft erreicht und verwirklicht werden. In der Korporation gilt ein Individuum als „Jemand“, wobei ein wichtiger Bestandteil ist, dass sich das Individuum selbst als Jemand weiß und schätzt. Aber dieses Wissen setzt die Erkenntnis voraus, dass man von anderen tatsächlich so 47 Ibid., § 249. 48 Ibid., § 253.
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anerkannt wird. Eine richtige Darstellung der individuellen Identität hat daher das bereits erwähnte Konzept der allgemeinen Subjektivität zur Folge: Die eigene Identität erfordert, die Wahrnehmung des anderen von sich selbst anzuerkennen und in die eigene Selbstwahrnehmung zu integrieren. Ein Teil der Vermittlung des Allgemeinen und des Besonderen, wie er in der Korporation erzielt wird, ist gerade diese „Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine“49. Aus dieser Vorstellung folgt die Erwartung, dass sich die Mitglieder einer Korporation gesellschaftlich engagieren. Insofern ein Mitglied erkennt, dass seine Identität durch Beziehungen zu anderen erzielt wird, muss es sich an einem, „auf einen allgemeinen Zweck gerichtete[n] Geschäft und Tätigkeit“50 beteiligen, und wissen, „dass es einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehört und für den uneigennützigeren Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühungen hat“51. Dieser Sicht des zivilen Handelns liegt eine Reflexivität zugrunde, die mit Hegels Vorstellung von der Korporation als „einer gewußten und denkenden Sittlichkeit“52 im Einklang steht. Sie manifestiert sich in dem Wissen, dass die eigene Identität von den anderen abhängt, und besteht auch aus einer aktiven Unterstützung von und dem Engagement für die Bedingungen der Sozialität selbst, welche die wiedererkennenden Beziehungen von sich selbst und anderen fördern. Daraus resultiert eine Form des Bewusstseins von gemeinsamer Identität, gestaltet als Antwort auf die Pathologien, die eine Bedrohung für die bürgerliche Gesellschaft und die Verwirklichung ihrer Prinzipien der subjektiven Freiheit und sozialen Interdependenz darstellen. Realisierbare Beziehungen gegenseitiger Anerkennung werden gebildet, wenn Individuen entweder für sich oder gemeinsam die Formen der Verkennung identifizieren und korrigieren, die andernfalls die sozialen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft belasten würden. Diese Beobachtungen beruhen auf der Natur der Korporation selbst, die kein Gebilde ist, das den Aktivitäten und Erfahrungen seiner Mitglieder abstrakt gegenübersteht. Sie existiert stattdessen gerade durch die Beziehungen und Wechselwirkungen von Individuum und Gemeinschaft. Die Korporation fördert das Wohl und die Würde ihrer Mitglieder, und diese Förderung hängt wiederum von der Anerkennung und Unterstützung der Körperschaft durch die Mitglieder ab, was sich in weitere Unterstützung und Anerkennung der Mitglieder überträgt und so weiter. Übereinstimmend mit Hegels genereller Dialektik existiert die Korporation als ein Kreis von Kreisen und hängt für ihr Sein von dem laufenden Wechselspiel und den sich gegenseitig verstärkenden Interaktionen der Mitglieder ab, aus denen sie besteht. Die besondere Realität der Korporation wird „durch die Mitwirkung der Mitglieder selbst hervorgebracht“53. Darüber hinaus wird die Rechtmäßigkeit der Korporation selbst durch einen Lernprozess validiert, nach dem die Mitglieder jenen 49 50 51 52 53
Ibid., § 289. Ibid., § 264. Ibid., § 253. Ibid., § 255 Zus. Hegel, Philosophie des Rechts 1824/25 (Griesheim), Ilting Bd. IV, § 230, S. 588.
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gesellschaftlichen Zwängen entgegentreten und diese zu lösen versuchen, die ihre individuelle Freiheit und die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung behindern.54 Durch diese Feststellungen kann Hegels Theorie der Institutionen weiter geklärt werden, zumindest so, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt ist. Wie alle Institutionen der Sittlichkeit drücken auch jene der bürgerlichen Gesellschaft eine Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit aus. Doch nicht alle Institutionen, die in der bürgerlichen Gesellschaft vorkommen, artikulieren diese Vermittlung gleichermaßen. Die höchste Form dieser Vermittlung ist die Korporation, in der bestimmte Mitglieder einander und die Gemeinschaft allgemein explizit anerkennen, so wie die Mitgliedschaft in einer Korporation die Formen des Bewusstseins jener Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft annimmt. Wenn die Korporation die höchste institutionelle Form in der bürgerlichen Gesellschaft ist, dann ist sie das nicht einfach, indem sie den beiden anderen gegenübersteht. Sie erlangt ihre eigene Wirklichkeit und auch ihren Charakter als selbstbewusste Gemeinschaft, indem ihre Mitglieder die Einschränkungen (Armut, aufwändige Lebenshaltung, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, abstrakte Vorstellungen des Rechtssystems), die mit den beiden anderen Formen verbunden sind, erkennen und zu lösen versuchen. Auf diese Weise macht die Korporation zusätzliche Merkmale von Hegels verwirklichter Vorstellung von Institutionen deutlich: eine Geschichtlichkeit, eine problemlösende Dimension und eine Fähigkeit zur internen Rechtfertigung. Die Korporation bleibt gewiss mit Mängeln behaftet, welche die bürgerliche Gesellschaft insgesamt kennzeichnen.55 Indem die Korporation das Individuum und die Gemeinschaft nur mit bestimmten Einheiten (statt mit der Gesellschaft als ganzer) abstimmt, bestätigt sie die breitere Polarität zwischen Allgemeinem und Besonderem, welche die Entzweiungen reflektiert, die für die bürgerliche Gesellschaft generell endemisch sind. Für einen vollständigeren Ausgleich müsste man zur Domäne des Staates und der politischen Gemeinschaft übergehen. Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels werden die Elemente von Hegels Staatslehre und die daraus folgende institutionelle Theorie ausführlich behandelt, mit Schwerpunkt auf der gesetzgebenden Gewalt, der letzten der drei verfassungsgebenden Gewalten in jener Doktrin. Vorerst kann festgehalten werden, dass selbst wenn die Ressourcen des Staates die Korporation übertreffen, diese nicht einfach aufgegeben wird. Stattdessen spielt sie aus mindestens drei Gründen weiterhin eine wichtige Rolle: Erstens hängt ein Gemeinwesen übereinstimmend mit Hegels allgemeiner Theorie der Sittlichkeit von einer weitreichenden Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft ab. Ein Gemeinwesen ist eine „substantielle Einheit“, welche die „selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit“56 berücksichtigt. In dieser Hinsicht bleibt ein Gemeinwesen von der Korporation und den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft generell abhängig, indem es wie diese die Erfahrung der 54 Für eine Besprechung von Hegels Verständnis des sozialen Lernens als eines Prozesses der „Problemlösung“ siehe Jaeggi 2014, insbesondere S. 394–411. 55 Siehe Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 256. 56 Ibid., § 260.
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individuellen Besonderheit thematisiert. Es ist bezeichnend, dass Hegel die Korporation, zusammen mit der Familie, als eine der „Grundsäulen der öffentlichen Freiheit“57 charakterisiert. Zweitens haben Individuen in Gesellschaften von der Größe, dem Maßstab und der Komplexität, wie sie in der modernen Welt zu finden sind, wenig Möglichkeiten, sich unmittelbar an den Staatsangelegenheiten zu beteiligen. Die Vertretung wird hingegen durch die Teilnahme an dazwischenliegenden Körperschaften, wie der Korporation, besser gesichert. Hegel nennt das „das Geheimnis des Patriotismus“58. Die Anerkennung des politischen Wertes von subpolitischen Einheiten, wie Korporationen, entspricht einem Gemeinwesen, das als ein „gegliederte[s] Ganze[s], dessen Teile selbst besondere, untergeordnete Kreise bilden“59, aufgefasst wird. Drittens trägt die Vielzahl von Korporationsgemeinschaften nicht nur zu den unterschiedlichen Perspektiven bei, die laut Hegel für die dynamische Öffentlichkeit erforderlich sind, wie er in seiner Vorstellung von der gesetzgebenden Handlung darlegt, sondern sie ist auch wesentlich für die Förderung des Gefühls von gemeinsamer Identität, die für eine sittliche Gemeinschaft, wie ein innerlich differenziertes Gemeinwesen, wichtig ist. Die Logik von Hegels Theorie der Sittlichkeit fordert, dass die Korporation von den vom Staat bereitgestellten institutionellen Ressourcen übertroffen wird. Dennoch kann die Natur jener Ressourcen nicht richtig ausgearbeitet werden, ohne Kernelemente der Korporation und bürgerlichen Gesellschaft anzuerkennen. 5. DER STAAT, DIE GESETZGEBUNG UND DIE ÖFFENTLICHKEIT Für die von Hegel in seiner Theorie des Staates entwickelte Vorstellung von Institutionen sind die drei durch die Verfassung autorisierten Gewalten von zentraler Bedeutung: die fürstliche, die regierende und die gesetzgebende Gewalt. Sie instantiieren gemeinsam mit der Verfassung selbst auf einzigartige Weise die Verbindung von subjektiver und objektiver Freiheit, die für die in seiner Lehre von der Sittlichkeit ausgearbeitete Theorie der Institutionen wesentlich ist. Der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt speziell auf der gesetzgebenden Gewalt, der letzten der drei verfassungsgebenden Gewalten. Dieser Fokus rechtfertigt sich dadurch, dass die gesetzgebende Gewalt einen besonderen Bezug zu den Korporationen und der bürgerlichen Gesellschaft generell herstellt. Das ist ein wichtiger Punkt für eine Verfassungstheorie, die wie bei Hegel den Widerstand zwischen formal-rechtlichen Erwägungen und jenen der breiteren Kultur überwindet. Aber die Gesetzgebung ist auch für ein Verständnis der Verfassung selbst wichtig, die für Hegel die breitere Identität der Menschen ausdrückt und diese sogar „bildet.“ Weil sich diese Identität verändert, ändert sich auch die Verfassung selbst. Für eine solche Veränderung ist eine Revision und Wiederinkraftsetzung der Gesetze wichtig, insofern 57 Ibid., § 265. 58 Ibid., § 289 Anm. 59 Hegel, Politische Schriften, Habermas, S. 161.
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sie „weiterer Fortbestimmung“60 bedürfen. Auf diese Weise kommt der gesetzgebenden Gewalt in Hegels Verfassungstheorie ein Sonderstatus zu: Sie ist nicht einfach den Anforderungen der Verfassung unterworfen, wie das für die fürstliche und regierende Gewalt zutrifft, sondern „ist selbst ein Teil der Verfassung“61. Die gesetzgebende Gewalt hat mindestens zwei Möglichkeiten, um ein Volk zu konstituieren: entweder durch die Wahl von Delegierten, ein Prozess, in dem das Volk seinen „souveränen Willen“62 bekräftigt, oder, was noch wichtiger ist, durch die gesetzgebenden Beratungen selbst, in denen eine Vorstellung der kollektiven Identität ermittelt werden soll. Gesetzgebende Abgeordnete stellen in Hegels Sicht keine starren Elemente dar; sie sind nicht „kommittierte oder Instruktionen überbringende Mandatarien“. Von ihnen wird vielmehr erwartet, dass sie sich Fragen von allgemeinem Belang widmen. Bestimmte Anliegen können nur durch die gesetzgebende Versammlung geklärt werden, die selbst verstanden wird als eine Zusammenkunft, die „die Bestimmung hat, eine lebendige, sich gegenseitig unterrichtende und überzeugende, gemeinsam beratende Versammlung zu sein“63. Ähnlich wie zeitgenössische Befürworter der deliberativen Demokratie behauptet Hegel, dass ein geteiltes Interesse nur als das Produkt von gemeinsamem „Mitwissen, Mitberaten und Mitbeschließen“64 der Teilnehmer zu Fragen von allgemeinem Interesse hervorgehen kann. Was die Wähler selbst betrifft, ist Hegel dafür bekannt, ja sogar berüchtigt, dass er ein allgemeines Wahlrecht ablehnt. Bei ihm hat die Praxis von „ein Mann, eine Stimme“ keinen Ort, wobei seine Haltung jedoch nicht in einer elitären Verachtung des Volkswillens verwurzelt ist. Sie leitet sich vielmehr von der Überzeugung her, das allgemeine Wahlrecht selbst könne die Ziele der Ermächtigung des Volkes untergraben. Die Größe, der Maßstab und die Zielsetzung moderner Staaten ist so, dass die Stimme eines einzelnen, isolierten Individuums praktisch keine Auswirkung auf die Entscheidungsfindung der Wahl hat.65 Wenn Bürger an den Punkt gelangen, die Bedeutungslosigkeit ihrer individuellen Stimme für die Wahl zu schätzen, entwickeln sie normalerweise eine Apathie gegenüber dem politischen Prozess, was dann zusätzlich zur Entmachtung eben dieses Volkswillens beiträgt, für den das allgemeine Wahlrecht eintritt. Sofern die Wahlvertretung mehr Macht geben kann, erfordert das von den Individuen, dass sie als Mitglieder von bestimmten Interessengruppen, die Hegel „Stände“ nennt, teilnehmen. Nur durch so eine Standesmitgliedschaft, zu der die andauernde Mitgliedschaft in speziellen Genossenschaften, Gemeinden und auch Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft zählt, können Individuen eine Stimme und auf diese Weise „einen politischen Zusammenhang erhalten“. Allein 60 61 62 63 64 65
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 298. Ibid. Hegel, Politische Schriften, Habermas, S. 320. Siehe auch Vieweg 2012, S. 434f. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 309. Ibid., § 314. Siehe ibid., § 311 Anm.
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durch eine so organisierte Vertretung können sie Einfluss ausüben, und „somit nicht als in die Einzelnen atomistisch aufgelöst und nur für einen einzelnen und temporären Akt sich auf einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd“66. Solche Wahlorgane erleichtern, indem sie „jeden besonderen großen Zweig der Gesellschaft, z.B. für den Handel, für die Fabriken u.s.f.“67 in sich aufnehmen, eine umfassendere Vertretung der politischen Ansichten, die vielfältiger und gesellschaftlich ganzheitlicher ist als das einfache Mehrheitsprinzip, das sich üblicherweise aus dem allgemeinen „ein Mann, eine Stimme“-Wahlrecht ableitet. Dabei nehmen gewählte Abgeordnete als Vertreter bestimmter Stände an der Nationalversammlung teil, doch nicht einfach als Fürsprecher für ein bestimmtes Gruppeninteresse. Durch die Teilnahme an gesetzgebenden Debatten helfen sie, ein im Austausch von unterschiedlichen und entgegengesetzten Standpunkten entwickeltes wirklich allgemeines Anliegen zu formen. Solche Beratungen sind nicht nur für Mitglieder der Gesetzgebung selbst relevant. Sie helfen auch dabei, die breitere Öffentlichkeit in Fragen von allgemeinem Interesse einzubeziehen, ja sogar bei dieser ein „Selbstbewusstsein seiner Freiheit, seines Rechts“68 auszubilden. Diesbezüglich ist die gesetzgebende Debatte für Hegel nicht nur an die öffentliche Meinung, sondern an eine Öffentlichkeit gebunden, die sich durch Pressefreiheit, öffentliches Schulwesen und institutionalisierten Zugang zu den Beratungen der politischen Entscheidungsträger auszeichnet. Hegel ist sich sehr wohl der Grenzen jedes Vertrauens in die öffentliche Meinung bewusst, insofern sie einfach eine Sammlung von zufälligen und unvollständigen Überzeugungen und Gefühlen ist. In dem Maße, in dem sie nur mit dem „Besonderen des Meinen der Vielen“69 verknüpft ist, stellt sie eine endlose Fehlerquelle dar und kann außer Acht gelassen werden. Wenn sie als eine wirklich öffentliche Form von Meinung funktioniert, dann nur weil sie die Öffentlichkeit in Bezug auf die Natur ihrer Interessen bildet. Eine solche Erziehung wird besonders durch die Ressourcen der Öffentlichkeit selbst erleichtert, vor allem durch die Öffentlichkeit der gesetzgebenden Beratungen. Indem es Individuen ermöglicht wird, den Austausch von Argumenten in der Versammlung mitzuerleben, können sie dadurch ihre Sicht auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse klären, entwickeln und Wissen erwerben. Die Kenntnis durch die Öffentlichkeit „hat die allgemeinere Seite, dass so die öffentliche Meinung erst zu wahrhaften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber vernünftiger zu urteilen, kommt“70. Hegels Punkt ist jedoch nicht einfach, dass Öffentlichkeit die Bürger über die Staatsangelegenheiten unterrichten soll, sondern sie erleichtert auch eine Beziehung zwischen gesetzgebenden Delegierten und politischen Entscheidungsträgern 66 67 68 69 70
Ibid., § 308. Ibid., § 311 Anm. Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18), § 154. Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 316 und 318. Ibid., § 315.
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einerseits und den breiter gefassten Gefühlen der Bürger und der umfassenderen Domäne der öffentlichen Meinung andererseits. Ein Staat mit einer reichen Öffentlichkeit wird durch die Lebendigkeit des Verhältnisses von offiziellen Regierungsinstitutionen zum Volk charakterisiert. Eine solche Lebendigkeit bildet, wie bei der Verfassung, das Gemeinwesen selbst. In der modernen Gesellschaft wird ein Gemeinwesen in dem Maße richtig gebildet, als Individuen sich selbst in den Bedingungen ihrer sozialen Existenz wahrnehmen. Das ist für das Recht auf subjektive Freiheit wichtig, das „Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe“71. Eine solche Anerkennung wird hauptsächlich „durch Einsicht und Gründe“72 erleichtert. Insofern die Versammlung der Stände ein Forum für vernünftiges Argumentieren über Fragen von allgemeinem Interesse bietet, bildet sie jene Vermittlung von objektiver und subjektiver Freiheit, die ein echtes Gemeinwesen belebt. Hegels Vorstellung von Öffentlichkeit bietet somit eine einzigartige Stütze für die öffentliche Vernunft: nicht nur indem Fragen von allgemeinem Interesse Beachtung geschenkt wird, sondern auch indem eine Vorstellung von politischer Gemeinschaft gefördert wird, die mit Hegels Konzept des Geistes im Einklang steht und vor allem durch das Reflektieren einer Gemeinschaft über die Bedingungen ihrer eigenen Gemeinschaftlichkeit. Dieser Punkt beleuchtet Hegels Vorstellung von der Natur politischer Institutionen. Eine funktionierende Öffentlichkeit ist darauf angewiesen, dass es in gesetzgebenden Körperschaften und in breiteren öffentlichen Foren etablierte Praktiken und Vereinbarungen gibt, die es Individuen ermöglichen, ihre Ansichten zu Fragen von allgemeinem Interesse voranzubringen und zu klären. Institutionen sind dadurch trotzdem nicht einfach Strukturen, die politische Reden und öffentliche Kommunikation erleichtern, sondern sie werden durch das Handeln von Individuen selbst geprägt und gebildet. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Legitimität politischer Institutionen hängt von der Fähigkeit der Individuen ab, auch in ihrer Rolle als Mitglieder von gesellschaftlichen Subsphären, ihren Willen und ihre Identität in den Institutionen gespiegelt zu sehen. Institutionen sind für ihre Lebendigkeit auf die Verpflichtung von Individuen – einzeln und gemeinsam, unmittelbar und indirekt – zur andauernden Unterstützung jener Institutionen angewiesen. Sie werden nur in den Formen der sozialen Interaktion und dem öffentlichen Engagement richtig gebildet und wiederhergestellt, indem Individuen und Gruppen implizit und explizit institutionelle Vereinbarungen selbst erlassen und wieder in Kraft setzen. All diese Aspekte verleihen der anhaltenden und weitreichenden Vermittlung von objektiver Struktur und subjektivem Gefühl Ausdruck, die einer Institutionenlehre angemessen ist, die in einer Vorstellung von Sittlichkeit verwurzelt ist. 71 Ibid., § 132 Anm. 72 Ibid., § 316.
