Hegels "System der Sittlichkeit" 9783050047850, 9783050042961

Das "System der Sittlichkeit" (1802/03) stellt die erste Vorform von Hegels Philosophie des Geistes dar. In se

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German Pages 280 Year 2006

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Hegels "System der Sittlichkeit"
 9783050047850, 9783050042961

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Steffen Schmidt Hegels System der Sittlichkeit

Hegel-Forschungen Herausgegeben von Andreas Arndt Paul Cruysberghs Andrzej Przylebski

Steffen Schmidt

Hegels System der Sittlichkeit

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugleich: Berlin, Humboldt-Universität, Dissertation, 2004

ISBN: 978-3-05-004296-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Konzeption des Manuskripts – Entstehungsbedingungen, Rezeptionsgeschichte, Terminologie und Methodik 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Zur Einordnung des Systems der Sittlichkeit in das Hegelsche Œuvre 1.2. Hegels frühe Arbeitsschwerpunkte und Interessen . . . . . . . 1.3. Hegels erste philosophische Druckschriften zur Kritik der zeitgenössischen Philosophie und Bestimmung ihrer Aufgabe . . 1.4. Vorschlag zu einer Neulektüre des wenig beachteten Manuskripts . 1.5. Gründe für die bisherige Zurücksetzung des Manuskripts in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Der Sittlichkeitsbegriff als Zentrum der Interpretation . . . . . 2. Forschungsbericht und Interpretationsgeschichte . . . . 2.1. Forschungsliteratur bis zur ersten vollständigen Edition des Manuskripts . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Zur weiteren Rezeptionsgeschichte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts . . . . . . . . . 2.3. Jüngere Forschungsliteratur . . . . . . . . . .

. . . 11 . . . 11 . . . 15 . . . 20 . . . 27 . . . 30 . . . 32

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3. Rekonstruktion der Methode und des logisch-terminologischen Gefüges des Manuskripts anhand der Schriften des Kritischen Journals sowie weiterer gedruckter Quellen . . 3.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Terminologische Besonderheiten, resultierend aus dem spekulativen Verfahren der Konstruktion . . . . . . 3.3. Quellen für die Terminologie des Systems der Sittlichkeit

. . . . . . . 84 . . . . . . . 85 . . . . . . . 87 . . . . . . . 89

6

INHALTSVERZEICHNIS 3.4. Zentrale Termini: Identität, Totalität, Indifferenz, das Absolute 3.5. Die „Einleitung“ des Systems der Sittlichkeit . . . . . . . 3.6. Anschauung und Begriff, ihre wechselseitige Subsumtion; Gleichsetzung des Allgemeinen und Besonderen . . . . . . 3.7. Der Naturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8. Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . 99 . . . . 107 . . . . 115

4. „Wahre Sittlichkeit“ – Programmatische Ankündigungen des Systems der Sittlichkeit in Hegels publizierten Schriften . . . . . . 4.1. Glauben und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Notwendige Aufhebung der Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit 4.1.2. „Sittliche Siechheit“ statt „sittlicher Freyheit“: Mangel an Objektivität (Hegels Jacobikritik) . . . . . . . . . 4.1.3. Gegen die Naturverachtung – Für eine wahrhafte Totalität (Hegels Fichtekritik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Naturrechtsaufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Hegels Skizze eines wahrhaften Systems der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Interpretation des Manuskripts – Darstellung, Kommentar, Einzelanalysen Vorbemerkung zum Aufbau des Manuskripts: Das Verhältnis der drei Teile 5. Der erste Teil des Manuskripts: Die natürliche Sittlichkeit („Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ) . . . . . . . . . 5.1. Rekonstruktion des Inhalts und Gedankengangs des ersten Teils . . 5.1.1. Äußere Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Die erste Hauptpotenz (A) . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1. a) Praktische Potenz (Gefühl) . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2. b) Arbeit, Besitz, Werkzeug . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3. c) Die Mitten als Zeugnis der Realität des Vernünftigen . . 5.1.3. Die zweite Hauptpotenz (B) – Hervortreten und Wirksamwerden des Ideellen . . . . . . . 5.1.3.1. Produktionssteigerung durch Arbeitsteilung und Maschinerie, resultierender Überfluß und Entstehung des Eigentums (Unterpotenz a) . . . . . . . . . . . . 5.1.3.2. Anerkannte Idealität: Tausch, Vertrag, Geld; Geist als (objektive) Bindungskraft (Unterpotenz b) . . . .

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151 151 151 152 152 155 156

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INHALTSVERZEICHNIS 5.1.3.3. Geld, Markt, natürliche und ökonomische Ungleichheit, resultierende Machtverhältnisse (Unterpotenz c) . . . . . . 5.1.3.4. Familie als marktfreie, nichtrechtliche (aber nicht „rechtlose“) Sphäre und natürliche Indifferenzstufe . 5.2. Exkurs: Zur Thematik der Liebe, Ehe, Familie und Rolle der Kinder . 5.3. Zusammenfassung zum ersten Teil des Manuskripts: Analyse und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Exkurs: Zum Hegelschen Begriff der Arbeit im System der Sittlichkeit . 5.4.1. Arbeit des bedürftigen Menschen als „gehemmter Genuߓ . . . . 5.4.2. Die spezifische Rolle der „Arbeit“ für die Subjektkonstitution – Wechselwirkung zwischen „arbeitendem“ Subjekt und „bearbeitetem“ Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Ausdifferenzierung spezifischer Arbeitstechniken und -formen . . 5.4.4. Bedeutung und Folgen des Werkzeuggebrauchs: Manifestation der „Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5. Durch „Arbeit“ bedingte Integration in verschiedene Stände: offensichtliche Vermischung antiker und moderner Gesichtspunkte 6. Der zweite Teil des Manuskripts: „Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Rekonstruktion des Inhalts und Argumentationsgangs des zweiten Teils 6.1.1. Hegels „Regieanweisung“ – Bestimmung der verschiedenen Aufhebungen: fixierte und absolute Negation . . . 6.1.2. Inhaltliche und formale Differenz zum ersten Teil; Potential und Folgen der „reinen Freyheit“ . . . . . . . . . 6.1.3. Notwendig resultierende, „vernünftige“ Umkehrungen (Rache und Gewissen) . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4. Natürliche Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5. Die Besen Gottes. Vorform der List der Vernunft? . . . . . . 6.1.6. Zielgerichtete Negation: Raub, Diebstahl (absichtlich verletzte Anerkennung) . . . . . . . . . . . . 6.1.7. Vernunftgemäße, notwendige Umkehr: Bezwingung, Unterjochung 6.1.8. Ehre und (Zwei-)Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.9. Verweigerter Kampf: Unterdrückung und Mord . . . . . . . 6.1.10. Erhebung zu einem Ganzen, Rache als zu erfüllendes Vermächtnis 6.1.11. Offener Kampf als reale Mitte und anerkanntes Entscheidungsritual (Krieg und möglicher Friedensschluß) . . . . . . . . . . . 6.2. Zur Bestimmung des systematischen Orts des zweiten Manuskriptteils . . . . . . . . . . . . . . . .

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INHALTSVERZEICHNIS

7. Der dritte Teil des Manuskripts: Die absolute Sittlichkeit . . . . . . 7.1. Rekonstruktion des Inhalts und Argumentationsgangs des dritten Teils 7.1.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2. Äußere Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3. Der neue Status des dritten Teils; Abgrenzung von den bisherigen Indifferenzstufen . . . . . 7.1.4. Die Geistesgestalt der absoluten Sittlichkeit (der Ort der absoluten Sittlichkeit): Die Göttlichkeit des Volkes 7.1.5. Gestaltete, aber dennoch organische Totalität . . . . . . . 7.1.6. Drei Formen der Sittlichkeit: absolute Sittlichkeit, relative Sittlichkeit, Zutrauen . . . . . . . . . . . . . 7.1.7. Die Stände (Ruhe) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.8. Aufgabe und Organisation der Regierung (Bewegung) . . . . 7.1.9. Aufgaben der absoluten Regierung . . . . . . . . . . . 7.1.10. Allgemeine Regierung, die drei Staatsgewalten . . . . . . 7.1.11. System des Bedürfnisses . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.12. Erforderliche Eingriffe der Regierung, Steuerungsmöglichkeiten 7.1.12.1. Varianten der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . 7.1.13. System der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.14. System der Zucht . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.15. Formen freier Regierung . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Schlußbemerkungen zum dritten Teil . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Vorwort

Mein Interesse an Hegel reicht weit zurück und wurde ausgerechnet in St. Petersburg geweckt, wo man diesem deutschen Philosophen mit großer Bewunderung und Ehrfurcht begegnete – zu jener Zeit hatte ich noch kaum etwas von ihm gelesen. Gerd Irrlitz, Michael Theunissen, Karlfried Gründer, Walter Jaeschke und Rolf-Peter Horstmann trugen mit ihren faszinierenden Hegelinterpretationen dazu bei, daß sich die anfängliche Neugierde während des Studiums in Berlin zunächst in Staunen und später in eigene Forschungsarbeit verwandelte. Den größten Anteil am Zustandekommen des vorliegenden Buches, das quasi an der Rückwand von Hegels heute nicht mehr existierender Berliner Wohnung geschrieben wurde, hat zweifellos Gerd Irrlitz. Er hat mich nicht nur auf die bestehende Forschungslücke aufmerksam gemacht, sondern über viele Jahre hinweg meine philosophischen Gehversuche freundschaftlich begleitet und die Dissertation betreut – ihm gilt mein herzlicher Dank! Oswald Schwemmer und Annemarie Gethmann-Siefert fertigten weitere Gutachten an und gaben wertvolle Hinweise. Danken möchte ich außerdem Reinhard Brandt für seine ausdauernde Diskussionsbereitschaft sowie vielfältige Hilfe. Rolf-Peter Horstmann, John-Michael Krois und Hans-Peter Krüger haben das Manuskript oder einzelne Teile gelesen – für ihre Kommentare, Vorschläge und die inspirierende Atmosphäre in den Kolloquien bin ich ihnen sehr verbunden. Danken möchte ich Terry Pinkard und Robert B. Pippin für zahlreiche Anregungen, außerdem Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg für die Einladung, einen Teil der Forschungsergebnisse an der University of Notre Dame, Indiana, vorzustellen und zu diskutieren. Das Land Berlin unterstützte meine Arbeit durch ein Stipendium. Dank gilt dem Akademie Verlag für die Publikation des Buches in der Reihe der HegelForschungen. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gewährte einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Besonders bedanken möchte ich mich bei Philippe Schlenker, Bertolt Fessen, Ulrich Seeberg, Georg Sans, Béatrice Lenoir, Juliane von Fircks sowie allen Freunden und Kollegen, die mir in verschiedenen Phasen der Entstehung des Textes mit konsequenten Nachfragen, Korrekturlesen, Zuspruch und in vielerlei anderer Weise geholfen haben. Für ununterbrochene Unterstützung, Geduld und Anteilnahme danke ich Almut Siegel – ohne sie wäre das Buch nicht erschienen.

I. Konzeption des Manuskripts – Entstehungsbedingungen, Rezeptionsgeschichte, Terminologie und Methodik

1. Einleitung 1.1. Zur Einordnung des Systems der Sittlichkeit in das Hegelsche Œuvre Hegels Brief an Schelling vom 2. November 1800 enthält eine inzwischen berühmte Äußerung, die bereits seit der ersten Biographie1 als Schlüsselstelle für die Deutung der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens herangezogen wird: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.“2 Diese Briefstelle ist einer mannigfaltigen Auslegung fähig und bedürftig. Es mußte natürlich geklärt werden, was jene untergeordneten Bedürfnisse waren, welches Ideal sich wandeln mußte und warum und worin jene Reflexionsform, das System, nun zu finden sei. Die Interpreten haben diese Fragen höchst unterschiedlich beantwortet, meist abhängig von ihrem jeweiligen Motiv der Rekonstruktion der Jugendgeschichte Hegels. Rosenkranz etwa, der sich im wesentlichen für Hegels Systemgedanken interessierte, sah in allem, teils sogar in den Frankfurter Fragmenten, nur eine Vorform des reiferen und fertigen Systems, erkannte so in den Jenaer Schriften vor allem die Embryonalform3 der späteren Enzyklopädie. Insbesondere Dilthey und Nohl haben auf die stark differierenden Entwicklungsabschnitte Hegels hingewiesen und damit Hegels frühe Positionen von seinem späteren System abgesetzt.4 Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur auf einen oft vernachlässigten Halbsatz aufmerksam machen und ihn hier in den Vordergrund rücken. Nämlich daß Hegel im November des Jahres 1800 nach eigenem Zeugnis den besprochenen Wandel in die Reflexionsform noch gar nicht endgültig 1 2 3 4

Karl Rosenkranz, Hegel’s Leben, Berlin 1844. Briefe von und an Hegel, hg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 1, Berlin 1970, 59f. Vgl. Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, 43. Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, Berlin 1905; Hegels theologische Jugendschriften, hg. v. Herman Nohl, Tübingen 1907.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

vollzogen, demnach auch noch kein abgeschlossenes System entworfen hatte. Seine Aussage, daß er vielmehr „noch damit beschäftigt“ sei, bezieht sich auf den Zeitpunkt, da er nach Jena gehen möchte. Und auch in Jena hält dieses „noch damit beschäftigt“Sein an. Das hier zu behandelnde System der Sittlichkeit, welches 1802/03 entstanden ist, stellt ein authentisches Zeugnis des Hegelschen Systematisierungswillens in der Frühjenaer Zeit dar und ist damit zugleich eine kaum zu überschätzende Quelle für das Verständnis der Genese des Hegelschen Philosophierens. Den Titel „System der Sittlichkeit“ hat das Manuskript erst nachträglich und von anderer Hand erhalten, doch entspricht er ziemlich genau der Intention des Autors. Er wurde von Karl Rosenkranz, der in seiner für die Freundesvereinsausgabe angefertigten Biographie überhaupt zum ersten Mal auf diesen Hegelschen Text verwies (und ihn darin in groben Ausschnitten referierte), geprägt und seitdem beibehalten.5 Obwohl Rosenkranz das Manuskript ungenau datierte und dadurch in der Abfolge der Schriften falsch einordnete, stellt sein Buch weiterhin eine unentbehrliche Quelle dar (zumal viele der Manuskripte, auf die er noch zugreifen konnte, inzwischen verschollen sind). Sein Urteil über den generellen Gang des Hegelschen Denkens und die Phasen seiner Entwicklung hat noch immer Gewicht; im einzelnen wurde Rosenkranz’ Darstellung selbstverständlich durch neue Erkenntnisse ergänzt und korrigiert.6 Sowohl die Absicht, welche Rosenkranz dem Manuskript zugestand, als auch die Einordnung desselben in das entstehende Hegelsche System erhellen aus dem Satz: „Die Philosophie des Geistes arbeitete Hegel damals, bevor er zur Phänomenologie gelangte, […] als System der Sittlichkeit aus.“7 Nach Rosenkranz enthält das Manuskript also die erstmalige Gestalt der Philosophie des Geistes und stellt – nach Logik und Philosophie der Natur – den 5

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7

Erstmals vollständig ediert wurde das „System der Sittlichkeit“ (fortan System der Sittlichkeit) von Georg Lasson im Rahmen seiner Hegelausgabe (Sämtliche Werke, Bd. 7, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, Leipzig 1913, hier zitiert nach der 2. Aufl. 1923). Zuvor hatte Georg Mollat (Osterwieck-Harz 1893) das Manuskript in Auszügen veröffentlicht. In dieser Arbeit wird die neue kritische Edition des Manuskripts im Bd. V der Gesammelten Werke (Hamburg 1998) zitiert. Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich (mit römischen Ziffern für den Band, arabischen Ziffern für die Seite) immer auf die Gesammelten Werke. Sofern Texte in den Gesammelten Werken nicht verfügbar sind, wird auf die Theorie Werkausgabe des Suhrkamp Verlags (Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1970) verwiesen. Diese Werkausgabe wird grundsätzlich mit arabischen Zahlen für Band und Seite, getrennt durch einen Schrägstrich, zitiert. Die Edition von Lasson ist in der Forschungsliteratur aufgrund der erst späten Neuedition am gebräuchlichsten, wurde mehrfach nachgedruckt und diente als Vorlage für verschiedene Übersetzungen. Heute werden unter Zuhilfenahme moderner kriminaltechnischer Mittel immer genauere Entstehungszeiten angegeben. Auch wenn Rosenkranz’ Datierungen zum Teil nicht haltbar sind, gilt m. E.: „ein nie zu entbehrendes, kraftvolles Werk, dessen noch auf persönlicher Anschauung beruhende Gesamtauffassung kein Hegelforscher ungestraft unberücksichtigt lassen kann“. So Hermann Glockner in: Hegel, Bd.1, Schwierigkeiten und Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie, Stuttgart 1954 (3., verbesserte Auflage), XV. Rosenkranz 1844, 124. Den Ausdruck „System der Sittlichkeit“ benutzt Hegel selbst im System der Sittlichkeit und in seinem Journalaufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“ (fortan abgekürzt als Naturrechtsaufsatz).

EINLEITUNG

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dritten, abschließenden Systemteil dar.8 Die tatsächliche Beschaffenheit des Hegelschen Systems der Philosophie zu jener Zeit, ob es etwa drei- oder vierteilig war, wurde umfangreich diskutiert. Von dieser Auseinandersetzung, die zahlreiche Einsichten in die diffizilen Verschiebungen der Hegelschen Konstruktion hervorbrachte, bleibt jedoch der hier relevante Sachverhalt gänzlich unberührt, nämlich daß es sich bei dem in Rede stehenden Manuskript um eine, sogar um die Vorform der Philosophie des Geistes handelt. Diese Zuordnung soll festgehalten werden, um einen ungefähren Gegenstandsbereich des Hegelschen Entwurfs einzugrenzen: Der Text widmet sich einer Problematik, die man in der Kantnachfolge als praktische Philosophie bezeichnen würde.9 Inhaltlich wird eine Fülle von Themen erörtert, die vom elementaren praktischen Gefühl der Bedürftigkeit (zum Beispiel Hunger) über Arbeit, Familie, Eigentum, Tausch und Vertrag schließlich bis zu Fragen der Staatsorganisation und Verfassung reichen. Auffallend dabei ist, daß Hegel sein System derart konzipiert, daß er vom Einfachen zum immer Komplexeren schreitet. Das System der Sittlichkeit stellt – nach allen uns bekannten Quellen – in der komplizierten Genese des Hegelschen Denkens die erste (erhaltene) Ausarbeitung eines Systems der Philosophie des Geistes dar, die zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht so heißt. Fragt man nach dem Verhältnis des Manuskripts zu Hegels eigenen Arbeiten, läßt sich in einem kurzen Vorblick Folgendes festhalten. Die engste Verbindung – sowohl zeitlich als auch konzeptionell – besteht zum Naturrechtsaufsatz. Vieles spricht dafür, im System der Sittlichkeit den ausgeführten Entwurf der Skizze aus dem dritten Teil des Naturrechtsaufsatzes zu erkennen. Das wäre auch dann nicht problematisch, sollte die Skizze in Wirklichkeit nach der Niederschrift des Reinschriftmanuskripts angefertigt worden sein (über die genaue zeitliche Abfolge der verschiedenen Stadien der Niederschrift der Texte konnte bisher keine zuverlässige Aussage getroffen werden).10 Wäre dies der Fall, könnte man die in der Forschungsliteratur mehrfach vermerkte Irritation auflösen, daß einige Motive des Naturrechtsaufsatzes deutlich „moderner“ wirken als ihre Verwendung im System der Sittlichkeit. Zweifellos, 8

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Vgl. Wolfgang Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels (HegelStudien Beiheft 16), Bonn 1977, 105: Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit würden „zeigen, wie Naturrechtsthematik und Geistesphilosophie miteinander verschmelzen“. In dieser Weise deutete unlängst Schnädelbach das Manuskript, nämlich als einen frühen Hegelschen Entwurf zur praktischen Philosophie. Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt/M. 2000. Die Interpreten waren über die Datierung lange unterschiedlicher Auffassung. Rosenkranz ordnete das System der Sittlichkeit sehr früh ein. Kuno Fischer hielt es für nicht vorstellbar, daß Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit etwa gleichzeitig entstanden sein könnten, wohingegen Haering keinerlei sachliche Differenzen erkennen konnte und die Unterschiede in der je verschiedenen Aufgabe der Schriften begründet sah. Bonsiepen ist sich sicher: Das System der Sittlichkeit „entfaltet die Idee des Absoluten innerhalb von Verhältnisbeziehungen und folgt darin der Konzeption der Systemskizze des Naturrechtsaufsatzes“ (Bonsiepen 1977, 106). Vgl. auch Heinz Kimmerle, der das System der Sittlichkeit als eine Reinschriftfassung zu den „Vorlesungsmanuskripten über Naturrecht“ betrachtet und überzeugt ist, daß es nach dem Naturrechtsaufsatz niedergeschrieben wurde. In: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (2., verbesserte Auflage) (Hegel-Studien Beiheft 8), Bonn 1982. Hier: 210f. Vgl. außerdem den editorischen Bericht der Herausgeber (insbesondere V 663ff.).

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

und das ist entscheidend, stehen beide Texte in einem unmittelbaren Bezug: Die systematische Konzeption stimmt überein.11 Während sich aber der Naturrechtsaufsatz in kritischer Absicht den verschiedenen vorliegenden Theorien zuwendet, deren Mängel aufdeckt und sich mit der Skizzierung eines wahrhaften Systems der Sittlichkeit begnügt, hat das Manuskript des Systems der Sittlichkeit eine ganz andere Ausrichtung: Es verzichtet völlig auf Kritik oder wissenschaftliche, historische Bezugnahmen und widmet sich statt dessen ohne Umschweife ausschließlich dem zu behandelnden Gegenstand selbst. Die inhaltlichen Parallelen zu den unter dem Namen Jenaer Realphilosophie I und II bekannt gewordenen und also etwas später entstandenen Texten sind offensichtlich.12 Oftmals werden die entsprechenden Manuskripte daher auch gemeinsam genannt. Besonders auffällig ist schon äußerlich die übereinstimmende Integration von Aspekten der englischen Nationalökonomie. Eine innere Verbindung besteht, weil die Absicht jener Texte weitgehend übereinstimmt, nämlich eine Philosophie des Geistes zu entwerfen. Die tatsächliche Argumentation unterscheidet sich bereits erheblich: In der Hegelforschung hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, daß man von verschiedenen „Jenaer Systementwürfen“ ausgehen muß.13 Von den publizierten Schriften Hegels ist – neben dem Naturrechtsaufsatz sowie Teilen der Differenzschrift14 bzw. der Abhandlung Glauben und Wissen – selbstverständlich die Phänomenologie des Geistes zu nennen. Obwohl Hegel in ihr einen modifizierten Weg verfolgt, gibt es wichtige Parallelen; einzelne Passagen sind im System der Sittlichkeit deutlich vorgebildet. Das betrifft z. B. das Kapitel zum Geist, ebenso die berühmte Problematik von Herr und Knecht. Es kehren jedoch nicht nur viele Themen wieder; entscheidend für den inneren Zusammenhang der beiden Texte ist, daß die Phänomenologie des Geistes einen Gedanken aufnimmt, der bereits im System der Sittlichkeit über die Einbeziehung ganz neuer Inhalte eine Verschiebung der generellen Methode der Philosophie ausgelöst hatte: die kategoriale Struktur der Philosophie zugleich als Resultat und wirkendes Element der Gattungsgeschichte aufzufassen und darzustellen. Diese Verbindung von System und Geschichte des Denkens ist im System der Sittlichkeit angelegt; die Phänomenologie des Geistes führt diesen Gesichtspunkt dann allerdings viel detaillierter als Zentralgedanken aus. Umfangreiches Material des Manuskripts geht gleichfalls in die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ein. Es erfährt dort allerdings eine abweichende Verarbeitung, da sich die Systematik inzwischen verändert hat. Die engste inhaltliche 11

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Diese Feststellung hat Gewicht, weil Hegel – trotz seines insgesamt klaren Ziels – in den verschiedenen Texten mitunter voneinander abweichende Konzeptionen vertritt. So unterscheiden sich die Differenzschrift und der Naturrechtsaufsatz erheblich, obwohl sie zeitlich recht nah beieinander liegen. Hier zitiert nach Jenaer Systementwürfe aus den Gesammelten Werken (abgekürzt JSE). Vgl. die unter diesem Titel vereinigten Manuskripte in den Bänden V–VII der Gesammelten Werke. Vgl. Rolf-Peter Horstmann, „Jenaer Systemkonzeptionen“, in: Otto Pöggeler (Hg.), Hegel, Freiburg und München 1977, 43–58. Vgl. auch Heinz Kimmerle (Hg.), Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen, Berlin 2004. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, hier zitiert nach den Gesammelten Werken, Bd. IV.

EINLEITUNG

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Berührung findet sich in den Abteilungen zum subjektiven und objektiven Geist des dritten Teils der Enzyklopädie, welcher insgesamt die Philosophie des Geistes enthält. In der Rechtsphilosophie (1820)15 sind ebenfalls entscheidende Motive des Systems der Sittlichkeit auszumachen. Gerade am sogenannten System der Bedürfnisse kann man viele, vor allem inhaltliche Übereinstimmungen verorten; die systematische Zuordnung der einzelnen Sphären hat sich insgesamt aber verschoben, die Komposition ist ohne Zweifel eleganter; doch es werden im späteren Werk auch einige ungelöste Fragen unterschlagen. Übrigens galt das System der Sittlichkeit schon zu Beginn seiner Rezeption vorrangig als eine frühe Gestalt der Hegelschen Rechtsphilosophie, als Beweis der Kontinuität seines Denkens. Zweifellos ist die Rechtsphilosophie auch dasjenige unter Hegels späteren Werken, das von seiner gesamten Anlage her die größte Nähe zum Jenaer Manuskript aufweist, umfangreiche Teile der frühen Thematik aufnimmt und die reife Form seiner Theorie des Rechts, der Sittlichkeit und des Staates darstellt. Die Fülle der inhaltlichen Übereinstimmungen und thematischen Überschneidungen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen – das bleibt hier vorerst nur als Behauptung festzuhalten –, daß Hegel den spezifischen Ansatz des Systems der Sittlichkeit später nicht wiederaufgenommen hat.

1.2. Hegels frühe Arbeitsschwerpunkte und Interessen Halten wir kurz inne und erinnern uns an den eingangs zitierten Brief Hegels: „[I]ch frage mich jetzt, […] welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.“ Hegel hatte zuvor geschildert, er habe in seiner eigenen Bildung verschiedene Stufen durchlaufen müssen und nun erkannt, daß er eines wissenschaftlichen Systems bedürfe, um die angesammelten Stoffmassen zu strukturieren und auf dem Gebiet der Philosophie selbst angemessen mithalten zu können. Das zu entwerfende System stellt jedoch – das ist der Äußerung zu entnehmen – keinen Selbstzweck dar. Hegel benennt klar sein damit unmittelbar verbundenes Ziel: einen Weg zu finden, um in das Leben der Menschen einzugreifen. Damit schließt sich der Kreis, denn auch Hegels Ausgangspunkt lag auf praktisch-politischem Gebiet. Im Brief nennt er seine früheren Interessen Schelling gegenüber etwas devot die „untergeordneten Bedürfnisse der Menschen“. Diese Zuordnung ergibt freilich Sinn, insofern die Wissenschaft (zu der sich Hegel getrieben fühlte) natürlich ein höheres Bedürfnis der Menschen ist. Worauf diese Formulierung aber vermutlich eher zielt, ist der Sachverhalt, daß Hegel inzwischen begriffen hatte, daß seine frühen politischen Überzeugungen nicht wissenschaftlich abgesichert waren und ihnen folglich eine solide philosophische Basis gefehlt hatte. Wenn er rückblickend vom „Ideal des Jünglingsalters“ spricht, klingt eine eingetretene Distanz diesem gegenüber mit. Diese aber, und das ist entscheidend, bezieht sich nicht generell auf den enthusiastischen Aktivismus und das politische Handeln, sondern lediglich auf die bis dahin gewählte Form: Denn obwohl Hegel nun ein „System“ an15

G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

strebt, will er ja weiterhin ins „Leben der Menschen“ eingreifen.16 Der Systembegriff ist hier wohl wie bei Kant zu verstehen und also einem bloßen Aggregat von Kenntnissen entgegengestellt. Im Grunde ist dieser Brief, der zugleich um Schellings Gunst wirbt – Hegel hatte zuvor über einen längeren Zeitraum keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt – und daher geschickt an vergangene gemeinsame Zeiten erinnert, ein Zeugnis von Hegels inzwischen eingetretener Reife. Aber es bedarf gar nicht dieses Briefes und seines möglicherweise inszenierten Tonfalls, um Hegels politisches Interesse zu belegen. Dafür findet sich eine Fülle weiteren Materials, und man kann vor allem in seinen Manuskripten selbst dieses permanente Interesse aufzeigen. Besonders deutlich wird dies in der in Frankfurt als Nachklang seiner Schweizer Hauslehrerjahre angefertigten sogenannten Cartschrift von 1798,17 Hegels überhaupt erster und noch anonymer Publikation, und in den Entwürfen zur Verfassungsschrift, die Hegel in Jena – sogar zeitnah zur Niederschrift des Systems der Sittlichkeit – erneut vornahm und überarbeitete. Der Fassung von 1798 hatte er einen klaren Titel gegeben und den Adressaten benannt: „Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen. An das Wirtembergische Volk.“18 Schon in Tübingen hatte Hegel sich an den revolutionären Ereignissen in Frankreich interessiert gezeigt, Rousseau verehrt und begonnen, sich der praktischen Philosophie Kants zuzuwenden. Seine frühen religionsgeschichtlichen Studien sind Ausdruck eines stark aufklärerischen, insbesondere religionspädagogischen Interesses (etwa wenn Jesus in seinen Manuskripten als Volkslehrer auftritt, das Ideal der Volksbildung usw.).19 16

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Vgl. Hegels Ausführungen in einer frühen Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie: „Was das allgemeine des Bedürfnisses der Philosophie betrifft, so wollen wir es in der Form einer Antwort auf die Frage, welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben? klar zu machen suchen, eine Frage, die eins ist mit der: inwiefern ist die Philosophie praktisch? Denn das wahre Bedürfniß der Philosophie geht doch wohl auf nichts anders als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen.“ (V 261) Siehe auch Manfred Baum und Kurt Rainer Meist, „Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten“, in: HegelStudien 12 (1977), 43–81. Der vollständige Titel lautet: „Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern“. Der Titel wurde – von anderer Hand – im handschriftlichen Manuskript verändert („Über die neueste innere Verhältnisse Wirtembergs, besonders über die Gebrechen der MagistratsVerfassung. An Wirtembergs Patrioten“); vermutlich kommunizierte Hegel mit Zeitgenossen über diese politische Streitschrift. Fulda hat das durchgehende kritische Interesse Hegels am Zusammenhang von Religion und Politik sowie die Veränderungen der Fragestellung in den verschiedenen Jahren dokumentiert. Vgl. Hans Friedrich Fulda, G. W. F. Hegel, München 2003, 41ff.: Hatte Hegel zunächst (1793) gefragt, wie Religion beschaffen sein müsse, um „subjektiv“ sein zu können, wendet er sich dann historischen Vergleichen zu und kontrastiert das Gegenwärtige mit dem Vergangenen. Ab 1795 fragt er, woraus der positive Glaube und seine Verquickung mit der Despotie hervorgegangen seien. Hegels Publikationsvorhaben zielen weiterhin auf religionskritische Wirksamkeit, wobei die aktuellen Fragestellungen neben den historischen an Gewicht gewinnen: 1798 fragt er nach den Lehren, die aus dem überraschend durch Frankreich herbeigeführten Ende der Unterdrückung der Waadtländer durch die Stadt Bern zu ziehen seien; außerdem untersucht er, welche Veränderungen das württembergische Volk an seiner Magistratsverfassung vornehmen sollte; 1798–1799 fragt Hegel nach dem Schicksal der Religion Jesu in der Ausbildung der christlichen Gemeinde, und ab 1799 arbeitet er an der Verfas-

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Seine publizistischen Absichten (sofern man die begonnenen Manuskripte als Publikationspläne betrachtet) beziehen sich vor allem auf diesen Bereich der Volkserziehung sowie das weite Feld religionshistorischer Vergleiche; die akademische Metaphysik liegt ihm vorerst fern. Überhaupt war Hegel einige Jahre lang dem Geist der Aufklärung eng verbunden,20 ehe er vor allem über Hölderlin, Schiller und Schelling auf genuine Defizite bzw. Schwächen dieser Position aufmerksam wurde und – ohne damit das generelle Projekt der Aufklärung aufzugeben – zu der Einsicht gelangte, daß es noch anderer Methoden bedürfe.21 Zunächst – also in Tübingen und Bern – war er aber davon überzeugt, daß die Kantische Philosophie nur noch ihrer richtigen und ausgedehnten Anwendung harre. Während also Schelling sich ganz auf die Philosophie konzentrierte, um – unter Einbeziehung von Fichtes Einsichten – den Kantischen Ansatz zu seiner vorerst noch ausstehenden Vollendung zu führen, drängte Hegel zu dieser Zeit vorrangig auf die Anwendung der Philosophie, und zwar vor allem in den Bereichen von Religion und Politik. So schreibt Hegel in einem Brief (16.04.1795) an Schelling, daß er vom „Kantischen System und dessen höchster Vollendung“ eine „Revolution in Deutschland“ erwarte, daß die bereits vorhandenen Prinzipien es dabei „nur nötig [… hätten], allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden“. Die Philosophen haben hierbei eine wichtige Funktion, und der Fortgang des Briefes zeigt erneut, worauf Hegel zielt, wie er die politischen und gesellschaftlichen Tendenzen beurteilt: „Ich glaube es ist kein besseres Zeichen als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet. Die Philosophen beweisen diese Würde, die Völker werden sie fühlen lernen, und ihre in den Staub erniedrigten Rechte nicht fordern, sondern selbst wieder annehmen.“ Vielleicht im kritischen Rückblick auf die beengte Atmosphäre seiner Studienjahre im Tübinger Stift – neben der Karlsschule eine der beiden staatlichen Hochschulen Württembergs – formuliert Hegel sehr scharf: „Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein.“ Diese Kritik gilt es

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sungsschrift, in der er zu klären sucht, warum Deutschland ungeachtet des völkerrechtlich noch bestehenden Deutschen Reichs kein Staat mehr ist und wie man sich dazu zu verhalten habe. Eine genauere Darstellung bei José María Ripalda, „Aufklärung beim frühen Hegel“, in: Christoph Jamme und Helmut Schneider, Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel, Frankfurt/M. 1990, 112–129. Vgl. zur Genese des frühen Hegelschen Philosophieverständnisses auch den Beitrag von Otto Pöggeler: „Hegels philosophische Anfänge“, in: Jamme/Schneider 1990, 68–111. Vgl. hierzu Dieter Henrich, „Hegel und Hölderlin“, in: Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971. Durch Hölderlin wurde Hegel mit der Vereinigungsphilosophie bekannt: „Thema der Vereinigungsphilosophie ist des Menschen höchstes Verlangen, das seine Befriedigung weder im Verbrauch von Gütern noch im Genuß von Macht und Anerkennung anderer findet.“ (13); „Hegel erschien in Frankfurt als dezidierter Kantianer. Schon in Tübingen hatte er dazu beitragen wollen, Kantischen Freiheitsgeist durch theologische Aufklärung zu verbreiten. […] Hölderlin rückte ihm vor Augen, daß seine Kantische Begriffswelt ungeeignet war, gemeinsame Erfahrungen und Überzeugungen früherer Jahre festzuhalten, – daß die griechische Politie Vereinigung, nicht nur Verbindung der Freien gewesen sei, daß Freiheit nicht nur als Selbstheit, daß sie ebenso als Hingabe müsse gedacht werden, daß in der Erfahrung des Schönen mehr aufgehe als die Achtung fürs Vernunftgesetz.“ (22–24)

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unbedingt zu berücksichtigen, will man Hegels später entwickeltes Sittlichkeitskonzept richtig verstehen. Hegel ist hier aber vorerst noch ganz von der „belebende[n] Kraft der [bereits vorhandenen] Ideen“ überzeugt – sie müssen lediglich ins Volk getragen werden: „Mit Verbreitung der Ideen, wie etwas sein soll, wird die Indolenz der gesetzten Leute, ewig alles zu nehmen, wie es ist, verschwinden.“ All diese Zitate zeigen Hegel noch als ungebrochenen Anhänger der Aufklärung und „Vertrauten Lessings“. Von der zentralen Rolle der Philosophie hat Hegel sich nie distanziert (hingegen wird er zunehmend skeptisch, ob es Aufgabe der Philosophie sei zu zeigen, wie etwas sein soll);22 in Hegels Wastebook findet sich die unmißverständliche Passage: „Die Philosophie regiert die Vorstellungen und diese regieren die Welt. Durch das Bewußtsein greift der Geist in die Herrschaft der Welt ein.“ (V 503)23 Und in einem späteren Brief, in der Ausrichtung ähnlich: „Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.“24 Wie aber ist die Wirklichkeit beschaffen bzw. wie stellt sie sich für Hegel dar? Hegel diagnostiziert die moderne Welt als eine „zerrissene Harmonie“, gekennzeichnet durch besondere, neue Formen der „Entzweiung“, die aufzuheben das „Bedürfnis der Philosophie“ sei.25 Doch auf welche Weise kann dies geschehen? Hegel ist sich darüber im klaren, daß die antiken Konzepte – obwohl sie ihm vielfach zur Korrektur gegenwärtiger Depravationen dienen – nicht wiederzubeleben sind. Sie sind die Gestalt eines vergangenen Lebens, und zwar eines notwendig vergangenen. Hegels Realitätssinn und gänzliche Unanfälligkeit für romantisierende Bestrebungen wird in dieser Einschätzung offenbar. Hegel stellt sich den modernen Prozessen und versucht, sie mit Hilfe der Wissenschaften aufzuklären. So verfolgt er z. B. die wirtschaftliche Entwicklung und deren Theorie, insbesondere die englische, nicht nur genau, sondern er akzeptiert auch, daß die eingetretene Entwicklung unumkehrbar ist und – das macht die Einsicht noch wichtiger – sogar Freiheitspotentiale in sich birgt: Der Mensch könne sein Schicksal 22

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S. auch Verfassungsschrift, V 163: „Denn nicht das was ist macht uns ungestümm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es seyn soll; erkennen wir aber daß es ist wie es seyn muß, das heißt nicht nach Willkühr und Zufall, so erkennen wir auch daß es so seyn soll“. Vgl. dazu Avineris Interpretation: Es handle sich nicht um eine „Ergebung in das, was ist, sondern das kritische Begreifen im Hinblick auf seine Transformation. Wer die Ursachen der Dinge kennt, verfügt über ein System kausaler Relationen, das die Vorraussetzung für zweckmäßiges Handeln und eventuelle Veränderungen ist. Der Status quo, der stets rational begriffen werden kann, ist in Hegels Augen niemals eine moralische Norm.“ (Shlomo Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt/M. 1976, 55) Die Fortsetzung lautet: „Dies ist sein unendliches Werkzeug, weiter hinaus Bajonette, Kanonen, Leiber. Aber ihr Panier und die Seele ihres Feldherrn ist der Geist. Nicht Bajonette, nicht das Geld, nicht einzelne Kniffe und Pfiffe sind das Herrschende. Dies muß auch sein, wie die Uhr Räder hat, aber ihre Seele ist die Zeit und der die Materie ihrem Gesetz unterwerfende Geist. Eine Iliade wird nicht zusammengewürfelt, so auch nicht ein großes Werk aus Bajonetten und Kanonen, sondern der Compositeur ist der Geist.“ (V 503) Brief an Niethammer (Oktober 1808). Vgl. Differenzschrift, IV 12. Entzweiung ist allerdings nach Hegel zu allen Zeiten „Quell des Bedürfnisses der Philosophie“ und als solche kein spezifisch modernes Phänomen.

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nun selbst in die Hand nehmen. Die Aufbruchsstimmung, der Wunsch nach Emanzipation aus den beengten Verhältnissen sind trotz der mitlaufenden Aufmerksamkeit für negative Begleiterscheinungen der eingetretenen Entwicklung (etwa die Atomisierung der Individuen) unverkennbar. Hegel begreift, wie umwälzend die modernen Vorgänge für das gesamte Leben sind, wie und daß sie alle Bereiche menschlichen Verkehrs umgreifen und mitbestimmen. Hegel hat diesen Veränderungen ein starkes Interesse entgegengebracht: So hat er sich unter anderem mit den sozialen und ökonomischen Problemen Englands, mit seinem Parlament, mit der Geschichte der amerikanischen Revolution, mit der Reform des preußischen Landrechts, mit Fragen des Strafvollzugs und benachbarten Problemen beschäftigt. Es ist außerdem überliefert, daß Hegel schon in Bern mit der Gesellschaftstheorie der englischen Politischen Ökonomie bekannt wurde und in Frankfurt Steuarts Inquiry into the Principles of Political Economy (London 1767) nicht nur gelesen, sondern mit einem fortlaufenden, ausführlichen (inzwischen leider verschollenen) Kommentar versehen hatte. „In diesen Studien ist ihm das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft klar geworden; er lernte begreifen, was Bedürfnis und Arbeit, die Arbeitsteilung, das Vermögen der Stände, Armenwesen, Verwaltung, Steuern bedeuten; es geht ihm auf, daß das Geschichtliche der Revolution und des ganzen Zeitalters und aller ihrer Probleme das Aufkommen der modernen industriellen bürgerlichen Arbeitsgesellschaft ist.“26 Hegel ist sich spätestens in Jena darüber im klaren, daß die Probleme der Revolution, die Entzweiung des Daseins und die in ihr begründete Diskontinuität der Geschichte für die Bildung der Zeit nicht in der spekulativen Deduktion einer neuen, seinsollenden Welt überwunden werden können. Diese Einsicht begründet die Schärfe seiner Kritik an der Transzendentalphilosophie. Indem Philosophie nach Hegels Auffassung immer zugleich Ausdruck ihrer Zeit ist, nimmt er jene in der Philosophie zuvor weitgehend unberücksichtigt gebliebenen Themen auf,27 bezieht sie fruchtbar in den Systemaufbau ein und unterscheidet sich damit wesentlich von allen anderen Philosophen seiner Zeit: „Hegels Rezeption der Nationalökonomie in ihrer fortgeschrittensten Gestalt der englischen Klassiker von James Steuart bis Adam Smith und (in der Rechtsphilosophie von 1821) David Ricardo hat in der zeitgenössischen Philosophie des deutschen Idealismus keine Parallele.“28 26

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Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, wiederabgedruckt in: Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1977, 183–255. Hier: 218f. Vgl. Rosenkranz 1844, 86; vgl. für den Gesamtzusammenhang Georg Lukács, Der junge Hegel, Zürich 1948. Dort z. B. 489: Hegel „erblickt in den ökonomischen und gesellschaftlichen Tatsachen immer die Macht des Lebens selbst und denkt nicht daran, diese durch irgendeinen Begriff zu vergewaltigen. Denn nach seiner Auffassung kommt die Macht und die Würde des Begriffs gerade in diesen Tatsachen des Lebens, so wie sie das Leben selbst produziert hat, am deutlichsten zum Ausdruck.“ Vgl. außerdem Rolf-Peter Horstmann, „Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie“, in: Hegel-Studien 9 (1974), 209–240. Bei John Locke finden sich stellenweise ähnliche Interessen, freilich zu einer noch anderen Zeit: Er hat die zwischen den Individuen spontan angeknüpften Beziehungen in der „vorpolitischen“ (nichtstaatlichen) Gesellschaft untersucht und Studien zur Rolle u. a. der Arbeit, des Eigentums, des Zinses usw. angefertigt. Manfred Riedel, „Die Rezeption der Nationalökonomie“, wiederabgedruckt in: Riedel, Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, 116–139, hier:

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1.3. Hegels erste philosophische Druckschriften zur Kritik der zeitgenössischen Philosophie und Bestimmung ihrer Aufgabe Wie aber steht Hegel zu den Theorien seiner unmittelbaren philosophischen Vorgänger? Um über diese Frage Aufschluß zu gewinnen, orientiert man sich am besten an Hegels frühen Jenaer Druckschriften. Vorweg kann aber Hegels grundsätzliche Auseinandersetzung mit Kant und Fichte auf zwei Punkte zugespitzt werden: Hegel rühmt erstens an beiden, daß sie das wahre Prinzip der Philosophie besessen hätten, er tadelt zweitens beide dafür, daß sie dieses echte Prinzip in ihren Systemen nicht konsequent zur Geltung gebracht hätten. Noch auf der ersten Seite seiner Differenzschrift hält er fest: „Die Kantische Philosophie hatte es bedurft, daß ihr Geist vom Buchstaben geschieden, und das rein spekulative Princip aus dem übrigen herausgehoben wurde, was der raisonirenden Reflexion angehörte, oder für sie benutzt werden konnte. In dem Princip der Deduktion der Kategorieen ist diese Philosophie ächter Idealismus, und dieß Princip ist es, was Fichte in reiner und strenger Form heraus gehoben und den Geist der Kantischen Philosophie genannt hat.“ (IV 5)29 Die große Idee der Vernunft erscheint in Kants System jedoch nur

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118. „Kant schließt die ökonomische Theorie (als Haus-, Land- und Staatswirtschaft) überhaupt aus der praktischen Philosophie aus, weil sie insgesamt nur technisch-praktische Regeln enthalte, um Wirkungen hervorzubringen, die nach dem Naturbegriff der Kausalität möglich, als solche aber für den Begriff der Gesellschaft irrelevant sind. […] Ähnlich verhält es sich mit Fichte, der als Anhänger der Physiokraten noch hinter Kant zurückbleibt, während Schelling diesen Themen nie ein ernsthafteres Interesse entgegenbringt. Aber Hegels Rezeption der Nationalökonomie ist nicht […] ein isolierter Vorgang. Sie steht historisch im Zusammenhang mit dem breiten Rezeptionsstrom der progressiven westeuropäischen Gesellschaftstheorie durch die Philosophie der deutschen Aufklärung, die man etwas geringschätzig ‚Popularphilosophie‘ genannt hat. […] Freilich: die Idee der Aufklärung des Publikums über seine privaten Zwecke wird von dem aktuell-politischen Interesse überholt, das Hegel an der Französischen Revolution und ihrer Ausstrahlung auf Deutschland nimmt.“ (118f.) Andreas Arndts Aufsatz „Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie“ macht auf weitere Quellen des Hegelschen Arbeitsbegriffs aufmerksam und wendet sich ausdrücklich gegen die lange Zeit dominierende Auffassung, Hegels Arbeitsbegriff verdanke sich „dem Studium namentlich der schottischen Ökonomen (Steuart, Smith), wodurch der spekulative Begriff der Arbeit des Geistes als Ergebnis einer metaphorischen Verwendung und spekulativen Aufladung des ökonomischen Arbeitsbegriffs erscheint“. (99) Statt dessen schlägt Arndt vor, „den spekulativen Gebrauch des Arbeitsbegriffs nicht als Ergebnis der Übertragung und Erweiterung eines ökonomischen aufzufassen, sondern umgekehrt: den ökonomischen Arbeitsbegriff als Ergebnis der Integration einer Einzelwissenschaft in ein philosophisches Arbeitskonzept zu begreifen“. (101) Arndts These ist, „daß Hegel seit der Übersiedlung nach Frankfurt Anfang 1797 mit dem Hölderlinschen Konzept der ‚Vereinigungsphilosophie‘ ein Konzept übernimmt, das eine Theorie der Arbeit als Poiesis enthält, wobei der Begriff der Arbeit von vornherein mit dem der Reflexion verbunden ist“. (102) In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. XXIX (1985), 99–115. Vgl. Differenzschrift, IV 9. Vgl. kurz darauf: Nur die „Form der Kantischen Deduktion der Kategorieen“ wird kritisiert, nicht ihr „Princip, oder Geist“. (IV 5) „[I]n jener Deduktion der VerstandesFormen ist das Princip der Spekulation, die Identität des Subjekts und Objekts aufs bestimmteste ausgesprochen; diese Theorie des Verstands ist von der Vernunft über die Tauffe gehalten worden.“

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„wie eine ehrwürdige Ruine, in der sich der Verstand angesidelt hat“. (IV 235)30 Doch auch Fichte behandelt die Vernunft lediglich mit Verstand und verletzt damit das Prinzip der Spekulation: „Das Princip selbst, die transscendentale Anschauung erhält hierdurch die schiefe Stellung eines Entgegengesetzten gegen die aus ihm deducirte Mannigfaltigkeit“. (IV 6) Es kommt daher ebenso nicht zu einer wirklichen Vermittlung. Dem Aufsatz Glauben und Wissen ist detailliert zu entnehmen, wie Hegel die Philosophie seiner Zeit beurteilt. Der ungekürzte Titel zeigt, daß Hegel einen prominenten Teil der zu seiner Zeit herrschenden Philosophie, nämlich Kant, Fichte und Jacobi unter den einen gemeinsamen Punkt „Reflexionsphilosophie der Subjectivität“ einordnet und auch kritisiert.31 Hegel ist der Auffassung, daß jene Philosophien der Aufgabe der Philosophie – nämlich die herrschenden Gegensätze zu vereinen, Mensch und Welt zu versöhnen – nicht gerecht werden. Nach Hegel betrachten sie den Menschen auf falsche Weise: Entweder als verstandesmäßige Subjektivität (Kant und Fichte) oder aber als gefühlsmäßige Subjektivität (Jacobi). Beide Betrachtungsweisen verfehlen jedoch das richtige Verhältnis von Geist und Natur. Der Mensch wird statt dessen zerrissen (seiner sinnlichen Natur steht ein moralisches Sollen gegenüber); Mensch und Wirklichkeit werden entzweit (seinem beschränkten, endlichen Verstand steht sowohl die unendliche Empirie als auch die transzendente göttliche Substanz gegenüber). Es kann hier nicht separat untersucht werden, ob diese Hegelsche Kritik angemessen ist und den einzelnen Autoren gerecht wird, sondern nur rekonstruiert werden, in welcher Weise sich für Hegel das Problem stellt.32 An der Transzendentalphilosophie kritisiert Hegel vor allem

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(IV 6) Zwar sei der Verstand bei Kant „mit Vernunft“, die Vernunft hingegen nur „mit Verstand behandelt“ worden. Diese Metapher findet sich in dem Journalaufsatz „Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie, Darstellung seiner verschiedenen Modificationen, und Vergleichung des neuesten mit dem alten“. Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie. Eine gedrängte Zusammenfassung findet sich schon in der Einleitung: „Innerhalb dieses gemeinschaftlichen Grundprincips, der Absolutheit der Endlichkeit und des daraus sich ergebenden absoluten Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit, Realität und Idealität, Sinnlichem und Uebersinnlichem, und des Jenseitsseyns des wahrhaft Reellen und Absoluten bilden diese Philosophieen wieder Gegensätze unter sich, und zwar die Totalität der für das Princip möglichen Formen. Die Kantische Philosophie stellt die objective Seite dieser ganzen Sphäre auf; der absolute Begriff, schlechthin für sich seyend als praktische Vernunft, ist die höchste Objectivität im Endlichen, absolut als die Idealität an und für sich postulirt. Die Jacobische Philosophie ist die subjective Seite, sie verlegt den Gegensatz und das absolut postulirte Identischseyn in die Subjectivität des Gefühls, als einer unendlichen Sehnsucht und eines unheilbaren Schmerzens. Die Fichtesche Philosophie ist die Synthese beyder; sie fordert die Form der Objectivität und der Grundsätze wie Kant; aber setzt den Widerstreit dieser reinen Objectivität gegen die Subjectivität zugleich als ein Sehnen und eine subjective Identität. Bey Kant ist der unendliche Begriff an und für sich gesetzt, und das allein von der Philosophie anerkannte, bey Jacobi erscheint das Unendliche von Subjectivität afficirt, als Instinct, Trieb, Individualität; bey Fichte ist das von Subjectivität afficirte Unendliche selbst wieder als Sollen und Streben objectiv gemacht.“ (IV 321) Hegel benennt seine philosophische Haltung zu Kant unzweideutig nach der Erläuterung von dessen transzendentaler Einbildungskraft sowie der Idee eines nichtdiskursiven, eines anschauenden, intuitiven Verstandes: „So wie die wahrhaft speculative Seite der Philosophie Kants allein darin bestehen kann, daß die Idee so bestimmt gedacht und ausgesprochen worden ist, und wie es al-

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den Subjektbegriff. Die Konstruktion eines abstrakten transzendentalen Subjekts ist für Hegel nicht nur fehlerhaft, sondern sie bewirkt zugleich ganz neue und gefährliche Verwerfungen: Zum einen wird der Mensch auf seine private empirische Glückseligkeit zurückverwiesen bzw. gar zurückgedrängt (daher stammt der Vorwurf des Eudämonismus, den jene Theorien begünstigen würden), zum anderen bleibt es bei einem unbefriedigten Sehnen und Streben nach einem eben nur jenseitigen Absoluten (z. B. Gott), so daß es weder zu einer wirklich bewußten noch zu einer angeschauten Vereinigung kommt.33 Hegel kritisiert diese Philosophien für die von ihnen bewirkten Entzweiungen, prangert sie als „Idealismus des Endlichen“ oder „Cultur des gemeinen Menschenverstandes“ (IV 322), als höchste Form des „Dogmatismus der Aufklärerey und des Eudämonismus“ (IV 318) an.34 Reiner Verstand bzw. reine Vernunft werden mit der äußeren Mannigfaltigkeit auf nur äußerlich reflektierende Weise (deshalb der Vorwurf einer „Reflexionsphi-

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lein interessant ist, dieser Seite seiner Philosophie nachzugehen, so viel härter ist es, das Vernünftige nicht etwa nur wieder verwirrt, sondern mit vollem Bewußtseyn die höchste Idee verderbt und die Reflexion und endliches Erkennen über sie erhoben werden zu sehen.“ (IV 343) Hegel betont mehrfach, daß Kant unter den ihm zu Gebote stehenden Denkmöglichkeiten sich nur falsch entschieden, das wahrhafte Prinzip aber eigentlich schon entdeckt hätte. Vgl. auch: „Hätte Kant bey der spinozischen Einheit nicht seine Verstandeseinheit, die ihm theoretische und praktische Vernunft heißt, sondern seine Idee der Einheit eines intuitiven Verstands, als in welchem Begriff und Anschauung, Möglichkeit und Wirklichkeit Eins ist, gegenwärtig gehabt, so hätte er die spinozische Einheit nicht für eine abstracte, welche der Zweckmäßigkeit, d. h. einer absoluten Verknüpfung der Dinge entbehrte, sondern für die absolut intelligible und an sich organische Einheit nehmen müssen; und würde diese organische Einheit, den Naturzweck, den er als ein Bestimmtseyn der Theile durch das Ganze, als Identität der Ursache und Wirkung auffaßt, unmittelbar auf diese Weise vernünftig erkannt haben. Aber eine solche wahrhafte Einheit, eine organische Einheit eines intuitiven Verstandes soll ein für allemal nicht gedacht werden; nicht die Vernunft soll hier erkennen, sondern es soll durch Urtheilskraft reflectirt und das Princip derselben werden, zu denken, als ob ein Bewußtseyn habender Verstand die Natur bestimmte“. (IV 342) Vgl. Glauben und Wissen, IV 319: „[S]o ist diese Sphäre das Nichtzuberechnende, Unbegreiffliche, Leere; ein unerkennbarer Gott, der jenseits der Gräntzpfähle der Vernunft liegt; eine Sphäre, welche nichts ist für die Anschauung, denn die Anschauung ist hier nur eine sinnliche und beschränkte; eben so nichts für den Genuß, denn es gibt nur empirische Glückseligkeit; nichts für das Erkennen, denn, was Vernunft heißt, ist nichts als Berechnen alles und eines jeden für die Einzelheit, und das Setzen aller Idee unter die Endlichkeit.“ Glauben und Wissen, IV 322 und IV 318; Hegel kritisiert bezeichnenderweise auch und schon hier eine fehlende bzw. falsche Vereinigung von Anschauung und Begriff: „Es ist also in diesen Philosophieen nichts zu sehen, als die Erhebung der Reflexions-Cultur zu einem System; eine Cultur des gemeinen Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken nimmt, und sein sonstiges Anschauen des Ewigen und den unendlichen Begriff schlechthin auseinander läßt, es sey entweder, daß er auf jenes Anschauen überhaupt Verzicht thut, und sich im Begriff und der Empirie hält, oder daß er beyde hat, aber es nicht vereinigen, sein Anschauen nicht in den Begriff aufnehmen, noch Begriff und Empirie gleicherweise vernichten kann.“ (IV 322f.) Hegel weiß, daß der Vorwurf des Eudämonismus dem Selbstverständnis der kritisierten Theorien widerspricht und bemerkt trocken: „So diametral also diese Philosophieen sich dem Eudämonismus selbst entgegen setzen, so wenig sind sie aus ihm herausgetreten.“ (IV 321)

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losophie“)35 und also unvollständig vermittelt. Zusammengefaßt kritisiert Hegel somit folgende unaufgehobene Dualismen: den Dualismus zwischen isoliertem Individuum und Gesellschaft, den Dualismus (innerhalb des Individuums) zwischen Geist und Körper sowie den Dualismus zwischen sittlichem Sollen und der faktischen Realität. Die Konsequenzen einer solchen Theorie der Entgegensetzung von Natur und Vernunft exemplifiziert Hegel besonders scharf in der Fichte-Darstellung seiner Differenzschrift: „Sein eigner Herr und Knecht zu seyn scheint zwar einen Vorzug vor dem Zustande zu haben, worin der Mensch der Knecht eines fremden ist. Allein das Verhältniß der Freyheit und der Natur, wenn es in der Sittlichkeit eine subjektive Herrschaft und Knechtschaft, eine eigne Unterdrükkung der Natur werden soll, wird viel unnatürlicher, als das Verhältniß im Naturrecht, in welchem das Gebietende, und Machthabende, als ein Anderes, ausser dem lebendigen Individuum befindliches erscheint. Das Lebendige hat in diesem Verhältnisse immer noch eine in sich selbst geschlossene Selbständigkeit […]. Wenn aber in der Sittenlehre das Gebietende in den Mensch selbst verlegt, und in ihm ein Gebietendes und ein Bottmässiges absolut entgegengesetzt ist, so ist die innre Harmonie zerstört, Uneinigkeit und absolute Entzweyung machen das Wesen des Menschen aus.“ (IV 59) In den programmatischen Sätzen der Einleitung der 1801 erschienenen Differenzschrift hatte Hegel unmißverständlich deutlich gemacht, diesen Entzweiungen entgegentreten zu wollen. Das sei geradezu Antrieb und die Aufgabe der Philosophie: „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie“. (IV 12) Hegel diagnostiziert, daß sich in der „Bildung […] das, was Erscheinung des Absoluten ist, vom Absoluten isolirt, und sich als ein Selbstständiges fixirt“ habe. (IV 12) Diese Entgegensetzungen und Fixierungen gilt es aufzulösen. Hegel bemerkt, daß dies ein zeitinvariantes Bedürfnis ist, eine natürliche Tendenz, die immer vorhanden ist und je nach Grad der Verfestigungen zum Ausdruck kommt: „[…] je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen“. (IV 13) Hier haben wir wieder den enthusiastischen Ton, das Freiheitsstreben, die natürliche Kraft des Lebens! In Glauben und 35

Hegel ‚definiert‘ Reflexionsphilosophie wie folgt: „Dieser Charakter der Kantischen Philosophie, daß das Wissen ein formales ist, und die Vernunft als eine reine Negativität ein absolutes Jenseits, das als Jenseits und Negativität bedingt ist, durch ein Dießeits und Positivität, Unendlichkeit und Endlichkeit, beyde mit ihrer Entgegensetzung gleich absolut sind, ist der allgemeine Charakter der Reflexions-Philosophieen, von denen wir sprechen“. (IV 346; Hervorhebungen von mir) Vgl. zum Vorwurf einer falschen Reflexionsphilosophie die für unser Thema wichtige Hegelsche Bemerkung zu Fichtes „Sittenlehre“ und „Naturrecht“ in der Differenzschrift: Derartige Philosophie (welche zuvor vor allem aus der Grundlage zur gesamten Wissenschaftslehre dargestellt wurde) habe zum Resultat ein „Verhältniß der Abhängigkeit der Natur vom Begriff, die Entgegensetzung der Vernunft […]; das ganze Gebäude der Gemeinschaft lebendiger Wesen ist von der Reflexion erbaut“. (IV 54; Hervorhebung von mir) Vgl. außerdem gleich zu Beginn (IV 6f.) die Fichtekritik: „[D]as Absolute des Systems zeigt sich nur in der Form seiner Erscheinung von der philosophischen Reflexion aufgefaßt, und diese Bestimmtheit, die durch Reflexion ihm gegeben ist, also die Endlichkeit und Entgegensetzung wird nicht abgezogen; das Princip, das Subjekt-Objekt erweißt sich als ein subjektives Subjektobjekt […] Die in die absolute Entgegensetzung gesetzte, also zum Verstand herabpotenzirte Vernunft wird somit Princip der Gestalten, die das Absolute sich geben muß, und ihrer Wissenschaften.“

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Wissen spricht Hegel analog von der „Qual der bessern Natur“ (IV 323) unter der Beschränktheit und absoluten Entgegensetzung, die ihren Ausdruck in einem „Sehnen und Streben“ finde; und in der Differenzschrift wird dieser Aspekt explizit auf die unmittelbare Gegenwart, nämlich die Wirkung einer Publikation Schleiermachers, bezogen: „[S]o sehr ist zugleich, je mehr der Verstand und die Nützlichkeit sich Gewicht zu verschaffen, und beschränkte Zwekke sich geltend zu machen wissen, in Anschlag zu bringen, daß um so kräftiger das Drängen des bessern Geistes besonders in der unbefangenern noch jugendlichen Welt ist. Wenn Erscheinungen, wie die Reden über die Religion, – das spekulative Bedürfniß nicht unmittelbar angehen, so deuten sie und ihre Aufnahme, noch mehr aber die Würde, welche mit dunklerem oder bewußterem Gefühl, Pöesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren Umfange, zu erhalten anfängt, auf das Bedürfniß nach einer Philosophie hin, von welcher die Natur für die Mishandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichte’schen Systeme leidet, versöhnt, und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird, nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht thut oder eine schaale Nachahmerin derselben werden müßte, sondern eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst zur Natur aus innerer Kraft gestaltet.“ (IV 8) Gegen diese Philosophien einer durch die vielen Entzweiungen gleichsam zerrissenen Sittlichkeit setzt Hegel seine organische sittliche Totalität. Er spricht – wohl durchaus im Kontrast – von der „Wiederherstellung der Totalität“ (IV 15) als Aufgabe der Philosophie.36 Jedenfalls ist deutlich, daß Hegel auf die durch die neuere Philosophie eingetretene Problemlage und deren Begrifflichkeit reagiert: „Die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freyheit und Nothwendigkeit u.s.w. und in eingeschränktern Sphären noch in mancherlei Arten bedeutend waren, und alle Gewichte menschlicher Interessen an sich anhenkten, sind im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur [und], für den allgemeinen Begriff, von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität übergegangen. Solche festgewordene Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft“. (IV 13) Man geht ganz sicher nicht zu weit, wenn man die von Hegel entwickelte „Philosophie der Sittlichkeit“ (IV 484), welche er in Abgrenzung von vorangegangenen theoretischen Modellen in seinem Naturrechtsaufsatz skizziert, und natürlich das Hegelsche System der Sittlichkeit selbst als Ausdruck dieses Interesses interpretiert. War oben Schleiermachers Wirkung aus einem echten Zeitbedürfnis erklärt worden, so hatte Hegel doch sogleich betont, daß dieses Bedürfnis sich in der Kunst sogar in noch größerer Würde ausdrücke. Hegel war generell der Auffassung, daß die Kunst zu allen Zeiten die Totalität auf ihre spezifische Weise reproduziere. Was der Dichtung in ihren Glanzwerken gelang, wurde von Hegel aber zugleich auch als Aufgabe der Philosophie – allerdings mit anderen Mitteln – begriffen: Auch die Philosophie hat die Totalität zu erfassen, freilich mittels der Begriffe. Es sei an dieser Stelle wenigstens kurz angemerkt, daß Hegel wesentliche Impulse aus der Dichtung erfuhr. Daß er mit der antiken Literatur vertraut war, sie zu seinen „Neigungen“ gehörte, wissen wir aus verschiedenen Quellen. Der deutsche Hellenismus hatte Hegels Vorliebe sicher noch befördert, in jedem Falle ein günstiges Klima hierfür geschaffen. Von den lebenden Zeitgenossen waren für Hegel 36

Der Totalitätsbegriff ist ein Gegenmodell zur „Reflexionsphilosophie“.

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insbesondere sein Freund Hölderlin und Schiller richtungsweisend. Beiden galt das erfüllte Polisleben der Antike als Vorbild; beide versuchten auf verschiedenen Wegen, dieses dem modernen, kalten „Maschinenstaat“ entgegenzustellen.37 Hegel ist also nicht nur überzeugt, sich auf die antiken Autoren selbst stützen zu dürfen, sondern er weiß sich in seinem theoretischen Bemühen um die Überwindung der dualistischen Konzeptionen auch im Einklang mit maßgeblichen Tendenzen seiner Zeit. Hegel kann für sein Projekt also durchaus auf Vorarbeiten zurückgreifen. Eine der wesentlichen Quellen in diesem Zusammenhang bildet Schillers große Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.38 Die Briefe erörtern unter anderem die Frage nach der gegenseitigen Durchdringung von Fortschritt und Verlust in der geschichtlichen Entwicklung und behandeln die verschiedenen Epochen des Geistes. Schiller rechtfertigt und begründet die Aufgabe, den „Naturstaat“ (auch „Nothstaat“) in einen „sittlichen Staat“ (auch „Staat der Freyheit“) umzuformen:39 Hatte die Natur für den Menschen wohltätig gehandelt, solange er noch nicht als freie Intelligenz selbst handeln konnte, so habe der mündige Mensch „das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen“.40 Notwendig sei es, den physischen mit dem sittlichen Menschen zu vermitteln, keinesfalls also dürfe „die Leiter der Natur“ unter den Füßen der Menschen weggerissen werden. Schiller reagiert mit seinem Projekt der ästhetischen Erziehung insgesamt auf die Zerstückelung des Menschen in der modernen Welt, in welcher dieser nur als ein mechanisches Rad im Getriebe erscheint; überall fänden sich nur Fächer und Fachmenschen, Bruchstücke ohne das Gepräge des Ganzen: Es gelte daher, den Charakter des Menschen durch Kunst zu veredeln und zu festigen, die Menschheit im Individuum wiederherzustellen, dafür zu sorgen, daß das Individuum Staat wird (der Mensch in der Zeit sich zum Menschen in der Idee veredelt).41 Der Einfluß dieser Schrift auf Hegel kann m. E. – gerade weil die ihn bewegende Problematik hier schon vorgebildet ist, und obwohl er freilich Schillers Lösungsversuchen nicht folgt – kaum überschätzt werden. Für Hegels Problematik der Sittlichkeit finden sich zahlreiche 37

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Zur Ambivalenz und den historischen Wandlungen der Metapher des Maschinenstaats vgl. die Studie von Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, Berlin 1986. Die letzten Kapitel thematisieren schließlich auch die Kritik an Theorie und Praxis des Maschinenstaats und die Entstehung des Organismus/Mechanismus-Gegensatzes. „Die Logik des Bildes ‚Maschine‘ engt offensichtlich die Erfassung historischen Wandels ein. Hat das planmäßige Herstellen selbst den Charakter eines zielgerichteten Prozesses, so ist die Prozeßhaftigkeit dem Lauf des fertigen Produkts vollkommen abzusprechen: Die Bewegung der Maschine (jedenfalls der Maschine des 18. Jahrhunderts) zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie stets die gleiche bleibt; daß die unablässige kausale Abfolge von Bewegungen in sich geschlossen ist und gerade nicht zu einer qualitativen Veränderung der Maschine selbst führt. Abweichungen vom gleichmäßig-veränderungsfreien Verlauf sind allein als äußere und innere Störungen, Mängel oder Abnutzungserscheinungen denkbar, die im Extremfall zur Zerstörung der Maschine führen.“ (188) Hegel hat sie nachweislich hochgeschätzt: „Schillers Horen, zwei erste Stücke, haben mir großen Genuß gewährt; der Aufsatz über die aesthetische Erziehung des Menschengeschlechts ist ein Meisterstück.“ (Brief an Schelling, 16. April 1795, in: Briefe I, 25) Friedrich Schiller, Nationalausgabe, Bd. XX 313f. und 318. Schiller, NA, Bd. XX 313f. Vgl. hierzu insbesondere den dritten Brief. Schiller, NA, Bd. XX 316. Vgl. den gesamten vierten Brief.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

Anregungen auch in Schillers Ueber Anmuth und Würde.42 Schillers Versuch, die Kantische Ethik zunächst mit ihren eigenen Mitteln zu verbessern, muß als Vorarbeit betrachtet werden, denn es stellte sich heraus, daß die von Kants Ethik unbeantwortet gebliebenen Fragen gerade nicht solche der inneren Konsequenz des Systems waren, sondern vielmehr über es selbst notwendig hinausdrängten. Schiller ist diesen Weg vorgegangen und hat gezeigt, daß den offenen Fragen eigentlich stets das gleiche Problem zugrunde liegt, nämlich daß die sittlichen Phänomene und die Grundbegriffe der Kantischen Theorie der Sittlichkeit eine Einheit von Akten bzw. Momenten implizieren, die Kant selbst nicht mehr erklären kann.43 Schiller hat dagegen den Weg gewiesen, die Vernunft mit der Sinnlichkeit zu verschränken. Insbesondere hat er zu zeigen gesucht, daß die konkrete Subjektivität mit dem Vernunftgesetz auch durch Neigung verbunden ist und also nicht prinzipiell als Einschränkung der Sinnlichkeit verstanden werden muß. Hegel hat sich diesbezüglich deutlich an Schiller angeschlossen.44

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Gerd Irrlitz verweist in seiner Einleitung zu den Jenaer Schriften Hegels auf den überragenden Einfluß Schillers, welcher durch seine Schriften in der Thalia und in den Horen für das Hegelsche Denken in Jena insgesamt „sicher mehr als Schellings Naturphilosophie“ bewirkte. „Das Grundthema des Jenaer Hegel, die Versöhnung des Entzweiten, des Widerspruchs von menschlichem Bedürfnis und fremder gegenständlicher Wirklichkeit, von Endlichem und Unendlichem, die Subjektivität des Absoluten, wie Hegel es wechselnd formuliert, findet sich bei Schiller in der Auffassung der ‚schönen Sittlichkeit‘ als der ‚Menschwerdung des Heiligen‘ ausgesprochen.“ Ebenso leben die „Errungenschaften des Geschichtsdenkers und großen dialektischen Geschichtsdramatikers Schiller […] bei Hegel fort. Diese Linie von Schiller zu Hegel ist direkter und bestimmender als die der Naturdenker Goethe und Schelling zu ihm“. Vgl. Gerd Irrlitz, „Einleitung des Herausgebers“, in: G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften, Berlin 1972, XXXVIIff. und XLVI. Vgl. auch die Studie von Laurence Dickey: Hegel. Religion, Economics, and the Politics of Spirit, Cambridge 1987, 265ff. Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß Hegel einen kurzen Text zu Schillers Geschichtsdrama Wallenstein verfaßte. Vgl. Dieter Henrich, Selbstverhältnisse, Stuttgart 1993, 44: „So sind Liebespflichten Einheit der Intention auf den Anderen und der Intention auf die Pflicht; Achtung ist Einheit von Distanz und Wesensgleichheit; das Sittengesetz ist Einheit von Faktizität und Rationalität.“ Hegels Verehrung für Schiller ist überliefert; noch in Berlin würdigt er ihn ausführlich und stellt ihn in eine große Entwicklungslinie, damit auch in eine auffällige Nähe zu seinem eigenen Philosophieren: „Da ist denn einzugestehen, daß der Kunstsinn eines tiefen, zugleich philosophischen Geistes zuerst gegen jene abstrakte Unendlichkeit des Gedankens, jene Pflicht um der Pflicht willen, jenen gestaltlosen Verstand – welcher die Natur und Wirklichkeit, Sinn und Empfindung nur als eine Schranke, ein schlechthin Feindliches faßt und sich zuwider findet – früher schon die Totalität und Versöhnung gefordert und ausgesprochen hat, als sie von der Philosophie als solcher aus erkannt worden ist. Es muß Schillern das große Verdienst zugestanden werden, die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen. […] Diese Einheit nun des Allgemeinen und Besonderen, der Freiheit und Notwendigkeit, der Geistigkeit und des Natürlichen, welche Schiller als Prinzip und Wesen der Kunst wissenschaftlich erfaßte und durch Kunst und ästhetische Bildung ins wirkliche Leben zu rufen unablässig bemüht war, ist sodann als Idee selbst zum Prinzip der Erkenntnis und des Daseins gemacht und die Idee als das allein Wahrhafte und Wirkliche erkannt worden.“ (Vorlesungen über die Ästhetik, 13/89ff.)

EINLEITUNG

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Die Frage nach dem „ganzen Menschen“ war in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts überhaupt zu einem wichtigen, umfangreich diskutierten Thema geworden.45 Und auch das Thema der Bestimmung des Menschen hatte schon zuvor einen breiten Raum in der literarischen Öffentlichkeit eingenommen.46

1.4. Vorschlag zu einer Neulektüre des wenig beachteten Manuskripts Ehe im Forschungsbericht explizit auf die bisherige Rezeption und damit auf die bislang zur Kenntnis genommenen Aspekte des Manuskripts eingegangen wird, soll hier im Vorgriff versucht werden zu verdeutlichen, was überhaupt den Gegenstand des Manuskripts ausmacht und welcher Gewinn von einer Neulektüre des Hegelschen Systems der Sittlichkeit zu erwarten ist. Eine der zentralen Fragen Hegels lautet: Wie ist das moderne, empirische Individuum mit seinen anerkannten Ansprüchen auf Autonomie und Unverletzbarkeit in einer systematischen philosophischen Theorie zu verifizieren und zu rechtfertigen? Wie kann die innerweltliche Unendlichkeit mit den empirischen Verhaltensweisen der Individuen in Einklang gebracht werden? Das entscheidende Problem ist, ob und wie es gelingen kann, das freie, autonome, in der Philosophie absolut gesetzte Individuum zugleich als Teil der Sittlichkeit zu begreifen und eine derartige Vermittlung auch zu gewähren. Es gilt dabei, das mit der Kantischen Philosophie gestiegene Anspruchsniveau des transzendentalen Subjekts zu bewahren: Autoritäre Strukturen oder Institutionen scheiden daher aus. Wenn diese Vermittlung nicht gelingt, so Hegels Befürchtung und zugleich Stimulanz für das eigene Forschen, droht ein Auseinanderfallen der Gesellschaft; purer Naturalismus und Egoismus würden an die Stelle des Spielraums vernünftiger und selbstbewußter Gestaltung menschlichen Zusammenlebens treten.47 Hegel unterstreicht, daß wir die Bedingungen unseres Lebens nicht wählen und auch nicht beliebig verändern können; wir finden sie vor und müssen uns zu ihnen verhalten.48 Wie ernst es Hegel damit ist und daß er sich hier völlig unempfindlich gegen akademische Beschränkung zeigt, dokumentiert auf ungewöhnliche Weise der Beginn des Systemaufbaus im Manuskript: Hegel nimmt einen in seinen Trieben befangenen Menschen zum Ausgangspunkt, konkret den hungernden, und verfolgt im Detail, wie sich dieses bedürftige Wesen in der natürlichen Umwelt verhält, wodurch es sich entwickelt, durch welche Handlungen es sich nach und nach über diese erhebt, und vor allem, wie es in seiner Sozialisierung zu ganz neuen und anders gearteten Bedürfnissen gelangt. Hegel untersucht, auf welche Weise diesen entsprochen wird, welche Bindun45

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Vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Vgl. Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen (Manuskript, Marburg 2002). Hier wird nur Hegels Auffassung skizziert und nicht die theoretische Effektivität dieser These beurteilt. Hegel betont vielfach die individuelle Gestalt der Sittlichkeit. Hierfür beruft er sich unter anderem auf Montesquieu, insbesondere dessen Buch Vom Geist der Gesetze.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

gen in diesem Prozeß entstehen und wie sie gestaltet werden. In gewisser Hinsicht könnte man also von einer quasimaterialistischen Position sprechen.49 In den mannigfaltigen Tätigkeiten und Interaktionen erwachsen nicht nur verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern die für jedes Selbstverständnis ebenso grundlegenden sozialen Beziehungen. Der Mensch versteht sich nach Hegel also – man erinnere sich an die Debatte zwischen Habermas und Henrich50 – weder nur aus der nackten Selbstbehauptung gegenüber den Kontingenzen, noch ist seine Subjektivität als weltbildende der maßgebliche Horizont. Beides greift vielmehr ineinander, die theoretischen Operationen und eine entscheidende Differenz zu Kant. Dieser hatte Selbstbezüge bilden sich schrittweise in praktischen Situationen aus, wozu konstitutiv bereits soziale Kontakte gehören, z. B. auch die Zuwendung der Mutter. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um eine unreflektierte Vermischung von Empirie und philosophischer Konstruktion.51 Vielmehr demonstriert Hegel, was er schon in der Differenzschrift begründet hatte: Es ist nicht möglich, theoretische und praktische Philosophie zu trennen. Beide bilden eine Einheit und sind ohne einander nicht explizierbar.52 Man sieht hier sogleich ja nicht nur theoretische und praktische Vernunft getrennt, sondern noch seine praktische Philosophie in eine vorhergehende, grundlegende „Kritik“ als Prinzipienschrift und eine danach ausgeführte Anwendungsschrift als „Metaphysik der Sitten“ unterteilt.