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6. INSTITUTIONEN UND NORMATIVITÄT In diesem Kapitel wurden Elemente von Hegels einzigartiger Theorie der Institutionen beleuchtet. Dabei konnte nachgewiesen werden, wie jene Theorie durch seine Vorstellung von Sittlichkeit und allgemeiner durch sein Konzept des Geistes erhellt wird. Diese Auslegung von Hegels Position ermöglichte auch eine Würdigung ihres normativen Charakters. Hier geht es jedoch nicht einfach um die Anerkennung der Art, wie Institutionen die in den sozialen Praktiken und Verhaltensweisen bestimmter Lebensformen wirksamen Normen verkörpern und artikulieren. Institutionen werden von Hegel auch im Hinblick auf ihre Fähigkeit gedeutet, die Prinzipien auszudrücken, welche die Idee der Sittlichkeit selbst untermauern, wie zum Beispiel das Selbstsein im Anderssein, die Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft und die Verbindung von subjektivem Gefühl und objektiver Struktur. Institutionen werden auch daraufhin untersucht, ob sie das Prinzip der internen Reflexivität instantiieren können, das dem Konzept des Geistes in Hegels praktischer Philosophie zugrunde liegt. Wenn dennoch eine normative Dimension in Hegels Vorstellung von Institutionen erkannt wird, soll damit nicht gesagt werden, dass diese abstrakt gebildet wurde. Im Einklang mit einer praktischen Philosophie, die als Theorie des objektiven Geistes verstanden wird, wurzelt jene Normativität in der Realität existierender sozialer Umstände. Institutionen müssen nicht nur Möglichkeiten aufzeigen, mit denen sich Individuen in den objektiven Bedingungen ihres sozialen Lebens lokalisieren können, sondern sobald jene Bedingungen ihre erhaltende Lebendigkeit verlieren, rufen sie ihre eigene Kritik und Umwandlung hervor. Gleichermaßen weist das Prinzip der internen Reflexivität auf Entwicklungen hin, die der objektiven Realität selbst eigen sind. Die endgültigen Formen der Institutionen in den Domänen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates – die Korporation und die gesetzgebende Gewalt – werden nicht nur durch das Engagement mit wechselnden Modellen und Praktiken validiert, sondern jene Formen, die Idee von Gemeinden verkörpernd, die auf die Bedingungen ihrer eigenen Gemeinschaft achten, stellen performativ ihre eigene Validation dar. Deshalb gab Hegel seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts den Untertitel: „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“. Die Institutionenlehre als herausragender Bestandteil der Rechtsphilosophie artikuliert perfekt die gegenseitige Durchdringung von normativen und empirischen Überlegungen. Aus dem Englischen von Gudrun Dauner übersetzt
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GEKRÄNKTES WOHL UND SEINE GEWALTBEREITSCHAFT Mirko Wischke Der Staat bestimmt sich laut Hegel durch seine Staatsmacht.1 Die gegenseitige Anerkennung staatlicher Souveränität ist eine Anerkennung der jeweiligen Staatsmacht. Souverän kann ein Staat nur im Verhältnis zu anderen Staaten sein,2 und dazu bedarf es gewisser Voraussetzungen: zum einen, dass man sich enthält, Nachbarstaaten in Sachen politischer Spannungen und sozialer Konflikte Ratschläge erteilen oder gar Vorschriften machen zu wollen. Zum anderen, dass die Staaten untereinander ihre Souveränität anerkennen. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und die Anerkennung der Staatsmacht sind die beiden Prinzipien, die die Souveränität eines jeden Landes garantieren. Beide Prinzipien entbehren in Hegels Darstellung nicht gewisser Konfliktpotentiale.
VERTRAGSSICHERHEIT ODER VERTRAGSUNTREUE Ein Konfliktpotential bildet das Prinzip der Nichteinmischung. Der Respekt vor der Selbständigkeit anderer Staaten kann die einzelnen Staaten nicht in Gleichgültigkeit vor dem versinken lassen, was im Innern ihrer Nachbarstaaten vorgeht.3 Staaten können nicht gleichgültig gegenüber bestimmten Entwicklungen (Machtwechsel, Aufrüstung usw.) ihrer Nachbarn sein, die ihre Sicherheit gefährden könnten. Es liegt im Ermessen eigenen Wohlergehens – ein Begriff, der noch zu klären sein wird –, in die Angelegenheiten anderer Staaten zu intervenieren, sei es diplomatisch oder mit militärischen Mitteln, wenn Entwicklungen sich abzeichnen, die Konflikte heraufbeschwören und Gewaltpotentiale freizusetzen drohen. Die gegenseitigen Verbindlichkeiten der Staaten beruhen zwar auf „Traktaten“ und sollen entsprechend dem Grundsatz des Völkerrechts eingehalten werden.4 Das Völkerrecht besitzt jedoch keine verbindliche Rechtsnatur;5 die Einhaltung der Traktate ist alles andere als sicher: Es gibt keine Vertragssicherheit. Vertragliche Verbindlichkeiten bleiben ein Sollen, da die Verbindlichkeit der Rechte, die die Traktate regeln sollen, nicht das Resultat einer über die Staaten sich 1 2 3 4 5
Hegel, Verfassung Deutschlands, TWA 1, S. 577. Vgl. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 331 A. Vgl. ibid., § 331. Vgl. ibid., § 333. Vgl. ibid., §§ 338, 339.
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konstituierenden „allgemeinen […] Macht“6 ist, sondern auf den „besonderen Willen“ der jeweiligen Staaten beruht. Die Staaten stehen „in ihrem Verhältnisse der Selbständigkeit als besondere Willen gegeneinander“, und diese gegensätzlichen Willen entscheiden über das „Gelten der Traktate“7, d.h. über ihre Dauer und Einhaltung oder Einschränkung und Aufkündigung. Souveräne Selbstständigkeit schließt zwar prinzipiell kein zwischenstaatliches Recht aus. Ob und inwieweit sich daran souveräne Staaten in ihren politischen Entscheidungen halten, ist jedoch mehr als fraglich. Hegel geht davon aus, dass Staaten sich an einen Vertrag mit anderen Staaten lediglich solange gebunden fühlen, wie dieser für sie von Vorteil ist. Entfällt der Vorteil, entscheidet der Staat, ob und inwieweit er sich weiterhin an den Vertrag gebunden fühlt; es liegt in seiner Macht, zu ermessen, ob die Gründe, die ihn zum Vertragsabschluss bewegt haben, hinfällig geworden sind, und es Gründe für die berechtigte Sorge geben könnte, dass ein solcher Vertrag nunmehr von Schaden sein könnte, daher unter keinen Umständen länger als notwendig eingehalten werden sollte. Ab wann die Aufkündigung eines Vertrages notwendig oder seine vorläufige Einhaltung bis auf Weiteres ratsam ist, entscheidet das Wohlergehen, über das die Staatsmacht befindet. Ähnlich argumentiert Machiavelli, wenn er fordert, dass ein kluger Fürst „sein Wort“ weder halten kann noch darf, „wenn es für ihn von Nachteil ist und wenn die Gründe wegfallen, die ihn zu einem Versprechen bestimmt haben“. Dass Menschen nicht Wort halten, ist für Machiavelli ebenso die Regel wie die Vertragsuntreue. Einem Fürsten fehlen „niemals gute Gründe, seinen Wortbruch zu bemänteln“; es gebe zahllose Beispiele dafür anzuführen, „wie viele Verträge, wie viele Versprechungen durch die Untreue der Fürsten eitel und vergeblich geworden sind“8. DAS WOHLERGEHEN DES STAATES An die Stelle des Fürsten, der bei Machiavelli frei darüber entscheidet, ob und welche Verträge wie einzuhalten sind, rückt bei Hegel das Wohlergehen, über das die Staatsmacht befindet. Begründet ist die Priorität des eigenen Wohlergehens in dem, was den Staat als ein „konkrete[s] Ganze[s]“ auszeichnet: die Verknüpfung von Recht als „abstrakter Freiheit“ und Wohl, als dem die Freiheit „erfüllenden besonderen Inhalte“9. Im Unterschied zu Machiavellis Fürsten handelt die Staatsmacht bei Hegel in der Entscheidung über Wohl und Unwohl nicht willkürlich, sondern „nach Gesetzen“, die im Staatsrecht verankert sind.10 Die Freiheit, selbst zu entscheiden, worin das eigene Wohl besteht, ist verschränkt mit dem Recht, aus dem die Grundsätze für die Beurteilung von Wohl und Unwohl abzuleiten sind. 6 7 8 9 10
Ibid., § 336. Ibid., § 336. Machiavelli 1987, S. 103. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 336. Ibid., § 270.
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Um das Wohlergehen geht es auch in der vom Staat getrennten Sphäre des Notund Verstandesstaates der bürgerlichen Gesellschaft, deren ökonomische Mechanismen zu Armut und sozialer Polarisierung führen – eine Tendenz, die die Institute des bürgerlichen Rechts weder aufhalten noch zu verhindern in der Lage sind und die der Staat durch vorsorgende Verwaltungstätigkeit der Polizei einzudämmen versucht.11 Hegel mag gegenüber partizipatorischen Politikkonzepten Skepsis an den Tag legen,12 und er betont, dass „das Wohl eines Staats eine ganz andere Berechtigung […] als das Wohl des Einzelnen“13 hat. Gleichwohl zählt zum staatlichen Wohlergehen das Wohl der Bürger, allerdings nicht in der Weise, dass er sich als Aufgabe die Sicherheit und den „Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit“14 der Bürger setzt. Der Staat sorgt zwar nicht für das Wohlergehen des einzelnen Bürgers, wohl aber trifft der Staat institutionell Vorsorge für die Absicherung des Wohlergehens seiner Bürger. Auch wenn es beim Wohlergehen der Staatsmacht nicht um das Wohlergehen der Bürger geht, sind der Staat und die Gesellschaft „reziprok aufeinander verwiesen“15, und die Vertragsstruktur ist beim Staat wie in der bürgerlichen Gesellschaft die gleiche. Wie der Staat einen Vertrag danach beurteilt, ob und inwiefern er zu seinem Wohlergehen beiträgt, geht es auch in der bürgerlichen Gesellschaft beim Vertrag um den wechselseitigen Nutzen. In beiden Fällen ist die Vertragseinhaltung nicht abhängig von religiösen oder moralischen Ansichten, sondern von der zugesicherten Leistung. Allerdings ist die Vertragssicherheit durch den in Aussicht gestellten Nutzen keineswegs garantiert. Die Nutzenmaximierung allein vermag den Bestand eines Vertrages nicht zu sichern. Entfällt der Nutzen oder scheint geringer zu sein als erwartet, sollte sich ein „kluger Staatsmann“ (Machiavelli) unter keinen Umständen länger an den Vertrag halten als geboten, bevor der für ihn schlechte Vertrag zu einer nur schwer zu meisternden Bürde für ihn wird. Kein Vertrag kann allein durch seinen Nutzen Verbindlichkeit erlangen; wenn die mit dem Vertrag verbundene Nützlichkeit für eine der vertraglich gebundenen Personen wegfallen sollte, so argumentiert Spinoza, verliert der Vertrag seine Verbindlichkeit.16 Gegen die durch Machiavelli und Spinoza verkörperte Traditionslinie der Rechtfertigung der Vertragsuntreue wendet sich Hobbes, für den Verträge in jedem Fall einzuhalten sind. Wenn einer der Vertragspartner seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, hat er laut Hobbes einen berechtigten Anspruch auf die versprochene Leistung des anderen, der in seiner Schuld steht.17 Selbst in dem Fall, dass einer Person ein Vertrag aufgezwungen oder in Todesangst das Versprechen abnötigt worden sei, einen sehr hohen Geldbetrag im Tausch für sein Leben zu geben, steht für Hobbes außer Frage, dass der Vertrag und das mit ihm gegebene 11 12 13 14 15 16 17
Bogdandy 1989, S. 112. Fischer 2002, S. 123. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 337. Ibid., § 258, vgl. § 324. Fischer 2002, S. 120. Spinoza 2010, § 12, S. 25. Hobbes 1987, S. 115. Vgl. Wischke 2003, S. 41–54.
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Versprechen einer Leistung einzuhalten ist.18 In der Sphäre der Politik wäre diese Haltung für Spinoza naiv und gefährlich. Hegel stimmt Spinoza darin zu, dass die grundsätzliche Einhaltung eines vertraglichen Versprechens – wie Hobbes es fordert – bloß weil es gegeben worden ist, töricht ist. Entfällt die Nützlichkeit einer vertraglichen Bindung, so ist die gegebene Zusage ungültig – es sei denn, wie Spinoza zu bedenken gibt, dass aus einer nicht eingehaltenen vertraglichen Zusage „mehr Schaden als Nutzen erwächst“19. Hegel nimmt diesen Gedanken auf, wobei er die Option der Untreue gegenüber versprochenen Zusagen vertragstheoretisch begründet, d.h. Gründe formuliert, die aus seiner Sicht in der Konstruktion des Vertrages selbst gegen eine prinzipielle Vertragseinhaltung sprechen. Staaten schließen Verträge miteinander ab, ähnlich wie die Bürger „miteinander Verträge über Transaktionen […] schließen, deren Erfüllung ihnen jeweils individuelle Mittel zur Verwirklichung von wechselseitig nicht weiter relevanten Interessen verschafft“20. In Verträgen werden gegenseitige Leistungen vereinbart, die die Vertragspartner zu erbringen sich verpflichten, um dafür ihrerseits jeweils das Recht auf eine oder mehrere Leistungen zu haben. Was genau die Leistungen umfassen, fixiert der Vertrag. Umfang und Art der Leistung handeln die jeweiligen Vertragsparteien miteinander aus; das Resultat ist ein Vertrag. Der Vertrag beruht auf einem „gemeinsamen Willen“21; es ist diese Gemeinsamkeit, die den Vertrag verbindlich werden lässt. Neben der Verbindlichkeit der Vereinbarungen, die ein Vertrag nach dem Abschluss für die Vertragsabschließenden hat, beruht der Vertrag auf einem Vertrauensvorschuss, den jeweils eine Vertragspartei der anderen einräumt. Beides trifft auf die gegenseitigen Verbindlichkeiten bei Staaten laut Hegel nicht zu. Sowohl bei den Bürgern als auch bei Staaten basieren Verträge auf dem Versprechen von gegenseitigen Leistungen und auf dem Vertrauen in das Versprechen dieser Leistungen. Ohne die berechtigte Hoffnung auf den beiderseitigen Nutzen und ohne das Vertrauen auf die Einhaltung des Versprechens, das die Vertragsabschließenden sich gegenseitig geben, um Leistungen auszutauschen, würde kein Vertrag zustande kommen. Zu der prinzipiellen Bindungskraft des Versprechens geht Hegel auf Distanz, und zwar nicht allein aus den Gründen, mit denen Spinoza die Vertragsuntreue rechtfertigt, die Machiavelli aus politischem Pragmatismus fordert.
18 19 20 21
Hobbes 1926, S. 105f. Spinoza 2010, § 12, S. 25. Honneth 2001, S. 117. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 171.
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ÜBEREINKUNFT UND UNRECHT DES VERTRAGES Hegel charakterisiert den Vertrag als das Verhältnis zweier Gebundener und Bindender.22 Die Vertragspartner binden sich gegenseitig durch ihre Übereinkunft und sind zugleich gebunden an ihre Zusage. Durch die „Übereinkunft (Stipulation)“ soll etwas „mein“ werden, und zwar durch eine „Leistung“23. Das Kriterium für die Gültigkeit eines Versprechens ist nicht die äußere Form der Übereinkunft (Stipulation). In der Übereinkunft bekunden die Vertragspartner ihren „gemeinsamen Willen“, wohingegen in der Leistung der besondere Wille hervortritt; Übereinkunft und Leistung „liegen […] auseinander“24. Im Vertrag ist das Recht etwas „Gesetztes“, insofern die Vertragspartner zufällig, d.h. willkürlich in etwas übereinstimmen, was für beide vorteilhaft erscheint.25 Die besondere Konstellation des Vertrages besteht darin, dass „hier Wille sich zu Willen verhält“26, der gemeinsame Wille in der Übereinkunft und der besondere Wille in der zugesagten Leistung. Zwischen beidem besteht ein bleibender „Gegensatz“27, der eine nie versiegende Quelle von unrechtmäßigen Vertragsbrüchen bildet. Das Vertragsrecht ist eine „Erscheinung des Rechts“, in dem es „zur Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens“ als einem besonderen „Recht“28 kommt. Das Unrecht des Vertragsbruchs liegt in der Natur des Vertrages: Der Vertrag ist „dem Unrechte preisgegeben“, und zwar durch das Ungleichgewicht der beiden „besonderen Willen“29 im Hinblick auf die zugesagten Leistungen und im Hinblick auf die Willkür der in der Übereinkunft getroffenen Zusagen. Sind Verträge dem Unrecht preisgegeben, ist der Vertragsbruch nicht das Resultat eines fehlenden Vertrauensvorschusses oder der Wegfall dessen, was die jeweilige Staatsmacht an Bedeutung und Wert mit der zugesagten Leistung verbindet. Staaten binden sich an Verträge, wenn dies im Interesse des eigenen Wohlergehens als geboten erscheint, und in der vertraglichen Übereinkunft liegt „das Recht“, die zugesagte „Leistung zu verlangen“30. Da diese jedoch „Sache des besonderen Willens“ ist, kann dieser „dem an sich seienden Recht“ – der in der Übereinkunft getroffenen Zusage und dem damit gegebenen Versprechen – „zuwiderhandeln“, d.h. „Unrecht“31 im Sinne der vertraglichen Bestimmungen tun. 22 Ibid., § 81. 23 Ibid., § 80. 24 Ibid., § 78. Den aus der Unterscheidung zwischen der gegenseitigen Übertragung von Rechten zur direkten Erfüllung (contractus) und vertraglich vereinbarten Leistungen (pactum), die nicht unmittelbar erbracht, sondern für die Zukunft versprochen werden, hervorgehenden ‚doppelten‘ Vertragsbegriff thematisiert Hegel, ohne dass dieser von Einfluss auf seine Ausführung über das internationale Staatenverhältnis wäre. 25 Ibid., § 82. 26 Ibid., § 78. 27 Ibid., § 81. 28 Ibid., § 82. 29 Ibid., § 81. 30 Ibid., § 81. 31 Ibid., § 81.
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So gerechtfertigt Vertragsuntreue für die jeweilige Staatsmacht unter bestimmten Umständen auch sein mag, ist sie doch für den Staat, der vergebens auf die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen pocht, die ein anderer Staat ihm zugesagt hatte, eine politische Provokation. Vertragsbruch und Vertragsverletzungen sind für Hegel gleichbedeutend mit Verstößen gegen äußeres Staatsrecht. Da es keine rechtliche Macht gibt, der sich das äußere Staatsrecht souveräner Staaten beugen müsste, und das Völkerrecht auf Traktaten beruht, über deren Einhaltung die Staaten vom Standpunkt ihres jeweiligen Wohlergehens befinden, führen Verstöße gegen äußeres Staatsrecht zu militärischen Konflikten. Kriege sind im Zustand der Gleichrangigkeit souveräner Staaten potentiell unvermeidbar. Eskalierende Streitigkeiten zwischen den Staaten, die sich beispielsweise aus Vertragsverletzungen ergeben, lassen sich letztlich allein durch einen Krieg oder durch die Androhung militärischer Gewalt schlichten.32 Die Staaten sind „souveräne Willenssubjekte“33. Sie können sich vertraglich gegenseitig verpflichten und untereinander anerkennen. Der Status ihrer Souveränität bleibt davon unberührt. In der bürgerlichen Gesellschaft werden Vertragstreue, Verbindlichkeit und Anspruch der Einklagbarkeit von versprochenen Leistungen über das geltende Recht durch die souveräne Staatsgewalt garantiert. Auf internationaler Ebene gibt es keine vergleichbare Struktur. Die Verträge zwischen den Staaten werden nach dem Prinzip der Souveränität geschlossen, und die Staaten entscheiden jeweils selbst, ob und inwiefern für sie die Einhaltung der Traktate verbindlich ist und bleibt. Die „Staaten sind keine Privatpersonen“, so argumentiert Hegel, daher stelle sich ihr „Verhältnis anders als ein bloß […] privatrechtliches“ dar, bei dem ein Gericht gegebenenfalls entscheidet, was Recht und Unrecht ist.34 Ein solches Gericht ist im Verhältnis zwischen Staaten für Hegel undenkbar: Das „Staatsverhältnis“ soll „zwar auch an sich rechtlich sein“, jedoch mangelt es „in der Weltlichkeit“ an einer entsprechenden „Gewalt“, die das Recht im transnationalen Recht durchsetzt und „gegen den Staat entscheidet, was an sich Recht ist“.35 Als verlängerter Arm der Regierungsgewalt setzt zwar staatliches Recht (und deren Institutionen) „das Allgemeine des Rechts im Chaos des Besonderen“36 durch, jedoch ist es eben nur das jeweilige („äußere“) Staatsrecht und kann dementsprechend im Konfliktfall keine verbindlichen Ansprüche gegen anderes Staatsrecht geltend machen. Es ist keine Institution denkbar, die Staaten zur Einhaltung von Verträgen (ggf. mit Gewalt) zwingen könnte. Das Völkerrecht besitzt keinerlei Sanktionsmöglichkeiten.37 Der Souveränität der Nationen steht keine staatsübergreifende Gewalt gegenüber, die ihre Macht eindämmen könnte. Es ist „keine Gewalt vorhanden […], welche gegen den Staat entscheidet, was an sich Recht ist, und die diese Entscheidung verwirklicht“38. Die Staatsgewalt (einschließlich ihres 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. ibid., § 334. Ibid., § 333. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 324. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 330. Ibid., § 330. Schnädelbach 2000, S. 326. Vgl. Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 338, 339. Ibid., § 333.
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äußeren Staatsrechts) ist die „absolute Macht auf Erden“39. Das normative Sollen transnational vertraglicher Verpflichtungen ist der Staatsgewalt (und dem äußeren Staatsrecht) lediglich aufgepfropft. Eine internationale Friedensordnung ist mit dem Souveränitätsprinzip unvereinbar.40 Hier tritt ein weiteres Konfliktpotential hervor: Verträge können das Konfliktpotential eskalierender Streitigkeiten zwischen Staaten weder eindämmen noch austrocknen. Verträge legen Konflikte gleichsam auf Eis. Die Anerkennung der Souveränität der Staatsmacht regeln Traktate, und zwar auf der Grundlage äußeren Staatsrechts, jedoch ohne Rechtssicherheit. Unterschätzt Hegel die politischen Institutionen des Rechts?
VERTRAGSRECHT UND STAATSRECHT Bereits Hegels Untersuchung des reziproken Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ist von einem Pessimismus bezüglich der Leistungskraft der Institutionen des Rechts gezeichnet.41 Was die Leistungsfähigkeit des Rechts als Steuerungsinstrument dysfunktionaler Gesellschaftsprozesse betrifft, neigt Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu einem „ausgesprochenen Regelungspessimismus“42. Gleiches trifft auf das Völkerrecht zu; es ist in Hegels Perspektive eine Überschätzung der Leistungskraft der politischen Institutionen des Rechts. Wie die bürgerliche Gesellschaft im Recht nur auf ein begrenzt leistungsfähiges Steuerungsmittel ihrer Konflikte und Probleme zurückgreifen kann, lassen sich strittige Fragen und zu eskalieren drohende Konflikte zwischen Staaten mit den Mitteln eines fragilen Vertragsrechts nur provisorisch beilegen. Das vertraglich miteinander geregelte Verhältnis der souveränen Staaten beruht auf äußerem Staatsrecht: Ein Recht, das dem Wohlergehen der jeweiligen Staatsmacht nach außen, d.h. gegenüber anderen Staaten und deren Interesse am jeweiligen Wohlergehen, verpflichtet ist. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Recht ein staatlich gesetztes Recht, und der Staat ist der normative Geltungsgrund des Gesetzes. Der Staat konditionalisiert die Verbindlichkeit des Rechts.43 Eine vergleichbare Konditionalisierung des Rechts zwischen den Staaten fehlt, und diese Leerstelle füllt das Wohlergehen aus. In der Verfolgung der je eigenen Interessen orientieren sich die souveränen Staaten an dem, was Hegel als Wohlergehen bezeichnet. Mit dem Wohlergehen ist ein weiteres Konfliktpotential in den Prinzipien der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und der Anerkennung der Staatsmacht angelegt, und zwar ein schwer berechenbares, unkalkulierbares Konfliktpotential. 39 40 41 42
Ibid., § 331. Schnädelbach 1997, S. 264. Vgl. Wischke 2010, S. 125–155; Wischke 2009, S. 121–132. Bogdandy 1989, S. 114. Diese Charakteristik steht im Gegensatz zu dem an Hegel gerichteten Vorwurf des Gesetzestotalitarismus durch Tugendhat 1979, S. 349, 357. 43 Vgl. Bogdandy 1989, S. 137.
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Ein Konfliktpotential zwischen den souveränen Staatsmächten kann durch unterschiedliche Umstände freigesetzt werden und aufbrechen: durch eine teilweise Nichteinhaltung von vertraglichen Verpflichtungen oder den offenen „Bruch der Traktate“ sowie die Infragestellung oder Verweigerung der Anerkennung staatlicher Souveränität, was ebenso eine Verletzung der „Ehre“44 des betroffenen Staates darstelle wie die Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Dass die Streitigkeiten zwischen den Staaten zu offenen militärischen Konflikten eskalieren können, hängt laut Hegel nicht nur davon ab, welche einzelnen Bereiche ein Staat als Teil seiner Souveränität betrachtet. Je mehr nämlich Staaten ihre Ansprüche auf Souveränität und Nichteimischung auf unterschiedliche Bereiche ausdehnen und geltend machen, umso mehr führt dies laut Hegel zu einer Dynamik der „Reizbarkeit“45. Dazu können Staaten in dem Maße geneigt sein, wie „eine kräftige Individualität durch lange innere Ruhe dazu getrieben wird, sich einen Stoff der Tätigkeit nach außen zu suchen und zu schaffen“46. Neben der Kontingenz solcher politischen Besonderheiten fallen in die Dynamik der Reizbarkeit auch die Sorge der Staatsmacht um eine Verletzung der ureigenen Interessen staatlicher Souveränität (Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten usw.) und entsprechende präventive Maßnahmen der Vorbeugung von drohenden Gefahren und Abschreckung anderer Staaten vor Verletzungen staatlicher Souveränität. Welche Maßnahmen das sind und in welchem Maße Staaten sich durch andere Staaten provoziert und herausgefordert fühlen könnten, das hängt von der „Vorstellung von einer solchen als einer von einem andern Staate drohenden Gefahr mit dem Herauf- und Hinabgehen an größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen der Absichten usf. als Ursache von Zwisten“47 ab. Die Einschätzung dieser Gefahr erfolgt in Abhängigkeit von der Besonderheit der Prinzipien des jeweiligen Staates – Prinzipien, die das Resultat „beschränkte[r]“ nationaler Geister und deren – von einer „Dialektik der Endlichkeit dieser Geister“ gekennzeichneten – „Schicksale und Taten“48 sind. Daher mag das Verhältnis der Staaten zwar vom „höchst bewegte[n] Spiel der inneren Besonderheit der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente und Tugenden, der Gewalt, des Unrechts und der Laster wie der äußeren Zufälligkeit“ gekennzeichnet sein. Jedoch wird nicht nur die staatliche „Selbständigkeit […] der Zufälligkeit“ ausgesetzt, sofern sich Staaten diesem Spiel hingeben, sondern auch das, was die Staaten durch die Anerkennung ihrer souveränen Macht absichern wollen: das substantielle, eigene Wohlergehen.49 Das, was als Bedrohung durch andere Staaten gilt, bestimmt sich letztlich nicht als ein abstrakt oder zufällig bedrohlich anmutendes Szenario, sondern als die Wahrnehmung einer konkreten Gefahr für das eigene Wohlergehen. Inhaltlich konzentriere sich die staatliche Souveränität (in ihrem „besonderen Willen“) auf das eigene „Wohl 44 45 46 47 48 49
Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 334. Ibid., § 334. Ibid., § 334. Ibid., § 335. Ibid., § 340. Ibid., § 340.
Gekränktes Wohl und seine Gewaltbereitschaft
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überhaupt“; das substantielle Wohl ist das „höchste Gesetz“50, von dem sich die Staaten in ihrem Verhalten zu einander leiten lassen. Das „substantielle Wohl des Staats“ bestimmt sich in Hinblick auf drei Aspekte: als das „Wohl […] eines besonderen Staats“ in seinem aus besonderer, geschichtlicher Konstellation hervorgegangenen „Interesse und Zustande und den ebenso eigentümlichen äußeren Umständen nebst dem besonderen Traktaten-Verhältnisse“51. Es sind diese drei Aspekte, die die historische Eigentümlichkeit der jeweiligen Staatsmacht kennzeichnen und seine „konkrete Existenz“, wie Hegel es nennt, hervorbringen. Allein „diese konkrete Existenz“ bestimmt das „Prinzip“ staatlichen „Handelns“ und keine „moralische[n] Gebote“52. Was entsprechend der jeweilig konkreten Existenz des Staates unter dem Wohlergehen zu verstehen ist, das obliegt der „besondere[n] Weisheit“ der Regierung, nicht der „allgemeine[n] Vorsehung“53. Über sein Wohlergehen ist der Staat keiner anderen Macht als sich selbst rechenschaftspflichtig. Jegliche Mitspracheansprüche anderer Staaten, in welcher Form auch immer, kränken den Staat in dem, was er als sein wohlverstandenes Wohlergehen begreift. Unterschätzt Hegel das Konfliktpotential, das er mit dem Wohlergehen des Staates beschreibt? Gegenseitige Verträge und das eigene Wohlergehen bilden eine äußerst brüchige Allianz im Verhältnis der Staaten. Ebenso wie die „Verhältnisse zu anderen Staaten“ kennt auch „das Prinzip für die Gerechtigkeit der Kriege und Traktate“ nur eine Norm: „das wirklich gekränkte oder bedrohte Wohl in seiner bestimmten Besonderheit“54. Die Quelle staatlicher Gewaltbereitschaft liegt im gekränkten oder als bedroht empfundenen Wohlergehen. Das Konflikt- und Gewaltpotential, das die Kränkungen oder Bedrohungen des Wohls eines Staates bilden, kann durch die Besonderheit der „Traktaten-Verhältnisse“ weder eingedämmt noch ausgetrocknet werden. Staaten sind bestrebt, Übel abzuwenden, die ihr Wohl bedrohen oder ihr Wohlergehen kränkend beinträchtigen (könnten). Daher ist das Gebot der prinzipiellen Vertragstreue in Hegels Perspektive nur dann sinnvoll, wenn der Schaden aus einer nicht eingehaltenen vertraglichen Zusage größer als der Nutzen ist, und die grundsätzliche Einhaltung eines gegebenen vertraglichen Versprechens töricht. Wer die „Gewalt behält, eine Zusage zu brechen“55, der ist dem „Unrechte“, das ihm durch ein Vertragsverhältnis widerfahren könnte, nicht hilflos „preisgegeben“56, denn er hat sein Recht auf Wohlergehen „nicht tatsächlich aufgegeben“57.
50 51 52 53 54 55 56 57
Ibid., § 336. Ibid., § 337. Ibid., § 337. Ibid., § 337. Vgl. § 324 Anm. Ibid., § 337. Vgl. § 324 Anm. Hervorhebung von mir. Spinoza 2010, § 12, S. 25. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 81. Spinoza 2010, § 12, S. 25.
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Mirko Wischke LITERATUR
Bogdandy, Armin von, 1989: Hegels Theorie des Gesetzes, Freiburg-München. Fischer, Karsten, 2002: Tugend, das Interesse und der Weltlauf. Hegel jenseits des Etatismus. In: Politisches Denken, Jahrbuch, S. 111–127. Hegel, G. W. F., 1970: Die Verfassung Deutschlands. In: Theorie-Werkausgabe, hrsg. von Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus, Bd. 1, Frankfurt am Main, S. 449–610. Ders., 1970: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Theorie-Werkausgabe, hrsg. von Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus, Bd. 7, Frankfurt am Main. Hobbes, Thomas, 1987: Leviathan oder Materie, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, hrsg. v. Klenner, Hermann, Leipzig. Honneth, Axel, 2001: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart. Machiavelli, Niccolò, 1987: Der Fürst, Leipzig. Schnädelbach, Herbert, 2000: Hegels praktische Philosophie, Frankfurt am Main. Ders., 1997: Die Verfassung der Freiheit. In: Siep, Ludwig (Hrsg.), Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, Klassiker Auslegen, Berlin, S.243–265. Spinoza, Baruch de, 2010: Politischer Traktat, hrsg. v. Bartuschat, Wolfgang, Sämtliche Werke, Bd. 5, Hamburg. Tugendhat, Ernst, 1979: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main. Wischke, Mirko, 2003: Pacta sunt servanda. Verpflichtung und Wohlergehen in der Vertragstheorie von Thomas Hobbes. In: Acta Universitatis Palackianae Olomoucensis, Facultas Philosophica: Philosophica-Aesthetica 12, Philosophica, S. 41–54. Ders., 2009: Gesetz und Zwang. Über das Verhältnis von Politik und Recht in Hegels ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘. In: Arndt, Andreas, Iber, Christian u. Kruck, Günter (Hgg.), Recht und Ordnung: Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, Berlin, S. 121–132. Ders., 2010: Freiheit ohne Recht? Hegel über die Bestandsvoraussetzungen des Rechtsstaates. In: Wischke, Mirko und Przylebski, Andrzej (Hgg.), Recht ohne Gerechtigkeit? Hegel und die Grundlagen des Rechtsstaates, Würzburg, S. 125–155.
RECHT UND GESCHICHTE. ZUR BEDEUTUNG DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE IN HEGELS PHILOSOPHIE DES RECHTS Johannes Rohbeck Das letzte Kapitel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mit dem Titel „Die Weltgeschichte“ ist ziemlich rätselhaft. Es scheint aus dem Rahmen zu fallen und thematisch nicht mehr dazuzugehören. Die Philosophie des Rechts und der Geschichte sind unterschiedliche Gebiete, die in einem einzigen Buch kaum zusammenpassen. Es kommt noch hinzu, dass die entsprechende Textpassage einen verschwindend kleinen Umfang hat, der mit zehn von 512 Seiten nicht einmal den fünfzigsten Teil des gesamten Werkes ausmacht. Was soll also dieser merkwürdige Anhang bedeuten? Um dieses Rätsel zu lösen, ist zunächst das Verhältnis von Rechts- und Geschichtsphilosophie zu klären. Weil damit ein systematisches Problem angesprochen wird, kann dieses Vorhaben nur gelingen, wenn das Gesamtsystem der Hegelschen Philosophie in den Blick gerät. Einerseits handelt es sich beim Abschnitt zur „Weltgeschichte“ um keinen beliebigen Zusatz. Dafür spricht die Tatsache, dass dieses Thema immer wieder im Anschluss an die Schriften zur Rechtsphilosophie in all ihren Varianten auftaucht. Andererseits macht Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte deutlich, dass er die Weltgeschichte auf dem Boden rechtlicher und staatlicher Verhältnisse erörtert wissen will. Es wird also zu zeigen sein, wie eng Recht, Staat und Geschichte miteinander verschränkt sind. Sodann ist zu klären, wie man in der heutigen Gegenwart mit Hegels Philosophie der Geschichte umgehen kann. Kein Staats-, Rechts- und Sozialphilosoph käme derzeit auf die sonderbare Idee, seinen Ausführungen einen geschichtsphilosophischen Appendix hinzuzufügen. Denn in der gegenwärtigen Philosophie, so wie sie als akademisches Fach etabliert ist, stellen Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie zwei getrennte Disziplinen dar. Während die Rechts- und Staatsphilosophie anerkannt ist, fristet die Philosophie der Geschichte ein eher marginales Dasein. Mittlerweile ist es ein Gemeinplatz, dass die Geschichtsphilosophie in eine Krise geraten ist. Damit meine ich eine historische Formation, die sich seit dem 18. Jahrhundert mit der Idee der „Universalgeschichte“ herausgebildet hat und in Hegels Philosophie der Weltgeschichte kulminiert. Seit dem Historismus und der analytischen Philosophie verlagerte sich das Interesse auf formale Aspekte wie die Methoden der Geschichtswissenschaften. Im Zuge des linguistic turn konzentrierte man sich auf die Sprach- und Diskursanalyse, Semiotik temporaler Begriffe und Analyse narrativer Strukturen. Damit wurden inhaltliche Probleme des
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Historischen zurückgedrängt. Man traute sich nicht mehr zu, die großen Fragen nach der Geschichte im Ganzen zu stellen. Solche Spekulationen galten als unseriös, weil sie nicht empirisch überprüft werden können. Außerdem legte die universelle Betrachtung einen eurozentrischen und totalitären Standpunkt nahe. Ein weiterer Vorwurf lautete, Hegel verabsolutiere die Weltgeschichte und missachte dabei die Glücksansprüche der beteiligten Völker und Individuen. Schließlich irritierte die Rede vom „Endzweck“ der Geschichte, die auf eine säkularisierte Theologie hinzuweisen schien. Wie kein anderer Philosoph war Hegel von Anfang an derart scharfen Kritiken ausgesetzt. Demgegenüber ist es meine Absicht, Hegels Philosophie der Geschichte vor pauschalen und ungerechtfertigten Verdächtigungen in Schutz zu nehmen und insgesamt eine rettende Kritik der Geschichtsphilosophie zu versuchen. Doch soll es bei der Rehabilitierung einer philosophischen Tradition nicht bleiben. Ebenso interessant sind die Bezüge der Philosophie der Geschichte zu Erfahrungen und Problemen des 21. Jahrhunderts. Weil Hegel nicht nur von Geschichte überhaupt, sondern von „Weltgeschichte“ spricht, ergeben sich Parallelen zu aktuellen Diskursen über die Globalisierung. Ohne Übertreibung lässt sich behaupten, dass die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung bis Hegel zu den ersten Theorien der Globalisierung gehört. Das gilt insbesondere für das prekäre Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Zwar entdeckt Hegel schon vor Marx die ökonomische Dynamik, indem er die Funktionsweise der „bürgerlichen Gesellschaft“ analysiert. Aber zugleich hebt er die Bedeutung von Staat und Recht hervor, denen er die Aufgabe zuweist, die Bedingungen der Möglichkeit für ein humanes Gemeinwesen zu schaffen. Angesichts eines globalen Kapitalismus, der nicht nur die geographischen, sondern auch die staatlichen, rechtlichen und sozialen Grenzen sprengt, kann Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie als Mahnung dienen, im Laufe der zukünftigen Geschichte die politische Kontrolle über die entfesselten ökonomischen Prozesse nicht aus den Augen zu verlieren.
1. DER SYSTEMATISCHE ORT DER „WELTGESCHICHTE“ Die Platzierung der „Weltgeschichte“ ans Ende der Philosophie des Rechts hat System. Mit diesem Thema schließt Hegel den Abschnitt „Der Staat“ ab, nachdem er das „innere“ und „äußere Staatsrecht“ behandelt hat. Indem er die einzelnen Staaten in Beziehungen zueinander treten lässt, sieht er die globale bzw. weltgeschichtliche Dimension erreicht. Dieses Verfahren trifft für alle Systementwürfe zu: von den frühen Enzyklopädien und den Grundlinien bis zur späten Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.