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Diesen Ausdruck verwendet (in einem anderen Zusammenhang) Thomas Kesselring. Vgl. „Ist Bewußtwerdung ein Akt des Geistes oder ein Prozeß der Natur? – Hegel und Piaget über Reflexion und Bewußtwerdung“, in: Rolf-Peter Horstmann und John Michael Petry (Hg.), Hegels Philosophie der Natur. Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis, Stuttgart 1986, 363–388. Hier: 363. Jürgen Habermas, „Rückkehr zur Metaphysik – Eine Tendenz in der deutschen Philosophie?“, in: Merkur, H. 439/440, Oktober 1985; Dieter Henrich: „Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas“, in: Henrich, Fluchtlinien, Frankfurt/M. 1987, 11–43; vgl. auch Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1997. Eine derartige Vermischung kritisiert Hegel vielfach, z. B. IV 470. Vgl. hierzu (mit anderer Ausrichtung und anderem Ziel) auch Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Berlin 1900ff., Bd. III, 411f.: Kant wendet sich gegen eine „vermischte Sittenlehre“ aus Gefühlen, Neigungen und Vernunftbegriffen. Er ist der Auffassung, „daß die sittlichen Prinzipien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur gegründet, sondern für sich a priori bestehend sein müssen“, aus denen sodann praktische Regeln erst abzuleiten sind (410), daß also „alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben“ (411). Die moralischen Gesinnungen seien dann den Gemütern „einzupropfen“ (412). Vgl. aber auch Kants späte Pädagogik. Vgl. Hegels grundsätzliche Ablehnung der Trennung in theoretische und praktische Philosophie, z. B. in der Differenzschrift, IV 73: „Wenn daher die Wissenschaft der Natur, überhaupt der theoretische Theil, die Wissenschaft der Intelligenz der praktische Theil der Philosophie ist, so hat zugleich jede wieder für sich einen eigenen theoretischen und praktischen Theil.“ Vgl. die späte Anerkennung dieser „gewöhnlichen Einteilung“ für den Unterricht an der Universität: Stefanie Grüne (Hg.), „‚Ich werde erscheinen. Hegel‘. Dokumente zu Hegels akademischer Wirksamkeit aus dem Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin“, in: Hegel-Studien 38 (2005), 11–59, dort 17: Akte 112, „Die Vollständigkeit des Lehr-Kursus“, 5. Mai 1820); vgl. IV 75 den Hinweis, die Trennung sei „nur als ein wissenschaftliches“ und Gesetztes anerkannt.

EINLEITUNG

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Besondere philosophische Relevanz hat die im Manuskript geschilderte und analysierte Subjektwerdung und -erhaltung, ihre allmähliche Herausbildung aus diversen Subjekt-Objekt- sowie Subjekt-Subjekt-Beziehungen. Einmalig für Hegel ist, daß das Denken aus der Natur zu erwachsen scheint. Dieser Sachverhalt ändert sich auch dann nicht, wenn man erkennt, daß mit der Natur nicht immer die natürliche Natur gemeint ist.53 Hegel benötigt keinerlei außerweltliches Prinzip, um das Entstehen menschlicher Gemeinschaften und Verkehrsformen zu begründen und deren Selbsterhaltung zu sichern. Er kann im Gegenteil sogar zeigen, wie sich Geist bildet, d. h. erzeugt wird und nicht nur aus einer wie auch immer gearteten vorgängigen Form transformiert wird. Zwar verwendet Hegel diesen Terminus hier noch selten, sondern meist den der „Mitte“. Der Sache nach aber gehört dies zusammen, was sofort einleuchtet, wenn man die von Hegel hergeleiteten Mitten, z. B. Werkzeug und Sprache, betrachtet. Es ist der Nachweis, wie Überindividuelles (Transsubjektives) entsteht, das zwar – wie übrigens alles – als Objekt angesehen werden kann, das aber wesentlich ein Medium ist, in und mit dem wir umgehen, uns bewegen, das auch selbst Subjektcharakter haben kann. Die Stufung ist unverkennbar. Hegel zeigt, wie Allgemeinheitsgrade entstehen, wie sich Allgemeines und Besonderes durchdringen und daß das Allgemeine für uns reale Bedeutung hat (später am Recht, am Geld usw.), daß dessen Geltung erwächst, also nichts Postuliertes oder willkürlich Ausgedachtes oder nur Gefordertes ist.54 Daß diese entstandenen ideellen Gegebenheiten eine Macht entfalten und auch dann behalten, wenn man sie mißachtet oder negiert, wird vor allem im zweiten Teil des Manuskripts ausführlich dargestellt: Daß also etwas Nichtmaterielles Gewalt gewinnen kann. Ungewöhnlich ist, daß diese Teile des Manuskripts keinen explizit metaphysischen Charakter haben; vielleicht können sie für das sogenannte nachmetaphysische Zeitalter doch noch Impulse geben? Fragt man nach den Verdiensten und der Besonderheit jenes Entwurfs, die eine erneute Beschäftigung mit dem Text rechtfertigen könnten, so läßt sich in einem vorläufigen Resümee feststellen: Hegels System der Sittlichkeit ist der erste Versuch inmitten jener idealistischen, hochspekulativen Entwicklungsphase der Philosophie, welcher den neuen Entwicklungsgedanken nicht nur postuliert, sondern die Entstehung des Denkens aus ursprünglichen, noch ganz elementaren Verhaltensakten deduziert. Hegel bemüht sich, jene einst von Schelling geforderten Prämissen des transzendentalen Subjekts aufzufinden.55 Zugleich fragt er, wie sich das empirische Subjekt der modernen Welt real in die verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens integriert. Er sucht nach den tatsächlichen Bindungskräften, die das in seiner Persönlichkeit und Eigenver53 54

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Zu Hegels Naturbegriff vgl. die Ausführungen im Kapitel zur Terminologie. Deshalb mutet der dritte Teil dann auch wie ein merkwürdiger Bruch an: Dort wird – auf den ersten Blick – apriorisch, aus reiner Vernunft heraus ein Staat konstruiert. Eine genauere Interpretation kann aber nachweisen, daß auch hier auf konkrete Sachprobleme reagiert wird. Vgl. vor allem Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, 2 Bde., München und Berlin 1920. Vgl. zur vormaligen Aufbruchstimmung und den Erwartungen an das eigene Tun Schellings Brief an Hegel aus dem Jahr 1795: „Die Zeiten der philosophischen Trübsal sind vorüber […]. Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben; die Prämissen fehlen noch. […] Wir müssen noch weiter mit der Philosophie!“, in: Hoffmeister 1970 , Bd. 1, 14.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

antwortlichkeit dem Anspruch nach unverletzliche (aber real verletzbare) Individuum vor Isolierung und Entfremdung bewahren und ein erfülltes Zusammenleben sichern sollen. Man ist überrascht, wie viele der materialen Einsichten, die im System der Sittlichkeit erstmals ausgesprochen wurden, heute zum anerkannten Wissensstand gehören. Eigentlich könnte man sogar sagen, daß diese frühe Gestalt der Hegelschen Philosophie nachhegelsches Philosophieren vorwegnimmt. Im ganzen handelt es sich um ein Denken, in dem sich Philosophie mit Gesellschafts- und Sozialtheorie verbindet.56

1.5. Gründe für die bisherige Zurücksetzung des Manuskripts in der Forschung Natürlich muß man sich fragen, warum Hegels Manuskript – trotz der inhaltlichen Fülle und seines Reichtums an Vorschlägen – bisher so wenig Beachtung gefunden hat. Man kann m. E. mindestens zwei Arten von Gründen unterscheiden: die eine bezieht sich vornehmlich auf die Gestalt des Manuskripts selbst, die zweite resultiert aus dem Vorgehen der Hegelrezeption.57 Ohne Frage bedeutet dieser von Hegel zur Selbstverständigung verfaßte Text, gerade weil er keine Rücksicht auf einen potentiellen Leser nimmt, für einen solchen eine erhebliche Anstrengung. Als der Suhrkamp Verlag die Werkausgabe herausbrachte, betrachtete man das Manuskript gar als für den Leser unzumutbar; die zugleich angekündigte Neuedition erschien jedoch nicht.58 So war der Text bis zu seiner 1998 erfolgten Aufnahme in den Bd. V der Gesammelten Werke der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften nur in der frühen, überhaupt erstmals vollständigen Edition von Georg Lasson für den Meiner Verlag (mehrfach nachgedruckt) sowie in einem Sammelband des Ullstein Verlags, herausgegeben von Gerhard Göhler, zugäng56

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Andererseits muß man sich fragen, ob Hegel seinen eigenen Anspruch durchhält und das wirkliche politische Leben angemessen herleiten kann. Hier ist gewiß Kritik möglich und nötig. Es soll also nicht ein 200 Jahre alter Text einfach ausgegraben, ein wenig abgestaubt und sodann als Heilsbringer verkauft werden. Hier wird lediglich behauptet, daß in ihm Einsichten eines der intelligentesten Denker enthalten sind, die erstens nicht komplett in seine späteren Werke eingingen und zweitens sich auf einer argumentativen Ebene bewegen, deren Niveau später nicht oft erreicht wird. Der Text und Gedankengang des Manuskripts mit seiner gesellschaftstheoretischen Ausrichtung und Tendenz zur Auflösung „reiner Theorie“ als „causa sui“ paßten nur schwer in das von der dominierenden Rezeption aufgebaute Hegelbild. Vgl. dort das editorische Nachwort der Redaktion zu Band 2, 584f.: „Auch das 1893 von Georg Mollat erstmals edierte System der Sittlichkeit (später, vollständiger, von Lasson in den Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie herausgegeben, Phil. Bibl. Bd. 144, Leipzig 1913) ist, obwohl ihm ein in sich geschlossenes (sei’s auch fragmentarisches) Manuskript zugrunde liegt, in der derzeit angebotenen Textgestalt so fragwürdig, stellenweise sogar chaotisch, daß vor einer Neuausgabe neue editorische Anstrengungen geleistet werden müssen. Aus diesen Gründen blieb der Redaktion nichts anderes übrig, als auf die Aufnahme der genannten Entwürfe und Niederschriften zu verzichten – jedenfalls vorläufig. Es ist geplant, diese Lücke so bald wie möglich durch einen oder zwei Supplementbände zur vorliegenden Ausgabe zu füllen.“

EINLEITUNG

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lich.59 Betrachtet man die neue kritische Ausgabe, wird man sehr schnell gewahr, daß die Schwierigkeiten keinesfalls geringer geworden sind.60 Nicht etwa ungenügende Arbeit Lassons war an der bisherigen Textfassung schuld, vielmehr trägt Hegel selbst die Verantwortung dafür. Diesen Fakt sollte man schlicht anerkennen. Dennoch bleibt zu fragen, weshalb Hegel zu einer Zeit, da er den Naturrechtsaufsatz, also einen gedanklich stringenten und stilistisch ansprechenden Text, verfaßte, zugleich einen derartig spröden, komplizierten und kaum lesbaren Entwurf zu einer ähnlichen Thematik produzierte. Der Grund liegt m. E. einerseits in Hegels Neugierde und experimenteller Offenheit, andererseits in seiner verantwortungsvollen Strenge gegenüber den eigenen Gedanken; das System der Sittlichkeit ist ein Versuch Hegels, seine gedanklichen Grundlagen abermals auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Daß er den Text nicht veröffentlichte, obwohl er ihn in Reinschrift übertragen hatte und gewiß die Gelegenheit dazu gehabt hätte, spricht für sich. Tatsächlich gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß Hegel diese Textfassung jemals der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Lange Zeit ging man wie selbstverständlich davon aus, daß es sich bei den einzelnen Entwicklungsetappen des Hegelschen Denkens, welche man durchaus verschieden gewichtete, nur um Vorstufen des späteren reifen Werks handelt. Diese Perspektive ist verständlich und zum Teil berechtigt, doch bei einer Sichtung der Manuskripte muß man feststellen, daß nicht annähernd alles, vielleicht nicht einmal das Wichtigste und Eigenständigste, in Hegels spätere Werke einging. Blickt man z. B. auf die Jenaer Zeit, die schon immer starkes Interesse in der Hegelforschung hervorgerufen hat, da man gleichsam in die Werkstatt des Denkers schauen kann, so wird deutlich, daß Hegel trotz der insgesamt gleichbleibenden Aufgabe erstaunlich verschiedenartige Techniken entwickelte. In so einer Werkstatt, um im Bilde zu bleiben, sieht es nicht sonderlich ordentlich aus. Hegel kam es nicht auf Brillanz an, vielmehr wurde die Solidität verschiedenster Vorgehensweisen, hier also der Argumentationen, überprüft und ein Zusammenziehen vorher nie verbundener Themenkomplexe erprobt. Daß dabei manches nicht zu Ende bearbeitet wurde oder auch einfach liegenblieb, versteht sich von selbst. Eine Zeitlang experimentierte Hegel wirklich leidenschaftlich; anders, ohne diese Kraft und Unvoreingenommenheit, hätte er wohl die vielleicht gerade deshalb stellenweise so gequält wirkenden, aber inhaltlich Neuland erschließenden Texte gar nicht verfassen können. Wie man aus dem Briefwechsel und anderen Dokumenten weiß, gewährte Hegel nicht vielen Personen Einsicht in seine experimentelle Tätigkeit. Ans Licht der Öffentlichkeit gelangten nur die geschliffenen Journalaufsätze. Freunde und Verleger bedrängten Hegel, endlich Weiteres zu publizieren. Dieser vertröstete sie geschickt, ließ seine 59

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Die von Lasson edierte Textfassung wurde verschiedentlich nachgedruckt (auch in der DDR). Von ihr gab es bereits Übersetzungen, etwa ins Französische und Englische. Die Ausgabe von Göhler erschien 1974: G. W. F. Hegel, Frühe politische Systeme, herausgegeben und kommentiert von Gerhard Göhler, Frankfurt/M., Berlin und Wien. Vgl. Gesammelte Werke, Bd. V: Schriften und Entwürfe 1799–1808, unter Mitarbeit von Theodor Ebert herausgegeben von Manfred Baum und Kurt Rainer Meist, Verfasser des Anhangs: Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, 279–361.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

Phänomenologie des Geistes aber erst Jahre später erscheinen.61 Denn, so meine These, trotz seines ungewöhnlich sicheren Auftretens in der Kritik seiner Zeitgenossen und Kollegen verstand er sich, zwar nicht bezüglich der Grundlegung der Philosophie, aber doch was deren konkrete Darstellung betraf, selbst noch wesentlich als Suchenden.62 Das Manuskript des System der Sittlichkeit bietet neben der ungewohnten Terminologie und nicht völlig konsequenten Gliederung noch weitere, nämlich inhaltliche Schwierigkeiten. Hegel konstruiert zwar einen radikalen und imponierenden Gesamtentwurf, doch gelingt es ihm nicht, seine – eigentlich schon weitgehend feststehenden – staatsrechtlichen, politischen u. a. Auffassungen wirklich herzuleiten. So zeichnet sich das System der Sittlichkeit durch einen unübersehbaren Bruch in der Gedankenführung aus; es ist durch zwei gegenläufige methodische Linien, eine „realistische“, an den Phänomenen orientierte und eine der metaphysischen Systematik verpflichtete Linie, bestimmt. Daraus resultiert der unausgegorene Textaufbau (mit seinen scheinbar unmotivierten Wiederholungen), welcher mehrfach als verworren, gar konfus bezeichnet wurde. Da Hegel hier aber wirklich Neuland betritt und vorher nie vereinte Sachkomplexe zu synthetisieren versucht, ist die schwerfällige Form des Textes eigentlich nicht überraschend.63 Den hier zusammengestellten Schwierigkeiten steht allerdings ein Reichtum an Einsichten gegenüber, der gleichsam dazu auffordert, erschlossen zu werden und die mühevolle Lektüre lohnt.

1.6. Der Sittlichkeitsbegriff als Zentrum der Interpretation Für Hegel ist „Sittlichkeit“ der Schlüsselbegriff, mit dem er das Geflecht der ihn interessierenden Bezüge im Manuskript zu beschreiben suchte. Deshalb plädiere ich dafür, diesen Begriff in den Mittelpunkt einer Interpretation des Systems der Sittlichkeit zu stellen. Damit wende ich mich gegen das bislang dominierende Interpretationsverfahren, den Text vor allem unter dem Aspekt seiner – freilich auffälligen – terminologischen Besonderheiten zu betrachten. Sie wurden auch immer wieder herangezogen, um Hegels 61

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Horstmann verweist darauf, daß Hegels Darstellung im System der Sittlichkeit nicht seinen eigenen strengen, in der Kritik der sogenannten Reflexionsphilosophie entwickelten Kriterien genüge. Hegel konnte nicht öffentlich so scharfe Kritik üben und gleichzeitig das Manuskript in dieser Form publizieren. (Rolf-Peter Horstmann, Hegels vorphänomenologische Entwürfe zu einer Philosophie der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie, Dissertation, Heidelberg 1968) Hegels Vorgehen bezeugt, wie fruchtbar das Durchspielen extremer Positionen sein kann. Hegel hat sich in seinen Entwürfen prinzipieller Möglichkeiten philosophischen Argumentierens vergewissert. Unklar ist, wie bewußt Hegel dies tat. Auffällig bleibt aber, daß in der Abfolge der verschiedenen Jenaer Systementwürfe im jeweils neuen Entwurf genau für diejenigen Probleme eine Lösung gefunden wird, die zuvor mit dem alten Instrumentarium nicht bewältigt werden konnten. Daraus läßt sich schließen, daß Hegel sich der Grenzen seiner jeweiligen Argumentation durchaus bewußt war. Gerd Irrlitz, in einem Gespräch: „Es handelt sich hier um die Geburtsstätte einer neuen Philosophie. Und die sieht eben auch aus wie eine Geburt: blutig, nicht fein.“ Vgl. auch die Hinweise im Kapitel zur Terminologie.

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Zusammenarbeit mit, Abhängigkeit von oder Überlegenheit gegenüber Schelling zu demonstrieren. Da das methodische Vorgehen Hegels im wesentlichen als ein Subsumtionsverfahren von Anschauung und Begriff beschrieben werden kann, galt die angemessene Entschlüsselung dieses für Hegel einmaligen Versuchs oft als Garant für das sachgerechte Verständnis des Textes. Betrachtet man jedoch die vorliegenden, sich wechselseitig ausschließenden Interpretationen nur dieser beiden Termini (z. B. von Glockner und Haering), werden die damit verbundenen Schwierigkeiten sofort deutlich. Verwunderlich ist gleichfalls, daß trotz entgegengesetzter Bedeutungszuschreibung im Resultat ähnliche Aussagen zu Hegels Absicht und Vorgehen getroffen werden. Erst Göhler warnt davor, der Versuchung einer formalen Schematisierung der Begriffe zu erliegen.64 An diesem Ort ist es unangebracht, eine weitere Interpretationsvariante anzubieten: Es scheint, daß diese Auseinandersetzung von der eigentlichen Thematik eher ablenkt. Der Terminus „Sittlichkeit“ muß nicht erst künstlich über das Manuskript gestülpt werden,65 vielmehr handelt es sich um den zentralen Begriff. Und es ist wohl kein Zufall, daß Rosenkranz, der Hegel noch gekannt hatte und zu seinem ersten Biographen wurde, dem aufgefundenen Manuskript jenen bis heute beibehaltenen Namen gab: System der Sittlichkeit. Er beschreibt sehr gut, worum es Hegel in diesem Versuch – denn ein solcher ist das Manuskript – in erster Linie geht. Wenn der Begriff „Sittlichkeit“ auch nicht alles abdeckt, was im Manuskript verhandelt wird, so gibt er doch einen (ersten) Hinweis auf die Traditionslinie, in der sich Hegel sieht, und auf die Ziele, die er in diesem Entwurf verfolgt. Hegel hat ein waches Gespür für „Pathologien der Moderne“66 und setzt ihnen und ihren zugehörigen Theorien bewußt den Begriff der Sittlichkeit entgegen.67 Es ist unübersehbar, daß sich Hegels gedankliche Anstrengungen kontinuierlich an einer Philosophie des Sittlichen orientieren. Blickt man auf Hegels Werk, fällt diese Beständigkeit des Interesses von den Jugendschriften bis zur Spätphilosophie sofort auf. Im Naturrechtsaufsatz – für das System der Sittlichkeit programmatisch – nennt Hegel das Sittliche gar „den Beweger aller menschlichen Dinge“.68 Für einen Philosophen – man denke an den „unbewegten Beweger“ des Aristoteles – ist es kaum möglich, die Relevanz eines Themas noch stärker zu un64 65

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Göhler 1974, 367. In der Forschungsliteratur gibt es den interessanten Versuch, aus den zeitnahen und erhalten gebliebenen Fragmenten zur Logik eine Konzeption zu entschlüsseln, die sodann nachträglich auf das System der Sittlichkeit appliziert wird. Vgl. die Aufsätze von Johann Heinrich Trede: „Hegels frühe Logik (1801–1803/04)“, in: Hegel-Studien 7 (1972), 123–168 und „Mythologie und Idee. Die systematische Stellung der Volksreligion in Hegels Jenaer Philosophie der Sittlichkeit (1801–1803)“, in: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hg. v. Rüdiger Bubner (Hegel-Studien Beiheft 9), Bonn 1973, 167–210. Vgl. Miguel Giusti, Hegels Kritik der modernen Welt, Würzburg 1987. Hegel glaubt, damit dem von ihm kritisierten Formalismus der Kantischen Philosophie entgehen zu können. Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 467. Vgl. zum Thema: Rolf-Peter Horstmann, „Kant und der Standpunkt der Sittlichkeit. Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel“, in: Sonderheft der Revue Internationale de Philosophie, 4/1999, Paris, 557–572. Naturrechtsaufsatz, IV 419. Es sei nochmals an die Passage aus dem eingangs zitierten Brief an Schelling erinnert, die Hegels Ausrichtung seines philosophischen Forschens dokumentiert: „[I]ch frage mich jetzt, […] welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.“

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

terstreichen. Fraglos steht die Sittlichkeit im Mittelpunkt des philosophischen Interesses Hegels. Bevor wir uns dem Hegelschen Sittlichkeitsbegriff zuwenden, soll zum Zwecke der genaueren Positionierung des Hegelschen Anliegens überblicksartig vermerkt werden, wie Kant, Fichte und Schelling die Sittlichkeit thematisierten. Denn Hegels System der Sittlichkeit unterscheidet sich gravierend von dem, was unvermeidlich beim Vernehmen dieser Termini im Zusammenhang der Philosophie des Deutschen Idealismus assoziiert wird, also sowohl von einer systematischen Darstellung einer Theorie des sittlichen Handelns (Kant) oder gar gleich einer kompletten Sittenlehre (Fichte) als auch von der nur transzendentalen Deduktion der Denkbarkeit und Erklärbarkeit moralischer Begriffe überhaupt (Schelling). Kant hat sowohl den Begriff des „Systems“ als auch den der „Sittlichkeit“ gebraucht.69 Gleichwohl hat er kein System der Sittlichkeit verfaßt, und es wäre gleichfalls nicht korrekt, würde man als Nachfolgender nun seine Schriften zur praktischen Philosophie als ein derartiges System bezeichnen. Dagegen steht schon Kants eigene strikte Unterscheidung zwischen dem „System der Wissenschaft“ und dem „System der Kritik“, die er am Beginn der Kritik der praktischen Vernunft trifft.70 Dessen ungeachtet hat Kant die Idee eines Systems der Sittlichkeit bestimmt und die Bedingung angegeben, unter der allein diese Idee ausgeführt werden könne.71 Seine Metaphysik der Sitten versteht er selbst als das ausgeführte System der praktischen Wissenschaften, aber eben nicht als ein System der Sittlichkeit. Kant ist der Überzeugung, daß auch die praktische Philosophie einer Metaphysik bedürfe – sofern diese als „System der Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen“ verstanden wird –, um als wahre Wissenschaft auftreten zu können, aber auch, um die moralischen Prinzipien als in der Vernunft begründet auszuweisen und ihnen so Unabhängigkeit von sonstigen Instanzen zu sichern.72 Was also den systematischen Anspruch der Kantischen Theorie betrifft, kann sich Hegel als Nachfolger begreifen. Allerdings ist er bezüglich der Erscheinungsweisen der 69 70 71

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Vgl. zum Folgenden Horstmann 1968, 86ff. Vgl. Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft (Kant 1900ff., Bd. V, 8). Vgl. Kritik der reinen Vernunft (KrV B837): „Ich sage demnach: daß eben sowohl, als die moralischen Principien nach der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche nothwendig sind, eben so nothwendig sei es auch nach der Vernunft, in ihrem theoretischen Gebrauch anzunehmen, daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei.“ „Wenn es über irgend einen Gegenstand eine Philosophie (System der Vernunfterkenntniß aus Begriffen) giebt, so muß es für diese Philosophie auch ein System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe, d. i. eine Metaphysik, geben.“ Der Metaphysik bedarf es, um auch die praktische Philosophie „als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht bloß als Aggregat einzeln ausgesuchter Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können“. (Vorrede zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, Kant 1900ff., Bd. VI, 375); „Wenn daher ein System der Erkenntniß a priori aus bloßen Begriffen Metaphysik heißt, so wird eine praktische Philosophie, welche nicht Natur, sondern die Freiheit der Willkür zum Objecte hat, eine Metaphysik der Sitten voraussetzen und bedürfen: d. i. eine solche zu haben ist selbst Pflicht, und jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art in sich.“ (Kant 1900ff., Bd. VI, 216)

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Vernunft entschieden anderer Auffassung und lehnt insbesondere die Apriorität der moralischen Begriffe kategorisch ab.73 Daher umfaßt seine Theorie der Sittlichkeit auch inhaltlich mehr als die Kantische Theorie des sittlichen Handelns, welche sich primär um die Autonomie des Willens und das Verhältnis der Handlungen zu dieser Autonomie dreht.74 Eine apriorische Theorie der Sittlichkeit im Sinne Kants liegt Hegel gänzlich fern: Er will überhaupt keine Lehre eines sinnvollen Handelns nach wohlbestimmten und bestimmbaren Kriterien, keine traditionelle Moralphilosophie aufstellen. Fichte hat 1798 ein Buch publiziert, das schon vom Titel her Nähe zu Hegels Systementwurf suggeriert: das System der Sittenlehre. Wie Kant unterscheidet auch Fichte theoretische und praktische Philosophie; die Sittenlehre gehört zur praktischen Philosophie und soll klären, wie das menschliche Wirken (nicht das Erkennen – das wird in der theoretischen Philosophie untersucht) und somit das Folgen des Objektiven aus dem Subjektiven (das Sein aus meinem Zweckbegriff) zu verstehen sei. Die Sittenlehre hat streng wissenschaftlich vorzugehen, was für Fichte bedeutet, das Verfahren der Deduktion aus dem „höchsten und absoluten Prinzip, dem der Ichheit“, zu betreiben. Getreu seiner mehrfach umgearbeiteten Wissenschaftslehre heißt es nun: „Auch die Sittenlehre ist nicht Weisheitslehre, […] sondern, wie die gesammte Philosophie, Wissenschaftslehre; sie insbesondere Theorie des Bewusstseyns unserer moralischen Natur überhaupt, und unserer bestimmten Pflichten insbesondere“.75 Hegels – zum Teil schneidende – Kritik an diesem Unterfangen ist bereits oben thematisiert worden. Schelling hat in seinem System des transzendentalen Idealismus noch einen weiteren Weg eingeschlagen. Ihn interessieren hier weder eine Moralphilosophie noch überhaupt die Sittlichkeit in praktischer Absicht. Vielmehr untersucht er die Bedingungen der Möglichkeit von Sittlichkeit; „nicht etwa eine Moral-Philosophie, sondern vielmehr die transcendentale Deduktion der Denkbarkeit und der Erklärbarkeit der moralischen Begriffe überhaupt“ beabsichtigt Schelling aufzustellen.76 Innerhalb der „Geschichte des Selbstbewußtseins“ gibt es neben der theoretischen Epoche auch eine praktische, in welcher das Ich sich als Selbstbestimmung begreift. Beide Epochen sind notwendig, und Schelling befaßt sich mit der Sittlichkeit eigentlich nur unter dem Aspekt, daß sie eine notwendige Stufe auf dem Weg zur Selbsterkenntnis, eine Potenz des Ichs, darstellt. Um nun einen Vorbegriff der absoluten Sittlichkeit zu geben, wie sie Hegel zu jener Zeit verstand und vor allem auch vor dem Lesepublikum vertreten hat, und um konkret 73

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Im Naturrechtsaufsatz, vor allem im vierten Abschnitt, wendet sich Hegel wiederholt gegen den Apriorismus Kants und dessen theoretische Auswirkungen. Vgl. z. B. IV 481: „[D]aß die Vernunft, und der Menschenverstand, und die Erfahrung, aus welchen die bestimmten Gesetze herkommen, keine Vernunft und Menschenverstand a priori, auch keine Erfahrung a priori, was eine absolut allgemeine wäre, sind, sondern ganz allein die lebendige Individualität eines Volkes, eine Individualität, deren höchste Bestimmtheiten wieder aus einer allgemeinern Nothwendigkeit zu begreiffen sind.“ Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kant 1900ff., Bd. IV, 439: Sittlichkeit bzw. Moralität ist „das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben“ (Horstmann 1968, 88, Anmerkung 1, belegt, daß Moralität und Sittlichkeit von Kant nahezu gleichgesetzt werden). System der Sittenlehre, in: Johann Gottlieb Fichte, Sämmtliche Werke, Berlin 1845–1846, Bd. IV, 15. System des transzendentalen Idealismus, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich Schelling, Stuttgart 1856–1861, I/3, 532.

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nachvollziehen zu können, in welchem Zusammenhang ihm diese Thematik entstanden war, wird im folgenden auf den etwa gleichzeitig entstandenen Naturrechtsaufsatz zurückgegriffen.77 Nach einer detaillierten Kritik der empirischen sowie der formalen Behandlung des Naturrechts vertritt und erläutert Hegel dort die Idee der absoluten Sittlichkeit: „In diesem letzten Abschnitte des Naturrechts-Aufsatzes gibt Hegel den Kern seiner eigenen Philosophie, soweit sich ein solcher bisher herausgebildet hatte. Es ist bezeichnend, daß dies zuerst auf praktisch-sittlichem Gebiet geschieht. Hier lag von Anfang an sein Hauptinteresse, und der ganze Kampf gegen die Reflexionsphilosophie hatte vor allem den Sinn: die Bahn frei zu machen für ein System der absoluten Sittlichkeit.“78 Auf die genaue Argumentation wird erst später eingegangen werden.79 Vorweg nur Hegels Resümee: „Nachdem wir […] die absolute Sittlichkeit in den Momenten ihrer Totalität dargestellt, und ihre Idee construirt, auch die in Beziehung auf sie herrschende Unterscheidung von Legalität und Moralität, nebst den damit zusammenhängenden Abstractionen der allgemeinen Freyheit einer formellen praktischen Vernunft, als wesenlose Gedankendinge vernichtet, und nicht durch Vermischung etwa beyder Principien, sondern durch Aufhebung derselben und Constituirung der absoluten sittlichen Identität die Unterschiede der Wissenschaft des Naturrechts und der Moral nach der absoluten Idee bestimmt haben; so haben wir festgesetzt, daß ihr Wesen nicht eine Abstraction, sondern die Lebendigkeit des sittlichen sey“ (IV 470). Hegels Ziel ist es, diese Lebendigkeit des Sittlichen wissenschaftlich zu beschreiben. Er betont die Lebendigkeit der sittlichen Totalität gerade deshalb, weil sie zuvor nicht ausreichend beachtet worden war: Die sittliche Totalität ist nämlich selbst ein Moment der Geschichte und hat daher auch stets eine spezifische Gestalt. Sie ist also, genauso wie das Recht, gerade kein Verstandesprodukt, sondern ein gesellschaftliches Erzeugnis. Dieser neue Blick auf die Totalität (daß sie als sittlich gefaßt werden muß) ermöglicht es Hegel, Sittlichkeit als eine Dimension des praktischen Lebens selbst zu präsentieren. Dies stellt eine Neuerung insofern dar, als zuvor die Naturrechtslehre in der Regel nur das Recht und die Moral als Formen praktischen Lebens anerkannt hatten. Der Sitte hatte man im allgemeinen nie die Würde einer selbständigen Form des praktischen Lebens zuerkannt; wurde sie überhaupt in Betracht gezogen, setzte man 77 78

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Vgl. umfassend Manfred Riedel: „Hegels Kritik des Naturrechts“, in: Riedel 1982, 84–115. Hermann Glockner, Hegel, Bd. 2, Entwicklung und Schicksal der Hegelschen Philosophie, Stuttgart 1940, 247. Im Vorgriff als kurze Zusammenfassung: Hegels Vorwurf gegen die im Naturrechtsaufsatz behandelten Theorien lautet, daß sie die für die moderne Welt typische Zerrissenheit, statt sie aufzuheben und zur Versöhnung zu führen, geradezu noch befestigen: Die empirische Behandlungsart verliert sich nur in die Vielheit zwar sittlicher Phänomene, unterscheidet aber nicht zwischen notwendig und zufällig, gelangt somit zu gar keiner echten Einheit, nur zu einer behaupteten Ganzheit eines Rechtszustandes. Der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes gelingt zwar die Konstruktion einer Einheit, jedoch nur der formellen Einheit von Recht und Pflicht im absoluten Subjekt. Diese tritt sodann durch ihr Auseinanderfallen in Moralität und Legalität den empirischen Subjekten nur als ein Sollen gegenüber. Denn die Einheit wird in der Moralität postuliert, zugleich aber wird für möglich befunden, daß in der Legalität Recht und Pflicht nicht eins sind. Vgl. hierzu Kimmerle 1982, 211.

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sie zu einer niederen Form herab.80 Hegel hat einen ganz anderen Zugang: Seine geschichtlichen, politischen, wirtschaftstheoretischen Interessen und diesbezüglichen langjährigen Studien verbindet er mit der Philosophie selbst und gibt ihr auf diese Weise eine andere Ausrichtung. Die Philosophie soll und muß sich nun der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit öffnen. Dieser Hegelsche Schritt führt seine Philosophie weit über jede Form eines deduktiven Idealismus hinaus.81 Hegel betrachtet die sittliche Totalität also als einen lebendigen und historischen Organismus; um diesen organischen Standpunkt in einem System auszudrücken, benötigt er eine spezifische Begrifflichkeit und bedient sich hierfür vorübergehend vor allem der Schellingschen Methode der Potenzen:82 Im Naturrechtsaufsatz skizziert Hegel ein solches System und gibt exakte methodologische Vorgaben.83 Während im Aufsatz aber eine genauere Explikation unterbleibt, widmet sich das System der Sittlichkeit exakt und ausschließlich dieser Aufgabe: Die wahrhafte Totalität zu rekonstruieren, das lebendige Band der Individuen aufzuzeigen, die „Idee der absoluten Sittlichkeit zu erkennen“ (V 279) – das sind die Aufgaben des Hegelschen Manuskripts.84 Hegel ist der Auffassung, daß man einen ganz anderen Ausgangspunkt als seine unmittelbaren Vorgänger nehmen müsse, um die Sittlichkeit erkennen und adäquat beschreiben zu können. Vor allem aufgrund dieses Zusammenhangs verweist Hegel wiederholt auf antike Autoren; dies geschieht mithin nicht zu dem Zweck, eine vergangene Welt erneut auferstehen zu lassen. Hegel glaubt – wie eine etymologische Anmerkung zeigt –, daß seine Konzeption der Sittlichkeit sich auf „eine Andeutung der Sprache“ berufen könne, wohingegen neuere Konzeptionen diese verwerfen müßten: „[…] daß es nemlich in der Natur der absoluten Sittlichkeit ist, ein Allgemeines oder Sitten zu seyn; daß also das griechische Wort, welches Sittlichkeit bezeichnet, und das deutsche diese ihre Natur vortrefflich ausdrücken; daß aber die neuern Systeme der Sittlichkeit, da sie ein für sich seyn und die Einzelnheit zum Princip machen, nicht ermangeln können, an diesen Worten ihre Beziehung auszustellen; und diese innere Andeutung sich so mächtig erweist, daß jene Systeme, um ihre Sache zu bezeichnen, jene Worte nicht dazu misbrauchen konnten, sondern das Wort Moralität annahmen“. (IV 467)85 80

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Vgl. hierzu genauer: Norberto Bobbio, „Hegel und die Naturrechtslehre“, in: Iring Fetscher, Hegel in der Sicht der neueren Forschung, Darmstadt 1973, 291–321, insbesondere 304ff. Vgl. hierzu Ritter 1977, 217 (Anmerkung). Vgl. Kapitel zur Terminologie. Vgl. den Abschnitt zur Systemskizze im Kapitel zu den programmatischen Ankündigungen eines Systems der Sittlichkeit. In dieser Hinsicht schließt es sich folgerichtig an seine sogenannten „Theologischen Jugendschriften“ an, welche den Prozeß, der zur Trennung von Sitte und Gesetz und damit zur Positivität des Christentums hatte führen können, zu begreifen versuchten, gleichzeitig aber auch immer auf die in jenem Prozeß angelegten, vernünftigen Möglichkeiten reflektierten, die Einheit wiederherstellen zu können. Vgl. Giusti 1987, 44. Vgl. Ernst Tugendhats Hinweise zur Wortgeschichte und die dabei unterlaufenen Übersetzungsfehler. In: Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, 34f. Daß Immanuel Kant den Begriff Sittlichkeit, sofern er ihn (entgegen Hegels Unterstellung) dennoch benutzt, im Sinne einer moralischen Orientierung auf die Vollkommenheit der Maxime gebraucht, kann man dem kleinen

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Die neueren philosophischen Modelle, soweit sie den Bereich der Sittlichkeit überhaupt berühren, zeichnen sich also – Hegel zufolge – durch gravierende Mängel aus. Hegel ordnet sie im Naturrechtsaufsatz der Übersicht halber lediglich zwei verschiedenen Theorietypen zu und kritisiert sie infolgedessen einmal als anthropologische Vorstellung, zum anderen als formale Konzepte. (Vgl. IV 424) Im ersten Fall wird ein (friedlich oder feindlich) gearteter Naturzustand vorausgesetzt, zu dem die Gemeinschaft erst von außen hinzutritt. Der Naturzustand (selbst wenn er von vornherein nur als Hypothese gedacht war) wird also als ein durch die hinzutretende Vernunft (z. B. in Form eines Vertrags zum Zwecke der Eindämmung von Gewalt) abzulösender angenommen – man mag hier an Rousseau und Hobbes denken. Im zweiten Fall ist die Sittlichkeit nur als eine Vernunftleistung gedacht, so daß es zu einer Unterdrükkung der natürlichen Neigungen und einem beständigen Appell an das Vernunftvermögen der Menschen kommen muß. Hier denkt Hegel offensichtlich an Kant und Fichte.86 Der Naturzustand wird in diesem Falle also nicht abgelöst oder abgeschafft, sondern soll permanent überwunden werden. Damit kommt es zu dem von Hegel angeprangerten Dualismus: Natur und Vernunft werden einander entgegengesetzt. Aufgabe der Philosophie ist es aber gerade, sie zu versöhnen. Zu diesem Zwecke müssen sie in ihre richtige Relation gesetzt werden: Hegel ist weder vernunftfeindlich, noch akzeptiert er eine Unterdrückung der Natur: Die Natur ist für ihn ebensowenig nur ein friedlicher Zustand, wie es die „bürgerliche Gesellschaft“ von sich aus ist. Beide sind zugleich Schauplatz diverser Ausschweifungen als auch spontaner Solidarität und müssen in einer Weise „regiert“ werden, die ihre Lebendigkeit erhält und zu binden vermag; hierfür bedarf es vielfältiger menschlicher Institutionen. Wer so scharfe Kritik übt, akzeptiert natürlich die zuvor durch die Philosophie angebotene Scheinlösung nicht. Das System der Sittlichkeit muß m. E. als Hegels Versuch angesehen werden, eine eigenständige Lösung nicht nur zu entwerfen oder zu skizzieren, sondern tatsächlich auch auszuarbeiten. Natürlich ist Hegel nicht der einzige, der angesichts der vorliegenden Theorien das Bedürfnis verspürt, andere Wege einzuschlagen. Hegel ist selbstverständlich auch nicht der Auffassung, daß man zur Korrektur aufgetretener Irrtümer alles neu erfinden müßte. Vielmehr ist er überzeugt, in der europäischen Geschichte Perioden und vor allem

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Aufsatz „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (1786) entnehmen: „Denn der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze. Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist: die Sittlichkeit“. (Kant 1900ff., Bd. VIII, 139) Vgl. in Hegels Differenzschrift die Kritik an der Zerstückelung der Natur durch den Begriff, wie sie sich in Fichtes System ausdrücke: „In der Darstellung und Deduktion der Natur, wie sie im System des Naturrechts gegeben ist, zeigt sich die absolute Entgegensetzung der Natur und der Vernunft, und die Herrschaft der Reflexion in ihrer ganzen Härte.“ (IV 53) Vgl. ebd., IV 56: „[D]ie Herrschaft des Begriffs, und die Knechtschaft der Natur, ist absolut gemacht, und ins unendliche ausgedehnt.“ Odo Marquard hat in seiner Studie „Hegel und das Sollen“ untersucht, was Hegel am Sollen kritisiert und was die „Sollenskritik“ nicht beinhaltet. In einer Anmerkung hat er eine aufschlußreiche, mehrere Seiten umfassende Zusammenstellung von Textstellen aus Hegels gesamtem Werk aufgelistet, welche diese Argumente enthalten. In: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973, 153ff.

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Schriften vorliegen zu haben, die in vielerlei Hinsicht Hilfe bieten. Aufgrund seiner Vertrautheit mit der antiken Literatur hält er sich daher zunächst vor allem an Platon und Aristoteles.87 Natürlich ist Hegel aber auch nicht bereit, die Errungenschaften der neueren Philosophie aufzugeben. Er hat immer wieder betont, daß es nur eine Philosophie gebe: „Daß die Philosophie nur Eine ist, und nur Eine seyn kann, beruht darauf, daß die Vernunft nur Eine ist; und so wenig es verschiedene Vernunften geben kann, eben so wenig kann sich zwischen die Vernunft und ihr Selbsterkennen eine Wand stellen, durch welche dieses eine wesentliche Verschiedenheit der Erscheinung werden könnte, denn die Vernunft absolut betrachtet und insofern sie Object ihrer selbst im Selbsterkennen, also Philosophie wird, ist wieder nur Eins und dasselbe; und daher durchaus das gleiche.“ (IV 117)88 Hegel beschränkt sich also nicht darauf, ältere (etwa antike) Theorien nur mittels moderner Terminologie zu rekonstruieren und zu aktualisieren; vielmehr sucht er die verschiedenen, je eigenständigen Leistun87

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Hegel scheut sich nicht, seine Quellen zu benennen. Vgl. das berühmte Aristoteleszitat, welches Hegel später in seinen Vorlesungen oftmals wiederholen wird: „[D]as Volk ist eher der Natur nach als der einzelne; denn wenn der einzelne abgesondert nichts selbstständiges ist, so muß er gleich allen Theilen in Einer Einheit mit dem Ganzen seyn. Wer aber nicht gemeinschaftlich sein kann, oder aus Selbstständigkeit nichts bedarf, ist kein Theil des Volks, und darum entweder Thier oder Gott.“ Naturrechtsaufsatz, IV 467f. (Bei Aristoteles, Polit., I, 2.) Vgl. dazu Karl-Heinz Iltings Interpretation: „[D]as Tier ist zur Gemeinschaft nicht fähig, und Gott bedarf ihrer nicht, da er sich selbst genügt. […] Durch einen ihm innewohnenden Mangel ist der Mensch auf anderes angewiesen [D]er Mensch als Mensch kann […] nur bestehen durch die Teilnahme an einer autarken, d. h. politischen Gemeinschaft; diese ist also in höherem Maße wirklich oder (was nach dem Sprachgebrauch des Aristoteles dasselbe besagt) ‚von Natur aus früher‘ […] als ein menschliches Individuum.“ (Karl-Heinz Ilting, „Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik“, in: Philosophisches Jahrbuch 71(1963/64), 38–58; nachgedruckt in Göhler 1974, 759–785, hier 767ff.) Hegel selbst hat in den philosophiegeschichtlichen Vorlesungen (19/226) betont: „[…] der Natur nach (d. h. wesentlich, substanziell, seinem Begriffe, der Vernunft und der Wahrheit nach, nicht der Zeit nach) früher“. – Neben Aristoteles wird Platon zitiert: Hegel bedient sich seiner mit Vorliebe wegen – wie er sagt – „seiner einfachen Sprache“ (IV 452). Unmißverständlich ist auch Hegels Aussage, daß „in Ansehung der Sittlichkeit das Wort der weisesten Männer des A1terthums allein das wahre ist, sittlich sey, den Sitten seines Landes gemäß zu leben; und in Ansehung der Erziehung das, welches ein Pythagoräer einem auf die Frage: welches die beste Erziehung für seinen Sohn wäre? antwortete: wenn du ihn zum Bürger eines wohleingerichteten Volkes machst.“ (IV 469) Es ist gewiß kein Zufall, daß sich die Platon- und Aristotelesbezüge und direkten Zitate vor allem im dritten Teil des Naturrechtsaufsatzes finden, also dort, wo Hegel nach eigenem Bekunden die „Idee der absoluten Sittlichkeit“ konstruiert. Diese frühe Äußerung findet sich in der Einleitung zum Kritischen Journal: „Ueber das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere“. Vgl. in der Differenzschrift: „Wenn aber das Absolute, wie seine Erscheinung die Vernunft, ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist; so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie producirt, und sich die Aufgabe gelöst, welche, wie ihre Auflösung, zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst erkennt, es nur mit sich zu thun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Thätigkeit, und in Rücksicht aufs innre Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger.“ (IV 10)

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gen wirklich zu synthetisieren.89 Die moderne Individualität wird also nicht verworfen, gleichfalls nicht die antike Idee eines erst in der Gesellschaft erfüllten Lebens. Hegel interessiert sich gerade für das Zusammen dieser Momente, das Ineinander von Vergesellschaftung und Individuierung. Dieses Ineinander, welches Hegel als Prozeß auffaßt, nennt er das „Werden der Sittlichkeit“. (IV 469)90 Es ist also offensichtlich, daß Hegel den Terminus Sittlichkeit als eine Art geistiges Gravitationszentrum gebraucht.91 Er möchte den Materialreichtum der ausdifferenzierten Wissenschaften sowie der nebeneinanderlaufenden philosophischen Systeme synthetisieren und für eine neue Theorie der bürgerlichen Zivilisation, ihre organische Konstitution, fruchtbar machen. Hegel wendet sich gegen die aufklärerische Verabsolutierung der Moral (den „Moralismus“) und entwickelt statt dessen eine konkrete Theorie der verschiedenen Ebenen der modernen Gesellschaft, bezieht dabei auch die geschichtliche Perspektive ein. Mit dieser letzteren Perspektive, dem Blick auf die reale Geschichte, welchen Hegel schon in seinen sogenannten theologischen Jugendschriften ausgebildet hatte, unterscheidet sich Hegel deutlich von Kant und Fichte (in anderer Weise auch von Schelling). Natürlich kennen auch diese den Begriff der Geschichte, doch spielt er in der apriorischen Philosophie keine maßgebliche Rolle: Alles wird aus der Vernunft deduziert. Hegel hat der „Reflexionsphilosophie“ daher ihr unhistorisches Verständnis der bürgerlichen Epoche vorgeworfen. Im Naturrechtsaufsatz stellt Hegel den kritisierten Theorien ein organisches Modell entgegen, das starke aristotelische Züge aufweist. Nicht nur wird der Mensch schon immer in sittliche Lebenszusammenhänge hineingeboren, es sind auch in seiner Natur selbst sittliche Anlagen vorhanden, die sich dann schrittweise entfalten.92 Das aber bringt mit 89

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Vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Theorie des Geistes, Freiburg 1979, 162f.: „Das System der Sittlichkeit zeigt aber auch deutlich, daß Hegel keine bloße ‚Renaissance‘ der klassischen praktischen Philosophie anstrebt. Einmal deshalb, weil er die praktische Philosophie als ‚System‘ im strengen Sinne Fichtes und Schellings begründen und darstellen will. Zum anderen, weil die Überwindung der Kantischen Trennung von Ethik und Rechts- bzw. Staatsphilosophie zugleich das Prinzip der Kantischen Moralphilosophie, die Freiheit des reinen Selbst, mit der Aristotelischen Politik vermitteln will.“ Zu weiteren Syntheseleistungen Hegels (und hierfür maßgeblichen zusätzlichen Quellen, etwa Hobbes und Spinoza) vgl. Ilting 1974. Naturrechtsaufsatz, IV 469. Vgl. dazu auch Axel Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992, 28. Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart u. a. 2003, 153: Im Begriff der Sittlichkeit sei „die Gesamtheit der menschlichen Lebensverhältnisse gedacht, innerhalb deren Moral oder Recht lediglich abstrakte Momente bilden. Unter dem Titel ‚Sittlichkeit‘ begreift Hegel Formen, in denen sich menschliches Leben gestaltet. Sie können – wie bei der Ehe – bis in die Sphäre des Biologisch-Natürlichen hinabreichen, bilden aber im wesentlichen eine eigene, dem geistigen Leben immanente, ihm gleichsam natürliche und dennoch geschichtlich wandelbare Form. Hegel entwirft dieses Bild eines ursprünglich-sozialen, nicht erst sekundär aus menschlichen Atomen konstruierten ‚sittlichen Lebens‘ im Widerspruch gegen die spezifisch neuzeitliche vertragstheoretische Begründung menschlichen Zusammenlebens.“ Es handelt sich also um eine teleologische Struktur: „Dabei läßt Hegel sich ganz offenbar noch von der aristotelischen Vorstellung leiten, daß in der Natur des Menschen bereits die Gemeinschaftsbezüge als ein Substrat angelegt sind, die in der Polis zur vollständigen Entfaltung gelangen.“ Honneth

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sich – hier liegt ein gewichtiger Unterschied zu den kritisierten Theorien –, daß das Zusammengehen mit anderen Individuen gerade nicht als freiwillige Selbsteinschränkung verstanden wird, sondern primär als Bereicherung, sogar als notwendige Bedingung für die Entwicklung und eigentliche Erfüllung des menschlichen Daseins.93 Weil Hegel die Existenz von intersubjektiven Verpflichtungen bereits als eine quasinatürliche Bedingung jedes Prozesses der menschlichen Vergesellschaftung vorausgesetzt hat, ergibt sich für ihn also gar nicht erst die Notwendigkeit, zu externen Hypothesen greifen zu müssen (wozu die von ihm kritisierten Naturrechtstheorien genötigt waren). Hingegen entsteht ein anderer, ein neuer Aufgabenbereich: Nicht nämlich „die Genese von Mechanismen der Gemeinschaftsbildung überhaupt, sondern die Umbildung und Erweiterung von anfänglichen Formen der sozialen Gemeinschaft zu umfassenderen Verhältnissen der gesellschaftlichen Interaktion“ stellt den Vorgang dar, den Hegel erklären können muß.94 Mit der „Sittlichkeit“ – das sei hier kurz erwähnt – haben wir zugleich einen wesentlichen Gegenstand des wieder erstarkenden Hegelinteresses vor uns. In der deutschsprachigen Philosophie wurde z. B. ausführlich das Problem von Moralität und Sittlichkeit bei Kant und Hegel diskutiert.95 Sittlichkeit bildet aber nicht nur den Fokus ausgewählter philosophiegeschichtlicher Untersuchungen. Inzwischen werden auch systematische Fragen der politischen und Sozialphilosophie – etwa der Anerkennung, der Gerechtigkeit – wieder unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Hegel diskutiert.96

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1992, 26. Vgl. außerdem Nicolai Hartmanns Aufsatz „Aristoteles und Hegel“ (Kleinere Schriften, Bd. 2, Berlin 1957, 214–252), in dem er Hegel als den Aristoteliker schlechthin zeigt. Wie nah sich Hegel Aristoteles verbunden weiß, bezeugen auch die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: Aristoteles „widerlegt die empirischen Vorstellungen, frühere Philosopheme, hält fest, was aus dem Empirischen beibehalten werden muß. Und indem er alle diese Bestimmungen verknüpft, verbunden festhält, so bildet er den Begriff, ist im höchsten Grade spekulativ, indem er empirisch zu sein scheint. […] das Empirische, in seiner Synthesis aufgefaßt, ist der spekulative Begriff.“ (19/172) Vgl. auch Hegels (in Auseinandersetzung mit Fichte geschriebene) Passage in der Differenzschrift (IV 54f.): „[D]ie Gemeinschaft der Person mit andern muß daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden; die höchste Gemeinschaft ist die höchste Freyheit, sowohl der Macht als der Ausübung nach.“ (IV 54) Und: „Wenn die Gemeinschaft der Vernunftwesen wesentlich ein Beschränken der wahren Freyheit wäre, so würde sie an und für sich die höchste Tirannei seyn.“ (IV 55) Fichte begeht diesen Fehler: „Die Freyheit ist der Charakter der Vernünftigkeit, sie ist das an sich alle Beschränkung aufhebende, und das Höchste des Fichte’schen Systems; in der Gemeinschaft mit andern aber muß sie [so wie Fichte sie konzipiert] aufgegeben werden.“ (IV 54) Honneth 1992, 27. Ebd.: „Auch in der Beantwortung des damit aufgeworfenen Problems greift Hegel zunächst wieder auf die aristotelische Ontologie zurück; ihr entnimmt er die Idee, daß der zu bestimmende Vorgang die Gestalt eines teleologischen Prozesses besitzen muß, durch den eine ursprüngliche Substanz schrittweise zur Entfaltung gelangt.“ Vgl. z. B. Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt/M. 1986. Vgl. z. B. Ludwig Siep, „Selbstverwirklichung, Anerkennung und politische Existenz. Zur Aktualität der politischen Philosophie Hegels“, in: Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven, hg. v. Reinold Schmücker und Ulrich Steinvorth, Berlin 2002, 41–56; Axel Honneth, „Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel“, in: Subjektivität und Anerkennung, hg. v. Barbara Merker, Georg Mohr und Michael Quante, Paderborn 2004, 213–227;

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Und seit einiger Zeit kommen wesentliche Impulse für die Neuaufnahme Hegelscher Ansätze aus Nordamerika. Dort interessieren Hegels Philosophie und gerade sein Sittlichkeitsbegriff insbesondere unter dem Aspekt der sozialen Praxis. Taylor hat mit seinen verschiedenen Arbeiten seit den siebziger Jahren hieran großen Anteil.97 Jetzt versucht Pinkard, Hegels Sittlichkeitsbegriff zu aktualisieren. Pippin möchte mit Hegel überprüfen, ob sich naturalistische und geistesphilosophische Zugänge vereinen lassen.98 Die Arbeiten von Brandom zeigen, daß Hegel auch für erkenntnistheoretische Fragen wieder von Belang ist. Inzwischen spricht man von einer Art Hegel-Renaissance.99 * * *

Es sollte deutlich geworden sein, daß Hegel unangesehen seiner vielen Neuerungen keinen offenen, eklatanten Bruch mit der philosophischen Tradition vollzieht: Das System der Sittlichkeit steht – wie aus den obigen Ausführungen erhellt – in einem umfassenden theoriegeschichtlichen Zusammenhang. Es reagiert auf realgeschichtliche Vorgänge und die mit den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen eingetretenen Veränderungen. Das Manuskript ist in dieser Hinsicht (nach Hegels Auffassung wie jede echte Philosophie) auch ein Dokument „seiner Zeit“.100 Hegels Entwurf bedeutet – trotz aller vorhandenen und aufgezeigten Kontinuität – in seiner gesamten Anlage dennoch einen tiefen Einschnitt in die Philosophiegeschichte: Hegel gibt der Philosophie eine veränderte Ausrichtung und bereichert sie inhaltlich, indem er ihr neue TheHonneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001; Bernd Ladwig, „Moderne Sittlichkeit. Grundzüge einer ‚hegelianischen‘ Gesellschaftstheorie des Politischen“, in: Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution, hg. v. Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns, Baden-Baden 2006, 111–135. 97 S. z. B. Charles Taylor, Hegel, Cambridge 1975. 98 Die genannten Autoren haben je eigene Monographien zu Hegel verfaßt. Über einige ihrer Forschungsinteressen informiert die Zusammenstellung von Aufsätzen in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 49 (2001) Heft 1; außerdem: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, Frankfurt/M. 2004. Vgl. auch die verschiedenen Arbeiten von John McDowell, Allen Wood, Michael O. Hardimon und Frederick Neuhouser. Der Titel von Pippins neuem Aufsatzband drückt das generelle Interesse aus: Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. und New York 2005. 99 Vgl. Hans-Peter Krüger, „Die Semiosis lebendiger Augenblicke“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001) 1, 89–106. Dort vor allem 89. Vgl. auch Krügers Einleitung in das Schwerpunktthema derselben Ausgabe der Zeitschrift: „Ist Hegel heute nur noch als die Verbesserung eines kantischen Denkrahmens relevant?“, ebd., 42–44. Vgl. Rüdiger Bubner, „Überlegungen zur Situation der Hegelforschung“, in: Hegel-Studien 36 (2003), 43–60, dort 52. 100 Vgl. die umfangreiche Forschung, angestoßen durch Lukács’ Hegelbuch und später Ritters Hegel und die Französische Revolution. Inzwischen ist eine gleichlautende Studie von Otto Pöggeler erschienen, die den Kontext (Carl Schmitt, Alexandre Kojève) und die Wirkung des Vortrags von Ritter nachzeichnet. In: Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolutionen der Neuzeit, hg. v. Elisabeth Weisser-Lohmann und Dietmar Köhler, Hamburg 2000, 210–225.

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men erschließt. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine weitere Akzentverschiebung, sondern es wird in der Tat ein neuartiges Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit begründet. Man hat daher – m. E. zu Recht – Hegels Jenaer Phase als eine Wende in der Philosophie beschrieben.101 Das System der Sittlichkeit ist Ausdruck dieses Umbruchs, und es dokumentiert auf einzigartige Weise, wie Hegel die Ergebnisse der oben erwähnten vielfältigen Studien zu einer nie dagewesenen, nie gewagten Synthese bündelt. Mir scheint es daher unbestreitbar, daß sich das System der Sittlichkeit folgerichtig in Hegels geistige Biographie einfügt, daß es sogar die über viele Jahre gereiften Gedanken zu transformieren und erstmals in diese streng aufgebaute Systemform zu integrieren vermag. An späterer Stelle werde ich dokumentieren, wie sich das Reinschriftmanuskript zu verschiedenen Ankündigungen bzw. theoretischen Absichtserklärungen aus Hegels publizierten Texten verhält, wie es diese einzulösen sucht. Erstaunlicherweise wird dieser lange Zeit bemerkte innere Zusammenhang mit Hegels philosophischem Werdegang in jüngerer Zeit angezweifelt oder sogar negiert: Einmal wird Hegels Manuskript zu einer bloßen Auftragsarbeit degradiert,102 und ein anderer Interpret sieht in Hegels Systementwurf plötzlich nichts anderes mehr als ausgerechnet eine „Critik des Fichteschen Naturrechts“, so daß das Manuskript sogar noch unter diesem neuen Titel ediert wird.103 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es bei diesen neueren Interpretationsversuchen vor allem um das zu erzielende spektakuläre Aufsehen geht: Eine gänzliche Umwertung des Manuskripts fällt in der Fülle sonstiger philosophischer Literatur freilich immer noch auf. Es irritiert jedoch erheblich, daß keiner der beiden Autoren konsistente Belege für seine jeweilige These zu geben vermag.104 Meine Arbeit wird – in Abgrenzung von solchen Versuchen – zeigen, daß das System der Sittlichkeit gerade kein nur nebenbei entstandenes Zufallsprodukt ist, auch kein bloß aus äußerem Anlaß initiiertes oder gar erzwungenes Werk, sondern als konsequentes Resultat vorangegangener Studien Hegels und Ausdruck seines fortwährenden Interesses an dem Thema der Sittlichkeit zu verstehen ist.

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Z. B. mehrfach Jürgen Habermas; vgl. auch – eingeschränkt auf die praktische Philosophie – Riedel 1982, 17 und 27: „Im Gegensatz zur philosophischen Tradition beschränkt Hegel das praktische Verhalten weder auf den Begriff des mitmenschlichen Handelns noch, wie Kant und Fichte, auf das innere Wirken der moralischen Subjektivität, die nur ihre eigene Sinnlichkeit sich gegenüber hat, sondern bezieht es in die Dimension der Auseinandersetzung von Mensch und Natur oder – in transzendental-philosophischer Verallgemeinerung ausgedrückt – Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich ein. Die neue Deutung des Arbeitsbegriffs veranlaßt einen grundlegenden Wandel in den Prinzipien und Bauformen der praktischen Philosophie.“ 102 Walter Ch. Zimmerli, „Schelling in Hegel. Zur Potenzenmethodik in Hegels System der Sittlichkeit“, in: Ludwig Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 255–278. 103 G. W. F. Hegel, System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts], mit einer Einleitung von Kurt Rainer Meist herausgegeben von Horst D. Brandt, Hamburg 2002. 104 Vgl. Forschungsbericht.

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2. Forschungsbericht und Interpretationsgeschichte Wenn Troeltsch vor etwa 100 Jahren glaubte feststellen zu dürfen, über Kant sei nun eigentlich alles Wesentliche gesagt, so wollte er wohl ausdrücken, daß die Kantischen Texte durch exzellente Interpretationen bereits erschlossen waren.1 Wenn jene Werke also der Tendenz nach überinterpretiert waren, so muß man vom Hegelschen System der Sittlichkeit hingegen sagen, daß es zu den unterinterpretierten Texten gehört. Das überrascht um so mehr, als auch die Zahl der Publikationen über Hegel in die Höhe geschossen ist und von einem einzelnen Forscher eigentlich nicht mehr überblickt werden kann. Wenn Adolphi noch 1989 schrieb, das System der Sittlichkeit gelte in der Forschung nicht viel, so hat sich an diesem Umstand bis heute wenig geändert.2 Man darf es dann bereits als Fortschritt betrachten, daß Schnädelbach es im Jahre 2000 in den Kanon der interpretationswürdigen Schriften Hegels zur praktischen Philosophie aufgenommen hat.3 Hatte Adolphi, als er in seiner Studie auf das System der Sittlichkeit zu sprechen kam, wegen der (wahrscheinlich zu Recht) unterstellten Unkenntnis des Manuskripts eine Art tabellarisches Inhaltsverzeichnis desselben gegeben,4 so bietet Schnädelbach zwar eine ziemlich umfangreiche Gesamtdarstellung, wertet es jedoch gleichzeitig zu einem eigentlich bloß historisch interessanten Zeugnis ab: „Die Kenntnis des Systems der Sittlichkeit ist vor allem wichtig, um etwas von den ideengeschichtlichen Ursachen wie den inhaltlichen und methodologischen Gründen zu verstehen, die erklären, wie Hegels praktische Philosophie die Gestalt annahm, die sie in ihrer endgültigen Entwicklung aufweist.“5 Damit nähert sich Schnädelbachs Einschätzung auf erstaunliche Weise derjenigen Rosenkranz’ an, dem wir überhaupt die erste Erwähnung jenes Manuskripts und ebenso die Titelgebung desselben verdanken. Auch Rosenkranz war nicht an dem Eigenwert des Systems der Sittlichkeit interessiert, erwähnte es aber aus einer Art geistiger Pietät und aus der Beobachtung heraus, daß auf dem Weg zur endgültigen Gestalt des Hegelschen Systems verschiedene Zwischenstufen zu durchschreiten waren. Es versteht sich von selbst, daß im folgenden Forschungsbericht nicht auf alle Texte eingegangen werden kann, die überhaupt jemals das System der Sittlichkeit erwähnten. Ich beschränke mich daher auf exemplarische, wesentliche Deutungen, wobei die frühen Thematisierungen angesichts ihrer Spärlichkeit und teilweisen Unzugänglichkeit etwas ausführlicher behandelt werden.

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Ernst Troeltsch, „Das Historische in Kants Religionsphilosophie“, in: Kant-Studien Bd. 9 (1904), 21–154. Rainer Adolphi, Spekulative Begründung und inhaltliche Erkenntnis in der praktischen Philosophie Hegels, Bonn 1989, 94. Schnädelbach 2000. Vgl. Adolphi 1989, 106–109. Schnädelbach 2000, 113.

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2.1. Forschungsliteratur bis zur ersten vollständigen Edition des Manuskripts Die Blickrichtung auf das reife System und der Wunsch, eine homogene Entwicklung desselben präsentieren zu können, bestimmten Rosenkranz’ Referat des Systems der Sittlichkeit in seiner Hegelbiographie.6 Natürlich darf man in einer Biographie keine vollständige Schilderung eines aufgefundenen Manuskripts erwarten, schon gar nicht die höchst diffizile Herleitung der Themen. Dennoch ist offensichtlich, daß Rosenkranz die verschiedenen Teile extrem unterschiedlich gewichtete und sich in seiner Berichterstattung beinahe ganz auf den dritten Teil konzentrierte. So gab er überwiegend solche Passagen wieder, die kaum als sonderlich aufregend empfunden werden konnten, da es sich großenteils um antikisierende Lösungsvorschläge handelte. „Die Philosophie der Sittlichkeit war zwar nicht im Prinzip, wohl aber in der Entwicklung des Besonderen als sehr Platonisirend von ihrer späteren Gestalt außerordentlich verschieden.“7 Die zum späteren Hegel weniger passenden ersten beiden Teile des Manuskripts wurden hingegen viel zurückhaltender, sparsamer mitgeteilt. Rosenkranz’ vorrangiges Interesse galt Hegels Systemgedanken, und so betrachtete er sämtliche Fragmente, z. T. sogar die der Frankfurter Zeit, als Vorformen des reiferen und fertigen Systems. In den Jenaer Schriften glaubte er die „Embryonalform“ des späteren enzyklopädischen Systems erkennen zu können. Dennoch hatte Rosenkranz, der Hegel noch selbst kannte, ein feines Gespür für die Probleme des Textes, und auch der von ihm gewählte und seither beibehaltene Titel erwies sich als passend. Völlig zutreffend ist ebenso seine systematische Einordnung des Systems der Sittlichkeit als eine Philosophie des Geistes: „Die Philosophie des Geistes arbeitete Hegel damals, bevor er zur Phänomenologie gelangte, nur als System der Sittlichkeit aus.“8 Auch Rudolf Haym betrachtete das System der Sittlichkeit vor allem als ein Durchgangsstadium Hegels. Da er aber, anders als Rosenkranz, gerade nicht Hegels reifes System zu verteidigen gedachte, sondern vielmehr Leistungen und Irrtümer des Autors abwägen wollte, erscheint seine Schilderung des Manuskripts nüchterner, und tatsächlich ist sie auch vollständiger, was die ersten beiden Manuskriptteile betrifft.9 Daß 6 7 8

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Rosenkranz 1844. Rosenkranz 1844, 124. Rosenkranz 1844, 124. Die Frage, wie Hegels System zu jener Zeit genau beschaffen war (ob es z. B. drei- oder vierteilig war), wird in der Forschung – wie oben erwähnt – weiterhin diskutiert. Haym berichtet in einem Brief vom 20.11.1856 an Friedrich Förster über die Motive seiner Schrift: „Es würde jedoch ein Mißverständnis sein, wenn Sie eine förmliche Biographie, bestimmt etwa, die Rosenkranzische, überflüssig zu machen, vermutheten. […] ihr Hauptzweck indeß geht auf eine Darstellung der Entstehungs- u[nd] Entwickelungsgeschichte, – auf eine historisch-pragmatische Kritik mithin der Hegelschen Philosophie. […] Die Zeit ist vorüber, in welcher man der Wahrheit durch ein unbedingtes Präconisiren der Hegel’schen Philosophie meinte einen Dienst erweisen zu können. […] Die Absicht, diese Philosophie historisch erklären zu wollen, schließt eo ipso jedes panegyrisch-parteiische Verhalten aus. Sie schließt dagegen nicht die höchste Pietät vor der geistigen Größe ihres Urhebers aus; sie beruht vielmehr ganz u[nd] gar auf der Überzeugung von der epochemachenden Bedeutung u[nd] dem nicht bloß wissenschaftlichen, sondern universellen Wer-

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innere Distanz zum Autor mitunter treffendere Diagnosen ermöglicht, wird insbesondere an Hayms Korrektur der Datierung des Manuskripts deutlich.10 Ohne daß ihm moderne kriminaltechnische Mittel zur Verfügung gestanden hätten, vermochte er es, für den Text das wirkliche Entstehungsjahr zu benennen. Diese erstaunliche Fähigkeit fällt um so mehr auf, wenn man bedenkt, daß Kuno Fischer – ein so vorzüglich orientierter, umsichtig urteilender Philosophiehistoriker – ohne ersichtliche Skrupel Hayms Datierung zurücknehmen zu dürfen glaubte.11 Haym widmet dem System der Sittlichkeit eine ganze „Vorlesung“ seines Buches, in deren Titel er es als „Vollendung des Systementwurfs unter Schelling’schem Einfluߓ, im Inhaltsverzeichnis als „Schlußglied seines Systems“ bezeichnet.12 Haym nimmt das Reinschriftmanuskript als „ein unwidersprechliches Zeugniߓ dafür, daß Hegel trotz der bereits spürbaren Überlegenheit gegenüber Schelling in einem Punkte „zunächst der Ueberwältigte“ blieb; dieser Punkt war „die Form des Schelling’schen Philosophirens“.13 Gleichzeitig aber stellt das System der Sittlichkeit ein Dokument der Hegelschen Eigenständigkeit dar: „Hegel’s eigenste Richtung und seine Selbständigkeit, es ist wahr, spricht sich in dem Versuche aus, der neuen Philosophie ein Gebiet zu erobern, für welches Schelling, weder damals noch später, ein Interesse bezeigte. […] Auch ohne Schelling würde dieser dritte Theil des ganzen Systems, auf welchen die beiden früheren, als auf ihren nothwendigen Abschluß und als auf ihre Wahrheit hinwiesen, zu Stande gekommen sein.“14 Haym bezeichnet diesen dritten Teil, der den Abschluß zu Logik, Metaphysik und Physik bildet, als eine „Ethik“, welche „auf der Anschauung des sittlichen Lebens der classischen Völker“ ruhe: „Sie ist, um die ganze Wahrheit zu sagen, ihrem Inhalt nach, eine Beschreibung, ihrer philosophischen Form nach, eine Absolutisirung des privaten und öffentlichen, des socialen, des künstlerischen und des religiösen Lebens der Griechen.“15 Haym kann in jenem Schlußglied des Systems trotz der neuen methodischen Möglichkeiten nichts anderes als lediglich eine ideale Vergegenwärtigung einer vergangenen Wirklichkeit erblicken, Hegel ruhe „jetzt, am Ende seines Sytems, bei der Wirklichkeit aus, deren Widerschein und Product blos in den bisherigen Theilen zum Vorschein gekommen war. Seine Philosophie endet, indem sie gleichsam aufhört, Philosophie zu sein, indem sie ihre Begriffswelt in die wirkliche, in jene bestimmte vergangene Geschichtswelt auflöst, der in den Gedanken der Gegenwart, mittelst einer neuen Ansicht von den Denkformen, von dem Uebersinnlichen und

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the einer in die ganze Entwickelung des deutschen Lebens mächtig eingreifenden u[nd] mit dieser zu Einem Stücke gehörenden Lehre.“ Zitiert nach Jamme/Schneider 1990, 14f. „Für das Wintersemester des Jahres 1802 hatte er [Hegel] eine Vorlesung über Naturrecht angekündigt. Ohne Zweifel für diese Vorlesung arbeitete er jetzt in einem zweiundzwanzig Bogen starken Manuscript das ‚System der Sittlichkeit‘ aus.“ (Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie, Berlin 1857, unveränderter fotomechanischer Nachdruck: Hildesheim 1962, 159) Vgl. Kuno Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre (Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 8), Heidelberg 1901, 278ff. Haym 1857, 159 und VIII. Haym 1857, 159. Haym 1857, 159f. Haym 1857, 160.

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von dem Natürlichen eine doch nur ideale Präsenz von Neuem konnte errungen werden.“16 Haym machte auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam, daß Hegel zuvor eigentlich bereits einmal wesentlich „progressivere“ Ansichten zum Staat geäußert und dabei auch die modernen Veränderungen berücksichtigt hatte; er sieht eine starke Diskrepanz zwischen der Verfassungsschrift und dem System der Sittlichkeit, vor allem dessen dritten Teil. In der Tat muß man sich fragen, woher diese auffallenden Differenzen stammen. Hayms Erklärung befriedigt freilich nicht: Hegel habe je nach Anlaß mal dies, mal das vertreten. Man wird Hegel eher gerecht, wenn man sich die jeweiligen Ausrichtungen der verschiedenen Schriften vergegenwärtigt. Rosenzweig hat diesen Sachverhalt später viel angemessener beurteilt.17 Auch Karl Rosenkranz ignorierte (wie Kuno Fischer) Hayms Vorschlag zur Umdatierung des Manuskripts, als er 1870 in einem mit „Der Embryo des Hegel’schen Systems“ betitelten Abschnitt seines Buches Hegel als deutscher Nationalphilosoph erneut das System der Sittlichkeit thematisierte.18 Interessanterweise benutzte er es auch noch als einen Beweis, der Hegels Eigenständigkeit gegenüber Schelling dokumentiere. Obwohl dieser Befund aufgrund der im Manuskript behandelten Thematik sachlich zutrifft, muß man Rosenkranz’ auf falscher Datierung basierende Beweisführung ablehnen: „In den herkömmlichen Geschichten der Philosophie pflegt Hegel als ein Schellingianer behandelt zu werden, der sich später von Schelling lossagte. So lange man nur die Schriften beider, welche sie selber veröffentlichten, besass, konnte man auch kaum anders urtheilen. Jetzt aber, nachdem ich in dem ‚Leben Hegel’s‘ die Beweise gegeben habe, dass er nach Jena ein eigenthümliches System mitbrachte, vermögen wir seine ursprüngliche Stellung zu Schelling richtiger zu fassen und die Kritik des Fichte’schen und Schelling’schen Systems, mit welcher er als Schriftsteller zuerst auftrat, besser zu verstehen.“19 Das System der Sittlichkeit jedoch hatte Hegel nicht nach Jena mitgebracht, sondern dort geschrieben.20 Rosenkranz bezeichnet das System der Sittlichkeit wie schon 1844 als Philosophie des Geistes, welche von Hegel als dritter Teil seiner Philosophie „jedoch, Platon sehr ähnlich, nur erst als Ethik“ ausgearbeitet worden sei.21 Gegenüber Schelling, der sich im Anschluß an Fichtes Wissenschaftslehre hauptsächlich mit der Geschichte des Bewußtseins beschäftigt und auch im System des transzendentalen Idealismus nur flüchtig den Begriff des Staates berührt habe, auch später nur selten und eher ausweichend darauf zurückgekommen sei, sei Hegels von vornherein lebhaftestes Interesse für die Idee des 16 17 18

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Haym 1857, 161. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 138f. Im Vorwort beklagt Rosenkranz sich bitter über den verständlichen Erfolg von Hayms Buch und die Nichtbeachtung seiner Apologie Hegels gegen Dr. Haym (VIf.). Über seine neue Schrift sagt er: „Zu meinem ‚Leben Hegel’s‘ hat sie das Verhältniss einer Ergänzung“ (VII). Karl Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, 43. Zu der von Rosenkranz ausgehenden falschen Annahme einer sogenannten „Fortsetzung“ des Systems der Sittlichkeit vgl. den editorischen Bericht der Herausgeber (V 668f.). Rosenkranz 1870, 55. Es fällt auf, daß Hegels System der Sittlichkeit hier – wie schon von Haym – als Ethik bezeichnet wird.

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Staates unleugbar. Als Zeugnis dieses Interesses bemüht Rosenkranz das System der Sittlichkeit. Dennoch hat man den Eindruck, daß er mit einer gewissen Reserviertheit über das Manuskript spricht: „Es wird nicht überflüssig sein, uns mit kurzen Zügen die Urgestalt, welche die Idee des Staates bei Hegel annahm, zu vergegenwärtigen, weil sie uns den Einblick in seine spätere Philosophie des Geistes sehr erleichtern wird. Sie wird uns, bei aller Abweichung, auch schon diejenigen eigenthümlichen Gedanken verrathen, denen Hegel auf diesem Gebiete immer nachgehangen hat und in denen er theilweise auch seine Schranke fand, denn auch Hegel war, seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, ein Sohn seiner Zeit.“22 Und kurz darauf wird deutlich, daß für Rosenkranz das System der Sittlichkeit eine unausgewogene und unfertige Arbeit Hegels darstellt: „Allein wie schwer es ihm wurde, sich zu einer positiven Totalität abzuschliessen, erkennen wir leicht aus der zwiespältigen Weise, mit welcher sein Entwurf von ganz abstracten Wendungen in ganz concrete herunterfällt und die Grenzen der besondern Sphären bald überscharf trennt, bald überstumpf ineinanderlaufen lässt.“23 Hatte Rosenkranz 1844 über die Einteilung des Systems der Sittlichkeit noch lobend geäußert, sie habe trotz ihrer Abstraktheit „vor der späteren Systematik unleugbar den Vorzug größerer Einfachheit“,24 so schließt sich nun an die Präsentation der Gliederung eher eine mürrische Unzufriedenheit an: „Man wird zugeben, dass diese Ueberschriften sehr mangelhaft sind, weil sie zu wenig Specifisches sagen. Die Sittlichkeit im Verhältniss? Verhältniss ist eine so weite Kategorie, dass sie erst dann befriedigt, wenn ich weiss, wozu das Verhältniss stattfindet.“25 Andererseits nimmt Rosenkranz Hegels Entwurf gegen Kritik in Schutz, die sich erst aus der geschichtlichen Distanz hätte ergeben können.26 Hatte Rosenkranz in seiner Biographie das Manuskript vor allem mitteilen wollen und es deshalb in seinem generellen Verlauf relativ vollständig referiert, so faßt er sich nun viel kürzer; es dient ihm zwar noch als Beweis für Hegels Eigenständigkeit, ansonsten aber erscheint es eher als kränklicher früher Versuch. Im Jahre 1893 edierte Georg Mollat das Hegelsche Manuskript in Auszügen und mit eigenen Einschüben. In seinem einseitigen Vorwort präsentiert Mollat das Manuskript als das „philosophische Gegenstück zu der politischen Jugendarbeit des gefeierten Denkers“, gemeint ist die Verfassungsschrift, die er einige Monate zuvor gleichfalls aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegeben hatte. Obwohl Mollat beklagt, dem System der Sittlichkeit sei „trotz seines entschiedenen Werthes für das Verständniss und die Beurtheilung der Hegelschen Rechts- und Staatslehre sowie ihrer Geschichte die gebührende Beachtung bisher nicht zu Theil geworden“ (nur Rosenkranz und Haym hätten „die hohe Bedeutung dieses Entwurfes vortrefflich beleuchtet“), hält er 22 23 24 25 26

Rosenkranz 1870, 56. Rosenkranz 1870, 57. Rosenkranz 1844, 124. Rosenkranz 1870, 57. Zum Problem des Kriegerstandes merkt er beispielsweise – als Dokument des Zeitbewußtseins höchst aufschlußreich – an: „Wenn uns diese Auffassung jetzt als beschränkt vorkommen kann, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass Hegel damals noch Zustände sich gegenüber hatte, welche weit davon entfernt waren, in der Berechtigung zur persönlichen Theilnahme an dem Kriegerstande die höchste patriotische Ehre zu sehen.“ Rosenkranz 1870, 58.