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1.1. Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (Nürnberg 1808 ff.) Die Abhandlung über den Staat endet mit einem einzigen Paragraphen, der die „philosophische Geschichte“ thematisiert, worunter die Geschichte des „allgemeinen Weltgeistes“ zu verstehen ist.1 Die historische Entwicklung stellt Hegel so vor, dass einzelne Völker oder Nationen an bestimmten Orten und Zeiten je eigene Höhepunkte bilden, wodurch sich eine Stufenfolge der Kulturen ergibt. Während also jede einzelne Nation aufsteigt und untergeht, bilden einige (nicht alle) aufeinanderfolgende Nationen eine „Reihe“ oder eine nach oben gerichtete Linie. 1.2. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Heidelberg 1817) Eine ähnliche Stellung hat das Kapitel „Allgemeine Weltgeschichte“ in der ersten ausgearbeiteten Enzyklopädie, die fünf Paragraphen zum Thema bietet. Hier konzipiert Hegel eine weltgeschichtliche Entwicklung, deren einzelne „Stufen die Völkergeister“ bilden.2 Unter dem Begriff „Volksgeist“ kann man heute eine regionale oder nationale Kultur verstehen. Neu ist in der Heidelberger Enzyklopädie die Definition der Weltgeschichte als „Weltgericht“, eine Formulierung, die Hegel von Friedrich Schiller übernimmt.3 Damit ist nicht etwa das „Jüngstes Gericht“ der biblischen Tradition gemeint, sondern eine ganz und gar weltliche Bestandsaufnahme der bisher verlaufenen Geschichte. Das literarische Zitat verdeutlicht, dass Hegel sich als Philosoph nicht darauf beschränken will, historische Fakten zu beschreiben; vielmehr kommt es ihm darauf an, geschichtliche Prozesse aus gegenwärtiger Sicht zu beurteilen. Der entsprechende Maßstab ergibt sich aus dem jeweils entwickelten Recht. 1.3. Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) In diesem Werk, das im Folgenden noch näher kommentiert werden soll, findet sich mit immerhin zwanzig Paragraphen die erste vollständige Darstellung von Hegels Geschichtsphilosophie. Die Tatsache, dass Hegel die „Weltgeschichte“ innerhalb der Grundlinien am Ende abhandelt,4 unterstreicht einmal mehr den konstitutiven Zusammenhang von Recht und Geschichte. Dasjenige Volk, das im Laufe der Weltgeschichte „nur einmal Epoche“ machen könne und damit das jeweils „herrschende“ sei, bezeichnet Hegel nun als ein „welthistorische[s] Volk“5. dessen Schicksal er drastisch vor Augen führt: Nach 1 2 3 4 5
Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, TWA 4, § 202, S. 64 f. Hegel, Allgemeine Weltgeschichte, TWA 12, § 449; S. 559. Ibid., § 448; S. 559; Schiller 1983, vgl. Schiller 1970. – Ähnliche Formulierung in Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 340; ebenso in Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 548. Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 341–360. Ibid., § 347.
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dem Aufstieg folge eine „Periode des Verfalls und Verderbens“, um die führende Stellung „an ein anderes Volk“ abzugeben. Zum Schluss behandelt Hegel „welthistorische Reiche“, in denen er die Stufenfolge von Kulturnationen skizziert.6 Er bedient sich dabei eines Schemas von vier Stadien: 1. das orientalische Reich, in dem Patriachat und Theokratie herrschen; 2. das griechische Reich, in dem die persönliche Identität erwacht; 3. das römische Reich, das den Rechtsstaat durchsetzt; und 4. das germanische Reich, das die staatlichen Institutionen vollendet. Die Leitidee dieser Entwicklung besteht in der Verwirklichung individueller Freiheit in einem Staat, der nicht als äußerer Zwang erfahren, sondern von den Menschen freiwillig anerkannt wird.
1.4. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Berlin 1822 ff.) Den überwiegenden Teil seiner Vorlesungen widmet Hegel der konkreten Geschichte von der „orientalischen“ bis zur „germanischen Welt“. Hier handelt es sich um eine „große Erzählung“ der Weltgeschichte von ihren Anfängen bis zur damaligen Gegenwart. Hegel reflektiert diese narrative Wende, indem er die Geschichte nicht nur als Gegenstand der Betrachtung charakterisiert (res gestae), sondern auch als „Geschichtserzählung“ (historia). An diese originelle und wesentliche Unterscheidung können spätere Erzähltheorien oder Narratologien der Geschichte anknüpfen.7 Eine derartige Reflexion auf die Geschichte und ihre Darstellung bezeichnet man heute als Geschichtlichkeit. Besonderen Wert legt Hegel auf die Feststellung, dass sich die Staaten keineswegs auf einen vermeintlichen „Naturzustand“ gründen, sondern sich allein in historischen Zusammenhängen herausbilden.8 Ebenso kritisiert er die übliche Auffassung, man könne die angeblich beste Verfassung – Monarchie, Aristokratie, Demokratie – willkürlich auswählen und einem Volk verordnen. Stattdessen betont Hegel, dass jede Staatsform von den je besonderen historischen Umständen geprägt werde. Hegel geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet sogar, dass die Geschichte erst mit der Bildung von Staaten begonnen habe. Während die Existenz von Völkern vor der Staatsgründung zur bloßen „Vorgeschichte“ gehöre, sei die „wirkliche Geschichte“ notwendig mit der Entstehung von Staaten verbunden.9 Mehr noch: Mit der Entwicklung von Staaten verknüpft Hegel die Fähigkeit der Völker zur Geschichtsschreibung. Erst wenn Staaten vorhanden seien, gebe es einen 6 7
8 9
Ibid., §§ 355–358. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 12, 83. – Zur Geschichtlichkeit bei Hegel: Jaeschke/Arndt 2012, S. 661 f.; zur modernen Narratologie der Geschichte: White 1991, S. 111 ff.; Ricœur 1988, Bd. 1; zur Kritik an der „großen Erzählung“: Lyotard 1987, S. 40 f. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 57 ff. – Kritisch gegen Rousseau, S. 61; Rousseau 1978, S. 108 ff. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 82 ff.; vgl. S. 136 f., 202 f.; S. 142, 215 f., 273, 341; Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 349.
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angemessenen Inhalt, der sich für die Geschichtsschreibung eigne. Mit dieser Argumentation unterstreicht Hegel die übergreifende Wechselbeziehung von Staat, Geschichte und Geschichtserzählung. 1.5. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Berlin 1830) Im dritten Band der späten Berliner Enzyklopädie wiederholt Hegel in recht knappen Worten seine Gedanken über die „Volksgeister“,10 die hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Hinzu kommt eine methodologische Anmerkung über die Geschichte in ihrer zweiten Bedeutung als historische Darstellung. Hegel distanziert sich von Geschichtsschreibern, die sich in der Tradition des Historismus als „reine Historiker“ verstünden.11 Dagegen erhebt er den philosophischen Anspruch, die Geschichte im Ganzen aus vernünftiger Perspektive zu rekonstruieren. Doch gleichzeitig schließt sich Hegel der Grundüberzeugung des Historismus an, den Begriff der Geschichte so zu verallgemeinern, dass alle kulturellen Phänomene darunter subsumiert werden können. Die ganze Welt ist demnach historisch zu begreifen. In unserem Zusammenhang folgt daraus, dass der Staat nicht nur in die Weltgeschichte übergeht, sondern selbst als eine geschichtlich gewordene Institution zu begreifen ist. 2. DER ÜBERGANG VON DER RECHTS- UND STAATSPHILOSOPHIE ZUR GESCHICHTSPHILOSOPHIE Nun wenden wir uns wieder den Grundlinien der Philosophie des Rechts zu und untersuchen genauer den Übergang vom Staat zur Weltgeschichte. Das Buch endet mit der Theorie des Staates, der sich zunächst als ein einzelnes Gemeinwesen darstellt. Vorher hat Hegel die Stufen von Recht, Moral, Familie, Gesellschaft und Staat entfaltet: Zuerst ist der Mensch eine abstrakte Rechtsperson, welche die Rechte anderer Personen äußerlich anerkennt. Dann wird er ein moralisches Subjekt, das die Normen seiner Zeit verinnerlicht. Im Rahmen konkreter Sittlichkeit wird er Familienmitglied, Akteur der bürgerlichen Gesellschaft und Staatsbürger. Als solcher erkennt er das „innere Staatsrecht“ an, das in einer bestimmten Verfassung besteht.12 Im Fortgang zum „äußeren Staatsrecht“ entfaltet sich das System souveräner Einzelstaaten.13 10 Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, §§ 548 ff. 11 Ibid., § 549, S. 348. – Diese Kritik richtet sich offenbar gegen Ranke, der in seinen Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1824) für sich beanspruchte, er wolle „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“ sei; Ranke 1885, S. VIII. 12 In Anlehnung an Montesquieu unterscheidet Hegel zwischen der „gesetzgebenden“, „regierenden“ und „fürstlichen“ Gewalt mit dem Ideal der konstitutionellen Monarchie; Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 260 ff. 13 Ibid., §§ 321 ff.
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An diesem Endpunkt der Rechtsphilosophie stellt sich ein grundsätzliches Problem. Denn mit dem Staatensystem verlässt Hegel die Sphäre konkreter Sittlichkeit und begibt sich in die Sphäre des abstrakten Rechts, womit die Grundlinien begonnen haben. An die Stelle privater Individuen treten jetzt individuelle Staaten, die sich gewissermaßen im Naturzustand ohne politische Ordnung befinden und ausschließlich rechtlich miteinander verkehren. Man könnte darin einen methodischen Abstieg sehen.14 Doch diese Rückkehr zu äußerlichen Rechtsverhältnissen lässt sich auch so interpretieren, dass Hegel allein den Nationalstaaten einen sittlichen Charakter zubilligt, den er im globalen Maßstab nicht mehr für gegeben und kaum zu realisieren hält. Ein noch dringenderes Problem stellt die Vermittlung zwischen der Philosophie des Rechts und der folgenden Geschichtsphilosophie dar. Es fragt sich, wie Hegel von der Synchronie miteinander agierender Staaten zur Diachronie des historischen Prozesses gelangt. Mit dem Völkerrecht hat er zwar die räumliche Ebene der Globalität erreicht, aber es fehlt die Transformation in die zeitliche Ebene, in der die Völker chronologisch aufeinander folgen und die Weltgeschichte im strengen Sinne bilden. Merkwürdigerweise versäumt Hegel an dieser entscheidenden Nahtstelle den Verweis auf die Zeit der Geschichte. Er spricht lediglich vom zufälligen Zusammenspiel besonderer „Volksgeister“, die den „Geist der Welt“ erzeugen, aus dem dann ziemlich unvermittelt die „Weltgeschichte“ hervorgehen soll.15 Stillschweigend setzt Hegel voraus, dass es sich bei den gleichzeitig existierenden Völkern und Nationen um historisch gewachsene Kulturen handelt, die im Laufe ihrer Geschichte aufgestiegen oder untergegangen sind. Dabei kombiniert er zwei Modelle: erstens die Figur des nach oben gerichteten Pfeils, der die kulturübergreifende weltgeschichtliche Entwicklung symbolisiert, zweitens die kreisoder wellenförmige Figur, die das Auf und Ab der Nationen versinnbildlicht. Indem die gesamte Menschheit unaufhörlich voranschreitet, entstehen und vergehen die einzelnen Kulturen. Aus der Synthese ergibt sich das Geschichtsbild einer emporsteigenden Spirale. Das zweite Modell der sich wiederholenden Zyklen orientiert sich am organischen Wachstum von Lebewesen. Hegel deutet den Staat als einen „Organismus“, so wie er das Schicksal der Völker als Abfolge natürlicher Lebensalter versteht: vom „kindlichen“ Zustand bis zur „Blüte“, ohne freilich den zwangsläufig folgenden Tod zu erwähnen.16 Gleichzeitig bezweifelt er die Idee der „Perfektibilität“, womit einige Aufklärer die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung meinten.17 An die Stelle eines fiktiven Potenzials setzt er den wirklichen Prozess der „Vollendung“, in dem sich die menschliche Zivilisation weltweit verbreitet. Umso erstaunlicher ist es, dass Hegel auch die Geschichte der Menschheit nach dem Modell der Lebensalter eines Individuums einteilt. In den Vorlesungen 14 15 16 17
Vgl. Ottmann 1997, S. 282 ff. Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 340. Ibid., § 347. Ibid., § 343. – Siehe Rousseau 1978, S. 108; bereits Condorcet ersetzt diese abstrakte Idee durch den realen Prozess der „Vervollkommnung“; Condorcet 1976, S. 31, 193 f., 219.
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vergleicht er die orientalische Welt mit einem Kind, das Griechentum mit einem Jüngling, das römische Reich mit einem erwachsenen Mann und die Welt der Germanen mit einem Greis.18 Beschönigend heißt es, dass das „Greisenalter“ zwar körperliche Schwäche, aber eben auch geistige Reife bedeute. Hier hat es den Anschein, als wollte Hegel aus der biologischen Lebenszeitmetapher wieder ausbrechen, um in der Weltgeschichte einen generationenübergreifenden „Fortschritt“ denkbar zu machen. Ein derartiger Ausbruch, der bereits in den vorausgegangenen Geschichtsphilosophien der europäischen Aufklärung zu beobachten war, wird heute Denaturalisierung der Geschichte genannt.19 Gleichwohl spielt in Hegels Philosophie der Geschichte der Untergang der Kulturen eine entscheidende Rolle. Das bezieht er zunächst auf die persische Kultur, während er China über Jahrhunderte für beständig hält. Vor allem die griechische und römische Kultur konstruiert er nach dem Muster Entstehung, Aufschwung und Verschwinden.20 Im romantischen Stil des französischen Philosophen Constantin François de Volney, der in seiner Schrift Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche (1789) beim Anblick antiker Überreste in Melancholie versank, empfindet auch Hegel „Trauer über diese Vergänglichkeit“, um jedoch dieses Gefühl sogleich in den Gedanken an den Fortgang der Weltgeschichte zu überführen.21
3. VERNUNFT IN DER GESCHICHTE In den Grundlinien führt Hegel erstmals den Begriff der „Vernunft in der Geschichte“ ein, die er als „Verwirklichung des allgemeinen Geistes“, mithin als Entwicklung von „Selbstbewußtsein“ und „Freiheit“ definiert, womit er die realisierte Freiheit im entwickelten Staat versteht.22 Damit ist keineswegs der faktische Verlauf historischer Prozesse gemeint. Wie in der Denkfigur des Weltgerichts stellt die Vernunft den Gesichtspunkt dar, unter dem der Philosoph die Geschichte zu untersuchen hat. Wenn Hegel dabei von „Vorsehung und Plan“ spricht, erweckt er den Eindruck einer theologischen Interpretation.23 Doch im selben Atemzug fügt er hinzu, dass diese „Ausdrücke“ zwar den Glauben an ein höheres Walten suggerierten, aber „unerfüllte Vorstellungen“ blieben und letztlich etwas „Unerkennbares und „Unbegreifliches“ meinten. Diese Relativierungen sind deutlich genug und verbieten eine wörtliche Auslegung. Keineswegs wird hier behauptet, ein säkularisierter Gott würde im Geheimen die Aktionen der Menschen lenken. 18 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 135, 137 f., 140, 275, 524. 19 Siehe Turgot 1990, S. 140; vgl. Koselleck 1979, S. 130 ff.; Blumenberg 1986, S. 180 ff. 20 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, Persien und China: S. 215, 245, 273, 335; Athen: S. 277, 313, 335; Rom: S. 343, 359, 371, 380. 21 Volney 1977, S. 20 ff.; Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 34 f., 245. 22 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 342; vgl. Rohbeck 2004, S. 52 ff. 23 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 343. – Zur folgenden Argumentation vgl. Horstmann 1991, S. 221 ff.; Stekeler-Weithofer 2001, S. 154; das richtet sich gegen Löwith 1953.
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Hegel folgt hier Immanuel Kant, der in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) nach einer Orientierung suchte, um ein wenig Ordnung ins Chaos der Geschichte zu bringen. Einen solchen theoretischen „Leitfaden a priori“ bezeichnete Kant als „Naturabsicht“24. Er war jedoch nicht so naiv, diese Instanz als handelndes Pseudosubjekt oder als wirkende Macht zu behaupten. Die „Naturabsicht“ war, wie Kant im Titel ankündigte, nur eine „Idee“. Sie diente lediglich als heuristisches Prinzip, um in der unübersichtlichen Geschichte einen roten Faden aufzuspüren. Auch Hegel versteht seine Rede von einem „Plan“ der Weltgeschichte lediglich als eine Hypothese, die er durch die historische Darstellung zu überprüfen beabsichtigt. Er stellt die Geschichte so dar, als ob sie von einer Vernunft geleitet worden wäre. Wie Kant gewinnt er aus der bereits entwickelten Philosophie die vernünftige Idee, welche das Kriterium zur Beschreibung und Beurteilung der Geschichte bildet. Doch anders als Kant postuliert Hegel die Vernunft nicht „a priori“ als vage „Naturabsicht“, sondern bemüht sich um eine rationale Rekonstruktion der Geschichte. Während Kant letztlich an die Moral appellierte, will Hegel zeigen, in welchem Maße die Vernunft in der bisherigen Geschichte verwirklicht worden ist. Mag man auch diese Konstruktion weiterhin Teleologie nennen, dürfte ebenso klar sein, dass hier keine Heilsgeschichte im Spiel ist. In Wahrheit übt diese Art Teleologie längst andere Funktionen aus. Betrachtet man die geschichtsphilosophische Darstellung als Erzählung, erfüllt die Teleologie eine narrative Funktion. Die Metaphern „Naturabsicht“ und „Plan“ repräsentieren die Erzählperspektive eines fiktiven Subjekts, indem sie den gegenwärtigen Standpunkt bezeichnet, von dem aus die vergangene Geschichte dargestellt wird. Die Gegenwart bildet das vorläufige Ende, von dem aus die historischen Ereignisse geordnet und interpretiert werden. Wenn Geschichte nun einmal nicht anders geschrieben werden kann, dann verfährt die Historiographie in diesem schwachen Sinn immer „teleologisch“. Die Teleologie verleiht der Historie eine narrative Synthesis.25 Die Teleologie der Geschichte ist außerdem normativ und ethisch aufgeladen. Das belegt das Ziel, das Hegel für den Verlauf der Weltgeschichte steckt: ein entwickelter Staat, der Recht und Freiheit gewährleistet. Der postulierte Zweck dient der Beurteilung vergangener Geschehnisse, mit denen sich zugleich Erwartungen an die Zukunft verknüpfen. Dazu bedarf es einer allgemeinen Richtschnur, anhand derer die einzelnen Phänomene bewertet werden können. Das behauptete telos stellt die Norm dar, an der historische Ereignisse gemessen werden. Schließlich stellt die Teleologie eine Form der Kontingenzbewältigung dar. Denn Hegel erkennt sehr wohl, dass die Geschichte ein kontingenter Prozess ist, und macht sich keine Illusionen darüber, wie es in der Welt tatsächlich zugeht. Für ihn erscheint die Geschichte als ein Gewebe aus Unrecht, Gewalt und Laster, aus
24 Kant, IaG, S. 34. 25 Danto 1974, S. 232f., 269; Ricœur 1988–1991, Bd. 1, S. 98 ff.; vgl. Rohbeck 2010, S. 106 ff.
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Zwistigkeiten und Kriegen.26 Doch die entscheidende Frage lautet, welche Konsequenzen Hegel aus dieser Einsicht zieht. Da er gerade nicht einer höheren Macht vertraut, erklärt er den Umgang mit historischer Kontingenz zur praktischen Aufgabe.
4. ZWECK UND MITTEL DER GESCHICHTE Die Vollendung der Vernunft in der Geschichte erwartet Hegel auf dem Feld der rechtlichen und politischen Praxis. Aus diesem Grund behandelt er die Geschichtsphilosophie im Kontext der Praktischen Philosophie, so wie er die Philosophie des Rechts in die „Weltgeschichte“ münden lässt. Das Ziel der Geschichte sieht er in einem sittlichen Zustand, in dem sich die Freiheit der Individuen in einem kooperativen Rahmensystem von Recht und Staat realisiert und als solche den beteiligten Menschen bewusst ist.27 Doch Hegel spricht nicht nur von einem Ziel, sondern auch von einem „Zweck“ oder gar „Endzweck“ der Geschichte. Und wenn schon ein Zweck gesetzt ist, liegt es nahe, über die Wahl angemessener Mittel nachzudenken. Indem Hegel besonderen Wert auf die Mittel legt, unterstreicht er, dass er es mit der Verwirklichung des antizipierten Zwecks ernst meint. Die Mittel, welche die innere Idee der Freiheit mit der widerständigen Außenwelt konfrontieren, stehen für die historische Realität. Ähnlich wie Kants „Naturabsicht“ liegt dem „Weltgeist“ das Modell des zweckrationalen oder instrumentellen Handelns zu Grunde. Allerdings darf man Hegel nicht unterstellen, er habe den „Weltgeist“ oder gar die „Weltgeschichte“ selbst zu einem final agierenden Subjekt erklärt. Der Weltgeist tut nichts; weder plant er die Geschicke der Menschen, noch greift er in deren Handlungen ein. Er stellt lediglich den kulturellen Zusammenhang dar, der sich nachträglich aus den Taten der Menschen ergibt. Vom Standpunkt eines Resultats, das sich am Ende einer historischen Entwicklung offenbart, sieht es so aus, als fungierten die Handlungen der Menschen wie Mittel zur Realisierung eines höheren Zwecks. Allein unter dieser methodischen Voraussetzung kann die Frage als legitim gelten: Welches sind die „Mittel“ in der Weltgeschichte? Hegel beantwortet diese Frage ziemlich unverhohlen: In den Grundlinien bezeichnet er die Individuen als „bewußtlose Werkzeuge“28 des Weltgeistes. Zwar räumt er den Menschen ein, dass sie mit ihren „Leidenschaften“ und „Interessen“ die alleinigen Akteure des historischen Geschehens sind. Aber zugleich spricht er ihnen die Kompetenz ab, den Verlauf der Geschichte vorhersehen und planen zu 26 Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 324 ff., 345; vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 34 f. – Zum Problem historischer Kontingenz: Lübbe 1977, S. 25; Koselleck 1979, S. 158; Kittsteiner 1998, S. 162 ff.; Rohbeck 2010, S. 113 ff. 27 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 342. – In den Vorlesungen heißt es: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.“ Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 32; vgl. Angehrn 1991, S. 92 f. 28 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 344; vgl. Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 40; Allgemeine Weltgeschichte, TWA 12, § 451, S. 560; zum Folgenden: Volney 1977, S. 43.
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können. Demnach sind sie gerade nicht „Werkmeister“ ihrer Geschichte, wie noch Volney behauptete. Die Individuen haben nur ihren „Anteil“ an einem Gesamtergebnis, das sich gleichsam hinter ihrem Rücken durchsetzt. Mit Hegel könnte man hier vom Unbewussten in der Geschichte sprechen.29 Während die Diskrepanz zwischen individuellen Handlungszwecken und dem allgemeinen „Zweck“ der Weltgeschichte für alle Menschen gilt, hebt Hegel im Anschluss daran die besondere Rolle bestimmter Personen hervor, die im Staat eine führende Funktion ausüben. Er spricht in diesem Zusammenhang von „welthistorischen […] Individuen“, die auf herausragende Weise an der Entwicklung des Weltgeistes teilhaben, dessen Ziel jedoch „ihnen selbst verborgen“30 bleibe. Dazu zählen beispielsweise Alexander und Cäsar in der griechischen und römischen Antike, Karl der Große im Mittelalter, Luther in der frühen Neuzeit und Napoleon in der damals gegenwärtigen Moderne. So habe Napoleon, dem Hegel in Jena persönlich begegnet ist und den er „Weltgeist zu Pferde“ genannt hat, mit seinen Kriegen für sich lediglich beabsichtigt, das Territorium Frankreichs zu vergrößern; im Endeffekt habe er jedoch dazu beigetragen, die Errungenschaften der Französischen Revolution und damit das System der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates in ganz Europa auszubreiten. Das klingt nach dem Motto „Große Männer machen Geschichte“; doch im strengen Sinn „machen“ diese Männer gar nicht die Weltgeschichte, weil sie die langfristigen Wirkungen ihrer Taten keineswegs im Griff haben. Ebenso rigoros erklärt Hegel den Anspruch auf individuelles Lebensglück für zweitrangig. Er billigt den Menschen und Völkern durchaus zu, dass für diese „Gerechtigkeit und Tugend“, „Leidenschaften, Schuld und Unschuld“, „Glück und Unglück“ je eigene Bedeutung und Wert haben. Doch sogleich stellt er apodiktisch fest: „Die Weltgeschichte fällt außer diesen Gesichtspunkten“31. In den Vorlesungen betrachtet Hegel „die Geschichte als diese Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden“32 sind. Wiederum weicht der kurzen „Trauer“ der Gedanke an den Vorrang der Weltgeschichte. An dieser Stelle hatte Kant moralische Zweifel: Er hielt es für „befremdend“, dass sich ganze Generationen abzumühen scheinen, „ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiten, Anteil nehmen zu können“33. Offenbar beschlichen ihn Skrupel bei der Vorstellung, dass die Individuen ihr gegenwärtiges Glück zugunsten der zukünftigen Generationen opfern sollten. Wenn sich jedoch Hegel über solche Gewissensbisse hinwegsetzt, bedeutet das keineswegs, dass er das Unglück in der Welt rechtfertigen wollte. Er drückt lediglich seinen Realismus aus, der in der Überzeugung besteht, dass die Geschichte 29 Vgl. Troeltsch 1977, S. 46 f.; Marquard 1986; Ottmann 1997, S. 276 f.; Kittsteiner 1998, S. 162 ff. 30 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 347 f.; zum Folgenden Hegel, Grundlinien, TWA 7, S. 334, 378 f., 434 ff., 497., 533. 31 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 345; vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 35. 32 Ibid., S. 35. 33 Kant, IaG, S. 37.
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faktisch alles andere als ein glücklicher Ort sei, sondern von Grausamkeit und Barbarei beherrscht werde.
5. WELTGESCHICHTE UND GLOBALISIERUNG Konkretisiert wird die Entwicklung der Weltgeschichte durch das bereits erwähnte Stufenschema, in dem vier „Reiche“ aufeinander folgen: das orientalische, griechische, römische und germanische Reich.34 In den Grundlinien orientiert sich Hegel an der Vier-Reiche-Lehre aus dem Alten Testament (Buch Daniel), einem biblischen Schema, das bis ins Mittelalter Bedeutung hatte. Doch in den Vorlesungen modifiziert Hegel dieses Schema, indem er nur noch drei Stufen annimmt, die er mit den Staatsformen verbindet: „Der Orient wußte und weiß nur, daß Einer frei ist, die griechische und römische Welt, daß Einige frei seien, die germanische Welt weiß, daß Alle frei sind. Die erste Form, die wir daher in der Weltgeschichte sehen, ist der Despotismus, die zweite die Demokratie und Aristokratie, und die dritte ist die Monarchie.“35
Sobald man sich die Durchführung näher anschaut, relativieren sich beide Stufenmodelle. Denn im ersten Teil über die „orientalische Welt“ taucht eine Vielzahl unterschiedlicher Völker auf. Hegel widmet sich den Kulturen Chinas, Indiens, Persiens mit den Völkern der Assyrer, Babylonier und Perser sowie den Ländern Syrien, Judäa und Ägypten.36 Und während die griechischen und römischen Kulturen verhältnismäßig homogen erscheinen, besteht die „germanische Welt“ aus einem Vielvölkerstaat, der sich aus „Mohammedanismus“ und „christlichem Mittelalter“ sowie aus den Ländern Frankreich, England und Deutschland zusammensetzt.37 Ausdrücklich hebt Hegel hervor, dass die Germanen aus den Begegnungen mit fremden Kulturen hervorgegangen seien. Das darf man also nicht mit Nationalismus oder gar Rassismus gleichsetzen. Auf diese Weise liefert Hegel eine umfassende Geschichte der Weltkulturen. Seine „Weltgeschichte“ gehört zu den ersten Beispielen einer vergleichenden Kulturgeschichte. Weil darin zur gleichen Zeit an diversen Orten Kulturen verschiedener Entwicklungsstufen beobachtet werden, entsteht der Sache nach die geschichtstheoretische Einsicht in die Gleichzeitig des Ungleichzeitigen.38 Dabei konnte Hegel aus alten und neuen Historiographien sowie aus zeitgenössischen Reiseberichten schöpfen. Ausgerechnet er kritisiert die deutsche Geschichtsschreibung, die er für zu regional, willkürlich und spekulativ hält, und lobt die Engländer und Franzosen, denen es in ihren „Universalgeschichten“ gelungen 34 Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 355–358; zum Folgenden ibid., § 353. – Vgl. Taylor 1983, S.515 ff.; Figueroa 2004, S. 177 f.; Rohbeck 2017, S. 54 f. 35 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 134, vgl. 31. 36 Ibid., S. 142 ff. – Im Unterschied zu Raynal und Diderot (1988) eliminiert Hegel den Kontinent Afrika aus der Weltgeschichte: ibid., S. 120 ff. 37 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 413 ff.; insbes. S. 413, 428, 434, 440, 480 f. 38 Zuerst bei Turgot 1990, S. 198; vgl. Koselleck 1979, S. 132, 325.
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sei, eine Geschichte „allgemeiner und nationaler Bildung“39 zu schreiben. Besonders preist er Charles-Louis de Montesquieus Vom Geist der Gesetze (1748), worin dieser die klimatischen, geographischen und mentalen Bedingungen für die Entstehung nationaler Kulturen analysiert hat.40 Nach diesen Vorbildern schildert Hegel die natürlichen Voraussetzungen, unter denen Viehzucht, Ackerbau, Handwerk und Industrie entstehen, und untersucht deren Folgen für die alltäglichen Lebensgewohnheiten und politischen Herrschaftsformen.41 Ebenso widmet er sich den Meeren und Flüssen, die er nicht als Hindernisse betrachtet, sondern im Gegenteil als Verbindungswege, die den nationalen und internationalen Handel befördern. Hier entsteht die Ahnung einer globalen Weltgesellschaft. Doch die Idee einer globalen Rechtsgemeinschaft schließt Hegel kategorisch aus. Er attackiert Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795), worin dieser eine gemeinsame „Staatsverfassung“ oder einen „weltbürgerlichen Zustand“42 forderte. Damit meinte Kant keinen einheitlichen Weltstaat, sondern einen Verbund von Staaten, den er durch internationale Verträge geregelt wissen wollte. Obwohl Hegel die Idee eines Staatenbundes verwirft, postuliert er in den Grundlinien unter dem allgemeinen Begriff „Völkerrecht“ einen rechtsförmigen Zustand,43 in dem einzelne Staaten miteinander Verträge abschließen. Im extremen Fall, dass sich die Staaten nicht einigen und in Streit geraten, hält Hegel Kriege für unvermeidlich.44 Denn für eine friedliche Übereinstimmung, so die Argumentation gegen Kant, mangelt es an einem „Prätor“ zwischen den Staaten; es fehlen sowohl eine gemeinsame moralische Basis als auch eine übergeordnete Instanz, um Konflikte zu schlichten und Feindseligkeiten zu sanktionieren. An die Stelle eines bloß moralischen „Sollens“ setzt er eine realistische Bestandsaufnahme. Weil Hegel die Idee eines Weltstaates ablehnt, setzt er auf die Entwicklung zeitlich aufeinander folgender Kulturen. Wie sich zeigte, hat diese Reihenfolge auch eine räumliche Seite, die mit den geographischen Orten der daran beteiligten Länder zusammenhängt. Wie bereits die Namen verraten, beginnt die Geschichte mit der orientalischen Welt im Osten, um danach über Athen und Rom in den Westen des germanischen Reiches zu ziehen. So heißt es in den Vorlesungen programmatisch: „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, 39 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 14 f., zur Kritik an Schlegel S. 79; vgl. Hegel, Enzyklopädie III, TWA 10, § 549. 40 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 261; Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 307; Montesquieu 1951. – Zu Hegels Rezeption der französischen Aufklärung siehe d’Hondt 1985; vgl. Rohbeck 2010, S. 54 ff. 41 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 346; Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 105–133; vgl. S. 64, 228, 277, 341, 480 ff. 42 Kant, IaG; vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 195 ff.; Vorbild war SaintPierre 1713. – Vgl. Höffe 1995. 43 Hegel, Grundlinien, TWA 7, § 332 f. – Vgl. Kleber 2017, S. 27 ff. 44 Hegel, Grundlinien, TWA 7, §§ 321 ff.; speziell zum Krieg: ibid., § 324, 333. – Eine differenzierte Einschätzung dazu geben d’Hondt 1974, S. 415 ff.; Ottmann 1997, S. 271 ff.
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Asien der Anfang“.45 Da stellt sich die ängstliche Frage, wie es mit Europa weitergeht. In ihrer Geschichte beider Indien (1780) sahen Guillaume Raynal und Denis Diderot in Europa einen Zustand erreicht, der nach Phasen von Auf- und Umbrüchen bloß noch „düstere Ruhe“ verbreitete. Auch Volneys Melancholie galt der europäischen Kultur, deren vergangene Hochburgen als Ruinen verfallen. Hinter diesen Stimmungen verbarg sich eine generelle Kritik an der modernen Zivilisation, die von Jean-Jacques Rousseau als moralische Verfallsgeschichte umgedeutet wurde.46 Daraus wurde gefolgert, dass die „Fackel des Fortschritts“ weiter nach Nordamerika wandere, das weniger verbraucht zu sein schien. Europa galt nicht mehr als Ziel, sondern nur noch als Durchgangsstadium der Weltgeschichte. Doch Hegel schließt eine weitere Bewegung nach Westen aus. Er teilt weder Rousseaus Zivilisationskritik an Europa noch die euphorische Einschätzung gegenüber Amerika. Dezidiert spricht er Nordamerika die Fähigkeit ab, die Führung zu übernehmen, weil es bloß „kolonisiert“ und der „Widerhall der Alten Welt“47 sei. Aus diesen Gründen beharrt er auf Europa als End- und Höhepunkt der weltgeschichtlichen Entwicklung. Diese Einschätzung hat ihm den Vorwurf des Eurozentrismus eingebracht sowie den Verdacht, er sei ein Vorläufer des so genannten Posthistoire.48 Dagegen ist einzuwenden, dass Hegel im Sinne der Aufklärung dazu beigetragen hat, fremde Kulturen überhaupt wahrzunehmen, zu differenzieren und anzuerkennen. Schließlich ist er der Überzeugung, dass die Weltgeschichte keineswegs an ihr „Ende“ gelangt sei und dass die Geschichte selbstverständlich weitergehe und für Neues offen bleibe. Denn genauer betrachtet, ist sich Hegel seiner europäischen Sache gar nicht so sicher, hält er doch Nordamerika für das „Land der Zukunft“ oder gar der „Sehnsucht“, um sofort einzuwenden: „[…] und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an“49. Aber eine solche Vision schließt keineswegs aus, dass dieses Land in späteren Epochen an die weltgeschichtliche Spitze rücken könnte.
6. ZUR AKTUALITÄT DER HEGELSCHEN GESCHICHTSPHILOSOPHIE In der heutigen Gegenwart hat sich das Blatt längst gewandelt. Nordamerika quält sich seit Jahrzehnten mit der Debatte, ob und wann es seine dominierende Rolle zu verlieren droht. Darauf reagiert der trotzige Slogan „Let’s make America great again“, als ob man das Rad der Geschichte einfach zurückdrehen könnte. Auch in 45 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 134; vgl. 135, 137 f., 140, 275, 524. 46 Raynal/Diderot 1988, S. 91, 256 ff.; Volney 1977, S. 24 ff.; Rousseau 1978; vgl. Rohbeck 2010, S. 83 ff. 47 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 111 ff., 419. 48 Zum Konservatismus: Taylor 1983, 556 f.; zur angeblichen Posthistoire bei Hegel: Kojève 1975, Fukuyama 1992. 49 Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 114.
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Europa, dem vermeintlichen „Endzweck“ der Geschichte, befürchtet man den Verlust der früheren Vorrangstellung in der Welt. Daran schließt sich die weitere Frage an, welche neuen Akteure die zukünftige Bühne der Weltgeschichte betreten werden. Anders als bei Hegel könnte sich die Geschichte wieder rückwärts nach Asien – möglicherweise nach China – drehen. Selbst in einem solchen Fall würde sich noch einmal Hegels allgemeine Logik bestätigen, die darin besteht, dass die historisch führenden Kulturen wie auch immer eine zeitliche Reihenfolge bilden. Gleichwohl wäre es heute geboten, dass nicht nur die leitenden Industrienationen den weltgeschichtlichen Ton angeben, sondern dass den von der Globalisierung ausgegrenzten und armen Ländern wie etwa den afrikanischen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung gewährt werden. Auch wenn es illusionär und nicht einmal wünschenswert wäre, dass alle Völker in gleicher Weise am weltgeschichtlichen „Fortschritt“ teilhaben, bedarf es eines besonderen Engagements der reichen Länder für die Durchsetzung globaler Gerechtigkeit. Ebenso mag man bedauern, dass Hegel den Kosmopolitismus von Kant skeptisch beurteilt. In der Tat gilt Kant als Vorbild für die Gründung globaler Organisationen wie des Völkerbundes nach dem Ersten und der Vereinten Nationen (UNO) nach dem Zweiten Weltkrieg, die als Reaktionen auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verstehen sind. Und es ist ja nicht zu bezweifeln, dass diese global agierenden Institutionen einige Erfolge zu verzeichnen haben. Doch gleichzeitig ist angesichts der Neuen Kriege die relative Ohnmacht der UNO zu beklagen. Vor diesem aktuellen Hintergrund wird man einerseits Hegels damaliger Skepsis einen gewissen Realismus nicht absprechen können. Andererseits ist die Kritik an Hegel insofern berechtigt, als uns in der gegenwärtigen Krise der Globalisierung gar nichts anderes übrig bleibt, als auf langfristige Erfolge inter- und transnationaler Institutionen zu hoffen. Und doch hat Hegels Position, die nationale Souveränität zu favorisieren, ihre relative Berechtigung. Wenn er wie Kant einen Weltstaat ausschließt und darüber hinaus eine Versittlichung der globalen Ökonomie für illusorisch hält, verweist er auf die bleibende Funktion der Nationalstaaten. In den aktuellen Diskussionen über die Globalisierung ist man sich darin einig, dass die nationalen Staaten keineswegs obsolet geworden sind, sondern zusammen mit transnationalen Institutionen ein komplexes und hybrides System bilden, das sowohl negative als auch positive Effekte erzeugen kann. Nach wie vor sind die einzelnen Nationen gefordert, Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt zu schaffen sowie den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die Zerstörung des natürlichen Klimas einzudämmen. Schließlich hat Hegels Eingehen auf die Schicksale einzelner Völker noch eine kulturpolitische Bedeutung. Das Augenmerk auf nationale Eigenarten kann dazu beitragen, einem drohenden Globalismus entgegenzuwirken. Neuerdings spricht man von einem „weichen“ Universalismus, der zwischen der Tendenz zu einer uniformen Weltkultur und dem neu erwachten Interesse an regionalen Kulturen zu vermitteln sucht. Wie Hegels Weltgeschichte einst als interkulturelles Wechselspiel konzipiert war, so kann seine Philosophie der Geschichte heute als Plädoyer für die Vielfalt der Kulturen gelten.
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III. AUSBLICK
HEGELS RECHTSPHILOSOPHIE IM VISIER DER KRITIK: GANS, MARX UND ADORNO Georgios Sagriotis Für die Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, die programmatisch mit Hegel und zugleich – politisch motiviert – über Hegel hinaus zu denken versuchten, ist neben der Wissenschaft der Logik und der Phänomenologie des Geistes kein Werk zentraler gewesen als die Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Grund dafür lässt sich leicht bestimmen: In der berühmten Vorrede postuliert Hegel sowohl den wesentlichen Wirklichkeitsbezug der Vernunft, die als Idee „in die äußere Existenz tritt“1, als auch den Vernunftcharakter der existierenden sozialpolitischen Verhältnisse. Die „Versöhnung mit der Wirklichkeit“2 erscheint sodann als die einzige philosophisch begründete Einstellung. Wird der Staat „als ein in sich Vernünftiges“3 dargestellt, so bleibt die Möglichkeit seiner vernünftigen Kritik ausgeschlossen. Sie wäre, so Hegel, nur eine eitle Gestalt des subjektiven Geistes. Nicht nur alles, was vernünftig sei, sei auch wirklich, sondern auch alles Wirkliche müsse als vernünftig anerkannt werden. Dass manche Hegel-Kritiker in dieser Haltung „die Heiligsprechung alles Bestehenden, die philosophische Einsegnung des Despotismus, des Polizeistaates, der Kabinettjustiz, der Zensur“4 erblickten, ist für Friedrich Engels 1888 in Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie naheliegend. Dieser Position hält er jedoch die eigene Ansicht entgegen: „Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegelschen Denkmethode auf in den anderen: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht“5. Das voreilige Fazit von Engels verschweigt die Voraussetzungen seiner Möglichkeit, die in den Debatten in den Kreisen der Schüler Hegels liegen, und erklärt kaum die Gründe für deren kritische Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie des Rechts. Um Hegels Einsicht in den gesellschaftlich-politischen Gehalt der Philosophie beizubehalten und gleichzeitig mit der Kritik des Bestehenden kompatibel oder sogar dafür fruchtbar zu machen, war es nötig, Hegels Verständnis von der Geschichtlichkeit der Vernunft einer immanenten Kritik zu unterziehen. Deren Charakter variierte vom Versuch der Aktualisierung der Rechtsphilosophie bis zum Ausgang aus der Metaphysik Hegels. Im Folgenden werden die Kritiken von Eduard Gans, Karl Marx und Theodor W. Adorno behandelt. Sie können als repräsentativ für die 1 2 3 4 5
Hegel, Grundlinien, GW 14,1, S. 14. Ibid., S. 16. Ibid., S. 14. Engels 1979, S. 266. Ibid., S. 267.