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die vollständige Edition für überflüssig. Er bemerkt ausdrücklich, „dass der Abdruck des ungekürzten Systems und ebenso des Anhanges aus sachlichen Gründen weder geboten noch wünschenswert erschien. Deshalb sind allein die wichtigsten Abschnitte wörtlich, die übrigen dagegen im Auszuge mitgetheilt“.27 Der Anhang enthält auf 15 Seiten Auszüge aus den etwas späteren Jenaer Manuskripten zur Philosophie des Geistes. Kuno Fischer, der sich kaum und nur im Zusammenhang mit der Darstellung des Naturrechtsaufsatzes zum System der Sittlichkeit äußert, sich lieber an „den Gang des Systems, wie Hegel denselben öffentlich beurkundet hat“ hält, macht Hayms richtige Datierung rückgängig. Interesse verdient aber seine Begründung, weil sie sich auf die auffällige Diskrepanz des Explikationsniveaus Hegels in diesen beiden Schriften beruft. Fischer vermißt bei Haym „die zureichende Begründung“ für seine Umdatierung und erklärt sodann, er könne sich nicht vorstellen, „daß Hegel so gut wie gleichzeitig ‚das System der Sittlichkeit’ geschrieben und den Aufsatz über ‚die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts’ habe drucken lassen“.28 Einen wesentlichen Einschnitt für die Rezeptionsgeschichte stellt die Arbeit Die Jugendgeschichte Hegels von Wilhelm Dilthey dar. Meines Wissens ist er der erste Autor, der Hegels frühen Manuskripten einen Eigenwert zuspricht und sie nicht mehr als lineare Vorarbeiten des reifen Systems begreift. Sie enthalten ja auch im Gegenteil sogar Auffassungen (z. B. die Religionskritik), die die spätere Kritik an Hegel vorwegzunehmen scheinen.29 Überhaupt ist Dilthey der erste Hegelforscher, welcher eine Gesamtdarstellung der Jugendschriften Hegels verfaßte. Es handelt sich dabei um eine entwicklungsgeschichtliche Interpretation, die das Hegelsche System als ein historisch gewordenes betrachtet.30 Insofern können die frühen Entwürfe nicht einfach unfertige Vorstufen des Systems darstellen, sondern müssen als eigenständige Konzeptionen angesehen werden. Auch unterscheidet Dilthey bereits verschiedene Entwicklungsphasen des jungen Hegel. Dilthey hatte einige Jahre bevor er die Preisfrage (die letztlich indirekt zur Publikation seines Buches führte) gestellt hatte anläßlich der Rezension des Hegelbuchs seines Lehrers Kuno Fischer bereits die immer noch offenbleibende Aufgabe umrissen: „Die Aufgabe wäre, in den Manuskripten die allmähliche Ausbildung seiner Methode, Geschichtliches begrifflich zu bestimmen, näher nachzuweisen. Dann auch inhaltlich aufzuzeigen, wie aus den Gegensätzen des jüdischen Moralismus, der ästhetischen Lebendigkeit des in der Fülle der Formen Leben in Gestalt ausbreitenden 27

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Georg Mollat, „Vorwort“, in: System der Sittlichkeit. Von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers herausgegeben von Dr. Georg Mollat, Osterwieck/Harz 1893. Fischer 1901, Bd. 8, 278, Anmerkung 2. Auch Lukács betrachtet den Naturrechtsaufsatz als auf „einer viel höheren Stufe der Reife und Eigenart“ stehend und datiert das System der Sittlichkeit vor dem Naturrechtsaufsatz. Vgl. Lukács 1948, 412, 474f. und öfter. Vgl. Klaus Düsing, „Jugendschriften“, in: Pöggeler 1977, 28–42. In seiner Rezension des 1887 erschienenen Briefwechsels von Hegel hatte Dilthey schon behauptet: „Die Zeit des Kampfes mit Hegel ist vorüber, die seiner historischen Erkenntnis ist gekommen. Diese historische Betrachtung wird erst das Vergängliche in ihm von dem Bleibenden sondern“, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. XV, 316.

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Griechentums und der gestaltlosen Innerlichkeit der Religion Christi schrittweise die Konstruktion des geschichtlichen Lebens in der Phänomenologie erwächst. […] Die schwierigste Frage ist die Ausbildung der dialektischen Methode und der Architektonik des logischen Systems.“31 Über das Hegelsche Manuskript des Systems der Sittlichkeit erfährt man bei Dilthey konkret gar nichts.32 Dennoch ist Diltheys Buch als ein wichtiges Werk zu betrachten, das zudem auf den letzten Seiten noch einen Ausblick auf das entstehende System gibt und die Natur-Geist-Problematik umreißt sowie die gravierenden Unterschiede gegenüber Schelling benennt.33 Die Aufnahme des Manuskripts in die Werkausgabe des Meiner-Verlags war natürlich für die Rezeptionsgeschichte desselben der entscheidende Einschnitt. Nun, 1913, wurde es erstmals vollständig von Georg Lasson ediert und damit ohne weiteren Aufwand zugänglich. Der Herausgeber schrieb auch eine kurze Einleitung, die einige wichtige Hinweise zum Aufbau, zur Konstruktion des Manuskripts enthält. Die abschließenden Bemerkungen dokumentieren jedoch unmißverständlich Lassons Einschätzung: „Daß gegen den prachtvoll gegliederten Reichtum des Aufbaus, den Hegel in seiner Rechtsphilosophie entfaltet hat, dieses Werk aus der Zeit seines langsamen Reifens unendlich zurückbleibt, braucht nicht gesagt werden. Daß es uns einen Einblick in die Werkstatt seiner Gedanken und in das Werden seiner methodischen Meisterschaft ermöglicht, wird es uns immer wertvoll machen. Es ist lehrreich und tröstlich zugleich, zu sehen, mit wie mühsamen Schritten ein Denker wie Hegel zu der Höhe methodischer Erkenntnis hat emporklimmen müssen.“34 Lassons Edition trug zweifellos dazu bei, daß das Manuskript als solches bekannter wurde, und sie beförderte selbstverständlich dessen Lektüre. Obwohl es nicht zu einem populären Werk wurde – was von seiner Anlage her wohl auch nicht möglich ist – fand es nun immerhin Eingang in verschiedene, vor allem werkgeschichtliche Monographien.

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Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. XV, 353 und 355. Gleiches gilt leider auch für zwei weitere wichtige, etwas spätere Werke zu Hegels Philosophie: Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, II. Hegel, Berlin 1929; Richard Kroner, Von Kant zu Hegel, Bd. I: Von der Vernunftkritik zur Naturphilosophie, Bd. II: Von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes, Tübingen 1921–1924. Dort heißt es im Bd. II (Neuauflage 1961), 252 in einer Fußnote: „Die Entwicklung des Hegelschen Denkens, soweit sie sich in der Stille vollzogen hat, ist hier nicht weiter zu verfolgen; vgl. dazu Rosenzweig 1920, Bd. I. Es wäre zu wünschen, daß die von R. benützten Manuskripte bald gedruckt würden; bis jetzt liegt nur das sog. System der Sittlichkeit vor.“ Auf dieses geht Kroner jedoch nicht ein. In der Gesamtausgabe der Werke Diltheys finden sich im Band 5, von seinen Schülern der Schrift beigegeben, Fragmente zu Hegels philosophischer Entwicklung (aber auch darin keinerlei Betrachtungen Diltheys zu Hegels System der Sittlichkeit). Im Bd. 1 der Hegel-Studien sind diese Fragmente vollständig abgedruckt (103–134) – in der Gesamtausgabe war nur eine Auswahl publiziert; auch hier jedoch keine Erwähnung des Hegelschen Manuskripts. Georg Lasson, „Einleitung des Herausgebers“, in: G. W. F. Hegel 1923, XL.

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2.2. Zur weiteren Rezeptionsgeschichte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Hildegard Trescher sprach dem System der Sittlichkeit eine wesentliche Bedeutung für die Herausbildung der Hegelschen Staatskonzeption zu: Hegel reagiere darauf, daß weder Kants noch Fichtes Lehre den Staat als sittliche Einheit zu erfassen vermochte.35 Wie auch im Naturrechtsaufsatz zeige Hegel, in welcher Hinsicht man ein Volk als sittliche Totalität betrachten müsse und wie die Sittlichkeit des Staates herzuleiten sei.36 Erst Hegel gelinge es, den Staat als einen sittlichen Organismus zu betrachten. Wichtig sei, daß das von Hegel proklamierte Einssein von subjektivem Denken und Wollen mit dem Allgemeinen nicht ein irgendwie natürlich Gegebenes ist, sondern von ihm als „das Resultat eines Werdeprozesses“ gezeigt wird. Um den Staat als sittlichen Organismus präsentieren zu können, müsse Hegel den Staat auch in seiner natürlichen sozialen Gliederung und inneren Einrichtung darstellen.37 Trescher bemerkt, daß – trotz der starken Anlehnung an Platon – Hegels Ständegliederung eine Ausschließung und Isolierung der Stände vermeidet und vielmehr Ausdruck „der stufenweisen Darstellung des allgemeinen Geistes“ sei: „Die drei Stände im staatlichen Organismus werden zu verschiedenen Modifikationen der sittlichen Totalität, deren jede sich zwar als Individualität und somit als Besonderheit organisiert hat, aber Wert und Daseinszweck erst als Moment am Staatsganzen erhält.“ In dieser Idee der Einheit des Staates in der Vielheit der natürlichen Gliederung des Volkes erkennt Trescher einen „der Grundgedanken der späteren Staatslehre Hegels, in der er jedoch die platonisierende Form aufgibt und sich mehr den gegebenen politischen Verhältnissen seiner Gegenwart anpaßt.“38 Indem Hegel das in seiner Sphäre selbständige Individuum in den gesamten Organismus eingliedere, versuche er das Prinzip der Staatszentralisation mit dem der Selbstregierung zu vermitteln. Trescher sieht darin eine Vereinigung des konservativen Prinzips der Erhaltung „mit dem liberalen des Fortschritts und der Bewegung“.39 Auch dieser Gedanke zeichne die spätere Rechtsphilosophie aus. Eine bedeutende, noch immer lesenswerte Arbeit legte im Jahre 1920 Franz Rosenzweig vor.40 Sie unterscheidet sich von den vorangegangenen Thematisierungen des Systems der Sittlichkeit schon dadurch, daß sie eine systematische Fragestellung verfolgt und nicht primär historisch orientiert ist. Rosenzweig wertet das System der Sittlichkeit als denjenigen Systemteil, „der innerhalb des Systems stofflich fast mehr als irgend ein anderer philosophisches Neuland für die idealistische Bewegung erschloß.“41 Hier wird also sehr klar bemerkt, 35

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Hildegard Trescher, Montesquieus Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels, Altenburg 1917. Trescher 1917, 71. Trescher 1917, 72f. Trescher 1917, 74. Trescher 1917, 75. Rosenzweig 1920. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 130.

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daß der Hegelsche Text trotz seiner unzulänglichen Form42 einen erheblichen Quellenwert besitzt und in der Philosophiegeschichte eine Sonderstellung einnimmt. Da sich Rosenzweig für den Hegelschen Staat interessiert, werden die ersten beiden Manuskriptteile nur flüchtig charakterisiert, während der dritte Teil eine eingehende Besprechung erfährt. Den Gesamtgang rekonstruiert er im Bemühen um Zuspitzung etwas verkürzend – und m. E. dabei verzeichnend – wie folgt: „Aus Familie und Krieg baut der Philosoph das Wesen des Staates auf. […] Und Krieg, Wehrverfassung, Vorhandensein oder Nichtvorhandensein kriegerischer Tugenden bestimmen überhaupt den Grundriß dieses Staatsgebäudes.“43 Dagegen wird Hegels Volksbegriff sehr sorgfältig als politische Gemeinschaft analysiert und von „Nation“ oder dem „Volksgeist“ der historischen Schule geschieden. Rosenzweig stellt Hegel in die Reihe der „edelsten Geister in Deutschland“, die „um der inneren Allseitigkeit und Ganzheit willen, die dem Menschen zum Ziel gesteckt sei“, die Ständeordnung des alten Staates attackierten: „Eben jene innere Fülle der Persönlichkeit mit der Machtstruktur des Staates zu verschmelzen, war auch unserem Denker, der in der Reichsschrift die beiden nur nebeneinander gestellt, nicht verschmolzen hatte, philosophische Aufgabe.“44 Rosenzweig korrigiert – das ist m. E. besonders wichtig – und präzisiert die früheren Andeutungen zum scheinbaren Platonismus des frühen Hegel. Hegels ständische Gliederung des Staates sei weitgehend neuartig: „[…] neu in dem Verhältnis des Standes zum Einzelnen wie in der Beziehung des Standes auf den Staat. Hier an Platon oder Aristoteles zu denken, erlaubt eigentlich nur die Fragestellung, nirgends die Antwort.“45 Der neue philosophische Geist habe „viel tiefere Verständnismöglichkeiten geschaffen“.46 Rosenzweig kommt auch auf das Verhältnis des Manuskripts zur sogenannten Verfassungsschrift zu sprechen: „Sichtbar hängen die Staatsideen der Flugschrift und des Systems zusammen in dem Gedanken, daß der Staat wesentlich Macht ist; die Flugschrift stellt das begrifflich hin und baut ihre Reformvorschläge darauf; das System führt es breit ins einzelne der gesellschaftlichen Gliederung hinein.“47 Dabei kommt es allerdings zu einer charakteristischen Verschiebung: „Aus der mittelbaren Teilnahme 42

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„Entsprechend dem allgemeinen methodischen Anschluß dieser Handschrift an Schelling ist auch bei Hegel hier der Gang des Denkers nicht begleitet von einer Bewegung der Dinge, sondern er durchwandelt sie wie wohlaufgestellte Bildwerke eines Museums, bald vergleichend, bald ein neues betrachtend – doch ohne daß die starren Bilder, unter seinem Blick belebt, von ihren Sockeln herniederstiegen und sich im Reigen bewegten“. (Rosenzweig 1920, Bd. 1, 131) Rosenzweig 1920, Bd. 1, 132f. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 134. Zum Volksbegriff 133. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 135. Vgl. an späterer Stelle die Zurückweisung des Vorwurfs von Haym, Hegels Idealstaat sei nicht bloß nach dem Muster, sondern fast nach der Schablone des platonischen gezeichnet. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 142. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 138. Rosenzweig gibt, ohne Haym zu erwähnen, zu, daß es befremdlich erscheinen mag, daß Hegel im System der Sittlichkeit „ein Staatswesen verewigt, über dessen seelenlosen Betrieb der Schreiber der Flugschrift gleichzeitig ein so vernichtendes Urteil fällte. Aber wir erinnerten schon, daß in dem Sinn, mit dem er diese Gesellschaftsgliederung erfüllte, der Philosoph den Gedankenkreis des achtzehnten Jahrhunderts völlig hinter sich lieߓ. (Ebd.)

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Aller ist die organische Totalität des Ganzen geworden, das keinem fremd ist“.48 Rosenzweig drückt deutlich seine Distanz gegenüber dieser Hegelschen Staatsform aus, anerkennt darin aber dennoch fortschrittliche Motive.49 Bedeutung gewinnt Rosenzweigs Buch auch dadurch, daß es konkrete Quellen, z. B. staatsrechtliche Literatur, für Hegels System der Sittlichkeit benennen kann. In diesem Zusammenhang gelingt es ihm auch, „scheinbar verstiegen zeitfremde Gedanken […] in den Zusammenhang der Zeit“ einzuordnen. Beispielsweise kann er nachweisen, daß Hegels auf den ersten Blick antimoderner Vorschlag, den Alten und den Priestern den Erhalt und die Entwicklung der vorhandenen Verfassung anzuvertrauen, auf eine das moderne staatsrechtliche Denken Frankreichs und Deutschlands bewegende Fragestellung reagierte, nämlich die Frage, wie durch die Verfassung selbst die Verfassung zu schützen und weiterzuentwickeln sei?50 Auch zeigt Rosenzweig die Differenzen zu Kant und die Überlegenheit der Hegelschen Position vor allem gegenüber Fichte.51 Paul Vogel machte auf andere wichtige Faktoren des Systems der Sittlichkeit aufmerksam. Sein Buch war durch die zur Feier des 150. Geburtstags Hegels gestellte Preisaufgabe der Philosophischen Gesellschaft in Berlin – „Der Gesellschaftsbegriff Hegels und seine Wirkungen“ – veranlaßt und auch mit dem Preise gekrönt worden.52 Vogel betont insbesondere die Nähe der Gesellschaftslehre des Systems der Sittlichkeit zur späteren Rechtsphilosophie. „Das ist am deutlichsten daran ersichtlich, daß er im ‚System der Sittlichkeit‘ drei Systeme der Regierung unterscheidet: das System des Bedürfnisse [sic!], das System der Gerechtigkeit und das System der Zucht. Freilich ein grundlegender Gedanke der späteren Gesellschaftslehre ist noch nicht da: die wichtige Erkenntnis von der Eigenwertigkeit des Individuums, dessen unendlich mannigfaltige Interessen der Selbstsucht gegen ihren Willen der Verwirklichung der sittlichen Weltordnung dienen.“53 Hegel sei den das Gesellschaftsganze bestimmenden Prinzipien aber bereits auf der Spur gewesen. Merkwürdig ist freilich Vogels Charakterisierung des sozialen Denkens des jungen Hegel als „auffallend national und von Plato stark beeinflußt“. Letztere Bestimmung kann man sicher gelten lassen, sofern man Rosenzweigs 48

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Rosenzweig 1920, Bd. 1, 140. Die Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung und Steuerbewilligung, die zuvor als Forderung aufgestellt wurde, wird im System der Sittlichkeit nicht mehr erwähnt. „Aber sind auch die demokratischen Forderungen im System aufgesogen, so doch nicht verschwunden. Sie haben sich nur in der selben bezeichnenden Art verwandelt wie der ganze Staat der Flugschrift“. (Ebd.) „Das Staatsideal des Systems ist seinem Inhalte nach eine Verklärung absterbender Zustände geworden; aber in dem Licht, das hier Herabsinkendes traf, lagen die belebenden Kräfte eines aufsteigenden politischen Geistes, die in die Zukunft hinauswirkend das Werk Bismarcks vorbereiten und herbeigeleiten sollten“. (Rosenzweig 1920, Bd. 1, 140) Rosenzweig 1920, Bd. 1, 143. Eine entgegengesetzte Interpretation dieser Konstruktion findet sich bei Lukács 1948, 495f. Gleichwohl warnt Rosenzweig vor einer möglichen Überschätzung spezifischer Gedanken des Manuskripts und verweist auf spätere Verdrängung. Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 151. Die Abhandlung erschien, wesentlich erweitert, erst 1925 unter dem Titel „Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz von Stein, Marx, Engels und Lassalle“ als Ergänzungsheft der Kant-Studien. Vogel 1925, 63.

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Hinweise, die Vogel bereits vorlagen, berücksichtigt. Vogels Diagnose trifft dann aber wieder die Sache: „Hegel setzt sich im ‚System der Sittenlehre [sic!]‘ mit Grundbegriffen der Gesellschaftslehre auseinander, indem er die geistige Struktur des sinnlich genießenden Menschen, aus dem sich der Wirtschaftsmensch entwickelt, in die von der Schellingschen Terminologie stark beeinflußte Begriffssprache des transzendentalen Idealismus übersetzt. Die sittliche Entwicklung beginnt mit dem triebhaften Gefühl in der Form des Bedürfnisses.“54 Vogel gibt eine gedrängte, jedoch präzise Zusammenfassung des ersten und dritten Teils, den zweiten Teil erwähnt er dagegen nicht. Er weist außerdem nach, daß die Ständelehre des Systems der Sittlichkeit in mehrfacher Hinsicht von der Auffassung der Rechtsphilosophie abweicht.55 Vogel sieht trotz der Höherbewertung der Rechtsphilosophie die besonderen und aus ihrer Zeit herausragenden Verdienste des Systems der Sittlichkeit. Als das „Bedeutungsvollste“ des Manuskripts betrachtet er, was Hegel über das System des Bedürfnisses gesagt hat. Die „unfertige philosophische Systembildung beeinträchtigt nicht den Wert der bewundernswerten nationalökonomischen Einsicht des jungen Hegel“.56 Vogel zählt wesentliche Motive der Hegelschen Argumentation auf und konstatiert dann: „Alle diese Ansichten, die im System der Sittlichkeit in weniger strenger Folge, metaphysikfrei, der empirischen Betrachtungsweise angenähert, dargestellt werden, kehren in der Rechtsphilosophie wieder, wo sie organisch eingefügt sind in die Lehre von der Entwicklungsgeschichte des absoluten Geistes.“57 Zusammenfassend nennt Vogel das System der Sittlichkeit m. E. zutreffend eine Vorarbeit, „in der Hegel trotz des Schellingschen Einflusses nach einer selbständigen Erfassung objektiv-sittlicher, soziologischer, nationalökonomischer und rechtlicher Probleme ringt“.58 Hegels Manuskript fand auch bei einem Theoretiker Anklang, dessen Lob weniger rühmlich ist. Hermann Heller bezeichnet das System der Sittlichkeit als eine „für Hegels Staatsauffassung hochwichtige […] Schrift“, die er wegen ihrer „stark romantischen Färbung“ aber gerne weiter zurückdatiert wüßte.59 Heller präsentiert Hegel als den Schöpfer einer „Machtethik“, überhaupt sei Hegels damalige literarische Tätigkeit ein 54 55

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Vogel 1925, 64. „Die Stände erscheinen als Momente des Staates und nicht der bürgerlichen Gesellschaft. Mit besonderer Liebe kennzeichnet das System der Sittlichkeit den absoluten Stand, während die Gesellschaftslehre den Gewerbestand in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Von diesem redet der junge Hegel mit einer gewissen Geringschätzung. Das kommt daher, daß er einseitig allein vom Standpunkt der absoluten Sittlichkeit die Stände bewertet, wobei er sich die Sittlichkeit allzusehr als ruhendes System denkt. Es fehlt ihm noch der ungemein fruchtbare Entwicklungsgedanke seiner Rechtsphilosophie, daß die Sittlichkeit mittels unendlicher Differenzierung durch die allerrealsten Realitäten hindurchgehen muß, um sich in vollendetem Sinne zu absolutieren.“ Sofern man diese Perspektive einnimmt, muß die Rechtsphilosophie natürlich als „ungemein tiefer und geläuterter“ erscheinen. (Ebd. 66) Vogel 1925, 66. Vogel 1925, 67. Vogel 1925, 68. Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, (Nachdruck) Aalen 1963, 72. Das Buch wurde 1919 abgeschlossen, erschien 1921; es wird darauf hingewiesen, daß Rosenzweigs Untersuchung nicht mehr berücksichtigt werden konnte (vgl. V).

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„unmittelbarer Ausfluß seines nationalen Machtwunsches“. Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit werden fast ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt interpretiert, so daß Heller folgert: „Diese Staatsethik stellt die völlige Emanzipation der Politik von der Moral dar, die schärfste Absage an jede kosmopolitische Individualethik und richtet sich ebensowohl gegen das Christentum wie gegen Kant.“60 Hellers Text wirkt stellenweise wie eine politische Kampfschrift, er preßt Hegels Texte, bis sie in sein Bild von Hegel als dem Denker des Machtstaatsgedankens passen. Heller feiert den Umstand, daß es Hegel gelinge, den Krieg zu logisieren (und beruft sich dafür auf das System der Sittlichkeit) und kreiert – keinesfalls spöttisch – den Ausdruck „monistische Stahlbadphilosophie“, welche schließlich in der Rechtsphilosophie ihre letzte, zusammenfassende Darlegung gefunden habe.61 Unter einer solchen Perspektive, die in Hegels Weltgeist „nichts anderes als de[n] Ausdruck für die sittliche Berechtigung der nationalistischen Weltmacht“ zu erblicken vermag (während „von einem völkerverbindenden Universalismus […] bei Hegel auch nicht die allergeringste Spur zu finden“ sei), muß Heller dann auch lobend erwähnen, daß Hegel bereits im System der Sittlichkeit den Kolonialimperialismus in Erwägung zieht.62 Hellers Sprachstil verrät seine generelle Haltung auch noch dort, wo er Distanz zu den von ihm „herausgearbeiteten“ Ergebnissen bekundet.63 Damit soll nicht bestritten werden, daß in seinem Buch zutreffende Aussagen enthalten sind. Theodor Haering widmete dem System der Sittlichkeit in einem Vortrag auf dem zweiten Hegelkongreß 1931 in Berlin Aufmerksamkeit. Damals, d. h. sieben Jahre vor dem zweiten Band seiner Hegelmonographie, in welchem er das Manuskript schließlich ausführlich besprach, vermutete er noch einen angeblich verlorengegangenen ersten Teil desselben. Auffallend ist die selten hohe Wertschätzung für den frühen Hegelschen Text, von dem er behauptet, er sei „ein auch heute noch längst nicht ausgeschöpfter Schatz phänomenologischer Weisheit“.64 In seinem zweibändigen Hegelwerk suchte er diesen Schatz zu heben. Obwohl viele der Thesen Haerings inzwischen widerlegt sind (man sogar von einem Veralten dieser Literatur sprach),65 hat er doch einen bedeutenden Anteil an der Erschließung des He60 61 62

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Heller 1921, 78. Vgl. Heller 1921, 121f. Vgl. Heller 1921, 130f. Dort auch gönnerhaft: „In einer Zeit, in der selbst England noch ein halbes Jahrhundert von einem bewußten Kolonialimperialismus entfernt war, zeigen diese Anschauungen Hegels wohl das Maximum eines Verständnisses für Kolonialpolitik, das von einem damaligen Deutschen verlangt werden kann.“ Vgl. z. B. im Vorwort, VI: „Zu beurteilen, was an der aus dieser Weltanschauung sich ergebenden Politik gesund oder ungesund ist, muß selbstverständlich jedermann überlassen bleiben. Ich persönlich, für den diese Arbeit eine Sache innerer Selbstverständigung war, kam dabei zu der Überzeugung, daß vieles in Hegels Machtpolitik als doktrinäre Überspannung abzulehnen sei, daß aber auch vieles davon zur öffentlichen Meinung Deutschlands wird werden müssen, wenn die deutsche Nation sich aus dieser schmerzvollen Gegenwart in eine bessere Zukunft wird retten wollen.“ Theodor Haering, „Der werdende Hegel“, in: II. Hegelkongreß 1931 in Berlin, Tübingen und Haarlem 1932, 35. Vgl. z. B. Horstmann 1977, 44. Scharfe Kritik übt auch Manfred Riedel. Vgl. Riedel 1982, 85, 97 und 106. Riedel verweist darauf, daß viele systematische Fragen „im Neuhegelianismus durch das inhaltliche Interesse an den Begriffen der ‚absoluten Sittlichkeit‘ (Volk, Regierung etc.) übersprun-

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gelschen Manuskripts. Ihm ist eine der umfangreichsten und detailliertesten Analysen zu verdanken, der freilich in wichtigen Punkten widersprochen werden muß.66 Haering hat ein klares Bewußtsein seiner Pionierleistung, das in seinen Äußerungen mitunter etwas aufdringlich wirkt.67 Andererseits ist er ausgesprochen ehrlich, was den Schwierigkeitsgrad des Manuskripts anbelangt: „Die Schwierigkeiten für das Verständnis sind freilich ganz außerordentlich; und ich gestehe offen, daß mir kein anderes Hegelsches Werk auch nur annähernd ähnliche Mühe bereitet und sich erst so allmählich und in durch Jahre getrennten immer neuen Anläufen erschlossen hat.“68 Der Zustand des Manuskripts zeigt nach Haering zwar das „Bild eines unfertigen Ringens“, wodurch aber möglicherweise „die formale und systematische Grundabsicht“ besonders deutlich wird. Haering betrachtet das System der Sittlichkeit als eine Art Gründungsdokument: „Haben wir doch hier die Grundlage aller späteren Hegelschen Geistesphilosophie vor uns, die auch später, trotz anderer äußerer Formulierungen, die Grundidee dieses ersten Entwurfs nie wieder verlassen hat“.69 Haering schildert Themen und Gliederung des Manuskripts, gibt gelegentlich Korrekturvorschläge für die Lassonsche Edition. Er wertet das System der Sittlichkeit unter anderem als einen Versuch, alle Phänomene „als Realisierungen einer letzten und höchsten absoluten Totalität zu erweisen“, die spätere Aufhebung der „Trennung von Logik und Metaphysik“ sei „schon vorweggenommen“.70 Haering sieht in seiner Interpretation des Subsumtionsverhältnisses den „Schlüssel zum Ganzen“. Wie an anderer Stelle gezeigt wird, irrt sich Haering ausgerechnet bei dieser Interpretation.71 In einer Spezialuntersuchung zu Hegels Straftheorie aus dem Jahre 1936 wird das System der Sittlichkeit, „da die meisten in ihm vorkommenden strafrechtlichen Ideen“ entweder schon in den Frankfurter Schriften oder aber im Naturrechtsaufsatz enthalten seien, von Ossip Flechtheim fast nur nebenbei und aus Gründen der Vollständigkeit erwähnt.72 Flechtheims Untersuchung wird hier dennoch angeführt, weil sie den sonst

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gen“ würden; „Ansatz des rechtsphilosophischen Neuhegelianismus war die ‚konkrete Gemeinschaft selbst‘, die man bei Hegel als ‚Gemeinschaft des Volkes im Staate‘ wiederzufinden glaubte“ (Riedel 1982, 85 und 171). Das betrifft z. B. Haerings fehlgehende Interpretation von „Anschauung“ und „Begriff“. Theodor L. Haering, Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Eine chronologische Entwicklungsgeschichte der Gedanken und der Sprache Hegels, Bd. 2, Leipzig und Berlin 1938, 353: „Es ist mir gerade hier wieder ein wirklicher Schmerz, aus bloßen Raumgründen nur das Wichtigste mitteilen zu dürfen, während ich mir ein bis ins einzelne gehendes Verständnis dieser Texte gerade hier zu einem gewissen Verdienst rechne. Gleichwohl hoffe ich, auch für den Leser […] das Verständnis auch zum Übrigen, mindestens in einem bisher nicht möglichen Maße, erschließen zu können, und zugleich damit auch die Grundlage für das Verständnis aller weiteren Formen der Hegelschen Geistesphilosophie.“ Haering 1938, 338. Haering 1938, 339. Haering 1938, 348f. Vgl. das Kapitel zur Terminologie. Haering versucht, seine Interpretation gegen Einwände zu immunisieren (vgl. Haering 1938, 346), ist aber genötigt, Hegel Irrtümer zu unterstellen. (Haering 1938, 347) Ossip K. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, (Nachdruck) Berlin 1975.

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so oft vernachlässigten zweiten Teil des Manuskripts thematisiert und ihm eine tatsächliche Bedeutung zuspricht: „Wichtig und neu ist, daß das Verbrechen in einem besonderen zweiten Abschnitt ausdrücklich als ‚das Negative‘ oder ‚die Freiheit‘ bezeichnet wird.“ Flechtheim interpretiert das Verbrechen so, daß durch dieses eine bestimmte Entwicklung ausgelöst wird: „Denn durch das Verbrechen befreit sich das Individuum von der natürlichen Sittlichkeit. Die Strafe erscheint schon jetzt als die Negation dieser ersten Negation.“73 Als bedeutsam vermerkt Flechtheim den Umstand, daß im dritten Teil des Manuskripts, wo es um den Staat geht, Verbrechen und Strafe noch einmal, nun als Erscheinungen des Systems der Gerechtigkeit bzw. der Rechtspflege behandelt werden.74 Diese Wiederholung sei wichtig, und Hegel habe sie schließlich auch für seine Rechtsphilosophie beibehalten: Sie zeige die Stellung und Bedeutung, „die das Teilsystem von äußerlichen einseitigen Beziehungen – das abstrakte Recht – in dem Gesamtorganismus von allseitigen menschlichen Verhältnissen hat, als den Hegel den Staat ansieht. Das Recht verhält sich demnach zum Staat ähnlich wie im Gesamtsystem die logischen Kategorien zu denen der Natur- und Geistesphilosophie. Es ist die Anatomie im Gesamtkörper, das Gerüst für den vollendeten Bau, der Grundriß zum ausgeführten Werke.“75 Hegel komme außerdem schon im System der Sittlichkeit, indem er bürgerliche und Strafrechtspflege vergleicht, „zu einer klaren Gegenüberstellung des Zivil- und des Kriminalunrechts.“76 Hermann Glockner nimmt das Vorhandensein der Niederschrift des Systems der Sittlichkeit als abschließenden Beweis für seine These, daß das Hegelsche Gesamtsystem zum Zeitpunkt des Erscheinens des letzten Bandes des Kritischen Journals in seiner Grundanlage bereits bestanden habe.77 Das System der Sittlichkeit, so die speziellere These, „enthält das Kernstück der Geistesphilosophie“.78 Glockner betont die enormen Schwierigkeiten dieses Textes sowohl für den heutigen Leser als auch die damaligen – von ihm unterstellten – Zuhörer (Lassons Edition sei „fast unlesbar“).79 Er geht davon aus, daß es sich bei Hegels System der Sittlichkeit um ein Vorlesungsmanuskript handle, das aus didaktischen Gründen und dem Wunsche, auch uneingeweihten Zuhörern verständlich zu sein, auf die Explikation der eigenen logischen Voraussetzungen verzichtet habe, sich statt dessen streng systematisch der Präsentation des neuen Inhalts zuwende. Glockner bezweifelt die Abhängigkeit von Schellings Terminologie und betont ausdrücklich zeigen zu wollen, „daß und wie sich die im System der Sitt73

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Flechtheim 1936, 38. Vgl. auch 40: „Zum ersten Male sucht Hegel einzelne Verbrechenstatbestände als ‚Potenzen der Negation‘ abzuleiten.“ Die „Strafe“ kommt im zweiten Teil des Systems der Sittlichkeit freilich noch nicht vor. Flechtheim 1936, 40. Flechtheim 1936, 40f. Vgl. 41: „Die Frage nach der Strafart und dem Strafmaß tritt […] zum ersten Male in den Gesichtskreis Hegels, ohne doch von ihm schon hier behandelt zu werden.“ Hermann Glockner, Hegel, Bd. 2, Stuttgart 1940. Vgl. Bd. 2, 24: „[S]o wird jeder Kenner der späteren Enzyklopädie zugeben müssen, daß Hegel alle wesentlichen Grundzüge seines Systems ungefähr zur selben Zeit fertig beisammen hatte, als das Kritische Journal zu Ende ging. […] die für den Hegelianismus charakteristische System-Anlage […] stand schon Ende 1802 ebenso fest, wie die Methode der Durchführung.“ Glockner 1940, 370. Glockner 1940, 371.

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lichkeit angewendete Methode ohne weiteres mit jener der Jenenser Logik in Einklang bringen läßt“.80 Gleichwohl sieht er Abweichungen und Sonderformen, welche er jedoch sogleich mit „didaktischen Erwägungen“ erklärt.81 Glockner unterstreicht – ich denke zu Recht –, daß man im System der Sittlichkeit „das verbindende Mittelglied zwischen den Frankfurter Niederschriften und der Phänomenologie des Geistes“ erblicken könne, jedoch sei die Entwicklung unter gewaltigen Anstrengungen verlaufen und das Manuskript damit zugleich das Zeugnis eines inneren Kampfes.82 Glockner sieht trotzdem in Hegels einzigartiger Methode Vorteile und gesteht zu, daß sich ihre Durchführung „als ein hervorragendes heuristisches Prinzip erwies“, die zu geistvollen Analysen geführt habe. Daher würdigt er es insgesamt: „Wäre das System der Sittlichkeit nicht in einer methodisch so wenig glücklichen Form abgefaßt, so könnte man es vielleicht als die beste Einführung in Hegels Weltanschauung bezeichnen. Fast alle Hauptgedanken seiner Berner und Frankfurter Jugendentwicklung sind darin konzentriert.“83 Marcuse bekennt in seinem im amerikanischen Exil erschienenen Hegelbuch: „Dieser Entwurf, das sogenannte System der Sittlichkeit, ist einer der schwierigsten in der deutschen Philosophie.“84 Der Autor beschränkt sich von vornherein auf die Interpretation jener Textstellen, „aus denen die wichtigsten Tendenzen der Hegelschen Philosophie hervorgehen“.85 Wie alle Entwürfe zur Philosophie des Geistes thematisiert das System der Sittlichkeit nach Marcuse die Entwicklung der Kultur, „worunter die Totalität der bewußten, zweckgerichteten Tätigkeiten des Menschen in der Gesellschaft zu verstehen ist. Die Kultur ist ein Reich des Geistes“. Entsprechend wichtig wird deshalb Hegels in der Tat bahnbrechende Analyse jener zweckgerichteten Tätigkeiten. Marcuse betont, „daß Hegel die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und Beziehungen als ein System widerstreitender Kräfte beschreibt, die aus der Weise der gesellschaftli80

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Glockner 1940, 374 (genaue Studien hierzu fertigte später Trede an; vgl. Trede 1972 und 1973). Vgl. auch 372: „Der durchgängige Gebrauch des Wortes ‚Potenz‘ beweist nichts, da dieser Terminus damals überhaupt nicht selten war. Bei Schelling bezeichnete Potenz (nach Hegel, Jubiläumsausgabe, Bd. 19, 669) ‚eine bestimmte quantitative Differenz des Subjektiven und Objektiven‘. In diesem Sinne gebraucht Hegel das Wort nicht. Bei ihm ist Potenz lediglich ein Sammelausdruck für alle Subsumtionsformen sowohl des Begriffs unter die Anschauung, wie der Anschauung unter den Begriff.“ Glockner 1940, 375: „Man möchte sagen: Hegel appelliert im System der Sittlichkeit abwechselnd an Intuition und Reflexion – und dieser regelmäßige Wechsel bildet den eigentlichen Kern der hier angewendeten Sonderform seiner Methode.“ Glockner 1940, 377f. Vgl. dort auch: „Vielleicht nirgends sonst ist der Kampf zwischen Gehalt und Methode bei Hegel so peinlich spürbar wie gerade hier.“ Glockner 1940, 378 und 385. Herbert Marcuse, Reason and revolution, New York 1941. (Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied am Rhein und Berlin 1962, hier: 60) Marcuse 1962, 60. Vgl. 63: „Der erste Entwurf der Hegelschen Sozialphilosophie sprach also bereits die Konzeption aus, die seinem gesamten System zugrunde liegt: die gegebene Gesellschaftsordnung, die auf dem System abstrakter und quantitativer Arbeit beruht sowie auf der Integration der Bedürfnisse durch den Warenaustausch, ist außerstande, eine vernünftige Allgemeinheit zu gewährleisten und zu errichten.“

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chen Arbeit hervorgehen“.86 Da die Gesellschaft außerstande ist, den Markt so zu regeln, daß die aus der Ungleichheit entspringenden Antagonismen überwunden werden können, muß sich die Regierung hierum kümmern. Denn das Problem ist: „Die Arbeit des Individuums garantiert nicht, daß seine Bedürfnisse gestillt werden.“ Marcuse interpretiert Hegels Manuskript derart, daß Hegel aufgrund des Wesens der ökonomischen Struktur, der blinden ökonomischen Mechanismen, welche die Herstellung eines wahrhaft allgemeinen Interesses behindern, eigentlich einen starken Staat zu rechtfertigen sucht: „Hegels Diskussion der verschiedenen Regierungsstufen beschreibt konkret die Entwicklung von einem liberalen zu einem autoritären politischen System. Diese Beschreibung enthält eine immanente Kritik der liberalistischen Gesellschaft; denn das Wesentliche der Hegelschen Analyse besteht darin, daß die liberalistische Gesellschaft mit Notwendigkeit einen autoritären Staat hervorbringt.“87 Hegels Staat soll nach Marcuse also den anarchischen sozialen und ökonomischen Prozeß zügeln. Georg Lukács, der dem frühen Hegel großes Interesse entgegenbringt, ist in diesem Punkt anderer Auffassung – er bezeichnet Hegels Konzept eines zügelnden Eingreifens des Staates als illusionär. Dies könne man exemplarisch vor allem an Passagen des dritten Teils des Systems der Sittlichkeit studieren, welcher durch eine „Mischung von tiefer und richtiger Einsicht in die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung und naiver Illusionen in bezug auf mögliche staatliche und gesellschaftliche Gegenwirkungen“ charakterisiert sei.88 Lukács betont in seiner Untersuchung, wie der Titel schon ankündigt, Hegels Verknüpfung von Ökonomie, Gesellschaftswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Ihn leitet die Frage, wie Hegel „die Ergebnisse der entwickelsten ökonomischen Wissenschaft für die Erkenntnis gesellschaftlicher Probleme auswertete und […] jene dialektischen Kategorien in philosophischer Allgemeinheit zu entdecken und darzulegen“ begann.89 Lukács stellt Hegels Originalität gegenüber der philosophischen Tradition dar und erklärt, weshalb zuvor die Verarbeitung von Einflüssen der ökonomischen Forschung keine gravierenden Auswirkungen hatte; erst Hegel versucht ernsthaft, „den wirklichen, ganzen, ungeteilten, vergesellschafteten Menschen in der konkreten Totalität seiner gesellschaftlichen Tätigkeit“ zu begreifen.90 Der „springende 86

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Marcuse 1962, 60 und 61. Vgl. 78: „Der Begriff der Arbeit ist in Hegels System nicht peripher, sondern der Zentralbegriff, vermittels dessen er die Entwicklung der Gesellschaft erfaßt.“ Marcuse 1962, 61 und 62. Lukács 1948. Hier: 423. „Hegel spricht […] gesellschaftliche Zusammenhänge mit derselben rücksichtslosen Aufrichtigkeit und Unerschrockenheit aus, die die großen Klassiker der politischen Ökonomie charakterisiert. Die in Deutschland fast unwahrscheinlich scheinende Höhe dieser Einsicht wird dadurch nicht beeinträchtigt, daß bei ihm zuweilen Illusionen darüber auftauchen, als ob die Regierung, der Staat in diese Notwendigkeit eingreifen könnte.“ Lukács beklagt nicht nur die „Illusion, daß die Tätigkeit des Staates, der Regierung die Gegensätze von Reichtum und Armut stellenweise mildern könnte“, sondern vor allem, „daß sie imstande wäre, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft trotz dieser Gegensätze ‚gesund‘ zu erhalten.“ Lucács 1948, 407. Lukács 1948, 410. „Dieses Bestreben geht auf die entscheidenden und letzten Prinzipien der philosophischen Systematisation. […] Insbesondere läßt die Kantische idealistische Sublimierung der Moral keine Möglichkeit dazu, die konkrete Wechselwirkung zwischen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Praxis philosophisch zu ergründen. Der Fichtesche Radikalismus hat diesen

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Punkt“ bei der durch Hegel vollzogenen Wendung der Philosophie „ist gerade die ökonomische, soziale und philosophische Auswertung der von Smith übernommenen Konzeption der Arbeit“. Lukács zeigt, daß Hegel zwar nicht überall „auf der Höhe von Smith“ stehe, doch als erster und mit voller philosophischer Bewußtheit die Bedeutung jener Probleme für ein philosophisches System gesehen habe. Den überhaupt ersten Hegelschen Versuch in dieser Richtung stelle eben das System der Sittlichkeit dar.91 Dessen Terminologie bereite daher noch erhebliche Schwierigkeiten: „Diese Schrift bedeutet den Gipfelpunkt seines Experimentierens mit dem Schellingschen Begriffssystem. Dadurch bekommen seine Ausführungen in diesem Werk nicht nur einen überkomplizierten, unnütz konstruierten, überladenen Charakter, sondern die statische Darstellungsweise ist oft ein Hindernis für die Entfaltung der den Gedanken selbst innewohnenden Dialektik.“92 Lukács analysiert sodann vor allem den Arbeitsbegriff im Hegelschen Manuskript und betont Hegels ehrliche Nüchternheit; Hegel erkenne die durch die kapitalistische Arbeitsteilung einsetzende Fortschrittlichkeit, zugleich aber auch „die mit ihr notwendig verknüpfte Entmenschlichung des Lebens des Arbeiters. Er sieht das als unvermeidlich an und steht als Denker zu hoch, um darüber in romantische Lamentationen auszubrechen; andererseits ist er als Denker viel zu ernst und aufrichtig, um irgendeine Seite dieses Zusammenhanges zu verschweigen oder auch nur in der Darstellung abzuschwächen.“93 Im Resultat seiner Analyse betont Lukács, daß Hegel die alte metaphysische Starrheit der philosophischen Kategorien überwunden habe.94

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Riß nur noch tiefer gemacht. […] Schelling hat weder genügend Interesse für die Gesellschaftswissenschaften und genügend Kenntnisse auf diesem Gebiet, […] um hier eine entscheidende Wendung zu vollziehen. Diese Wendung ist nun das, was Hegel in dieser Periode geleistet hat“. (410f.) Lukács 1948, 411f. Lukács 1948, 412. Interessant ist, daß Lukács zwar von einem Experimentieren Hegels mit der Schellingschen Terminologie spricht, welche Hegel dann notwendig verwirft, daß es sich dabei aber weder um einen Zufall handle, noch diese Methodologie „einfach auf Schellings Einfluß zurückführbar“ sei. „Sie ist vielmehr eine methodologische Notwendigkeit, die sich aus den Widersprüchen der Hegelschen Gesellschaftsauffassung von selbst ergibt“. (Lukács 1948, 473) Lukács 1948, 422. Vgl. Lukács 1948, 464: „Die neuen Fragestellungen Hegels auf dem Gebiet der Philosophie der menschlichen Praxis haben eine starke antifetischistische Tendenz. Die dialektische Erfassung der ganzen Welt als eines bewegten Systems von ineinander übergehenden Widersprüchen äußert sich in der Erkenntnis der Gesellschaft darin, daß Hegel bestrebt ist, alle objektiven Kategorien ökonomischer und sozialer Art als bewegte und widerspruchsvolle Beziehungen der Menschen zueinander aufzufassen. Die Kategorien verlieren dadurch ihre metaphysische, fetischisierte Starrheit, ohne jedoch darum ihre Objektivität einzubüßen.“

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2.3. Jüngere Forschungsliteratur Aufgrund der inzwischen kaum noch zu überblickenden Sekundärliteratur muß im folgenden Abschnitt notwendig ausschnitthaft verfahren werden. Da einige der Autoren in der Hegelforschung weitgehend präsent und ihre Texte zudem leicht zugänglich sind, wird auf sie an dieser Stelle in der Regel nur kurz eingegangen.95 Karl-Heinz Iltings bereits erwähnte Analyse hat auf wesentliche Punkte des Manuskripts aufmerksam gemacht, die zuvor nicht beachtet worden waren.96 Er konnte insbesondere weitere Hegelsche Quellen benennen und damit zeigen, wie sich durch diesen erweiterten Hintergrund der zweite Manuskriptteil besser interpretieren läßt. Sein Vorschlag hat in der Folge dazu beigetragen, der Struktur des Manuskripts im ganzen gerechter zu werden. Ilting weist nach, daß Hegel verschiedene Autoren konsultiert, um ihre Argumente schließlich aber in einem veränderten Kontext dann gänzlich eigenständig zu verwenden. So werde im zweiten Manuskriptteil die Hegelsche Umbildung der antiken Metaphysik offenkundig. Hegel vermochte dies, weil es ihm gelang, die alte Thematik unter Einbeziehung spinozistischer und hobbesscher Theoreme neu zu fassen. Durch die Verschmelzung unter anderem aristotelischer Elemente mit der neuzeitlichen Naturrechtslehre entsteht so bei Hegel ein ganz neuartiges System. Hatte Lukács in seinem vielfach rezipierten Werk bereits die Hegelschen Verdienste bezüglich der Integration der politischen Ökonomie betont, so wird der Hegelsche Arbeitsbegriff von Dubský in den Mittelpunkt einer speziellen Untersuchung gestellt. Dubský zeigt einerseits, wie inspirierend sich die Hegelsche Arbeitstheorie auf die nachfolgende Philosophie ausgewirkt hat (u. a. Marx, v. Stein, Ruge, Roeßler), andererseits, daß ihr Niveau vielfach selbst dort, wo ähnliche Fragen behandelt wurden, nicht mehr erreicht wurde (vgl. seine Scheler- und Heideggerkritik). Das System der Sittlichkeit wird als maßgebliche Quelle präsentiert, und, obwohl Hegel zur Zeit der Abfassung „mit der Identitätsphilosophie Schellings noch durch die Nabelschnur verbunden“ gewesen sei, habe er ganz neue Erkenntnisse bei der Beantwortung gemeinsamer Fragen gewonnen. „Es geht um das Problem der praktischen Stellungnahme, der sogenannten ‚tätigen Seite‘ des Menschen, um das Verhältnis von Subjekt und Objekt, um ihre Differenzen und Indifferenzen, und schließlich um das Verhältnis des Besonderen und des Allgemeinen. Hegel prüfte diese Fragen nicht nur auf eine neue Art, sondern hauptsächlich an einem neuen Stoff.“97 Hegel sei es im System der Sittlichkeit – nach Dubský dem ersten philosophischen Versuch der Erfassung des Arbeitsbegriffs – gelungen, „den wirklichen Prozeß der Differenz des Subjektiven und Objektiven zu beweisen und die einzelnen Phasen dieses Prozesses aufzuzeigen“.98 Durch Hegels Manuskript sei Schelling „mehrfach überholt“ worden: „Ein Ergebnis 95

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Zahlreiche Anregungen durch und Ergebnisse dieser Literatur sind in meine Arbeit eingegangen, wie im Verlauf des Textes und anhand der Nachweise deutlich wird. Ilting 1974. Ivan Dubský, „Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik“ (1961), in: Fetscher 1973, 408–463. Hier: 423f. Dubský 1973, 429.

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dieser Analyse – und nicht das geringste – ist die Beseitigung des exklusiven Charakters der genialen Intuition des künstlerischen Schaffens, welche nach Schelling einzig zur Verbindung der gegensätzlichen Seiten des Allgemeinen und Besonderen, der Form und des Inhalts usw. führte. Weiter wurde im Arbeitsprozeß die wirkliche Einheit von Subjekt und Objekt in ihrer konkreten vermittelten Gestalt bewiesen. Eben hier kann man schon ganz deutlich die Anfänge der dialektischen Logik Hegels verfolgen.“99 Dubský konstatiert, daß im System der Sittlichkeit gleichwohl noch einige Schwierigkeiten bestehen, da nicht genau zwischen der Welt des organischen Lebens und der Arbeitswelt unterschieden werde. Pöggeler hat sich im Rahmen seiner Studien zur Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes mit Sachfragen beschäftigt, die in den Umkreis unseres Manuskripts gehören. Insbesondere hat er zu zeigen vermocht, daß einige der von Hegel berührten Fragen noch immer ihrer Lösung harren und nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Außerdem sind die Differenzen zwischen dem späten und jungen Hegel klar herausgearbeitet; der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß Hegels frühe Fragestellungen für uns relevanter seien.100 Habermas’ Aufsatz „Arbeit und Interaktion“ zeigt exemplarisch, was aus dem frühen Hegel an Anregung und Belehrung zu gewinnen ist, und zwar auch dann, wenn man die Schlüsse von Habermas nicht gänzlich teilt.101 Zum System der Sittlichkeit selbst äußert sich Habermas allerdings fast gar nicht. Die von Habermas herausgestellten Themenkomplexe blieben für sein weiteres, äußerst ergiebiges Forschen bestimmend und wurden von ihm inzwischen ausdrücklich noch einmal aufgenommen.102 Wichtige Impulse für eine produktive Auseinandersetzung mit dem frühen Hegel gingen auch von Manfred Riedel aus. Seine vielfältigen Einzelstudien haben sowohl den geschichtlichen und politischen Kontext der Entstehung des Hegelschen Manuskripts weiter erhellt als auch wichtige begriffsgeschichtliche Hinweise gegeben.103 Das 99

Dubský 1973, 429f. Vgl. exemplarisch: Otto Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes (1973, zitiert nach der zweiten Auflage München 1992); vor allem die Ausführungen 159ff. „[D]ie von Hegel behauptete Erfahrung des Absoluten als der Subjekt-Objekt-Identität kann kaum unsere Erfahrung sein, und so kann sie auch nicht als Leitfaden unserer heutigen Hegel-Aneignung dienen. Das aber heißt, daß uns Hegels Systemkonzeption kaum zugänglich werden kann vom System des späteren Hegel her, das nichts ist als die Selbstentfaltung des Absoluten. Doch der späte Hegel ist nicht der junge Hegel. […] Hegels Jenaer Ringen um die Systemkonzeption läßt sich vom fertigen System des späten Hegel nicht mehr begreifen, weil der junge Hegel noch in einer ganz anderen Weise an die Aufgabe des Denkens herantrat als der späte Hegel.“ Pöggeler spricht sogar von einem „Abgrund“ (162), der Hegels Äußerungen (in der Berliner Antrittsrede) zum – bei den Studenten vorauszusetzenden – Bedürfnis der Philosophie von den Passagen der frühen Differenzschrift über das Bedürfnis der Philosophie trenne. 101 Jürgen Habermas, „Arbeit und Interaktion“, in: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt/M. 1968, 9–47. 102 Vgl. z. B. Habermas, „Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück“, in: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1999, 186–229. 103 Vgl. die in der Literaturliste genannten Arbeiten. Insbesondere sind die Aufsätze aus den sechziger und siebziger Jahren zu nennen: „Freiheitsgesetz und Herrschaft der Natur“, „Hegels Kritik des Natur100

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System der Sittlichkeit erfährt Beachtung im Rahmen von Riedels Bemühen um eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie, vor allem aber als Durchgangsstadium auf Hegels Weg zu seinem endgültigen System. Rolf-Peter Horstmann ordnet – in der Nachfolge Nicolins – das Manuskript in die entstehende Theorie des subjektiven Geistes ein.104 Er zeigt klar, wie sich die Hegelsche Konzeption der Sittlichkeit von derjenigen Kants, Fichtes und auch Schellings abhebt und andere Ziele verfolgt. Hegels Manuskript weist also weit über eine Moralphilosophie (etwa im Sinne Kants und Fichtes), aber auch über Schelling hinaus. Den auffälligen formalen Ähnlichkeiten zu Schellings Philosophie stehen nämlich „grundsätzliche Verschiedenheiten entgegen, die aus dem Hegelschen Begriff der Sittlichkeit resultieren. Denn für Hegel ist hier die Sittlichkeit als absoluter Geist zu bestimmen, an dem das endliche Bewußtsein Anteil nimmt durch den Abbau seiner Beschränkungen und Verhältnisse.“105 Die Aufgabe des Manuskripts sieht Horstmann daher in der „Darstellung des Prozesses, in dem das Bewußtsein sich als identisch mit seiner Idee, der Sittlichkeit, erkennt, sich also als diese Idee realisiert.“106 Unter dieser Perspektive analysiert Horstmann den Aufbau des Manuskripts und deckt – gemessen an Hegels eigenen Forderungen – einige Unstimmigkeiten auf. Da Horstmann vor allem die Entwicklung des Bewußtseins verfolgt, erblickt er in dem Manuskript den „frühesten Entwurf einer Philosophie der Subjektivität“.107 Gleichzeitig bemerkt er aber – seine eigene These einschränkend –, daß eigentlich nicht die Bewußtseinsentwicklung im Mittelpunkt steht, daß eine Theorie des Selbstbewußtseins gar gänzlich fehlt.108 Horstmann hat in weiteren Publikationen immer wieder einzelne Details aufklären können und z. B. den spezifischen, zeitlich begrenzten Gebrauch des Naturbegriffs dargestellt.109 Ebenso klar hat er die Intentionen des Hegelschen Sittlichkeitskonzepts verdeutlicht und die Verschiebungen innerhalb Hegels Theorie selbst nachgezeichnet.110 Gerd Irrlitz betrachtet das Hegelsche System der Sittlichkeit als einen der wichtigsten Texte der Philosophiegeschichte, der einen Wendepunkt in der Tradition der europäischen Metaphysik darstellt.111 Irrlitz hat es 1972 – zusammen mit weiteren Jenaer rechts“, „Die Rezeption der Nationalökonomie“, „Objektiver Geist und praktische Philosophie“, „Dialektik in Institutionen“ (Nachgedruckt in Riedel 1982) sowie weitere Texte im Band: System und Geschichte. Studien zum historischen Standort von Hegels Philosophie, Frankfurt/M. 1973. 104 Horstmann 1968. 105 Horstmann 1968, 91. 106 Horstmann 1968, 92. 107 Horstmann 1968, 99. 108 Vgl. Horstmann 1968, 100f.: „[D]enn nicht der Prozeß des Bewußtseins interessiert im System der Sittlichkeit primär, sondern die formale Rekonstruktion der Identität, der sich der Gang des Bewußtseins unterzuordnen hat.“ 109 Vgl. vor allem: „Probleme der Wandlung in Hegels Jenaer Systemkonzeption“, in: Philosophische Rundschau, 19. Jahrgang, Heft 1/2 (1972), 87–118. 110 Vgl. vor allem Horstmann 1999 und 1974; außerdem: „Subjektiver Geist und Moralität. Zur systematischen Stellung der Philosophie des subjektiven Geistes“, in: Hegels philosophische Psychologie, hg. v. Dieter Henrich (Hegel-Studien Beiheft 19), Bonn 1979, 191–199. 111 Die hier vorgelegte Arbeit geht ursprünglich auf die Anregungen eines Seminars zurück, das von Gerd Irrlitz an der Humboldt-Universität Berlin zum System der Sittlichkeit veranstaltet wurde. In

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Schriften – in einem Sammelband für den Berliner Akademie Verlag herausgegeben. „Die klassische humanistische Intention und zugleich die spekulative Denkform, in der das Problem der geschichtlichen Selbsterzeugung und der kollektiven Selbstbestimmung des gesellschaftlichen Menschen ausgeführt wird, treten hier deutlich hervor.“112 Am Hegelschen Manuskript sei besonders gut zu studieren, für welche Probleme Hegel die dialektische Methode einzusetzen begann: Indem Hegel den absoluten Geist als Sittlichkeit ausführte, vertiefte er das Schellingsche Thema der intellektuellen Anschauung insgesamt „in einem kühnen Versuch zu dem der geschichtlichen Emanzipation des Menschen“. Als eine der bedeutendsten Leistungen des Manuskripts betrachtet Irrlitz den neuen Hegelschen Subjektbegriff: Das Subjekt werde anhand des Arbeitsbegriffs zu fassen gesucht. „Hegel unternimmt tatsächlich den Versuch, ausgehend von der materiellen Vergegenständlichung, die gesamte gesellschaftliche Struktur in einer logischen Entwicklung darzustellen.“113 Hegels Ziel sei es, die absolute Anschauung als die dialektische Identität der Individuen in der Sittlichkeit auszuweisen. Von Shlomo Avineri stammt eine Publikation, die schon früh übersetzt wurde und starke Verbreitung erfuhr: Hegels Theorie des modernen Staates. Hierin erfolgt unter anderem der Nachweis, daß sich das Hegelsche Denken kontinuierlich gesellschaftlichen und politischen Fragen widmete. Avineri gelingt es, die engen inhaltlichen Verklammerungen der Berner und Frankfurter Schriften mit den Jenaer Texten zu zeigen. Das System der Sittlichkeit erfährt in diesem Zusammenhang mehrfach Beachtung und wird dadurch auch im englischsprachigen Raum bekannter.114 Nach Avineri ist dieser Text für das Verständnis der Hegelschen Philosophie unverzichtbar. Johann Heinrich Trede hat in seinem Aufsatz „Mythologie und Idee“ zu zeigen versucht, wie Hegel in den ersten Jenaer Jahren sein Konzept der Sittlichkeit formte und daß es in einem spezifischen Sinn auch als „Naturrecht“ zu verstehen war. Das System der Sittlichkeit interpretiert er als den in Jena vollzogenen und systematisch motivierten Versuch einer Darstellung des Problems der Verwirklichung der Freiheit, der zugleich als Systemabschluß gedacht war: „Die Fragestellung, die nun für die Erörterung praktischer Philosophie leitend wird, ist die nach der Vollendbarkeit eines metaphysischen Systems in dem Sinne, daß an dessen Ende die Anschauung des in der Wirklichkeit des Staates objektiv konstituierten subjektiv-empirischen Bewußtseins identisch wird mit der anfänglichen spekulativen ‚Ansicht der Philosophie‘ und so in deren Anfang zurückkehrt“.115 Dadurch werde das systematische Problem noch ganz im Horizont der praktischen Philosophie erörtert; die Sphäre eines abschließenden, den objektiven Geist zahlreichen Gesprächen unterstrich Irrlitz den exklusiven Stellenwert des Hegelschen Manuskripts. In einem Studienführer (für das Philosophiestudium in der Bundesrepublik Deutschland) empfahl er das System der Sittlichkeit als philosophischen „Geheimtip“. 112 Irrlitz 1972, V–LIII. Hier: LI. 113 Irrlitz 1972, LI. 114 Vgl. das Vorwort von Harris zur amerikanischen Edition: „Hegel’s System of ethical Life: An Interpretation“, in: G. W. F. Hegel, System of Ethical Life and First Philosophy of Spirit, edited by Henry Silton Harris and Thomas Malcolm Knox, Albany, New York 1979, 3–96. Vgl. ebd. 99 Anm. zur Übersetzung. 115 Trede 1973, 171.

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überbietenden absoluten Geistes – wie sie später konzipiert wird – entfällt hier noch. Trede gelingen einige wichtige Korrekturen bisheriger Interpretationsversuche; so kann er zeigen, daß die Negativität einen viel wichtigeren Sinn hat, als bislang angenommen wurde, und ihre Funktion einer selbständigen Logik verpflichtet war.116 M. E. interessiert sich Trede vorrangig für die sich verändernden logischen Implikationen der Jenaer Entwürfe, so daß er sich in seiner Interpretation des Systems der Sittlichkeit auch überwiegend darauf, außerdem noch auf religionsphilosophische Implikationen konzentriert. Die bislang ausführlichste Arbeit zum System der Sittlichkeit hat Gerhard Göhler vorgelegt: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. Der Untertitel dieser ursprünglich als Dissertation verfaßten Schrift besagt, was sie in erster Linie zu sein beansprucht: „Kommentar und Analyse“.117 Dieses Buch hat zweifellos große Verdienste, zumal es den Gehalt der behandelten Texte systematisch zu erschließen und zu ordnen versucht. Es erweist sich daher auch als eine gute Quelle, um etwa die diffizilen Querverbindungen zu den Jenaer Systementwürfen in den Blick zu bekommen. Der Versuch der systematischen Präsentation führt jedoch gelegentlich zu starker Formalisierung und zu bloß von außen herangetragenen und für die Texte unterstellten „logischen Einheitsprinzipien“. Und so ist das Buch nach meinem Dafürhalten vor allem ein nach Gemeinsamkeiten suchender Vergleich zwischen dem System der Sittlichkeit und den geistesphilosophischen Teilen der Jenaer Systementwürfe, der die einsetzenden Verschiebungen an ausgewählten Beispielen exakt dokumentiert. Der Eigenwert des Systems der Sittlichkeit gerät dabei mitunter aus dem Blick. Daß Göhler dem Manuskript aber überhaupt diese wichtige Rolle in der Genese der Hegelschen Theorie zusprach und es zum Ausgangspunkt seiner Analyse der Hegelschen politischen Systeme nahm, macht dieses Buch weiterhin zu einer beachtenswerten Studie. Einige Detailanalysen sind wirklich neu und korrigieren vorherige Interpretationen. Das Buch ist bei genauer Lektüre zudem dazu geeignet zu verfolgen, wie sich das oben angesprochene „schwere Ringen“ Hegels langsam aber kontinuierlich umwandelt in einen ruhigen Gang der sicheren Ausarbeitung seiner erworbenen Grundlagen. Es kommt hinzu, daß Göhler eine Neuedition des Systems der Sittlichkeit besorgte, in der er die Varianten, Lücken und Abweichungen der vorangegangenen Editionen vermerkte. Auch daran ist zu sehen, daß er das Manuskript als einen unverzichtbaren Text für das Verständnis des Hegelschen Denkens begriff. Kimmerle ordnet das System der Sittlichkeit in die von ihm behauptete Hegelsche Entwicklung von der Philosophie der Intelligenz zur Philosophie des Geistes ein. Durch diese Entwicklung komme es schließlich zu einem Umbildungsprozeß des Systems im ganzen. Kimmerle, der sich um die Chronologie der Hegelschen Schriften bereits große Verdienste erworben hatte, sieht im System der Sittlichkeit die weitgehende Entfaltung des praktischen Teils der Philosophie der Intelligenz als „Naturrecht“ und betrachtet es als die Reinschriftfassung zu den Vorlesungsmanuskripten Hegels über das Naturrecht.118 Hierüber hatte Hegel in der Tat, wie die Vorlesungsankündigungen zeigen, im 116

Trede 1973, 184. Vgl. auch Trede 1972. Vgl. die scharfe Kritk von Kimmerle 1982, 349 (Nachwort zur 2. Auflage), der Autor sei damit völlig überfordert. 118 Kimmerle 1982. Dort vor allem 210. 117

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Sommer 1802, Winter 1802/03, Sommer 1803, Winter 1803/04 und Sommer 1805 lesen wollen.119 In seiner Darstellung konzentriert sich Kimmerle vor allem auf den ersten Manuskriptteil, weil dort die „natürliche Sittlichkeit“ behandelt wird. Die Interpretation des Hegelschen Manuskripts läuft darauf hinaus, daß der Mensch durch seine Tätigkeiten aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Natur heraustrete und sich der Naturzusammenhang zwischen den Menschen als sittliche Natur konstituiere (z. B. durch die Sicherung des Eigentums im Recht). Damit sei auch ausgedrückt, daß die Natürlichkeit des Menschen nicht mit der Natürlichkeit der Natur identisch sei.120 Kimmerle legt großen Wert auf die natürlichen Implikationen menschlichen Zusammenlebens und benennt dabei zugleich die Differenzen zum nur animalischen Verhalten, kennzeichnet also die menschlichen Leistungen als eine schrittweise Erhebung über die Natur.121 1976 erschien eine Übersetzung ins Französische unter dem Titel: „Système de la vie éthique“.122 Der Übersetzer Jacques Taminiaux versah diese Edition mit einer umfangreichen philosophiegeschichtlichen Einleitung, innerhalb derer er auch auf die Struktur des Manuskripts selbst einging und die drei Teile einzeln vorstellte.123 Außerdem fertigte er eine Art Generalschema an, in dem er eine Inhaltsübersicht samt – sofern möglich – zugehörigen Subsumtionsstufen darbot.124 Außerdem thematisierte er in seiner Einleitung das Fortwirken des Textes in Hegels späteren Schriften. Bonsiepen hat in einer dem Begriff der Negativität gewidmeten umfangreichen Spezialstudie zahlreiche wichtige Hinweise zur Interpretation des Systems der Sittlichkeit gegeben. Seine Analyse des Hegelschen Verständnisses von Arbeit, Werkzeug, Arbeitsteilung und Tauschgesellschaft will zeigen, daß Hegel in Jena konkret auf die Negativität der neuzeitlichen Gesellschaft eingeht. Für Hegel stelle sich die Frage, wie der positive Sinn der Negativität der Arbeit (Arbeit richtet sich negativ gegen den zu bearbeitenden Gegenstand und zugleich gegen den arbeitenden Menschen) zu sichern sei. Denn in der „überflüssigen Arbeit“, die Hegel nüchtern konstatiert, fehlt dieser Sinn. Er kann nur dann gesichert werden, „wenn zugleich die Entzweiung im zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Bereich überwunden wird“.125 Hegel kritisiere die neuzeitlichen Naturrechtstheorien auch deshalb, weil diese das Wesen der absoluten Negativität nicht begriffen hätten. Zwar werde die moderne Gesellschaft durch einen 119

Es konnte bisher nicht gänzlich geklärt werden, welche Vorlesungen Hegel tatsächlich hielt. Vgl. hierzu auch den Herausgeberbericht in GW Bd. V. 120 Kimmerle 1982, 228. 121 Vgl. Kimmerle 1982, 219: „Es ist bewußtes Handeln gegen die Natur, wodurch der Mensch sich über die Natur erhebt. Dieses Handeln steht damit zugleich auf gewisse Weise noch unter den Gesetzen der Natur. Wie bei Marx, tritt der Mensch als ‚Naturmacht‘ dem ‚Naturstoff‘ gegenüber. Indem er so ‚auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner Botmäßigkeit‘.“ 122 G. W. F. Hegel, Système de la vie éthique, traduit et présenté par Jacques Taminiaux, Paris 1976 (2. Ed. 1992). 123 Taminiaux 1992, 47–85. 124 Taminiaux 1992, 85–89. 125 Bonsiepen 1977, 83.