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Geschichte des Versuchs gelten, die hegelsche Melodie der geschichtlichen Gegenwart: „Hier ist die Rose, hier tanze“6 für einen anderen Tanz als jenen des „wärmere[n] Frieden[s]“ mit der Wirklichkeit dienstbar zu machen. Sie entsprechen jeweils der unmittelbaren Nachfolgerschaft Hegels, der politisch-philosophisch engagierten Kritik an seinem Denken im 19. und ihrer Weiterentwicklung im Zeichen einer „negativen Dialektik“ im 20. Jahrhundert. 1. EDUARD GANS: ANBRUCH DER GESCHICHTLICHEN KRITIK Hegel betrachtete die Rechtswissenschaft als nur „ein[en] Teil der Philosophie“. Selbst „[d]er Begriff des Rechts fällt […] seinem Werden nach außerhalb der Philosophie des Rechts, seine Deduktion ist […] vorausgesetzt, und er ist als gegeben aufzunehmen“7. In der allgemeinen Vorrede zu seinem Hauptwerk: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung – Eine Abhandlung der Universalgeschichte beruft sich Gans auf die hegelsche Formulierung, die er wortidentisch wiedergibt.8 Auch seine Naturrecht-Vorlesungen an der Universität Berlin, wo er 1826 nach seinem Übertritt zum Christentum mit der Unterstützung Hegels und trotz des Widerstands von Savigny zum Ordinarius der juristischen Fakultät ernannt wurde, zeugen bis zur Wortwahl hin von seiner Treue zu den hegelschen rechtsphilosophischen Prinzipien. Genauso wie Hegel in seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk,9 das Gans nach dem Tod Hegels mit Zusätzen herausgab, richtet er die Behauptung, die Rechtswissenschaft sei eine philosophische Disziplin, gegen die historische Schule. Ihr wirft er einen „Haß gegen die Philosophie“ vor, der sich u.a. darin ausdrücke, dass die Verbindlichkeit der historischen Tradition, worauf sich ihre Auffassung von der Gegenwart eines Volks gründe, nur eine blinde Notwendigkeit sei, „welche nicht die zu begreifende Vernunft ist“10. Dadurch bleibe die historische Rechtschule auf der Ebene der bloßen Faktizität: „Sie fragt nicht nach den Gründen der Staaten, sondern nur daß Staaten geworden sind“11. Das hat nach Gans eine doppelte Einseitigkeit zur Folge.12 Durch ihren Traditionskultus opfere die historische, von Gans deswegen auch „rückkehrend“13 genannte Rechtsphilosophie, die Freiheit der Gegenwart einer zufälligen Vergangenheit;14 im Grunde 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Hegel, Grundlinien, GW 14,1, S. 14. Ibid., § 2, S. 23. Siehe Gans 1971, S. 29. Vgl. die Auseinandersetzung Hegels mit Hugo im § 3 der Grundlinien. Gans 1971, S. 20. Ibid., S. 160. Vgl. auch S. 183. Vgl. ibid., S. 191. Gans 1981, S. 50. Marx wird einige Jahre später denselben Gedanken in beißender Sprache formulieren: „Eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der
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verkümmere sich alles Recht zum Gewohnheitsrecht.15 Dadurch stellt sich Gans auf die Seite seines Lehrers Thibaut im seit 1814 geführten „Kodifikations“-Streit gegen Savigny,16 dessen Schule „der Gegenwart den Beruf streitig“ mache, „ein neues Recht zu schaffen“17. Mit der Favorisierung des Gegebenen geht nach Gans die Verabsolutierung der Bedeutung der Volkseinheit, worauf die angeblich rechtsstiftende Tradition Anwendung findet, einher. Die philosophisch begründete Rechtsgeschichte könne dagegen nur eine „Universalrechtsgeschichte“ sein, „denn sie gesteht keinem Volke und keiner Zeit eine ausschließliche Wichtigkeit zu, sondern jedes Volk wird nur berücksichtigt, insofern es auf der nun aus dem Begriffe folgenden Stufe der Entwicklung steht“18. Weil die „Prinzipien der Volksgeister […] um ihrer Besonderheit willen […] überhaupt beschränkte“19 sind, „sieht man die einzelnen Staaten als ebensoviele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen“20. Die logische Notwendigkeit einer als Weltgerichtsprozess erscheinenden „Dialektik der Endlichkeit“ der Volksgeister ist für Gans das von der historischen Schule verkannte ordnungs- und bedeutungsstiftende Moment der Rechtsentwicklung. Deren Medium stelle die Vielfalt der historischen Prinzipien dar.21 Zwar bemängelt er bei Savigny die Zurückdrängung des Systematischen zugunsten der geschichtlichen Einzelheit; was er jedoch der historischen Rechtsbetrachtung dabei entgegenhält, ist nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Geschichte.22 Die durch hegelsche Mittel durchgeführte Polemik gegen Savigny schlägt damit in eine – allerdings viel weniger offenkundige – Kritik an Hegels Rechtsphilosophie um: Ist die geschichtliche Vielfalt das wesentliche Organ der begrifflichen Notwendigkeit, so lässt sich die Bewegung der Rechtsgestalten nicht durch logische Vorschriften zähmen. Gans will angeblich genauso wie Hegel zeigen, dass der Inhalt der Rechtsgeschichte derselbe ist wie derjenige der Rechtsphilosophie.23 In seiner Vorrede zu Hegels Grundlinien schreibt er ihm das Verdienst zu, die von Platon und Aristoteles schon erkannte Identität von „Naturrecht und Politik“, „Prinzipien und lebensvolle[r] Ausführung“24 im neueren Staat hervorgehoben zu haben. Es bieten sich
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die Geschichte, wie der Gott Israels seinem Diener Moses nur ihr a posteriori zeigt, die historische Rechtsschule, sie hätte daher die deutsche Geschichte erfunden, wäre sie nicht eine Erfindung der deutschen Geschichte“ (Marx 1982, S. 172). Vgl. auch Marx 1975, S. 191–198. Siehe ibid., S. 211. Siehe Thibaut 1973, S. 61–94. Gans 1971, S. 68. Siehe auch ibid., S. 20 sowie Gans 1981, S. 154. Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 211, S. 177: „Einer gebildeten Nation […] die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen, […] wäre einer der größten Schimpfe, der einer Nation […] gethan werden könnte“. Gans 1971, S. 20. Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 339, S. 272f. Gans 1971, 7. Vgl. Reissner 1965, S. 18. Vgl. Riedel 1981, S. 16. Siehe Gans 1971, S. 154. Ibid., S. 6.
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allerdings mehrere Möglichkeiten, diese Einheit des Logischen und des Geschichtlichen zu begreifen, und nicht alle sind mit Hegels Auffassung verträglich. Nach Hegel selbst sind die zwei Seiten der Identität nicht gleichursprünglich, denn der Rechtswissenschaft ist das methodische Verfahren von der Logik vorgegeben.25 Diese Priorität des Logischen26 entspricht jedoch noch nicht dem Verhältnis von Geschichte und Philosophie, wie Gans es sich vorstellt.27 Zwar erkennt er mit Hegel den Unterschied zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsbegriff, kommentiert aber dazu: „Von Anfang an war die Rechtsidee ebensowenig da wie ihre Realisation in der Geschichte“28, wobei Hegel in der Einleitung der Grundlinien „die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung“, als ob sie erst als Letztes erfolgte, als Gegenstand der philosophischen Rechtswissenschaft ankündigt.29 Weil der Gedanke nach Gans nicht vor seiner Verwirklichung gegeben ist, sondern sich parallel mit ihr weiter entwickelt, kommt ihm ein Moment der Zeitlichkeit zu, das nicht im Schema der Realisation aufgeht: Er spaltet sich in seine „wirkliche Gegenwart“ und „die notwendige Erzeugung und Entwickelung in der Zeit, als das Werden dieser gegenwärtigen Welt“30. Indem der verwirklichte Begriff selbst der Geschichtlichkeit unterliegt, vermag er nicht als Maßstab des geschichtlichen Werdens zu dienen, denn es ist nicht gleich möglich festzustellen, ob etwas eine substanzielle Entwicklung oder äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung ist. Vielmehr bedeute der geschichtliche Wandel des Begriffs, dass eine Diskrepanz zwischen Vernunft und Wirklichkeit möglich ist, ohne dass deswegen die vom Begriff abweichenden Erscheinungen als Abfall des Gedankens beurteilt werden sollten.31 Die Identität von Rechtsbegriff und Rechtsgeschichte wird von Gans auch negativ gefasst: „Ewig wird die Geschichte mit dem Recht im Widerspruch seyn: die Geschichte wandelt nicht im Syllogismus“32. Rechtsreformen, die wesentlich über den in der hegelschen Rechtsphilosophie erfassten Stand der vernünftigen Staatsverfassung hinausgehen, müssten nicht prinzipiell als vernunftwidrig verworfen werden. Dazu gehören vor allem die Demokratisierungstendenzen, die Gans in Europa ebenso wie in Amerika konstatiert. Die Anerkennung dieser Tendenzen könnte man als eine von Gans in seinem Frühwerk gezogene „republikanische Konsequenz des Hegelianismus“33 beschreiben. Es dauerte mehrere Jahre, bis er sich derart von Hegel distanzierte, dass er in der Vorrede zu den Grundlinien – bei aller Verehrung des Autors und dem Bekenntnis zur Hegelschen Schule – die Möglichkeit erwog, dass eine Zeit kommen könnte, in der Hegels Philosophie selbst veraltet sein und durch „eine andere 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Siehe Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 2. Vgl. ibid., S. 12. Vgl. Nuzzo 2002, S. 142. Gans 1971, S. 241. Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 1, S. 23. Gans 1971, S. 30. Ibid., S. 241. Gans 1981, S. 98. Nach Waszek 1991, S. 127.
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Auffassung der auch veränderten Wirklichkeit“34 ersetzt werden würde. In der ersten der zwei uns bekannten Mitschriften seiner Naturrechts-Vorlesungen (Winter 1828 bis Ostern 1829) sind – trotz des eigenen Rufs eines Liberalen und Demokraten an der Universität – die Abweichungen von Hegel minimal. Abgesehen vom Umfang, den die Besprechung der geschichtlichen Vielfalt einnimmt, scheint die Hervorhebung der Opposition als ein notwendiges Moment der Staatsorganisation der einzige Punkt zu sein, wo Gans sich nicht auf die hegelsche Vorlage stützt. Erst nach dem Tod Hegels, in der späteren Vorlesung über „Naturrecht und Universalgeschichte“ im Wintersemester 1832/33 lassen sich deutliche Unterschiede erkennen.35 Sie betreffen vor allem seine Auffassung von der Natur der fürstlichen oder Staats- und der gesetzgebenden Gewalt. Mit Hegel bleibt Gans Anhänger der konstitutionellen Erbmonarchie, deren Notwendigkeit er durch das unabdingbare Moment des Individuellen im Staat erklärt. Anders als Hegel hält er es jedoch für möglich und sogar vernünftig, dass das individuelle Moment nicht durch einen Monarchen verkörpert wird. Sein Respekt vor den gegenwärtigen rechtsgeschichtlichen Entwicklungen legt ihm die Orientierung am Modell der „nordamerikanischen vereinigten Staaten“ nah, wo ein „nicht-fürstliches Oberhaupt“ an die Stelle des europäischen Fürsten getreten ist. „In diesem Staate ist der ganze Staat des Mittelalters umgestürzt“, und es sei nur eine Folge der eingewachsenen Tradition, dass es noch dauern werde bis sich das amerikanische Prinzip auch in Europa durchsetzt:36 „Wo die Staate geordnet sind, macht der Staat das meiste, und große Könige erscheinen nicht mehr“37. Dieselbe Unterscheidung zwischen einer eigentlich verkommenen mittelalterlichen und einer modernen Form der Repräsentation kennzeichnet auch die Behandlung der gesetzgebenden Gewalt. Obwohl Gans sich an Hegels allgemeines Schema des Zweikammersystems hält, bezweifelt er die Tragfähigkeit des ständischen Prinzips und kritisiert seine Befangenheit im Recht des Partikularen, welches „nicht das des Gedankens“38 sei. Indem Gans die Verwirklichung des Gedankens als einen Prozess begreift, der noch im Gang ist und den Gedanken selbst nicht unbeeinflusst lässt, gewinnen die gegenwärtigen sozialen und politischen Entwicklungen an Bedeutung, und zwar gerade da, wo sie die Form von Umwälzungen annehmen. Sie seien nicht als eitle Auflehnungen gegen die Vernünftigkeit des Staates zu brandmarken, sondern als Andeutungen eines Mangels, der dem Bestehenden anhaftet. Im Gegensatz zu Hegel fasst Gans die Juli-Revolution in Frankreich als eine fortschrittliche Entwicklung weltgeschichtlichen Charakters, deren liberalistische Prinzipien noch auf Widerstand stießen. Hierin erweist sich Gans als Vorläufer einer Tradition, die bis zur 34 Gans 1971, S. 12. 35 Vgl. Waszek 1987, S. 171f. 36 Gans 1981, S. 100. Vgl. Gans 1971, S. 163. Nach Hans-Christian Lucas ist die Distanzierung von Hegels monarchischem Prinzip auch in den von Gans verfassten Zusätzen in den Grundlinien feststellbar. Siehe Lucas 2002, S. 124–129. 37 Gans 1981, S. 98. 38 Gans 1971, S. 166. Vgl. Gans 1981, S. 102.
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kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts reicht: Solange es geschichtliche Bewegung gibt, haben das Allgemeine und das Besondere einander noch nicht so weit durchdrungen, dass Freiheit verwirklicht worden wäre.39 Gans ist deswegen viel weniger als Hegel bereit, das schon von ihm diagnostizierte Problem der wegen der Industrialisierung aufsteigenden Armut als notwendiges Übel anzunehmen.40 In nichts unterscheide die Lage der Arbeiter in England sich von derjenigen der Sklaven. Das mache es zu einer selbstverständlichen Aufgabe, „jene Kruste der bürgerlichen Gesellschaft, dünner zu machen, die man gewöhnlich Pöbel nennt“41. An diesem Punkt solidarisiert sich Gans mit den SaintSimonisten42 – trotz aller Kritik an ihrem religiösen Selbstverständnis und der von ihnen propagierten Abschaffung des Eigentums und Erbrechts. Ihr Verdienst bestehe nicht nur darin, darauf hingewiesen zu haben, dass die Sklaverei „sich zwar formell aufhebe, aber materiell in vollkommenster Gestalt vorhanden wäre“43. Darüber hinaus hätten sie Organisationsformen vorgeschlagen, die dem Problem auf die Wurzel gingen. Während Hegel die Desintegrationstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft durch ihre Unterordnung unter den Staat neutralisiert sieht, beruft sich Gans auf die Form der freien Korporation oder „Vergesellschaftung“, worunter er ein vom Staat unabhängiges und von den mittelalterlichen Zünften unterschiedenes Model der „association“ der „Proletarier“ zur Verteidigung ihrer Interessen gegen die „Fabrikherren“44 versteht. Zu einem Programm wurden solche Gedanken von Gans allerdings nicht erhoben. Dem hegelschen System hielt er bis zum Ende die Treue, obwohl Hegel selbst dessen bewusst war, dass er und Gans trotz des rechtsphilosophischen Einverständnisses nicht dieselbe politische Gesinnung teilten.45 1830 berichtete Karl Ludwig Michelet von Hegels Vorbehalt gegen die emanzipatorische Tradition der französischen Revolution: „Als wir damals auf Politik zu sprechen kamen und ich dem Fortschritt der Weltgeschichte, den dieselbe mit jener Revolution soeben gemacht habe, das Wort redete, da herrschte er mich mit den Worten an: ‚Das ist gerade wie Gans gesprochen‘“46.
39 In Walter Benjamins Worten: „Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es noch Mythos“ (Benjamin 1982, S. 505). 40 Siehe Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 244, S. 194. 41 Gans 1971, S. 218. 42 Gans 1981, S. 92. 43 Gans 1971, S. 218 44 Ibid., S. 218–219. Darin erkennt Warren Breckmann den Versuch, ein Prinzip „horizontaler“ demokratischer Organisation zu gewinnen. Siehe Breckmann 2001, S. 552. 45 Zu dem Streit zwischen Hegel und Gans siehe Hoffheimer 1995, S. 10ff. 46 Zitiert nach Nicolin 1970, S. 415.
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2. KARL MARX: BRUCH MIT DER SPEKULATIVEN RECHTSBEGRÜNDUNG Wie Marx’ Theorie des bürgerlichen Staates aussehen würde, kann man nur vermuten: Sein mit dem ersten Band des Kapitals angefangenes großangelegtes Projekt hat er nicht ausführen können.47 Was sich aus seinen vielen zerstreuten Äußerungen in anderen Schriften entnehmen lässt, reicht allerdings aus, um manche Grundzüge dieser Theorie ausfindig zu machen. Betrachtet man z.B. die Ausführungen im dritten Teil von Der Bürgerkrieg in Frankreich als Zusammenfassung seiner Gedanken über die Funktion des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft, so lassen sich vor allem zwei Grundsätze erkennen. Erstens: Der Staat sei eine „Maschine der Klassenherrschaft“48, ein Instrument der Unterdrückung in den Händen der bürgerlichen Klasse. Obwohl der repressive Charakter der Staatsmacht umso mehr in den Vordergrund trete, als der Klassenkampf fortschreite, bestehe die Rolle des Staates ohnehin in der Erhaltung des Status quo und sei deswegen wesentlich verbunden mit organisierter Gewaltanwendung und ideologischem Katechismus zugunsten der herrschenden Klasse. Zweitens: Der Staat sei gleichzeitig ein „Schmarotzerauswuchs […], der sich von der Gesellschaft nährt und ihre freie Bewegung hemmt“49. Daraus folgt, dass der Staat nicht nur zur Konservierung der bestehenden Verhältnisse in der Gesellschaft bestimmt, sondern auch als aktiver Feind des sozialen Lebens zu betrachten ist, sofern er als Parasit dem Organismus der Gesellschaft erheblichen Schaden zufügt. In diesen Thesen spiegelt sich eine doppelte Perspektive auf den Staat: Einerseits ist er nach Marx nichts anderes als ein Instrument der Klassenherrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Demnach sei der Staat kausal auf deren Verfasstheit zurückführbar. Andererseits hält Marx fest, dass der Staat seine Rolle erfüllt, indem er die gesellschaftlichen Kräfte aussaugt. Die Erhaltung des eigenen parasitären Lebens verdanke er einer Usurpation, wodurch er trotz seiner kausalen Abhängigkeit sogar vorgibt, der Gesellschaft „überlegen“, „Verkörperung“50 ihrer Einheit zu sein. Der Staat ist also nach Marx eine Sekundärerscheinung im Vergleich mit der ihn als Werkzeug gebrauchenden Gesellschaft, soweit sie von der bürgerlichen Klasse dominiert wird. Zugleich setzt jedoch seine Instrumentalisierung seine Verselbständigung gegen die Gesellschaft sowie deren Erniedrigung zum Mittel der Selbsterhaltung des auf ihre Kosten lebenden Staates voraus. In keiner der zwei erwähnten Dimensionen der Marxschen Betrachtung des Staates zeigt sich eine Affinität mit Hegels Rechtsphilosophie, in der der Staat der bürgerlichen Gesellschaft hierarchisch übergeordnet sein soll, um die in ihr unkontrollierbaren Gegensätze in seiner erhabenen Einheit zur Versöhnung zu bringen. Der Abstand von Hegels Staatsverständnis lässt sich allerdings schwer durch das 47 48 49 50
Zur ursprünglichen Konzeption siehe Marx 1976, S. 43. Marx 1978, S. 199. Ibid., S. 204. Ibid., S. 203.
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von Marx bekanntlich eingeführte Basis-Überbau-Schema oder vom Gegensatzpaar Idealismus/Materialismus erklären. Gegen eine solche vereinfachte Interpretation sprechen nicht nur Marx’ lebenslanges intensives Interesse an der hegelschen Logik und die Übernahme des Terminus „Dialektik“, sondern vor allem auch die gravierenden Übereinstimmungen der zwei scheinbar entgegengesetzten Positionen in Bezug auf die Beurteilung der bürgerlichen Gesellschaft. Stellte Marx bereits in einer frühen Phase seiner Denkentwicklung die Kritik der in der Gesellschaft herrschenden Produktionsverhältnisse der Analyse der Staatsformen methodisch und inhaltlich voran, so gewann er diese – später im Programm der Kritik der politischen Ökonomie weiter entwickelte und differenzierte – Einsicht durch die Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie Hegels.51 Ein erstes und in vieler Hinsicht entscheidendes Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist der handschriftlich überlieferte Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843, in dem er die Paragraphen §§ 261–313 der Grundlinien ausführlich kommentierte. Wegen seiner werkgeschichtlichen Bedeutung und des direkten Bezugs auf den Text Hegels wird im Folgenden diese unveröffentlichte Arbeit von Marx als Grundlage für die Darstellung seines Umgangs mit der Rechtstheorie Hegels dienen. Marx’ frühe Hegel-Kritik steht ähnlich wie die von Gans im Zeichen einer Vergeschichtlichung des Rechts. Das Verhältnis zwischen den zwei Kritiken ist wahrscheinlich kein externes. Außer Zweifel, wenn auch wenig bekannt, steht der Einfluss von Gans auf die Junghegelianer. Nach einem brieflichen Zeugnis von 1838 wollte er sogar zu Ruges Halleschen Jahrbüchern beitragen.52 Marx selbst hörte 1838 die Vorlesung Gans’ über Preußisches Landrecht, während er für die Kritik des Hegelschen Staatsrechts die Ausgabe des Vereins von Freunden des Verewigten als Grundlage gebrauchte und die Zusätze Gans’ als Originaltext von Hegel behandelte. Wie Gans konstatiert auch Marx in dieser Arbeit Hegels mangelnde Befreiung von Institutionsvorstellungen mittelalterlicher Prägung und betont – viel direkter und lauter als Gans – ihre Unverträglichkeit mit dem modernen Staat. Die Historisierung des Rechts und der Rechtstheorie stellt jedoch nur einen Teilaspekt des marxschen Vorhabens dar. Dass die Rechtsverhältnisse geschichtlich variabel sind, bedeutet für ihn eher, dass die Vereinheitlichungs- und Totalisierungsleistung, die Hegel und mit ihm Gans dem Staat und seinen Institutionen zumuteten, von ihm nicht erbracht werden kann. Marx’ Leitgedanke könnte folgendermaßen rekonstruiert werden: Wenn der geschichtliche Wandel der Rechtsformen nicht von der Selbstbewegung des Begriffs verursacht wird, dann ist der Staat als höchste Sphäre des in den Rechtsverhältnissen verwirklichten objektiven Geistes nicht mehr das Feld der Verwirklichung der Freiheit.53 Schon in der Kritik 51 Schwer lässt sich die von Dieter Wolf gestellte Frage beantworten, inwieweit die frühe HegelKritik für den „späteren“ Marx noch gültig sei (Wolf 1979, S. 146). 52 Siehe Waszek 1991, S. 37. 53 Marx exemplifiziert das Problem anhand der klassischen Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué. Wenn die gesetzgebende Gewalt die Verfassung zur Voraussetzung habe, wie Hegel behaupte, dann dürfe sie nicht die Verfassung ändern. Wenn sie
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des Hegelschen Staatsrechts ist die These antizipiert, zu der sich Marx in Die Deutsche Ideologie vorwagt: Weil die Logik keine Priorität vor der Geschichte habe, habe das Recht keine eigene Geschichte.54 Trotz der Kritik an dem Primat der Logik im Werk von Hegel, der das Schicksal der staatlichen Institutionen so präsentiere, als wäre es „versiegelt in der Santa Casa (der Logik) heiligen Registern“55, wird die hegelsche Formel von der Identität von Wirklichkeit und Vernunft nicht verworfen, sondern uminterpretiert: Was vernünftig sein müsse, sei die Wirklichkeit selbst, d.h. die realen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – die Marx allerdings noch mit dem anthropologischen Gattungsbegriff zu fassen versucht –, nicht das in der abstrakten Gestalt der Verfassung zum Fetisch gewordene Jenseits.56 Ein Jahr zuvor betrachtete Marx noch den Staat „als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat“57. 1843 wird diese Verwirklichungsaufgabe auf die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft übertragen. Damit geht ein doppelter Angriff auf Hegel einher: auf der Ebene der Darstellungsform seiner Rechtstheorie und auf der Ebene ihrer politisch- und gesellschaftsphilosophischen Implikationen. Für seine prinzipielle Hegel-Kritik macht sich Marx Feuerbachs Argument zu eigen, Hegels spekulative Logik zeichne sich dadurch aus, dass sie das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat umkehre. Marx verschiebt diese Kritik von der Sphäre der Religion auf die des Rechts: Hegel gehe davon aus, dass die Individuen, die Familie, die bürgerliche Gesellschaft Produkte der In-Sich-Selbst Teilung des Staates seien, der dadurch die „Macht des Vernünftigen in der Nothwendigkeit“58 ausübe. Damit werde aber das Verhältnis zwischen den Sphären verkehrt, denn dem, was naturnotwendig ist, müsse genetische Priorität zugesprochen werden. Werde das Primat des Notwendigen ignoriert, so seien logische Fehlschlüsse unvermeidlich:
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die Verfassung nicht ändern dürfe, dann sei keine Entwicklung der Verfassung möglich, wie Hegel ebenfalls postuliere. Nach Marx ist es aber selbstverständlich, dass das Volk das Recht hat, auch durch eine Revolution „sich eine neue Verfassung zu geben, […] indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist“ (Marx 1982, S. 61). Damit radikalisiert Marx, die schon von Hegel und Gans ausgesprochene Forderung, dem Volk das Recht zuzuerkennen, „ein Gesetzbuch zu machen“ (Siehe hier Anm. 17). Er erweitert aber nicht nur dieses Recht auf die Verfassung, sondern untergräbt auch das Fundament der rechtsphilosophischen Diskussion, indem er die „Collision zwischen der Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“ auf einen „Widerspruch im Begriff der Verfassung“ zurückführt (ibid.). Siehe Marx / Engels 1978, S. 63. Marx 1982, S. 15. Marx schreibt z.B.: „Die politische Verfassung war bisher die religiöse Sphäre, die Religion des Volkslebens, der Himmel seiner Allgemeinheit gegenüber dem irdischen Dasein seiner Wirklichkeit“ (Marx 1982, S. 33); „[…] das politische Leben ist das Luftleben, die ätherische Region der bürgerlichen Gesellschaft“ (ibid., S. 89). Marx 1975, S. 189. Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 263, S. 210.
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„[…] der politische Staat kann nicht sein ohne die natürliche Basis der Familie und die künstliche Basis der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind für ihn eine Conditio sine qua non; die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producierende wird als das Product seines Products gesetzt“59.
Hegels Vorstellung von der Verwirklichung der Vernunft und somit der Freiheit sei selbst unvernünftig, denn „so erscheint das wirkliche Subject nur als letztes Prädicat des abstrakten Prädicates“60. Dass Hegel nicht die Logik des politischen Körpers, sondern „seiner Logik einen politischen Körper“61 gebe, hat nach Marx’ Interpretation zur Folge, dass das Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat als Selbstverhältnis des Staates mystifiziert wird. Diese Mystifikation bedeute zunächst ein Erkenntnisdefizit. Da die Rechtstheorie als „Sache der Logik“ begriffen werde, bleibe die „Logik der Sache“62 im Dunkel, und Hegel erkenne nie die spezifische Natur der Rechts- und Lebensformen, die er spekulativ zu begründen versuche. Marx wirft damit Hegel einen gegenstandlosen Formalismus vor, indem er behauptet, dass seine Methode ihm nicht zwischen „der allgemeinen Idee des Organismus“ und „der bestimmten Idee des Staatsorganismus“63 zu unterscheiden erlaubt. Ein solcher „Staatsformalismus“64 strafe sich selbst Lügen, denn „eine Form ohne Inhalt muß formlos sein“65. Der Vorrang des logischen Prinzips gegenüber der Wirklichkeit schlage um in Prinzipienlosigkeit. Charakteristisch für diese Transformation ist für Marx Hegels Ableitung der Monarchie aus der Individualität des Staates: Weil das Individuum des Fürsten nur als eine Verkörperung dieser Individualität, der entscheidenden Selbstbestimmung des Willens betrachtet werde,66 sei „die Idee der fürstlichen Gewalt […] nichts Anderes als die Idee des Willkührlichen, der Entscheidung des Willens“67. Trotz ihrer Schärfe will Marx’ Hegel-Kritik, nach der der Kultus der begrifflichen Notwendigkeit sich als Triumph des Zufalls entpuppt, eine immanente sein.68 Nur in der Demokratie erfüllte sich nach Marx die von Hegel selbst angestrebte Einheit von Allgemeinem und Besonderem, Form und Inhalt, während die von ihm gepriesene Monarchie nur „Form“ sein solle, aber den „Inhalt“ verfälsche.69 Die 59 Marx 1982, S. 9. 60 Ibid., S. 18. 61 Ibid., S. 52. Marx verfolgt überall im Text dieselbe Linie der Kritik, die sich bei der Behandlung der Frage der erblichen Monarchie humoristisch zuspitzt: „Der König theilt das mit dem Pferd, daß wie dieses als Pferd, der König als König geboren wird“ (ibid., S. 104). 62 Ibid., S. 18. 63 Ibid., S. 14. 64 Siehe z.B. ibid., S. 125f. 65 Ibid., S. 68. 66 Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 279. 67 Marx 1982, S. 25. 68 Vgl. Avineri 1970, S. 12. 69 Siehe ibid., S. 30. Das radikal-demokratische Ideal des jungen Marx kann nicht mit seiner späteren Vorstellung vom Kommunismus gleichgesetzt werden. Noch in seinen späten politischen Schriften, wie z.B. in der Kritik des Gothaer Programms von 1875 arbeitet Marx mit der
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wahre Achillesferse von Hegel ist nach Marx, dass er „von seinem politischen Spiritualismus in den krassesten Materialismus“70 herabsinkt. Von dieser Umwandlung werde nicht nur Hegels Bestimmung der fürstlichen Gewalt, sondern auch – durch die Befürwortung der Korporationen, der ständischen Repräsentation und die Ausschließung des Volks von den Institutionen – die der Exekutive und der Legislative betroffen. Die Empirie werde nicht nach dem Maßstab ihrer eigenen Vernünftigkeit beurteilt, sondern sie diene nur der Ausfüllung und der Bestätigung der logischen Formen, die der Staat verkörpere. Weil das Material der Wirklichkeit verachtet werde, werde es auch als Wirklichkeit des Geistes abgesegnet. An der systematischen Begründung der hegelschen Tendenz, das Bestehende als Erfüllung des Begriffs zu heiligen, zeigt sich, dass Marx Hegel als Philosophen und nicht als Sprachrohr des Preußischen Staats angreift.71 Deswegen richtet sich die Kritik von Marx an Hegel eigentlich nicht auf dessen Konservatismus. Ihr Lebensnerv besteht vielmehr in folgender Feststellung: Hegel verkenne, dass die angeblich logische Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat vom Staat weder gesetzt werde noch zurückgenommen werden könne, weil sie das Produkt von geschichtlichen Entwicklungen in der bürgerlichen Sphäre selbst sei. Die Abspaltung der politischen Funktionen von der Gesellschaft oder – logisch formuliert – des „Wesens“ vom bloßen „Inhalt“ begreift Marx als eine Konsequenz des Übergangs von der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft. Er billigt Hegel zu, entdeckt zu haben, dass die bürgerliche Gesellschaft in sich widersprüchlich ist, missbilligt aber seinen Versuch, den Widerspruch durch staatliche bzw. nur logische Mittel zu mildern. Ein solcher Versuch könne nur zu einer Reihe von Kompromissbildungen wie der hilflosen Synthesis des monarchischen und des demokratischen Prinzips, dem verdeckten Antagonismus von regierender und gesetzgebender Gewalt oder dem Doppelkammersystem der Gesetzgebung führen. Reale Gegensätze sind aber, so Marx, nur auf dem Feld, wo sie wuchsen, zu beseitigen. Mit Hilfe der hegelschen Logik, d.h. durch Vermittlung, würden sie nur unendlich verschoben oder vertuscht. Der Einwand von Marx gegen Hegel nimmt selbst logische Gestalt an: „Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“.72 An die logische Formel bleibt aber ein ökonomisch-gesellschaftlicher Gehalt geknüpft. Die Umkehrung des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die Marx an Hegels Rechtsphilosophie tadelt, habe ihren Ursprung im Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich dem Privateigentum.73 Durch es werde nicht, wie Hegel behauptet, dem Willen sein Objekt sichergestellt, sondern der Wille selbst – der Grundbegriff der hegelschen Rechtsphilosophie – werde um seine Freiheit gebracht: „Das Subjekt 70 71 72 73
Dialektik von Inhalt und Form: Das „gleiche Recht“ sei „ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht“ (Marx 1985, S. 14). Marx 1982, S. 114. Gegen diese seit Rudolf Haym verbreitete Interpretation siehe Leopold 2007, S. 56–62. Marx 1982, S. 97. Zur Parallele zwischen Marx’ Hegel- und Gesellschaftskritik vgl. Arndt 2012, S. 31.
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ist die Sache und das Prädicat der Mensch. Der Wille wird zum Eigenthum des Eigenthums“74. Auf solche Begründung der Kritik der politischen Ökonomie wird im Spätwerk von Marx verzichtet, auch wenn das feuerbachsche Kritik-Modell, dessen sich Marx bedient, mit dem Verweis auf das Eigentum bereits über sich hinausgreift.75 Schon im einige Monate später geschriebenen Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung meint er, dass die „Kritik der Religion“, nach deren Vorbild er auch das hegelsche Staatsrecht kritisierte, „im Wesentlichen beendigt“76 ist. Noch in Das Kapital, vor allem im Fetischismus-Abschnitt, ist das Echo der frühen Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie hörbar.77 Das verselbstständigte Leben der Ware sei eine Unwahrheit, wenn auch – so Marx im Text von 1843 bezüglich der Frage nach der Souveränität des Staates – „eine existirende Unwahrheit“78. 3. THEODOR W. ADORNO: GEGEN DEN ABBRUCH DER DIALEKTIK Auch Adorno setzt die hegelsche Staatstheorie mit der Problematik der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung. Genauso wenig wie Marx liest er die Rechtsphilosophie Hegels als bloße Apologie des Preußischen Staates. Was man ihm vorwerfe, dem Staat Götzendienst zu erweisen, sei als Produkt „der Einsicht in das Unschlichtbare der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft durch deren Selbstbewegung“79 zu verstehen. Insofern sei selbst die restaurative Tendenz seines politischen Denkens, die Adorno nicht verneint, auch als Kritik am widersprüchlichen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft zu lesen. Es gelte deshalb nicht, die dialektische Methode und ihr progressives Potenzial aus den reaktionären inhaltlichen Thesen herauszudestillieren. Vielmehr sei das Methodische bei Hegel, die Bewegung des Begriffs, der Diagnose der sozialen Pathologie engstens verwandt. In Rekurs auf Marx interpretiert Adorno den hegelschen Geistesbegriff als formales Sediment gesellschaftlicher Arbeit, die als allgemeines Äquivalent totale Vermittlung leiste.80 Selbst das Prinzip der Identität des Vernünftig-Allgemeinen mit dem Wirklichen habe sein Vorbild in der Funktion von Arbeit in den neuzeitlichen Gesellschaften. Ironisch widerfahre der systematischen Philosophie Hegels die Notwendigkeit, die seine Rechtstheorie am System der bürgerlichen Gesellschaft tadelt. Die Verabsolutierung der Vermittlung durch 74 Ibid., S. 116. Vgl. S. 111: „[…] die Freiheit dieses Willens ist seine Leerheit von anderem Inhalt, als dem des Privateigenthums“. 75 Vgl. Reichelt 2015, S. 33. 76 Marx 1982, S. 170. 77 Vgl. Arndt 2013, S. 32f. 78 Marx 1982, S. 130. 79 Adorno 1970b, S. 274. 80 Ibid., S. 265.
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das Ganze führe zur falschen Harmonisierung.81 Zwar lobt Adorno bei Hegel die Überwindung der Subsumtionslogik durch die dialektische Wechseldurchdringung des Allgemeinen und des Besonderen.82 Da aber der Hegelsche „Geist“ dem gesellschaftlich waltenden Tauschprinzip in der Abstraktion von dem, was nicht im Äquivalententausch aufgeht, folge, werde das besondere Dasein mit der logischen Form der Besonderheit verwechselt.83 Die angebliche Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit werde zum Schein, in dem sich Unterwerfung als verwirklichte Freiheit feiere. „Der damit etablierte logische Primat des Allgemeinen liefert der Hegelschen Option für den sozialen und politischen das Fundament“84. Adornos Zusammenführung der logischen und der gesellschaftsphilosophischen Ebene in seiner Hegel-Lektüre – anhand derer er sein eigenes Programm einer von der Subjekt-Objekt-Identität befreiten, negativen Dialektik entwickelt85 – ermöglicht ihm eine Erweiterung der Kritik auf Hegels Begriff der Weltgeschichte. Anders als bei Gans geht es dabei nicht nur um das Verhältnis zwischen Volksgeist und Universalgeschichte. Die Betonung der Pluralität der Volksgeister dient Adorno nicht für die Orientierung an der offenen Zukunft, sondern als Hinweis auf die Hinfälligkeit des Begriffs „Volksgeist“ selbst, durch den die gegebene Gewaltherrschaft über die einzelnen Menschen pseudorational und in geschichtlicher Hinsicht anachronistisch gerechtfertigt werde: „Vergänglich […] ist die Kategorie des Volkes und des Volksgeistes selber, gar nicht erst ihre spezifischen Manifestationen“86. Anders als Marx beschränkt sich Adornos Kritik nicht auf die Entlastung des hegelschen Begriffs der Weltgeschichte von dem Schicksalsglauben, es gebe ein geschichtliches Gesamtsubjekt.87 Vielmehr greift er Hegels Vergottung der allgemeinen Geschichte um ihrer Allgemeinheit willen an, von der sich Marx und Engels nicht genug distanzierten, sofern sie glaubten, ein „glückliches Ende“ prognostizieren zu können. Genauso wie die „Einheit des Systems“ rühre die Einheit der Weltgeschichte „von unversöhnlicher Gewalt“88 her. Adornos Einwand gegen die Vorstellung eines „Weltplans zum Besseren“ ist vom geschichtlichen Augenblick ihrer Entstehung nicht zu trennen. Es sind – wie er immer wieder betont – die Erfahrungen der geschichtlichen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, welche das noch im 19. Jahrhundert gepflegte Fortschrittsdenken diskreditiert haben. Nach Adorno behält sogar die hegelsche Geschichtsphilosophie ein Stück Recht gegen ihre sozialistische Kritik und Umdeutung. Zwar sei die kultische Verehrung des autoritären Staates als Vernünftig-Allgemeines auf den angeblich in der politischen Sphäre überwundenen Warenfetischismus zurückführbar. Doch durch die bloße Reduktion der Politik auf die Ökonomie werde gerade 81 82 83 84 85 86 87 88
Vgl. Grenz 1974, S. 77. Adorno 1970b, S. 289. Adorno 1973, S. 322. Ibid. Vgl. Rentsch 1993, S. 88ff. Adorno 1973, S. 332. Siehe ibid., 299 und 348ff. Adorno 1970b, S. 273.