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Kampf um Anerkennung bestimmt. Aber dessen rein negative Dialektik gelte es gerade – wie im System der Sittlichkeit deutlich zu erkennen – aufzuheben. Die bislang detaillierteste Arbeit zum System der Sittlichkeit erschien im Jahr 1979 im Rahmen der Übersetzung des Manuskripts ins Englische.126 Leider ist die der Übersetzung vorangestellte vorzügliche Einleitung von Henry Silton Harris in der deutschsprachigen Forschungsliteratur meines Wissens völlig unbekannt geblieben.127 Dieser Text analysiert nicht nur exakt den Aufbau des Manuskripts (einschließlich einer Rekonstruktion nahezu sämtlicher Subsumtionen), sondern gibt auch hilfreiche Kommentare zu schwierigen Stellen des Hegelschen Entwurfs, ebenso zur Terminologie. Hinweisen möchte ich an dieser Stelle nur auf die Ausführungen (im Rahmen der Akzentuierung der Religion im dritten Teil) zur Hegelschen Systemkonstruktion und deren Wandel, weil sie eine Hypothese formulieren, weshalb Hegel bei Abfassung des Manuskripts an interne Grenzen stoße und fortan anders verfahre; Harris unterbreitet einen Vorschlag, warum die – nach seiner Auffassung – vierteilige Konzeption zugunsten der dreiteiligen aufgegeben wurde. Die Interpretation der Idee der absoluten Sittlichkeit und insbesondere der von Hegel genannten „Verfassung“ führe zu der Frage, wie die verschiedenen Bürger des Volks letztlich konkret vereint werden und was hierfür neben ihrer politischen Existenz noch eine Rolle spiele im Leben des Volks. Die Antwort sei offensichtlich: „their artistic and religious experience“ – folglich müsse Hegel nun eigentlich auch noch die religiöse Erfahrung thematisieren. Das aber habe ihn in Schwierigkeiten gebracht: „He could not simply treat religion as an aspect of Sittlichkeit, because in his view the evolution of religious experience belonged to the human race as a whole – not to the ethical life of any one Volk or even to the race itself at a particular moment“; aus diesem Grund habe Hegel entsprechend der vierteiligen Konzeption gewünscht, die gesamte Diskussion von Kunst, Religion und Philosophie extra zu behandeln, also „separate from his account of Nature as the ‚body‘ and human history as the ‚real spirit‘ which the Idea generates itself.“128 Dieses Problem sei nicht leichthin zu überspringen, denn „in a systematic presentation everything must be dealt with at its proper level“. Verschärft worden sei Hegels Problem noch durch seine aus der Differenzschrift bekannte Auffassung vom „Bedürfnis der Philosophie“.129 Das aus den Spannungen resultierende Ergebnis laut Harris: „So what went by the board was the fourfold structure itself. The continuity of the temporal and eternal was established by 126

Hegel 1979. Dieser Text wird nirgends erwähnt, auch nicht in den jüngst unternommenen Interpretationen oder in der Neuedition des Manuskripts bzw. im Hegel-Handbuch. Ich habe diese hilfreiche Einleitung zufällig und zu spät für eine angemessene Berücksichtigung entdeckt. Vermutlich ist der Untertitel des Buchs die Ursache für die Nichtwahrnehmung; man rechnet „nur“ mit einer einfachen Übersetzung und erwartet keine ausführliche Interpretation. Harris’ zwei Bände zu Hegel’s Development (Oxford 1972, 1983) werden hin und wieder genannt. Vgl. dort insbesondere Bd. 2, 102–143. Harris schrieb 1993 auch ein Kapitel für The Cambridge Companion to Hegel, in dem das Manuskript kurz besprochen wird. 128 Harris 1979, 63. 129 Harris 1979, 64: „The System of Ethical Life is both part of the system of philosophy as such and an attempt to meet the need of the time. As part of the system it cannot properly deal with Religion; as a response to the need of the time it must do so. This was Hegel’s dilemma.“ 127

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transforming the theory of the ‚Absolute Identity‘ into the final phase of the Philosophy of Spirit itself. Art, Religion, and Philosophy kept their absolute status, but the theory of Absolute Spirit became part of the general theory of Spirit. In this way the twin functions of Religion, as the actual foundation of the State in this and every other time and as the eternal selfrelevation of the Absolute Identity, could be reconciled without injustice to either.“130 Harris verweist auf die Wichtigkeit dieser scheinbar nur kleinen Verschiebung und unterstreicht damit die enorme Bedeutung des Manuskripts für die Geschichte der Philosophie: „Thus the change in the structure of his philosophical system through which the temporal and the eternal functions of Religion are reconciled is a change in the conception of philosophy itself. It involves the upgrading of the practical, social function of philosophy (as the critical consciousness of the State, so to speak), which the Philosophy of Identity might very well lead us to despise.“131 Walther Ch. Zimmerli hat in einem Vortrag auf der Internationalen Schelling-Tagung in Zürich 1979 die spezifische Methodik Hegels untersucht. Der Titel verweist auf die generelle These: „Schelling in Hegel. Zur Potenzenmethodik in Hegels System der Sittlichkeit“.132 Hegel habe ausgeführt, was in Schellings neuem philosophischen System als eigener Systemteil bislang noch nicht vorhanden war und wofür Schelling selbst nur wenig Interesse gezeigt habe. Während Kant und Fichte im Rahmen ihrer Systeme jeweils eine ausgeführte Deduktion von Sitte, Staat und Recht vorgelegt hatten, fehlte dieser Systemteil einstweilen noch in Schellings System der Philosophie. Zimmerli beklagt sich über die in der Forschungsliteratur angeblich nur unspezifisch gebliebene Behauptung der engen Zusammenarbeit von Hegel und Schelling und setzt dem entgegen: „Hegels Zusammenarbeit mit Schelling ging […] so weit, daß er, gleichsam als ‚Auftragsarbeit‘, einen eigenen Systemteil nach den Methodenvorstellungen des Freundes konzipierte.“133 Könnte man diese Formulierung noch als Hypothese verstehen, heißt es später unmißverständlich: „Ich gehe, wie bereits angedeutet, davon aus, daß Hegel im Rahmen einer an Schelling orientierten Systemkonzeption die Ausarbeitung der praktischen und politischen Philosophie übernommen hat.“134 Weil dies früher nicht erkannt wurde, aber auch, weil sich der späte Hegel kritisch zu Schellings Potenzen geäußert hatte, habe man sich nur vage um das Methodenproblem in Hegels Manuskript gekümmert und nicht akzeptiert, daß es konkret den Schellingschen Vorgaben folge. Die bei jeglicher Lektüre des Systems der Sittlichkeit sich ergebenen Leseschwierigkeiten könnten – „wenn überhaupt“ – hingegen abgemildert werden „durch Rückgriff auf Elemente der Philosophie Schellings selbst“.135 Zimmerli gibt daraufhin eine Übersicht über die Schellingsche Konstruktion der Philosophie, untersucht diesbezüglich verschiedene methodologiegeschichtliche Hintergründe, auf die Schelling zurückgreife, und wendet diese Zusammenstellung prägnanter Äußerungen Schellings auf das 130

Harris 1979, 64. Harris 1979, 64f. 132 Walter Ch. Zimmerli, „Schelling in Hegel. Zur Potenzenmethodik in Hegels System der Sittlichkeit“, in: Hasler 1981, 255–278. 133 Zimmerli 1981, 256. 134 Zimmerli 1981, 269. 135 Zimmerli 1981, 258. 131

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Hegelsche Manuskript an. Die genannten Quellen sind instruktiv und bieten für die Entschlüsselung des Hegelschen Textes wertvolle Hilfe. Zimmerli gibt natürlich zu, daß Hegel als reflektierter Zeitgenosse Schellings und eigenständiger Denker nicht ausschließlich Schellings Vorgaben folgte oder komplett dessen Systemkonzeption „übernommen habe“; es habe aus „metakritischen Überlegungen“ heraus „bestimmte Modifikationen“ gegeben: „Es läßt sich also behaupten, daß Hegel zwischen 1801/02 und 1802/03 seine Systemkonzeption in Richtung auf Schellings Potenzenmethodik überformt hat.“136 Diese Einschätzung Zimmerlis wird den tatsächlichen Ereignissen m. E. wesentlich besser gerecht als die Behauptung einer bloßen Auftragsarbeit.137 Wenn sinnvollerweise von einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Philosophen gesprochen werden soll, dann muß es auch eine wechselseitige Befruchtung gegeben haben. Zimmerli gibt schließlich zu, daß Hegel neben Defiziten Schelling gegenüber (vor allem bezüglich seines sich noch entwickelnden philosophischen Systems, wo er von Schelling noch viel lernen konnte) auf anderen Feldern einen „Vorsprung gegenüber Schelling“ hatte. Das betrifft vor allem den Bereich der praktischen und politischen Philosophie, die Vertrautheit mit der Englischen Nationalökonomie und dem neueren Naturrecht (dem Schelling einige Jahre zuvor, 1796 – unter ausdrücklichem Hinweis auf die Vorläufigkeit und Nichtbenutzung neuester Bearbeitungen des Naturrechts – zwar eine Publikation gewidmet, seitdem aber kaum mehr Beachtung geschenkt hatte). Gerade für die Integration der Kenntnisse Hegels aus der Politischen Ökonomie in sein System habe sich Schellings Potenzenmethodik als hilfreich erwiesen: Wenn Hegel nun versucht, den Rechtsstaat aus den natürlichen Fundamenten, d. h. der Art und Weise, in der der Mensch als Naturwesen sein Sein reproduziert, aufzubauen, so könne er sich dabei auf Schellings These stützen, die erste Potenz der Rekonstruktion der Sphäre der Sittlichkeit müsse die Naturpotenz der Reflexion sein. Erst Schellings Potenzenmethodik ermögliche Hegel die Einführung dieses neuen Systemteils.138 Ludwig Siep hat in seiner großen und wegweisenden Studie zu Hegels Jenaer Theorie des Geistes im Zusammenhang einer Analyse der „Anerkennung“ als Prinzip praktischer Philosophie auch das Hegelsche Manuskript gestreift;139 es gewinnt für diesen Themenkomplex jedoch bei Siep noch nicht die zentrale Bedeutung, die ihm später Axel Honneth im gleichen Kontext zuweisen wird. Darum soll an dieser Stelle auf einen anderen Forschungsbeitrag Sieps, nämlich die direkte Entgegnung auf Zimmerlis Vortrag, eingegangen werden.140 Siep akzentuiert darin die Differenzen Hegels zur Potenzenlehre Schellings 136

Zimmerli 1981, 270. Allerdings wiederholt, ja verschärft Zimmerli seine Ausgangsthese nochmals in einem späteren Beitrag auf dem Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999. Dort ist von einer Auftragarbeit seines „Gönners“ Schelling die Rede. Vgl. Walther Ch. Zimmerli, „Technik und Zivilisation bei Hegel. Hegels verborgener technikphilosophischer Pragmatismus“, in: Die Weltgeschichte – das Weltgericht?, hg. v. Rüdiger Bubner und Walter Mesch, Stuttgart 2001, 343–360, hier: 350. 138 Vgl. Zimmerli 1981, 272f. 139 Siep 1979. 140 Ludwig Siep, „Hegels und Schellings praktische Philosophie in Jena (bis 1803)“, in: Hasler 1981, 279–288. 137

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und weist nach, daß in Schellings Arbeiten gerade umgekehrt der Einfluß Hegelschen Denkens in jener fraglichen Zeit (1801–1803) zum Ausdruck komme: Die mechanische Rechts- und Staatsauffassung aus dem System des transzendentalen Idealismus wird von Schelling in der Folge nicht nur abgeändert, sondern sie weist „eine bemerkenswerte Übereinstimmung“ mit den Hegelschen Auffassungen auf, welche dieser in der gemeinsamen Zeitschrift publiziert (Naturrechtsaufsatz) und im System der Sittlichkeit weiterentwickelt hatte. Siep anerkennt gleichwohl die systematischen Wirkungen der Schellingschen Identitätsphilosophie auf die Grundlagen der praktischen Philosophie Hegels. Obwohl diese zweifellos nachweisbar sind, gibt es jedoch von Anbeginn entscheidende Unterschiede in der Systemkonstruktion. Bezogen auf Hegels Manuskript führt Siep aus: „Zwischen der Schellingschen Idee der philosophischen Konstruktion in ‚Potenzen’ und der Systematik dieses Hegelschen Textes besteht eine unbestreitbare Nähe, aber zugleich eine wichtige Differenz“, und in direktem Widerspruch zu Zimmerli fährt Siep fort: „Sie kann nicht auf die Freiheit zurückgeführt werden, die Hegel sich bei der Ausführung eines Teils des Schellingschen Systems nimmt“. Siep zeigt, daß Hegel auch im System der Sittlichkeit einen eigenständigen Weg beschreitet, und kommt so zu seiner zentralen These: „Hegel entfaltet seine Darstellung der Sittlichkeit im ‚System‘ zwar als eine Folge von Potenzen, zugleich aber als eine doppelte Negation von noch nicht sittlichen Verhältnissen. Daß die Sittlichkeit erst durch die Aufhebung ihres negativen ‚Reflexes‘, ihrer Erscheinung ‚als Natur‘ philosophisch begriffen werden kann – und daß diese ‚Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung‘ der Darstellung der absoluten Sittlichkeit vorausgehen muß, scheint mir in Schellings Konzeption philosophischer Konstruktion durch eine Folge von Potenzen kein Pendant zu haben.“141 Die Figur der doppelten Negation wird ausdrücklich von Schellings „dritter Potenz“, wie dieser sie z. B. in seinen Ferneren Darstellungen konzipiert hatte, abgegrenzt. Schließlich benennt Siep noch eine weitere Differenz: „Hegels Methode der ‚Indifferentiierung‘ von Einheit und Vielheit, relativer Identität und absoluter Identität, Besonderheit und Allgemeinheit etc. beruht schon im System der Sittlichkeit wesentlich auf seiner Konzeption des ‚absoluten Begriffs‘, die bei Schelling […] keine Parallele hat.“142 Andreas Wildt hat plausibel gezeigt, welche Anregungen Hegel aus der Aneignung von Fichtes Naturrechtstheorie gewann und deshalb vorgeschlagen, Hegels frühe Jenaer Fichtekritik als eine Radikalisierung Fichtescher Intentionen zu verstehen.143 Im System der Sittlichkeit beginnt mit der Aufnahme des Begriffs der Anerkennung nach Wildt „seine direkte Fichterezeption“.144 Wildt interpretiert das Manuskript, insbeson141

Alle Zitate: Siep 1981, 283. Siep 1981, 286. 143 Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung, Stuttgart 1982, 289, 303 und öfter. 144 Vgl. Wildt 1982, 313. Außerdem 321: Der Stellenwert der Anerkennung innerhalb der Potenz der natürlichen Sittlichkeit lasse sich „direkt auf die Anerkennungslehre in Fichtes ‚Naturrecht‘ zurückführen“. Wildt verweist pauschal auf die §§ 3 und 4, jedoch ohne den Zusammenhang auszuführen; es erfolgt nur der Hinweis, Hegel habe unter Schellingschem Einfluß (in dessen System des transzendentalen Idealismus Anerkennung keinerlei Rolle spiele) Fichtes Zusammenhang der Konstitution von Subjektivität und Recht nicht erreicht. 142

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dere dessen zweiten Teil, als einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine Theorie, nach welcher die praktische Vernunft auf Anerkennung beruhe und sich universalistische Gesellschaftlichkeit wesentlich im Kampf um Anerkennung konstituiere. Starke Beachtung erfuhr das System der Sittlichkeit in einer Monographie von Laurence Dickey, in welcher das Manuskript als „companion piece“ zum Naturrechtsaufsatz und vor allem hinsichtlich seiner politischen Implikationen ausgelegt wird: „Yet, even though the essay on Ethical Life offers a detailed explanation of the ‚political moment‘ in human experience, it does so in a philosophical language that not only complicates an already complicated subject matter but also makes it impossible for the text to speak for itself.“145 Folglich spricht nun Dickey für und über den notorisch schweren Text und geht ausgesuchten Problemen auf den Grund: Nicht nur habe Hegel Schwierigkeiten gehabt, die Schellingsche Terminologie für seine Themen zu adaptieren, eigentlich habe Schiller den viel stärkeren Einfluß auf Hegel ausgeübt.146 Überhaupt verweist Dickey in seiner „historically oriented study“ für die Problemexplikation des Hegelschen Manuskripts auf viele Quellen, neben Schiller insbesondere auf Steuart, Ferguson, Montesquieu und Rousseau, auch Lessing: „Where Hegel differs from all others, I think, lies in the way he explains the emergence of political consciousness among a people. Where others had tried to awaken the political impulse in men by appealing to divine intervention or to some great legislator, Hegel did so by way of an analysis of the socioeconomic dynamic of collective existence itself.“147 Der weitaus größte Teil der Analyse gilt der Vorbereitung und Beantwortung der Frage, wie der Übergang aus der natürlichen Sittlichkeit und sozioökonomischen Wirklichkeit in die absolute Sittlichkeit zu bewältigen sei. „Suffice it to say [… that Hegel] identifies the division of labor principle as the resource within civil society, within the bourgeois system of need, that permits the conversion of natural Sittlichkeit qua system of recognition into absolute Sittlichkeit qua the collective religio-political identity of a people.“148 Im Detail wird sodann die Funktion des Ersten Standes (in politischer und pädagogischer Hinsicht) für die Gewährung der Anschauung der absoluten Sittlichkeit untersucht, insbesondere wird Hegels Begriff der „Bildung“ nach seinen verschiedenen Kontexten hin befragt; außerdem weist Dickey den Vorwurf einer einseitigen Antikisierung zurück: „If many scholars have treated the first class as part of Hegel’s love of antiquity, we can also explain the role the first class plays in terms of a Protestant conception of how gnosis is translated into pistis.“149 Dickey distanziert sich von der vorangegangenen Forschung: „[S]cholars all too often fail to see that Hegel’s political thought – at least during this period of his life – is not, strictly speaking, political at all. It is socioeconomic on the one hand and socioreligious on the other – that is, Hegel’s conception of the political arises from, and is

145

Dickey 1987, 231. Vgl. 272: „Hegel’s entire discussion of intuitions and concepts, indifference and Bildung, is an evocation of politics.“ 146 Dickey 1987, 232 und 236f. Vgl. 265–268. 147 Dickey 1987, 293 und 241. 148 Dickey 1987, 250. 149 Dickey 1987, 285, vgl. 287.

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basically governed by, the interplay between the religious and economic aspects of his thought.“150 Rainer Adolphi ordnet das Hegelsche System der Sittlichkeit einer besonderen Hegelschen Arbeitsphase zu und betont den Eigenwert der in jener Zeit verfaßten Texte: „Diese ganze Frühphase zeichnet sich durch eine eigentümliche Argumentationsweise aus, die sich einschneidend von allem Späteren unterscheidet.“151 Hegels Reinschriftmanuskript verwirkliche „eine große Zahl eigenständiger Begründungsfiguren […], die geradewegs auf Hegels ganzes Philosophieverständnis zurückgehen“. Adolphi kritisiert scharf die dem Manuskript üblicherweise entgegengebrachte Ignoranz und bezeichnet sie als grundlos und unfruchtbar. Denn nur von den im System der Sittlichkeit entwikkelten Begründungsfiguren mit ihren eigentümlichen Stärken und Schwächen ließe sich „der weitere Entwicklungsgang der methodischen Argumentation bei Hegel zureichend erfassen und abwägen“.152 Adolphi ist daher bemüht, die einzelnen methodischen Elemente jener spezifischen Begründungsmethode herauszuarbeiten und in Beziehung zu Hegels weiteren Entwürfen zu stellen. Axel Honneth hat dem System der Sittlichkeit in seiner Analyse des Kampfes um Anerkennung einen hohen Stellenwert zugeschrieben. Hegel verbinde auf innovative Weise den aristotelischen teleologischen Bezugsrahmen (das quasinatürliche Vorhandensein intersubjektiver Formen des Lebens) mit Fichtes Anerkennungstheorie, die hierfür ihrer transzendentalphilosophischen Implikationen entledigt und direkt auf unterschiedliche Gestalten reziproken Handelns unter Individuen angewendet wird. Auf diese Weise komme es zu einer konflikttheoretischen Dynamisierung des Fichteschen Anerkennungsmodells: „Die sittlichen Verhältnisse einer Gesellschaft stellen für ihn [Hegel] nunmehr die Formen einer praktischen Intersubjektivität dar, in der das komplementäre Übereinkommen und damit die notwendige Gemeinsamkeit einander sich entgegensetzender Subjekte durch eine Bewegung der Anerkennung gesichert ist.“153 Honneth untersucht in systematischer Absicht die von Hegel im Manuskript dargestellten Anerkennungsformen und präpariert aus Hegels Text eine Art Stufentheorie heraus, die drei verschiedene Weisen der Anerkennung unterscheidet: die affektive Anerkennung (innerhalb der natürlichen Sittlichkeit z. B. im Rahmen der Familie auf die konkreten Bedürfnisse eines Individuums bezogen), die kognitiv-formelle Anerkennung (Anerkennung der formellen Autonomie einer Person, ihrer Rechtsfähigkeit) und als dritte Form die Anerkennung als eine Art rational gewordener Affekt („emotional aufgeklärtes Anerkennungsverhältnis des Staates“). Letztere anerkennt den Anderen nicht mehr einseitig nur als Person oder nur als bedürftiges Wesen, sondern begreift ihn als eine echte Einheit, als ein mit individueller Besonderheit ausgestattetes Subjekt, also 150

Dickey 1987, 281. Adolphi 1989, 94. 152 Adolphi 1989, 95. Die große Bedeutung des Manuskripts ergebe sich „vor allem daraus, daß die Begründungsmethode hier weit direkter als irgendwo später mit der Struktur der Vernunft selber argumentiert und doch zugleich schon eine große Bandbreite spezifischer Gedankenfiguren integrieren konnte. Die einzelnen methodischen Elemente, in die sie sich auszudifferenzieren vermag, sind sogar ungleich vielfältiger als bei Hegels nachfolgenden Begründungsmethoden.“ 153 Honneth 1992, 30. 151

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als ein konkret Allgemeines, ein in seiner Einzigartigkeit vergesellschaftetes Subjekt (eine Form der Anerkennung, die erst im Status der absoluten Sittlichkeit erfolgt).154 Honneth räumt ein, daß dem Hegelschen Manuskript die Begriffsdifferenzierungen für ein solches Modell fehlen, doch habe Hegel ein derartiges Modell anvisiert. Es zeichne sich durch eine Zunahme der Komplexität der Anerkennungsformen aus; diese werden also schrittweise anspruchsvoller. Hierfür spielt das Medium des Konflikts, insbesondere des Kampfes eine besondere Rolle, da er eine Art Bewegungsmoment darstellt und von dem unterentwickelten Zustand der Sittlichkeit zu einer je reiferen sittlichen Form führt: Der Konflikt ist derart in den sittlichen Bildungsprozeß integriert. Honneth zeigt dies besonders plastisch in seiner Interpretation des zweiten Manuskriptteils und schreibt Hegel insgesamt eine „epochale Neufassung des Begriffs des sozialen Kampfes“ zu.155 Sergio Dellavalle würdigt das System der Sittlichkeit mehrfach und führt aus, daß es in der Genese des Hegelschen Werks „eine entscheidend höhere Entwicklungsstufe“ darstelle. Das Manuskript enthalte nicht nur Ansätze einer intersubjektivistischen Theorie von Staat und Gesellschaft, sondern formuliere erstmals die systematische Relevanz der individuellen Freiheit, welche sich – wie der Text zeige – aus den Unzulänglichkeiten der natürlichen Sittlichkeit ergebe. „Damit wird aber der individuellen Freiheit – zum ersten Mal bei Hegel – eine entscheidende Rolle bei der prozessualen Vervollkommnung jener Strukturen zugeschrieben, welche den Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft gewährleisten.“156 Der Autor benennt noch weitere Aspekte, die ihn zu seinem Urteil veranlassen, das System der Sittlichkeit habe „zentrale Bedeutung […] für die Entwicklung der politischen Philosophie Hegels“. Dellavalle spricht von einer „neue[n] Definition der sozialen Prozesse, die zur Selbstentfaltung der allgemeinen Sittlichkeit entscheidend beitragen: Diese sind jetzt weder auf das individuelle ‚Verbrechen‘ noch auf ein in sich artikuliertes, aber schließlich statisches ‚System der Bedürfnisse‘ zurückzuführen, sondern sie gestalten sich in der Form eines Konfliktes, eben eines Kampfes um Anerkennung, in dem die Auseinandersetzungen zwischen den Individualitäten zunächst die noch partiellen Strukturen der natürlichen Sittlichkeit sprengen und dann eine neue und höhere Ordnung ermöglichen.“ Weil sich aus der Lösung jener Konflikte unter den Individuen und Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft schließlich die höchste Stufe der Sittlichkeit „direkt“ ergibt, sieht Delavalle im System der Sittlichkeit „die bedeutendste Vorbedingung für eine intersubjektive Theorie der Politik wenigstens ansatzweise erfüllt“.157 Terry Pinkard behandelt in seiner umfangreichen und äußerst informativen Biographie das System der Sittlichkeit (zusammen mit dem Naturrechtsaufsatz und anderen Texten aus der Zeit von 1802–04) unter der Überschrift „[1802–1804:] The Embryonic Hegelian System“.158 Das erinnert nicht nur an Rosenkranz’ Formulierung, sondern basiert auf der an den Schriften nachgewiesenen Tatsache, daß Hegel in jener Zeit seine eigene 154

Vgl. Honneth 1992, 45f. Honneth 1992, 32. 156 Sergio Dellavalle, Freiheit und Intersubjektivität. Zur historischen Entwicklung von Hegels geschichtsphilosophischen und politischen Auffassungen, Berlin 1998, 110. 157 Dellavalle 1998, 111. 158 Terry Pinkard, Hegel. A Biography, Cambridge 2000. 155

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Theorie in Abgrenzung von Hölderlin und – trotz aller Anlehnung – auch von Schelling in Systemform zu bringen versucht: „In those works, Hegel was still attempting to bring his Frankfurt position into line with his newly adopted Schellingian views […] Most importantly, he was led to take one of the most crucial and decisive steps toward formulating his own distinctive view.“159 Der trotz aller Kritik von Fichte übernommene und weiterentwickelte Begriff der Anerkennung habe Hegel „a nondualistic, yet also nonreductionist account of the relation between spirit and nature“ gegeben: „Hegel argued that the ‚ethical life‘ (Sittlichkeit) of any particular ‚people‘ must be construed entirely in terms of the patterns of entitlements and commitments that those individuals confer and sustain by acts of mutual recognition; it must not be construed as any kind of separate realm requiring its own special causal powers, nor as simply the result of a natural process. The difference between spirit and nature is thus not that between two different types of substance; it lies in the way in which humans are led to self-consciously regard themselves, to establish points of view on the world in addition to being natural entities in that world.“160 Das Thema des Bewußtseins sei in den nachfolgenden Jenaer Systementwürfen dann viel stärker behandelt worden, „but the lines of thought are fairly continuous“.161 Im unveröffentlichten System der Sittlichkeit habe Hegel gezeigt, „that he was struggling to put his new conception of ‚spirit‘ and ‚freedom‘ into play as a conception of how freedom is both a necessary feature of agency and something that is to be socially achieved.“162 Christine Weckwerth hat in ihrem Buch Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ ein sehr informatives und konzentriertes Kapitel zu Hegels System der Sittlichkeit vorgelegt. Dieses folgt einem einleitenden Kapitel zu Hegels Kritik der Metaphysik der Subjektivität, insbesondere der Fichteschen transzendentalphilosophischen Konzeption. Das Manuskript wird von Weckwerth dann quasi als der „Hegelsche Gegenentwurf“, als sein „erster umfassender Versuch einer Systematisierung des Geistes“ präsentiert.163 Weckwerths spezifisches Interesse gilt, wie der Titel sagt, der Entstehung der Phänomenologie des Geistes und so konzentriert sie sich darauf, Vorstufen dieses Werks, Antizipationen späterer Motive aufzuzeigen. Sie charakterisiert das Manuskript insgesamt als den „Versuch, die moderne bürgerliche Gesellschaft wie den Staat in genetisch systematischer Form zu entwickeln“, der „Einblick in Hegels originäre Entfaltung der Problematik des sich erzeugenden und wissenden Geistes“ gewähre und interessiert sich bei der folgenden Analyse dafür, ob Hegel der „Balanceakt“ gelingt, die kritisierte Transzendentaltheorie zu überschreiten, ohne dabei „auf die vormalige Metaphysik zurückzufallen, d. h. auf ein statisches Formensystem, das vom erkennenden Subjekt abgekoppelt wird“.164 In ihrer nüchternen Analyse, die mit Kritik insbesondere am 159

Pinkard 2000, 169f. Pinkard 2000, 171. 161 Pinkard 2000, 172. 162 Pinkard 2000, 175. 163 Christine Weckwerth, Metaphysik und Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“, Würzburg 2000, 37–69. 164 Weckwerth 2000, 37f. Vgl. 38: „Die sittliche Region bildet bei Hegel in seinen frühen Jenaer Jahren den ausgezeichneten Ort, wo der Geist sowie das endliche Individuum zu Wesenhaftigkeit 160

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dritten Teil des Manuskripts nicht spart, kommt sie zu einer klaren Antwort: Die Hegelschen Ausführungen gingen weit über Kant und Fichte hinaus, Hegels Ansatz durchbreche „perspektivisch die Theorie der Subjektphilosophie, in der das Subjekt als eine abgeschlossene, rational tätige Einheit gesehen wird“, das endliche Subjekt werde bei Hegel hingegen „bereits auf einer ursprünglichen Ebene in Wechselbeziehung mit dem Gegenstand gedacht, wodurch es nicht nur ein Bestimmendes ist, sondern zugleich selbst der Bestimmung unterliegt. Grundlegender Ansatz im sittlichen System ist, die Gegenstandsbezüge des Subjekts von vornherein in den Horizont von Beziehungen zu anderen Subjekten zu stellen, die ursprünglich nicht rational oder logisch sind.“165 Weckwerth konstatiert eine „folgenreiche Schwerpunktverlagerung von den transzendentalen Funktionen des Selbstbewußtseins“ hin zu den „kulturellen Sedimentierungen“, zu den „realisierten Mitten des Geistes“.166 Weckwerth untersucht anschließend Hegels Anspruch der Realisierung der Einheit der Sittlichkeit und diagnostiziert eine verbleibende Kluft von relativer und absoluter sittlicher Identität. Es folgt noch ein Abschnitt zum methodischen Aufbau des Manuskripts, in dem u. a. die These vertreten wird, Hegel habe eine Leerstelle in der Philosophie seines Freundes Schelling ausgefüllt: Das System der Sittlichkeit liefere, was Schelling trotz Ankündigung nicht geschrieben habe, es sei „eine positive Fortführung des Schellingschen Potenzschemas, und zwar auf dem Gebiet des Geistes“.167 Herbert Schnädelbach hat das System der Sittlichkeit in seinem Buch zu Hegels praktischer Philosophie mit einem (nicht durchgängigen) Kommentar versehen, welcher vielfach gute Orientierung bietet. Allerdings hat man den Eindruck, daß das Manuskript eher aus Gründen der Vollständigkeit der zu präsentierenden Hegelschen Quellen zum gewählten Gegenstandsbereich als um seiner Eigenständigkeit willen thematisiert wird. Man müsse es vor allem deshalb zur Kenntnis nehmen, um Hegels Entwicklung verstehen zu können. Das Manuskript wird m. E. lediglich aus dieser Verpflichtung heraus vorgestellt, Interesse an seinen spezifischen Einsichten oder den von anderen Autoren aufgezeigten innovativen Fragestellungen besteht nicht. Auf diese Weise kommt es teils zu merkwürdigen, Hegel wirklich fremden Unterstellungen. Ein Beispiel: Sicher ist es richtig, daß Hegels methodischem Vorgehen im System der Sittlichkeit eine gewisse Künstlichkeit oder sogar Gewaltsamkeit anhaftet. Genauso sicher sind wir aus Hegels Schriften und Briefen aber auch darüber informiert, daß er den Apriorismus strikt abund Bewußtheit über sich bzw. zum Bewußtsein des Geistes gelangen. Diese Region umfaßt sowohl den Prozeß praktischer Vermittlungen als auch dessen ideale Spiegelung. Diese Gedoppeltheit von reellem und ideellem Prozeß im Sittlichen weist bereits auf die Phänomenologie-Problematik voraus.“ 165 Weckwerh 2000, 41 und 43. 166 Weckwerth 2000, 44. Vgl. 51: „Eine solche Strukturtheorie der Mittenbildungen nimmt die Genese der reinen Handlungsakte in sich auf, überschreitet sie im weiteren jedoch. Dieser Ansatz hat u. a. zur Folge, daß kulturelle Formen wie Sprache, Recht, Staat oder Sittlichkeit von vornherein in den Kontext qualitativ heterogener Objektivierungsprozesse gestellt werden. Diese Medien treten damit nicht wie bei Fichte lediglich im Modus von in der empirischen Welt zu realisierenden Handlungsnormativen auf, sondern werden als miteinander zusammenhängende Realvermittlungen des tätigen Subjekts betrachtet.“ 167 Weckwerth 2000, 65.

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lehnte. Deshalb ist es mehr als fragwürdig, wenn Schnädelbach in seinen „Hinweise[n] zum Verständnis des SdS“ behauptet: „Was Hegel hier methodisch praktiziert, ist die besondere Ausprägung eines konsequenten Apriorismus, dem zufolge alles, was wir im Ernst wissen, ein Wissen a priori sein muß.“168 Diese Interpretation führt dazu, daß Schnädelbach schließlich folgert: „So ist das SdS das problematische Ergebnis des Versuchs von Hegel, Schellings Konzept einer spekulativen Physik in der praktischen Philosophie zu wiederholen. Aber immer wieder stellt sich heraus, daß sich die empirischen Belege für das a priori Konstruierte nicht einstellen wollen.“169 Der Meiner Verlag hat das Hegelsche System der Sittlichkeit im Jahr 2002 im Rahmen einer neuen Studienausgabe ediert. Für diese Studienausgabe wurde der Text der historisch-kritischen Edition von 1998 hinsichtlich der üblichen Orthographie modifiziert. Versehen wurde die Ausgabe mit einer Einleitung von Kurt Rainer Meist, der über die Bedeutung des Hegelschen Manuskripts keinen Zweifel aufkommen läßt: „Denn mit Sicherheit ist festzustellen, daß das ‚System der Sittlichkeit‘ maßgebliche Einsichten in Hegels früheste Entwürfe einer praktischen Philosophie am Beginn seiner Jenaer Dozententätigkeit vermittelt, auf denen eine Auseinandersetzung und fortgehende Deutung bezüglich der Entwicklung von Hegels Philosophie der sittlichen Welt bzw. des ‚objektiven Geistes‘ aufbauen müssen wird.“170 Die Studienausgabe unterscheidet sich aber noch in anderer Hinsicht von der historisch-kritischen Edition, und deshalb muß sie hier ausführlich besprochen werden. Der Titel des Hegelschen Manuskripts wurde verändert und mit einer Erweiterung versehen. Hierbei handelt es sich nicht einfach um eine mehr oder weniger wichtige und legitime Abänderung der alten Bezeichnung des Textes, die im übrigen ja nicht von Hegel, sondern von Rosenkranz stammte und folglich nicht durch Hegel selbst autorisiert war. Folgt man der Ankündigung des Herausgebers, so bedeutet die Modifikation des Titels weitaus mehr: „Anhand des textkritischen Befundes und der Auswertung der überlieferungsgeschichtlichen Tatsachen gelangt er [Kurt Rainer Meist] zu einer gänzlichen Neubewertung des 1802/1803 abgefaßten Reinschriftentwurfs, der entgegen den Annahmen von Rosenkranz und Haym als Vorlage für eine eigenständige, jedoch dann nicht mehr realisierte Publikation zur ‚Critik des Fichteschen Naturrechts‘ gelesen werden muß.“171 Hier scheint also ein wissenschaftlicher Glücksfall vorzuliegen: Bloße Annahmen können endlich durch gesicherte Befunde und Tatsachen widerlegt werden, 168

Schnädelbach 2000, 111. Vgl. dagegen schon Adorno: „Die bei Fichte programmatische, von Hegel erst durchgeführte Lehre, das Apriori sei auch das Aposteriori, ist keine verwegene Floskel, sondern Hegels Lebensnerv: sie inspiriert die Kritik der sturen Empirie wie die des statischen Apriorismus.“ Und: „So ist die viel bewunderte materiale Fülle Hegels selber Funktion des spekulativen Gedankens. Er erst hat ihm dazu verholfen, nicht länger bloß über die Instrumente des Erkennens, sondern dessen wesentliche Gegenstände Wesentliches auszusagen, und gleichwohl die kritische Selbstreflexion des Bewußtseins niemals suspendiert.“ Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/M. 1969, 14 und 17. 169 Schnädelbach 2000, 112. 170 Kurt Rainer Meist, „Einleitung“, in: G. W. F. Hegel, System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts], Hamburg 2002, XXI. 171 Horst D. Brandt, „Vorbemerkung des Herausgebers“, in: Hegel 2002, VII.

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die schließlich notwendig in ein neues Wissen – hier eine Neubewertung – münden. Die „Einleitung“ von Meist ist ganz auf die Rechtfertigung dieser „Neubewertung“ ausgerichtet, überzeugt – um es klar zu sagen – leider nicht.172 Meist macht sich auf die verdienstvolle Suche nach einem plausiblen Motiv für die Mühe des gesonderten Verfassens des Systems der Sittlichkeit (neben der Niederschrift der Vorlesungsmanuskripte zum Naturrecht). Merkwürdigerweise konsultiert er hierfür nicht das Manuskript selbst, das ja durchaus Hinweise auf seine spezifische Absicht gibt, sondern sucht einzig nach einem „Sitz im Leben“, der die Entstehung des Textes enträtseln soll.173 Hier beweist Meist die Begabung eines Detektivs, und so liest sich sein Deutungsvorschlag auch wie ein spannender Krimi, obwohl er eigentlich einen Indizienbeweis – wenngleich mit erheblicher suggestiver Kraft – führt. Dabei stützt er sich auf nachweisbare Fakten, spezifische Auffälligkeiten des Manuskripts, Besonderheiten der Hegelschen Arbeitsweise, die Berichte von Rosenkranz und Haym sowie seine Kombinationsgabe und den Mut zu überraschenden Thesen. Geradezu als Joker präsentiert er dabei den Sachverhalt, daß Hegel eine Vorlesung zur „Critik des Fichteschen Naturrechts“ zu halten beabsichtigt hatte (und zwar ausgerechnet im Wintersemester 1802/03). Diese Vorlesung ist jedoch schon aus formalen Gründen (weil es einem Privatdozenten untersagt war, Gratisvorlesungen zu halten) nicht zustandegekommen. Aus der Datierung der entsprechenden Schriftstücke ist zu entnehmen, daß Hegel mindestens im ersten Halbjahr 1802 noch damit rechnen mußte, diese geplante Vorlesung auch halten zu dürfen bzw. zu müssen. Die Diktion des Textes zeigt jedoch, daß er kaum für den mündlichen Vortrag bestimmt sein konnte; das Manuskript ist „systematisch ambitioniert“ und verlangt eine aufmerksame Lektüre; Meist schließt daraus, daß das System der Sittlichkeit nicht für eine Vorlesung, sondern eine Buchpublikation angefertigt wurde.174 Allerdings, so Meist, widersprechen dieser Annahme die offensichtlichen Schwierigkeiten und „vergleichsweise extreme[n] Unsicherheiten“, die Hegel mit der Gliederung des Stoffes hatte, denn für ein Buch müßte die Gliederungskonzeption doch eigentlich zuvor klar sein.175 Wie ist diese Merkwürdigkeit zu beheben? Meist behauptet hier einfach, daß Hegel von vornherein und noch während des Verfassens der Reinschrift geplant haben müsse, den Text nach der also nur vorläufigen Niederschrift einer erneuten Überarbeitung zu unterziehen. Meist schlägt vor, das System der Sittlichkeit als eine zusammenfassende Variante oder eine Art Zwischenspeicher oder auch nur vorläufiges Resümee der zuvor zwecks einer Kritik des Fichteschen Naturrechts angefertigten Vorlagen zu lesen: „[…] so daß der vorliegende Text eine – wenn auch weitgehend ausgearbeitete – Zwischenstufe im Übergang zu der anvisierten endgültigen Gestalt einer vorgesehenen Publikation zu repräsentieren scheint.“176 Plötzlich ist also gar keine Rede mehr von der Behauptung, es handle sich beim System der Sittlichkeit selbst – wie die Titelerweiterung und das Vorwort doch suggerieren – um jene detaillierte Kritik. Meist ist vorsichtig in seinen 172

Vgl. meine ausführliche Rezension und Kritik in den Hegel-Studien 37 (2004), 178–185. Vgl. z. B. Meist 2002, XIII, XXII, XXXII. 174 Meist 2002, XXII. Vgl. XXXI und XII. 175 Meist 2002, XXIII; vgl. XXVI. 176 Meist 2002, XXVI. 173

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Formulierungen, da natürlich auch ihm aufgefallen sein muß, daß der Charakter des Reinschriftmanuskripts eine solche Zuordnung verbietet (oder vielleicht weil er schrittweise einen Spannungsbogen aufbauen und erst zum Schluß den ‚zwingenden Beweis‘ präsentieren will?). Doch seine Hypothese möchte er nicht aufgeben, und so sucht er nach Möglichkeiten, wie sich die Ungereimtheiten aus dem Weg räumen lassen. Da die Vorlesung nun einmal nicht zustande kam, Hegel aber die Vorarbeiten schon geleistet hatte, habe er sich – zumal er bislang wenig publiziert hatte – fragen müssen, wie sie unter den veränderten Umständen zu verwerten seien. So sei er auf die Idee gekommen, das einst angesammelte Material nun für eine Buchpublikation zur Kritik des Fichteschen Naturrechts neu zu ordnen. Im Zuge der Niederschrift habe Hegel deutlich systematischere Fragestellungen verfolgen können, zumal der behandelte Gegenstand nicht mehr auf einen mündlichen Vortrag zugeschnitten werden mußte; die oben geschilderte Arbeitsweise begünstigte dabei eine Art Weiterverarbeitung und neue systematische Durchdringung des Stoffes. Was die generelle Beweisabsicht des Manuskripts überhaupt sei, könne man nach Meist nicht eindeutig sagen.177 Das spreche erst recht dafür, daß Hegel hier nur etwas zuvor und noch mit anderen Zielen Geschriebenes neu und auch nur vorläufig zusammenstellte und eine nachfolgende erneute Überarbeitung von vornherein eingeplant hatte. Damit wird dem Manuskript freilich indirekt sein Eigenwert genommen und es zu einer eher zufälligen Zwischenstufe degradiert. Nun überrascht es nicht unerheblich, daß Meist keine inhaltlichen Belege bietet. Dort, wo er es doch versucht, bleibt er weitgehend unbestimmt. An einer einzigen Stelle gibt es wenigstens einen Hinweis, aber sogar dieser bleibt ohne konkreten Nachweis. Das Beispiel: Wenn, wie Meist behauptet, die ursprüngliche Absicht des Textes auch verdeckt worden sei, so seien doch Spuren von ihr noch zu entdecken: Man könne nämlich feststellen, daß sich im System der Sittlichkeit immerhin „an achsialer Stelle auch eine – obendrein sogar namentlich hervorgehobene – unverkennbare Auseinandersetzung mit gewissen Thesen Fichtes nachweisen läßt“.178 Das ist leider alles – ein analytischer Vergleich der Argumente Fichtes und Hegels erfolgt hingegen nicht, nicht einmal wird die angebliche „achsiale Stelle“ benannt, geschweige denn erläutert.179 Warum aber soll es sich überhaupt um eine „achsiale Stelle“ handeln? Die einzig mögliche Textpassage (das folgt aus dem Hinweis, Hegel nenne Fichte namentlich) taugt für eine solche (wenn auch vage bleibende) Auszeichnung kaum: Hegel gebraucht hier nämlich – im Rahmen einer differenzierten Darstellung der „absoluten Regierung“ – ein Fichtesches Theorieelement lediglich zur Illustration, wie dem Wortlaut unschwer zu entnehmen ist („ein solcher Gedanke wie das Fichtesche Ephorat“) und aus dem unmittelbaren Zusammenhang (noch im selben Satz!) unzweifelhaft hervorgeht: „Ein forma177

Vgl. Meist 2002, XXVI. Meist 2002, XIVf. 179 Ohnehin fehlen für eine Studienausgabe eine Einleitung in den eigentlichen Text sowie Literaturhinweise. Der Anmerkungsapparat für den gesamten Hegelschen Text – immerhin über achtzig Druckseiten – beschränkt sich auf zwei (!) Angaben (vgl. 68, 72), die sich zudem auf von Hegel namentlich ausgewiesene Quellen beziehen. Die Kritische Edition enthält übrigens ähnlich unbefriedigend gerade einmal vier Anmerkungen, vgl. GW V 811. 178

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ler Gedanke der absoluten Regierung ist in allen Systemen der Theorie, so wie der Wirklichkeit anzutreffen, nämlich eine organische Zentralgewalt, und zwar eine die Konstitution bewahrende“.180 [Hervorhebungen von mir] Es ist schade, daß die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht erfolgt. Denn selbstverständlich gibt es zwischen Fichtes Ausarbeitungen zum Naturrecht und Hegels System der Sittlichkeit – wie ein Textvergleich leicht hätte zeigen können und in früherer Literatur mehrfach vermerkt wurde – diverse Berührungspunkte. Meist hätte sich der Mühe unterziehen müssen, wenigstens auf einige der tatsächlichen sachlichen Zusammenhänge hinzuweisen. Durch die Unterlassung bleibt die vorgenommene Titeländerung merkwürdig unbestimmt, um so mehr, als Meist die inhaltliche Angemessenheit des alten Titels gleichzeitig zugibt. Hier geht es aber primär nicht um den Titel: Ausschlaggebend ist die Behauptung, eine „gänzliche Neubewertung“ des Manuskripts sei notwendig und nun auch geleistet worden. Obwohl Meist selbst oft im Konjunktiv schreibt und eigentlich sehr vorsichtig, fast tastend formuliert, von einem plausiblen „Erhellungsvorschlag“ und einer „Mutmaßung“ spricht,181 teilt er offensichtlich dieses Urteil des Herausgebers. Jedenfalls hat er zugelassen, daß an privilegierter Stelle die Neubewertung nicht nur als Hypothese, sondern als Faktum suggeriert und offensiv beworben wird (Titelblatt, Vorwort, Umschlagseite). Was aber hat ihn hierzu konkret veranlaßt? In der historisch-kritischen Edition, für die Meist gleichfalls verantwortlich zeichnete, war im Anhang – auf den in der hiesigen Studienausgabe verwiesen wird – trotz noch ausführlicherer Schilderung des gleichen Sachverhalts keinerlei Rede davon. Meist hätte also gute Gründe gehabt, inhaltlich zu argumentieren; das hat er unterlassen, und daher ist seine „Neubewertung“ nicht überzeugend. Die Titelerweiterung führt insgesamt – sogar wenn man Meists eigener Darstellung folgt – in die Irre. Denn das „System der Sittlichkeit“ ist ja gar nicht die besagte „Critik“ selbst, sondern nur aus diesem Anlaß und mit vorerst unspezifischer Beweisabsicht nachträglich entstanden. Wozu also der neue Titel? Welchen konkreten Erkenntnisgewinn könnte man aus der Titelveränderung für das Verständnis des Manuskripts ziehen? Meist schweigt hierzu. Denn im System der Sittlichkeit, das gibt er zu, findet sich die durch den Titel zu erwartende detaillierte Auseinandersetzung mit Fichte gerade nicht. Allenfalls könnte Hegels Manuskript eine Kritik Fichtes in der Weise sein, daß es eine neue Lehre an die Stelle des älteren Fichteschen Naturrechts stellt. Aber auch das, obwohl es der Ausrichtung des Reinschriftentwurfs wenigstens nicht direkt widerspricht, jedoch einen weiten Naturrechtsbegriff erfordern würde, hat Meist nicht gezeigt. Man gewinnt den Eindruck, daß er sich der Beweislast, die er eigentlich zu tragen hätte, einfach entledigt, indem er einerseits den bisherigen Interpreten Fehler und indirekt auch Oberflächlichkeit und Unreflektiertheit vorwirft und andererseits kurzum, und zwar durchaus berechtigt, behauptet: „Jedenfalls reicht die im übrigen fraglose inhaltliche bzw. thematische Zuordnung dieses Textes zu einer systematischen Darlegung einer Philosophie des ‚objektiven Geistes‘ bzw. einer Philosophie der sittlichen Welt allein und als solche noch nicht hin, um ohne weiteres zu entscheiden, in welcher Absicht Hegels ursprüngliches Beweisziel konzipiert und erst später eventuell in ein davon unterschiedenes Kon180 181

Hegel 2002, 68. Meist 2002, XX, XXXI.

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zept umgegossen worden sein könnte.“182 Angesichts der so gravierenden Neubeurteilung, die wohlgemerkt nicht als Hypothese, sondern historischer Fakt präsentiert wird, reicht es jedoch nicht aus zu behaupten: „Nichts spricht dagegen […]“;183 hier muß man zwingende inhaltliche Beweise vorlegen. Das dürfte allerdings schwerfallen, und vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht zufällig, daß Meist die inhaltliche Diskussion des Manuskripts – von einem prägnanten schlagwortartigen Ausblick184 einmal abgesehen – gänzlich unterlassen hat. Es stellt einen immensen Unterschied dar, ob man behauptet, das System der Sittlichkeit sei aus dem Umkreis der Vorbereitungen für jene geplante und schließlich gescheiterte Vorlesung zur Kritik des Fichteschen Naturrechts nur hervorgegangen, oder ob man postuliert, das in Reinschrift überlieferte Manuskript stelle selbst die Vorlage für eine eigenständige Buchpublikation zu besagtem Thema dar. Ersteres kann nach Meists suggestiver Darstellung nicht mehr einfach ausgeschlossen werden; für die zweite Behauptung fehlt jedoch jeglicher konkrete Beleg, und sie tut dem Manuskript Gewalt an. Aus neuen Gesichtspunkten und Aufschlüssen zu den Umständen der Entstehung eines Textes resultiert nicht automatisch eine „Neubewertung“. Und Meist hat eine inhaltlich fundierte Bewertung auch gar nicht vorgenommen: Er hat lediglich über den Entstehungsgrund des Manuskripts gerätselt und dazu einige spannende Vorschläge unterbreitet. Es mit einer Hilfskonstruktion zu einer Fichtekritik zu stilisieren, die Hegel längst anderenorts und sogar schon öffentlich geübt hatte, ist hingegen der falsche Weg. Walter Jaeschke schreibt dem System der Sittlichkeit eine „Ausnahmestellung“ innerhalb Hegels Œuvre zu und das nicht allein als der überhaupt erstmaligen systematischen Ausführung seiner praktischen Philosophie, sondern auch aufgrund der spezifischen „doppelten Prägung der Bedingungen seiner Entstehungszeit“.185 Diese sei gekennzeichnet durch die Zusammenarbeit mit Schelling und den Gegensatz zu Fichte. Das System der Sittlichkeit stelle insgesamt einen Gegensatz zum neuzeitlichen Naturrecht dar, welches Hegel exemplarisch in Kants Metaphysik der Sitten und vor allem in Fichtes Grundlage des Naturrechts verkörpert sah. Die spezifische, von Hegel später nie wieder verwendete Methodik sei „eine einzigartige Hommage an Schelling“; diese schon von Haym konstatierte „Schellingsche Constructionsmanier“ dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich unterhalb dieser schematischen Oberfläche Hegels „scharfer Blick für das reiche Detail des Aufbaus der sittlichen Welt“ bewähre: Hegel „beschränkt sich nicht auf die im neuzeitlichen Naturrecht stereotyp wiederkehrenden Themen – Naturzustand, Vertrag, Pflichtenlehre, Rechtslehre – und auf die Methode ihrer Ableitung, sondern er bezieht tendenziell sämtliche Phänomene der sozialen Welt in seinen Ansatz ein und baut ihn erst hierdurch zu einem wirklichen System der Sittlichkeit aus: Er bietet eine vollständige ‚Phänomenologie‘ der ‚absoluten Sittlichkeit‘ als der sozialen ‚Natur‘ – und hierdurch wird die schematische und gleichwohl inkonsequente Grundkonstruktion aufgebrochen.“186 Während in der Rezeptionsgeschichte 182

Meist 2002, XXVIIIf. Meist 2002, XXXVIII. 184 Vgl. Meist 2002, XIIIf. 185 Jaeschke 2003, 152. 186 Jaeschke 2003, 152f. 183

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häufig der Schematismus des Hegelschen Manuskripts beklagt wurde und als Vorwand für dessen weitere Nichtbeachtung diente, konstatiert Jaeschke völlig nüchtern: „Der gedankliche Gehalt erschließt sich nicht von der Konstruktion, sondern von der Fülle der behandelten Themen her“.187 Neben der enormen thematischen Ausweitung sei jedoch zugleich eine thematische Verkürzung zu beobachten, „die zur Signatur der praktischen Philosophie Hegels insgesamt geworden ist: Bereits das System der Sittlichkeit kennt keine von der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch gesonderte Ethik.“ Hegel habe die sich erst im 18. Jahrhundert vollziehende Differenzierung des zuvor einheitlichen Naturrechts – die Dualität von Rechts- und Tugendlehre bei Kant oder Fichtes Aufteilung in Grundlage des Naturrechts und System der Sittenlehre – wieder zurückgenommen. Für diese „erneute Integration“ der beiden erst kurz zuvor getrennten Disziplinen in eine differenzierte Einheit verwende Hegel den Schlüsselbegriff der „Sittlichkeit“.188 Die „gegenwärtige Reputation“ des Manuskripts verdanke sich vor allem dem Umstand, daß in ihm die Themen der „Anerkennung“ oder auch von „Herrschaft und Knechtschaft“ berührt würden, beides ausgerechnet von Fichte initiierte Themen, gegen dessen Grundlage des Naturrechts sich Hegels Schrift gewandt hatte.189 Andreas Arndt hat in verschiedenen Aufsätzen (die inzwischen in einem Buch190 erschienen sind) nicht nur allgemein auf die Bedeutung des Systems der Sittlichkeit hingewiesen, sondern an ausgewählten Beispielen auch die Innovationskraft dieses Textes unterstrichen. Dabei konzentrierte er sich überwiegend auf Hegels Arbeitsbegriff: Entgegen den meisten Interpretationen vertritt er die These, daß Hegel diesen nicht nur einfachhin und fertig aus der politischen Ökonomie übernommen und dann erweitert, sondern umgekehrt seine eigene Systemkonzeption ihn zu einer produktiven Aufnahme bestimmter Aspekte jener Theorie befähigte habe. Arndt zeigt, daß für Hegels konkreten Gebrauch des Arbeitsbegriffs in der politische Ökonomie gerade keine Vorläufer zu finden seien. Selbst die grundlegende Hegelsche Konzeption des Begriffs der Arbeit als Vermittlungszusammenhang mit der Natur sei in der von ihm rezipierten ökonomischen Literatur nicht auffindbar.191 Auch gebe es für die konstatierte Negativität der realen bürgerlichen Ökonomie kein konkretes Vorbild. Arndt macht zudem auf Motive der Auseinandersetzung mit Fichtes Naturrechtskonzeption aufmerksam, die sich teils noch im System der Sittlichkeit zeige, nämlich indem auf spezifische Fichtesche Schwierigkeiten von Hegel mit einem Gegenentwurf geantwortet werde. Auch das könne man am Arbeitsbegriff ablesen. Zwar habe schon Fichte in materialer Hinsicht die Arbeit als Naturproduktion und Stoffwechsel mit der Natur als Voraussetzung des gesellschaftlichen Lebensprozesses thematisiert, doch blieb seine physiokratische Auffassung bei einer Entgegensetzung der Natur gegen die Praxis stehen. Hegel aber gelinge im System der Sittlichkeit weit mehr – indem er hier die Naturproduktion als die Arbeit subsumierend in Beziehung zur Arbeit setze, hebe er die physiokratische Auffas187

Jaeschke 2003, 153. Alle Zitate: Jaeschke 2003, 153. 189 Jaeschke 2003, 154. 190 Andreas Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003. 191 Vgl. meinen Exkurs zum Arbeitsbegriff, wo Arndts Thesen aufgegriffen werden. 188

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sung gleichsam auf: „In der Totalität der Arbeit, die zunächst durch die Wechselwirkung des Bestimmtseins und Bestimmens charakterisiert ist, wird die Natur nicht mehr nur als Voraussetzung, sondern zugleich als internes Moment der Arbeit gesetzt.“192 Während die Sachaussagen zur Ökonomie im engeren Sinne in den auf das System der Sittlichkeit folgenden Entwürfen laut Arndt keine wesentlichen Änderungen mehr erfahren würden, ändere sich aber durchaus noch der systematische Rahmen für die Thematisierung der Ökonomie.193 Und die modifizierte Systemkonzeption ab 1803/04 habe dann gravierende Auswirkungen auf den Begriff der Arbeit selbst, es komme schließlich zu einer „Entnaturalisierung der Arbeit“, geradezu wieder zu einer „Austreibung der Natur aus der Arbeit“.194 Trotz dieser bedeutsamen Wendung des Arbeitsbegriffs in Richtung auf die zuvor kritisierten Theorien „fällt Hegel nicht hinter den 1802/03 erreichten Stand der Einsicht in den Zusammenhang ökonomischer Verhältnisse zurück. Ist die Arbeit an und in der Natur zwar nur noch ein Spezialfall der Arbeit des Geistes, die von vornherein auf ihre bewußtseinsmäßigen Momente hin ausgelegt wird, so bildet das System der Bedürfnisse doch weiterhin ein System innerhalb der Geistesphilosophie.“195 So wenig überzeugend der neue Untertitel zum System der Sittlichkeit m. E. auch ist, so hilfreich sind die von Meist 2004 nachgereichten Betrachtungen zur Thematik.196 Er zeigt hier klar, wie Hegel in Absetzung von verschiedenen Theorien (und eben vorrangig der Fichteschen) sein System konzipiert und im System der Sittlichkeit auch durchgestaltet. In diese Darstellung fließen einige exemplarische Detailkommentare ein, die zudem die historischen Umstände der Entstehungszeit beleuchten und nachweisen, wie Hegel in seinem Manuskript auf damals öffentlich diskutierte Fragen Bezug nimmt und „auf gewisse berühmt gewordene Entscheidungssituationen aus der jüngsten Geschichte der Französischen Revolution“ reagiert.197 Meist gelingen in seiner gedrängten Darstellung treffende Formulierungen und vorzügliche Zusammenfassungen, vor allem zum ersten und dritten Teil des Textes.198 Das System der Sittlichkeit wird weiterhin als Critik des Fichteschen Naturrechts interpretiert, welche sich „gegen das von Fichte selbst eingeräumte Konzept einer lediglich theoretisch konstruierten, aber immer nur mittelbar erdenklichen naturrechtlichen Begründung eines universalen kosmopolitischen Rechtsstaates“ richte.199 Natürlich kann und muß man Hegels eigenständigen Entwurf als dem Fichteschen widersprechend auffassen, und viele Einzelaspekte kann man durchaus als direkte Antwort auf Fichtesche Formulierungen lesen; allein der 192

Andreas Arndt, „Die gesellschaftliche Form der Arbeit: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie“, in: Arndt 2003, 47–69, hier: 58. 193 Arndt 2003, 63. 194 Arndt 2003, 64 und 65. 195 Arndt 2003, 67. 196 Kurt Rainer Meist, „Hegels ‚Critik des Fichteschen Naturrechts‘. Über die systematischen Anfänge der ‚Philosophie des Rechts‘“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2 (2004), 177–219. 197 Meist 2004, 210. Vgl. die in der Fußnote 34 angegebenen Beispiele. 198 Vgl. Meist 2004, 206f. und 211–214. 199 Meist 2004, 208.

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konstruktive Aufbau und die systematischen Kernthesen sind m. E. weit mehr als eine bloße Kritik an Fichte, und die von Meist recht allgemein gehaltene Formulierung weist selbst darauf hin, daß Hegels Ausführungen eben auch gegen Fichtes Konzept stehen. Ebenso richtet sich das Manuskript aber gegen noch ganz andere dominierende Theorien. Meist gibt das unumwunden zu: „Hegels systematisch exponierter Vorschlag einer Auflösung der von ihm freigelegten Aporien in den Staatsumwälzungen seiner Zeit und zugleich in den zugehörigen ‚wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‘ wollten den Versuch wagen, in den leitenden Konzepten, sei es von Rousseau, sei es von Hobbes, die Wahrheit vom Irrtum zu sondern.“200 Und nach Meist war dieser Versuch durchaus erfolgreich, er konstatiert die außerordentliche Syntheseleistung Hegels und relativiert damit selbst seine m. E. einseitige und fehlgehende Interpretation des Manuskripts als vorrangige Fichtekritik: „Indem Hegels Konzept […] aus zwei wechselseitig sich ergänzenden Theorien des Naturrechts eine wissenschaftliche Begründung gewinnt, vermag dieser Ansatz den überaus komplexen Prozeß aufzuzeigen, in dessen Darstellung die abstrakten Einseitigkeiten jener historischen Theorieansätze vermieden werden. Es ist […] jene in der animalischen, das heißt, nach Aristoteles ‚ersten‘ Natur entspringende Vorgeschichte des objektiven und darüber hinaus der Bestimmungsmomente des absoluten Geistes, deren organische Entfaltung hier dafür herangezogen wird, um im Rahmen des Systems der Sittlichkeit endgültig [sic!] darzutun, in welchem Sinne die Bildung eines sowohl individuellen wie zugleich und in der selben Rücksicht eines gesellschaftlich-kollektiven Bewußtseins als der gesuchte Übergang von der Natur zum ‚Geist‘ aufzufassen sei.“201

200 201

Meist 2004, 216. Meist 2004, 212f.

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3. Rekonstruktion der Methode und des logischterminologischen Gefüges des Manuskripts anhand der Schriften des Kritischen Journals sowie weiterer gedruckter Quellen Die komplizierte Terminologie und unzugängliche, mitunter verwirrende Methodik stellen eine der größten Schwierigkeiten für das Verständnis des Textes dar. Sie vor allem – das kann man bereits an den gänzlich gegensätzlichen und sich wechselseitig ausschließenden Interpretationen der Grundtermini „Anschauung“ und „Begriff“ exemplarisch verfolgen – haben zu argen Mißdeutungen des Werks geführt. Man darf wohl andererseits auch annehmen, daß der Reichtum des Systems der Sittlichkeit vielen potentiellen Interessenten gerade deshalb verschlossen bleibt, weil Hegel sich in eben jener spezifischen und nicht leicht zugänglichen Sprache ausdrückt. „Wäre das System der Sittlichkeit nicht in einer methodisch so wenig glücklichen Form abgefaßt, so könnte man es vielleicht als die beste Einführung in Hegels Weltanschauung bezeichnen.“1 Ein generelles Hindernis für den direkten Zugang zum Text bildet das gesamte, dem natürlichen Weltzugang zunächst widersprechende Verfahren der Transzendentalphilosophie sowie der sich an sie anschließenden Philosophien.2 Infolgedessen bewegen sich viele Ablehnungen nur auf der Ebene des Spotts und des voreiligen Aburteilens.3 Aber auch scharfe Kritiker, die durchaus die spezifischen Errungenschaften jener Philosophie zu würdigen und zu verteidigen wissen, beklagen deren Impetus: „Nirgends hat sich der 1 2

3

Glockner 1940, 385. Henrich hat diese Philosophien einmal als Monismus bezeichnet: „Der Monismus kann sich nur im theoretischen Widerstand gegen die Voraussetzungen entfalten, mit denen sich das natürliche Verständnis der Welt auf die vielen Einzelnen und auf die Beziehungen einläßt, die zwischen ihnen bestehen. Er bestreitet, daß zwischen solchem Einzelnen in Wahrheit die radikale Unterschiedenheit stattfindet, von der wir zunächst stets ausgehen“. (Henrich 1993, 144f.) Es sei daran erinnert, daß schon Hegels Zeitgenossen und selbst viele seiner eigenen Studenten in Jena gehörige Schwierigkeiten hatten, ihm zu folgen. In einem Brief an Rosenkranz, den dieser für seine Biographie verwendete, schreibt Gabler (der 1835 Hegels Nachfolger in Berlin wurde): „Übrigens aber war für uns und die meisten die neue Philosophie damals [Gabler bezieht sich auf die Jahre 1805/06 – d. A.] noch ein großes wirres Chaos, in dem alles noch erst sich ordnen und gestalten sollte, ein allgemeiner Schwindel und Taumel, in welchen alles hineingerissen wurde. Und nicht bloß, daß das Absolute, welches alles verschlang, bei aller Macht des Zaubers, den es auf alle übte, doch noch etwas Unbestimmtes oder Leeres war, von dem man nur wußte, daß die Welt unseres gemeinen Bewußtseins etwas darin Negiertes sei; auch die bestimmten Entwicklungen und Gestaltungen, welche der Meister vorführte, schwammen bei den meisten nur noch in dem allgemeinen Elemente umher und wurden von wenigen in ihrer Bestimmtheit gefaßt. Ohnehin war mit der Negation der ganzen vorigen Denk- und Vorstellungsweise auch die Sprache und Terminologie, in welcher sie auftrat, so fremd und ungewohnt als die Sache selbst, und was jetzt [1840 – d. A.], in das allgemeine Denken und Bewußtsein bereits aufgenommen, leicht verstanden wird, bot damals unüberwindliche Schwierigkeiten dar.“ Zitiert nach Hegel-Studien 4 (1967), 67f.

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‚vornehme Ton‘ des Philosophierens, den Kant bekämpft, in solcher Schärfe und Schroffheit, wie in den programmatischen Sätzen des Kritischen Journals der Philosophie vernehmen lassen, mit denen Hegel seine Wirksamkeit als philosophischer Schriftsteller eröffnet.“4 Wenn aber die Philosophie den sogenannten gesunden Menschenverstand über seine Irrtümer aufklären will, ist das keine Vornehmheit oder Arroganz, sondern eine wesentliche kulturelle Funktion. Schellings (frühe) sowie Hegels Schroffheit sollen lediglich simplifizierende Auffassungen der Aufklärung treffen, nicht aber deren Grundanliegen. Was Hegel betrifft, kann man jedenfalls genau zeigen, daß er großen Wert auf Verständlichkeit legte und immerfort die Explizierbarkeit eines Gedankens forderte; daraus resultierten bekanntlich auch Differenzen zu Schelling und jene berühmte Passage aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Hier ist nicht der Ort, Hegels Philosophie zu verteidigen oder zu verurteilen, ich frage nur nach der sachlichen Angemessenheit. Die Grundthese ist freilich die, daß die gesamte nach Kant einsetzende Philosophie des sogenannten Deutschen Idealismus nicht ein verhängnisvoller Irrtum war,5 sondern sich Problemen widmete, die sich unweigerlich ergeben mußten.

3.1. Vorbemerkung Die Erläuterung der Methode des Systems der Sittlichkeit ist im Rahmen meiner Untersuchung notwendig, weil sie maßgeblich dafür verantwortlich ist, in welchem Zusammenhang und welcher Aufeinanderfolge die verschiedenen Sachkomplexe des Hegelschen Manuskripts auftreten. Man könnte sogar sagen, daß die vorausgesetzte Methode, was soviel heißt, daß sie nicht in diesem Text begründet, sondern von Hegel als selbstverständlich be- und anerkannt angenommen wird, darüber vorentscheidet, wie welche 4

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Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1994, Bd. III, 302. Als Beleg zitiert Cassirer: „Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht, noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschheit versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.“ Cassirer konstatiert aber spätestens für die Phänomenologie des Geistes einen Bruch; konnte zuvor das Absolute nur mittels der intellektuellen Anschauung ergriffen werden, kann nunmehr die Gestalt, in welcher Wahrheit existiert, allein das wissenschaftliche System derselben sein, und zwar in der Form des Begriffs. (Ebd., 303) So Herbert Schnädelbach: „Der deutsche Idealismus [insbesondere Hegels Philosophie] ist ein philosophiehistorisches Unglück“; „Ich habe nichts gegen Hegel-Veranstaltungen, wenn dabei deutlich wird, daß es sich bei dieser Philosophie um einen schönen, aber ausgeträumten intellektuellen Traum handelt“. Von Hegels Philosophie könne man nur lernen, „wie es nicht geht. Eine Kantische Philosophie hingegen können wir vertreten“. In: Information Philosophie 4/1999, 76ff. Vgl. dagegen Richard Kroner, der in seinem Beitrag „Hegel heute“ für den ersten Band der HegelStudien (1961, 135–153) erläutert, „warum ich noch heute wie vor 40 Jahren der Ansicht bin, daß man bei Kant nicht stehen bleiben kann“. (151) Kroner hatte schon in den zwanziger Jahren das zweibändige Werk Von Kant zu Hegel geschrieben.

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Probleme dargestellt werden.6 Was im System der Sittlichkeit also der Methode nach stringent erscheint, hat mitunter mit der sachlichen oder historischen Entwicklung wenig gemein. Hegels Systematisierungswille ist unübersehbar, er führt jedoch stellenweise zu nicht akzeptablen Gewaltsamkeiten.7 Eine weitere Notwendigkeit für die folgenden Erläuterungen zur Methode ergibt sich daraus, daß diese keineswegs als bekannt vorausgesetzt werden kann. Im Hegelschen Œuvre ist sie – in dieser extremen Ausprägung – einzigartig und steht nicht für das, was man gewöhnlich unter Hegelscher Methodik einordnen zu dürfen glaubt. Der geringe Bekanntheitsgrad des Textes unter Philosophiehistorikern und selbst Hegelspezialisten zwingt also dazu, die von Hegel allein in diesem Text angewandte Potenzierungsmethode und das zugehörige terminologische Gerüst wenigstens kurz vorzustellen. Dabei wird wiederholt und in verschiedenen terminologischen Zusammenhängen auf Schellings Philosophie zurückgegriffen werden müssen: Denn es ist vor allem die von Schelling ausgearbeitete Terminologie, die Hegel – sie dabei modifizierend – hier radikal über seine Stoffmassen zu stülpen versucht.8 Möglicherweise sind ihm, der sich diesbezüglich noch als von Schelling Lernender verstand, bei diesem Versuch Defizite jener Terminologie und Potenzierungsmethode aufgegangen.9 Es ist jedenfalls unbestreitbar, 6

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Der Vorwurf der Schematisierung ist keineswegs unberechtigt, doch sollte er nicht dazu dienen, den Text generell abzuurteilen. Vgl. hierzu auch Göhler 1974, 387, Anm. 27, der den Charakter der Konstruktion betont: „Hegel untersucht die empirischen Phänomene auf eine Struktur hin, die eine Zuordnung auf eine Systemstufe erlaubt.“ Dabei geschieht es mitunter, daß er bestimmte Phänomene, um sie „in ihrer Struktur als die systematisch geforderten Vermittlungen gemäß den Subsumtionen festmachen“ zu können, aneinander reiht „ohne Rücksicht darauf, daß nur ihr logischer, nicht aber ihr empirischer Gehalt eine solche Abfolge sinnvoll erscheinen läßt“. Hegel orientiert sich an Schellings terminologischen Vorgaben zur Erfassung des „Absoluten“, die jener „zur Zeit von Hegels Eintritt in die Dozentur ausgearbeitet hatte. Ihr hat sich Hegel angeschlossen – gewiß nicht schülerhaft wortgetreu, sondern in eigenständiger Ausarbeitung, aber ohne Dissens im Prinzipiellen. Besondere Denkkraft in der Entwicklung formaler Interdependenzen und die Ergebnisse, zu denen er in seinen früheren Analysen der Form von Weltzuständen und Entwicklungsgründen in der Geschichte gekommen war, befähigten Hegel dazu, die Begriffsform, in der Schelling seine Konzeption vorgetragen hatte, weiterzubilden und in eine neue Begriffsform zu überführen. Die wiederum ließ es notwendig werden, auch die Konzeption des Systems als ganzem zu verändern. So entstand die Systemform, die nur Hegel zu entwerfen und auszuführen wußte.“ Henrich 1993, 144. Hegel hat sich später (in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie) sehr kritisch über Schellings Potenzenlehre geäußert: Sie sei ein „großer Formalismus“ (20/443), „oberflächliche Bestimmung ohne Notwendigkeit; statt Begriffe finden wir Formeln“ (20/444). Der „Fortgang erscheint mehr als ein äußerlich angebrachtes Schema, das Logische des Fortgangs ist nicht entwikkelt; und dadurch hat sich die Naturphilosophie besonders in Mißkredit gesetzt, indem sie auf ganz äußerliche Weise verfahren ist, ein fertiges Schema zugrunde legt und darunter die Naturanschauung bringt. Diese Formen waren bei Schelling Potenzen“ (20/445). Trotz aller Kritik würdigt Hegel weiterhin Schellings Verdienste: „Das bedeutendste oder in philosophischer Rücksicht einzig bedeutende Hinausgehen über die Fichtesche Philosophie hat Schelling endlich getan“ (20/420). „Dies ist nun die letzte interessante, wahrhafte Gestalt der Philosophie, die wir zu betrachten hatten. Die Idee selbst ist bei Schelling herauszuheben, daß das Wahre das Konkrete ist, die Einheit

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daß Hegel es nicht vermochte, mit ihr seine Fragestellungen zufriedenstellend zu strukturieren, sie sich vielleicht sogar als ein lästiges Korsett erwies. Daß er sie anschließend verwarf, ist historisch belegt und spricht für sich.10 Andererseits folgt Hegel auch schon in diesem Manuskript nicht sklavisch den Schellingschen Vorgaben, sondern arbeitet bereits ebenso z. B. mit dem Prinzip der Negativität, welches bei Schelling damals keine Parallele hat. Es handelt sich also nicht um eine nur einseitige Abhängigkeit.11 Gleichwohl hat man den Eindruck, daß Hegel noch nicht ganz zu seiner eigenen Sprache gefunden hat und sich daher einstweilen dankbar der Schellingschen Termini bedient.12

3.2. Terminologische Besonderheiten, resultierend aus dem spekulativen Verfahren der Konstruktion Hegel ist ohne Zweifel ein Anhänger und Vertreter des spekulativen Philosophierens. Der Ausdruck „spekulativ“ hat dabei einen spezifisch philosophischen Sinn und wenig damit zu tun, wie er noch heute – meist abwertend – in der Umgangssprache gebraucht

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des Objektiven und Subjektiven. Jede Stufe hat im System ihre eigene Form; die letzte ist die Totalität der Formen“ (20/453). Nur ganz vereinzelt wird in der Forschungsliteratur erwogen, ob jene frühe Methode nicht auch Vorzüge gegenüber der späteren aufweist. Aber auch dann wird noch die Form, die sie im System der Sittlichkeit annimmt, kritisiert. Vgl. z. B. Kimmerle 1982, 215f.: „Im übrigen ist durchaus zu fragen, ob nicht eine solche, mehr als heuristisches Prinzip verstandene Methode gegenüber der später von Hegel entwickelten, in sich notwendig fortschreitenden auch gewichtige Vorteile bietet, weil sie sich flexibler auf die empirischen Gegebenheiten beziehen kann. In der hier praktizierten Form haftet dieser Methode freilich eine gewisse Künstlichkeit an.“ Zur Zusammenarbeit von Schelling und Hegel gibt es umfangreiche und sehr ergiebige Literatur. Vgl. vor allem den Sammelband: Dieter Henrich und Klaus Düsing (Hg.), Hegel-Tage Zwettl 1977, Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling (Hegel-Studien Beiheft 20), Bonn 1980; außerdem Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979. Was die konkrete Methodik des Systems der Sittlichkeit selbst anbelangt, so hat sich erst Anfang der 1980er Jahre Walther Ch. Zimmerli der Mühe unterzogen, einen detaillierten Nachweis über die wechselseitige Beeinflussung der beiden Philosophen zu führen. Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 242. Während sich Hegel in der Logik, Metaphysik und Naturphilosophie an die Sprache seiner Vorgänger anschließen konnte, war ihm das auf dem Gebiet der Philosophie des Sittlichen nicht möglich. „Hier mußte sich Hegel durchaus als ein Beginner fühlen; was Schelling vor der Wiederbegegenung mit ihm auf diesem Gebiet vorgebracht hatte, war, soweit es nicht bei den Grundfragen stehen blieb, ohne Selbständigkeit und Breite gewesen. Fichte der Ethiker aber erschien Hegel vom Boden der eigenen Erkenntnis in so unendlicher Ferne, daß er auch eine scheinbar nur äußerliche Anknüpfung verschmähen mußte. Und überdies war Hegel weit davon entfernt, die Sprache als etwas rein Äußeres aufzufassen. […] Da nun also hier in seinem eigensten Gebiet, das er eben jetzt zu erschließen sich bereitete, die Anknüpfung an die gegebene Sprache nicht in Betracht kam, weil eben der Anschluß an die gegebene Philosophie ihm hier unmöglich war, so sah er sich auf neue Sprachmittel angewiesen. Und da lag es ihm nicht so fern, zu der neuesten Sprache Schellings zu greifen, die von allen Erinnerungen an eine fremdartige ethische Lehre, welche der Fichteschen Sprache unvermeidlich anklebten, frei war.“

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wird. Hegel selbst hat öffentlich sein Bekenntnis zur spekulativen Philosophie abgelegt und wollte dies ausdrücklich nicht als bloße persönliche Versicherung angesehen wissen, sondern vielmehr als in der Sache der Philosophie selbst begründet. In der Differenzschrift finden sich hierfür maßgebliche, prominente Passagen (vgl. z. B. IV 77).13 Ich erwähne das, um den Horizont des Hegelschen Philosophierens in Erinnerung zu rufen und die Traditionslinie zu verdeutlichen, in der es zu jener Zeit stand. Das hilft zu verstehen, wie eine derart komplizierte, allem Alltagsverständnis – dem gesunden Menschenverstand, wie Hegel sagte – widersprechende Methode bzw. Theorie entstehen konnte. Man muß sich klarmachen, daß entscheidende Ansätze dieser Theorie auf Fragestellungen antworteten, die sich nicht aus dem „Leben“, sondern aus spezifischen Leistungen und Problemfeldern der Philosophie Kants ergeben hatten.14 Berücksichtigt man diese Vorgeschichte nicht, ist der Vorwurf der unnötigen Schwere oder Künstlichkeit der Methode nicht fern.15 Aber selbst wenn man die Problemgeschichte kennt, ist damit noch nicht entschieden, ob die neuen Lösungsvorschläge tatsächlich bessere Antworten auf Kants Fragen enthalten. Man darf hier, in einer eigentlich nur wenige Jahre andauernden stürmischen Entwicklungsperiode der Philosophie, auch von durchaus produktiven Mißverständnissen sprechen. Daß die Theoretiker Fichte, Schelling und Hegel sich trotz sachlicher Einwände immer als treue Anhänger Kants verstanden, sagt viel über deren Intention und zugleich ihr Erbeverständnis. Aus dem Gesagten soll an dieser Stelle lediglich erhellen, daß die hier zu behandelnde Methode auf dem Boden heftig umstrittener philosophischer Probleme entstand, nicht also in einem luftleeren Raum als exaltiertes Programm ausgedacht wurde. Der Hinweis, Hegels Philosophie verstehe sich als eine spekulative, soll zugleich erklären, weshalb er eine so merkwürdig anmutende Begrifflichkeit benötigt. Die Hegelsche Systemkonstruktion basiert – technisch gesehen – auf verschiedenen logischen Grundoperationen, die einen erheblichen terminologischen Aufwand erfordern. Die entscheidenden Termini sind genau aufeinander abgestimmt und dürfen nicht voneinander isoliert werden, will man ihre Bedeutung erfassen. Derartige Grundtermini, die schon auf den die Methodik in gedrängtester Form skizzierenden ersten anderthalb Seiten des Systems der Sittlichkeit (sogenannte „Einleitung“) dominieren, sind unter 13

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Hier stimmt Hegel mit Fichte überein, der als Richter über sein Werk keinen Empiriker zulassen will. Vgl. Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution: „Ein spekulativer Denker sey mein Richter, oder Niemand!“ Fichte 1845–1846, Bd. VI, 55 (Anmerkung). Das heißt nicht, daß die vorgegebenen Perspektiven und Problemstellungen Hegels Philosophieren gänzlich dominieren; doch sie haben einen starken Einfluß auf die gewählte Form der Darstellung, und Hegel versucht zudem deutlich, sich an die moderne Philosophie anzuschließen. In der Einleitung ist bereits auf die vielfältigen Motive Hegelschen Philosophierens eingegangen worden; Hegel kam eigentlich erst aus dem Bedürfnis der Aufhebung der fixen Entgegensetzungen in der ihn umgebenden Kultur zum eigenständigen Philosophieren und erfüllt damit im Grunde die Husserlsche Forderung aus „Philosophie als strenge Wissenschaft“: „Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und den Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen.“ Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Bd. 25, Dordrecht 1987, 61. Hegel ist trotz seines vielfach dokumentierten, ungewöhnlich breiten Interesses in erster Linie Philosoph, der die meisten seiner Texte für Philosophen, also für ein Fachpublikum schreibt.

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anderem: Idee, Anschauung, Begriff, Subsumtion, Identität, Allgemeines, Besonderes, Totalität, Verhältnis, Natur, Potenz.16 Wie schon bemerkt, sucht man im Hegelschen Text selbst vergeblich nach einer Hilfe, die den Gebrauch jener Ausdrücke aufklären könnte. Das ist für die Lektüre nicht nur beschwerlich, sondert zwingt zu einer Vergewisserung, die andere Quellen mit einbezieht. Zugleich darf und muß man diesen Umstand als einen Beleg dafür deuten, daß das System der Sittlichkeit nicht ganz von vorn beginnt, sondern auf eigene Vorarbeiten zurückgreifend einen bestimmten Teil des philosophischen Systems entwickeln soll. Darüber, wie jenes System zu diesem Zeitpunkt beschaffen, ob es drei- oder vierteilig war usw., gibt es in der Forschung Streit. Im Moment ist jedoch lediglich von Bedeutung, daß das System der Sittlichkeit bereits wichtige Prämissen, insbesondere den Gebrauch der Terminologie, voraussetzt.

3.3. Quellen für die Terminologie des Systems der Sittlichkeit Aufklärung über den Hegelschen Gebrauch der genannten Begriffe, die allesamt von anderen Philosophen schon verwendet worden waren, gewinnt man, indem man die frühen Publikationen Hegels zur Hilfe heranzieht. Ich konzentriere mich für die Explikation jener Termini überwiegend auf Hegels erste Druckschriften und die Aufsätze aus dem Kritischen Journal, insbesondere auf die Differenzschrift und den Naturrechtsaufsatz. Wegen der unmittelbaren zeitlichen Nachbarschaft, der Nähe des Gegenstandsbereichs, sowie der übereinstimmenden systematischen Konzeption stellt m. E. der Naturrechtsaufsatz die wichtigste Quelle für das Verständnis des Systems der Sittlichkeit dar.17 Man muß also nicht erst aus der umstrittenen – denn die Quellen sind spärlich und unvollständig – frühen Jenenser Logik die Begrifflichkeit auf das System der Sittlichkeit applizieren,18 sondern kann am Beispiel des nahezu gleichzeitig verfaßten und zudem 16 17

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Die „Potenz“ wird in der „Einleitung“ erstaunlicherweise noch gar nicht erwähnt. Hierin findet sich z. B. die von Hegel betriebene Parallelisierung von „Idealität“ – „Realität“ mit diversen anderen Begriffspaaren, z. B. mit „Allgemeinheit“ – „Besonderheit“, „Anschauung“ – „Begriff“ oder auch „Unendlichkeit“ – „Endlichkeit“. Vgl. auch Schnädelbach 2000, 76. Vgl. etwa Tredes sachlich äußerst informativen Aufsätze: „Hegels frühe Logik“, außerdem: „Mythologie und Idee“. Trede bezieht natürlich auch gedruckte Quellen ein; sein Ziel ist primär eine Rekonstruktion jener ersten Logik. Das System der Sittlichkeit nimmt er als einen Prüfstein für diese rekonstruierte Logik, versucht also, an ihm deren maßgebliche Bestimmungen nachzuzeichnen. Die Übereinstimmung sei „evident“. Allerdings muß er für diese These unterstellen, daß im zweiten Teil „inhaltlich keine neuen Bestimmungen gesetzt werden, sondern lediglich die Formen des Aufhebens der vorausgesetzten Inhalte der Endlichkeit“. Vgl. Trede 1972, 155. Letzterer Punkt scheint mir nicht zu stimmen. Es wird nicht nur einfach das im ersten Teil Behandelte negiert, es treten auch neue Indifferenzen auf, die zuvor definitiv nicht vorhanden waren (Kampf, Rache usw.); auch die hier thematisierte Ehre ist etwas Neues und keine nun nur noch hinzutretende Negation. Die These, daß die wechselseitigen Subsumtionen von Anschauung und Begriff eine Rolle nur in den zum eigentlichen System (dritter Teil) hinführenden Teilen spielten (Trede 1973, 178), wird durch die Textbasis infragegestellt. Vgl. exemplarisch V 349.

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publizierten Naturrechtsaufsatzes ersehen, wie Hegel die Begriffe mit dem Untersuchungsbereich der Sittlichkeit konkret verknüpft.19 Weil aber das System der Potenzen anhand der genannten Texte oder gar des Systems der Sittlichkeit allein nicht verständlich gemacht werden kann, muß zusätzlich auf dafür maßgebliche Quellen, z. B. Schellings Fernere Darstellungen20 und weitere Aufsätze aus dem Kritischen Journal, zurückgegriffen werden. Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis und die Zwischenüberschriften der Ferneren Darstellungen legt nahe, daß der Einfluß Schellings auf die Konzeption des Systems der Sittlichkeit erheblich gewesen sein muß. Die im Hegelschen Text nur rudimentär enthaltenen methodischen Anweisungen sind von Schelling in weitgehender Klarheit ausgeführt, die einzelnen Termini zueinander in Relation gesetzt und definiert. Ob Hegel sich konsequent an die Schellingschen Vorgaben hält, ob er sie überhaupt aus den Ferneren Darstellungen oder nur aus Gesprächen kennt, ist nochmals eine andere Frage.21 Ohne Zweifel aber empfindet er das philosophische Konstruieren Schellings als vorbildlich und übernimmt – jedenfalls für das System der Sittlichkeit – weitgehend dessen Begrifflichkeit.22 Bevor ich auf die einzelnen Termini eingehe, zunächst ein Überblick über das generelle Verhältnis von Schelling und Hegel, ihre übereinstimmenden Überzeugungen und erste Verschiedenheiten. In der Forschungsliteratur findet sich eine Fülle von Titeln, die Hegel mit anderen Personen in Verbindung bringen: Hegel und Kant, Hegel und … Hölderlin, Goethe, Herder, Platon, Aristoteles, Leibniz, Spinoza usw. oder kurzerhand auch „Hegel und wir“. Diese Studien enthalten in der Regel erhellende Informationen und erklären zuvor unverstandene Konstellationen. Dennoch bleibt die Frage, wofür das „und“ steht; um so mehr, sofern es sich nicht um Personen handelt, mit denen Hegel selbst zu tun hatte. Bei der Konjunktion „Hegel und Schelling“ verhält es sich freilich anders, denn diese bei19

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Vgl. unten die Unterscheidung von physischer und sittlicher Natur im Abschnitt zum Naturbegriff sowie den Abschnitt zur Skizze eines Systems der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz. Vgl. vor allem §§ 4 und 5. Ich möchte daran erinnern, daß Schelling über die philosophische Konstruktion nicht nur schon in der gemeinsamen Zeitschrift geschrieben hatte, sondern daß er diesen Teil der Ferneren Darstellungen zusätzlich in einer weiteren Zeitschrift, nämlich seiner Zeitschrift für spekulative Physik, drucken ließ. Er schien diese Frage offensichtlich als wesentlich zu betrachten, und Hegel war durch seinen engen und unmittelbaren Kontakt mit Schelling zweifellos hiermit vertraut. Wechselseitige Beeinflussungen sind sehr wahrscheinlich. Kroner ist sogar der Auffassung, daß Schelling in seinen Ferneren Darstellungen bereits auf Hegels Differenzschrift reagiert und sein eigenes Konzept anzugleichen sucht: „Niemals vorher oder nachher ist Schelling so nahe an Hegels Methodik herangerückt; dennoch bleibt er unfähig, sie zum System zu gestalten: man fühlt überall, daß es fremde Ansprüche sind, denen Schelling gerecht werden will, auch ist er sich selber bewußt, das Letzte nicht zu leisten. Er betrachtet das System des ‚absoluten Idealismus‘ als eine erst in der Zukunft zu lösende Aufgabe“, die Ferneren Darstellungen seien nur erst „ein Traktat über die Methode, an den sich ein Abriß der Naturphilosophie anschließt“ (Kroner 1961, Bd. II, 185). Vgl. zum Einfluß Hegels auf Schelling auch Meist 2004, 179 und seinen editorischen Bericht zu Hegels Habilitationsschrift (V 622–651). Vgl. auch IV 540f.: „Schelling und Hegel haben damals großzügig voneinander gelernt und übernommen. Das gilt nicht nur für Hegel, sondern auch für Schelling.“

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den Philosophen arbeiteten vorübergehend tatsächlich miteinander und beeinflußten sich als Philosophen wechselseitig. Außerdem stellt das in dieser Studie zu behandelnde System der Sittlichkeit den Interpreten vor eine Reihe von Schwierigkeiten, die ohne die Zuhilfenahme Schellingscher Werke nicht adäquat zu lösen sind. Daher entsteht von ganz allein die Aufgabe, zumindest einige Zusammenhänge darzulegen. Der Rahmen dieser Arbeit gestattet es nicht, alle tatsächlichen, noch nicht einmal alle relevanten Bezüge zwischen den beiden Autoren herzustellen.23 Es kann hier daher nur darum gehen, auf grundlegende Gemeinsamkeiten hinzuweisen und sodann auch festzuhalten, worin sich die beiden Philosophen unterscheiden. Anschließend und hauptsächlich folgen dann mehr technische Bemerkungen und Quellennachweise, die dem besseren Verständnis der Terminologie speziell des Manuskripts dienen. Damit soll zum einen dem leidigen Problem begegnet werden, daß Hegel in seinem Manuskript das Verständnis seiner Terminologie schlichtweg voraussetzt und nirgendwo erklärt, zum anderen soll über die allgemeine Behauptung der gegenseitigen Befruchtung der beiden Philosophen hinaus an einzelnen Textstellen konkret gezeigt werden, was – im Falle des Systems der Sittlichkeit – Hegel von Schelling übernahm. Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Die Hauptaufgabe der Philosophie sahen beide Philosophen in der Aufhebung der traditionellen Gegensätze der Reflexionsphilosophie.24 Völlig klar ist auch die Übereinstimmung, daß Fichte der maßgebliche Fortführer Kants sei. Schelling hatte Defizite der Kantischen Theorie entdeckt und sofort das produktive Fortschreiten Fichtes erkannt. Dieser verkörperte mithin (in der Sicht Schellings und Hegels) den gegenwärtigen Höhepunkt philosophischen Denkens und bildete so den Maßstab, an dem man sich zu messen hatte.25 Umfangreiche Forschungen haben deutlich gemacht, daß sich Hegels Systemkonzeption in Jena – also innerhalb weniger Jahre – mehrfach wandelte; für Schelling gilt dieses beständige Fortschreiten ebenso, nur daß er dies auch öffentlich mit seinen Publikationen dokumentierte. Für den Zweck vorliegender Studie ist es demnach erforderlich, diejenige Systemkonzeption Schellings vorzustellen, die Hegel nicht nur aus der Lektüre, sondern aus dem Umgang mit dem Freunde unmittelbar vor oder während der Abfassung des Systems der Sittlichkeit kannte. Als repräsentative Quelle müssen ohne Zweifel Schellings Fernere Darstellungen angesehen werden, die exakt in dem Moment der Öffentlichkeit übergeben wurden, da Hegel mit Sicherheit schon an seinem System der Sittlichkeit arbeitete. Dieser Schellingsche Text ist unübersehbar eine Quelle für die spezifische Methodik in Hegels Manuskript. Da die vorübergehende Symbiose der 23 24

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Vgl. zur Übersicht: Henrich/Düsing 1980. Vgl. neben den einzelnen Aufsätzen insbesondere den Eröffnungsbeitrag zu den Zielen der Zeitschrift. Vgl. außerdem bei Schelling ein diesbezüglich unmißverständliches Bekenntnis: „Unsere ganze Philosophie [steht] auf dem Standpunkt der Anschauung, nicht auf dem der Reflexion“. (System des transzendentalen Idealismus, Schelling 1856–1861, I/3, 455) Bei Hegel hält sich zeitlebens die Auffassung durch, daß sie alle an „Einer“ Philosophie gearbeitet hätten. Bei dem gemeinsamen Ringen geht es um die Entfaltung von Kants Synthesis-Begriff; dabei interessiert insbesondere die Spezifik der Vermittlung von logischer Form und empirischfaktischem Gegebenem.

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beiden Philosophen zu jener Zeit so weit ging, daß sie in der gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift, dem Kritischen Journal der Philosophie, sogar auf die namentliche Zeichnung ihrer Aufsätze verzichteten, darf man wohl mit großer Sicherheit unterstellen, daß Hegel über die Motive von Schellings Neuerungen gegenüber dem System des transzendentalen Idealismus bestens und aus erster Quelle informiert war. Blickt man zurück auf das System des transzendentalen Idealismus (das für Hegels Differenzschrift noch der Bezugspunkt war) und analysiert die Komposition der verschiedenen Systemteile, so läßt sich m. E. die für unseren Zusammenhang leitende These vertreten: Hegel beabsichtigte, den von Schelling nur stiefmütterlich behandelten Teil zur praktischen Philosophie in ausgebreiteter Form zu behandeln und auszuführen. Hier sah er seine eigenen Stärken, und hier gab es tatsächlich auch noch sehr viel für den Philosophen zu tun.26 Daß Schelling und Hegel an einem Strang ziehen, kann man auch aus der Art der Konzeption ihrer Systeme ersehen. Bei Schelling gibt es neben den „Potenzen“ auch „Stufen“ und „Epochen“ des Selbstbewußtseins. Sie stehen für eine notwendige Entwicklung statt einer angeblich ursprünglichen Identität. Schelling und Hegel distanzieren sich in dieser Hinsicht beide von Fichte. Nach Schelling kann das Ich (im Gegensatz zu Fichte) gerade nicht schlechthin identisch sein, es muß „identisch und synthetisch zugleich sein“. Und so ist der „Eine Akt“ des Selbstbewußtseins der einer „absoluten Synthesis“, einer Synthesis von ideellen und reellen Tätigkeiten. „Wird diese Synthesis der Tätigkeiten von der Transzendentalphilosophie als sukzessiv entstehend vorgestellt, dann zeigt sich, daß sie die Bedingungen einer Identität des Selbstbewußtseins sind, die nunmehr freilich ‚keine ursprüngliche, sondern eine vermittelte und hervorgebrachte ist‘.“27 Obwohl Hegel im System der Sittlichkeit nicht von Selbstbewußtsein spricht, sondern die Sittlichkeit seinen Fokus bildet, ist die Übereinstimmung unübersehbar. Beinahe an allen Stellen des Hegelschen Manuskripts geht es um die Synthese ideeller und reeller Tätigkeiten, das Einbilden der Idealität in die Realität und umgekehrt. Hegel nennt diese Synthesen mit Schelling Indifferenzen, manchmal Identität oder auch Totalität. Die lebendige Sittlichkeit, um die es Hegel zu tun ist, stellt ebenso (der Idee nach) eine erzeugte dar, von Menschen produziert und anschaubar, bezeichnenderweise in ihrer Form – nicht ihrer Struktur – verschieden je nach Volk. Nun zu den Differenzen: Blickt man auf das System des transzendentalen Idealismus, fallen auch einschneidende Unterschiede der Konzeptionen auf. Schelling möchte in Gestalt einer „Geschichte des Selbstbewußtseins“ ein „ganzes System des Wissens“ entstehen lassen: Er teilt die Transzendentalphilosophie in ein System der theoretischen und ein System der praktischen Philosophie. Von Hegel wissen wir, daß er eine derartige Trennung ablehnt und der Auffassung ist, daß, wenn man die Teilung nicht umgehen kann, doch jedes System wieder für sich einen theoretischen und praktischen Teil benö26

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Dieser auch von Zimmerli bemerkte Sachverhalt muß (und darf m. E.) nicht als Indiz dafür genommen werden, daß es sich daher um ein „Auftragswerk“ handle, das Hegel quasi für Schelling angefertigt habe. Es ist aber durchaus denkbar, daß die Freunde eine gewisse Arbeitsteilung abgesprochen hatten. Werner Marx, Schelling: Geschichte, System, Freiheit, Freiburg und München 1977, 72f.; die Schellingzitate: Schelling 1856–1861, I/3, 392f.

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tige. Ebensowenig akzeptiert Hegel die Art, wie Schelling „die objektive Welt mit all ihren Bestimmungen, die Geschichte usw.“ thematisiert und in sein System einführt. Es handelt sich dabei im Grunde um eine Deduktion nach den „Grundsätzen des transzendentalen Idealismus“, was dann aber konkret bedeutet, daß die Geschichte und objektive Welt „ohne irgendeine äußere Affektion aus dem reinen Selbstbewußtsein sich entwickelt“.28 Es geht bei Schelling hier immer „nur“ um die Denkbarkeit, nicht die realen Einwirkungen der Geschichte oder objektiven Welt. Besonders auffällig wird dies, wenn man das „System der praktischen Philosophie“ betrachtet. Dort ist das Ich bereits weit entwickelt, hat sich von seinen bewußtlosen Produktionen „losgerissen“ und tritt von vornherein als praktische Intelligenz, welche sich „im Handeln auf sich selbst bestimmt“, auf. Zwar kennt Schelling die Einwirkungen bewußter anderer Intelligenzen auf die „praktische Intelligenz“, doch handelt es sich immer schon um die Perspektive des Willens, des bewußten Handelns. Unter welchen konkreten Bedingungen das praktische Ich selbst zunächst entsteht, wie und unter welchen Umständen es dazu gelangt, einen Willen auszubilden, findet keine oder nur wenig Berücksichtigung.29 Wie oben schon angedeutet, ist im System der Sittlichkeit selbst nicht ausdrücklich vom Bewußtsein oder den Erfahrungen des Selbstbewußtseins die Rede. Es gibt auch der Sache nach noch kein Bewußtsein, das sich bei seinen verschiedenen Erfahrungen selbst beobachtet und somit permanent weiterentwickelt.30 Aber es wird darin die Genese des sittlichen Geistes verfolgt. In die Geschichte seiner Herausbildung und Erhaltung gehen mannigfache reale Tätigkeiten, alltägliche, prägende tatsächliche Verkehrsformen der Menschen ein. Im zweiten Teil treten sogar einige geschichtliche Gestalten des Geistes auf, wenngleich eher zum Zwecke der Illustration. Genauso wie die spätere Phänomenologie des Geistes und im Gegensatz zu Schellings System des transzendentalen Idealismus deduziert das System der Sittlichkeit aber gerade nicht die Sukzession von Handlungsweisen nur der Vernunft. Es hat eine völlig andere Argumentation und Zielrichtung, ist viel realistischer und an den wirklichen Bedingungen des Geschehens orientiert.31

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Schelling 1856–1861, I/3, 378. An dieser Stelle ist die Differenz sehr deutlich, Hegels spätere Schellingkritik (der Pistolenschuß-Vorwurf) hat hier schon einen Ansatz: Die Synthesis des Abstrakten und Konkreten werde nicht entwickelt, es fehle der lange Weg des Hindurcharbeitens zum Wissen; statt dessen werde „wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar“ angefangen. Vgl. Phänomenologie des Geistes, IX 24. Schelling konstatiert aber auch die „Abhängigkeit, nicht des Intellektuellen selbst, wohl aber des Bewußtseins des Intellektuellen vom Physischen“ (I/3, 498); selbst dort spricht er aber nur von einer „ursprünglichen Reihe von Vorstellungen der Intelligenz“, wohinein auch der Tod gehöre. Vgl. Horstmanns Kritik und seine Einordnung des Systems der Sittlichkeit in den Problemkreis einer Theorie des subjektiven Geistes. (Horstmann 1968) Im System der Sittlichkeit ist die Genese des Konkreten aus den verschiedenen Abstraktionsstufen sogar noch viel stärker als in der Phänomenologie des Geistes als ein realer Vorgang beschrieben.

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3.4. Zentrale Termini: Identität, Totalität, Indifferenz, das Absolute Mit der Differenzschrift ist eine authentische Quelle erhalten, die sehr übersichtlich in Hegels Gebrauch wesentlicher – auch das System der Sittlichkeit beherrschender – Termini einführen kann. Hegel beurteilt dort im dritten Teil, welcher dem Vergleich des Schellingschen Prinzips der Philosophie mit dem Fichteschen gewidmet ist,32 Schellings Philosophie und stellt fest: „Das Princip der Identität ist absolutes Princip des ganzen Schelling’schen Systems; Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Theilen, noch weniger im Resultate.“ (IV 63) Der Philosophie Kants und Fichtes hatte er im Gegensatz hierzu ja gerade vorgehalten, daß sie das bei ihnen eigentlich bereits vorhandene spekulative Prinzip nicht konsequent durchhalten würde und daher im ausgeführten System die Identität gerade nicht gewahrt werde.33 In dem genannten Abschnitt der Differenzschrift gibt Hegel einige wesentliche Bestimmungen, wie die Philosophie beschaffen sein muß; man hat daher bisweilen von einer hier von Hegel vorgelegten identitätsphilosophischen Systemskizze gesprochen. Um an einen Hauptpunkt zu erinnern: In der Philosophie geht es immer um die adäquate Darstellung des Absoluten, seine geordnete, alles berücksichtigende Konstruktion, „denn das Absolute ist kein Nebeneinander“. (IV 68) Vielmehr wird es als „Identität der Identität und Nichtidentität“ bestimmt, „Entgegensetzen und Einsseyn ist zugleich in ihm“. (IV 64) Was ist hiermit gemeint? Das Wort „zugleich“ gibt eine wesentliche Hilfestellung: Die absolute Identität wird von Schelling und Hegel als Einheit von Objekt und Subjekt verstanden, im damaligen Sprachgebrauch also als „SubjektObjekt“. Das bedeutet, daß sowohl das Subjekt als auch das Objekt jeweils als SubjektObjekt zu betrachten sind. Dies erfolgt in verschiedener Hinsicht. Das Subjekt wird als subjektives Subjekt-Objekt betrachtet, dies erfolgt in der „Wissenschaft der Intelligenz“; das Objekt wird als objektives Subjekt-Objekt analysiert, dies erfolgt in der „Wissenschaft der Natur“ (vgl. IV 73). Hegel verdeutlicht den Zeitbezug, indem er daran erinnert: „Die Wissenschaft vom subjektiven Subjektobjekt hat bisher Transcendental-Philosophie geheissen; die vom objektiven Subjektobjekt, Naturphilosophie.“ (IV 68) Das ist jedoch, so die gemeinsame These, noch nicht ausreichend für die vollständige Explikation des Absoluten. „Der höhere Standpunkt“ ist nun aber nicht „ein solcher, in welchem beyde Wissenschaften vermengt werden“ oder sich gegenseitig verdrängen. (IV 68) Schelling und Hegel geht es darum zu zeigen, daß beide Wissenschaften, indem beide das Absolute darstellen, eine „innere Identität“ aufweisen. Mit Bezug auf Spinoza heißt es: „alles ist nur in Einer Totalität; die objektive Totalität und 32

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Dieser Text hat Schelling so beeindruckt, daß er in seinem letzten Brief an Fichte bezüglich ihrer Differenzen ausdrücklich auf Hegels Differenzschrift aufmerksam machte. „Als Grundcharakter des Fichte’schen Princips ist aufgezeigt worden, daß Subjekt=Objekt aus dieser Identität heraustritt, und sich zu derselben nicht mehr wiederherzustellen vermag, weil das differente ins Kausalitätsverhältniß versetzt wurde; das Princip der Identität wird nicht Princip des Systems; so wie das System sich zu bilden anfängt, wird die Identität aufgegeben, das System selbst ist eine konsequente verständige Menge von Endlichkeiten, welche die ursprüngliche Identität nicht in den Fokus der Totalität, zur absoluten Selbstanschauung zusammen zu greifen vermag.“ (IV 62f.)

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die subjektive Totalität, das System der Natur und das System der Intelligenz ist eines und ebendasselbe“ (IV 71); die Vereinigung von Natur und Intelligenz – darauf sei hier verwiesen – durchzieht später dann das gesamte System der Sittlichkeit und ermöglicht dort Zuschreibungen wie „sittliche Natur“, „natürliche Sittlichkeit“ usw. Entscheidend ist, daß jedes der beiden Systeme „ein System der Freyheit und der Nothwendigkeit zugleich“ ist; Freiheit und Notwendigkeit werden als „Charakter[e] des Absoluten“ gekennzeichnet. (IV 72) Wenn das aber so ist, dann müssen diese zwei Charaktere des Absoluten in seiner Explikation auch jeweils, wenngleich vorerst auch nur je eingeschränkt, zum Ausdruck kommen. Das „zugleich“ weist erneut darauf hin, daß eine strenge Trennung in theoretische und praktische Philosophie gar nicht möglich ist. Nur wenn beide Charaktere Berücksichtigung in der Darstellung erfahren, kann man überhaupt von adäquater Wissenschaft sprechen. Daraus ergibt sich notwendig folgende Einteilung: „Wenn daher die Wissenschaft der Natur, überhaupt der theoretische Theil, die Wissenschaft der Intelligenz der praktische Theil der Philosophie ist, so hat zugleich jede wieder für sich einen eigenen theoretischen und praktischen Theil.“ (IV 73) Man kann schon aus dem Satzbau gut ersehen, daß die beiden Wissenschaften hier durchaus formal bestimmt sind, es sich aber vorerst noch um relative Totalitäten handelt, in denen das Absolute formal zwar mit allen wesentlichen Bestimmungen, aber eben unter je einer dominierenden Perspektive und deshalb nur eingeschränkt erscheint. (vgl. IV 75) Beide Wissenschaften haben nach Hegel ihre Berechtigung. Es ist aber nach der obigen Forderung der vollständigen Explikation des Absoluten auch klar, daß es noch eines höheren Gesichtspunkts bedarf, der beide Wissenschaften vereinigt. Genau diesen Punkt bezeichnen Schelling – und hier auch Hegel – als „Indifferenzpunkt“. Der Indifferenzpunkt ist nach Auffassung der beiden Philosophen nicht etwas Fremdes oder Aufgesetztes: Die beiden Wissenschaften selbst, als relative Totalitäten, „streben […] nach dem Indifferenzpunkt; als Identität und als relative Totalität liegt er überall in ihnen selbst; als absolute Totalität ausser ihnen“. (IV 74) Diesen Zusammenhang muß man für die Interpretation des Systems der Sittlichkeit präsent haben.34 Diesem Satz ist wiederum zu entnehmen, daß es verschiedene Totalitäten gibt. Die obige Definition des Absoluten als „Identität der Identität und Nichtidentität“ (IV 64) hatte bereits gezeigt, daß es auch verschiedene Identitäten geben muß. Gleiches gilt für die Indifferenzen. Das ist wichtig für das Verständnis des Systems der Sittlichkeit und seiner vielen Potenzen, Systeme und Subsysteme. Hegel benutzt die gleichen Termini für verschiedene Sachverhalte. Die später dort im Manuskript aufgezeigten Totalitäten und Identitäten sind zwar jeweils auch solche, erweisen sich jedoch in anderer Hinsicht schließlich als notwendige, aber eben in der Regel nur relative Identitäten und Totalitäten. Sie werden zu Momenten des Absoluten, zu einem notwendigen, aber stets nur für eine bestimmte Sphäre gültigen Ausdruck des Absoluten.

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Versteht man diese Bestimmungen, läßt sich die Gliederung des Systems der Sittlichkeit gut aufschlüsseln: Hegel weist bereits in den ersten beiden Teilen (den relativen Totalitäten) verschiedene Indifferenzstufen nach; gleichzeitig betont er aber, daß in ihnen die absolute Sittlichkeit noch nicht erreicht sei – diese wird erst durch einen weiteren Schritt im abschließenden dritten Teil (der die absolute Totalität umfaßt) zum Gegenstand.

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Das mitunter Verwirrende an der Hegelschen Konstruktion im System der Sittlichkeit liegt wohl zum großen Teil daran, daß Hegel sowohl zur Bezeichnung derjenigen Bereiche, die das Absolute jeweils in nur einer Bestimmung darstellen, als auch desjenigen Bereichs, der das Absolute in seiner unverstellten Ganzheit (quasi auf einen Schlag) ausdrücken soll, des Indifferenzpunktes also, dieselben Termini verwendet. Man darf daher nicht einfach vom Namen auf die Sache schließen.35 Der Indifferenzpunkt, nach dem gesucht wurde und nach welchem die beiden oben genannten Wissenschaften streben, „ist das Ganze, als eine Selbstkonstruktion des Absoluten vorgestellt“ (IV 74), die „Anschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Absoluten“. (IV 75) Diese Anschauung wiederum erscheint je verschieden in Kunst, Religion und Spekulation. (IV 75f.) Damit ist die Konstruktion des Absoluten formal zunächst vollständig beschrieben; sie zeigt sich hier im Grunde als die Selbstkonstruktion des Absoluten, die vom Philosophen – analog übrigens im System der Sittlichkeit – nur wissenschaftlich rekonstruiert wird. Es bedarf demnach einer dritten Disziplin, einer Art Philosophie der Indifferenz, die die beiden obigen Wissenschaften der Natur und Intelligenz vermittelt. Das Organ einer solchen Philosophie muß die intellektuelle Anschauung sein, welche – im Gegensatz zur anderenorts bekämpften bloßen Reflexion – in der Lage ist, die Identität von Subjekt und Objekt nicht bloß zu erkennen, sondern zugleich auch zu sein. (IV 76f.) Diese prominente, maßgebliche Stellung hat die „intellektuelle Anschauung“ in Hegels System der Sittlichkeit freilich nicht.36

3.5. Die „Einleitung“ des Systems der Sittlichkeit Die sogenannte „Einleitung“ hilft wenig, will man sich über Hegels Vorhaben und den zu beschreitenden Weg, die Methode, informieren.37 Das liegt nicht etwa daran, daß Hegel hier etwas verschweigt, aber seine Darstellung ist gänzlich ungeeignet, einen mit seiner Terminologie unvertrauten Leser über die Absichten des Textes zu informieren. Beinahe nichts ist aus sich selbst verständlich oder mit vertretbarem Aufwand entschlüsselbar. Erschwerend kommt hinzu, daß mit bestimmten Ausdrücken – da es sich um philosophische Termini handelt – kontraintuitive Inhalte bezeichnet werden.38 35

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An dieser Stelle soll nicht darüber gesprochen werden, ob diese Schwierigkeit in der Sache selbst begründet ist oder aber behoben werden könnte, sondern nur der Zusammenhang und Gebrauch der von Hegel verwendeten Termini nachgezeichnet werden. Lukács verweist darauf, daß Hegel nur sparsamen Gebrauch von Schellings intellektueller Anschauung gemacht habe und auf sie als eigentliches Organ der Philosophie habe verzichten können. (Lukács 1948, 504) Die Überschrift „Einleitung“ wurde vom Herausgeber in die Druckfassung des Systems der Sittlichkeit eingefügt und fehlt im handschriftlichen Manuskript. So ist etwa mit dem Terminus „Anschauung“ zunächst gerade nicht eine empirische oder sinnliche Anschauung, auch nicht „Anschauung“ im Sinne Kants gemeint, sondern eher etwas, das – grob verkürzt – auf ein geistiges Erfassen, geistige Schau hinausläuft. „Anschauung“ wird von Hegel schon im Naturrechtsaufsatz dem „Begriff“ opponiert und in der Weise gebraucht, daß die durch den diskursiven Verstand fixierten Unterschiede aufgehoben werden. Vgl. „[D]er Ausdruck der

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Es bedarf vielfältiger zusätzlicher Informationen, um den gedrängten Aussagen der „Einleitung“ ihren eigentlichen Sinn zu entlocken. Man kann diesen Umstand m. E. als ein Indiz dafür betrachten, daß Hegel nur sich selbst oder aber für die mit seiner Arbeit bereits Vertrauten in Erinnerung ruft, was er nun zu bewerkstelligen beabsichtigt.39 Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Rechtfertigung und Begründung der Methode, sondern dem Vergewissern darüber, daß und warum einzig dieses Vorgehen gewährleisten kann, das im Systementwurf zu ordnende Material in einer Weise zu präsentieren, welche letztlich die adäquate Erkenntnis der Idee der Sittlichkeit sicherstellt.40 Für uns Nachgeborene bedeutet es aber, nicht nur Hegels Absichten, sondern auch seine Methode zunächst rekonstruieren zu müssen, soll sein Unternehmen überhaupt verstanden und beurteilt werden können. Schon eine erste flüchtige Lektüre des Systems der Sittlichkeit führt zu der Einsicht, daß man etwa gezwungen ist zu begreifen, wie die als notwendig behaupteten Subsumtionen von Anschauung und Begriff zu verstehen sind. Denn diese Subsumtionen begleiten, wenn auch mit manchen Inkonsequenzen, das gesamte Manuskript. Da die Subsumtionen in der „Einleitung“ erstmals erwähnt und methodisch gerechtfertigt werden, soll diese hier mit ihren Hauptgesichtspunkten vorgestellt werden. Zugleich soll hiermit ein erster Eindruck von dem nur diesem Text eigentümlichen Sprachstil Hegels vermittelt werden; die einzelnen Termini werden erst nachfolgend analysiert. In der „Einleitung“, die dem Systemversuch grundsätzliche methodologische Anweisungen vorausschickt, bestimmt Hegel schon im ersten Satz, wie vorzugehen ist. Soll das Ziel erreicht werden, nämlich „die Idee der absoluten Sittlichkeit zu erkennen“, muß folgendes Verfahren eingeschlagen werden: Es „muß die Anschauung dem Begriffe vollkommen adäquat gesetzt werden“. (V 279) Hegel findet das so selbstverständlich, daß er als erinnernde Begründung lediglich anfügt: „[D]enn die Idee ist selbst nicht anders, als die Identität beyder“, also von Anschauung und Begriff. Die „Idee“ ist hier demnach synonym gesetzt mit der „Identität von Anschauung und Begriff“. Hegel will klarmachen, wie diese Identität für das Erkennen konstruiert werden kann. Einerseits muß die Identität „als ein Adäquatseyn gedacht werden“, andererseits müssen die beiden Glieder der Identität, also Anschauung und Begriff, im Adäquatsein oder auch „im Gleichseyn“ zugleich „auseinandergehalten werden“. (V 279) Indem dies geschieht, sie also trotz ihres Adäquatseins auseinandergehalten werden, werden sie nach Hegel „mit einer Differenz gesetzt“. Was Hegel an dieser Stelle unter „Differenz“ im Gleichsein oder Adäquatsein von Anschauung und Begriff versteht, reicht er sofort nach. Anschau-

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Anschauung enthält ein: dieses; eine lebendige Beziehung und absolute Gegenwart, mit welcher die Möglichkeit selbst schlechthin verknüpft und eine davon getrennte Möglichkeit, oder ein Andersseyn schlechthin vernichtet ist, als in welchem möglichen Andersseyn die Unsittlichkeit liegt.“ (IV 440f.) Daß das System der Sittlichkeit so unvermittelt einsetzt, könnte darauf hindeuten, daß es als separater Teil eines umfassenderen Systems gedacht war, so daß also insbesondere die logischen Bestimmungen als zuvor schon geklärt angesehen werden konnten. Glockner ist der Auffassung, daß die Niederschrift „ohne Zweifel zunächst für Vorlesungen bestimmt“ gewesen sei und Hegel sich um Verständlichkeit bemüht habe. Doch trotz seines Lobs der Einleitung als „ein kleines Meisterstück“ muß er einräumen: „[…] obwohl sie freilich so gedrängt und knapp gehalten ist, daß sie von den Studenten gewiß nicht verstanden wurde“. Glockner 1940, Bd. II, 370f. (Hervorhebung von mir)

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ung und Begriff werden zwei verschiedene „Formen“ zugeschrieben: „eines [ist] in der Form der Allgemeinheit[,] das andere in der Form der Besonderheit gegen das andere“. Hegel fährt dann fort, daß es bei diesem einfachen Gleichsetzen von Anschauung und Begriff mit jener angegebenen Differenz nicht bleiben darf, weil damit eine „vollkommene“ Erkenntnis noch gar nicht gegeben ist und auch das „Gleichsetzen“ nur einseitig vollzogen wird. Hegels Lösung lautet: „daß hiemit dieses Gleichsetzen vollkommen werde, so [muß] umgekehrt dasjenige, welches hier in der Form der Besonderheit gesetzt [war], jetzt in der Form der Allgemeinheit, dasjenige, welches in der Form der Allgemeinheit gesetzt war, jetzt in der Form der Besonderheit gesetzt werden“. (V 279) Mit dieser Anweisung, die unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit des Verfahrens und zum Zwecke der Vollkommenheit der Erkenntnis erfolgt, ist eine wesentliche Lektürehilfe gegeben. Sie erklärt nämlich, weshalb später im Manuskript scheinbar gleiche Themen (jedenfalls identische Namen) an gänzlich verschiedenen Stellen und in differenten Zusammenhängen wiederkehren. Mit diesem Gebot des „vollkommenen Gleichsetzens“ leitet Hegel denn auch zu dem für seinen gesamten Text maßgeblichen Subsumtionsverfahren über: „Dasjenige aber was wahrhafft das Allgemeine ist, ist die Anschauung, das wahrhafft Besondere aber der absolute Begriff; jedes muß also einmal unter der Form der Besonderheit das andremal unter der Form der Allgemeinheit gegen das andere gesetzt werden; das einemal die Anschauung unter den Begriff, das andremal der Begriff unter die Anschauung subsumirt“. (V 279) Während sich das Subsumtionsgebot zwanglos aus dem obigen „volkommenen Gleichsetzen“ ergibt, handelt es sich beim ersten Satz wohl eher um eine terminologische Definition. Jedenfalls war aus den bisherigen Äußerungen Hegels nicht zu ersehen, weshalb das wahrhaft Allgemeine die Anschauung sein muß. Vom „absoluten Begriff“ war ohnehin noch keine Rede. An dieser Stelle des Hegelschen Textes bleibt also nichts anderes übrig, als Hegels Bestimmungen zur Kenntnis zu nehmen. Es wird sich später herausstellen, daß diese Zuordnungen nicht willkürlich, sondern weitergehenden Konstruktionen verpflichtet sind. Hegel bezeichnet die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung als das „absolute Verhältniߓ, „aus dem angegebenen Grunde“. Man muß hier – vorgreifend – im Auge behalten, daß der Terminus „Verhältniߓ bei Hegel immer darauf hinweist, daß nur eine isolierte Perspektive eingenommen wird. Auch wenn das Verhältnis hier als „absolut“ definiert wird, gilt, daß lediglich ein Ausschnitt des Absoluten, nur eine Weise seines Erscheinens thematisiert wird. Denn auch die entgegengesetzte Subsumtion ist nämlich für die vollkommene Erkenntnis „absolut nothwendig“. (V 279) Man kann rätseln, was jener „angegebene Grund“ der Zuordnung sein soll. Ein wirklicher Grund ist nicht genannt worden. Hegels Verweis kann sich eigentlich nur auf die Definition beziehen, daß die Anschauung dasjenige sei, „was wahrhafft das Allgemeine ist“. Das Dominieren der Anschauung über den Begriff wird als vorläufiges (denn das eigentliche ist ja das Adäquatsein beider) Ziel anvisiert, allerdings so, daß es mit dem Dominieren des Allgemeinen über das Besondere gleichgesetzt ist, wobei das Dominieren natürlich verlangt, daß beides, also auch die Differenz, vorhanden ist. Es geht demnach nicht darum, das Besondere zum Verschwinden zu bringen. Auch ihm gehört seine entsprechende Stelle, es ist ebenso „absolut nothwendig“. Allgemeines und Besonderes

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gehören immer zusammen. Das Allgemeine kann nicht absolut sein, sofern es das Besondere nicht in sich enthält und bestehen läßt. Daß Hegel dies im Blick hat, wird aus der folgenden inhaltlichen Bestimmung der Idee der absoluten Sittlichkeit klar: „Nun ist die Idee der absoluten Sittlichkeit das Zurücknehmen der absoluten Realität in sich, als in eine Einheit; so daß dieses Zurüknehmen und diese Einheit absolute Totalität ist; ihre Anschauung ist ein absolutes Volk; ihr Begriff ist das absolute Einsseyn der Individualitäten.“ 41 (V 279) Der folgende letzte Absatz (V 279, Zeile 24ff.) beinhaltet bereits eine konkrete Vorschau auf den ersten Teil des Manuskripts. In ihm wird aber – und das ist für die hier zu behandelnde Fragestellung von Bedeutung – der wichtige Begriff „Verhältniߓ, welcher zuvor bereits (im Zusammenhang mit der Subsumtionsform des Begriffs unter die Anschauung) in Verbindung mit dem attributiven „absolut“ gebraucht worden war, genauer definiert. Er soll die spezifische Form der Sittlichkeit, wie sie im gesamten ersten Teil des Manuskripts behandelt wird, kennzeichnen. Wesentlich ist, daß es sich hierbei noch nicht um die vollkommene Identität des Allgemeinen und Besonderen handelt, sondern dieselbe vorerst nur „als eine unvollkommene Vereinigung, oder als ein Verhältniߓ bestimmt wird. (V 280) In diesem sich auf den ersten Manuskriptteil beziehenden Absatz der „Einleitung“ ist, ohne jedoch schon benannt zu werden, auch bereits die Potenzmethode Schellings befolgt. Das „Verhältniߓ wird hier nämlich als eine, und zwar die erste Potenz des Absoluten geschildert, die folglich nur einen partiellen Ausschnitt des Absoluten darstellen kann und – sofern das Absolute vollständig rekonstruiert werden soll – durch weitere Potenzen vervollständigt werden muß.

3.6. Anschauung und Begriff, ihre wechselseitige Subsumtion; Gleichsetzung des Allgemeinen und Besonderen Wie aus der „Einleitung“ schon deutlich wird, ist die Subsumtion von Anschauung und Begriff eine wesentliche logische Operation des Systems der Sittlichkeit. Was ist hierbei unter „Anschauung“ zu verstehen? Ist damit gar die „intellektuelle Anschauung“ – Hegel nennt sie in der Differenzschrift auch „transzendentale Anschauung“ – gemeint? Hegel selbst verwendet diesen Begriff in seinem Manuskript nur selten. Insbesondere der Gebrauch des Anschauungsbegriffs im ersten Teil des Systems der Sittlichkeit (auf der elementaren Ebene der Reproduktion) schließt es aus, ihn generell als „intellektuelle Anschauung“ zu verstehen. Eine Passage im dritten Teil könnte man sogar als Kritik der „intellektuellen Anschauung“ deuten.42 Das Gleichsetzen von „Begriff“ und „An41

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Eine fast identische Definition findet sich im Naturrechtsaufsatz. Vgl. IV 449: „[S]o setzen wir das positive voraus, daß die absolute sittliche Totalität nichts anderes als ein Volk ist“. Vgl. V 324, wo Hegel im Kontrast zu den beiden ersten Manuskriptteilen schildert, wie „die absolute Natur […] in Geistesgestalt“ erscheint. Er argumentiert dort mit der „Einheit des absoluten Begriffs“; der „unendliche Begriff“ sei „schlechthin Eins mit dem Wesen des Individuums“ und dasselbe als „wahre Intelligenz vorhanden“. Der Text ist wegen der vielen Semikola schwer zu deuten, aber es scheint so zu sein, als ob Hegel diese soeben geschilderte vollkommene „Einheit“ des unendlichen Begriffs abgrenzt von defizienten Formen: „[U]nd seine Objectivität ist nicht für ein

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schauung“ verweist sicherlich auch auf die Modifikation eines Gedankens von Kant über das philosophische Konstruieren.43 Diese Frage nach der richtigen philosophischen Konstruktion war für Schelling von besonderer Relevanz; Hegel nahm regen Anteil an ihr. An dieser Stelle kann und braucht keine erschöpfende begriffsgeschichtliche Studie vorgelegt zu werden; es soll nur geklärt werden, in welchem Sinne Hegel die Termini gebraucht und welche Verwendung vermutlich Vorbild war. In diesem Zusammenhang muß wieder auf Schelling eingegangen werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit beziehe ich mich hier auf Schellings Fernere Darstellungen und lasse das System des transzendentalen Idealismus beiseite.44 Im § 2 führt Schelling einen „Beweis, daß es für das Bewußtseyn selbst einen Punkt gebe, wo das Absolute selbst und das Wissen des Absoluten schlechthin eins ist“.45 In diesem Zusammenhang behauptet er eine unmittelbare Erkenntnis des Absoluten, welche er hier auch „die erste speculative Erkenntniß, das Princip und de[n] Grund der Möglichkeit aller Philosophie“ nennt und als intellektuelle Anschauung definiert. Präzis wird erläutert, was dabei Anschauung sei und warum, außerdem, in welchem Sinne das Attribut „intellektuell“ zu verstehen sei: „Wir nennen diese Erkenntniß: intellektuelle Anschauung. Anschauung; denn alle Anschauung ist Gleichsetzen von Denken und Seyn, und nur in der Anschauung überhaupt ist Realität […]. Intellektuell nennen wir diese Anschauung, weil sie Vernunft-Anschauung ist und als Erkenntniß zugleich absolut eins mit dem Gegenstand der Erkenntniß.“46 In einer Fußnote verwahrt sich Schelling ausdrücklich dagegen, unter der intellektuellen Anschauung etwas Unbegreifliches oder

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künstliches Bewußtseyn, für sich mit Aufhebung der empirischen Anschauung; und für die intellektuelle Anschauung“. Hier scheint die „intellektuelle Anschauung“ also etwas Künstliches, Abgetrenntes zu sein. Hegel postuliert: „[S]o die intellektuelle Anschauung ist durch die Sittlichkeit, und in ihr allein eine reale“. Letztere Aussage könnte man aber auch so verstehen, daß die „intellektuelle Anschauung“ erst in der Sphäre der absoluten Sittlichkeit Realität hat. Hier fallen geistige und leibliche Augen zusammen. Vgl. auch Abschnitt 4.1.1. Hier ein Hinweis: Wenn Hegel für die Konstruktion des Anfangs des Systems der Sittlichkeit den Ausdruck „praktische Potenz“ gebraucht und hinzufügt, daß diese Potenz (die er auch „Gefühl“ nennt) als Bedürfnis und Genuß überhaupt die erste Anschauung sei, so findet sich bei Schelling für diesen Anschauungsbegriff eine klare Parallele auch im System des transzendentalen Idealismus: Schelling kennt Anschauungen, die einen vor- bzw. nichtbewußten Status haben. Werner Marx (vgl. 1977, 69) hat einige Belege hierfür zusammengestellt: Im Transzendentalsystem habe Schelling auch alle vorbewußten Tätigkeiten, die das frei handelnde Selbstbewußtsein ermöglichen, ‚Anschauungen‘ oder ‚ein Anschauen‘ oder ‚das Anschauende‘ genannt, sofern sie in ursprünglicher Weise unvermittelt und einfach ‚das Objektive‘ des Subjekt-Objekt, die bewußtlose Gesetzmäßigkeit der bewußt werdenden Intelligenz produzieren. Diesen weiten Begriff von Anschauung müsse man sich vergegenwärtigen gegenüber einer verstandesmäßig analysierenden Reflexion (wie auch einer spekulativen, die die Relate aus negativer Selbstbeziehung miteinander vermittelt.) Das Eigentümliche des Schellingschen genetisch verfahrenden Idealismus liege darin, „daß er die Spontaneität der Vernunft vorreflexiv auffaßt und darüber hinaus ihr Wirken in der Region ‚jenseits des gemeinen Bewußtseins‘ aufzudecken sucht […], ihr vorbewußtes Wirken, das uns nur in seinen Resultaten bewußt wird“. (Marx 1977, 68) Schelling 1856–1861, I/4, 366. Schelling 1856–1861, I/4, 368f.

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Geheimnisvolles zu verstehen und verteidigt sie als wissenschaftliches Prinzip. An anderer Stelle hatte er sie schon „als unveränderliches Organ, […] die Bedingung des wissenschaftlichen Geistes überhaupt“ bezeichnet und folgendermaßen gerechtfertigt: „Denn sie ist das Vermögen überhaupt, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen, beide zur lebendigen Einheit vereinigt zu sehen.“47 Diese Definition ist für unsere Zwecke aufschlußreich, weil sie ausdrückt, was Hegel in seinem System der Sittlichkeit fortwährend zu leisten versucht: die Vereinigung des Allgemeinen und Besonderen, des Endlichen und Unendlichen usw., die je nur für die endliche Reflexion, nicht aber in Wahrheit getrennt sind.48 Wenn man zu jener Zeit die Termini „Anschauung“ und „Begriff“ verwendet, muß man den wissentlichen Bezug auf Kant unterstellen. Dessen Diktum – Begriffe ohne Anschauung seien leer, Anschauung ohne Begriffe hingegen blind – war berühmt und allgegenwärtig.49 Wenn Hegel in seiner Einleitung zum System der Sittlichkeit von einem beabsichtigten vollkommenen „Gleichsetzen“, einem „Adäquatseyn“ von Anschauung und Begriff, Allgemeinheit und Besonderheit usw. spricht (V 279), spielt er ohne Zweifel nicht nur auf die klassische Wahrheitsdefinition „adaequatio rei et intellectus“ an, sondern bezieht sie sogleich nach kantischem Vorbild auf das Verhältnis von Anschauung und Begriff.50 Eine zentrale Rolle spielt hierbei Kants Idee eines „intellectus archetypus“ aus dem § 77 der Kritik der Urteilskraft.51 Bei Kant diente der intellectus archetypus allerdings nur als eine regulative Idee, nicht als spezifisch menschliches Vermögen. Es bleibe nämlich stets eine Grenze des menschlichen Verstands, daß er das Besondere dem Allgemeinen subsumieren müsse.52 Anders der intellectus archetypus: Er wäre imstande, vom Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen. Schelling geht mit seiner Figur der intellektuellen Anschauung schließlich weiter und proklamiert den intellectus archetypus als eine reale menschliche Fähigkeit des Welterfassens.53 47 48

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Schelling 1856–1861, I/4, 362. Hegel möchte sie gerade als lebendige Einheit, lebendige Totalität aufzeigen. Die Anschauung der absoluten Totalität nennt er „Volk“ und „ihr(en) Begriff […] das absolute Einsseyn der Individualitäten“. (V 279) Sein Postulat und das Ziel des gesamten Manuskripts besteht darin, daß die Einheit nicht nur gewußt, sondern zugleich auch angeschaut werden kann, wenngleich dies je nach Ausgeprägtheit des eigenen Vermögens und entsprechend der Standeszugehörigkeit auf verschiedenen Niveaus erfolgt. Vgl. die diesbezügliche Äußerung Hegels in Glauben und Wissen: „[D]ie Kantische Philosophie hat das Verdienst, Idealismus zu seyn, insofern sie erweist, daß weder der Begriff für sich allein, noch die Anschauung für sich allein, Etwas, die Anschauung für sich blind und der Begriff für sich leer ist“. (IV 325f.) Vgl. Schnädelbach 2000, 77. Vgl. hierzu z. B. Lukács 1948, 503f. Lukács interpretiert den intellectus archetypus als „ein Programm für die Überwindung der Schranken metaphysischen Denkens, ein Programm der Dialektik“. Kant thematisiert in seiner Kritik der Urteilskraft mehrfach und ausdrücklich die verschiedenen Subsumtionen von Anschauung und Begriff, Allgemeinem und Besonderen. Vgl. neben dem zentralen § 77 auch § 35 sowie die Einleitung (erste Fassung). Die von Schelling und Hegel betonte Identität von Anschauung und Begriff ist also eine deutliche Kritik an Kant. Dieser hatte eine solche Identität ausdrücklich ausgeschlossen! Die Kantische Auffassung wird nun jedoch als Standpunkt der Reflexionsphilosophie abgelehnt. Ursache für die Un-

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Daß dieser Bezug auf Kant bewußt erfolgt, kann durch einen Beleg aus dem Kritischen Journal untermauert werden: In Schellings Über die Construktion in der Philosophie erfährt Kant nämlich genau in diesem Zusammenhang Lob und Kritik: „Was den allgemeinsten Begriff der Construktion betrifft, so ist Kant vielleicht der erste, der ihn so tief und ächt philosophisch aufgefaßt hat. Er beschreibt Construktion durchgängig als Gleichsetzung des Begriffs und der Anschauung und fordert dazu eine nicht-empirische Anschauung, die einerseits, als Anschauung, einzeln und conkret ist, andererseits als Construktion eines Begriffs Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, ausdrücken muß.“54 Der Tadel, den Schelling Kant erteilt, bezieht sich auf dessen Auffassung, wonach die Möglichkeit der Konstruktion auf die Mathematik beschränkt bleibt, hingegen für die Philosophie abgelehnt werden muß, da diese es nur mit reinen Begriffen ohne Anschauung zu tun habe. Schelling will zeigen, daß diese Beschränkung ungerechtfertigt ist: „Denn daß die Philosophie auf bloße reine Begriffe ohne alle Anschauung beschränkt sey, würde nur dann folgen, wenn bewiesen wäre, daß es keine ihren Begriffen angemessene nicht-empirische Anschauung geben könne; diese nicht-empirische Anschauung für die Philosophie leugnet nun Kant, weil eine solche intellektuell seyn müßte, nach seiner Meinung aber alle Anschauung nothwendig sinnlich ist.“55 Oben wurde bereits vermerkt, daß es laut Schelling eine intellektuelle Anschauung geben muß. Hier nun geht sein Bestreben dahin, die Inkonsequenzen in Kants Theorie selbst aufzudecken.56 Die Argumentation soll kurz angefügt werden, da sie nicht nur darüber informiert, wie sich Schellings Theorie von Kant unterscheidet, sondern weil sie zugleich einen Gegenvorschlag präsentiert, der schließlich von Hegel für sein System der Sittlichkeit weitgehend akzeptiert und von ihm auf seinem Terrain ausgeführt wird. Aus Hegels „Einleitung“ war bereits zu entnehmen, daß das Allgemeine und

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aufhebbarkeit der Trennung von Anschauung und Begriff bei Kant war dessen abstrakter Tätigkeitsbegriff (vgl. die von Hegel an Kant kritisierte Trennung der Subjektvermögen). Nun kam es hingegen darauf an, einen „konkreten“ Tätigkeitsbegriff zu entwickeln, und zwar so, daß in der logischen Formenwelt eine konsistente Gliederung aller materiellen und ideellen Subjektpotenzen darstellbar wird. Während Schellings System des transzendentalen Idealismus bei der abstrakten Sinnlichkeit bleibt (indem Wahrnehmung als Teil von Erkenntnis behandelt wird), wird sie in Hegels Manuskript real als Hunger, Geschlechtstrieb usw.; der geschichtliche Horizont wird einbezogen. Der Mensch realisiert mithin die Identität von Anschauung und Begriff (die für Kants Intellektualismus nur ein Postulat im intellectus archetypus war) – das ist die in der Identitätsformel von Anschauung und Begriff gegebene Problematik. Schelling 1856–1861, I/5, 127f. Schelling 1856–1861, I/5, 128. „Da Kant für die Geometrie die nicht-empirische Anschauung zugibt, so kann er den absoluten Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie nicht darein setzen, daß es für diese eine nichtempirische Anschauung geben müßte, dergleichen es doch nicht gebe. Der Unterschied beider wird vielmehr darein fallen, daß dem Mathematiker die in der Sinnlichkeit reflektirte, dem Philosophen dagegen nur die reine in sich reflektirte intellektuelle Anschauung zu Gebot steht.“ Schelling unterstellt, daß Kant sich in Widersprüche verwickelt, „da seine transzendentale Einbildungskraft, seine reine Synthesis der Apperception die Wirklichkeit einer solchen Anschauung involviren“. (Schelling 1856–1861 I/5, 129)

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Besondere in einem austarierten Wechselverhältnis stehen müssen und nicht unabhängig voneinander beschrieben werden können. Schelling kritisiert an Kant „die absolute Entgegensetzung des Allgemeinen und Besonderen“ in der Philosophie.57 Aus Hegels Veröffentlichungen wissen wir, daß er diese Kritik teilt; es ist der zentrale Vorwurf gegen jene Theorien, die er abstrakte Reflexionsphilosophie nennt.58 Schelling zitiert aus Kants Kritik der reinen Vernunft die Bemerkung, wonach die mathematische Erkenntnis das Allgemeine im Besonderen, die philosophische dagegen das Besondere nur im Allgemeinen betrachte. Dieser Ansicht widerspricht er vehement und zeigt, daß bereits in der Mathematik diese „zwei verschiedene[n] Arten der Anschauungen“ gegeben sind. Denn die Arithmetik drücke „ein Besonderes (Verhältnis von einzelnen Größen) im Allgemeinen, die Geometrie ein Allgemeines (den Begriff einer Figur) im Besonderen“ aus. Dieser Nachweis läßt Schelling nun folgern, „daß Philosophie in keiner Entgegensetzung mit der Mathematik sey, und daß, wenn in dieser sich die Construktion nach zwei Seiten teilt, sie in jener im absoluten Indifferenzpunkt sey oder, bestimmter: daß, wenn jene nothwendig entweder Darstellung des Allgemeinen im Besonderen oder Darstellung des Besonderen im Allgemeinen ist, diese weder das eine noch das andere, sondern Darstellung der Einheiten in absoluter Indifferenz ist, welche in der Mathematik getrennt erscheinen.“59 Diese Abgrenzung zeigt in konzentrierter Form, wie philosophische Konstruktion zu erfolgen hat, und es ist nicht nur anhand der Termini zu ersehen, daß Hegel diese Konzeption in seinem System der Sittlichkeit zu erfüllen sucht. In der „Einleitung“ ist Hegel ohne Zweifel bestrebt, jene von Schelling formulierten Normen der wissenschaftlichen Konstruktion zu erfüllen. Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt, wenn man sich an das Schellingsche Diktum erinnert, wonach „die Construktion als solche […] immer absolute und reale Gleichsetzung des Allgemeinen und Besondern“ sei.60 Dies entspricht exakt den Hegelschen Ankündigungen für sein System der Sittlichkeit. Indem Schelling die „vollendete Gleichung des Allgemeinen und Besonderen“, die „absolute Gleichsetzung der schlechthin allgemeinen und der besonderen Einheit“ für die philosophische Konstruktion geradezu einfordert,61 erweist er sich diesbezüglich als das unmittelbare Hegelsche Vorbild. Die Subsumtionsproblematik ist sicherlich das formal Auffallende am System der Sittlichkeit. In der Forschung hat sie erstaunlicherweise beinahe mehr Interesse geweckt als der Gehalt des Manuskripts. Erklären kann man diesen Umstand wohl damit, daß 57 58

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Schelling 1856–1861, I/5, 130. S. oben die einleitenden Bemerkungen und zitierten Beispiele. Auch in den noch früheren unveröffentlichten Texten wird Kritik an diversen Entgegensetzungen geübt, vgl. beispielsweise die an Kant beanstandete „Entgegensetzung des Begriffs und des Wirklichen“ (1/325) in Der Geist des Christentums und sein Schicksal. Schelling 1856–1861, I/5, 130 und 131. Schelling 1856–1861, I/5, 131f. Schelling 1856–1861, I/5, 139. Im § 4 der Ferneren Darstellungen wird gleichfalls das absolute Gleichsetzen des Allgemeinen und Besonderen gefordert. Das Besondere müsse in seiner Entgegensetzung gegen das Allgemeine vernichtet werden. (Schelling 1856–1861, I/4, 393) Die wörtlichen Übereinstimmungen sind auffallend.

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der Text in der Tat unverständlich bleibt, solange man sich über das Subsumtionsverfahren nicht Rechenschaft abgibt. Fast immer wurde auch die Kompliziertheit des Verfahrens betont. Glockner z. B. hatte die Schwierigkeiten des Aufbaus der Niederschrift aus dem Kampf zwischen Gehalt und Methode zu erklären versucht. Das Manuskript zeige „in geradezu erschütternder Weise, wie Hegel mit seinem Schicksale ringt: jede Anschauung in Reflexionsform verwandelt und jeden Begriff durch wiederholte Subsumtion und Identifikation dialektisch zu entwickeln sucht. Bis in die kleinsten Einzelheiten hinein erweisen sich abwechselnd das Besondere und das Allgemeine, das Reelle und das Ideelle als vorherrschend. Wiederholungen sind unvermeidlich, weil jede Stufe in der nämlichen Weise ‚eingeteilt‘ […] ist wie das ganze Werk, und die gleichen Inhalte (z. B. ‚Eigentum‘ oder ‚Eltern-Kinder-Verhältnis‘) infolgedessen formal verschieden akzentuiert mehrfach wiederkehren.“62 Und so sei der überwiegende Eindruck eben der einer „formalen Schematisierung“.63 Vielleicht war das Hegels eigene im Arbeiten gewonnene Auffassung?64 Es wurde auch behauptet, Hegel habe nach der Erfahrung des Mißlingens des Experimentierens mit dieser Methodik zur Entwicklung seines Geistbegriffs notwendig übergehen müssen. Hier soll nicht darüber entschieden werden, wie leistungsfähig dieses Verfahren war; Tatsache ist, daß Hegel mit ihm arbeitete.65 Daher interessiert, wie es zu verstehen ist – im Folgenden werden dazu exemplarische Deutungsversuche vorgestellt. Karl Rosenkranz behauptete: „Hegel ging davon aus, daß in der absoluten Sittlichkeit das Allgemeine und das Besondere des Willens als in sich unterschiedene, aber den Unterschied zur absoluten Einheit aufhebende Identität gesetzt werden müsse. Das Allgemeine nannte er im ersten Entwurf des Systems auch Anschauung, das Besondere dagegen Begriff. Aus jener Identität folgerte er nun für ihre reale Construction die Nothwendigkeit, das Allgemeine wie das Besondere für sich so als Momente zu setzen, daß einmal die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung; sodann die der An62

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Glockner 1940, Bd. 2, 377. Andererseits dürfe man es als ein Glück bezeichnen, daß Hegel „sich des Grundgehalts seiner Philosophie noch einmal ohne die Fesseln einer bis ins Einzelnste durchgeführten systematischen Methode zu vergewissern“ suchte. Glockner 1940, Bd. 2, 378. Vgl. im dritten Teil des Systems der Sittlichkeit (fast am Ende), wo das Volk betrachtet wird und Hegel angesichts dieser Aufgabe selbst etwas skeptisch auf das Subsumtionsverfahren blickt: „Die organische Bewegung muß erkannt werden, insofern die Anschauung den Begriff, und insofern der Begriff die Anschauung subsumirt. Aber weil das sich bewegende wesentlich organisch ist, so [ist] diese Unterscheidung durchaus formal; die Anschauung welche den Begriff subsumirt, ist selbst absoluter Begriff; der Begriff, der die Anschauung [subsumirt] ist selbst absolute Anschauung. Die Erscheinung dieser Form dieses Gegensatzes ist ausser dem organischen selbst; er ist in der Reflexion über die Bewegung.“ (V 348f., Hervorhebungen von mir) Vgl. viel später auch Ernst Cassirer: „Wir verstehen eine Wissenschaft in ihrer logischen Struktur erst dann, wenn wir uns klargemacht haben, in welcher Weise sie die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollzieht. Aber in der Beantwortung dieser Frage müssen wir uns vor einem einseitigen Formalismus hüten. Denn es gibt kein generelles Schema, auf das wir uns hier beziehen und berufen könnten. Die Aufgabe besteht für alle Wissenschaften in gleicher Weise; aber ihre Lösung schlägt sehr verschiedene Wege ein. Eben in dieser Verschiedenheit drückt sich je ein eigener und spezifischer Erkenntnistypus aus.“ In: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt 1991, 69.

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schauung unter den Begriff, endlich das Adäquatsein von Anschauung und Begriff gesetzt würde.“ Rosenkranz leitet daraus den Aufbau des Hegelschen Manuskripts ab. „So erhielt er drei Theile, welche er höchst abstract folgendermaaßen betitelte: 1) die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniß; 2) das Negative oder das Verbrechen und 3) die absolute Sittlichkeit. Abgesehen von der Abstractheit des Ausdrucks hat die Eintheilung selbst vor der späteren Systematik unleugbar den Vorzug größerer Einfachheit.“66 Georg Lasson lehnt diese Rosenkranzsche Deutung mit den Worten „Das ist schwerlich zutreffend“ ab und schlägt statt dessen vor: „Die Sittlichkeit ist für Hegel die eigentliche Wirklichkeit, die Totalität des Lebens, die alle Momente des Daseins unter sich befaßt, also was er sonst die Subjekt-Objektivität nennt. Diese Wirklichkeit nach dem Momente der Objektivität aufgefaßt, also als objektive Subjekt-Objektivität, ist sie eine Natur, eine Gegebenheit; dagegen nach dem Momente der Subjektivität aufgefaßt, also als Subjekt-Objektivität, ist sie die Einzelheit des Selbstbewußtseins, das die Wirklichkeit in sich begreift. Die erste, die Seite der Gegebenheit, nennt Hegel Anschauung, die zweite, die Seite der Einzelheit, nennt er Begriff. In dem wechselseitigen Subsumieren der einen und der anderen Seite baut sich die Totalität der sittlichen Wirklichkeit auf.“67 Lasson bestreitet also nicht, daß tendenziell unter Anschauung wesentlich das Allgemeine und unter Begriff das Besondere verstanden werden soll, sondern er lehnt es ab, daß damit jeweils das Allgemeine oder Besondere nur des Willens gemeint sei. M. E. ist dieser Vorschlag Lassons zutreffend, doch stellt er weniger einen ernsten Gegensatz zu Rosenkranz als vielmehr eine Erweiterung dar. Ganz anders verhält es sich mit der Deutung Haerings: Er meinte die Zuordnung umkehren zu müssen und irrt sich damit wohl doch genau am entscheidenden Punkt. Haering hoffte, die außerordentlichen Schwierigkeiten und „zunächst fast unverständlichen Formulierungen“ folgendermaßen auflösen zu können: „[D]er Schlüssel lag in der Erkenntnis, daß die Titel: ‚Subsumtion der Anschauung unter den Begriff‘ und umgekehrt nichts anderes bedeuten, als Hervortreten des Allgemeinen und vorläufiges Zurücktreten des Einzelnen und Besonderen, Reellwerden des ersteren und vorläufiges bloßes Ideellgesetztsein des zweiten, äußerliches Dominieren und sogar ‚an sich‘ Alleinvorhandensein des ersteren, bloßes ‚Inneres‘ sein des zweiten, bloßes Repräsentiertsein des Allgemeinen zunächst durch Einzelnes (einzelne Objekte oder Subjekte) und umgekehrt usw. […] zunächst steht bei ‚Dominanz der Anschauung‘ das Einzelne und Besondere […] im Vordergrund; dann, bei ‚Subsumtion der Anschauung unter den Begriff‘ zunächst das (schlechte) Allgemeine.“68 Hatte Rosenkranz aus seiner Deutung konsequent den Aufbau des Manuskripts erklären können, muß Haering in der Folge mehrfach unterstellen, daß Hegel ein Irrtum unterlaufen sei, daß es sich um ein „Konfuswerden bzw. einen lapsus calami Hegels selbst“69 handeln müsse.70 66 67 68 69 70

Rosenkranz 1844, 124. Lasson 1923, XXXVIII. Haering 1938, 343. Vgl. Haering 1938, 347. Außerdem wertet Haering durch diese Verkehrung den gesamten zweiten und äußerst wichtigen Hauptteil als eine „nicht organisch in das Ganze eingefügte Gedankenbildung“ ab (Haering 1938, 352) und widmet ihm bei seiner sonstigen großzügigen Ausführlichkeit gerade einmal anderthalb Seiten.

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Ich stelle diese verschiedenen, sich teils einander ausschließenden Interpretationsvorschläge hier exemplarisch vor, um an einem konkreten Beispiel die offensichtlichen und faktisch eingetretenen Schwierigkeiten des Verständnisses von Hegels eigentümlicher Terminologie zu verdeutlichen.71 Einer der jüngeren Interpreten, Gerhard Göhler, vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, man müsse bei der Deutung der Subsumtion von Anschauung und Begriff der „naheliegenden Versuchung, formal-logische Schematismen zu konstruieren, widerstehen und von der prinzipiellen Offenheit der Zuordnungen ausgehen“.72 Das mag den Werkstattcharakter des Manuskripts gut treffen, dennoch scheint in diesem Entwurf letztlich der Versuch einer durchgehenden Systematisierung zu überwiegen, und innerhalb dieser fallen den betreffenden Subsumtionen, so mechanisch sie auch erfolgen, relativ klare Funktionen zu. Im Grunde wird durch sie und die laut Hegel notwendigen Negationen der Gang der Argumentation strukturiert.73 Für die angestrebte Rekonstruktion der Idee der absoluten Sittlichkeit bedarf es (zumindest auch) der wechselseitigen Subsumtionen.74 Ihr spezifischer Sinn für die Gliederung des Manuskripts läßt sich allerdings erst aus dem Zusammenspiel mit Hegels Naturbegriff, dem Begriff des „Verhältnisses“ und seinem System der Potenzen verstehen. In Ergänzung zu der in der obigen Interpretation der „Einleitung“ vorgestellten Subsumtionsabfolge hier nur eine kurze Anmerkung: Im ersten Teil des Manuskripts wird die Sittlichkeit ausschließlich in eingeschränkter Hinsicht thematisiert („im Verhältniߓ), erst im dritten Teil wird ihre „Totalität“ betrachtet. Während analog auch erst dort die absolute Identität von Anschauung und Begriff geschildert wird, bilden im ersten Teil die wechselseitigen Subsumtionen von Anschauung und Begriff vorerst den Gegenstand. Entsprechend ist der erste Teil in zwei Hauptpotenzen geteilt; die erste Hauptpotenz enthält die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung, Hegel schildert die Vorgänge, wie sie sich aus der Perspektive der Einzelheit und Besonderheit vollziehen (z. B. Hunger). Die zweite Hauptpotenz ist formal die Subsumtion der 71

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Es gibt weitere Interpretationen, die die Subsumtionsabfolge zu entschlüsseln suchen und verschiedentlich Korrekturen an Hegels Text vorschlagen. Vgl. z. B. Trede 1972, 154 oder Schnädelbach 2000, 81. Die meines Wissens genaueste Rekonstruktion der einzelnen Subsumtionsstufen hat Harris 1979 angefertigt. Göhler 1974, 367. Vgl. für den generellen Argumentationsgang auch V 327: „In jeder Gestalt und Aüsserung der Sittlichkeit hebt sich der Gegensatz einer Position und Negation durch die Integration derselben auf“. Bonsiepen behauptet: „Innerhalb des Systemansatzes der ersten Jenaer Jahre besitzt die Methode der gegenseitigen Subsumtion von Begriff und Anschauung im System des Sittlichkeit Stringenz.“ (Bonsiepen 1977, 107f.); Kimmerle 1982, 239f. verweist darauf, daß Hegels zuvor dominierendes Subsumtionsverfahren im dritten Teil – zumindest in den Überschriften – durch inhaltliche Angaben verdrängt werde und schließt daraus: „Dieser Wechsel in der Gliederungsweise, die innere Unstimmigkeit in der neuen Form der Einteilung (nur das 1. Kapitel scheint in die frühere Form zurückzufallen) deuten darauf hin, daß der praktische Teil der Philosophie der Intelligenz an dieser Stelle von einer logischen Konzeption ausgeht, deren begriffliche Grundlegung noch nicht hinreichend entwickelt ist.“ Horstmann 1972, 113f. sieht die Schwierigkeiten weniger „in der Äußerlichkeit der Methode als vielmehr darin, daß dieses Modell die kategorialen Grenzen sprengt, in die es eingeschlossen ist“. Hauptschwierigkeit sei der gedoppelte Naturbegriff. Vgl. zur Grenze der Hegelschen Subsumtionsmethode auch Weckwerth 2000, 58.

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Anschauung unter den Begriff, Hegel spricht ausdrücklich von dem Hervortreten des Ideellen. Insofern ist eine andere Perspektive zentral: nicht das anschaulich Begegnende wird thematisiert, sondern die formale Allgemeinheit (z. B. Person, Vertrag usw.), die laut Hegel hier aber, weil es sich noch um eine Verhältnisbestimmung handelt, generell nur abstrakte Identität bleibt. Neben dieser groben Einteilung der beiden Subsumtionen gibt es innerhalb der Hauptotenzen selbst noch vielfache weitere Subsumtionen, die bezeugen, daß Hegel das Subsumieren tatsächlich als eine Art Ordnungsinstrument für das zu behandelnde Material benutzt. Das Subsumieren bleibt somit auch im zweiten und sogar noch im dritten Teil erhalten, obwohl dieser nun die Totalität der absoluten Sittlichkeit selbst, also nicht mehr nur ein „Verhältniߓ derselben oder eine bestimmte Subsumtionsstufe darstellt.75

3.7. Der Naturbegriff Hegels Beschäftigung mit Problemen der Natur und Naturphilosophie erreichte in den ersten Jenaer Jahren ihre wohl höchste Intensität.76 Hatte bei den vorwiegend in kritischer Absicht verfaßten theologischen und historisch-politischen Studien früher der Lebensbegriff die beherrschende Rolle innegehabt, so gewinnt nun bei der systematischen Entfaltung des angesammelten und erarbeiteten Materials und natürlich auch in Vorbereitung und Ausarbeitung der Vorlesungen der Naturbegriff selbst zentrale Bedeutung. Das zu jener Zeit große Interesse für die neuen Naturwissenschaften (Biologie, Chemie) und die Diskussion ihrer Ergebnisse kamen Hegel dabei sicher entgegen.77 Zwar hatte sich Hegel stets mit den Naturwissenschaften befaßt, sogar selbst Experimente durchgeführt; in Jena aber erst wird „vor allem durch Schelling die transzendentalphilosophische Betrachtung der Natur im methodischen Sinn richtungsweisend“ für ihn.78 Hier soll weder Hegels Konzeption seiner Naturphilosophie noch die Entwicklung seiner Naturauffassung dargestellt, sondern nur nachgezeichnet werden, wie Hegel den Naturbegriff gebraucht und es überhaupt zu Formulierungen wie „sittliche Natur“ kommen kann. Weil es vor allem darum geht, das System der Sittlichkeit zu entschlüsseln, konzentriere ich mich auf diejenige Publikation, die über die begrifflichen Konstellationen den größten Aufschluß zu geben vermag: Der Naturrechtsaufsatz dokumen75

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Vgl. Hegels Reflexionen auf die notwendigen Subsumtionen für den zweiten Teil exemplarisch V 312 und ebenso im dritten Teil z. B. V 349. Vgl. zum Thema Horstmann/Petry 1986 und: Hegels Jenaer Naturphilosophie, hg. v. Klaus Vieweg, München 1998. „Hegel, eine äußerste Möglichkeit des deutschen Idealismus, sucht alle die von Herder, Kant, Baader, Goethe und Schelling herausgearbeiteten Züge des Naturbildes seiner Zeit in einem begrifflichen Prozeß zusammenzuziehen.“ In: Johannes Hoffmeister, Goethe und der deutsche Idealismus. Eine Einführung zu Hegels Realphilosophie, Leipzig 1932, IV. Es geht um die Überschreitung des alten mechanischen und mathematischen Naturbegriffs. Erst die nicht-mechanische Natur öffnet die mögliche Einheit von Natur und gesellschaftlichem Menschen. Kimmerle 1982, 135. Vgl. auch: Hegel und die Naturwissenschaften, hg. v. Michael John Petry, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987.

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tiert klar den inhaltlichen Zusammenhang des Hegelschen Interesses bezüglich des Verhältnisses von Natur und positivem Recht und zudem seine Kritik an der bisherigen Behandlung dieser Thematik. Eine weitere Quelle (eine Notiz in den Jenaer Universitätsakten) verrät, wo Hegels Arbeitsschwerpunkte zu jener Zeit lagen. Hegel beabsichtigte augenscheinlich, eine eigenständige Vorlesung zur Kritik des Fichteschen Naturrechts zu halten. Diese durfte schließlich aber aus rein formalen Gründen nicht stattfinden.79 Die zeitliche Nähe der geplanten Vorlesung zur Abfassung des Systems der Sittlichkeit spricht dafür, daß Hegel seinen Naturbegriff wesentlich in Abgrenzung zu dem relativ neuen, auf der Transzendentalphilosophie basierenden Vorgehen Fichtes entwickelt. Kritik am Fichteschen Naturbegriff hatte Hegel – hier zeigt sich wieder die Kontinuität seines Arbeitens – auch schon in der Differenzschrift geübt.80 Hegel wirft Fichte vor allem eine falsche Entgegensetzung von Natur und Vernunft vor, die im Resultat zu einer Zerstückelung der Natur durch den Begriff führe.81 Der Vergleich des Systems der Sittlichkeit mit dem Naturrechtsaufsatz zeigt zudem, daß Hegel entschlossen an einer Problematik arbeitet, und zwar mit ähnlichen Mitteln. Im Naturrechtsaufsatz unterscheidet er nicht nur exemplarisch die beiden im Verlauf der Geschichte entstandenen wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts als „empirische“ und „formelle“, sondern versucht deren äußerlich differierende, grundsätzlich aber gleiche Mängel auch schon durch ein richtiges Vermitteln von „Anschauung“ und „Begriff“ zu beheben. Nach Hegel leiden beide Betrachtungsarten am Absondern und Fixieren von Bestimmtheiten, deren Entgegensetzung oder unvollständiger Verknüpfung. Das bringt mit sich, daß die Natur entweder nur ausschnitthaft und unvollständig erfaßt oder aber als überhaupt zu überwindende und durch den Begriff zerstückelte aufgefaßt wird. Beides ist laut Hegel für eine philosophische Betrachtung unannehmbar. Natur- und Sittengesetz sollen vielmehr wieder aufeinander bezogen werden.82 Dies ist der Grund für den zunächst vielleicht verblüffenden Ausdruck „sittliche Natur“ (der im Naturrechtsaufsatz und im System der Sittlichkeit überaus häufig wiederkehrt).83 Die Natur darf nicht als ein „Aufzugebendes“ gedacht 79 80 81 82

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Vgl. V 665ff. Vgl. die oben zitierten Passagen. Vgl. IV 53 und IV 56. Natur und Vernunft dürfen nicht entgegengesetzt werden, der Natur darf nicht verächtlich begegnet werden: Eben das hatte Hegel Kant und Fichte vielfach vorgeworfen. Vgl. bereits meine Einleitung und die dortigen Zitate, außerdem in Glauben und Wissen die Kritik an der Kantischen Philosophie, sie käme nicht „zum Schauen und zum Wissen, daß Vernunft und Natur absolut harmoniren“; statt dessen „schmäht diese Moralität die Natur und den Geist derselben, als ob die Einrichtung der Natur nicht vernünftig gemacht […] wäre“. (IV 345) Hegel kritisiert Kant auch dafür, daß er das eigentlich schon entdeckte richtige Prinzip nicht durchgeführt habe und so „der interessanteste Punct des Kantischen Systems“ wieder verlorengegangen sei, „nemlich der Punct, auf welchem es eine Region erkennt, welche eine Mitte ist zwischen dem empirischen Mannichfaltigen und der absoluten abstracten Einheit“. (IV 338) „In der reflectirenden Urtheilskraft findet nemlich Kant das Mittelglied zwischen Naturbegriff und Freyheitsbegriff“. (IV 339) Zum Ausdruck „sittliche Natur“ vgl. auch Horstmann 1979, 153f. Außerdem Angelica Nuzzo, „Natur und Freiheit in Hegels Philosophie“, in: Vieweg 1998, 85–96, dort 93: Hegel stelle einen Zusammenhang von Natur und Sittlichkeit her, „der den Naturbegriff im Sittlichen einholt: Die Na-

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werden;84 das Sein der Natur soll nicht überwunden, vielmehr die sittliche Welt als deren Realisierung begriffen werden. „Das Sittliche als Natur denken heißt nach Hegel: das Bestehen aller seiner Potenzen, deren Realität und Einheit mit der Notwendigkeit denken.“85 Hierbei wird wie selbstverständlich auf aristotelische Theorie zurückgegriffen. Der Naturbegriff ist aber mindestens ein gedoppelter – Riedel und Kimmerle haben das überzeugend gezeigt.86 Einerseits bezeichnet er die Totalität (im Sinne von Spinozas „deus sive natura“), andererseits das „Wesen“ (im Sinne von Aristoteles’ Lehre, daß die Polis „der Natur nach eher“ als der einzelne sei). Dieser von Hegel mehrfach zitierte Gedanke des Aristoteles war vielen Interpreten der Hauptgesichtspunkt und wurde mitunter auch dazu benutzt, Hegel als modernefeindlich und Unterdrücker der leichtfertig dem imaginären Ganzen aufgeopferten Individualität zu beschimpfen.87 Hegel vertritt aber lediglich den an sich simplen Gedanken, daß sich in einem einzelnen empirischen Individuum das Gesamt der Kulturentwicklung und aller ihrer Verhältnisse und Resultate nicht dauerhaft, sondern nur „momentan“ (V 334), d. h. in der Zeit und also partikular auszudrücken vermag. So kommt folgender Satz aus dem dritten Teil des Systems der Sittlichkeit zustande: „[D]ie Einzelnheit des Individuums ist nicht das erste; sondern die Lebendigkeit der sittlichen Natur, die Göttlichkeit, und für ihr Wesen ist das einzelne Individuum zu arm, ihre Natur in ihrer ganzen Realität aufzufassen“. (V 334)88 Auch im Naturrechtsaufsatz wird das „Verhältniß der Sittlichkeit des Indivi-

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tur wird zur Grundlage der Sittlichkeit, während diese als sittliche Natur eine weitere Modifikation oder Bestimmung der Natur selbst bildet.“ Vgl. im Naturrechtsaufsatz IV 427: „Die absolute Idee der Sittlichkeit enthält dagegen den Naturstand, und die Majestät, als schlechthin identisch, indem die letztere selbst nichts anders als die absolute sittliche Natur ist, und an keinen Verlust der absoluten Freyheit, welche man unter der natürlichen Freyheit verstehen müßte, oder ein Aufgeben der sittlichen Natur, durch das reellseyn der Majestät gedacht werden kann; das natürliche aber, welches im sittlichen Verhältniß als ein aufzugebendes gedacht werden müßte, würde selbst nichts sittliches seyn, und also am wenigsten dasselbe in seiner Ursprünglichkeit darstellen.“ Riedel 1982, 90. Vgl. Riedel 1982 und Kimmerle 1982. Vgl. Horstmann 1974, 213, der verschiedene Interpretationen diskutiert und dann resümiert: „Hegels frühe politische Philosophie, d. h. seine zunächst in den Jenaer Schriften formulierten Ansätze, kann als der Versuch der Einlösung eines Programms verstanden werden, dem es zuerst darum zu tun gewesen ist, den klassischen und d. h. antiken Begriff der Sittlichkeit gegenüber den individualistischen Ansätzen des neuzeitlichen Naturrechts zu retten. Die Sittlichkeit als das Prinzip der klassischen Lehre von der Politik soll aber gegenüber den Konsequenzen des neuzeitlichen Naturrechts für die politische Theorie nicht einseitig hypostasiert werden. Das antike Konzept soll vielmehr so umformuliert werden, daß es in der Lage ist, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Neuzeit zu fassen, ohne daß hinter die durch das neuzeitliche Naturrecht bereitgestellten Möglichkeiten der Deutung und Begründung der politischen Verfassung der Moderne zurückgefallen wird.“ Damit sei auch klar, daß die Autonomie des Individuums gewahrt bleiben müsse. Dennoch ist es völlig klar, daß die sich organisierende sittliche Potenz dies „nur in Individuen“ kann. Doch ist eben „nicht das Individuum als solches“ das wahrhaft Absolute, sondern nur das „formell absolute“: „[D]as wahrhaffte ist das System der Sittlichkeit“ (V 333).