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der politische Charakter des Fetischismus selbst verkannt. Die Hypostasis des allgemeinen Tauschwertes gegen den besonderen Gebrauchswert ist nach Adorno immanent totalitär. Ihre Irrationalität liege nicht nur im Fehlschluss, das Allgemeine solle „seiner bloßen Form als Allgemeinheit wegen Recht haben“89, sondern vor allem auch in der Fixierung der Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem in der Form eines Rechtsverhältnisses. Die Rechtsphilosophie sei deshalb der privilegierte Ort für den „Kultus des Weltlaufs“ als eine den besonderen Individuen übergeordnete und durch Abschneidung des Besonderen zu respektierende Instanz. „Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten“90. Nicht so sehr die Inhalte der Rechtsbestimmungen als die Form der „Legalität“, wodurch die Affirmation des Bestehenden unabhängig von seiner Qualität und um seines bloßen Bestehens willen zum Imperativ werde,91 steht im Mittelpunkt von Adornos Interesse. Dass nach Hegels Verdikt der Einzelne sich dem historisch gegebenen Ganzen unterordnen solle, dass gezwungene Anpassung zur Freiheit verklärt, so dass trügerische Versöhnung deklariert werde, sei symptomatisch für den misslungenen Versuch Hegels, durch politische Vereinheitlichung über die gesellschaftlichen Gegensätzlichkeiten hinaus zu gelangen. Der Grund des Misslingens liegt nach Adorno nicht bloß darin, dass die Sphäre des Rechts, des Staates und der Politik unfähig zur Neutralisierung der bürgerlichen Gesellschaft wäre, sondern dass das gesellschaftliche Feld an sich bis zum Äußersten politisiert ist. Der Triumph des über das Besondere hinweg schauenden allgemeinen Tauschprinzips habe zur Entstehung einer „total vergesellschaftete[n] Gesellschaft“92 geführt. Hegels Rechts- und Sittlichkeitsgedanken hält Adorno entgegen: „Was strahlt, als wäre es über die Antagonismen hinaus, ist eins mit der universalen Verstrickung“93. Zwar solle bei Hegel die in der Staatskonstruktion kulminierende Rechtssphäre die Faktizität schicksalhafter Naturverhältnisse überwinden, doch das leiste sie als eine „zweyte Natur“94. Darin sieht Adorno sowohl einen Selbstverrat des Geistes, der seine Negativität preisgibt, als auch eine Mythisierung und Vergöttlichung des Faktischen, als wäre es immer schon dem Geistigen verbrüdert. Adorno versteht sich zwar als Fortsetzer der hegelschen Tradition, beabsichtigt aber keine Aktualisierung von Hegels Rechtsphilosophie, um sie mit dem heutigen politischen Selbstverständnis verträglich zu machen. Dagegen hebt er die archaischen und antikisierenden Züge des hegelschen Rechtsverständnisses hervor, worin das Verschwinden der Individuen in der Individualität des Staates Ausdruck finde.95 Statt die Partikularität aus der herrschenden Allgemeinheit zu erklären, 89 90 91 92 93 94 95
Adorno 1973, S. 337. Ibid., S. 304. Vgl. ibid., S. 303. Ibid., S. 309. Ibid., S. 306. Siehe ibid. S. 351. Vgl. Hegel, Grundlinien, GW 14,1, § 4, S. 31. Siehe Adorno 1973, S. 318f.
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inszeniere Hegel die falsche Auflehnung der egoistischen ersten gegen die objektive zweite Natur und fordere die Kapitulation des Subjekts vor dem Gesetz als „die Vernunft der Sache“96. Da Adorno im System des Rechts den Inbegriff der hypostasierten Ordnung sieht, die a priori als gut beurteilt werde,97 abstrahiert er weitgehend von der inhaltlichen Ebene von Hegels Rechtsphilosophie und liest sie als Allegorie des Identitätsprinzips, das die Differenz zwischen Logos und Natur, Begriff und Material verbietet.98 Nicht zuletzt manifestiert sich für ihn der klassizistisch verkleidete autoritäre Gehalt der Hegelschen Staatstheorie in dem „erbaulichen“ Ton des Vortrags, in dem die Unwahrheit von „Prügelpädagogik im wörtlichen Sinn und im übertragenen des unaussprechlichen Gebots, man solle sich fügen“99 zur Erscheinung tritt. Obwohl Adornos Kritik der Rechtsphilosophie Hegels auf ihre totalitäre Semantik konzentriert ist, bleibt sie von der durch Popper u.a. verbreitete Auffassung, Hegel gehöre zu den Vorboten des Totalitarismus,100 grundverschieden. Adorno behauptet zwar über Hegel, „ihm mangelt Sympathie für die unter der Allgemeinheit verschüttete Utopie des Besonderen“101, gleichzeitig aber begreift er das Aufoktroyieren des Heteronom-Allgemeinen im Gewand der Versöhnung als den Punkt, an dem Hegel sich selbst widerspricht. Im Rahmen des Idealismus, den Adorno als Identitätsdenken definiert, sei Hegels Staatsphilosophie ein „notwendiger Gewaltstreich“, denn anders als durch Gewalt ließe sich das Unerträgliche nicht beschwichtigen. Durch die Vergottung der staatlichen Gewalt übe Hegel allerdings auch Gewalt gegen sich selbst aus, indem die Dialektik „im Zeichen eines Prinzips, dem Hegels eigene Kritik des Absoluten gebührte“102, abgebrochen werde. Während Adorno Hegel wegen der Irrationalität der lückenlosen Totalität und der Vorherrschaft des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen kritisiert, meint er, das Vorbild für diese Kritik bei Hegel selbst zu finden.103 Die Rechtsphilosophie ist für Adorno der Ort, wo die hegelsche Dialektik als „dialektisch sich herstellende[]
96 Ibid., S. 304. 97 Ibid., S. 331. 98 Diese verallgemeinernde Tendenz in Adornos Denken ist oft kritisiert worden. Siehe z.B. Habermas 1991, S. 506. Für Adorno ist allerdings diese Verallgemeinerung keine methodologische Vorentscheidung, sondern gehört zur Logik des Gegenstands. 99 Adorno 1973, S. 330. 100 Popper 1949. 101 Adorno 1973, S. 312. 102 Adorno 1970b, S. 275. 103 In dieser Hinsicht lobt Adorno Hegel dafür, dass in seiner Philosophie das Ganze nur durch die Teile zu verstehen sei, und die Einheit von Subjekt und Objekt keinen irrationalen Charakter habe, wie man ihm gern vorwerfe. S. ibid., S. 254 und 256. In überraschender Übereinstimmung mit Engels, besteht er sogar darauf, dass die „fragwürdigste […] seiner Lehren, die, das Wirkliche sei vernünftig, […] nicht ganz“ apologetisch war (ibid., S. 288).
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Identität“104 versteinere. Durch den Stillstand der Bewegung werde das hegelsche „konkrete Allgemeine“105 zu einem Abstrakten. Dass die Präponderanz des Staates und die metaphysische Sistierung der Dialektik zwei Seiten einer Medaille sind, ist allerdings nicht das letzte Wort Adornos. Weil er den Ursprung der idealistischen Abstraktion in der Realabstraktion des Tauschprinzips verortet, behauptet er zugleich, dass die hegelsche Metaphysik eine real herrschende sei. Nicht erst der Staat, sondern die verwaltete Gesellschaft leiste die Totalisierung, die Hegel verteidige, aber in der Verteidigung gleichzeitig durchsichtig mache und der Kritik ausliefere.106 Letztlich sei der systematische Zwang in seiner politischen Erscheinungsform als Staatsphilosophie auch indirekt wahr. Nach dem berühmten Diktum Adornos ist das Ganze zwar das Unwahre,107 doch vermöge seiner Unwahrheit auch der index falsi108 und damit Organ der Wahrheit. Die Kritik an Hegel unterscheidet sich fast nicht von seiner Verteidigung. Vom Vorwurf des Reaktionären sei er nicht zu entlasten. Nichtsdestotrotz sei „die Hegelsche Apologetik und Resignation […] die bürgerliche Charaktermaske, welche die Utopie vorgebunden hat, um nicht sogleich erkannt zu werden; um nicht in der Ohnmacht zu verbleiben“109. Der marxsche Begriff der Charaktermaske, wodurch im Kapital die Personifikation der ökonomischen Verhältnisse und das Beherrschtsein der Akteure von ihrer ökonomischer Rolle veranschaulicht werden soll,110 verwandelt sich hier zum Medium der kritischen Rettung von Hegels Rechtsphilosophie.
104 Adorno 1973, S. 331. 105 Vgl. die allerdings kritisch gegen Adorno gerichtete Analyse in: Sandkaulen 2010, S. 185. Zum Begriff des abstrakt Allgemeinen in Adornos Hegel-Kritik vgl. Tichy 1977, S. 77–83. 106 Adorno 1970b, S. 290. 107 Adorno 1970a, S. 55. Vgl. Adorno 1970b, S. 324: „Die Kraft des Ganzen […] ist keine bloße Einbildung des Geistes, sondern die jenes realen Verblendungszusammenhangs, in den alles Einzelne eingespannt bleibt“. 108 Adorno 1973, S. 311. 109 Adorno 1970b, S. 290. 110 Siehe Marx 1989, S. 112. Vgl. Lukács 1968, S. 224 (Anm.); Hörisch 1979, S. 79–96.
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AUTOREN ANDREW BUCHWALTER ist Presidential Professor für Philosophie an der University of North Florida. Er studierte an der University of California sowie der Boston University und war Fulbright Stipendiat an der Universität Heidelberg. Er hat an der Yale University gelehrt und war Fulbright Research Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus; Rechtsphilosophie und politische Philosophie; Globale Gerechtigkeit; Menschenrechte und staatliche Kulturpolitik. Publikationen u.a.: Dialectics, Politics, and the Contemporary Value of Hegel’s Practical Philosophy (2011); Hegel and Global Justice (Hg., 2012) und Hegel and Capitalism (Hg., 2015). MATTEO CAVALLERI ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des politischen Denkens an der Universität Bologna. Er erwarb den PhD in Philosophie an der Universität Palermo, war Postdoc an der Universität Bologna, Visiting Researcher an der Humboldt Universität Berlin und Research-Fellow an der Universität Bergamo. Arbeitsschwerpunkte: die Beziehung zwischen theoretischer und politischer Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung Hegels; Philosophische Anthropologie sowie die Anthropologie und die Ästhetik und Politik der Erinnerung. Publikationen u.a.: La libertà nella necessità. Saggio sullo spirito oggettivo hegeliano (2019); La Resistenza al nazi-fascismo. Un’antropologia etica (2015); Il due in questione. Percorsi interdisciplinari sul riconoscimento (2019). HOLGER GLINKA bereitet die Edition von Wolffs Vorlesungen über Grotius’ De iure belli ac pacis am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA, Halle [Saale]) vor. Er war von 2001 bis 2014 Redakteur der Hegel-Studien (Hegel-Archiv, Bochum) und von 2011 bis 2014 Mitglied des Forschungszentrums für Klassische deutsche Philosophie (Ruhr-Universität Bochum); seit 2015 ist er Vorstandsmitglied am Harun Farocki Institut (HaFI, Berlin) und von 2018 bis 2019 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am IZEA. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsphilosophie (Naturrecht, Politische Philosophie); Religionsphilosophie; Phänomenologie. Publikationen u.a.: Zur Genese autonomer Moral (2. verb. Aufl. 2012); „In Gott ist, wie es die Religion vorstellt.“ G. W. F. Hegels Deutung des spätantiken Neuplatonismus im Kontext von Philosophiegeschichte und Religionsphilosophie, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter (2016); „daß ich es wage eine Bitte auszusprechen“. Eduard Gans am 28. Juni an Karl Stein zu Altenstein, Heine-Jahrbuch (2019). DIMITRIS KARYDAS ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schleiermacher-Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und am CemoG der FU Berlin, lehrt Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität und als Gastdozent an griechischen Universitäten. Arbeitsschwerpunkte: Geschichts-, Rechts- und Religionsphilosophie sowie Ästhetik in der Tradition der
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klassischen deutschen Philosophie und der kritischen Theorie. Publikationen u.a.: Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne, hg. mit S. Schmidt u. J. Zovko (2015), Von Kronos zu Zeus: Zur Ermächtigung der Zeit durch den Geist, in: Hegels Anthropologie, hg. v. A. Arndt (2017), Bertolt Brecht: Philosophie auf der Bühne (2020) (gr.). FRANK KUHNE ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie; Marxsche Theorie; Kritische Theorie. Publikation u.a.: Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie (2007). MICHAEL LÖBIG ist Abteilungsleiter im Bereich Eingliederungshilfe und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus; kritische Gesellschaftstheorie. Publikationen u.a.: Hegels System der Philosophie, in: ‚prima philosophiaʻ, Cuxhaven, April 1990; Metaphysik – Radikaler Konstruktivismus – Positivismus. Erkenntnistheoretische Implikationen des ‚Radikalen Konstruktivismus‘, in: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften. Flensburger Universitätszeitschrift, Heft 14, 2003, hg. v. Andreas von Prondczynsky; Persönlichkeit, Gesellschaft und Staat. Idealistische Voraussetzungen der Theorie Lorenz von Steins (2003); Zum Verhältnis von Philosophie und Bildung. Übers. v. Xiaoling He, in: ‚Modern Philosophy‘, 1/2006, Peking. JOHANNES ROHBECK war von 1993 bis 2012 Professor für Praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie an der Technischen Universität Dresden und ebendort von 2012 bis 2015 Seniorprofessor sowie bis Oktober 2018 Seniorprofessor für Forschung. Im Wintersemester 2018/19 war er Gastprofessor an der Universidad Carlos III in Madrid. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der europäischen Aufklärung; Geschichtsphilosophie; Didaktik der Philosophie. Publikationen u.a.: Technik – Kultur – Geschichte (2000), Geschichtsphilosophie zur Einführung (2004), Marx (2006), Didaktik der Philosophie und Ethik (2008), Aufklärung und Geschichte (2010), Zukunft der Geschichte (2013). Von 1994 bis 2015 war er Mitherausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie (begründet von Friedrich Ueberweg), Reihe 18. Jahrhundert, Romanische Länder. GEORGIOS SAGRIOTIS ist Assistenzprofessor für Philosophie der Neuzeit an der Universität Patras (Griechenland). Er hat an der Panteion Universität Athen Soziologie studiert und wurde dort mit einer Arbeit über Thomas Hobbes promoviert. Er war Postdoktorand an der Goethe Universität Frankfurt, Visiting Scholar an der Brown Universität in Rhode Island und Mitarbeiter am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: klassische deutschen Philosophie; Kritische Theorie des 20. Jahrhunderts. Publikationen u.a.:
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Doxa kai Paradoxa. Zur Kritik der Kultur- und politischen Philosophie von J.-J. Rousseau (2012); Autonomie und Engagement. Politisch- und ästhetischphilosophische Fragen der Kritischen Theorie (2016); Die Möglichkeit der Freiheit. Studien in der Erziehungsphilosophie Kants (2019). MICHAEL STÄDTLER ist Nachwuchsgruppenleiter im BMBF-Projekt „Kohärenz in der Lehrerbildung“ an der Bergischen Universität Wuppertal und Leiter des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts / Peter-Bulthaup-Archiv (Hannover). Er wurde 2002 an der Universität Hannover in Philosophie promoviert und habilitierte sich 2009 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie; Rechts- und Sozialphilosophie; Ethik; Metaphysik und Erkenntnistheorie; Geschichte der Philosophie; klassische deutsche Philosophie und kritische Theorie. Publikationen u.a.: Die Freiheit der Reflexion (2003); Kant und die Aporetik moderner Subjektivität (2011); Kontingenz und Begriff. Über das Denken von Geschichte und die Geschichtlichkeit des Denkens (2019). MIRKO WISCHKE ist Lehrer an der Neuen Schule Wolfsburg und Privatdozent an der Universität Hildesheim. Er war Gastprofessor in Kolumbien (2015) und der Ukraine (2009–2012). Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie und Ethik. Publikationen u.a.: Macht und Gewalt bei Hannah Arendt, hg. mit Georg Zenkert (2019); Heuchelei, Lüge und Ironie. Orte des Bösen bei Kant in der Perspektive von Hegel, in: Andreas Arndt (Hrsg.), Hegel Jahrbuch, Berlin: Akademie-Verlag 2017; Konstellationen der Sozialphilosophie (auf Spanisch), Schriftenreihe der Universidad de Ibagué (Kolumbien) 2018; Das Böse und seine Gewalt, geplant 2020.
s ta at s d i s k u r s e Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Paula Diehl, Michael Hirsch, Sebastian Huhnholz, Manuel Knoll, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Peter Schröder.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 1865–2581
Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938 2012. 208 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10170-7 Tobias Bevc / Matthias Oppermann (Hg.) Der souveräne Nationalstaat Das politische Denken Raymond Arons 2012. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-10179-0 Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 2012. 267 S. mit 1 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10281-0 Rüdiger Voigt Alternativlose Politik? Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie 2013. 247 S., kt. ISBN 978-3-515-10326-8 Pedro Hermílio Villas Bôas Castelo Branco Die unvollendete Säkularisierung Politik und Recht im Denken Carl Schmitts 2013. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-10342-8 Bernd Belina (Hg.) Staat und Raum 2013. 188 S., kt. ISBN 978-3-515-10346-6 Beatrice Brunhöber (Hg.) Strafrecht im Präventionsstaat 2014. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-10751-8 Christoph Lundgreen (Hg.) Staatlichkeit in Rom? Diskurse und Praxis (in) der römischen Republik 2014. 276 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10710-5 Manuel Knoll, Michael Spieker, Michael Walzer (Hg.)
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Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit Ein kooperativer Kommentar 2015. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-10916-1 Oliver Flügel-Martinsen / Franziska Martinsen (Hg.) Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich Neuere Diskurse und Perspektiven 2015. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-10993-2 Torben B. F. Stich Somalia zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall 2015. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-11186-7 Pravu Mazumdar (Hg.) Foucault und das Problem der Freiheit 2015. 239 S., kt. ISBN 978-3-515-11229-1 Skadi Siiri Krause (Hg.) Erfahrungsräume der Demokratie Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville 2017. 258 S., kt. ISBN 978-3-515-11835-4 Norbert Campagna Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus 2018. 454 S., kt. ISBN 978-3-515-12006-7 in Vorbereitung Ewald Grothe / Jens Hacke (Hg.) Liberales Denken in der Krise der Weltkriegsepoche Moritz Julius Bonn 2018. 231 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12234-4
Ist Hegels These vom Staat als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ stimmig? Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, muss man Hegels Begriff des Staates, wie er am Ende der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ entwickelt wird, auf dreierlei Weise im Zusammenhang begreifen: Erstens muss der Staat im Zusammenhang der Rechtslehre verstanden werden. Zweitens muss die Rechtslehre als Lehre vom objektiven Geist im Zusammenhang der Hegelschen Philosophie als ganzer verortet werden. Und drittens muss die logische Form der Rechtslehre vor dem Hintergrund der Hegelschen Logik gesehen werden.
Im Unterschied zu den meisten Interpretationen der politischen Philosophie Hegels isolieren die Autoren dieses Bandes nicht bloß Teilbereiche der Rechtslehre unter pragmatischer Ausblendung ihres Zusammenhanges, sondern gehen in ihren gleichermaßen kritischen wie textnahen Interpretationen dezidiert vom systematischen Kontext der Rechtslehre aus. Gerade dadurch wird es möglich, abseits von den üblichen Aktualisierungen und Kontextualisierungen die Reichweite, aber auch die Grenzen der theoretischen und politischen Bedeutung des Hegelschen Staatsdenkens herauszuarbeiten.
ISBN 978-3-515-12722-6
www.steiner-verlag.de
9 783515 127226
Franz Steiner Verlag