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duums zur realen absoluten Sittlichkeit“ thematisiert und gipfelt dort in der Metapher der Sittlichkeit des einzelnen als Pulsschlag des ganzen Systems, welche Hegels damalige Affinität zu organologischen Betrachtungen bezeugt.89 Die im Naturrechtsaufsatz getroffene Unterscheidung in physische und sittliche Natur zeigt deutlich die Hegel interessierenden Momente und ist geeignet, die logische Konzeption des Systems genauer zu deuten.90 Termini wie Einheit, Indifferenz oder das Absolute erfahren hier eine wünschenswert klare Explikation. Das Absolute ist selbstverständlich ein philosophischer Terminus, kein empirisches Gemisch, in dem alles zusammengewürfelt wird,91 sondern eine Beziehungsstruktur: „Das Absolute wird nach seiner Idee erkannt als […] Identität differenter, deren Bestimmtheit ist, der einen die Einheit, der andern die Vielheit zu seyn“. (IV 432) Um diese logische Struktur begrifflich zu fassen und weithin ausweisbar zu machen, greift Hegel erneut auf den Naturbegriff zurück: „[S]o ist das Absolute die Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses; und weil dieses ein gedoppeltes ist, ist die Erscheinung des Absoluten bestimmt, als Einheit der Indifferenz, und desjenigen Verhältnisses, oder derjenigen relativen Identität, in welcher das Viele das Erste, das positive ist, – und als Einheit der Indifferenz und desjenigen Verhältnisses, in welchem die Einheit das Erste und positive ist; jene ist die physische, diese die sittliche Natur.“ (IV 433)92 Während es für Kant in der Natur keine Freiheit gibt, lesen wir nun bei Hegel im Anschluß an die Unterscheidung von physischer und sittlicher Natur als der Erscheinungen des Absoluten: „Und da die Indifferenz oder die Einheit die Freyheit, das 89

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Vgl. IV 467 und Abschnitt 4.2.1. Zur organologischen Betrachtungsart vgl. Michael Wolff, „Hegels staatsrechtlicher Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen ‚Staatswissenschaft‘“, in: Hegel-Studien 19 (1984), 147–177. Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel von Gerhard Dohrn-van Rossum und Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. IV (Stuttgart 1978), 519–622. Vgl. auch Coppieters 1994. Richard Kroner 1961a, Bd. I, 283f. betont die Bedeutung der Kantischen Kritik der Urteilskraft. Kants Ausführungen zur teleologischen Urteilskraft und zum Organismus hätten „auf die Entwicklung des deutschen Idealismus den stärksten Einfluß ausgeübt“. Vgl. auch Hegels Vorlesung über Hobbes: „Der Ausdruck Natur hat diese Zweideutigkeit, daß Natur des Menschen seine Geistigkeit, Vernünftigkeit ist; sein Naturzustand ist aber der andere Zustand, daß der Mensch nach seiner Natürlichkeit sich benimmt. So benimmt er sich nach den Begierden, Neigungen usf.; das Vernünftige ist das Meisterwerden über das unmittelbar Natürliche.“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 20/228) Vgl. auch Glauben und Wissen: „[W]enn das Absolute zusammengesetzt wäre aus Endlichem und Unendlichem, so würde die Abstraction vom Endlichen allerdings ein Verlust seyn, aber in der Idee ist endliches und unendliches Eins, und deßwegen die Endlichkeit als solche verschwunden, insofern sie an und für sich Wahrheit und Realität haben sollte; es ist aber nur das, was an ihr Negation ist, negirt worden, und also die wahre Affirmation gesetzt“ (IV 324). Hervorhebung von mir. Im System der Sittlichkeit findet sich z. B. V 307 die ausdrückliche Unterscheidung zwischen „Natur“ und „sittliche[r] Natur“. Vgl. Nuzzo 1998, 91: Statt von Kants dogmatischer Trennung innerhalb des Vernunftbegriffs (theoretisch und praktisch) gehe Hegel von der Idee des Absoluten selber aus und versuche von den Erscheinungen des Absoluten her die Einteilung der Wissenschaft zu gewinnen. Dafür werde im Naturbegriff selbst eine Bedeutungsunterscheidung vorgenommen.

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Verhältniß aber, oder die relative Identität die Nothwendigkeit ist, so ist jede dieser beyden Erscheinungen das Einsseyn und die Indifferenz der Freyheit und der Nothwendigkeit.“ (IV 433)93 Hegels Bemühen um die Überwindung der kantischen Dualismen ist m. E. an dieser Stelle besonders stark zu spüren, in jedem Falle wird die Aufwertung des Naturbegriffs deutlich.94 Die von Hegel hier gegebenen Bestimmungen sind aber vor allem hilfreich für das Verständnis der Gliederung des Systems der Sittlichkeit. Jetzt wird einsichtig, was der Terminus „Verhältniߓ besagen soll und warum der gesamte erste Teil jene (ohne diese Erklärung recht merkwürdig anmutende) Überschrift „Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ trägt. Zugleich wird deutlich, daß Hegel binnen nur kurzer Zeit seine Auffassung von der Explikation des Absoluten zu modifizieren vermochte: Hatte er in seiner Schellingdarstellung der Differenzschrift das Absolute noch als die Identität von Identität und Nichtidentität bestimmt, so faßte er nun im Naturrechtsaufsatz das Absolute als die Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses.95 Diese neue Weise der Darstellung des Absoluten erlaubt es, die Möglichkeit von Einheit auch dann zu erklären, wenn doch einmal die Eineit gegenüber der Vielheit das Erste und Positive sein soll und unter einem anderen Gesichtspunkt sodann aber das Viele dominiert und das Erste bildet. Diese beiden letzten Weisen der Beziehung von Einheit und Vielheit nennt Hegel jeweils „Verhältniߓ, und so kann er auch einfach von einem „gedoppelten“ Verhältnis sprechen.96 Unüber93

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Auch Friedrich Schiller will übrigens die Indifferenz von Freiheit und Notwendigkeit erweisen, den physischen Menschen mit dem sittlichen Menschen in Einklang bringen. Vgl. Nuzzo 1998, 90: „Aus der theoretischen Vernunft die Idee der Natur sowie aus der praktischen Vernunft die Idee der Freiheit ‚herausklauben‘ zu wollen ist für Hegel ein verfehltes Unternehmen. Denn die Natur bleibt auf diese Weise immer in einem Gegensatz zur Sittlichkeit verhaftet, während die Freiheit der praktischen Vernunft letztendlich nur noch in einer besonderen Form von Kausalitätsverhältnis bestehen kann.“ Überhaupt zeugt der Naturrechtsaufsatz davon, daß trotz der bislang aufgezeigten Nähe zu Schelling zugleich die Eigenständigkeit Hegels nicht nur bezüglich seiner Themen, sondern auch hinsichtlich seiner methodischen Erwägungen festgehalten werden muß. Die Differenz zu Schelling – man muß noch nicht von Emanzipation sprechen – ist auch deshalb erwähnenswert, weil sie zu verstehen hilft, weshalb Hegel – trotz aller methodischen und terminologischen Anleihen bei Schelling – in seinem System der Sittlichkeit letztlich doch vom Freund abweichend verfährt. Vgl. auch Abschnitt 4.2.1. und Horstmann 1972, 95f., der die „etwas verwirrende Konstruktion“ exakt aufschlüsselt: „Einheit stellt sich […] dar als Einheit von Einheit und Vielheit in der Bestimmung von Einheit, Vielheit als dieselbe Einheit in der Bestimmung von Vielheit. Einheit und Vielheit unterscheiden sich daher nicht in Hinblick auf das, was in ihnen gedacht wird, sondern nur durch die Art, in der das, als dessen Einheit sie jeweils betrachtet werden, gesetzt ist. Und hier unterscheiden sich nun Einheit und Vielheit in der Weise, daß in der Einheit, die unter der Bestimmung der Vielheit als Einheit von Einheit und Vielheit gedacht wird, die Entgegengesetzten, also Einheit und Vielheit, bestehen oder ‚positive Realität‘ haben. Um also Vielheit als Einheit von Einheit und Vielheit zu begreifen, muß in der Darstellung der Vielheit als Einheit diesem Charakter des Bestehens der Entgegengesetzten Rechnung getragen werden durch die Doppelung des Identifikationsprozesses, der notwendig ist zur Konstitution der Vielheit als einer Einheit von Einheit und Vielheit. Hegel beschreibt diese Doppelung als die Notwendigkeit, ein ‚gedoppeltes Verhältniߑ auf der Seite der Vielheit selbst anzunehmen, wenn sie als Einheit verstanden werden soll. Dieses gedoppelte Verhältnis ist nun nichts anderes als selbst wieder ein Verhältnis von Einheit und Vielheit,

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sehbar ist, daß durch die neue Fassung des Absoluten unerwünschte Konsequenzen der ersten Konzeption aus der Differenzschrift vermieden werden. Insbesondere der Umstand, daß das Absolute eigentlich nur negativ bestimmt werden konnte, nämlich als das was nicht relative Identität sei, und ebenso das Problem, daß die möglichen strukturellen Unterschiede zwischen den jeweiligen relativen Identitäten eigentlich nicht beachtet werden konnten, entfallen im Naturrechtsaufsatz.97 Es kommt zu einer charakteristischen Veränderung: Denn nun wird gerade die Differenz der Differenten, als deren Einheit die Idee des Absoluten erkannt werden soll, in den formalen Begriff des Absoluten selbst eingebracht und legitimiert auch die verschiedenen Erscheinungsweisen desselben. Die Formel vom Absoluten als der Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses bringt dies deutlich zum Ausdruck. Es ist klar, daß sich hiermit auch der Prozeß der Erkenntnis des Absoluten modifiziert. Das System der Sittlichkeit ist derjenige Entwurf Hegels, in dem diese (im Naturrechtsaufsatz skizzierte) veränderte logische Konzeption schließlich zur Durchführung gelangt. In Hegels Manuskript wird weder eine Naturphilosophie gegeben, noch überhaupt die physische Natur mit besonderem Nachdruck untersucht. Wenn man der Bestimmung des Naturrechtsaufsatzes folgt, so steht vielmehr die sittliche Natur im Vordergrund; die physische Natur muß aber – wie sich herausgestellt hat – dabei gleichzeitig berücksichtigt werden. Physische und sittliche Natur sind ja „nur“ verschiedener Ausdruck der einen Natur, nur zwei Gestalten der einen „göttlichen Natur“. Sie gehören also zusammen, sie sind zwei verschiedene Formen des Verhältnisses von Einheit und Vielheit, aber damit eben beide (ohne qualitativen Unterschied)98 auch

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in dem einmal der Einheit und einmal der Vielheit die Priorität zukommt, so daß sich innerhalb der Konstitution der Vielheit als einer Einheit die Darstellungszusammenhänge wiederfinden, die auch die Erkenntnis des Absoluten leiten.“ Vgl. Horstmann 1972, 96ff.: Wird das Absolute als Einheit der Identität und der Nichtidentität bestimmt, Identität und Nichtidentität aber beide nur jeweils als relative Identitäten aufgefaßt, so ist bei dem Prozeß der Konstruktion des Absoluten das Absolute notwendig unterbestimmt. Denn dann wird nur auf das, was Identität und Nichtidentität im Verhältnis zum Absoluten gemeinsam auszeichnet (nämlich relative Identität zu sein) geachtet, nicht aber auf das, was die relativen Identitäten selbst noch voneinander unterscheidet. Von diesem Unterschied abzusehen heißt aber, die Einheit von Identität und Nichtidentität als unvollständige darzustellen. Der Naturrechtsaufsatz kann diese Schwierigkeiten vermeiden. Hegels gleichzeitige Bemerkung, daß „der Geist höher als die Natur“ sei (IV 464), weist bereits auf kommende Verschiebungen der Systematik und den dann veränderten, limitierten Naturbegriff hin. Vgl. insbesondere den für dieses Thema wichtigen Text (Fragment aus einem Vorlesungsmanuskript von 1803) „Das Wesen des Geistes“ (V 370–373) sowie „seiner Form …“ (V 374–377). „Der Geist hebt die Natur, oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist, daß sie nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes. Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist erst der Geist; er entreißt sich der Macht der Natur, indem sie aufhört, ein anderes zu seyn als er ist, und die gemeine Nothwendigkeit, in der er nur ist, in Beziehung auf ein entgegengesetztes als nicht sich selbst gleicher wird zur absoluten zur freyen Nothwendigkeit indem er sich erkennt als in seiner Entgegensetzung er selbst seyend. Mit ihrem Schein des für sich seyns, oder des dem Geiste entgegengesetzt seyns verliert sie ihre Macht, denn sie hat nur Macht indem sie ein ihm fremdes ist.“ (V 370)

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selbst Natur. Für die Darstellung im Manuskript hat das zur Folge, daß, um die adäquate Erkenntnis der Idee der absoluten Sittlichkeit gewährleisten zu können, folglich auch je beide Momente berücksichtigt werden müssen. So ist etwa der Arbeitsprozeß geschildert und geordnet in Auseinandersetzung mit der physischen Natur. Auch ist unzweifelhaft eine schrittweise Emanzipation aus dem ausschließlichen Gebundensein an die physische Natur aufgezeigt; die Arbeit entwickelt sich beispielsweise von anfänglicher, nur der Befriedigung rein sinnlicher Bedürfnisse dienender Nahrungsbeschaffung hin zur „Bildung“ der „Intelligenzen“. Nicht nur also ändert sich das Objekt der Arbeit, sondern die Natur selbst wird in der Arbeit, im Sittlichen zu einer Gestalt gebildet, die sie von sich aus nicht hervorbringt.99 Auch zeigt Hegel sehr genau, wie durch soziale Interaktionen ganz neue Zwänge und Abhängigkeiten entstehen, neue Gewalten, welche die Form der Arbeit wesentlich prägen und gerade nicht als physische Natur (wie sie etwa in der Bearbeitung eines Objekts eine wichtige Rolle spielt) verstanden werden können. Wenn Hegel den ersten Teil seines Systems der Sittlichkeit insgesamt formal als „absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ beschreibt, gibt er damit eine klare Orientierungshilfe, auf die zwingend zu achten ist. Man möge sich bei der Leküre des ersten Teils deshalb stets daran erinnern, daß „das, was als Verhältnis in dem als Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses begriffenen Absoluten auftritt, […nur] die Bestimmung der Vielheit als eines der selbst relativen Einheit entgegengesetzten Moments“ reflektiert.100 Alle behandelten Themen, sogar erste rechtliche Verhältnisse, werden hier vorerst noch als nichtstaatliche Phänomene betrachtet, die entstehenden Beziehungen als naturgegebene, naturwüchsige – oder wie Hegel auch sagt – unregierte. Die gegebenen Differenzen bleiben dadurch zunächst prinzipiell unaufhebbar und werden nur partiell (etwa in der Familie) kurzzeitig indifferentiiert. Man kann das deutlich an dem im ersten Teil entwickelten formellen Recht verfolgen. Sofern es nicht institutionell abgesichert ist (und das ist es im ersten Teil nicht), spielt es trotz der teils schon geübten Anerkennung im realen Verhältnis der Individuen zueinander gerade nicht die maßgebliche Rolle. Was wirklich zählt, ist die reale Macht des Lebens. Die individuelle Stärke entscheidet und führt zu Herrschaft und Knechtschaft; die natürliche Ungleichheit bleibt in dieser Sphäre herrschend und unaufhebbar. Interessant und wichtig ist, daß Hegel trotz dieser geltenden Bestimmungen die sogenannten natürlichen Indifferenzstufen aufzeigt und als Beleg für einen Trieb der Sittlichkeit und eine Tendenz des Lebens darstellt. Natur und Sittlichkeit gehören zusammen.101

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Vgl. Kimmerle 1982, 217. Vgl. im Manuskript beispielsweise die Stellen zur „Cultur der Pflanzen“ (V 287), „Bezähmung der Thiere“ (V 288) und „Associieren derselben für die Bewegung und Stärke“ (V 288). 100 Horstmann 1972, 97. 101 Vgl., bezogen auf den Naturrechtsaufsatz, Nuzzo 1998, 92: „Die sittliche Natur kommt aus der physischen Natur aber nicht nur insofern her, als sie sich über letztere erhebt; sie entwickelt sich vielmehr immer weiter auf der bestehenden Grundlage der physischen – anorganischen wie organischen – Natur bis zu ihrer Gestaltung im Staat, in bestimmmten Völkern und schließlich in der Geschichte. Die Entwicklung der Freiheit im Sittlichen, die die eigentümliche Einteilung dieser Sphä-

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Da für die Interpretation des Systems der Sittlichkeit ein weiterer Begriff zentral ist, für dessen Erklärung auf Schelling nicht verzichtet werden kann, sei mit Rolf-Peter Horstmann an dieser Stelle bereits auf weitere Differenzen zwischen den beiden Philosophen hingewiesen. Daß sowohl von Schelling als auch Hegel der Naturbegriff jeweils „zum Grundbegriff des Systems gemacht wird“, dürfe nämlich nicht den Blick auf den unterschiedlichen Gebrauch desselben verstellen: Während bei Schelling die Natur „Grundlage des Systems in dem Sinne ist, daß sie als natürliche Natur den Ermöglichungsgrund für die Erscheinungen der geistigen Welt, also die transzendentale Bedingung der Entwicklung der Bestimmungen des Bewußtseins darstellt, Natur daher im Sinne eines Ersten, nicht weiter zu Hinterschreitenden die Grundlage des Systems bildet, so ist für Hegel die Natur in einem ganz anderen Sinne die Schlüsselkategorie des frühen Systems.“102 Unter Bezugnahme auf Ilting betont Horstmann, daß die Natur von Hegel „organologisch als Einheit der Allgemeinheit und Einzelheit gefaßt [wird], als Einheit, die alle Strukturen und Beziehungen umgreift, in die sich die Elemente des Absoluten auseinanderlegen“. Folglich ist Natur für den Jenaer Hegel „nicht so sehr in ihrer Form als natürliche Natur Grundlage des Systems, sondern sie ist vielmehr die Kategorie, die das bezeichnet, was in allem bloß relativ Identischen den Charakter der Identität ausmacht. Gerade dieser natürliche Natur und Geist umfassende Begriff von Natur zeichnet Hegels frühe Jenaer Systemkonzeption, und nur diese, aus“.103

re ausmacht, ist nur auf Grund einer parallel laufenden Entwicklung der natürlichen Seite des Geistes möglich.“ 102 Horstmann 1972, 109. Horstmann ist bemüht, Hegels Eigenständigkeit zu unterstreichen und kritisiert daher vor allem Kimmerles Ansatz der Interpretation des Jenaer Hegels ausgehend von der Schellingdarstellung in der Differenzschrift, welche vor allem Übereinstimmung suggeriere. Die sog. Systemskizze der Differenzschrift habe jedoch eine solche Gliederung, die mit den von Hegel selbst ausgearbeiteten Systemteilen gar nicht übereinstimme. Es sei daher sinnvoller, auf die im Naturrechtsaufsatz veröffentlichte Skizze zurückzugreifen, die gänzlich ohne Bezugnahme auf Schelling auskomme und viel besser mit Hegels eigenen Arbeiten zusammenstimme. 103 Horstmann 1972, 109. Den Wandel von Hegels Naturauffassung (die Einschränkung des Naturbegriffs) nach dem System der Sittlichkeit erklärt Honneth vor allem mit der Aufgabe des aristotelischen Bezugrahmens und der Hinwendung zur Bewußtseinsphilosophie. Er beschreibt ihn folgendermaßen: „Bislang hatte er [Hegel, d. A.] ja die Grundbegriffe seiner Konzeption von ‚Sittlichkeit‘ aus einer philosophischen Vorstellungswelt entnommen, für die die ontologische Bezugnahme auf eine wie auch immer gedachte Naturordnung zentral gewesen war; daher vermochte er auch die sittlichen Beziehungen unter den Menschen nicht anders denn als Abstufungen einer solchen zugrundeliegenden Natur zu beschreiben […]. In der 1803/04 verfaßten ‚Philosophie des Geistes‘, die dem früher als ‚Realphilosophie I‘ bezeichneten Entwurf eines Systems der spekulativen Philosophie entstammt, hat der Begriff der ‚Natur‘ bereits seine ontologisch umfassende Bedeutung verloren; mit ihm bezeichnet Hegel nun nicht mehr die Verfassung der Wirklichkeit im Ganzen, sondern nur noch jenen Bereich der Realität, der dem Geist als sein Anderes entgegengesetzt ist, also die vormenschliche, die physische Natur.“ (Honneth 1992, 47f.)

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3.8. Potenz Hegels (von ihm nicht als eine solche bezeichnete) „Einleitung“ läßt einen Begriff gänzlich vermissen, der für den Aufbau des Manuskripts doch große Bedeutung hat. Denn der faktische Verlauf des Systems der Sittlichkeit zeigt, daß es nicht allein von den wechselseitigen Subsumtionen von Anschauung und Begriff, Allgemeinem und Besonderem usw. vorangetrieben wird. Innerhalb der Rekonstruktion der Idee der absoluten Sittlichkeit spielt ganz offensichtlich auch der Begriff der „Potenz“ eine wesentliche Rolle, insofern die von Hegel konzipierte Sittlichkeit als ein „System von [verschiedenen] Potenzen“ (V 333) der Sittlichkeit begriffen und dargestellt wird.104 Hegel bezeichnet die wechselseitigen Subsumtionen (in der Regel sind es zwei) gelegentlich auch selbst als Potenzen. Denen läßt er dann aber jeweils noch eine dritte Potenz folgen, die man vielleicht als Potenz der Indifferenz bezeichnen könnte; Hegel erwähnt zwar die „Form der drey Potenzen“ in seinem Manuskript, erläutert sie aber nicht. (z. B. V 290, vgl. V 293) Was hat es mit dieser Figur auf sich, was soll die „Potenz“ erklären? In der Sekundärliteratur wird mitunter sogar von einer „Potenzenmethode“105 Hegels, die dieser allein im System der Sittlichkeit anwende, gesprochen. Sofern es diese spezifische Potenzenmethode wirklich gibt, wird sie im Hegelschen Manuskript jedoch nicht erklärt, sondern schlicht vorausgesetzt. Das Verfahren der Subsumtion von Anschauung und Begriff hatte Hegel – wie der „Einleitung“ zu entnehmen ist – immerhin kurz eingeführt. Über eine eventuelle Potenzenmethode hatte er dort hingegen kein einziges Wort verloren. Nun ist es aber unbestreitbar, daß Hegel in seinem Manuskript vielfach den Terminus Potenz gebraucht und seinen Text unter dem Hinweis auf je verschiedene Potenzen gliedert. Um die Einteilung des Stoffes nach einem System von Potenzen zu verstehen, bedarf es einer überblicksartigen Analyse. Wenn im folgenden nun hilfsweise von der Potenzenmethode oder Potenzenlehre gesprochen wird, sollte man sich immer vor Augen halten, daß die wechselseitige Subsumtion von Anschauung und Begriff das eigentliche und dominierende Verfahren im Hegelschen Manuskript ist. Oben war gezeigt worden, warum Hegel diesen Weg für notwendig hält. Betrachtet man die fortlaufenden und wechselseitigen Subsumtionen näher, fällt auf, daß sie in verschiedenen Stufen erfolgen.106 Es werden nicht nur Anschauung und Begriff, sondern gleichfalls andere Begriffspaare untereinander subsumiert, etwa Idealität-Realität, Allgemeinheit-Besonderheit oder UnendlichkeitEndlichkeit. Die wechselseitige Subsumtion der jeweiligen Glieder dieser Paare erfolgt stets mit dem Ziel, ihre Identität aufzuzeigen. Man könnte dies als Potenzenmethode bezeichnen, da es bestimmter Zwischenschritte bedarf, um schließlich zur absoluten Identität zu gelangen, und Hegel selbst den verschiedenen Schritten mitunter den Status einer Potenz zuordnet: Dabei wird in der Regel in der ersten Potenz die 104

Die Notwendigkeit, die Totalität der Realität als ein „System der Potenzen“ darstellen zu müssen, wird an einer Stelle auch im Naturrechtsaufsatz vermerkt. Vgl. IV 471. 105 Z. B. Schnädelbach 2000, 76ff. Kimmerle 1992, 239 spricht von der „Potenzenlehre“. 106 Es sei darauf hingewiesen, daß Schelling „Potenz“ und „Stufe“ zum Teil synonym verwendet. Vgl. hierzu Zimmerli 1981, 264.

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Anschauung unter den Begriff subsumiert; die Idealität des Absoluten tritt hinter der Realität der Differenzen zurück. In der zweiten Potenz wird analog der Begriff unter die Anschauung subsumiert; nun dominiert die Idealität die Realität. In den beiden ersten Potenzen werden also jeweils bestimmte Perspektiven dominant, es kommt noch nicht zur absoluten Identität, nur zu partiellen Indifferenzen. Erst in der dritten Potenz wird die aus der Differenz hervorgegangene Indifferenz vernünftig gefaßt. Allerdings – das sei hier ausdrücklich betont – ist diese Zuordnung weder einheitlich durchgehalten oder von Hegel selbst genau definiert, noch hält sie sich exakt an ihre vermutlich maßgebliche Quelle: Schelling nämlich hatte in seinen schon thematisierten Ferneren Darstellungen drei Potenzen unterschieden, wobei die erste die der Reflexion, die zweite die der Subsumtion, die dritte die der Vernunft war. Dieser Einteilung folgt Hegel in seinem Manuskript jedenfalls nicht – weder für die einzelnen Subsumtionsstufen selbst, noch was den Gesamtaufbau des Manuskripts betrifft. M. E. ist es nicht möglich, die drei Teile des Systems der Sittlichkeit als jene drei aufeinanderfolgenden Potenzen zu begreifen.107 Gleichwohl läßt sich Hegel von Schellings Einteilung inspirieren, und viele seiner Formulierungen weisen erstaunliche Übereinstimmungen auf.108 Die nur für dieses Manuskript relevante, anschließend von Hegel wieder aufgegebene Potenzenlehre verdeutlicht in besonderem Maße die Prägung durch Schellingsche Terminologie. Weil diese Potenzenlehre in den übrigen Hegelschen Manuskripten nie wieder eine so bedeutende Rolle spielt und Hegel sie im System der Sittlichkeit auf neue, von Schelling unbeachtete und unbearbeitete, vornehmlich gesellschaftliche Bereiche anwendet, hat man auch von einem vorübergehenden Hegelschen Experimentieren mit der Schellingschen Begrifflichkeit gesprochen.109 Oben war schon vermerkt worden, daß Hegel diesen Versuch, seine Themen mit Schellingschen Termini zu fassen, mit erheblicher Mühe zwar durchgeführt, letztlich aber als unbefriedigend verworfen, ihn jedenfalls nie wieder aufgenommen hat. Die spätere Kritik an Schelling kann man womöglich auch als eine aus Hegels eigener mühsamer Erfahrung mit dem Gebrauch von dessen Terminologie hervorgegangene Distanzierung begreifen.110 Obwohl es m. E. nicht möglich ist, den Hegelschen und Schellingschen Gebrauch der Potenzen gleichzusetzen, bleibt es für den hiesigen Zweck der Aufhellung der Konzeption des Hegelschen Manuskripts aus Mangel an anderen Quellen111 notwendig, Schellings 107

Vgl. Siep 1981, 283ff., der die Differenzen zwischen Schelling und Hegel festhält. Vgl. etwa Zimmerli 1981. Außerdem Schnädelbach 2000, 79 zu den Potenzen und verallgemeinernd: Der Ausgangspunkt der Systemskizze aus dem Naturrechtsaufsatz sei „mit Schellingschen Mitteln rekonstruiert“ (80). 109 Das „Experimentieren“ Hegels mit jener Terminologie hat vor allem Lukács immer wieder betont. Vgl. z. B. Lukács 1948, 472f.: Das System der Sittlichkeit „bezeichnet den Gipfelpunkt der idealistischen Konstruktionen; es ist kein Zufall, daß diese Art der sachlichen Auffassung mit der Kulmination in dem Experimentieren Hegels mit der Schellingschen Terminologie zusammenfällt. Das Erstarken der realistischen Tendenzen in der konkreten Erfassung gesellschaftlicher Probleme läuft als Entwicklungsprozeß bei Hegel parallel mit seinem Verwerfen der Schellingschen Form der Begriffsbildung.“ Vgl. auch 496. 110 Vgl. Vorwort der Phänomenologie des Geistes und Schnädelbach 2000, 111. 111 Hegel verwendet den Begriff der „Potenz“ natürlich auch in anderen Texten, doch wird der Begriffsgebrauch nicht eigenständig thematisiert. Im Naturrechtsaufsatz finden sich klare Paral108

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Potenzenlehre wenigstens in groben Umrissen darzustellen. Hatte Schelling die Potenzenlehre zunächst im naturphilosophischen Zusammenhang entwickelt, so gilt sie auch für das Identitätssystem, welches Schelling noch zu Beginn der Zeit der Zusammenarbeit mit Hegel vertritt. Ganz allgemein wird nach Schelling durch die Potenzen zunächst die „dynamische Stufenfolge“112 in den Produktionen der Natur bezeichnet; die Potenzen bezeichnen also die Gradationen des Naturprozesses, die qualitativen Abstufungen in der Wirklichkeit. Dabei reproduzieren sich auf den jeweils höheren Naturebenen Momente der niederen. Für das Identitätssystem ist es dann typisch, daß die Potenzen als Formen des Heraustretens aus der absoluten Identität, als deren quantitative Differenzen begriffen werden, die sich durch ein Überwiegen entweder der Objektivität oder der Subjektivität auszeichnen.113 An dieser Stelle kann und muß nicht die differenzierte Potenzenlehre Schellings ausgebreitet werden,114 zumal nicht klar ist, wie genau Hegel die verschiedenen Varianten dieser Theorie kannte. Aus diesem Grund wird hier nur auf Belegstellen zurückgegriffen, die Hegel zweifellos kennen mußte.115 Daß der Terminus „Potenz“ von den jungen Philosophen Schelling und Hegel nicht nur aus der metaphysischen Tradition übernommen, sondern ebenso dem naturwissenschaftlichen Gebrauch entlehnt wurde, gilt durch den Verweis auf Eschenmayer als gesichert.116 Vielleicht darf dies (trotz permanenter Betonung der Eigenständigkeit der Philosophie) als ein Hinweis darauf gelesen werden, daß man sich von den anderen wissenschaftlichen Disziplinen nicht abkoppeln, sondern vielmehr deren Fortschritte in eine philosophische Theorie integrie-

lelen zum Manuskript. Vgl. IV 476: „Die absolute klare Einheit der Sittlichkeit ist darin absolut und lebendig, daß weder eine einzelne Potenz, noch das Bestehen der Potenzen überhaupt fest seyn kann, sondern daß sie dieselben, so wie sie sie ewig ausdehnt, ebenso absolut zusammenschlägt und aufhebt, und sich selbst in unentwickelter Einheit und Klarheit genießt; und in Beziehung auf die Potenzen, ihres innern Lebens sicher und untheilbar, bald der einen durch die andere Abbruch thut, bald in die eine ganz übergeht, und die andern vernichtet, so wie sie überhaupt aus dieser Bewegung ebenso sich in die absolute Ruhe zurückzieht, in welcher alle aufgehoben sind.“ 112 Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: Schelling 1856ff., Bd. I/3, 256. Vgl. ebd., 6, 250 und 303. 113 Vgl. Wolfgang Förster, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (1989), Sp. 1167ff. 114 Vgl. hierzu Zimmerli 1981. Außerdem: Werner Hartkopf, Die Dialektik in Schellings Transzendental- und Identitätsphilosophie, Meisenheim am Glan 1975, 51ff. und Hermann Schrödter, „Die Grundlagen der Lehre Schellings von den Potenzen in seiner ‚Reinrationalen Philosophie‘“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), 562–585. 115 Der selbstverständliche Gebrauch des Ausdrucks „Potenz“ ist im Kritischen Journal bereits dokumentiert. So braucht gar nicht darüber spekuliert zu werden, ob Hegel denn sofort Schellings Fernere Darstellungen gelesen hat oder nicht. Diese enthalten zwar noch spezifische Ergänzungen, doch ist die Konzeption der Potenzen bereits als bekannt vorauszusetzen. Insofern braucht man dieses Schellingsche Werk, obwohl seine Lektüre durch Hegel überaus wahrscheinlich ist, noch nicht einmal als unabdingbare Quelle für Hegel heranzuziehen. 116 Zu weiteren Einflüssen auf Schellings Potenzenlehre, z. B. Oetingers christlicher Theosophie oder kabbalistischen Momenten, vgl. Friedrich Niewöhner in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 1169ff.

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ren wollte.117 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein Text, der in dem von Schelling und Hegel gemeinsam herausgegebenen Kritischen Journal erschien: In Über das absolute Identitätssystem und sein Verhältnis zu dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus findet das gemeinsame Arbeiten und Suchen sogar seinen künstlerischen Ausdruck.118 Der Text dokumentiert, wie verbreitet, ja beinahe populär zu jener Zeit die Methode des Potenzierens war.119 Es schien geradezu eine Mode gewesen zu sein, mit dem Begriff der Potenz zu jonglieren. Schelling läßt „den Freund“ (also Hegel) über das von Reinhold betriebene „Unwesen mit den Potenzen“ schimpfen – ein Vorwurf, der pikanterweise von späteren Interpreten des Systems der Sittlichkeit ausgerechnet gegen Hegel erhoben wurde, und den dieser selbst noch zu Lebzeiten gegen Schelling erhoben hatte120 – und nimmt dies zum Anlaß für eine klärende separate Anmerkung. Diese ist, jedenfalls im Vergleich zu Hegels nur sporadischen Andeutungen, so präzis, daß sie hier fast im ganzen Umfang zitiert werden soll: „In meinem System hat es mit den Potenzen diese Bewandtniß, daß sie im Einzelnen wie im Ganzen sind, z. B., daß ich der drei Potenzen zur Construktion jedes Körperindividuums ebenso bedarf als zur Construktion des Ganzen. Der Fall ist nämlich der, daß in der ersten Potenz alle Potenzen der (in Bezug auf das Ganze) ersten, in der zweiten der zweiten, in der dritten der dritten untergeordnet sind. Das einzig Reelle in allem, in dem Einzelnen wie im Ganzen, ist mir das A3, das, worin das Allgemeine und das Besondere, das Unendliche und das Endliche absolut eins sind, mit Einem Wort: das Ewige.“121 In Schellings Aufsatz muß „der Freund“ (Hegel) schließlich auch noch klarstellen, daß die ganze Konstruktion des Schellingschen Idealismus „durch eine Stufenfolge von Potenzen fortgehet“ und daß diese Methode schon dem System des transzendentalen Idealis117

Zimmerli 1981, 264ff. zeigt, daß sich der Potenzbegriff bei Schelling sowohl metaphysisch von der langen griechisch-lateinischen Tradition her als auch formal-mathematisch auffassen läßt; er zeigt auch die Verbindungen zur Homöopathie. Vgl. aber Hegels spätere kritische Sicht: „Er [Schelling] bediente sich der Form der Potenz; er nahm den Ausdruck von Eschenmayer. Die Philosophie muß keine Formen aus anderen Wissenschaften (Mathematik) nehmen.“ (20/453) 118 Der Text gibt vor, nur ein Gespräch zwischen Schelling und Hegel zu dokumentieren. Daß er mehr als ein Gesprächsprotokoll ist, erkennt man an dramaturgischen Effekten und spürbaren Zusätzen. Der Aufsatz ist für unsere Zwecke nicht aufgrund der scharfen Polemik gegen Reinhold wichtig, sondern weil ausführlich Schellings Konzeption der Potenzen behandelt wird. 119 Keineswegs beansprucht Schelling Originalität bezüglich der Potenzenmethode. Freimütig nennt er Eschenmayer denjenigen, der „den ausgedehntesten Gebrauch“ davon gemacht habe. Als Quellen gibt er dessen Werke Sätze aus der Natur-Metaphysik auf chemische und medizinische Gegenstände angewandt (Tübingen 1797) und Versuch, die Gesetze magnetischer Erscheinungen aus der Naturmetaphysik mithin apriori zu entwickeln (Tübingen 1798) an. Schelling beansprucht als seinen Beitrag nur eine weitere Deduktion, deren „hervorspringendste Punkte“ er sogleich anfügt. Obwohl es zur Aufzeichnung eines angeblich lebendigen Gesprächs stilistisch nicht gut paßt, hat er sofort die entsprechenden Zitate mit konkreter Seitenangabe aus eigenen früheren Werken parat. Es handelt sich hierbei um die Einleitung zu einem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, außerdem Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (beide Werke Jena und Leipzig 1799). 120 Vgl. die Zitate in Fußnote 9 dieses Kapitels. 121 Schelling 1856–1861, I/5, 63 und ebd., Anm. 1.

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mus zugrunde gelegen habe.122 Auch diese Stufenfolge hat zweifellos auf die Konzeption des Systems der Sittlichkeit gewirkt. In einem weiteren Beitrag der gemeinsamen Zeitschrift (Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt – dieser Text wurde in der Freundesvereinsausgabe noch Hegel zugesprochen – spricht Schelling wie selbstverständlich („daß ich gleich den bekannten Ausdruck brauche“) von den „unterschiedenen Potenzen“. In welch hohem Maße die „Potenz“ eine Zentralkategorie Schellings ist, erhellt aus der Behauptung: „Die vollkommene Erscheinung der Philosophie tritt nur in der Totalität aller Potenzen hervor; das Princip der Philosophie hat deßhalb, als die Identität aller, nothwendig keine Potenz; aber dieser Indifferenzpunkt der absoluten Einheit liegt wieder in jeder besonderen Einheit für sich, so wie in jeder sich alle wiederholen; das Construieren der Philosophie geht nicht auf ein Construieren der Potenzen als solcher und demnach als verschiedener, sondern in jeder nur auf Darstellung des Absoluten, so daß jede für sich wieder das Ganze ist.“123 Die Parallele zum System der Sittlichkeit ist unübersehbar. Alle Mühen dienen letztlich der adäquaten Darstellung des Absoluten.124 Daß eine vollkommene Erscheinung der Philosophie nur in der Totalität der Potenzen hervortreten könne, ist als ausgesprochene Behauptung zugleich ein philosophisches Programm. Es wundert daher nicht, daß Hegel im System der Sittlichkeit den von ihm thematisierten Gegenstand als ein „System von Potenzen“ (V 333) darzustellen suchte und dabei Wert auf die „absolute Totalität jeder Potenz“ (V 310) legte. Klar war für ihn auch, daß die Sittlichkeit als Erschei122

Schelling 1856–1861, I/5, 65. Alle Zitate bei Schelling 1856–1861, I/5, 106f. Zimmerli 1981, 260 zitiert eine andere signifikante Stelle aus Schellings Ferneren Darstellungen, Schelling 1856–1861, I/4, 414: „Da nun die Form der Absolutheit immer und nothwendig sich selbst gleich und dieselbe ist, so folgt, daß die Philosophie als Ganzes, wie jede einzelne Construktion der Philosophie in jener gedoppelten Einheit, der, welche im Endlichen (Besonderen), und der, welche im Unendlichen (oder Allgemeinen) ausgedrückt ist und der Indifferenz beyder Einheiten sei; und daß demnach, wenn wir die ideelle Bestimmung (bei gleicher innerer Einheit des Wesens) als Potenz bezeichnen, die Form der Philosophie im Ganzen, wie jeder Construktion im Einzelnen, auf die drei Potenzen des Endlichen, Unendlichen und Ewigen mit absoluter Gleichsetzung dieser Potenzen zurückkommen.“ 124 Vgl. Hegels rückblickende Darstellung des Schellingschen Vorgehens: „Darin besteht nun die wahre Absolutheit von allem und jedem, daß es selbst nicht als Allgemeines und Besonderes, sondern das Allgemeine in dieser seiner Bestimmtheit selbst als Einheit des Allgemeinen und Besonderen und ebenso das Besondere als Einheit beider erkannt wird. Die Konstruktion besteht eben darin, jedes Besondere, Bestimmte in das Absolute zurückzuführen oder es zu betrachten, wie es in der absoluten Einheit ist; seine Bestimmtheit ist nur sein ideelles Moment, seine Wahrheit aber eben sein Sein im Absoluten. Diese drei Momente (Potenzen): die Einbildung des Wesens in die Form und der Form in das Wesen, welche beide relative Einheiten sind, und das Dritte, die absolute Einheit, rekurrieren in jedem einzelnen wieder; so daß die Natur als die Einbildung des Wesens in die Form oder des Allgemeinen ins Besondere selbst wieder diese drei Einheiten an ihr hat und ebenso die ideelle Seite, – jede Potenz für sich ist wieder absolut. Dies ist die allgemeine Idee der wissenschaftlichen Konstruktion des Universums: die Triplizität, welche das Schema des Ganzen ist, in jedem Einzelnen ebenso zu wiederholen, dadurch die Identität aller Dinge zu zeigen und eben dadurch sie in ihrem absoluten Wesen zu betrachten, daß sie alle dieselbe Einheit ausdrükken.“ (20/446f.) 123

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nung des Absoluten zu begreifen sei, welches selbst wiederum für das Bewußtsein zu rekonstruieren laut Differenzschrift Aufgabe der Philosophie sei. Wenn also im System der Sittlichkeit als Ziel proklamiert wird, die Idee der Sittlichkeit zu erkennen, dann kann dies in vollständiger Form nur geschehen, wenn alle zugehörigen Potenzen dargestellt werden: „[D]as sittliche muß als Natur, als Bestehen aller Potenzen, und jede in ihrer lebendigen Gestalt sich auffassen; eins seyn mit der Nothwendigkeit und als relative Identität bestehen, aber diese Nothwendigkeit hat keine Realität, als insofern jede Potenz Realität hat, d. h. Totalität ist.“ (V 334) Es ist – wie oben bemerkt – nicht klar, ob auch die einzelnen drei Teile des Manuskripts jeweils einer der drei Schellingschen Potenzen entsprechen sollen.125 In der Sekundärliteratur ist dies wie überhaupt die gesamte Konstruktion umstritten. Einige Interpreten z. B. meinen, daß der zweite Teil für das System ein Fremdkörper und also entbehrlich sei. Nach einer derartigen Interpretation wäre klar, daß es sich bei den drei Teilen des Systems der Sittlichkeit nicht um die „notwendigen“ drei Potenzen handeln könnte, denn es dürfte kein Teil entbehrlich sein, sofern das System als vollständig behauptet werden soll. Doch ist auch eine Interpretation möglich, die dem zweiten Teil eine konstitutive Funktion für das Manuskript zuspricht und trotzdem eine Differenz zu Schellings Potenzenform festhält: Hegel stellt fest, daß die in den ersten beiden Manuskriptteilen behandelten Potenzen noch „nicht als Sittlichkeit“ zu verstehen sind. Die absolute Sittlichkeit „erscheint“ jedoch bereits in ihnen (wie auch der Überschrift „Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ zu entnehmen ist). Fragt man, wie diese Potenzen in einem „Höhern“ vereinigt werden (was nach Hegels Auskunft im dritten Teil geschehen soll), so zeigt sich ziemlich deutlich, daß der zweite Teil für den Systemaufbau von entscheidender Wichtigkeit ist. Denn die absolute Sittlichkeit wird in Hegels System aus der Negation ihres Andersseins – das aber eben zugleich ihre Erscheinung ist – entwickelt. Hierfür bedarf es einer doppelten Negation. Die erste, einfache Negation der im ersten Teil dargestellten natürlichen Sittlichkeit hat Hegel im zweiten Teil demonstriert: Das ist freilich noch nicht die absolute Sittlichkeit; hingegen sagt Hegel ausdrücklich, dies sei „am wenigsten […] sittlich“. (V 324) Denn die natürliche Sittlichkeit wird in diesem Falle in ihrer Negation nur durch ihr „fixierendes“ Gegenteil ersetzt: Für Hegel ein unhaltbarer Zustand, wie wir aus seinem Kampf gegen die fixierten Entgegensetzungen der „Reflexionsphilosophie“ bereits wissen. Erst der dritte Teil enthält das Ziel (die absolute Sittlichkeit), nämlich über eine weitere Negation, wodurch die natürliche Sittlichkeit mit der ihr lediglich entgegengesetzten Negation vereinigt wird.126 Es gibt also keinen direkten ‚Weg‘ vom ersten zum dritten Teil, 125 126

Vgl. Siep 1981, 284. Vgl. Siep 1981, 286: „Die Methode des Systems der Sittlichkeit hat also den dreifachen Aspekt: 1. zeigt Hegel mittels einer an Schelling orientierten Potenzenfolge, daß die ‚natürliche‘ Sittlichkeit und ihre Negation ein ‚Reflex‘ der absoluten ist, eine Widerspiegelung ihrer Momente (Indifferenz und Verhältnis, Anschauung und Begriff etc.); 2. weist er mittels einer doppelten Negation nach, daß diese Reflexe des Absoluten (‚der allgemeine absolute Geist‘) an sich nichtig sind und gleichsam ‚von außen‘, durch Entgegensetzung und Negation des Gegensatzes zur absoluten Sittlichkeit ‚aufgehoben‘ werden müssen, als deren unselbständige Momente sie allein sittlich sind; 3. deckt er schrittweise die dem Bewußtsein bzw. dem Begreifen immanente Negativität auf, durch die es sich

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von der natürlichen zur absoluten Sittlichkeit: Es bedarf zuvor jenes Zwischenglieds, nämlich der ersten Negation (im zweiten Teil geschildert), um schließlich zu einer wirklichen Indifferenz (die die vorhandenen Differenzen enthält und aushält), zu einer wirklichen Vereinigung der Entgegengesetzten in einem Höheren zu kommen.127 Hegel übernimmt den Potenzbegriff also nicht einfach unverändert von Schelling, sondern modifiziert ihn für sein System. Abschließend bleibt zu erwähnen, daß Hegel den Begriff der Potenz an verschiedenen Stellen synonym mit dem der „Macht“ verwendet und an einer Stelle die Potenz als „Ursache“ bezeichnet.128 Hier scheint er also den alten Möglichkeitsbegriff mitzudenken.129

selber von natürlicher Bestimmtheit und ausschließlicher Individualität befreit und durch die es jeden Begriff als sich aufhebende Besonderung erkennt.“ 127 Siep 1981, 284 unterstreicht die Abweichung dieser Vereinigung vom Schellingschen Potenzensystem: „Dies ist aber nicht mit der Schellingschen ‚Gleichsetzung‘ in der dritten Potenz zu verwechseln, denn die Vereinigung zeigt nicht die Indifferenz der Gegensätze dadurch, daß jeder das Absolute ‚ganz‘ enthält und daher auch sein Gegenteil ganz in sich ‚spiegelt‘. Vielmehr dadurch, daß beide einander negieren und jedes für sich nichtig ist – nur in einem dritten können sie als Momente, die durchaus nicht das Ganze enthalten, ‚Realität‘ und ‚Sittlichkeit‘ erlangen: die Rechts- und Familienverhältnisse nur als Momente eines sie sowohl ausbildenden wie unterordnenden Volkes, die Freiheit des Verbrechens als Krieg für das Volk.“ 128 Vgl. V 305, V 306 und V 340. 129 Vgl. hierzu Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1949. Hartmann behandelt dort zu Beginn auch die aristotelische Lehre von Potenz und Actus. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Mängel solcher Modalbegriffe: „Potenz, als Anlage verstanden, ist nicht Möglichkeit, sondern die ‚Bestimmung zu Etwas‘ und die immanente Tendenz, dieses Etwas zu werden. Energeia aber ist nicht Wirklichkeit, sondern die Vollendung dieses Etwas; und zwar in der doppelten Bedeutung des zunächst vorgezeichneten, dann aber des verwirklichten Zweckes. Sie verhalten sich innerhalb eines begrenzten Werdeprozesses wie Anfang und Ende des Werdens; und zwar entsprechend der Doppelbedeutung der Energeia so, daß diese als treibende Kraft schon in der Potenz vorausgesetzt, als verwirklichte Form aber erst im Endstadium vorhanden ist. […] Das potentiell Seiende kann nicht zugleich aktuell sein, und das aktuell Seiende nicht potentiell; alles Seiende kann nur entweder den einen oder den anderen Seinszustand haben, aber nicht beide zugleich.“ (4f.) So steht die Welt des Realen in potentiell Seiendes und aktuell Seiendes gespalten da. Diese Aporie muß freilich gelöst werden.

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4. „Wahre Sittlichkeit“ – Programmatische Ankündigungen des Systems der Sittlichkeit in Hegels publizierten Schriften Im folgenden soll meine in der Einleitung vertretene These, daß sich das System der Sittlichkeit kontinuierlich in die Reihe der Hegelschen Arbeiten einfügt, erhärtet werden. Zu diesem Zweck präsentiere ich aus Hegels unmittelbar benachbarten Schriften Belegstellen, die als Ankündigung dessen, wie Philosophie die wahre Sittlichkeit zu konstruieren habe, verstanden werden können bzw. müssen oder – im Falle des Naturrechtsaufsatzes – sogar konkret als „System der Sittlichkeit“ ausformuliert sind. Ich beschränke mich auf publizierte Texte, konkret auf Glauben und Wissen und den Naturrechtsaufsatz. In beiden Texten übt Hegel scharfe Kritik, gibt jedoch gleichfalls Hinweise, wie die kritisierten Probleme zu lösen wären: Innerhalb jener kritischen Schriften erfolgt freilich kein konsequent ausgeführter Gegenentwurf. Daß Hegel daran jedoch arbeitete, ist nicht nur wahrscheinlich, sondern mit dem System der Sittlichkeit, welches als Reinschriftmanuskript unzweifelhaft auf ausformulierten Vorarbeiten beruhte, liegt uns eine gesicherte, authentische Version dieses eigenständigen Bemühens und Entwerfens vor. Das System der Sittlichkeit konzentriert sich auf die philosophische Thematik der Sittlichkeit selbst, während die ungefähr zur gleichen Zeit überarbeitete Version der Verfassungsschrift sich den konkreten politischen Verhältnissen zuwandte und damit eher auf unmittelbare Wirkung zielte. Beide Manuskripte müssen als Hegels Antwort auf die kritisierten Theorien verstanden werden. Indem ich das System der Sittlichkeit als eine genuine Fortsetzung des Hegelschen Philosophierens in der frühen Jenaer Zeit begreife, welches sich konsequent an die zuvor aufgestellten Forderungen anschließt und sie positiv zu erfüllen sucht, widerspreche ich ausdrücklich jenen (vornehmlich neueren) Deutungen, die das Reinschriftmanuskript als ein lediglich aus äußerem Anlaß entstandenes Zufallsprodukt verstehen.

4.1. Glauben und Wissen In Glauben und Wissen – die Kritik der Reflexionsphilosophie war oben bereits Thema – geht Hegel mehrfach auf die Konsequenzen der kritisierten Theorien auf praktischem Gebiet ein und gelangt auf diese Weise wiederholt zum Thema der Sittlichkeit. Freilich wird hier vor allem dargestellt, was nicht funktioniert: Aber in die Kritik, die die Theoriemängel aufdeckt, sind ebenso und sogar vielfach positive Aussagen dazu eingebunden, was wahre Sittlichkeit eigentlich sei. Zum anderen weist Hegel ausdrücklich darauf hin, daß nach dem vollständigen Durchlaufen der möglichen Formen der Reflexionsphilosophie nunmehr die Möglichkeit und damit auch die Herausforderung bestünde, „daß die wahre Philosophie, aus dieser Bildung erstehend, und die Absolutheit der Endlichkeiten derselben vernichtend, mit ihrem ganzen, der Totalität unterworfenen Reichthum sich als vollendete Erscheinung zugleich darstellt“. (IV 413) Der Verweis auf diese äußere Möglichkeit gewinnt für unseren Zusammenhang noch an Relevanz, wenn man auf den Kontext achtet: Hegel hatte direkt zuvor die Fichtesche Konstruktion der sittlichen Idee einer herben Kritik unterzogen, und zwar ausgerechnet dafür, daß vom Spe-

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kulativen nichts zu sehen sei als der Glaube, dadurch die Idee aber nur etwas schlechthin Formelles bleibe und im Grunde die Vernunftidee der Identität des Objektiven und Subjektiven im Praktischen überhaupt „nicht construirt, sondern durchgehends abwesend“ sei. (IV 411f.) Hegel hatte Fichte sogar vorgeworfen, daß er die „[a]echte Sittlichkeit“ verderbe und die „Unsittlichkeit“ befördere1 – Kant wurde eben dieser Vorwurf im Naturrechtsaufsatz zuteil. Desgleichen hatte Hegel an beiden Philosophen kritisiert, sie würden die Natur der Vernunft absolut entgegensetzen und auf diese Weise nie die wahre Sittlichkeit erreichen. Sowohl die Natur als auch die Sittlichkeit seien in den Systemen falsch konstruiert.2 Man geht sicher nicht zu weit, wenn man Hegel die Absicht einer Überwindung dieser – in seiner Sicht – Fehlkonstruktionen zuschreibt.3 So habe etwa Kants Rechtslehre schlimme Konsequenzen und versage als Wissenschaft, denn als solche habe sie „nothwendig die sittliche Natur mit den grellsten Schändlichkeiten besudeln müssen.“ (IV 380) Die richtige Konstruktion bzw. Rekonstruktion der Idee der Sittlichkeit, des Verhältnisses von Natur und Geist, physischer und sittlicher Natur bildet nun aber gerade das Thema des Hegelschen Systems der Sittlichkeit. Verfolgt man die Argumentation in Glauben und Wissen, so wird die Kontinuität sowohl des Hegelschen Interesses als auch vieler seiner Argumente offenbar. Hier folgt nun ein diesbezüglicher Überblick:

4.1.1. Notwendige Aufhebung der Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit Der Abschnitt zur Kantischen Philosophie macht – von aller Kritik abgesehen – deutlich, daß Kant eigentlich bereits auf dem richtigen Wege war. Er hatte nämlich mit der transzendentalen Einbildungskraft selbst die Möglichkeit des spekulativen Denkens aufge1

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„Aechte Sittlichkeit wird also durch den Zusatz dieser Art von Bewußtseyn seiner Pflichtmäßigkeit verunreinigt, und durch diese Moralität womöglich unsittlich gemacht; der Unsittlichkeit selbst durch das Bewußtseyn irgend einer Pflicht, das ihr nach dem Begriff der Sache nicht fehlen kann, die Rechtfertigung des unsittlichen, strebenden redlichen Gemüthern aber das Bewußtseyn nothwendiger Unsittlichkeit, nemlich die Sittlichkeit überhaupt unter der Gestalt der Zufälligkeit der Einsicht gegeben, welche sie schlechthin nicht haben soll. Und darum hat diese Vorstellung der Sittlichkeit als Moralität, indem das wahrhaft Sittliche durch sie in Niederträchtigkeit, die Kraft in Schwäche umgewandelt, die Niederträchtigkeit aber als Moralität gerechtfertigt wird, so leicht aus der Philosophie als Wissenschaft in das allgemeine Publikum übergehen und sich so beliebt machen können.“ (IV 410f.) Vgl. IV 380: „Kants praktische Vernunft oder der leere Begriff in seiner unverrückten Entgegensetzung gegen die Natur kann nichts anderes als ein System der Tyranney und des Zerreißens der Sittlichkeit und Schönheit produciren“. Bereits in der Differenzschrift hatte Hegel die Folgen der kritisierten Theorien benannt und geklagt, daß das höchste Ziel gar nicht erst gesehen werde: „[D]as Leben hat sich in die Bottmässigkeit begeben, und die Reflexion die Herrschaft über dasselbe und den Sieg über die Vernunft davon getragen. Dieser Stand der Noth wird als Naturrecht, und zwar nicht so behauptet, daß das höchste Ziel wäre, ihn aufzuheben, und an die Stelle dieser verständigen, und unvernünftigen Gemeinschaft eine, von aller Knechtschaft unter dem Begriff, freye Organisation des Lebens durch die Vernunft zu konstruiren, sondern der Nothstand und seine unendliche Ausdehnung über alle Regungen des Lebens gilt als absolute Nothwendigkeit.“ (IV 55) Das Hegelsche Manuskript versucht diese fehlende Konstruktion zu geben.

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zeigt, in welchem „die Aposteriorität […] aufhört, dem Apriori absolut entgegengesetzt“ zu sein, das Apriori also nicht nur formale Identität ist. (IV 335) Hegel hatte zuvor an Kants Konzeption gerade beklagt, daß das wahrhaft Apriorische selbst wieder zu einer reinen, d. h. nicht ursprünglich synthetischen Einheit gemacht sei. Was Hegel als „Verdienst“ (IV 334) der Kantischen Philosophie rühmt, ist zugleich Ziel für das eigene Arbeiten. Denn zwar hatte Kant jenes Prinzip schon entdeckt, es in seinem System sodann aber auch gleich wieder verschüttet. Hegel – in seiner Kritik auch sonst nicht gerade zurückhaltend – spricht von einer „depotenzirte[n] speculative[n] Idee“ (IV 335) und infolge des permanenten Entgegensetzens von Vernunft und Endlichkeit sogar von einem Systemwiderspruch. Dieser tritt offen zutage, sobald auf das Gebiet der Freiheit, einer behaupteten absoluten Autonomie und Spontaneität bei gleichzeitiger totaler Bedingtheit, übergegangen wird.4 Hegel kritisiert zudem, daß beim Festhalten an den Dualismen die positive Mitte nicht erkannt bzw. das „Bedürfniß nach der Mitte und nach immanenter Erkenntniߓ komplett negiert werde. (IV 336)5 Im System der Sittlichkeit geht es Hegel hingegen ausdrücklich darum, jene Mitten, die er je als Gestalt der Vernunft begreift, aufzuzeigen. Er akzeptiert also Kants Auflösung der dynamischen Antinomien nicht, in welcher Freiheit und Notwendigkeit, intelligible und sinnliche Welt, absolute und empirische Notwendigkeit nur beziehungslos nebeneinander stehen und als absolut ungleichartig und also außer jeglicher Gemeinschaft seiend gedacht werden. Hegel bestreitet die „Reinheit“ der Vernunft: Kants Auflösung ist nur eine Scheinlösung des reinen Denkens und offenbart den „absoluten Dualismus dieser Philosophie; sie hebt den Widerstreit dadurch, daß sie ihn absolut macht“ (IV 337) auf. Denn die tatsächliche Beziehung jener Glieder wird hier gar nicht untersucht, sondern die Trennung der Glieder als das Absolute behauptet: „[S]ie ganz außer aller Gemeinschaft gedacht, widerstreiten sie sich nicht.“ (IV 338) Das ist für Hegel selbstverständlich nur eine trickreiche und erschlichene Lösung, die nicht akzeptiert werden kann. Die Relate müssen aufeinander bezogen werden, die Einheit der Vernunft tatsächlich ausgewiesen und nicht nur behauptet oder herbeigeschummelt werden; das System der Sittlichkeit ist offensichtlich darauf ausgerichtet, ein solches Beziehungsgefüge aufzustellen. Aber noch an weiteren Punkten, auch in terminologischer Hinsicht zeigt sich die Kontinuität. Hegel thematisiert das Verhältnis von Anschauung und Begriff, interessiert sich für jene Momente der Kantischen Philosophie, wo die „Entgegensetzung des An4

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„Dieser diesem System unüberwindliche und es zerstörende Widerspruch wird zur realen Inconsequenz, indem diese absolute Leerheit sich als praktische Vernunft einen Inhalt geben und in der Form von Pflichten sich ausdehnen soll.“ (IV 336) Vgl. auch IV 344: „Indem dieses formale Wissen den Gegensatz in seiner ganzen Absolutheit bey den dürftigen Identitäten, die es zu Stande bringt, bestehen läßt, und das Mittelglied, die Vernunft, ihm fehlt, weil jedes der Glieder, so wie es in der Entgegensetzung ist, als ein Absolutes seyn soll, so ist diese Mitte, und das Vernichtetwerden beyder und der Endlichkeit ein absolutes Jenseits. Es wird erkannt, daß dieser Gegensatz nothwendig eine Mitte voraussetzt, eben so daß er in ihr und sein Innhalt vernichtet seyn müsse, aber nicht das wirkliche und wahrhafte Vernichten, sondern nur das Eingestehen, daß das Endliche aufgehoben werden sollte, nicht die wahrhafte Mitte, sondern gleichfalls nur das Eingestehen, daß eine Vernunft seyn sollte, wird in einem Glauben gesetzt.“

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schauens und des Begriffs wegfällt“ (von Kant im Zusammenhang mit der Schönheit berührt), insbesondere für die „anschauende Tätigkeit“ der transzendentalen Einbildungskraft, in welcher „Allgemeines und Besonderes eins ist“, die Spontaneität des anschauenden Verstandes also zugleich anschauend ist. Dieses Einssein wird im System der Sittlichkeit schließlich zum Zielpunkt der Rekonstruktion der absoluten Sittlichkeit. Hegel betrachtet sich ganz außer Zweifel als in der Tradition Kants stehend und verteidigt ihn konsequenterweise gegen die meisten seiner Angreifer;6 dort, wo er Kant lobt, ist sein Ton geradezu enthusiastisch: Würde man beispielsweise Kants praktischen Glauben von dem unphilosophischen und populären Gewand befreien, erwiese sich sofort, daß „darin nichts anders ausgedrückt, [sei] als die Idee, daß die Vernunft zugleich absolute Realität habe, daß in dieser Idee aller Gegensatz der Freyheit und der Nothwendigkeit aufgehoben, daß das unendliche Denken zugleich absolute Realität ist, oder die absolute Identität des Denkens und des Seyns. Diese Idee ist nun durchaus keine andere, als diejenige, welche der ontologische Beweis, und alle wahre Philosophie als die erste und einzige, so wie allein wahre und philosophische erkennt.“ (IV 344f.) Hegels System der Sittlichkeit soll diesem Anspruch genügen, es konstruiert jene absolute Identität des Denkens und Seins, zeigt die Realität der Vernunft in realen Institutionen und sittlichen Gemeinschaften auf. Damit widerspricht er ausdrücklich der im Kantischen System selbst enthaltenen Version, die Hegel als eine falsche Anwendung des richtigen Prinzips interpretiert (interessanterweise unter Benutzung des Terminus „Potenz“ zur Gliederung der Ebenen): „[U]nd deßwegen kann, und in dieser Potenz muß das absolute Urtheil des Idealismus in der kantischen Darstellung so aufgefaßt werden, daß das Mannichfaltige der Sinnlichkeit, das empirische Bewußtseyn als Anschauung und Empfindung, an sich etwas unverbundenes, die Welt ein in sich zerfallendes ist, das erst durch die Wohlthat des Selbstbewußtseyns der verständigen Menschen einen objectiven Zusammenhang und Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit erhält; eine objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft.“ (IV 330) Das ist für Hegel gänzlich indiskutabel – sein Systementwurf konstruiert einen deutlichen Gegenvorschlag.

4.1.2. „Sittliche Siechheit“ statt „sittlicher Freyheit“: Mangel an Objektivität (Hegels Jacobikritik) Ein anderer Gesichtspunkt des Aufsatzes Glauben und Wissen ist für das System der Sittlichkeit zentral: Wenn nämlich als eine der eigentümlichen Leistungen des Reinschriftmanuskripts unstrittig die Thematisierung des großen Bereichs des später „objektiver Geist“ genannten Problemfelds konstatiert werden muß, so findet sich in Glauben 6

Vgl. IV 372: „Wir sagen dagegen, daß transcendentale Einbildungskraft und Vernunfterkenntniß etwas ganz anderes ist, als Jacobi begreifft, daß sie weder die Natur analysirt, noch Gegebenes in analytische Einheit und Mannichfaltigkeit auseinander reißt, sondern selbst organisch und lebendig, und Totalität, die Idee der Totalität erschafft, und construirt, als absolute ursprüngliche Identität des Allgemeinen und Besondern, welche Identität Kant synthetische genannt hat, nicht als ob ein Mannichfaltiges vor ihr läge, sondern weil sie selbst in sich differenzirt, zweyendig ist, so daß die Einheit und Mannichfaltigkeit in ihr nicht zu einander hinzutreten, sondern in ihr sich abscheiden und mit Gewalt, wie Platon sagt, von der Mitte zusammengehalten werden.“

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und Wissen umgekehrt der Hinweis auf das Fehlen bzw. Vernachlässigen genau einer solchen Theorie: „Schon dasjenige, was an Beispielen von sittlichen Charakteren, woran Jacobi seine Idee der Sittlichkeit klar machen will, herausgehoben wird, zeigt die Vernachlässigung der gesetzlichen und objectiven Seite.“7 (IV 381) Andererseits lobt Hegel den wahren, wenn auch nicht ausreichend ausgeführten Gedanken Jacobis, daß das Gesetz um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Gesetzes willen gemacht sei. Überhaupt wird an Jacobi neben aller Kritik auch positiv vermerkt, daß er die Kantische und Fichtesche Verdammnis der Natur nicht teilt, hingegen die Lebendigkeit des Sittlichen sogar betont.8 Doch bestreitet Hegel, daß Jacobi diese Lebendigkeit richtig faßt, da er sich fast ausschließlich auf die Innerlichkeit der Subjekte, nur die Subjektivität der Erfahrung, des Sinnes, der Neigung konzentriert und also nur die subjektive Lebendigkeit begreift. Hegel greift sogar Beispiele aus Jacobis eigenen Texten auf, interpretiert sie aber anders: „Jacobi nennt, was das lebendigste ist, Vaterland, Volk und Gesetze, Dinge […]; er begreifft sie nicht als heilige Dinge, sondern als gemeine […]; – er begreifft als eine Zufälligkeit und Abhängigkeit, worinn die höchste Nothwendigkeit und die höchste Energie sittlicher Freyheit ist, den Gesetzen eines Volkes und noch dazu des spartanischen gemäß zu leben; – als etwas gemein empirisches, was das vernünftigste ist.“ (IV 382) Hegel geißelt also (unter Berufung auf Dante und Goethe) die Verweigerung vor der Objektivität und charakterisiert Jacobis Gestalten, die dessen Idee sittlicher Schönheit verkörpern sollen, wie folgt: „Der Grundton aber dieser Gestalten ist dieser bewußte Mangel an Objectivität, diese an sich selbst festhängende Subjectivität, die beständige, nicht Besonnenheit, sondern Reflexion auf seine Persönlichkeit, diese ewig auf das Subject zurückgehende Betrachtung, welche an die Stelle sittlicher Freyheit höchste Peinlichkeit, sehnsüchtigen Egoismus und sittliche Siechheit setzt“. (IV 382) In der Jacobischen Philosophie wird nach Hegel die Vernunft nur als Instinkt und Gefühl, die Sittlichkeit nur in der empirischen Zufälligkeit und als Abhängigkeit von Dingen, wie sie die Erfahrung und Neigung und des Herzens Sinn gibt, begriffen; das Wissen hingegen nur als ein Bewußtsein von Besonderheiten und Eigentümlichkeit, sei es äußerer oder innerer, gefaßt. Es ist klar, daß es dabei nicht bleiben darf; Jacobis Äußerungen bilden strenggenommen gar kein System der Sittlichkeit.

4.1.3. Gegen die Naturverachtung – Für eine wahrhafte Totalität (Hegels Fichtekritik) Hegel gesteht Fichtes Philosophie zwar generell zu, insgesamt ein System zu bilden, doch befinde sich dieses in einem mangelhaften Zustand und komme aus dem Dualis7

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Vgl. auch: „Der allgemeine Haß der Jacobischen Philosophie gegen den Begriff verschmäht nothwendig seine objective Form der Sittlichkeit, Gesetz, und vollends das reine Gesetz, als formales Sittenprincip“ (IV 380). Zu Jacobis Kant-Kritik sowie Fichtes, Schellings und Hegels Kritik an Jacobi vgl. Rolf-Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Weinheim 1995, 49–100. „Der sittlichen Schönheit kann keine von beyden Seiten fehlen, weder ihre Lebendigkeit als Individualität, daß sie nicht dem todten Begriffe gehorcht, noch die Form des Begriffs und des Gesetzes, die Allgemeinheit und Objectivität, die Seite, welche Kant durch die absolute Abstraction allein gesetzt, und der er die Lebendigkeit durchaus unterworfen, und sie getödtet hat.“ (IV 381)

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mus nicht heraus: „[D]ie Foderung ist der Kulminationspunkt des Systems: Ich soll gleich Nicht-Ich seyn; aber es ist kein Indifferenzpunct in ihm zu erkennen.“ (IV 387) Zwischen Welt und Subjekt sind mannigfache Entgegensetzungen eingeschoben, die Welt wird nur vom Standpunkt des Subjekts „berechnet“ und erklärt; Allgemeines und Besonderes sind also nicht vermittelt, es kommt zu keiner Identität, die Totalität wird nicht gefaßt, der gesamten Fichteschen Philosophie eignet eine Realitätsferne: „[S]o bleibt von der objectiven Welt die interessanteste Seite, die Seite ihrer Realität unerklärt.“ (IV 388) Dieser Vorwurf wiegt schwer und offenbart einen ganz anderen Ansatzpunkt Hegels. Ihm geht es nämlich gerade im Zusammenhang der Sittlichkeit nicht und schon gar nicht vorrangig um die transzendentalen Voraussetzungen ihrer Denkbarkeit, sondern Hegel interessiert sich für ihre Realität. Die „interessanteste Seite“ der objektiven Welt, die Realität, kann daher nicht beiseite gelassen werden, sondern in ihr müssen sich die verschiedenen Formen der Sittlichkeit aufzeigen lassen. Nach Hegels Auffassung ist die Sittlichkeit (in ihren verschiedenen Ausformungen) real ‚anwesend‘ und zu allen Zeiten in einer bestimmten Form ausgedrückt. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb Hegel sich mit so großem Interesse auf die Werke der großen Literaten und Geschichtsschreiber stürzt: Denn auch in ihren Schöpfungen ist der Geist ihrer Zeit ausgedrückt. Hegel wirft Fichte verschiedene Konstruktionsfehler vor; die für diesen Zweck gebrauchte Terminologie und das der Kritik zugrundeliegende Kriterium stimmen mit denjenigen des Systems der Sittlichkeit großenteils überein, und man hat den Eindruck, daß Hegel im Aufdecken der Kritikpunkte selbst die noch fehlende Idee des Ganzen ‚im Hinterkopf hat‘: Der Formalismus, der im „Fußeisen der Reflexion“ (IV 393) feststeckt, erhebt nur jeweils Teile zu einem Ansich, ohne zu einem Ganzen zu gelangen. Hegel proklamiert dagegen, daß die Teile schlechthin durchs Ganze bestimmt sein müssen, kein Teil also an sich sei und das Ganze das Erste der Erkenntnis sein müsse. Dieser Gesichtspunkt kehrt im System der Sittlichkeit deutlich und als Programm wieder. Überhaupt fällt auf, daß sich Hegel im Fichteteil des Aufsatzes häufig zu fehlenden Aspekten äußert und – zumeist in Nebensätzen – Anmerkungen gibt, wie eine wahre Philosophie zu verfahren habe. Hegel vermißt in Fichtes Philosophie die „absolute Mitte“ und ebenso ein „Drittes“, das zu erkennen der Philosophie gegeben und aufgegeben sei.9 In der Fichteschen Philosophie komme es hingegen nicht zur Verknüpfung von logischer Form und Inhalt, sie bleiben einander entgegengesetzt; die wahrhafte Identität ist nicht für die Erkenntnis, sondern nur im Glauben vorhanden. Da Idealität und Realität nicht vermittelt werden, kommt es in den philosophischen Systemen zu Fehlern und Absurditäten, die Realität als bloße Mannigfaltigkeit bleibt der Idealität entgegengesetzt, es entsteht „eine und zwar unendliche Menge von Pflichten, Gesetzen oder Tugenden, die eben deßwegen an und für sich weder zur Totalität noch zur äußern Vollständigkeit 9

„Es ist also im System dieses Wissens so wenig an ein Herauskommen aus dem Dualismus zu denken, als Jacobi nur verlangen kann; die nicht dualistische Realität ist im Glauben, und es gibt im Fichte’schen System, eben so wenig dasjenige Dritte, welches wahrhaftig das Erste und Einzige ist, als auch die nicht dualistische Negativität, die Unendlichkeit, das Nichts rein seyn kann; sie soll rein seyn, aber wird es nicht; sondern sie selbst wird wieder fixirt, und dadurch absolute Subjectivität.“ (IV 399)

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eines Systems gelangen, als auch sich in ihrer Bestimmtheit nothwendig widersprechen und keiner Einschränkung durcheinander oder eines Vorzugs und Unterordnung unter einander fähig sind, weil jede in die ideelle Form gesetzt ist, und also mit der Prätension der Absolutheit auftritt; die Fichte’schen und Kantischen moralischen Wissenschaften sind die empirischen Belege hiezu.“ (V 402f.) Dieser Zustand ist nicht zu akzeptieren, und Hegel macht konkrete Gegenvorschläge, als deren – mindestens partielle – Ausarbeitung man das System der Sittlichkeit begreifen muß. Auf den letzten Seiten von Glauben und Wissen wendet sich Hegel explizit gegen Fichtes Naturverachtung sowie die Entgegensetzung von physischer und sittlicher Welt und nähert sich damit bereits dem Thema des Naturrechtsaufsatzes sowie einem Grundthema des Systems der Sittlichkeit: Natur und Vernunft müssen aufeinander bezogen werden. Hegel geißelt Fichtes „Ansicht der Natur als eines Dinges“ oder reinen Objekts (von Hegel speziell an Fichtes Die Bestimmung des Menschen exemplifiziert), von dem es also nur möglich sei, entweder abhängig zu sein oder es von sich abhängig zu machen. Leidenschaftlich beklagt Hegel: „Dieser ungeheure Hochmuth, dieser Wahnsinn des Dünkels dieses Ich, sich vor dem Gedanken zu entsetzen, ihn zu verabscheuen, wehmüthig zu werden darüber daß Er Eins sey mit dem Universum, daß die ewige Natur in ihm handle, – seinen Vorsatz, sich den ewigen Gesetzen der Natur und ihrer heiligen und strengen Nothwendigkeit zu unterwerfen, zu verabscheuen, sich darüber zu entsetzen und wehmüthig zu werden; in Verzweiflung zu gerathen, wenn er nicht frey sey, frey von den ewigen Gesetzen der Natur und ihrer strengen Nothwendigkeit, sich unbeschreiblich elend durch jenen Gehorsam zu machen zu glauben – setzt überhaupt schon eine von aller Vernunft entblößte allergemeinste Ansicht der Natur und des Verhältnisses der Einzelheit zu ihr voraus“. (V 404) Kants und Fichtes Philosophie stehen hierfür: „[W]ie die Natur in der Physikotheologie der Ausdruck ewiger Wahrheit ist, so ist sie in der Kantischen und Fichteschen Moraltheologie, ein zu Vernichtendes, an dem der Vernunftzweck ewig erst zu realisiren ist, von Wahrheit entblößt, das Gesetz der Häßlichkeit und Vernunftwidrigkeit an sich tragend“.10 (IV 405) Es gelte dagegen – so Hegel –, die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit zu begreifen. Hegel kritisiert das fehlende „Einsseyn mit dem Ewigen“ bzw. „Einsseyn mit dem Universum“, die mangelnde Versöhnung und konstatiert eine fehlerhafte philosophische Rekonstruktion: „So wenig nun das Ursprüngliche, als Natur, die absolute Vernunft als an sich seyend, und nicht erst im unendlichen Progreß werdend, wahrhaft erkannt ist, eben so wenig ist auch das Differenzverhältniß nach seiner Wahrheit erkannt, denn dieses ist als Ansich begriffen, und deßwegen nicht aufzuheben“. (IV 408) Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, daß sich an dieser Stelle sogar eine konkrete Ankündigung findet, wie die Rekonstruktion zu leisten sei. Diese Passage kann m. E. als Leseanleitung für das Reinschriftmanuskript, in welchem bekanntlich die Idee der Sittlichkeit rekonstruiert werden soll, interpretiert werden: „Diese Reconstruktion müßte das Wesen des Geistes enthüllen, und ihn darstellen, wie in ihm als frey die Natur sich reflectirt, die sich in sich zurücknimmt, und ihre ursprüngliche ungeborgte reelle Schönheit in das ideelle oder die Möglichkeit und somit sich als Geist erhebt, welcher 10

Die Kantische Moralität schmähe „die Natur und den Geist derselben“ in einer Weise, „als ob die Einrichtung der Natur nicht vernünftig gemacht“ sei. (IV 345)

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Moment, insofern die Identität als Ursprünglichkeit mit der Totalität verglichen wird, dadurch allein als Bewegung und Zertrümmerung der Identität und als Reconstruktion erscheint; – und wie das Wesen der Natur, in der Form der Möglichkeit, oder als Geist, seiner selbst als ein lebendiges Ideal in anschaubarer und thätiger Realität genießt, und als sittliche Natur seine Wirklichkeit hat, in welcher das sittlich Unendliche, oder der Begriff, und das sittlich Endliche, oder die Individualität schlechthin Eins sind.“ (IV 408) Hegel beendet seine Darstellung nicht, ohne die „wahre Sittlichkeit“ als Gegenbild zu den kritisierten Theorien wenigstens zu umreißen. „Aber an eine wahre Sittlichkeit, nemlich eine wahre Identität des Allgemeinen und Besondern, der Materie und der Form, ist hier eben so wenig zu denken; weil die Leerheit des reinen Willens und des Allgemeinen das wahrhaft Apriorische ist, so ist das Besondere ein schlechthin Empirisches.“ (IV 409) Oder auch: „Wenn in der wahren Sittlichkeit die Subjectivität aufgehoben ist, so wird dagegen durch jenes moralische Bewußtseyn das Vernichten der Subjectivität gewußt, und damit die Subjectivität in ihrem Vernichten selbst festgehalten und gerettet, und Tugend, indem sie sich in Moralität verwandelt, [wird] zum nothwendigen Wissen um ihre Tugend, d. h. zum Pharisäismus.“ (IV 410) Hatte Hegel schon zu Beginn auf die Aufgabe hingewiesen, daß nach dem vollständigen Durchlaufen der möglichen Formen der Reflexionsphilosophie nun darauf aufbauend die echte philosophische Theorie entwickelt werden müsse, so beklagt er am Ende, daß sich „die Construction der sittlichen Idee […nicht] in dem philosophischen Standpuncte“ gehalten habe und das Spekulative in ihr fast nicht (außer als Idee des Glaubens) vorhanden sei. (IV 411) Man muß dies wohl so verstehen, daß es diese Aufgabe noch zu lösen galt. Der Naturrechtsaufsatz und das System der Sittlichkeit reagieren auf diese theoretische Problemlage und entwickeln gegen die postulierten und fixierten Entgegensetzungen schließlich konkret die Relation von Natur und Geist.

4.2. Naturrechtsaufsatz Im Naturrechtsaufsatz gibt es einen Abschnitt, in dem explizit die Idee der absoluten Sittlichkeit dargestellt wird. Hegel gibt sogar genaue methodologische Anweisungen11 und spricht mehrfach von einem „System der Sittlichkeit“, welches die Philosophie aufstellen müsse. Das bisherige philosophische Naturrecht in den beiden von Hegel kritisierten Formen habe es dazu nicht gebracht, und die positiven Rechtswissenschaften sehen dies nicht als ihre Aufgabe. Warum ist es den kritisierten Gestalten des Naturrechts aber nicht gelungen? In Kürze: Dem empirischen Naturrecht fehlt die systematische Vereinheitlichung, es dominiert die empirische Mannigfaltigkeit, die Vielheit wird nicht konsequent (sondern nur willkürlich) auf eine Einheit gebracht. Als Theorie ist sie daher unbefriedigend, denn Form und Inhalt sind nicht genau geschieden, sondern vermischt; die fehlende theoretische Durchdringung verunmöglicht es dieser Behandlungsart, ein wirkliches „System der Sittlichkeit“, das einen solchen Namen verdiente, aufzustellen. Das theoretische Niveau der anderen, der transzendentalen Behandlungsart des Naturrechts wird von Hegel zwar 11

Vgl. insbesondere Naturrechtsaufsatz, IV 453–455.

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wesentlich höher eingeschätzt – diese Theorie hat jedoch wiederum ein anderes Defizit: Sie kann nämlich Inhalt und Form nicht zusammenbringen, ihre hohe Kunst der Vereinheitlichung geht auf Kosten der wirklichen Vielheit, so daß sie zu einem Formalismus wird. Da ihr der Inhalt äußerlich bleibt, kann auch sie kein System der Sittlichkeit aufstellen (sie begibt sich sogar freiwillig dieser Möglichkeit), sondern verharrt in reinen Grundsätzen, der Doppelung von Moralität und Legalität usw.; ein System muß aber nach Hegel positive (nicht nur „gereinigte“, zu Abstraktionen gewordene) Inhalte in einen durchgehenden Bezug zueinander und Wechselwirkung stellen.12 Obwohl sich der überwiegende Teil des Hegelschen Aufsatzes (insbesondere die ersten beiden Abschnitte) der Kritik bisheriger Theorien und dem Verhältnis der Philosophie zu den positiven Rechtswissenschaften (vor allem der vierte Abschnitt) widmet, entwirft Hegel doch ein solches, bislang nicht zufriedenstellend ausgeführtes System der Sittlichkeit. Dies geschieht insbesondere im dritten Abschnitt, wenngleich sich auch an anderen Stellen präzise Ankündigungen und Richtigstellungen finden.13 Hegel wahrt dabei den Bezug zur Tradition, er versucht die Leistungen und gültigen Aussagen beider Behandlungsarten zu synthetisieren. Dies ist nach Hegel möglich, weil beide Theorien Extreme ausdrücken. Nun kommt es darauf an, diese Extreme als Momente in einem übergreifenden Ganzen darzustellen, ihnen also einen konsistenten Ort innerhalb einer neukonzipierten Theorie zuzuweisen. Hegel wiederholt mehrfach, daß dies zu leisten sei: Die Fehler und Einseitigkeiten müssen vermieden, statt dessen die nur in einem genau eingeschränkten Zusammenhang gültigen Bestimmtheiten in die neue Theorie integriert werden. Indem Hegel die Fehler jener Theorien registriert, entwirft er in Abgrenzung von ihnen (man könnte auch sagen: ex negativo) eine Art Gegentheorie; allerdings geschieht dies nicht zufällig oder nur anläßlich dieser Kritik. Hegels Kritik ist deshalb so scharf, weil er nicht etwa die zu besprechenden Theorien nacheinander nach Unstimmigkeiten abklopft und daran anschließend eher zufällig ein Ergebnis verkündet, sondern er bringt schon ein Konzept mit, das ihm den Maßstab für seine Kritik an die Hand gibt. Denn Hegel ist der Auffassung, daß die Philosophie das Absolute darzustellen habe und folglich für diesen Zweck ein Instrumentarium bereitstellen müsse. Aufgabe ist es daher zunächst, die Struktur des Absoluten zu entschlüsseln: Hegel sieht es als Einheit der Einheit und der Vielheit. Dies ist natürlich lediglich eine Formel, sie muß sich in der Durchführung bewähren, und der Naturrechtsaufsatz ist hierfür ein 12

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Jürgen Habermas hat diese Hegelsche Kritik aufgenommen und fühlte sich dadurch veranlaßt, in verschiedenen Punkten den kantischen Standpunkt notwendig zu transzendieren und damit auch die Diskursethik weiterzuentwickeln. Vgl. „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?“, in: Habermas 1991, 9–30; einige Argumente aus dem Naturrechtsaufsatz sind gleich auf den ersten drei Seiten der Publikation zusammengefaßt. Vgl. Hegels eigenen Hinweis auf die Gliederung seines Aufsatzes: „Diese zwey Arten der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts sind vors erste näher zu charakterisiren: die erstere in Bezug auf die Weise, wie die absolute Idee nach den Momenten der absoluten Form in ihr erscheint; die andere, wie das Unendliche, oder das negative Absolute es vergebens zu einer positiven Organisation zu bringen sucht; die Auseinandersetzung des letztern Versuchs wird unmittelbar auf die Betrachtung der Natur und des Verhältnisses der Wissenschaften des Sittlichen, als philosophischer Wissenschaften führen, so wie des Verhältnisses derselben zu dem, was positive Rechtswissenschaft genannt wird.“ (IV 421)

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gutes Beispiel. Diese Formel ist übrigens nur eine Variante zur Bestimmung der Struktur des Absoluten, Hegel hat in jener Zeit mehrfach wechselnde, verschiedene „Definitionen“ des Absoluten gegeben (man denke an die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung bzw. die Identität der Identität und Nichtidentität); diese Einheitskonzeption ist hier aber deshalb so wichtig, weil Hegel genau sie immer wieder bemüht, um die Unstimmigkeiten der kritisierten Theorien ans Licht zu ziehen und im Kontrast dazu die in seinen Augen einzig richtige und wirkliche Einheit zu entwerfen. Eine genauere Explikation dieser Einheitsvorstellung wie auch eine Analyse der Hegelschen Begrifflichkeit erfolgte im Kapitel zur Terminologie. An dieser Stelle soll nur gezeigt werden, wie Hegel in einem publizierten Text selbst ein System der Sittlichkeit entwirft. Ich konzentriere mich daher im folgenden nicht auf Hegels Kritik, sondern auf seinen eigenen positiven Entwurf und also überwiegend auf den dritten Abschnitt des Naturrechtsaufsatzes. In diesem Abschnitt findet sich eine relativ geschlossene Darstellung der „absoluten Sittlichkeit“, wie sie Hegel zu diesem Zeitpunkt selbst vertritt. Da sie im Rahmen einer Kritik und eben nicht als selbständiges Buchprojekt erfolgt, gleicht sie eher einer Skizze. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil besteht darin, daß maßgebliche Motive klar und stichwortartig aufgelistet sind, außerdem der unmittelbare Bezug auf die Vorgänger artikuliert ist und man also verfolgen kann, welche Probleme Hegel mit seiner neuen Theorie aus dem Weg räumen möchte. Ein Nachteil ist sicher, daß die Durchführung des Systems nicht selbst gegeben, sondern großenteils nur angedeutet wird; gleichwohl ist die Gliederung des proklamierten Systems m. E. klar erkennbar.

4.2.1. Hegels Skizze eines wahrhaften Systems der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz Hegel beginnt den dritten Abschnitt mit einer Ankündigung, die er mit einer Rückschau auf die zuvor geleistete Kritik kombiniert und die sich in genauer Übereinstimmung mit den Passagen vom Anfang befindet, nach denen die in den kritisierten Theorien behandelten Bestimmtheiten sich als Momente einer übergreifenden Einheit ausweisen lassen müssen: „Aber so nichtig diese Abstractionen und das daraus hervorgehende Verhältniß der Aeußerlichkeit ist, so ist das Moment des negativabsoluten oder der Unendlichkeit, welches in diesem Beyspiel als das Verhältniß von Verbrechen und Strafe bestimmend bezeichnet ist, Moment des Absoluten selbst, und muß in der absoluten Sittlichkeit aufgezeigt werden, und wir werden das Vielgewandte der absoluten Form oder der Unendlichkeit in seinen nothwendigen Momenten ergreifen, und aufzeigen, wie sie die Gestalt der absoluten Sittlichkeit bestimmen, woraus der wahre Begriff und das Verhältniß der praktischen Wissenschaften sich ergeben wird.“ (IV 449) Dieses Versprechen ist deutlich, allenfalls könnte man fragen, wer das „wir“ ist oder an welchem Ort und wann die Einlösung denn tatsächlich erfolgen soll. Der Kontext verweist jedoch mit Sicherheit darauf, daß noch im gleichen Aufsatz, also im Naturrechtsaufsatz, dieser Nachweis durch Hegel erbracht werden soll. Diese Ankündigung deckt sich zudem mit der vorangeschickten ‚Regieanweisung‘ zu Beginn, wonach auf die Kritik schließlich „die Betrachtung der Natur und des Verhältnisses der Wissenschaften des Sittlichen, als philosophischer Wissenschaften […] so wie des Verhältnisses derselben zu dem, was positive Rechtswissenschaft genannt wird“, folgen sollten. (IV 421) Da Hegel in ziem-

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lich scharfer Form den behandelten Naturrechtstheorien den Charakter echter philosophischer Wissenschaft abgesprochen hatte, muß sich diese Ankündigung einer Betrachtung der Wissenschaften des Sittlichen als Philosophie auf seinen eigenen Entwurf beziehen.14 Hatte Hegel unmittelbar zuvor die transzendentale Behandlungsart des Naturrechts kritisiert und eines inhaltslosen Formalismus beschuldigt, welche es nicht zu einer positiven Organisation, zu einer wirklichen, also nicht gewaltsamen Einheit (mittels Zwang usw.) bringen könne, so beginnt er nun im Kontrast dazu mit solchen positiven Setzungen: „[S]o setzen wir das positive voraus, daß die absolute sittliche Totalität nichts anderes als ein Volk ist“, und kurz darauf: „In der absoluten Sittlichkeit ist nun die Unendlichkeit oder die Form als das absolut negative nichts anders als das vorhin begriffene Bezwingen selbst in seinen absoluten Begriff aufgenommen, worin es sich nicht auf einzelne Bestimmtheiten bezieht, sondern auf die ganze Wirklichkeit und Möglichkeit derselben, nemlich das Leben selbst, also die Materie der unendlichen Form gleich ist; aber so, daß das positive derselben das absolut sittliche, nemlich das Angehören einem Volke ist“. (IV 449)15 Das Volk wird von Hegel als eine „sittliche

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„Die Wissenschaft des Naturrechts ist gleich andern Wissenschaften, als Mechanik, Physik, zwar längst als eine wesentlich philosophische Wissenschaft, und weil die Philosophie Theile haben muß, als ein wesentlicher Theil derselben anerkannt worden; aber sie hat mit den andern das gemeinschaftliche Schicksal gehabt, daß das philosophische der Philosophie allein in die Metaphysik verlegt, und ihnen wenig Antheil daran vergönnt wurde, sondern daß sie, in ihrem besondern Princip, ganz unabhängig von der Idee gehalten wurden; die als Beyspiele angeführten Wissenschaften sind endlich gezwungen worden, mehr oder weniger ihrer Entfernung von der Philosophie geständig zu seyn, so daß sie das, was Erfahrung genannt zu werden pflegt, für ihr wissenschaftliches Princip anerkennen, hiemit auf die Ansprüche, wahrhafte Wissenschaften zu seyn, Verzicht thun, und sich begnügen, aus einer Sammlung empirischer Kenntnisse zu bestehen, und sich der Verstandesbegriffe bittweise und ohne damit etwas Objectives behaupten zu wollen, zu bedienen [… so daß also] solches, was sich philosophische Wissenschaft genannt, aus der Philosophie und aus der Kategorie der Wissenschaft überhaupt zuerst wider seinen Willen ausgeschlossen worden ist, und alsdenn diese Stellung sich am Ende hat gefallen lassen.“ (IV 417) Und noch schärfer: „Den frühern Behandlungsarten des Naturrechts, und demjenigen, was für verschiedene Principien desselben angesehen werden müßte, muß daher für das Wesen der Wissenschaft alle Bedeutung abgesprochen werden; weil sie zwar im Gegensatze und in der Negativität, aber nicht in der absoluten Negativität, oder in der Unendlichkeit sind, welche allein für die Wissenschaft ist, sondern so wenig das positive als das negative rein haben, und Vermischungen von beyden sind. Es würde allein das Interesse einer Neugierde über das geschichtliche der Wissenschaft seyn, welches bey ihnen verweilen könnte, sowohl um sie mit der absoluten Idee zu vergleichen, und in der Verzerrung derselben selbst die Nothwendigkeit zu erblicken, mit welcher durch eine Bestimmtheit, die Princip ist, verzogen die Momente der absoluten Form sich darstellen, und selbst unter der Herrschaft eines eingeschränkten Princips doch diese Versuche beherrschen; – als auch den empirischen Zustand der Welt sich in dem ideellen Spiegel der Wissenschaft reflectiren zu sehen.“ (IV 419) Man sieht hier genau, daß und wie Hegel den beklagten Dualismus von Materie und Form, Einheit und Vielheit usw. aufheben möchte. Er will nicht Abstraktionen oder „wesenlose Gedankendinge“ behandeln, sondern die „ganze“ Wirklichkeit, das „Leben“, das „Einsseyn“ beschreiben können. Nicht einzelne Bestimmtheiten, die freilich nicht geleugnet oder ignoriert werden, sollen für das

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Totalität“ begriffen, und es gibt selbstverständlich eine Vielzahl von Völkern, also auch verschiedene sittliche Totalitäten: Diese „constituiren sich als Individuen, und stellen sich hiemit als einzeln gegen einzelne Völker; diese Stellung und Individualität ist die Seite der Realität, ohne diese gedacht sind sie Gedankendinge; es wäre die Abstraction des Wesens ohne die absolute Form, welches Wesen eben dadurch wesenlos wäre.“ (IV 449) Das Volk hat also als sittliche Totalität eine reale individuelle Gestalt. Obwohl es nach außen als geschlossene Individualität (z. B. im Krieg) auftritt, ist es nach innen vielfach gegliedert und stellt ein kompliziertes differenziertes Gefüge aus verschiedenen Sphären dar. Hegel versucht, zwischen diesen den Zusammenhang herzustellen: „Dem so eben betrachteten negativen der Unendlichkeit, weil die Gestalt der sittlichen Totalität und die Individualität derselben als eine Einzelnheit nach aussen, und dieser ihre Bewegung als Tapferkeit bestimmt ist, ist die andere Seite unmittelbar verbunden; nemlich das Bestehen des Gegensatzes“. (IV 450) In der Erläuterung jener beiden Seiten findet sich ein Vorgriff auf die Figur der Negativität des Systems der Sittlichkeit; dort wird sie schließlich zu einem wichtigen Bewegungsmoment: „eine ist Unendlichkeit, negativ, wie die andere; die erste ist die Negation der Negation, die Entgegensetzung gegen die Entgegensetzung; die zweyte die Negation und Entgegensetzung selbst in ihrem Bestehen als Bestimmtheiten oder mannichfaltige Realität. Diese Realitäten in ihrer reinen innern Formlosigkeit und Einfachheit, oder die Gefühle, sind im praktischen aus der Differenz sich reconstruirende und aus dem Aufgehobenseyn des differenzlosen Selbstgefühls, durch eine Vernichtung der Anschauungen hindurchgehende und sich wiederherstellende Gefühle; physische Bedürfnisse und Genüsse, die für sich wieder in der Totalität gesetzt, in ihren unendlichen Verwicklungen Einer Nothwendigkeit gehorchen, und das System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse, und der Arbeit und Anhäuffung für dieselbe und, dieses als Wissenschaft das System der sogenannten politischen Oekonomie bilden.“ (IV 450) Hier ist nun unbestreitbar ein ganzer Teilbereich des Reinschriftmanuskripts angesprochen. Und auch die präsentierte Lösung entspricht dem Weg des Systems der Sittlichkeit, nämlich daß dieses System der politischen Ökonomie sich nicht selbst reguliert, sondern selbst wieder in die übergreifende absolute Sittlichkeit eingebunden und mittels politischer Institutionen und verschiedener Steuerungselemente „regiert“ werden muß: „Da dieses System der Realität ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit ist, so folgt für sein Verhältniß zu der positiven Totalität, daß es von derselben ganz negativ behandelt werden, und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß; was seiner Natur nach negativ ist, muß negativ bleiben, und darf nicht etwas festes werden.“ (IV 450) Hier sieht man klar die Übereinstimmung mit dem System der Sittlichkeit. Und Hegel gibt an dieser Stelle zusätzlich den Hinweis, welche Wissenschaft – nämlich die politische Ökonomie – sich mit diesen Themen zu beschäftigen habe. Im System der Sittlichkeit wird dieser gesamte Gegenstandsbereich im ersten Teil und dann nochmals ausführlich im dritten Teil behandelt. Hegels Forderung, daß das Negative nichts Festes werden dürfe und insgesamt der positiven Totalität untergeordnet bleiben müsse, wird ebenfalls eingelöst: Das zeigt sich im Aufbau des Manuskripts etwa daran, daß der Ganze ausgegeben, sondern das Ganze mit all jenen vielen Bestimmtheiten als ein Relationsgefüge begriffen werden.

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gesamte erste Teil als die „absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ bezeichnet und schließlich erst im dritten Teil „indifferentiiert“, d. h. in den Gesamtzusammenhang integriert wird. Deshalb kehren viele der Themen des ersten Teils dort wieder, und Hegel zeigt, wie sie als partiell selbständige Subsysteme mit der sittlichen Totalität verbunden sind. Wie im Naturrechtsaufsatz läßt er aber auch im System der Sittlichkeit keinen Zweifel aufkommen, daß diese Subsysteme sich nicht verselbständigen dürfen, sondern regiert und dem Ganzen unterworfen werden müssen; er gibt diesbezüglich mannigfache konkrete Hinweise, die von variabler Besteuerung bis hin zur Erschütterung des Besitzes und der Privatinteressen im Krieg reichen. Hegel zeichnet im Naturrechtsaufsatz einen genauen Umriß eines wissenschaftlichen Kriterien genügenden Systems der Sittlichkeit und zeigt, wie die einzelnen Verhältnisse (und Subsysteme) letztlich zusammenhängen. Klar ist zu erkennen, daß er hierfür mit der logischen Figur der Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses operiert: „Es ist bey dem betrachteten System der Realität gezeigt worden, daß die absolute Sittlichkeit sich negativ gegen dasselbe verhalten müsse; in demselben ist das Absolute, wie es unter der fixen Bestimmtheit desselben erscheint, als negativ-absolutes, als Unendlichkeit gesetzt, die sich gegen den Gegensatz als formale, relative, abstracte Einheit darstellt; in jenem negativen Verhalten feindlich, in diesem selbst unter seiner Herrschaft; in keinem indifferent gegen dasselbe. Aber die Einheit, welche Indifferenz der entgegengesetzten ist, und sie in sich vernichtet und begreift, und die Einheit, welche nur formale Indifferenz, oder die Identität des Verhältnisses bestehender Realitäten ist, müssen selbst schlechthin als Eines seyn, durch vollkommene Aufnahme des Verhältnisses in die Indifferenz selbst. Das heißt, das absolute sittliche muß sich als Gestalt, denn das Verhältniß ist die Abstraction der Seite der Gestalt, vollkommen organisiren.“ (IV 453f.) Hegel bezeichnet hiermit präzis die Relation der verschiedenen Realitäten und Verhältnisse, sogar der verschiedenen Einheiten zueinander und ihren gemeinsamen Einheitspunkt, und er wiederholt (oder beharrt darauf) – um sich nicht der Abstraktion eines „Gedankendings“16 schuldig zu machen – die Notwendigkeit, daß das absolut Sittliche eine Gestalt haben müsse. Für Hegel ist es wichtig, die Organisation dieser Gestalt in einer Weise nachzuzeichnen, welche die „Lebendigkeit“ des Ganzen adäquat beschreiben kann. In diesem Zusammenhang verwendet er – wie oben bereits angemerkt – mehrfach organologische Metaphern: Die Gesellschaft wird in Analogie zu einem lebendigen Organismus gedacht, der sich nur in dem Leben des Ganzen und der individuellen Teile als Einheit erhalten kann.17 Dabei ist es offenkundig, daß Hegel diesen Organismus als eine Totalität konzipiert, welche selbst wiederum aus dynamischen Wechselbeziehungen relativer, partieller und besonderer Totalitäten aufgebaut ist.18 Jede einzelne Totalität ist eine strukturierte Einheit (nicht nur ein Aggregat von Teilelementen) und besitzt als solche jeweils eine spezifische Ordnung bzw. Koordination der in ihr enthaltenen Elemente. Die Totalität ist in diesem Sinne also nicht nur 16

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Vgl. z. B. System der Sittlichkeit, V 298; außerdem Glauben und Wissen, IV 378, Naturrechtsaufsatz, IV 424. Zur Analogie von Gesellschaft und Organismus vgl. auch Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, Bd. 1, 25. Vgl. Kapitel zur Terminologie.

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Eines, sondern zugleich Vieles, nicht nur Allgemeines, sondern auch Besonderes. Da jede Totalität eine spezifische Form aufweist, nach der sie die Vielheit unter die Einheit subsumiert, gebraucht Hegel auch den Ausdruck der „Individualität“. In Verbindung mit dem Organismusgedanken bedeutet dies: Das Sittliche bildet eine Totalität, eine Individualität und eine organische Einheit.19 Zunächst thematisiert er aber nur das Verhältnis von organischer und unorganischer Natur des Sittlichen:20 „Indem das Verhältniß in der Gestalt schlechthin indifferenzirt wird, hört es nicht auf, die Natur des Verhältnisses zu haben; es bleibt ein Verhältniß der organischen zur unorganischen Natur.“ (IV 454) Hegel zeigt nun erneut, daß das Verhältnis, als Seite der Unendlichkeit, selbst ein gedoppeltes ist: „das einemal insofern die Einheit oder das ideelle, das andremal insofern das Viele oder das reelle das erste und herrschende ist“. Die nachfolgende Ausdifferenzierung läßt die Parallele zum System der Sittlichkeit (sogar terminologisch) sehr deutlich werden: „Nach jener Seite ist es eigentlich in der Gestalt, und in der Indifferenz; und die ewige Unruhe des Begriffs oder der Unendlichkeit ist theils in der Organisation selbst, sich selbst aufzehrend, und die Erscheinung des Lebens, das rein quantitative, hingebend […] – theils seine Differenz nach außen ewig vernichtend, und vom Unorganischen sich nährend, und es producirend, aus der Indifferenz eine Differenz, oder ein Verhältniß einer unorganischen Natur hervorrufend, und dasselbe wieder aufhebend, und sie wie sich selbst verzehrend.“ (IV 454) Hegel nennt dies die „unorganische Natur des sittlichen“. Nun folgt die zweite Seite: „Aber zweytens ist in dieser Seite des Verhältnisses oder der Unendlichkeit auch das Bestehen des vernichteten gesetzt, denn eben da der absolute Begriff das Gegentheil seiner selbst ist, ist mit seiner reinen Einheit und Negativität auch das Seyn der Differenz gesetzt.“ (IV 454) Obwohl hier vom „Verzehren“, dem „sich Nähren“, dem „Vernichten“ u. ä. die Rede ist, wird weniger ein Ende als vielmehr ein Kreislauf beschrieben. Hegels Sprachgebrauch mag irritieren, festzuhalten ist aber, daß das „Vernichtete“ ein Bestehen hat, daß es also eigentlich gar nicht verschwunden, sondern aufgehoben ist. „Daß beides, das Aufgehobenseyn des Gegensatzes und das Bestehen desselben, nicht nur ideell, sondern auch reell sey, ist überhaupt das Setzen einer Abtrennung und Aussonderung, so daß die Realität, in welcher die Sittlichkeit objectiv ist, getheilt sey in einen Theil, welcher absolut in die Indifferenz aufgenommen ist, und in einen, worin das reelle als solches bestehend, also relativ identisch ist und nur den Widerschein der absoluten Sittlichkeit in sich trägt.“ (IV 454) 19

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Vgl. die Interpretation bei Bruno Coppitiers, Kritik einer reinen Empirie. Hegels Jenaer Kommentar zu Montesquieus Theorie des Politischen, Berlin 1994, 45. Ganz allgemein sei hier zum Unterschied von organischer und unorganischer Natur der Sittlichkeit festgehalten: Der Begriff der „organischen Natur der Sittlichkeit“ wird von Hegel für denjenigen Bereich des Sittlichen reserviert, der die Vielheit in die Indifferenz aufnimmt und derart vereinheitlicht. Der Begriff der „unorganischen Natur der Sittlichkeit“ charakterisiert hingegen jene Vielheit an differenten subjektiven Trieben und Bedürfnissen sowie objektiver praktischer Tätigkeiten, die gerade nicht restlos vereinheitlicht werden können. Also dominieren in der organischen Natur die Einheit, das Ideelle, die Freiheit, in der unorganischen dagegen die Vielheit, das Reelle, die Notwendigkeit. Organische und unorganische Natur der Sittlichkeit müssen beide berücksichtigt werden, so daß es schließlich zur Trennung der Sittlichkeit in zwei Sphären (absolute und relative Sittlichkeit) kommt.

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

Damit gibt Hegel quasi eine Gliederung der absoluten Sittlichkeit vor. Zwar legt er – wie oben gezeigt – großen Wert auf die Notwendigkeit, daß alle einzelnen Teilbereiche der „positiven Totalität“ unterworfen sein müssen, doch müssen sie eben, damit dies überhaupt stattfinden kann, real und objektiv bestehen. Für den lebendigen Zusammenhang des Ganzen ist es konstitutiv, daß die Differenzen vorhanden sind und – jedenfalls in einem bestimmten Umfang – aktiv ausgetragen werden. Das Vernichten und Unterwerfen ist also nicht ganz wörtlich zu verstehen. Wichtig ist, daß den Teilbereichen ein spezifischer Ort zugewiesen wird, der ihnen ein Eigenleben sichert, ohne daß jenes von Hegel kritisierte „Festwerden“ eintritt. Hiermit ist auch schon klar, daß es graduelle Abstufungen der Form geben muß, in der die verschiedenen Individuen einer sittlichen Totalität oder eines Volkes an der absoluten Sittlichkeit partizipieren – dies wird in der kurz darauf explizierten Ständelehre schließlich noch besonders ausgeführt; alle Formen der Sittlichkeit werden nach Hegel auch tatsächlich – und zwar von verschiedenen Individuen bzw. Gruppen des Volkes – gelebt; trotz dieses Eigenlebens eines Standes hat dieser jedoch eine bleibende Beziehung zu den anderen Ständen und innerhalb dieser Gliederung eine bestimmte Funktion und einen Wert, welche sich wiederum erst aus diesem übergreifenden Zusammenhang ergeben. „Es ist hiemit gesetzt ein Verhältniß der absoluten Sittlichkeit, die ganz innwohnend in den Individuen und ihr Wesen sey, zu der relativen Sittlichkeit, die ebenso in Individuen reell ist. Anders kann die sittliche Organisation in der Realität sich nicht rein erhalten, als daß die allgemeine Verbreitung des negativen in ihr gehemmt, und auf Eine Seite gestellt sey.“ (IV 454) Das ist Hegels nüchterne Erklärung: Man muß dem Negativen einen Platz zuordnen, soll das Ganze nicht gefährdet, sondern in seiner Lebendigkeit erhalten bleiben. Hegel zeigt anschließend, daß und wie die Indifferenz in dem bestehenden Reellen erscheint und formale Sittlichkeit ist. „Der Begriff dieser Sphäre ist das reelle praktische, subjectiv betrachtet der Empfindung oder des physischen Bedürfnisses und Genusses, objectiv – der Arbeit und des Besitzes; und dieses praktische, wie es nach seinem Begriff geschehen kann, in die Indifferenz aufgenommen, ist die formale Einheit, oder das Recht, das in ihm möglich ist; über welchen beyden das Dritte als das absolute oder das sittliche ist.“ (IV 454f.) Mit diesen Hegelschen Bestimmungen haben wir eine sehr brauchbare Interpretationshilfe für das System der Sittlichkeit gewonnen; denn Hegel gibt hiermit eine Ordnung der Sphären vor, wie sie auch im Reinschriftmanuskript praktiziert wird. Es soll und darf nicht zu einer zwangsweisen Vereinigung, gleichfalls nicht zu einer gefährlichen Vermischung kommen, sondern es bedarf einer klaren Gliederung und Absonderung von Teilbereichen. Im Naturrechtsaufsatz erinnert Hegel unter Berufung auf Gibbon an kulturelle Verfallsprozesse,21 die unter anderem daraus resultierten, daß dieser Punkt verkannt worden 21

Hegel bezieht sich auf Gibbons Geschichte des Abstiegs und Falls des Römischen Reiches. „[D]er lange Friede und die gleichförmige Herrschaft der Römer führte ein langsames und geheimes Gift in die Lebenskräfte des Reichs. Die Gesinnungen der Menschen waren allmählig auf Eine Ebene gebracht, das Feuer des Genius ausgelöscht, und selbst der militärische Geist verdunstet. Der persönliche Muth blieb, aber sie besaßen nicht mehr diesen öffentlichen Muth, welcher von der Liebe zur Unabhängigkeit, dem Sinne der National-Ehre, der Gegenwart der Gefahr, und der Gewohnheit zu befehlen genährt wird; sie empfingen Gesetze und Befehlshaber von dem Willen ihres Monar-

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war; er betont (auch als Lehre aus diesen Untergangsszenarien22 und freilich in der zeitbedingten Variante einer Ständegliederung) schließlich erneut die Notwendigkeit einer wirklich praktizierten Gliederung der Gesellschaft: „Dieses System von Eigenthum und Recht, das um jenes Festseyns der Einzelnheit willen in nichts absolutem und ewigem, sondern ganz im endlichen und formellen ist, muß reell abgesondert und ausgeschieden von dem edlen Stande, sich in einem eigenen Stande constituiren, und hier dann in seiner ganzen Länge und Breite sich ausdehnen können. Es gehören ihm theils die für sich untergeordneten und im formellen bleibenden Fragen über den rechtlichen Grund von Besitz, Vertrag u.s.w. an, theils aber überhaupt die ganze endlose Expansion der Gesetzgebung.“23 (IV 457) Im dritten Teil des Systems der Sittlichkeit wird diese Ständegliederung ausführlich wiederholt, wobei den Angehörigen jeden Standes noch spezifische Tugenden zugeschrieben werden (bzw. es je dominierende Tugenden gibt) und die drei Stände als verkörperte absolute Sittlichkeit, als relative Sittlichkeit bzw. als „Stand der rohen Sittlichkeit“ betrachtet werden. Auch im Naturrechtsaufsatz finden sich solche Zuschreibungen, und man geht wohl nicht fehl, wenn man aus Hegels Ton – ebenfalls wie im System der Sittlichkeit – eine gewisse Geringschätzung des zweiten Standes heraushört. Jedenfalls besteht Hegel darauf, daß sich dessen Gesinnung nicht auf das gesamte Volk ausbreiten darf, sein Wirkungskreis

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chen, und die Nachkommenschaft der kühnsten Häupter war mit dem Rang von Bürgern und Unterthanen zufrieden; die höher strebenden Gemüther sammelten sich zu der Fahne der Kayser; und die verlassenen Länder, politischer Stärke oder Einheit beraubt, sanken unmerklich in die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens.“ (IV 456f.) Riedel 1982, 125 spricht von einer „Fehlinterpretation des Römischen Rechts“ – Hegels an Gibbon orientierte Auffassung, wonach die lebendige Sittlichkeit der Polis zur leblosen Formalität des Römischen Rechts erstarre, in welcher das Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit der Menschen als Privatpersonen abstrakte Geltung erlange, sei historisch falsch: Das Römische Recht „hebt mit der Ausbildung des Personbegriffs die ‚Absonderung‘ der von Hegel genannten Stände keineswegs auf, sondern fixiert sie im Titel des status libertatis“. Diese Fehlinterpretation (welche nach Riedel in der Rechtsphilosophie korrigiert wird) sei der „Anlaß für jene eigentümliche Projektion der Figur des bourgeois an den Ausgang der antiken Welt, die es Hegel erlaubt, den geschichtlich mit der politischen und ökonomischen Emanzipation der modernen (‚bürgerlichen‘) Gesellschaft entstandenen Konflikt des ‚Bürgers‘ als citoyen mit sich selbst als bourgeois an der ins Zeitlose erhobenen Tragödie des Aischylos zu verdeutlichen.“ (125f.) Riedel bezieht sie auf die Hegelsche Figur der „Tragödie im Sittlichen“. Hier wird noch nicht die Differenz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, sondern zwischen dem in die Bestimmtheit des Produzierens versenkten zweiten Stand und dem indifferenten, auf das sittliche Ganze ausgerichteten ersten Stand ausgedrückt. Vgl. dazu Riedels Interpretation der Hegelschen Figur der „Aufführung der Tragödie im sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt“ (IV 458). Sie solle die Anschauung gewähren, „daß dieser Gegensatz (die doppelseitige Abhängigkeit des zweiten vom ersten Stand und die Abhängigkeit beider vom Produkt der Arbeit) das ‚Schicksal‘ und die ‚Notwendigkeit‘ der Idee der Sittlichkeit selbst ist; denn sie muß, um unter der geschichtlichen Bedingung des in sich vertieften und befestigten Systems der Nationalökonomie sowohl gedacht wie als ‚Gestalt‘ erhalten werden zu können, so konstituiert sein, daß sie, indem sie ein selbständiges Bestehen durch das ‚Opfer eines Teils ihrer selbst mit Bewußtsein einräumt, ihr eigenes Leben davon gereinigt erhält‘.“ (Riedel 1982, 126) Letzteres Hegelzitat ist dem wohlplazierten Schlußsatz des Naturrechtsaufsatzes entnommen. (IV 485)

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

deshalb begrenzt werden muß. Findet diese „Absonderung“ hingegen nicht statt, wie Hegel unter Berufung auf Platon ausführt, wird letztlich die „freye Sittlichkeit“ zerstört. (IV 458) Da die Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein offensichtlich unumkehrbarer Prozeß ist, bleibt nach Hegel nur übrig, sich dieser Entwicklung offen zu stellen und sie bewußt zu lenken: „[S]o ist nothwendig, daß dieses System mit Bewußtseyn aufgenommen, in seinem Recht erkannt, von dem edlen Stande ausgeschlossen, und ihm ein eigener Stand, als sein Reich eingeräumt sey, worin es sich festsetzen und an seiner Verwirrung und der Aufhebung einer Verwirrung durch eine andere, seine völlige Thätigkeit entwickeln könne.“ (IV 458) Hier findet sich also die oben bereits angekündigte notwendige Aussonderung des Negativen klar ausgesprochen und wird konkret in einem bestimmten Stand festgehalten. „Es bestimmt sich hienach die Potenz dieses Standes so, daß er in dem Besitz überhaupt und in der Gerechtigkeit, die hierin über Besitz möglich ist, sich befindet, daß er zugleich ein zusammenhängendes System constituire, und unmittelbar dadurch, daß das Verhältniß des Besitzes in die formelle Einheit aufgenommen ist, jeder einzelne, da er an sich eines Besitzes fähig ist, gegen Alle, als allgemeines, oder als Bürger, in dem Sinne als bourgeois, sich verhält; für die politische Nullität, nach der die Mitglieder dieses Standes Privatleute sind, den Ersatz in den Früchten des Friedens und des Erwerbes, und in der vollkommenen Sicherheit des Genusses derselben findet.“ (IV 458) Solch ein Bürger ist nicht der Gefahr ausgesetzt, sein Leben im Krieg zu riskieren oder gar zu verlieren; er verbleibt innerhalb seiner eingeschränkten Welt und bildet – das ist eigentlich eine soziologische oder psychologische Feststellung – eine diesbezügliche Mentalität aus, mit der er in diesem vertrauten Kreis auch erfolgreich agiert. Der Preis, den dieser Stand für die Ausübung und Beschränkung auf seine Privatinteressen letztlich zu zahlen hat, ist freilich hoch: die „politische Nullität“.24 Hegel warnt davor, daß ein solcher Standpunkt oder Gesichtskreis zum Maßstab für die Beurteilung oder gar gestaltende Regierung des Ganzen gemacht wird: Dieser wesentlich auf das private Dasein fixierte Blick hat zwar in seiner Sphäre Berechtigung, ist teils auch eine notwendige Basis für das Funktionieren der realen Bedürfnisbefriedigung einer Gesellschaft, taugt aber nicht für eine Beschreibung dessen, was die absolute Sittlichkeit als ganze ausmacht. Um es vielleicht etwas zuzuspitzen: Das ist nur der Blick und das Verhalten des bourgeois, nicht aber des citoyen. Hegel resümiert an dieser Stelle: „Durch diese aufgehobene Vermischung der Principien und die constituirte und bewußte Sonderung derselben, erhält jedes sein Recht, und es ist allein dasjenige zu Stande gebracht, was seyn soll, die Realität der Sittlichkeit als absoluter Indifferenz, und zugleich ebenderselben als des reellen Verhältnisses im bestehenden Gegensatze, so daß das letztere von dem erstern bezwungen ist, und daß dieses Bezwingen selbst indifferentiirt und versöhnt ist. Welche Versöhnung eben in der Erkenntniß der Nothwendigkeit und in dem Rechte besteht, welches die Sittlichkeit ihrer unorganischen Natur und den unterirdischen Mächten giebt, indem sie ihnen einen Theil ihrer selbst überläßt und opfert.“ (IV 458) Hier haben wir eine genaue Definition 24

Vgl. schon in Der Geist des Christentums und sein Schicksal den dort gebrauchten Ausdruck „ein politisches Nichts“. (1/294) Noch in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte gebraucht Hegel die Wendung „politische Nullität und Langeweile“ zur Kennzeichnung einer interesselosen, unlebendigen Existenz, welche „ohne das Bedürfnis ihrer Institutionen ist“. (12/100)

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dessen (sofern dies überhaupt möglich ist, da das Wahre ja nicht in einem Satze ausgesprochen werden kann), wie die Realität der Sittlichkeit von Hegel aufgefaßt wird und systematisch darstellbar sein soll.25 Nach den berühmten Ausführungen zur Tragödie bzw. Komödie im Sittlichen kommt Hegel auf die konkrete Gestalt der Sittlichkeit zurück und behandelt noch die Frage, wie die verschiedenen Individuen mit ihr verbunden sind, von ihr ein Bewußtsein haben und in welcher Weise sie sie anschauen. Dabei stellt sich – übrigens analog zum System der Sittlichkeit – heraus, daß es einen graduell abgestuften Zugang gibt.26 So ist „das reale absolute Bewußtseyn der Sittlichkeit“ nur für den ersten Stand reserviert und möglich. (IV 462) Die Angehörigen der anderen Stände bedürfen des ersten Standes, um in ihm die absolute Sittlichkeit anzuschauen; in ihnen selbst gibt es freilich auch einen ‚Reflex des Absoluten‘.27

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Der Satz – erneut die Verwicklung des Organischen mit dem Unorganischen aufnehmend – endet: „[…] denn die Kraft des Opfers besteht in dem Anschauen und Objectiviren der Verwicklung mit dem unorganischen, durch welche Anschauung diese Verwicklung gelöst, das unorganische abgetrennt, und als solches erkannt, hiemit selbst in die Indifferenz aufgenommen ist; das lebendige aber, indem es das, was es als einen Theil seiner selbst weiß, in dasselbe legt, und dem Tode opfert, dessen Recht zugleich anerkannt und zugleich sich davon gereinigt hat.“ (IV 458) Vgl. Horstmann 1974, 216: „In diesen Überlegungen zeigt sich wohl am deutlichsten die Konzeption, in deren Dienst Hegel seine frühe politische Philosophie gestellt hat: Eben um den Gedanken der reinen lebendigen Sittlichkeit als das konkrete Allgemeine durchhalten zu können gegenüber einer Wirklichkeit, die sich immer mehr nach Prinzipien organisiert, die für Hegel den Status einer abstrakten Einseitigkeit haben, eben darum geht es nicht an, einfach die Aufhebung der Geltung dieser Prinzipien zu fordern, denn dies hätte nur die Etablierung anderer Einseitigkeiten zur Folge. Und deshalb ist ein Modell zu entwickeln, das zwar den Anspruch der lebendigen Sittlichkeit als allein gültigen bewahrt, zugleich aber in der Lage ist, das ihr Negative, Unorganische, also den Bereich der Bedürfnisse und der Arbeit, selbst noch als eine der ‚Zonen des sittlichen‘ zu integrieren.“ Dies versuche Hegel zunächst mit seiner Opfertheorie einzulösen, „deren Leistung darin besteht, das Andere der absoluten Sittlichkeit als den Bereich der Notwendigkeit und des Schicksals sowohl abzutrennen von der Zone der lebendigen Sittlichkeit als es auch, eben als Schicksal der lebendigen Sittlichkeit, in einer Beziehung zu dem zu erhalten, dessen Anderes es ist“. (Horstmann 1974, 217) „So nothwendig jene Existenz des absoluten ist, so nothwendig ist auch diese Vertheilung, daß einiges der lebendige Geist, das absolute Bewußtseyn und die absolute Indifferenz des ideellen und reellen der Sittlichkeit selbst sey, anderes aber dessen leibliche und sterbliche Seele und sein empirisches Bewußtseyn, das seine absolute Form und das innere Wesen nicht vollkommen vereinigen darf, aber doch der absoluten Anschauung als eines gleichsam ihm Fremden genießt, und für das reelle Bewußtsein, durch Furcht und Vertrauen so wie durch Gehorsam mit ihm eins ist, für das ideelle aber in der Religion, dem gemeinschaftlichen Gott und dem Dienste desselben sich ganz mit ihm vereinigt.“ (IV 462) Vgl. die Ausführung an späterer Stelle: „Aber wie diese Eigenschaften der Reflex der absoluten Sittlichkeit im Einzelnen als dem negativen, aber dem Einzelnen, welches in absoluter Indifferenz mit dem Allgemeinen und Ganzen ist, also ihr Reflex in ihrem reinen Bewußtseyn sind; so muß auch ein Reflex derselben in ihrem empirischen Bewußtseyn vorhanden seyn, und solcher die sittliche Natur des zweyten Standes, der in der feststehenden Realität, im Besitz und Eigenthum und außer der Tapferkeit ist, constituiren.“ (IV 468)

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

Das absolute Bewußtsein charakterisiert und differenziert Hegel wie folgt: „Es ist Bewußtseyn und als solches nach der negativen Seite reine Unendlichkeit, und die höchste Abstraction der Freyheit, d. i. das bis zu seiner Aufhebung getriebene Verhältniß des Bezwingens, oder der freye gewaltsame Tod; – nach der positiven Seite aber ist das Bewußtseyn die Einzelnheit und Besonderheit des Individuums. Aber dieses an sich Negative, nemlich das Bewußtseyn überhaupt, von dem die angezeigten Unterscheidungen nur seine beyden Seiten sind, ist absolut in das positive, seine Besonderheit und Unendlichkeit oder Idealität absolut in das Allgemeine und Reale auf eine vollkommene Weise aufgenommen; welches Einsseyn die Idee des absoluten Lebens der Sittlichkeit ist.“ (IV 462) Hier erkennt man sehr klar den Zielpunkt der Hegelschen Rekonstruktion der Sittlichkeit, er spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „Einsseyn der Unendlichkeit und der Realität in der sittlichen Organisation“ und bemüht das Bild Platons, wonach die göttliche Natur ein unsterbliches Tier sei, dessen Seele und Leib auf ewig zusammengeboren sind.28 (IV 462) Sowohl diese Termini als auch das mit ihnen umschriebene Modell der absoluten Sittlichkeit kehren in dem Reinschriftmanuskript des Systems der Sittlichkeit wieder. Hegel beendet seine positiven Ausführungen zur Sittlichkeit, die er ausdrücklich als ein „System der Sittlichkeit“ darstellt, mit Illustrationen aus der Mineralogie und Erdgeschichte. Die Sittlichkeit betrachtet er hierbei als den Kulminationspunkt einer langen Entwicklung.29 In diesem Zusammenhang wird die „Intelligenz“, die sich vor den mannigfaltigen Gestalten der Natur in vielerlei Hinsicht auszeichnet, von Hegel hervorgehoben, „weil in der Intelligenz allein die Individualisierung zu dem absoluten Extrem, nemlich zum absoluten Begriffe, das negative bis zum absolut negativen, das unvermittelte Gegentheil seiner selbst zu seyn, getrieben ist. Diese ist also allein fähig, indem sie absolute Einzelnheit ist, absolute Allgemeinheit zu seyn, indem sie absolute Negation und Subjectivität ist, absolute Position und Objectivität, indem absolute Differenz und Unendlichkeit, absolute Indifferenz, und die Totalität actu in der Entfaltung aller Gegensätze, und potentia in dem absoluten vernichtet- und einsseyn derselben, die höchste Identität der Realität und Idealität zu sein.“ (IV 464) Hier deutet sich die Hegelsche Auffassung an, daß der Geist höher stehe als die Natur. Hegel spricht schließlich explizit von der „Idee der Natur der absoluten Sittlichkeit“ und führt in Analogie zu den Lichtindifferenzen des Äthers aus, daß „in dem Systeme der Sittlichkeit die außereinandergefaltete Blume des himmlischen Systems zusammengeschlagen, und die absoluten Individuen in die Allgemeinheit vollkommen zusammengeeint, und die Realität oder der Leib aufs höchste eins mit der Seele, weil die reelle Vielheit des Leibes selbst nichts anderes ist, als die abstracte Idealität, die absoluten Begriffe, reine Individuen, wodurch diese selbst das absolute System zu seyn vermögen.“ (IV 464) Das Absolute ist dann also dasjenige, das sich als sich selbst anschaut und weiß.30 28 29

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Vgl. Phaidros, Steph. 246. „Die Erde aber als das organische und individuelle Element breitet sich durch das System seiner Gestalten von der ersten Starrheit und Individualität an in qualitatives und Differenz aus, und resumirt sich erst in der absoluten Indifferenz der sittlichen Natur allein in die vollkommene Gleichheit aller Theile und das absolute reale Einsseyn des einzelnen mit dem Absoluten“. (IV 463) „Deßwegen, wenn das Absolute das ist, daß es sich selbst anschaut, und zwar als sich selbst, und jene absolute Anschauung, und dieses Selbsterkennen, jene unendliche Expansion, und dieses un-

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Hegel vervollständigt seine Darstellung der absoluten Sittlichkeit durch die Benennung des Verhältnisses, in dem die Sittlichkeit des Individuums zur vorhandenen, realen absoluten Sittlichkeit steht und konstatiert diesbezüglich eine wirkliche Durchdringung; beide gehören organisch zueinander, beide bedürfen also einander: „Da nemlich die reale absolute Sittlichkeit die Unendlichkeit, oder den absoluten Begriff, die reine Einzelnheit schlechthin und in seiner höchsten Abstraction in sich vereinigt begreift, so ist sie unmittelbar Sittlichkeit des Einzelnen, und umgekehrt das Wesen der Sittlichkeit des einzelnen ist schlechthin die reale und darum allgemeine absolute Sittlichkeit; die Sittlichkeit des Einzelnen ist ein Pulsschlag des ganzen Systems, und selbst das ganze System. Wir bemerken hier auch eine Andeutung der Sprache, die sonst verworfen, aus dem Vorherigen vollkommen gerechtfertigt wird, daß es nemlich in der Natur der absoluten Sittlichkeit ist, ein Allgemeines oder Sitten zu seyn“.31 (IV 467) Hegel grenzt sich von den vorangegangenen Theorien des Naturrechts und der Moral ab und schlägt vor, den Gegenstandsbereich dieser Wissenschaften genauer zu fassen.32 Die Sittlichkeit des Individuums werde von der Moral behandelt, die reale absolute Sittlichkeit hingegen sei der eigentliche Gegenstand des Naturrechts: Es bleibe festzuhalten, „daß nemlich der Moral nur das Gebiet des an sich negativen zukommt, dem Naturrecht aber das wahrhaft positive, nach seinem Namen, daß es construiren soll, wie die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Rechte gelangt“. (IV 468) Man erkennt hier klar, daß Hegel also nicht das Naturrecht als solches verwirft, sondern es nur wissenschaftlicher behandeln will.33 Die im Naturrechtsaufsatz

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endliche Zurücknehmen derselben in sich selbst, schlechthin Eins ist, so ist, wenn beydes als Attribute reell sind, der Geist höher als die Natur; denn wenn diese das absolute Selbstanschauen und die Wirklichkeit der unendlich differentiirten Vermittlung und Entfaltung ist, so ist der Geist, der das Anschauen seiner als seiner selbst oder das absolute Erkennen ist, in dem Zurücknehmen des Universums in sich selbst, sowohl die auseinandergeworfene Totalität dieser Vielheit, über welche er übergreift, als auch die absolute Idealität derselben, in der er dieß Außereinander vernichtet, und in sich als den unvermittelten Einheitspunkt des unendlichen Begriffs reflectirt.“ (IV 464) Diese Bestimmungen gelten großenteils auch für das System der Sittlichkeit; dort spricht Hegel zwar nicht direkt von Leib und Seele, aber doch z. B. von den leiblichen und geistigen Augen, welche in der absoluten Sittlichkeit zusammenfallen würden. Und das „Zurücknehmen in sich“ kennzeichnet in Hegels Reinschriftmanuskript gleichfalls eine Bewegung, die den Geist oder die Sittlichkeit zu einem Wissen von sich selbst führt. Eine andere zusammenfassende Bestimmung lautet: „Die absolute Sittlichkeit aber ist nach dem bisherigen so wesentlich die Sittlichkeit aller, daß man von ihr nicht sagen kann, sie spiegle sich als solche am einzelnen ab“ (IV 467); vgl. außerdem Hegels Feststellung, daß „das absolut sittliche seinen eigenthümlichen organischen Leib an den Individuen hat, und seine Bewegung und Lebendigkeit im gemeinsamen Seyn und Thun aller absolut identisch als allgemeines und besonderes ist“. (IV 470) Vgl. auch Hegels Hinweis (V 328) im System der Sittlichkeit auf den „Unterschied der Moral vom Naturrecht“. Fehlerhafte Theorien des Naturrechts würden dagegen im Grunde zu einem Natur-Un-Recht führen: „[D]a hingegen, wenn sowohl das negative, als auch dieses als die Abstraction der Aeußerlichkeit, des formalen Sittengesetzes, des reinen Willens und des Willens des einzelnen, und dann die Synthesen dieser Abstractionen wie der Zwang, die Beschränkung der Freyheit des einzelnen durch den Begriff der allgemeinen Freyheit u.s.w. die Bestimmung des Naturrechts ausdrückten, es

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I. ENTSTEHUNG, REZEPTION, TERMINOLOGIE, METHODIK

vorgelegte Skizze und das Manuskript des Systems der Sittlichkeit zeugen davon – und noch seine späte Rechtsphilosophie stellt Hegel unter dem Namen des Naturrechts vor.

4.2.2. Fazit Nach Hegels Auffassung muß also jegliche wissenschaftliche Betrachtungsart des Naturrechts von dem „Positiven“ ausgehen, d. h. von der Überordnung des einheitlichen Ganzen (der Gesellschaft) über die vielen einzelnen. Diese Blickrichtung hatte Aristoteles einst schon besessen. Es ist dagegen unmöglich und unfruchtbar, von einem einzelnen isolierten Bewußtsein auszugehen und dieses dann schrittweise zu generalisieren; ein solches Vorgehen (vor allem in der neuzeitlichen Philosophie praktiziert) muß abstrakt bleiben und kann die wahre Einheit nicht fassen. Die positive Totalität, von der das Naturrecht hingegen auszugehen hat, wird von Hegel im Naturrechtsaufsatz auch als „Geist eines Volkes“ (IV 467) beschrieben. Diese Totalität stellt den primären Forschungsgegenstand des philosophischen Naturrechts dar; es soll wohlgemerkt konstruieren, wie die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Rechte gelangt. Im System der Sittlichkeit wird ein solcher Versuch unternommen, indem der Weg beschrieben wird, wie die absolute Sittlichkeit zu rekonstruieren sei, wobei – von der natürlichen Sittlichkeit ausgehend – es schließlich im Resultat zu einer positiven staatlichen Organisation kommt. Die theoretische Rekonstruktion der Sittlichkeit reflektiert die verschiedenen Prozesse auf diesem Wege, wobei sich herausstellt, daß es sich bei dem gewählten Aufbau nicht um eine einmalige (und nur nachgezeichnete) historische Entwicklung handelt, sondern eine Struktur, die erhalten bleibt und in der alle Entwicklungsstufen sich permanent wiederholen. So wird die natürliche Sittlichkeit in der absoluten Sittlichkeit also nicht etwa vernichtet, sondern nur zu einer höheren Stufe, nämlich zur (bewußten) Selbstanschauung geführt. Das Positive wird fortlaufend mit dem Negativen vermittelt – es handelt sich im Grunde um eine Art Kreisbewegung. Hegels spekulatives Denken läßt es demnach zu, daß sich die Erkenntnis des Absoluten nicht nur im metaphysischen Reich der Idee zuträgt, sondern sich in der empirisch erfahrbaren Welt ereignet: Leibliche Augen und geistige Augen fallen zusammen. Die alte Disziplin des philosophischen Naturrechts wird für Hegel zu einer Erfahrungswissenschaft der absoluten Sittlichkeit.34 Überblickt man also die frühen Hegelschen Aufsätze, so ist mit Sicherheit festzustellen, daß er die verschiedenen Autoren und Theorien nicht nur kritisiert, sondern – wie oben gezeigt – ganz konkrete Verbesserungsvorschläge unterbreitet und seine Kritik auf eigenen Vorarbeiten basiert. Das Thema der Sittlichkeit nimmt hierbei offensichtlich einen zentralen Platz ein. Daß sich dieses Interesse und Arbeitsgebiet nicht erst zufällig in Jena entwickelte, gilt durch die Existenz der sogenannten theologischen Jugendschriften als sicher: Schon damals hatte Hegel nämlich gefragt, wie das Positivwerden der Religion (ihr Erstarren in Institutionen der Kirche) zu erklären sei und die Religion wieder „subjektiv“ werden könne. Und auch damals ging es ihm um den lebendigen Zusammenhalt

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ein Naturunrecht seyn würde, indem bey der Zugrundelegung solcher Negationen als Realitäten die sittliche Natur in das höchste Verderben und Unglück versetzt wird.“ (IV 468) Vgl. Coppitiers 1994, 59.

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einer Gemeinde bzw. Gesellschaft. Weder sollte die Natur wie bei Fichte oder Kant zerstückelt, noch der Mensch als zerrissener in seiner Ohnmacht belassen werden: Jesus wurde hingegen als „Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen wollte“, interpretiert.35 Man kann also mit guten Gründen festhalten, daß Hegel sich in seinem System der Sittlichkeit der konsequenten Ausgestaltung eines ihm ureigenen Themas widmet.

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„Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wieder herstellen wollte, konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit des Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit Widerspruch der Neigungen handeln; denn beide Teile des Geistes (man kann bei diesem Zerrissensein des Gemüts nicht anders sprechen) befänden sich ja eben dadurch gar nicht im Geiste, sondern gegen den Geist der Gesetze, der eine, weil er ein Ausschließendes, also von sich selbst Beschränktes, der andere, weil er ein Unterdrücktes ist.“ (1/324)

II. Interpretation des Manuskripts – Darstellung, Kommentar, Einzelanalysen

Vorbemerkung zum Aufbau des Manuskripts: Das Verhältnis der drei Teile Im Interpretationsteil folgt nun eine detaillierte Rekonstruktion des Hegelschen Manuskripts, begleitet von gelegentlichen Exkursen, mittels derer sowohl Hegels Eigenständigkeit gegenüber der seinerzeit dominierenden Philosophie als auch die Verbindungen zur bestehenden Tradition verdeutlicht werden sollen. Zunächst zum generellen Aufbau des Hegelschen Systems der Sittlichkeit. Das Manuskript besitzt einen kurzen Vorspann („Einleitung“) und drei separate, von Hegel selbst als solche bezeichnete Hauptteile: Der erste Teil untersucht die natürliche Sittlichkeit, der zweite Teil behandelt die verschiedenen Negationen der natürlichen Sittlichkeit, der dritte Teil die absolute Sittlichkeit in ihren konkreten Ausformungen. Die wahrhaft absolute Sittlichkeit, so wie sie in der kurzen „Einleitung“ eigentlich nur postuliert wird, wird also erst im letzten (dritten) Teil erreicht und dargestellt. Die beiden ersten Teile dienen der Hinführung. Sie sind gerade deshalb so wichtig, weil sie das Entstehen und Fortbilden der sogenannten sittlichen Phänomene dokumentieren und in ihrer schrittweisen Entwicklung nachvollziehen. Außerdem verhält es sich natürlich nicht so, daß die in der Hinführung behandelten Themen und Bereiche außerhalb der sogenannten absoluten Sittlichkeit verblieben, sondern sie sind in dieser als bleibende Bestandteile in der mehrfachen Bedeutung des Wortes „aufgehoben“, sind Momente des Absoluten.1 So ist im dritten Teil rückblickend zu erfahren: „Die

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Vgl. Kimmerle 1982, 239: „In der Geistesgestalt der Sittlichkeit ist jedoch die natürliche Sittlichkeit mit ihren grundlegenden systematischen Unterscheidungen zugleich aufgenommen und zur Geltung gebracht.“ Vgl. außerdem Horstmann 1972, 112f.: Für Hegel sei mit der Sittlichkeit „zweierlei bestimmt: einmal daß alle Gestalten innerhalb dieser Sphäre als Gestalten oder Verhältnisse der Sittlichkeit auftreten müssen, und zum anderen daß der realisierte Begriff dieser Sphäre selbst die Sittlichkeit als das Absolute oder die absolute Sittlichkeit ist. Die Sphäre der Sittlichkeit […] kennzeichnet daher den Bereich, in dem sowohl die endlichen Bestimmungen der Sittlichkeit als auch die absolute Sittlichkeit ihren Ort haben. Und da die absolute Sittlichkeit als Einheit der Individuen im Volk verstanden wird, präsentiert Hegel als Lehre von den endlichen Bestimmungen der Sittlichkeit eine Theorie der Subjektivität, die in den einzelnen Indivi-

VORBEMERKUNG ZUM AUFBAU DES MANUSKRIPTS

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Bewegung des Ganzen ist eine beständige Trennung des Allgemeinen und besondern und eine Subsumtion des letztern unter das erste; dieses besondere aber ist die bestehende Trennung, und an ihm selbst deßwegen die Momente des absoluten, oder die Form als ausser und nebeneinander abgedrückt, und ebenso mannichfaltig bestimmt ist die Bewegung.“ (V 347) Gleiche Themen kehren immer wieder, doch handelt es sich, auch wenn der identische Begriff benutzt wird, dabei nicht um eine bloße Wiederholung.2 Diese Eigentümlichkeit Hegels, die der Sache geschuldet ist,3 läßt es nicht sinnvoll erscheinen, an dieser Stelle eine Themenübersicht der einzelnen Manuskriptteile zu geben.4 Daher soll nur der generelle Aufbau des Systems der Sittlichkeit skizziert werden. Zur Charakterisierung der Manuskriptteile kann man in womöglich kürzester Form sagen: In der Entwicklung zur konkreten Allgemeinheit der absoluten Sittlichkeit – dargeboten im dritten Teil – stellt der erste Teil des Manuskripts (der die natürliche Sittlichkeit umfaßt) die Allgemeinheit dar, wie sie in der Besonderheit sich entwickelt, der zweite Teil, wie sich diese Allgemeinheit in der Abstraktion erhält und sogar erweitert.5 Aufgabe des ersten Teils im Zusammenhang des Systems ist es aufzuzeigen, wie aus der ursprünglichen, noch ganz naturhaften Bedingtheit des Menschen jene Vielfalt von Tätigkeiten und Gemeinschaftsformen hervorgeht, die sich in der modernen Gesell-

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duen bzw. deren Verhältnissen die abstrakten und insofern endlichen Momente der allgemeinen Sittlichkeit sieht.“ Haering hat diese Hegelsche Darstellungsart, nämlich für verschiedene Stufen der Entwicklung eines Phänomens dieselben Namen zu verwenden, als eine „schon das Wortverständnis hier oft erschwerende Gewohnheit Hegels“ bezeichnet. Es „wird der Sinn eines Wortes nur durch seine eindeutige systematische Stelle und Einreihung bestimmt, niemals umgekehrt der gemeinte Inhalt durch den bloßen Namen. Diese terminologische Eigenheit Hegels wurzelt […] in dem Wissen Hegels darum, daß ja überall eine Entwicklung des absoluten Geistes vorliegt, bei dem ebendeshalb jede Entwicklungsstufe zu jeder anderen führt und führen muß.“ Hegel wisse, „daß keine dieser Teilentwicklungen ohne die Aufrollung der Entwicklung des Ganzen und in diesem Ganzen wirklich vollständig gegeben werden kann, auch wenn der Ausgangs- und Gesichtspunkt dabei jeweils ein etwas anderer ist und darum auch den Aufbau beherrscht“. (Haering 1938, Bd. 2, 350f.) Dies muß für das Textverständnis unbedingt berücksichtigt werden, will man nicht schon nach wenigen Seiten aufgeben. Vgl. schon Gabler über Mißverständnisse zu Hegels Lehrzeiten: „Es fehlte […] nicht an Studenten, deren gemeiner, natürlicher, aber fester Verstand sich entschieden gegen diesen ‚Unsinn‘ aussprach.“ Hegel-Studien 4 (1969), 68. Vgl. die berühmten Sätze aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, IX 19: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn.“ Möchte man aus Gründen der Übersichtlichkeit und Information auf eine vorherige inhaltliche Orientierung nicht gänzlich verzichten, so kann man ungefähr folgendes festhalten: erster Teil: Bedürfnis, Arbeit, Werkzeug, Geschlechtsgemeinschaft, Eltern – Kind, Sprache, Arbeitsteilung, Handel, Herrschaft und Knechtschaft, Familie; zweiter Teil: physische Vernichtung, Raub, Diebstahl, Unterjochung, Mord, Rache, Kampf, Krieg, Frieden; dritter Teil: Tugend, Ständeordnung, Staatsverfassung, Regierung. Vgl. Göhler 1974, 394.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

schaft vollendet. Dieser systematische Gesichtspunkt bildet die innere Einheit der behandelten Themenkomplexe und diktiert ihre Auswahl.6 Im ersten Teil werden alle Themen oder Bereiche prinzipiell stets unter dem Aspekt der Einzelheit betrachtet. Im Grunde werden verschiedene elementare Akte des Verhältnisses, in welchem der Mensch zur natürlichen Natur steht, untersucht, aber auch schon diejenigen Akte, in denen er sich über sie zu erheben beginnt. Dabei wird das Verhältnis diffizil aufgeschlüsselt, die einzelnen Momente werden genau festgehalten, aber eben nur als isolierte Momente, d. h. noch abstrakt. Zwar, und das ist das Besondere, gibt es innerhalb dieses Teils eine Entwicklung vom Einfachen (überhaupt der ersten, primitivsten Regung) hin zu reicheren und komplexeren Beziehungen, doch verbleiben alle von Hegel aufgezeigten Entwicklungsstufen vorerst „in Ruhe“, sind noch „unbewegt“, nur erst als Momente unterschieden und noch nicht danach betrachtet, wie sie sich in der realen Geschichte auswirken und darstellen. Dieses will der zweite Teil leisten. In ihm wird Hegels Realitätssinn augenfällig. Ohne Scheu konstatiert er die wirklichen historischen Vorgänge, sieht den Kampf um Macht mit all seinen Begleitumständen wie Verwüstung, Raub, Mord, Krieg.7 Hegel verschließt vor der realen Gewalttätigkeit, den kriegerischen Auseinandersetzungen nicht die Augen, er steht in gewisser Weise in der Tradition von Machiavelli und Hobbes. Der dritte Teil soll hingegen die Einheit all dieser verschiedenen Momente aufzeigen. War schon der zweite Teil die Entgegensetzung zum ersten Teil, so entsteht der dritte Teil erneut als eine Aufhebung des zweiten Teils, in anderer Weise auch des ersten Teils. Hegel versucht, die Einheit des konstitutionell monarchisch regierten Rechtsstaates aus den differenten Elementen der verschiedenen Subsysteme dieses Gesamtsystems zu rekonstruieren.8 Die Bewegung im Manuskript vollzieht sich über Entgegensetzungen; es hat eigentlich eine antinomische Struktur. Die einzelnen Teile sind jeweils die Negation der vorherigen. Negation heißt bei Hegel natürlich niemals einfach Vernichtung, sondern es bleibt stets etwas „aufgehoben“. Im Manuskript findet sich eine Stelle, die genau diese Bewegung der Negation9 und Aufhebung thematisiert: der Beginn des zweiten Teils. Dieser soll hier Beachtung erfahren, da er für den Zweck einer Gesamtübersicht10 in Hegels eigenen Worten sehr geeignet ist. 6

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„Der Erste Teil des Systems der Sittlichkeit ist am schwersten zu verstehen. Er enthält sozusagen die Kategorienlehre dieses Systems. Eigentum, Recht, Familie usw. sind hier nur formale Bestimmungen, noch keine Wirklichkeit. Die Wirklichkeit breitet sich in unmittelbarer Anschauung darunter aus.“ Glockner 1940, 385. Vgl. die Überschrift des zweiten Teils: „Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen.“ Vgl. Zimmerli 1981, 272. Zur Bedeutung des Begriffs „Negation“ in Hegels Denken vgl. einführend Dieter Henrich, „Hegels Grundoperation“, in: Der Idealismus und seine Gegenwart, hg. v. Ute Guzzoni, Bernhard Rang und Ludwig Siep, Hamburg 1976, 208–230. Vgl. außerdem Bonsiepen 1977. Hegel hat sich neben der in der „Einleitung“ gegebenen Übersicht auch jeweils zu Beginn der drei Teile über den Verlauf des Manuskripts Rechenschaft abgelegt. Diese relativ kurzen Textteile sind eine gute Orientierungshilfe und erleichtern das Verständnis des sonst mitunter spröden Textes erheblich.

VORBEMERKUNG ZUM AUFBAU DES MANUSKRIPTS

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Hier ordnet Hegel nur scheinbar nebenbei11 die einzelnen Teile des Manuskripts, vergegenwärtigt sich erneut den Gang der Argumentation. Zunächst blickt er auf die natürliche Sittlichkeit (d. h. den ersten Teil) zurück und stellt fest: „alle Potenzen drükken Bestimmtheiten aus, und die Indifferenzen sind formell, Allgemeinheit der Besonderheit entgegengesetzt; oder die Besonderheit nur in Beziehung auf niedrigere Besonderheiten indifferentiirt; und diese Indifferenzen selbst wieder Besonderheiten. Es ist also schlechthin keine absolut, jede kann aufgehoben werden“ (V 309f.).12 Hegel gibt an dieser Stelle, gewissermaßen als Kontrast, eine Art Vorschau auf die absolute Sittlichkeit (dritter Teil), wo diese Entgegensetzungen – welche, wenngleich in anderer Weise, auch noch den gesamten zweiten Teil auszeichnen – schließlich aufgehoben sein werden. Die Aufhebung der Bestimmtheiten und der bestehenden Gegensätze (des ersten Teils) kann nämlich auf zweierlei Art erfolgen: Entweder das Aufheben ist „negativ“: Dann (und das gilt für den zweiten Teil) ist sie „selbst Aufhebung gegen die Aufhebung, Entgegensetzung gegen die Entgegensetzung, aber so daß die Idealität, die Form gleichfalls in ihr besteht, aber in umgekehrtem Sinne, nemlich, daß sie das ideelle Bestimmtseyn der Einzelnheit festhält, und es so als ein negatives bestimmt; also seine Einzelnheit und sein Entgegengesetztseyn bestehen läßt, den Gegensatz nicht aufhebt, sondern die reale Form in die ideelle umwandelt“. (V 310)13 11

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Vgl. Hans-Georg Gadamer, „Die verkehrte Welt“, in: Gesammelte Werke, Band 3, Tübingen 1987, 29–46, dort 30: „Anspruch auf Notwendigkeit des dialektischen Fortgangs realisiert sich und verifiziert sich immer wieder, wenn man genau liest. Genau lesen hat nämlich bei Hegel immer – und nicht nur bei ihm – die merkwürdige Folge, daß genau das, was man in mühsamen Interpretationsversuchen des gelesenen Abschnittes gerade herausbekommen hat, im folgenden Abschnitt des Textes ausdrücklich geschrieben steht. Das ist die Erfahrung, die jeder Leser Hegels machen wird; je mehr er sich den Inhalt des Gedankenganges expliziert, den er gerade vor sich hat, desto sicherer kann er sein, daß im folgenden Abschnitt des Hegeltextes diese Explikation selber folgt. Das schließt ein (und das hat für das Wesen der Philosophie zentrale Bedeutung, ist aber vielleicht nirgends so greifbar wie bei Hegel), daß eigentlich immer vom Selben die Rede ist und daß auf verschiedenen Niveaus der Explikation sich als der eigentliche und einzige Gegenstand oder Inhalt das Selbe darstellt und herausstellt.“ Der Rückblick auf das „bisherige“ macht klar, daß das Absolute noch nicht erreicht, sondern bislang nur unter den Begriff subsumiert ist. Vgl. die ähnliche Form der Rückschau in der Phänomenologie des Geistes, IX 239: „Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseyns sind Abstractionen desselben [des Geistes]; sie sind diß, daß er sich analysirt, seine Momente unterscheidet, und bey einzelnen verweilt. Diß Isoliren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es existirt nur in ihm, der die Existenz ist. Sie haben so isolirt den Schein, als ob sie als solche wären; aber wie sie nur Momente oder verschwindende Größen sind, zeigte ihre Fortwälzung und Rückgang in ihren Grund und Wesen; und diß Wesen eben ist diese Bewegung und Auflösung dieser Momente.“ Glockner hat den zweiten Teil unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß Hegel damit sowohl den Mangel als auch die relative Berechtigung der Transzendentalphilosophie demonstriert habe. „Der Zweite Teil entspricht gewissermaßen der Transzendentalphilosophie. Hier herrscht die Freiheit als abstraktes Prinzip. Sie vernichtet die Einzelnheit, und läßt sie doch zugleich rein-negativ auf der Gegenseite liegen – völlig ebenso, wie es Hegel Kant zum Vorwurf gemacht hatte. Der wichtigste Gedanke könnte jedoch noch schärfer herausgearbeitet sein: daß nämlich die bloß moralische Haltung des Gewissens das Leben ebenso verletzt wie ein gewaltsamer Eingriff. Hier wie dort ist im

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Oder das Aufheben ist absolut, so daß (und das gilt für den dritten Teil) folgt: „[D]as negative wird nicht fixirt, ist nicht im Gegensatze, und so ist es im Absoluten; die absolute Sittlichkeit erhebt sich über die Bestimmtheit, dadurch daß es sie aufhebt, aber so daß es sie in einem höhern mit ihrem Entgegengesetzten vereinigt, also nicht in Wahrheit es bestehen läßt, und nur mit negativer Bedeutung setzt [wie noch im zweiten Teil – d. A.]; sondern durch die vollkommne Identität mit seinem Gegenteil seine Form, oder Idealität aufhebt, gerade ihm das negative nimmt, und es absolut positiv oder reell macht.“ (V 310)14 Diese vollkommene Identität wird aber im zweiten Teil gerade nicht erreicht. Die durch die negative Aufhebung negierten Bestimmungen der natürlichen Sittlichkeit werden hier noch nicht in einem Höheren vereinigt. Der zweite Teil dokumentiert dafür eindrucksvoll die Folgen derartiger Entgegensetzungen und macht deutlich, daß und wie auch in ihnen die (verletzte) Allgemeinheit noch am Werk ist und sich erhält. Von Interesse für den Aufbau des Manuskripts sind vor allem die an die negativen Aufhebungen gekoppelten Rückwirkungen und einsetzenden Bewußtseinssteigerungen bzw. Erweiterungen der Erfahrung (z. B. Kampf, Rache, Krieg). Die Negationen werden von Hegel also nicht als ein lediglich bedauernswertes Übel abgetan, sondern sie sind als Bewegungsmoment einer Gesellschaft unverzichtbar. Freilich, auch das wird deutlich, bedürfen sie einer Einbindung. Keinesfalls nämlich dürfen sich diese Entgegensetzungen absolut setzen, sonst ist der sittliche Zusammenhalt verloren. Diese Aufgabe sucht der dritte Teil zu lösen. Zu Beginn des dritten Teils erfolgt wiederum ein Resümee des bislang Erreichten sowie ein Ausblick auf das noch zu Leistende. Ob Hegel wirklich einlöst, was er konzipiert, ist eine andere Frage. M. E. steht der dritte Teil in einer deutlichen Differenz zu dem bis dorthin klar nachvollziehbaren Hegelschen Vorgehen und ist jedenfalls nicht die versprochene aufgezeigte Indifferenz der ersten beiden Teile.15

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Grunde keine Versöhnung möglich.“ (Glockner 1940, 386) Vgl. System der Sittlichkeit, V 310f.: Für den zweiten Teil gilt nach Hegel: „[D]as reelle wird gesetzt als ein ideelles; es ist durch die reine Freyheit bestimmt. Es ist dieselbe Umwandlung, wie wenn die Empfindung als Gedanke gesetzt wird; es bleibt dieselbe Bestimmtheit; das empfundene roth bleibt gedachtes roth; aber das gedachte ist bestimmt zugleich als ein vernichtetes, aufgehobenes negatives“. Vgl. auch Siep 1981, 284: „Die absolute Sittlichkeit wird also in Hegels System aus der Negation ihres eigenen Andersseins, das zugleich ihre Erscheinung ist, entwickelt. Diese Negation ist […] eine doppelte: im zweiten Teil, der ‚am wenigsten […] sittlich‘ ist, wird die Sittlichkeit ‚nach dem Verhältnis‘ bzw. ‚als Natur‘ einer ersten, einfachen Negation unterzogen, die sie durch ihr sich selber ‚fixierendes‘ Gegenteil ersetzt. Im dritten Teil, der erst den Titel ‚Sittlichkeit‘ trägt, wird sie mit ihrem Entgegengesetzten in einem ‚Höheren‘ vereinigt.“ Und es fällt auch auf, daß gerade in diesem (schließlich abbrechenden) dritten Teil die Verben „müssen“ und „sollen“, ebenso das „schlechthin“ immer häufiger vorkommen. An die Stelle der sorgfältigen Phänomenanalyse tritt zunehmend ein Postulieren und Anordnen. Honneth, der unter einem eigenen und eingeschränkten spezifischen Gesichtspunkt (nämlich dem der Anerkennung) das System der Sittlichkeit zu rekonstruieren sucht, sieht an dieser Stelle im Manuskript ebenso ein Abbrechen des bisherigen Argumentationsfadens und meint, daß die fruchtbaren Gedankengänge von Hegel im restlichen Fragment nicht mehr verfolgt würden: „[D]er Text beschränkt sich von nun an auf eine Darstellung der organisatorischen Elemente, die das politische Verhältnis der ‚ab-

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Im Moment wird Hegels eigenes Konzept jedoch nur rekonstruiert, noch nicht kritisiert. In der Rückschau auf die ersten beiden Teile stellt Hegel von der natürlichen Sittlichkeit und von der „Freiheit“ des zweiten Teils fest, daß die absolute Natur „in keinem in Geistesgestalt, und darum auch nicht als Sittlichkeit vorhanden [ist]; weder die Familie noch viel weniger die untergeordneten Potenzen, am wenigsten das negative ist sittlich“.16 (V 324) Als Aufgabe wird dagegen festgehalten, daß die Sittlichkeit „mit völliger Vernichtung der Besonderheit und der relativen Identität, deren das Naturverhältniß allein fähig, absolute Identität der Intelligenz seyn [muß]; oder die absolute Identität der Natur muß in die Einheit des absoluten Begriffs aufgenommen, und in der Form dieser Einheit vorhanden seyn […] also die Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung, völlige Indifferenz des Selbstgenusses“. (V 324) Erst dadurch werde gewährleistet, daß der unendliche Begriff „allein schlechthin Eins mit dem Wesen des Individuums, und dasselbe in seiner Form als wahre Intelligenz vorhanden“ ist. (V 324) Es geht also, wie Hegel es in der „Einleitung“ des Manuskripts schon angekündigt hatte, um „das absolute Einsseyn der Individualitäten“. (V 279) Durch die „Vernichtung“ aller seiner Bestimmtheiten wird das Individuum unendlich. Empirische und intellektuelle Anschauung sollen gerade nicht auseinanderfallen: „[D]ie Augen des Geistes und die leiblichen Augen fallen vollkommen zusammen; der Natur nach sieht der Mann Fleisch von seinem Fleisch im Weibe, der Sittlichkeit nach allein Geist von seinem Geist in dem sittlichen Wesen, und durch dasselbe.“ (V 324) Hieran ist sehr gut die neue Stufe zu erkennen, die in der Sittlichkeit im dritten Teil erreicht wird. Dies um so mehr, wenn man die Stelle mit dem zur Familie Ausgeführten vergleicht: Zwar ist auch schon die Familie eine Totalität (in welcher alle Naturpotenzen vereinigt sind), doch die Anschauung ist auf dieser Ebene noch zugleich im Verhältnis: „[D]as sich reell objectiv anschauen des Individuums in dem andern ist mit einer Differenz behafftet; das Anschauen im Weibe, im Kinde und im Knechte ist keine absolute vollkommene Gleichheit; sie bleibt eine innere, nicht herausgebohrne, unausgesprochene; es ist eine Unüberwindlichkeit des Begreiffens der Natur darin“. (V 323) Augenscheinlich muß sich der Geist über die Natur erheben. Wächst er aber aus ihr hervor oder ist er das schlechthin andere?17 Hier schwankt der Text noch. Später wird sich Hegel kategorisch ausdrücken: „Die Vereinigung von Freiheit und Nothwendigkeit

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soluten Sittlichkeit‘ kennzeichnen sollen. Dadurch bleiben die Schwierigkeiten und Probleme […] auch bis zum Ende des Textes offen.“ (Honneth 1992, 45; Hervorhebung von mir.) Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 437: „[W]o aber eine Bestimmtheit und Einzelheit zu einem Ansich erhoben wird, da ist Vernunftwidrigkeit, und in Beziehung aufs sittliche, Unsittlichkeit gesetzt.“ Vgl. das wenig später entstandene Vorlesungsfragment von 1803 „Das Wesen des Geistes“: „Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selber kommt Der Geist ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn; ein aus dem vernichten herkommen und so in diesem idealen Elemente, dem Nichts, das er sich bereitet hat, sich frey zu bewegen und zu geniessen. Der Geist ist nur das Aufheben seines Andersseyn; diß andere, als er selbst ist, ist die Natur; der Geist ist nur das sich aus diesem Andersseyn zu einem sich selbst gleichen macht. Sein Wesen ist nicht die Sichselbstgleichheit, sondern sich zu einem sichselbst gleichen zu machen. Er macht sich nur zu einem sich selbstgleichen, indem er sein Andersseyn, die Natur aufhebt. […] Indem der Geist die Natur als sich erkennt, und ihren Gegensatz aufhebt, findet er in ihr sich selbst, kommt zu sich selbst.“ (V 370)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

ist nicht durch die Natur, sondern durch die Freiheit hervorgebracht. Die natürlichen Dinge bleiben wie sie sind, haben sich nicht vom Gesetz losgemacht, um sich selbst Gesetze zu machen. Der Geist aber reißt sich von der Natur los und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst. Also ist Natur nicht das Leben des Rechts.“18 Erst in der absoluten Sittlichkeit des dritten Teils ist nach Hegel der Zielpunkt erreicht, daß das dem lebendigen Individuum zugehörige empirische Bewußtsein „eins sey mit dem absoluten und das absolute Bewußtseyn selbst empirisches Bewußtseyn“. (V 324) Wie kann es aber überhaupt dazu kommen? Hegel antwortet, daß dieses völlige Gleichsein allein möglich sei „durch die Intelligenz, oder den absoluten Begriff, nach welchem das lebendige Wesen, als Gegentheil seiner selbst als Object [ist]; diß Object ist selbst absolute Lebendigkeit und absolute Identität des einen und vielen, nicht wie jede andere empirische Anschauung unter ein Verhältniß gesetzt, der Nothwendigkeit dienend, und als beschräncktes, die Unendlichkeit ausser sich habend gesetzt ist“. (V 324f.) Hegel unterscheidet also selbst das (gewöhnliche) „nicht sittliche empirische Bewußtseyn“ von demjenigen empirischen Bewußtsein, wo „die absolute Identität, die vorher der Natur und etwas inneres war, ins Bewußtseyn herausgetreten“ ist. (V 325) Um diese Identität zu erkennen, bedarf es (wie ausgeführt) der Intelligenz. Das Individuum erkennt sich in seiner Stellung im und seinem Eingebundensein ins Ganze, erfährt sein Dasein als getragen von diesem Zusammenhang, „indem jede Einzenlheit des Handelns oder Denkens oder Seyns ihr Wesen und Bedeutung ganz allein im Ganzen hat, und insofern ihr Grund gedacht, ganz allein dieses gedacht wird, und das Individuum keinen andern weiß und sich einbildet“. (V 325) Und so kann Hegel auch sagen: „In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Seyn und Thun ist ein schlechthin allgemeines; denn es ist nicht das individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm.“ (V 325)19 Hegel löst im dritten Teil formal durchaus ein, was er in der „Einleitung“ und an verschiedenen Stellen im Manuskript über die absolute Sittlichkeit ausgesagt hatte: In dieser Hinsicht stehen die Teile in einem konsequenten Zusammenhang. Das Manuskript läßt eine fortlaufende Steigerung erkennen von den elementaren, noch ganz 18

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Carl Gustav Homeyers Nachschrift der Hegelschen Vorlesung „Natur- und Staatsrecht“ im Winterhalbjahr 1818/19. In: Karl-Heinz Ilting (Hg.), G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973, 239. Vgl. § 4 der Rechtsphilosophie: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige“. Daß diese Denkfigur auf der begrifflichen Vorarbeit Kants, Fichtes und Schellings beruht, Hegels Philosophie vom Gedanken des mit sich identischen Ich ihren Ausgang nimmt, hat Riedel prägnant dargestellt: „Ich ist keine leere Einheit, sondern, nach dem systematischen Aufbau des Begriffs, die Einheit dreier in sich unterschiedener Momente: erstens – und das ist der Sinn des ‚Ich denke‘ bei Kant – die reine sich auf sich beziehende Einheit, die durch die Abstraktion von allem Inhalt in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht und sich als Allgemeinheit bestimmt; zweitens das absolute Bestimmtsein, welches sich anderem gegenüberstellt und es ausschließt, Einzelnheit oder individuelle Persönlichkeit; und drittens die absolute Allgemeinheit, die ebenso unmittelbar absolute Vereinzelung ist – die konkrete Struktur des Ich, die Hegel mit der Struktur des Begriffs gleichsetzt: Allgemeines und Einzelnes in einem zu sein. ‚Geist‘ ist die dialektische Entfaltung dieser Struktur zu jenem Gesamtbewußtsein, das Hegel zur Erklärung der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt und ihrer Veränderungen benutzt.“ (Riedel 1973, 56)

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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naturgebundenen Akten der bloßen Reproduktion des Menschen (zu Beginn des ersten Teils) hin zu den gesellschaftlichen Interaktionen mit zunehmenden Allgemeinheitsstufen und schließlich zu den komplexen staatlichen Institutionen, in denen sich die absolute Sittlichkeit verkörpert findet (dritter Teil).

5.

Der erste Teil des Manuskripts: Die natürliche Sittlichkeit („Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ)

5.1. Rekonstruktion des Inhalts und Gedankengangs des ersten Teils 5.1.1. Äußere Gliederung Der erste Teil des Hegelschen Manuskripts, der die Sittlichkeit nach dem Verhältnis oder die natürliche Sittlichkeit darstellen soll, ist dem oben beschriebenen Modell zufolge in verschiedene Potenzen unterteilt.1 Angesichts des verbreiteten Desinteresses an dem Hegelschen Text, das wesentlich durch die mit der spezifischen Methode verbundenen Leseschwierigkeiten verursacht ist, gestatte ich mir, in diesem Abschnitt daher vor allem den materialen Reichtum des Manuskripts zu betonen. Was die Inhalte betrifft, kann man beinahe sagen, hier stecke bereits ‚der ganze Hegel‘ drin. Da es sich um die erste erhaltene Fassung der Geistesphilosophie handelt, sind einige der Motive noch genauer und unverstellter zu erkennen – viele behält Hegel zeitlebens bei. Im System des Sittlichkeit ist demnach ausgezeichnet zu studieren, wie, warum und in welchem Zusammenhang zentrale Themen der Hegelschen Philosophie entstanden sind. Der gesamte erste Teil ist in zwei Potenzen geschieden, die Hegel mit den Großbuchstaben A und B kennzeichnet. B wird von Hegel selbst überschriftartig bestimmt als „Zweyte Potenz der Unendlichkeit, Idealität, im formellen, oder in dem Verhältniss“ und sodann charakterisiert als „das Hervortreten des ideellen und das Bestimmtwerden des besondern oder einzelnen durch dasselbe“. (V 296) Hegel grenzt diese zweite Potenz B (die nach seiner Gliederung den gesamten weiteren Verlauf des ersten Teils umfaßt) von der ersten Potenz A selbst ab und liefert ein gute Interpretationshilfe: „[W]ie in der vorigen Potenz das einzelne, so ist hier das allgemeine herrschend; in der ersten bleibt dieses versteckt ein inneres“. (V 296) Damit ist treffend bezeichnet, unter welchem leitenden Aspekt Hegel die zwei „Hauptpotenzen“ voneinander scheidet.2 1

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Ich werde in der folgenden inhaltlichen Rekonstruktion nicht auf den Sinn der Verknüpfung der verschiedenen Subsumtionsstufen, Unterpotenzen oder auch vorläufigen Indifferenzstufen eingehen, sondern zunächst zum Zwecke der Übersicht die unterschiedlichen Themen detailliert darstellen. Da dem Verlauf des Manuskripts gefolgt wird, sind hierbei zur besseren Orientierung die von Hegel gewählten Zuordnungen zugleich aufgelistet. Hegels Unterscheidung der verschiedenen Elemente, Potenzen usw., seine analytisch feingliedernde Methode mögen als ein Herumtreiben in Spitzfindigkeiten erscheinen, doch ermöglicht diese

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Die formale Zuordnung zu je einer Subsumtionsstufe wird von Hegel genannt: Die zweite Potenz B „ist die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff“ (V 296); unmittelbar auf die Bezeichnung A folgt hingegen unmißverständlich: „Die erste Potenz ist die natürliche Sittlichkeit als Anschauung; die völlige Differenzlosigkeit derselben, oder das subsumirtseyn des Begriffs unter die Anschauung“. (V 281) Diese Zuordnung deckt sich auch mit Hegels methodischer Vorbemerkung zum gesamten ersten Teil, wo verlangt wird, es müsse die natürliche Sittlichkeit (was von Hegel synonym verwendet wird für die „absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ) in einer Weise betrachtet werden, „so daß der Begriff unter die Anschauung und so daß die Anschauung unter den Begriff subsumirt ist“ und sogleich präzisiert wird: „[I]n jenem ist die Einheit, das Allgemeine das innre, in diesem tritt sie gegenüber und ist wieder im Verhältniß mit dem Begriff oder dem Besondern.“ (V 280) Da Hegel unmittelbar zuvor ausdrücklich von der Notwendigkeit des Einteilens des ersten Teils spricht, sind hiermit mit großer Wahrscheinlichkeit die beiden Hauptpotenzen A und B gemeint. Für beide Hauptpotenzen (und damit den gesamten ersten Teil) gilt in jedem Fall: „In beyden ist die Sittlichkeit ein Trieb“. (V 280) Diese etwas verblüffende Definition von Sittlichkeit bezieht sich lediglich auf einen ihrer Aspekte, nämlich den, der im ersten Teil des Manuskripts behandelt wird.3

5.1.2. Die erste Hauptpotenz (A) 5.1.2.1. a) Praktische Potenz (Gefühl) Wie beginnt nun tatsächlich nach den verschiedenen Hegelschen Ankündigungen bezüglich des methodischen Vorgehens (in der sogenannten „Einleitung“) die systematische Rekonstruktion der Sittlichkeit im Manuskript? Es wurde bereits dargestellt, daß die erste Potenz die natürliche Sittlichkeit als Anschauung sei (wobei Hegel „Anschauung“ optisch noch durch Unterstreichung hervorgehoben hatte). Hegel beschreibt die sittliche Natürlichkeit als „eine Enthüllung, ein Auftreten des allgemeinen gegen das Besondere, aber so daß dieses Auftreten selbst völlig ein besonderes, das identische […] ganz verborgen bleibt“. (V 281) Die allererste „Anschauung ist als so ganz versenkt in das einzelne Gefühl; und wir wollen diß die praktische Potenz nennen“. (V 281) Um falschen Assoziationen vorzubeugen, fügt Hegel sofort hinzu, daß es sich bei der praktischen Potenz, dem Gefühl, nicht um „das, was man das sittliche Gefühl nennt“, handelt.4 Vielmehr definiert er das Wesen der praktischen Potenz so, daß das

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formale Präzision die Breite des behandelten Stoffs und dessen Einbindung in einen komplexen, dann auch ‚lebendigeren‘ Zusammenhang. Vgl. hierzu auch die Bemerkung aus der „Einleitung“ zum ersten Teil, worin der Aspekt des „darnach treibende[n], als Trieb, Streben“ (V 280) vorangekündigt wird. Vgl. auch die in der Auseinandersetzung mit Fichtes System der Sittenlehre geschriebenen Passagen der Differenzschrift, die Anschluß und Distanz zu Fichte dokumentieren: „[D]ie begränzte objektive Thätigkeit ist der Trieb; die begränzte subjektive, ist der Zwekbegriff. Die Synthese dieser gedoppelten Bestimmtheit ist Gefühl; in ihm ist Erkenntnis und Trieb vereinigt. Zugleich aber ist Fühlen ein lediglich subjektives, und im Gegensatz gegen Ich = Ich, gegen das Unbestimmte erscheint es allerdings, als ein bestimmtes überhaupt, und zwar als ein subjektives im Gegensatz ge-

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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Gefühl „eine Differenz [ist], die nicht anders aufzuheben ist, als durch ihre Negation“. Daß es sich hierbei wirklich um „praktische“ Sachverhalte handelt, wird durch die sehr klare Definition deutlich: „Das Gefühl der Trennung ist das Bedürfniß; das Gefühl als Aufgehobenseyn derselben der Genuß.“ (V 281) Hegels methodischer Rahmen erfordert nun eine Darstellung, in welcher das „Gefühl, das auf Aufheben der Trennung der Subjectivität und Objectivität geht“, sich „selbst […] als Totalität darstellen“ muß. (V 282) Aus dieser Vorgabe resultiert die anschließende Darstellung, nämlich „Gefühl a) den Begriff subsumirend b) unter den Begriff subsumirt“. Damit ist, trotz der verwirrend vielen weiteren Unterteilungen, völlig klar, daß es sich bei den Teilen a und b der Potenz A durchweg um die nähere Bestimmung der „praktischen Potenz“ handelt. Indem in a „das Gefühl dargestellt wird, als subsumirend den Begriff“, beansprucht Hegel: „[S]o ist der formale Begriff desselben dargestellt“. (V 282) Auf diese Weise erhält Hegel eine erste Trias, deren Bestandteile er mit griechischen Kleinbuchstaben voneinander abgrenzt: α) Bedürfnis, β) Arbeit, γ) Genuß. Bedürfnis und Genuß hatte Hegel bereits oben definiert, wobei er hier für den Genuß noch anfügt, daß er nicht nur Gefühl schlechthin, sondern „bewußtes Gefühl [ist] d. h. eines[, das] aus der Differenz herkommt“. (V 282) Der Umstand des „Her[vor]kommens“ aus der Differenz ist Hegel wichtig. Man kann dies auch an der Anordnung der Trias zeigen. Zwischen Bedürfnis und Genuß plaziert Hegel die Arbeit, welche er als „negative“ Differenz, nämlich als „die Differenz gegen diese Trennung“ (die dem Bedürfnis eigen ist), und als „Vernichtung der Trennung“ bezeichnet. (V 282) Deutlich wird der aktivistische Charakter der Arbeit und „Bemühung“ (wie Hegel hier auch sagt). Sie ist „ein Vernichten des subjectiven und objectiven“ und – was für die Subjektkonstitution von Belang ist – ein Vernichten „der empirischen objectiven Anschauung, nach der das Object des Bedürfnisses ausserhalb ist“. (V 282) In der genaueren Durchführung wird dieser Aspekt deutlicher begründet und damit zugleich verständlich, auf welch elementarer Ebene sich das hier Geschilderte vollzieht. Im Grunde geht es zunächst einmal nur um die Sicherstellung des Überlebens durch Triebbefriedigung, nämlich das Aufnehmen von Nahrung. Unmißverständlich führt Hegel aus, was an dieser Stelle unter „Bedürfniߓ zu verstehen ist: „Essen, Trinken“. (V 283) Und auch der Genuß wird als „rein sinnliche[r]“ beschrieben, „die Sättigung, welche die Wiederherstellung der Indifferenz und Leerheit gen Ich als Objektives; es erscheint als ein endliches überhaupt sowohl gegen die unendliche reelle Thätigkeit, als gegen die ideelle Unendlichkeit, im Verhältniß zur letztern als ein Objektives. Aber für sich ist Fühlen als Synthesis des subjektiven und objektiven, der Erkenntniß und des Triebes charakterisirt worden, und weil es Synthesis ist, fällt sein Gegensatz gegen ein Unbestimmtes weg, dieß Unbestimmte sey nun eine unendliche objektive oder subjektive Thätigkeit; es ist überhaupt nur endlich für die Reflexion, die jene Entgegensetzung der Unendlichkeit producirt; an sich ist es gleich der Materie, subjektives und objektives zugleich, Identität, insofern diese sich nicht zur Totalität rekonstruirt hat. [Letzte Hervorhebung von mir; Hegel sucht dies im System der Sittlichkeit zu zeigen.] Gefühl sowohl als Trieb erscheinen als begränzte und die Äusserung des Begränzten und der Begränzung in uns ist Trieb und Gefühl; das ursprüngliche bestimmte System von Trieben und Gefühlen ist die Natur. Da das Bewußtseyn derselben sich uns aufdrängt, und zugleich die Substanz, in welcher dieses System von Begränzungen sich findet, diejenige seyn soll, welche frey denkt, und will, und die wir als uns selbst setzen, ist es unsere Natur, und Ich und meine Natur machen das subjektive Subjektobjekt aus, meine Natur ist selbst im Ich.“ (IV 48f.)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

des Individuums ist, oder seiner blossen Möglichkeit, sittlich oder vernünftig zu seyn“. (V 283) Das Bedürfnis ist hier also ein „Gefühl, das ganz der Natur angehört“. (V 283) Für den Aufbau des Systems der Sittlichkeit ist es nur wichtig, daß es dieses Gefühl als naturgegebenes Bedürfnis gibt und daß es befriedigt werden muß, um den Menschen die Möglichkeit zu erhalten, „sittlich oder vernünftig zu seyn“. Da es aber gänzlich der Natur zuzuschreiben ist, kann Hegel – immer sein Ziel vor Augen – sagen, daß „dessen Mannichfaltigkeit und System zu begreiffen nicht hieher gehört“. (V 283) Die hier beschriebenen Vorgänge sind für Hegel unter einem anderen Aspekt wesentlich, als Auslöser eines Prozesses, den er als „sittlichen“ zu fassen sucht; diesbezüglich haben sie eine Relevanz, wenngleich es zunächst bei „eine[r] völligen Indifferenz des Subjects, für das sittliche ohne herausheben einer die entgegengesetzten in sich vereinigenden Mitte“ bleibt, wodurch laut Hegel „das Zurücknehmen des Anschauens in sich selbst nicht, also kein Erkennen seiner in demselben ist“. (V 283) Obwohl es nicht zu einer Subjekterkenntnis kommt, führt der Arbeits- oder Bemühungsprozeß in seinem Resultat, dem Genuß als bewußtem Gefühl, doch dazu, daß in ihm, da „er aus der Differenz herkommt, […] ein Bewußtseyn der Negativität des Objects, in ihm ist“. (V 283) Hegel nimmt den Nahrungstrieb, der eine Differenz anzeigt, zum Ausgangspunkt einer Bewegung: „[D]urch diese Differenz ist unmittelbar ein inneres und aüsseres gesetzt, und diß aüssere schlechthin bestimmt nach der Bestimmtheit des Gefühl (eßbares, trinkbares).“ Das Bedürfnis selbst verursacht also nicht nur eine bestimmte Strukturierung der Umgebung, sondern führt auch zur Spaltung in ein „inneres und aüsseres“. Das Äußere erscheint nicht als Allgemeines, sondern es „hört hiedurch auf ein allgemeines, identisches […] zu seyn, und wird ein einzelnes besonderes“. (V 283) An dieser Stelle – so scheint es – wird also doch beschrieben, welche Transformationen im bedürftigen Subjekt durch die Bemühung und die Arbeit stattfinden. Ungeklärt bleibt jedoch, ob und inwiefern das Subjekt sich dieser Transformationen bewußt ist oder ob diese Veränderungen des Äußeren (es „hört auf […] und wird“) nur für den rekonstruierenden Philosophen verortbar sind. Gerade die beschriebene, sehr aufwendige begriffliche Transformation wird wohl kaum dem von Hegel an dieser Stelle geschilderten Subjekt zugeschrieben werden können, da ein komplexes begriffliches Vermögen noch gar nicht vorhanden ist. Hegel sagt selbst: „[D]ie Bestimmtheit welche das Object des Genusses in dieser Potenz erhält, […] tritt nicht in die Objectivität der Anschauung, so daß für das Subject etwas entstünde, welches es erkennte, als Identität des subjectiven und objectiven“. (V 283) Dennoch kommt es nach Hegel aufgrund des Bedürfnisses und vermittels der Bemühung zunächst zu einer Subjekt-Objekt-Spaltung und dann in seiner aktiven Befriedigung im schließlichen Genuß (der „Sättigung“) wohl auch zu einer partiellen Vereinigung, zweifellos aber zu einem ersten Objektbewußtsein. Das Subjekt erkennt zwar noch keine Identitäten als Identitäten, aber es erkennt schon etwas. Der eigentliche Sinn dieser bemühten diffizilen Bestimmungen des Abschnitts ergibt sich – wie fast immer bei Hegel – aus der Unterscheidung vom nächstfolgenden Abschnitt. Das gehört zur Methode des Aufsteigens vom analytisch Abstrakten zum Konkreten. Wurde im Abschnitt a nur die Kausalität beschrieben, tritt nun in b eine Über-

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formung durch Zwecksetzungen ein.5 Es wird also eine komplexere Determination analysiert.

5.1.2.2. b) Arbeit, Besitz, Werkzeug In b benennt Hegel eine weitere Trias, die gewährleisten soll, daß das „Gefühl in der Form der Differenz oder des Subsumirtseyns der Anschauung unter den Begriff […] selbst ebenso als Totalität begriffen werden“ kann. (V 284) Die Momente, die für ihn ausschlaggebend sind, faßt er in einer Vorschau zusammen und ordnet ihnen doppelte griechische Kleinbuchstaben zu: „αα) als negatives praktisches Anschauen (Arbeit) ββ) Differenz (Product und Besitz) γγ) Werkzeug.“ (V 284) Hegel zufolge werden hier „die auseinandergeworfenen Momente der Totalität als Realität“ dargestellt. (V 284) Sodann bestimmt Hegel die „Arbeit“ genauer: „[E]s ist im Arbeiten die Differenz der Begierde und des Genusses gesetzt; dieser ist gehemmt, und aufgeschoben, er wird ideell, oder ein Verhältniߓ. (V 284) Indem der Genuß ein gehemmter ist, er in der Arbeit also noch nicht realisiert wird, sondern vorerst aufgespart bleibt, gewinnt Hegel die Möglichkeit, „an diesem Verhältniß durch Arbeit“ weitere Momente zu unterscheiden. Sie ergeben sich vor allem aus dem Umstand, daß das Objekt nicht wie zuvor sogleich vernichtet (also gegessen) wird, sondern zunächst erhalten bleibt, und damit verschiedene Beziehungen zu ihm möglich werden. Hegel gliedert sie mit hebräischen Buchstaben: ‫)א‬ „Besitzergreifung“, also „die Beziehung des Subjects auf das Object, oder die ideale Bestimmung desselben durch die Begierde“ (V 284), ‫„ )ב‬Thätigkeit der Arbeit“ oder Formgebung, ‫„ )ג‬Besitz des Products, oder die Möglichkeit, […] zum Genusse, der aber ganz ideell bleibt, überzugehen“. (V 285) Hegel weist ausdrücklich auf den damit gewonnenen – im Vergleich zur ersten Potenz a des praktischen Gefühls – neuen Gesichtspunkt hin: Besitz oder Besitzergreifung seien da „gar nicht vorhanden“. Nun aber, in der Potenz b, kommt es zu neuen und zusätzlichen ideellen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, welche im Besitz als der „Synthese“ von ideeller Besitzergreifung und realer Arbeit gipfeln und das „Aufbewahren und Spahren des Objects“ (V 285) zur Folge haben. In einer weiteren Unterpotenz β von b wird sodann separat die oben (V 284) angekündigte Bestimmung „Differenz (Product und Besitz)“ behandelt. Sie wird von der in der Arbeit enthaltenen und zuvor geschilderten Besitzergreifung unterschieden, weil nun ein neuer Aspekt hinzutritt. Wurde zuvor nur die ideelle Beziehung des Subjekts auf das Objekt, die Arbeit als ein ideelles Verhältnis betrachtet, so erscheint nun die Arbeit als eine „reale oder lebendige“. (V 286, vgl. V 285: „[I]n αα) wurde das ideelle Verhältniß in der Arbeit, hier das reale betrachtet“.) Ging es zuvor beim Besitz also nur um die Möglichkeit des Genusses, der rein ideell zu bleiben hatte, und bei der Besitzergreifung nur um eine ideelle Bestimmung, die erst den Formwechsel des Objekts in der Arbeit ermöglichte, so ist nun die Sphäre erreicht, wo im Resultat der Arbeit das Produkt als Besitz tatsächlich vom Arbeitenden selbst geschieden werden kann, der Besitz als solcher mithin vorhanden ist.

5

Der reine Zweck, die Sittlichkeit, wird hier aber noch nicht berührt.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Hegel will anschließend die „Lebendigkeit“ der Arbeit wiederum „als Totalität“ darstellen, deshalb müsse „jedes Moment selbst als eine lebendige eigene Arbeit, als besonderes Object“ erkannt werden. (V 286) Unklar bleibt, ob diese Ausführungen als nähere Erläuterungen zu jener unter ββ) angegebenen Bestimmung „Differenz (Produkt und Besitz)“ zu verstehen sind oder ob sie als Ausführung der als „γγ) Werkzeug“ angekündigten Bestimmung verstanden werden müssen.6 (V 284) Unstrittig ist dagegen, daß Hegels Ankündigung der notwendigen Darstellung der Totalität der Lebendigkeit der Arbeit in ihrer Durchführung mittels der verschiedenen Subsumtionsstufen zu einer weiteren Trias führt: „Pflanze“ – „Thier“ – „Intelligenz“. Es ist leicht zu erkennen, daß hiermit die Forderung erfüllt ist, daß das Objekt der lebendigen Arbeit stets selbst lebendig sei. Die Arbeit erstreckt sich folglich auch auf die „Cultur der Pflanzen“, das „Bezähmen“ der Tiere und schließlich die „Bildung“. (V 286–288) Die „Intelligenz“, welche als „absolute Identität“ der beiden Potenzen Pflanze und Tier eingeführt wurde, wird sodann selber noch „als Totalität […] unter der Form der drey Potenzen“ (V 288) dargestellt. Daraus ergeben sich – Hegel zufolge – erneut drei zu unterscheidende Momente der Intelligenz: (1.) das „differenzlose Gefühl“ der „Geschlechter“-„Liebe“ (als Moment der Idealität), (2.) das „Verhältniß von Eltern und Kindern“ („ohne Begierde“, als Moment der Realität) und (3.) schließlich „die allgemeine Wechselwirkung und Bildung der Menschen“ (als Einheitsmoment: „das Verhältniß [ist] gesetzt und aufgehoben“), wo „die vollkommene Individualität und damit Gleichheit der Entgegengesetzten“ erreicht ist. (V 289f.) Letztere Bestimmung der Gleichheit galt weder für das Verhältnis der Geschlechterliebe noch für das Eltern-Kind-Verhältnis. Für das erste hatte Hegel festgelegt: „[E]s schaut sich jedes in dem andern an, als zugleich ein fremdes“; es handelt sich um die „höchste organische Polarität in der vollkommensten Individualität eines jeden Pols“, womit klar ist, daß die Geschlechter „nicht absolut gleich“ sind. (V 289) Die Beziehung von Eltern und Kindern war hingegen von vornherein mit einer Dynamik versehen, d. h. als eine auf „Aufhebung dieser entgegengesetzten Bestimmtheit“ zielende soziale Beziehung konzipiert, die „also mit gegenüberstehender vollkommener Individualität endigt“ – das Kind wird selbständig, löst sich aus der Familie. (V 289)

5.1.2.3. c) Die Mitten als Zeugnis der Realität des Vernünftigen Nach Hegels eigener Einteilung oder Vorschau könnte die erste Hauptpotenz A mit der Explikation des „Gefühls“ nach den zwei verschiedenen Hinsichten (Subsumtionsformen) in den beiden Unterpotenzen a und b eigentlich abgeschlossen sein. Nun stellt sich jedoch heraus, daß er einen weiteren Abschnitt c hinzufügt, den er gleichfalls als Potenz bezeichnet. Hegel sind, wie auch in der Sekundärliteratur betont wird, während seiner Ausarbeitung einige Flüchtigkeitsfehler und Inkonsequenzen in der Gliederung unter6

Schnädelbach 2000, 84 tendiert zur zweiten Variante: „[S]o gelangt Hegel in Variation von Motiven der Schellingschen Naturphilosophie zu der Trias ‚Pflanze – Tier – Intelligenz‘ als den Medien lebendiger Arbeit, die das erläutern, was der Ausdruck ‚Werkzeug‘ ankündigte.“ Adolphi 1989, 106 favorisiert hingegen die erste Variante. Er gibt dafür (109) eine etwas gewagte Erklärung, wonach die gesamte Potenz c – obwohl von Hegel selbst so bezeichnet – eigentlich zur Potenz b gehöre und damit dasjenige ausfülle, was unter „γγ) Werkzeug“ angekündigt worden war.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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laufen (so ist etwa die Bezeichnung der verschiedenen Subsumtionsstufen nicht völlig einheitlich). Der Abschnitt c hat jedoch eine klare Position und eindeutige Funktion im Manuskript, die von Hegel auch benannt wird: „Die beyden ersten Potenzen [gemeint sind wahrscheinlich die bisher überhaupt vorliegenden Potenzen a und b der Hauptpotenz A] sind relative Identitäten; die absolute Identität ist ein subjectives, ausser ihnen; aber da diese Potenz [gemeint ist die erste Hauptpotenz A der natürlichen Sittlichkeit] selbst Totalität ist, so muß das vernünftige als solches hervortreten und reell seyn, das in der Vorstellung der formellen Potenzen [d. h. in a und b] verborgen liegt.“ (V 290) Die Unterteilung a, b und c ist also völlig schlüssig: c ist die noch fehlende dritte Potenz der ersten Hauptpotenz der natürlichen Sittlichkeit.7 Potenz c bezieht sich, wie ausgeführt, direkt auf die beiden ersten Potenzen a und b und stellt gewissermaßen ein Resümee des bisher Behandelten dar; sie bringt hervor, was zuvor nur „verborgen liegt“: „das vernünftige“. Das Problem der Zuordnung entsteht vor allem deshalb, weil Hegel in seiner „Einleitung“ zunächst lediglich von einer für die vollständige Erkenntnis notwendigen doppelten Subsumtion gesprochen hatte. Die Konzeption der Potenzen war dort jedoch überhaupt nicht erwähnt worden. Im Verlauf des Manuskripts führt Hegel dann zusätzlich, aber fast unbemerkt – er sagt lediglich, dies müsse „ebenso“ geschehen, – die Figur der „Form der drey Potenzen“ (V 290; vgl. V 288) ein. Sie strukturiert jedoch in starkem Maße die Argumentation. An die beiden verschiedenen Subsumtionsstufen (die man in dieser Figur als die beiden ersten Potenzen bezeichnen könnte) schließt sich in Wirklichkeit bei Hegel immer noch eine dritte Stufe an, die man wohl als Indifferenzstufe bezeichnen müßte. Hegel baut, wie schon gezeigt, vielfach Triaden auf, die mit der Subsumtionsmethode allein gar nicht zustande kommen könnten. Er benötigt sie aber, um seinem Totalitätsbegriff zu genügen. Die Darstellung der verschiedenen Momente der Totalität nämlich ist an die „Form der drey Potenzen“ gekoppelt. Man kann mit gutem Grund behaupten, daß Hegel im Abschnitt c eine erste Bilanz zieht. Dabei stellt sich heraus, daß jetzt das gesuchte Vernünftige selbst reell wird. Klar und mit für diesen Text seltener Übersichtlichkeit bezeichnet Hegel das Wesentliche dieser Stufe – das Vernünftige muß als solches selbst hervortreten und reell sein. Was das Vernünftige sei, wird sogleich nachgereicht. „Diß vernünftige ist dasjenige, was in die Mitte tritt, und von der Natur des subjectiven und objectiven, oder das vermittelnde beyder ist.“ (V 290)8 Hegel erhält, da er die Mitte erneut mittels der Potenzenmethode bestimmt, eine weitere Trias: „Kind“ – „Werkzeug“ – „Rede“. (V 290–293) Bisher dominierte entweder die Subjekt- oder die Objektseite; dies war das Formelle, Getrennte, die Vereinzelung; das gegenseitige Bezogensein hatte zwar etwa in der 7

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Vgl. V 303, wo Hegel analog innerhalb der zweiten Hauptpotenz B nach der Darstellung der ersten beiden Unterpotenzen (den Subsumtionsstufen, als „a.“ und „b.“ überschrieben) wie selbstverständlich nach dem „c.“ ausführt: „Die dritte Potenz ist die Indifferenz der vorhergehenden“. Vgl. (in anderem Zusammenhang) Habermas 1968, 23: „Weil Hegel die Konstitution des Ich nicht an die Reflexion des einsamen Ich auf sich selbst bindet, sondern aus Prozessen der Bildung, nämlich der kommunikativen Einigung entgegengesetzter Subjekte begreift, ist nicht Reflexion als solche, sondern das Medium entscheidend, in dem sich die Identität des Allgemeinen und Einzelnen herstellt. Hegel spricht auch von der ‚Mitte‘“.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

„Liebe“ schon eine Einheitsstufe gewonnen, doch ging es dort wesentlich um deren im Formellen bleibende Idealität. Die Differenz blieb noch unaufgehoben. Jetzt hingegen, könnte man sagen, gibt es reale Resultate, reale „Mitten“. Hegel kennzeichnet deutlich die Unterschiede zu den (bisher betrachteten) formellen Potenzen (obwohl wir uns noch immer in der insgesamt durch formelle Einzelheit bestimmten Potenz befinden). Es geht nicht mehr um die „Natürlichkeit, die in den formellen Potenzen vorkommt, welche sich nicht von der Differenz befreyen kann“, also auch nicht mehr um „die formale Identität, die bisher als Gefühl vorkam“. (V 290) Sondern die nun erreichte Mitte zeichnet sich dadurch aus, daß sie „eine reale absolute Identität, ein reales absolutes Gefühl, das absolute Mitte, in dieser ganzen Seite der Realität für sich ist, als Individuum existirt“. (V 290) Gleich dreimal wird hier das attributive „absolut“ gebraucht; man sieht so deutlich den von Hegel gemeinten Punkt.9 „Solche Mitte ist das Kind; es ist das höchste, individuelle Naturgefühl, ein Gefühl von solcher Totalität der lebendigen Geschlechter, daß sie ganz in ihm sind, daß es also absolut real und selbst für sich individuell und reell“ ist. (V 290f.) Hiermit ist die „absolute Indifferenz der natürlichen Wesen“ erreicht. Diese natürlichen Wesen sind (wir haben es zuvor vorgeführt bekommen) „nach der Natur selbst reell und getrennte“ und können „ihre Individualität nicht aufheben“. (V 291) Deshalb, so schließt Hegel, „ist die Realität ihrer Einheit ebenso ein eigenes, reelles Wesen, und Individuum“. In dem Kind also „schauen die Eltern ihre Einheit als Realität an, sie sind es selbst, und es ist ihre herausgebohrne sichtbare Identität und Mitte“.10 Es wird deutlich, an welcher Stelle der Gesamtentwicklung wir uns befinden. Das Gefühl ist jetzt „realisirt“, ist „lebendige Substanz“; als Individuum (Kind) ist es „die reale Vernünftigkeit der Natur, worin die Differenz der Geschlechter vollkommen vertilgt, und beyde in absoluter Einheit sind“. (V 291) Die Mitte existiert also. (In der Subsumtionsabfolge stellt das Kind die Stufe der Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung dar.) Die nächste Stufe ist die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff. Hier ist die „Mitte in der Differenz, oder es ist allein die Form, an welcher die reale Mitte ist, die Substanz aber ist todte Materie“ (nicht wie im Kind lebendige Substanz). Zwar handelt es sich auch um eine reale Mitte, jedoch ist sie „als solche ganz äußerlich nach der Differenz des Begriffs“. (V 291) „Diese Mitte ist das Werkzeug.“ Hegel bestimmt 9

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Es ist aber unbedingt Hegels generelle Einschränkung für den ersten Teil zu beachten: von allen bisher erreichten Indifferenzen sei „schlechthin keine absolut; jede kann aufgehoben werden“. (V 310) Vgl. JSE I, VI 302f., wo Hegel im Zusammenhang mit der Ehe schreibt: „In diesem lebendigen Einsseyn beyder, in [dem] das Bewußtseyn eines jeden sich ausgetauscht hat, und es ist als seines und das Bewußtseyn des andern, ist das Bewußtseyn ebenso nothwendig die Mitte, an der sich beyde abscheiden und in der sie eins sind, ihre existirende Einheit. Diese Mitte, worin sie sich für Eins als aufgehobene ihres Gegensatzes erkennen, […ist] als für sich seyende. Die Seite der Mitte, worin sie sich als eins, und als aufgehobene Erkennen ist nothwendig ein Bewußtseyn, denn sie sind nur als Bewußtseyn Eins; es ist das Kind, in welchem sie sich als in Einem Bewußtseyn als Eins erkennen, und ebendarin als aufgehobene, und sie schauen in ihm diß ihr Aufgehobenwerden an. Sie erkennen sich in ihm als Gattung, sich als ein anderes als sie selbst sind, nemlich als gewordne Einheit.“ Vgl. JSE I, VI 303: „[D]as Kind ist nicht wie im animalischen Verhältnisse die existirende Gattung, sondern die Eltern erkennen sich in ihm als Gattung“.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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es folgendermaßen: „Es ist weil in ihm die Form oder der Begriff das herrschende ist, der Natur entrissen, der die Mitte der Geschlechterliebe angehört, und in der Idealität, als dem Begriff angehörig; oder die absolute Realität, welche nach dem Wesen des Begriffs vorhanden ist.“11 (V 291) Auch hier geht es erneut um eine Subjekt-ObjektBeziehung. War das Kind als Mitte der Eltern „die reale Vernünftigkeit der Natur“, so macht im Werkzeug „das Subject eine Mitte, zwischen sich und das Object, und diese Mitte ist die reale Vernünftigkeit der Arbeit“. (V 291) Das Werkzeug bildet also, anders als das Kind, eine erste bleibende Manifestation des Individuums.12 Wird hiermit die ‚Naturstufe‘ erstmals verlassen? Jedenfalls wird etwas erzeugt, das die Natur nicht von allein hervorbringt. Diese Mitte hat also einen gänzlich anderen Charakter. Sie ist als Werkzeug etwas, das im Prozeß der Arbeit und trotz des Genusses des Objekts der Arbeit erhalten bleibt, somit fortwährend und wiederholt benutzt werden kann, und das sogar von anderen Arbeitenden. Sie ist etwas Ideelles (die Beziehung ist als solche ideell), aber das Ideelle, die Mitte, ist mit dem Werkzeug real vorhanden. Das ist eine neue Stufe: „[D]ie Subjectivität der Arbeit ist im Werkzeug zu einem allgemeinen erhoben; jeder kann es nachmachen, und ebenso arbeiten; es [das Werkzeug] ist insofern die beständige Regel der Arbeit.“13 (V 292) Hegel sieht hier übrigens sehr deutlich die unangenehmen, mit mechanischer Arbeit verbundenen Abnutzungserscheinungen. Zwar sind mit dem Werkzeuggebrauch tendenziell auch schon die Möglichkeit der gänzlichen Übernahme der mechanischen Arbeit durch Maschinen und damit einhergehend ganz andere Perspektiven menschlicher Tätig11

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Die Bestimmung, daß das Werkzeug der Natur „entrissen“ sei, müßte näher untersucht werden. Ist es überhaupt der Natur entrissen, und wenn ja, von wem? Oder nur derjenigen, der das Kind angehört? Hegel sagt, das Werkzeug sei in der Idealität, doch ist es auch faktisch, real vorhanden; ihn interessiert an dieser Stelle wohl nur der Aspekt der absoluten Realität des Begriffs, unter dem er das Werkzeug einordnet; nicht mehr natürliche, sondern künstliche Mitte. Das Kind bleibt zwar Kind der Eltern, doch gewinnt es Selbständigkeit und soll eine eigene Familie gründen. Auch dieser Prozeß der Trennung ist ein wichtiges Entwicklungsmoment. Vgl. schon in Hegels Der Geist des Christentums und sein Schicksal: „Abraham, in Chaldäa geboren, hatte schon in der Jugend mit seinem Vater ein Vaterland verlassen; nun riß er sich auch in den Ebenen Mesopotamiens vollends von seiner Familie los, um ein ganz selbständiger, unabhängiger Mann, selbst Oberhaupt zu sein, ohne beleidigt oder verstoßen zu sein, ohne den Schmerz, der nach einem Unrecht oder einer Grausamkeit das bleibende Bedürfnis der Liebe kundtut, die zwar verletzt, aber nicht verloren, ein neues Vaterland aufsucht, um dort zu blühen und ihrer selbst froh zu werden. Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3) stieß er von sich.“ (1/277) Vgl. JSE I, VI 300: „Das Werkzeug ist die existirende vernünftige Mitte existirende Allgemeinheit des praktischen Processes; es erscheint auf der Seite des thätigen gegen das passive; ist selbst passiv nach der Seite des arbeitenden, und thätig gegen das bearbeitete. Es ist das worin das Arbeiten sein Bleiben hat, was von dem arbeitenden und bearbeiteten allein übrig bleibt, und worin ihre Zufälligkeit sich verewigt; es pflanzt sich in Traditionen fort, indem sowohl das begehrende, als das begehrte nur als Individuen bestehen, und untergehen.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

keit gegeben,14 doch bleibt in jedem Fall die vorherige Unmittelbarkeit des Vernichtens aufgehoben. Eine solche Arbeit „ist ebenso eine Vernichtung des Subjects, eine Negation, blosse Quantitavität in ihm setzendes; Hand und Geist wird stumpf durch sie“.15 (V 291) Nachdem die Mitten „Kind“ und „Werkzeug“ noch als jeweils den Subsumtionsstufen zugehörig behandelt worden sind, folgt nun die Mitte in der Form der Indifferenz. Bevor Hegel sie zu erkennen gibt, beschreibt er, welche Kriterien sie erfüllen „muߓ: „[E]s muß eine Mitte seyn, welche vollkommen ideell ist […]; die Mitte muß intelligent seyn; aber nicht individuell, noch subjectiv; […] die Vernünftigkeit selbst, als reell aber so daß diese Realität selbst ideell und unendlich ist, und unmittelbar in ihrem Seyn auch ihr Gegentheil ist, nemlich nicht zu seyn“. (V 292) Dafür gebraucht Hegel auch den Ausdruck der Mitte als „ein ätherischer Körper“. Diese Umschreibung ist kein eigenwilliger poetischer Versuch, sondern charakterisiert sehr genau den Sachverhalt: Soll die reale Vernünftigkeit überhaupt in Körpergestalt erscheinen, so darf es keine feste räumlich-ausgedehnte sein, das Körperhafte ist hier nur als „ätherisch“ zulässig.16 Denn 14

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Unmittelbar vor Hegel macht auch schon Schleiermacher auf mögliche Folgen in einer Schrift aufmerksam, die Hegel nachweislich kannte und auf die er sich in Glauben und Wissen und in der Differenzschrift bezogen hatte. „Ein Sklave ist jeder, der etwas verrichten muß, was durch tote Kräfte sollte können bewirkt werden.“ Schleiermacher erhofft sich ein freieres Dasein und eine Hinwendung zur Religiosität, wenn der „Druck mechanischer und unwürdiger Arbeiten“ entfallen werde. Vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher, Über die Religion (1799), 4. Rede, in: Sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 1 (Berlin 1843), 353. Es folgt noch eine weitere kulturgeschichtliche Anmerkung. Das Werkzeug sei bei allen „in der Naturpotenz stehenden Völker[n]“ Gegenstand größter Verehrung gewesen, und zwar um seiner Vernünftigkeit willen. Als solches stehe es höher als das Arbeiten selbst, höher als das für den Genuß bearbeitete Objekt und auch höher als der Genuß oder Zweck selbst: „[U]nd in Homer finden wir die Achtung für dasselbe, und das Bewußtseyn darüber aufs schönste ausgedrückt.“ (V 292) Vgl. auch Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 12/295: „Diese menschlichen Erfindungen gehören dem Geiste an, und solches Werkzeug ist höher zu achten als der Naturgegenstand. Auch sehen wir, daß die Griechen sie besonders zu schätzen wissen, denn im Homer erscheint recht auffallend die Freude des Menschen über dieselben.“ Vgl. außerdem Cassirer 1991, 3: „Bei manchen Naturvölkern, wie z. B. den Ewe in Süd-Togo, werden noch heute bei den jährlich wiederkehrenden Erntefesten den einzelnen Gerätschaften, der Axt, dem Hobel, der Säge Opfer dargebracht. Und noch weiter von ihm selbst entfernt als diese materiellen Werkzeuge müssen dem Menschen die geistigen Instrumente erscheinen, die er sich selbst erschaffen hat. Auch sie gelten als Äußerungen einer Kraft, die der seinen unendlich überlegen ist. In erster Linie gilt das von Sprache und Schrift, den Bedingungen allen menschlichen Verkehrs und aller menschlichen Gemeinschaft.“ Vgl. ebenso Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1994. Den Werkzeugbegriff bei Cassirer und Hegel untersucht Oswald Schwemmer: „Mittel und Werkzeug. Cassirers Philosophie der Technik und Hegels Reflexion auf die Teleologie im Vergleich“, in: Bubner/Mesch 2001, 361–382. Schwemmer macht nachdrücklich auf Cassirers wichtigen Aufsatz „Form und Technik“ aufmerksam. In: Cassirer 1985, 39–91. Vergleicht man diesen Aufsatz mit dem Hegelschen Manuskript, treten die Berührungspunkte der beiden Philosophen deutlich hervor. Zum Begriff des Äthers vgl. Christian Schall, „Hegels Begriff des Äthers und seine logischen Implikationen“, in: Vieweg 1998, 129–150 und Stefan Büttner, „Von der ‚Chora‘ zum ‚Äther‘“,

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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jene „ideelle vernünftige Mitte“, die mit so großer Präzision beschrieben wird, „ist die Rede“. Hegel stellt eine gelungene und sehr aufschlußreiche Verbindung zum bisher Dargelegten her, indem er die Rede „das Werkzeug der Vernunft, das Kind der intelligenten Wesen“ nennt. (V 293) Die Totalität der Rede wird selbst wieder in der Form der Potenzen ausgewiesen: In der Reihenfolge der bekannten Subsumtionsstufen sind es die „Gebehrde“, „Körperliches Zeichen“ und die „tönende Rede“. (V 293–295)17 Beeindruckend ist, daß die Sprache aus dem Ausdrucksverhalten heraus entwickelt wird. Auch wird der ästhetische Aspekt des Klangs berücksichtigt; die Sprache enthält nicht nur und dient nicht lediglich der reinen Information, sondern ist ebenso Ausdruck zum Beispiel von Zuwendung oder Ablehnung.18

5.1.3. Die zweite Hauptpotenz (B) – Hervortreten und Wirksamwerden des Ideellen In Hegels Darstellung folgt nun die zweite Hauptpotenz B der natürlichen Sittlichkeit. Zunächst zur Gliederung: Innerhalb der Konstruktion der natürlichen Sittlichkeit ist sie die Potenz der „Subsumtion der Anschauung unter den Begriff, […] das Hervortreten des ideellen und das Bestimmtwerden des besondern oder einzelnen durch dasselbe“. (V 296) In dieser Potenz nun soll die Allgemeinheit als solche erscheinen; d. h. nicht mehr wie zuvor als Allgemeines in der Form der Besonderheit, worin sie eigentlich noch versteckt war, sondern sie soll nun wirklich als Allgemeinheit erfahrbar werden und heraustreten. Den Unterschied der beiden Hauptpotenzen A und B, welcher schon zu Beginn thematisiert worden war, verdeutlicht Hegel an dieser Stelle wie folgt: „[W]ie in der vorigen Potenz das einzelne, so ist hier das allgemeine herrschend; in der ersten bleibt dieses versteckt ein inneres“. (V 296) In einem weiteren Rückblick: „[D]ie Liebe, das Kind, die Bildung, das Werkzeug, die Rede, sind objectiv und allgemein,

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in: Vieweg 1998, 107–127, vor allem 107f. Vgl. auch im dritten Teil die „Aethericität“ als Wesen des Systems. (V 333) Vgl. Kimmerles prägnante Interpretation (1982, 218f.): „Die Rede hat in sich das Allgemeine des Kindes, das noch nicht zum eigenen Sprechen gebildet ist: die Gebärde, das Mienenspiel. Die Besonderheit der Rede, ihr Werkzeugcharakter ist das ‚körperliche Zeichen‘, die Geste. Die Gebärde ist an das Subjekt gebunden, das körperliche Zeichen objektiv. Die Identität beider ‚Sprachen‘ auf höherer Stufe, ‚die wahre Mitte der Intelligenzen […] das vernünftige Band derselben‘, ist die ‚tönende Rede‘. Sie ist ein Sittlichwerden der Natur, in dem sie sich zum ‚absoluten Punkt‘ des Individuums verinnerlicht, um sich von hier aus als neues eigenes System zu entfalten. Sie ist die ‚höchste Blüte‘ der natürlichen Sittlichkeit als Anschauung, wo sich im Besonderen das Allgemeine gegen das Besondere auf die allgemeinste Weise geltend macht.“ Die Rede des Menschen unterscheidet sich bei Hegel von der Stimme des Tieres dadurch, daß sie aus der „Intelligenz“ und ihrer „Verwandlung der Natur in ein subjectives“ kommt. (V 295) Vgl. Siep 1979, 243f.: Das objektive Wort als das die Intelligenzen Verbindende bringe „eben die Unabhängigkeit von der Natur, die Fähigkeit, sie in ‚Idealität‘ zu verwandeln, als das den Individuen Gemeinsame zum Ausdruck.“ Vgl. die ausführlichere Thematisierung der Sprache in JSE I, VI 282–296 (Potenz der Sprache) sowie VI 318f. und JSE III, VIII 189ff.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Beziehungen Verhältnisse, aber natürliche ununterworfene zufällige, unregierte nicht selbst in die Allgemeinheit aufgenommene; die Allgemeinheit ist an und [in]19 ihnen selbst nicht herausgetreten noch ihnen entgegengesetzt.“ (V 296) Für die Potenz B gilt hingegen: „[S]o ist in dieser Potenz nichts, was nicht Beziehung auf andere Intelligenzen hätte, so daß eine Gleichheit unter ihnen gesetzt [ist], oder es ist die Allgemeinheit, welche so an ihnen erscheint.“ (V 296) Damit ist verbunden, daß die zuvor behandelte und dargestellte „lebendige Naturbeziehung ebenso ein fixirtes Verhältniß, das sie vorher nicht war“, wird; die Allgemeinheit müsse über ihr „schweben“. (V 296) Hegel führt nun erneut sein aufwendiges Subsumtionsverfahren durch: Die gesamte zweite Hauptpotenz wird wiederum in drei Unterpotenzen (a, b, c) geteilt. Das jetzt eingebrachte Material entwickelt aber gleichsam eine Eigenbewegung und ist in einer so überzeugenden Weise kombiniert, daß man die Methode beinah vergißt und der Ablauf in sich recht klar wird. Im Grunde untersucht Hegel die Veränderungen und Folgen, welche mit dem Arbeiten verbunden sind. Es stellt sich heraus, daß das Arbeiten nicht nur zur Natur des Menschen schlechthin wie anderes vielleicht auch gehört, sondern daß er eben über diese Tätigkeit sich sozialisiert und sich eine eigene Welt schafft, die gleichwohl dahin tendiert, sich ihm wieder zu entfremden.

5.1.3.1. Produktionssteigerung durch Arbeitsteilung und Maschinerie, resultierender Überfluß und Entstehung des Eigentums (Unterpotenz a) Innerhalb der Unterpotenz a (Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung) wird das „Verhältniß des entgegengesetzten Allgemeinen zu besondern“ hergeleitet, und zwar „im rein praktischen, realen, mechanischen Verhältniß der Arbeit und des Besitzes“. (V 296f.) Die von Hegel hier aufgestellte Trias lautet: „Maschine“ – „Überfluߓ – „Eigenthum“/„Recht“. (V 297–298) Dabei wird zunächst (‫)א‬, um zur Maschine zu gelangen, die Arbeitsteilung konstatiert. Die Arbeit „vertheilt sich in sich selbst und wird ein einzelnes Arbeiten“. (V 297) Es wird „mechanischer, […] selbst ein allgemeineres, der Ganzheit fremderes“.20 Es ist damit selbstverständlich gesetzt, daß der Mensch nicht mehr alle seine Bedürfnisse unmittelbar durch eigene Arbeit befriedigt; dennoch muß deren Stillung sichergestellt sein: „Diese Art des Arbeitens, die sich so 19

20

Bei Lasson hieß die Ergänzung statt „in“ noch „aus“; auch ohne dieses „aus“ war der Satz gut verständlich: Ihnen selbst ist der gemeinte Sachverhalt auch noch nicht klargeworden; sie haben kein Bewußtsein dieser Allgemeinheit. Die Neuedition betont diesen Aspekt durch die neue Ergänzung. Vgl. JSE I, VI 321f.: „Nemlich seine Arbeit ist als Arbeiten eines einzelnen für seine Bedürfnisse zugleich eine allgemeine ideale; es befriedigt seine Bedürfnisse wohl damit; aber nicht mit diesem bestimmten von ihm bearbeiteten, sondern daß es seine Bedürfnisse befriedige, wird es ein anderes als es ist; der Mensch erarbeitet sich nicht mehr das was er braucht, oder er braucht das nicht mehr, was er sich erarbeitet hat; sondern es wird, statt der Wirklichkeit der Befriedigung seiner Bedürfnisse, nur die Möglichkeit dieser Befriedigung; seine Arbeit wird eine formale abstracte allgemeine eine einzelne, er schränkt sich auf die Arbeit für Eins seiner Bedürfnisse ein, und tauscht sich dafür das für seine andern Bedürfnisse nöthige ein. Seine Arbeit ist für das Bedürfniß für die Abstraction eines Bedürfnisses als ein allgemeines nicht sein Bedürfniß, und die Befriedigung der Totalität seiner Bedürfnisse ist eine Arbeit aller.“

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vertheilt setzt zugleich voraus, daß das übrige der Bedürfnisse auf eine andere Weise erhalten wird; da diese auch bearbeitet seyn müssen, durch die Arbeit anderer Menschen.“21 (V 297) Sobald es dazu gekommen ist, ist aber auch sofort eine ganz neue Möglichkeit gegeben. Zwar sieht Hegel die Folgen „dieser Abstumpfung der mechanischen Arbeit“, aber nicht nur die negativen, sondern eben auch die Chance, „sich ganz von ihr abzutrennen“ (d. h. von solcherart Arbeit). Er begründet dies: „[W]eil die Arbeit ganz quantitativ ohne Mannichfaltigkeit ist, also das Subsumiren derselben in der Intelligenz sich aufhebt, so kann ein absolut äusseres, ein Ding, durch sein sich gleich seyn und ebenso in seiner Arbeit als reine Bewegung gebraucht werden.“ (V 297) Hegel geht sofort noch weiter: „[E]s kommt nur darauf [an], ein ebenfalls todtes Princip der Bewegung […] zu finden; eine sich differentiirende Gewalt der Natur, wie die Bewegung des Wassers, des Windes, des Dampfs u.s.w. und das Werkzeug geht in die Maschine über“.22 (V 297) Mit dem Übergang vom Werkzeug zur Maschine sind einschneidende Veränderungen verbunden. Waren soeben das arbeitende „Subject und seine Arbeit“ Gegenstand und bestimmt als vereinzelte, so wird in (‫„ )ב‬das Product der Arbeit“ thematisiert. Auch dieses ist vereinzelt „und darum reine Quantität für das Subject“. (V 297) Der Mensch kann nun sehr viel mehr produzieren, als er von dem produzierten Gegenstand selbst bedarf. „[S]o hat dieser Besitz seine Bedeutung auf das praktische Gefühl des Subjects verlohren, ist nicht mehr Bedürfniß für dasselbe sondern Überfluߓ. (V 297) Indem das Subjekt diesen Überfluß produziert, ändert sich sein Verhältnis zum Produkt. Nicht nur kann er es nicht mehr selbst vollständig verbrauchen als das, was es ist, sondern es ergibt sich daraus ein anderer Gebrauch. Es kann (und muß) nämlich dem Gebrauch anderer dienen. Mit dem Überfluß ist eine neue Beziehung hervorgebracht: „[S]eine Beziehung auf den Gebrauch ist deßwegen eine allgemeine; und diese Allgemeinheit in ihrer Realität gedacht, – auf den Gebrauch anderer.“ (V 297f.) Hegel beschreibt die erreichte neue Allgemeinheitsstufe: „Weil es für sich in Beziehung auf das Subject eine Abstraction des Bedürfnisses überhaupt ist, so ist sie eine allgemeine Möglichkeit des Gebrauchs, nicht des bestimmten, den sie ausdrückt, denn dieser ist vom Subject abgetrennt.“ (V 298) Der Gang der Argumentation ist klar. Aus der Maschinenarbeit resultiert eine ganz neuartige Quantität von Produkten – es entsteht also Überfluß. Möglicherweise nicht 21

22

Vgl. JSE I, VI 322: „Es tritt zwischen den Umfang der Bedürfnisse des einzelnen und seine Thätigkeit dafür, die Arbeit des ganzen Volkes ein, und die Arbeit eines jeden ist in Ansehung ihres Inhalts eine allgemeine für die Bedürfnisse aller, so wie für die Angemessenheit zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse; […] seine Arbeit, und sein Besitz, sind nicht was sie für ihn sind, sondern was sie für alle sind“. Vgl. JSE I, VI 320: „[D]as Werkzeug, in dem der Mensch in seinem Vernichten der Natur, seine Vern[unft] als eine aufgehobne setzt, sie von sich abhält, wird zur Maschine.“ Die negativen Folgen werden klar erkannt; zwar läßt der Mensch nun die Maschine für sich arbeiten: „Aber jeder Betrug, den er gegen die Natur ausübt, […] rächt sich gegen ihn selbst; was er ihr abgewinnt, je mehr er sie unterjocht, desto niedriger wird er selbst, indem er die Natur mit mancherley Maschinen bearbeiten läßt, so hebt er die Nothw[endigkeit] seines Arbeitens nicht auf […], und die Arbeit, die ihm übrig bleibt, wird selbst maschinenmässiger; […] je masch[inen]mässiger die Arbeit wird, desto weniger Werth hat [sie], und desto mehr muß er auf diese Weise arbeiten.“ (JSE I, VI 321) Zum Nutzbarmachen der Kraft der Natur vgl. JSE III, VIII 206f. und VIII 225.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

grundsätzlich (es könnte weiterhin Mangel an dem Produkt bestehen), aber tendenziell und in jedem Fall für denjenigen selbst, der mit der Maschine produziert. Ganz deutlich ist zu erkennen, daß der Überfluß für Hegel kein Luxus ist; der einzelne produziert nur mehr, als er selbst von diesem spezifischen Produkt verbrauchen kann, die Produkte als solche, der Überfluß sind notwendig. Dies ist eine klare Absage an Rousseaus Luxuskritik.23 Es ist sehr interessant, daß Hegel genau an dieser Stelle das Eigentum einführt. „Besitz ist in dieser Rücksicht Eigenthum; die Abstraction der Allgemeinheit an demselben aber ist das Recht“. (V 298) Bisher war immer nur vom Besitz die Rede gewesen verbunden mit dem Hinweis, daß er nicht rechtlich gemeint sei. In Hegels Manuskript tritt mit dem Überfluß und dem aus ihm resultierenden potentiellen Gebrauch des Produkts durch verschiedene Menschen jetzt das Problem des Anerkennens, eigentümlicherweise zuerst als Anerkennung des Anderen als Besitzenden, auf – und damit die Bildung von Eigentum. Der Übergang zum Recht erfolgt eigentlich als Fixierung sozialer Verhältnisse, die sich aus dem Überfluß ergeben. Es handelt sich also nicht um natürliche Rechtssubjekte, sondern um solche, die bereits gesellschaftliche Beziehungen eingegangen sind.24 Erst als Eigentum besitzendes ist das Subjekt ein anerkanntes Subjekt. Mit der Anerkennung durch andere Subjekte ist es „in die Form der Allgemeinheit aufgenommen“. Hegel weist darauf hin, daß es lächerlich sei, alles als Recht zu betrachten (und kommt später in einer Polemik gegen Kant auf diesen Punkt zurück). Die Rechtsform ist und bleibt eine Abstraktion, auch wenn sie real und geschichtlich geworden ist: „Das Individuum ist Eigenthümer, rechtlicher Besitzer nicht absolut, an und für sich“. (V 298) Man beachte, daß Hegel hier bereits Wendungen benutzt, die er fortan immer beibehalten wird. Das Individuum ist Eigentümer also nicht „an und für sich“, vielmehr ist dies „die Abstraction seiner Einheit und Einzelnheit“, „bloß […] ein Gedankending“. (V 298) Recht bzw. Eigentum hat nichts mit der Individualität als solcher zu tun, ist nicht in ihr begründet, „sondern es ist allein in der relativen Identität des Besitzes, insofern diese relative Identität die Form der Allgemeinheit hat“. Um Eigentümer sein zu können, bedarf es der rechtlichen Anerkennung durch andere Subjekte: „Recht an Eigenthum ist Recht an Recht“.25 (V 298) 23

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Hegel hat Rousseau nicht nur während seiner Studienzeit geschätzt. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, ihm unter bestimmten Aspekten ablehnend gegenüberzustehen. Zu Rousseaus Luxuskritik vgl. vor allem den zweiten Teil der „Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?“, in: Jean-Jacques Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1995, insbesondere 35ff. Vgl. zu Rousseaus Einfluß auf Hegels Manuskript auch Dickey 1987. Vgl. die viel spätere Erläuterung Hegels in seinem §3 der Rechtsphilosophie in der Nachschrift von Carl Gustav Homeyer, in: Ilting 1973, 239: „Das Prinzip des Rechts liegt nicht in der Natur, ohnehin nicht in der äußern, auch nicht in der subjektiven Natur des Menschen, insofern nemlich sein Wille natürlich bestimmt d. i. die Sphäre der Bedürfnisse, Triebe und Neigungen, ist. Die Sphäre des Rechts ist die Sphäre der Freiheit, in welche[r], insofern die Freiheit sich äußert und sich Existenz giebt, die Natur zwar eintritt, aber als ein Unselbstständiges.“ Vgl. auch Naturrechtsaufsatz, IV 451: „Durch die Identität, in welche das reelle in der Beziehung der Verhältnisse gesetzt wird, wird der Besitz Eigenthum, und überhaupt die Besonderheit, auch die lebendige, zugleich als ein Allgemeines bestimmt; wodurch die Sphäre des Rechts constituirt ist.“

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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Genau diese Anerkennungsproblematik soll das hier Entscheidende sein; dies wird nachträglich verdeutlicht, indem Hegel auf „das Negative dieser Potenz“ zu sprechen kommt. Dieses besteht gerade nicht im lediglich mechanisch Negativen, denn eine solche „Rücksicht gehört ganz der Natur an“. (V 298) Hier geht es darum, daß die Anerkennung selbst verweigert werden kann. Schon die Wortwahl erinnert an die Überschrift des zweiten Hauptteils des Manuskripts26, wo diese Phänomene schließlich auch in Ausführlichkeit behandelt werden: „Das Negative dieser Potenz gegen das Allgemeine ist die Beziehung der Freyheit; oder das negative insofern es sich positiv constituirt, und in Differenz gegen das Allgemeine setzt, also in Beziehung auf dasselbe“. (V 298) Dadurch, daß diese Beziehung vorhanden ist, geht eine solche Entgegensetzung oder Verweigerung prinzipiell über die zuvor besprochenen Potenzen hinaus. „Das negative kommt hier allein in Betracht, insofern es dem allgemeinen als solchen widerstreitet, und als eine Einzelnheit es verleugnet und davon abstrahirt“. (V 298f.) Und unmißverständlich zusammengefaßt: „Das Negative besteht also im nichtanerkennen des Eigenthumes, im Aufheben desselben“. (V 299)

5.1.3.2. Anerkannte Idealität: Tausch, Vertrag, Geld; Geist als (objektive) Bindungskraft (Unterpotenz b) Hegel hat also über das Verhältnis des Subjekts zu seiner ‚überflüssigen Arbeit‘ das Recht hergeleitet. Das Verhältnis ist bisher aber noch ideell, das Eigentum hat noch „keine reale Beziehung auf den Genuߓ. Das ändert sich nun in der neuen Potenz b: „Seiner Natur nach aber hat das was besessen wird, nur eine reale Beziehung auf das Subject; zum Vernichten, und die vorhin [d. h. in a] ideelle Beziehung des Besitzes auf das Subject soll itzt reell werden.“ (V 299) In einer kurzen Rückbesinnung macht Hegel klar, was er damit zeigen möchte. „Was hier aufgehoben wird, ist das einsseyn mit dem Object durch eigene Arbeit“, und dann: „In dieser ganzen (a. und b.) Potenz fängt erst, die durchgängige Idealität an, und die wahrhafften Potenzen der praktischen Intelligenz; mit der überflüssigen Arbeit hört sie auf in dem Bedürfniß und der Arbeit, dem Bedürfniß und der Arbeit anzugehören. Das Verhältniß zu einem Object, das sie für das Bedürfniß und den Gebrauch erwirbt, das hier gesetzt wird, nemlich, das sie nicht selbst zu ihrem Gebrauch verarbeitet hat, in dem sie nicht ihre eigene Arbeit vernichtet, ist der Anfang des rechtlichen, formal sittlichen Genusses und Besitzes.“ (V 300) Nachdem Hegel diesen endlich erreichten Wegpunkt benannt hat (das Unvertilgbare, Absolute dieser Potenz sei das Recht), deduziert er nun die Bestimmungen der kommerziellen Welt als Bestimmungen der rechtlichen Sphäre. Die Produkte, Dinge sind unter rechtlichem Aspekt alle gleich; die tatsächlichen Unterschiede sind damit nicht negiert, denn lediglich mittels einer Abstraktion sind die Dinge ja nur gleich: ein „ideale[s] Maaߓ muß her – dies ist der „Werth“; das „empirische Maaߓ hingegen ist der „Preis“. (V 300) Daß der Preis „das wirklich gefundene“ Maß darstellt, läßt ahnen, wie 26

Haering ist der Auffassung, daß sich Hegel erst während des Verfassens des Manuskripts, nach Abschluß des ersten Teils, zur Ausarbeitung des zweiten Teils entschlossen habe; er sieht in der Nennung der negativen Momente im ersten Teil dafür die Bestätigung: Ursprünglich sei eine ausführlichere Darstellung dieser Momente nicht beabsichtigt gewesen. Vgl. Haering 1938, 352f.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

die zuvor nur ideale Beziehung des Besitzes nun in die Realisierung des Besitzes übergeht. An die Stelle des überflüssigen Produkts tritt „ein auf die Begierde bezogenes, reell bestimmtes“. (V 301) Es geht also um den „Tausch“, „die Realisirung des idealen Verhältniߓ oder „reale Verwechslung“.27 (V 301) Die den Tausch vollziehenden Subjekte werden betrachtet als „Intelligenzen, und zwar […] bedürftige, die sich zugleich auf einen Überfluß, und ein mangelndes Bedürfniß beziehen; jede nimmt die Verwandlung, des individuellen, idealobjectivbezogenen, in ein subjectiv, fürs Bedürfniß bezogenes vor“. (V 301) Auch hier also, unschwer zu erkennen, wird von dem realen, bedürftigen Menschen ausgegangen, entwickelt sich über die vollzogene gegenständliche Arbeitstätigkeit eine weitere Sozialisierung. Hegel achtet an dieser Stelle ohnehin auf die tatsächlichen, empirischen Umstände, unter denen sich ein Tausch vollzieht. Dieser kann je nach Tauschgegenstand ziemlich aufwendig sein und birgt damit etwas Ungewisses in sich, nämlich „um dieser empirischen Zustände willen, die als Allmähligkeit des Leistens, Verschiebung der ganzen Leistung auf eine spätere Zeit u.s.w. erscheinen; es fehlt […] die Gegenwart in der Erscheinung“. (V 301f.) Auch hier nennt Hegel wiederum die „Freyheit“, die Möglichkeit der Verweigerung, welche das Moment des Ungewissen erzeugt. Indem eine Seite ihr Objekt zurückbehält, kann der Tausch aufgehoben werden. Hegel bezeichnet dies allerdings als „Unvernunft“ oder den Gegensatz der „leeren Möglichkeit und Freyheit gegen die Wirklichkeit und Erscheinung“. (V 302) Dabei darf es selbstverständlich nicht bleiben, die Unsicherheit, nicht der Tausch muß aufgehoben werden, „so daß der Übergang seinen empirischen Zufälligkeiten entnommen, und die Mitte desselben, die Identität als etwas nothwendiges und festes gesetzt ist“. „Natur und Form des Tausches“ bleiben erhalten, doch wird er „in die Quantität und Allgemeinheit aufgenommen. Diese Verwandlung des Tausches ist der Vertrag“. Im Vertrag ist „das innre der Intelligenzen, welche tauschen,“ herausgetreten. (V 302) Der Tausch dient eigentlich dazu, die Bedürfnisse zu befriedigen, für welche nicht mehr selbst gearbeitet wird. Dafür wird der nicht unmittelbar verbrauchte Besitz (aus der eigenen Arbeit) eingesetzt, im Tausch regulieren sich der nicht verbrauchte Besitz (Eigentum) und die wirklichen Bedürfnisse. Das Neue am Vertrag ist, daß diejenigen, die ihn schließen, sich auf etwas Ideelles berufen. „In ihm bildet sich der Moment der absoluten Gegenwart, der im reinen Tausch ist, zu einer vernünftigen Mitte“.28 (V 302) Hegel hatte ja gezeigt, daß im empirischen 27

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Vgl. JSE III, VIII 225f.: „Die Rükkehr zur Conkretion, dem Besitz, ist der Tausch. […] Jedes gibt selbst seinen Besitz, hebt sein Daseyn auf, und so, daß es darin anerkannt ist, der andre es mit Einwilligung des Erstern erhält; sie sind anerkannt; jeder erhält von dem andern den Besitz des andern, so daß er nur insofern bekommt, insofern der andre selbst, diß negative seiner selbst [ist] – oder als Eigenthum durch Vermittlung. – Es ist jeder das negirende seines Seyns, seiner Habe, und diese ist vermittelt durch das Negiren des anderen; nur weil der Andre seine Sache losschlägt, thue ich es – und diese Gleichheit im Dinge, als sein Innres, ist sein Werth“. Der Vertrag ist eine Art „ideeller Tausch“. Vgl. JSE III, VIII 228 und 228f.: „[I]ch gebe nichts hin, ich entäussere nichts, leiste nicht – als mein Wort, Sprache, ich wolle mich entäussern […]. Es ist ein Tausch des Erklärens, nicht mehr der Sachen – aber er gilt soviel, als die Sache selbst. Beiden gilt der Willen des andern, als solcher.“

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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Tausch gerade dieser Moment der Gegenwart nur selten gegeben war. Mit dem Vertrag hingegen wird diese wirkliche Gegenwart überflüssig: „[E]s ist sogut als ob die Leistung selbst schon geschehen wäre; das Recht jenes einzelnen an seine Sache ist an den andern bereits übertragen, der Übergang selbst als geschehen anzusehen“. (V 302) Der wechselseitige Übergang des Objekts (Tausch) erhält im Vertrag also Notwendigkeit, dadurch schließlich „das empirische, das Auseinandertreten der beyderseitigen Leistung in der Erscheinung, die Einheit der Gegenwart gleichgültig, und ein zufälliges [wird], das der Sicherheit des Ganzen nichts schadet“. (V 302) Hegel fragt nun, was diese ideelle Notwendigkeit ist, auf die sich die Vertragschließenden berufen. Damit der ideelle Übergang (Vertrag) „der wahrhaffte nothwendige ist, […] muß er um diß zu seyn, selbst absolute Realität haben; die Idealität oder Allgemeinheit, welche der Moment der Gegenwart erhält, muß also existiren“. (V 302f.) Interessant ist, daß Hegel an dieser Stelle wieder seine genetische Darstellung unterbricht und die Realität, die für diese Stufe bereits in Anspruch genommen wird, als „über der Sphäre dieser formellen Potenz“ liegend ausgibt.29 (V 303) Noch interessanter an dieser Stelle ist aber, daß Hegel hier in einer frühen Form auf den „Geist“ zu sprechen kommt. Und schon in dieser frühen Gestalt tritt der Geist als Vermittlung auf: „[S]oviel ergibt sich formell, daß die Idealität als solche und zugleich als Realität überhaupt nichts anders seyn kann, als ein Geist“. Dieser Geist wird „sich als existirend darstellend“ „das absolut objective Wesen, und die bindende Mitte des Vertrages“. (V 303) Er ist das Allgemeine, das die Vertragschließenden subsumiert, im Geist sind „die Vertragenden als Einzelne vernichtet“; „das Einsseyn ist nicht ein inneres, Treu und Glauben, in welchem innern das Individuum die Identität unter sich subsumirt, sondern das Individuum ist gegen das absolut allgemeine das subsumirte; also die Willkühr und Eigenheit desselben ausgeschlossen, da es im Vertrag diese absolute Allgemeinheit anrufft“. (V 303)

5.1.3.3. Geld, Markt, natürliche und ökonomische Ungleichheit, resultierende Machtverhältnisse (Unterpotenz c) Hegel wechselt nun erneut die Ebene: „das Verhältniß des Tausches, und des Anerkennens eines Besitzes, und damit das Eigenthum, – welches bisher auf einzelne sich bezog, – wird hier Totalität“; sofort folgt die Einschränkung, die für den gesamten ersten Teil des Manuskripts gilt: „[…] aber immer innerhalb der Einzelnheit selbst“. (V 303) Indem das Anerkennungsverhältnis selbst eine Totalität wird, führt Hegel das Geld und den Handel ein. Diese werden in zwei kurzen Sätzen glänzend charakterisiert: „Der Überfluß in die Indifferenz gesetzt, als allgemeines, und Möglichkeit aller Bedürfnisse, ist das Geld; so wie die Arbeit die auf Überfluß geht, und mechanisch einförmig zugleich auf die Möglichkeit des allgemeinen Tausches, und des Erwerbs aller Nothwendigkeiten geht. Wie das Geld das Allgemeine, die Abstraction derselben ist, und sie alle 29

Hegel selbst gibt allerdings dafür eine Erklärung: Die im Vertrag angerufene und in ihn eintretende absolute Allgemeinheit ist „doch nur formell; die Bestimmtheiten welche durch sie verknüpft und unter sie subsumirt werden, sind und bleiben Bestimmtheiten; […] sie werden betrachtet als Einzelnheit der Individuen oder der Dinge, über welche contrahirt wird; und deßwegen kan die wahre Realität nicht in diese Potenz fallen“. (V 303)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

vermittelt, so ist der Handel diese Vermittlung als Thätigkeit gesetzt, welcher Überfluß gegen Überfluß eintauscht.“ (V 304) Im Aufbau des Manuskripts erfolgt an dieser Stelle eine sehr interessante Rückwendung. Hatte Hegel mittels der Überfluß erzeugenden Arbeit und des Prozesses des Anerkennens Eigentum entstehen lassen, welches übertragen werden konnte und schließlich einen Markt schuf, auf dem – vermittelt durch Geld – die je einzelnen Bedürfnisse ihre Erfüllung finden konnten, so wird nun plötzlich auf „das Individuum als die Indifferenz aller Bestimmtheiten“ und als „Totalität“ geachtet. (V 304) Daß Hegel hier mit dem Lebensbegriff operiert,30 verdeutlicht seine Intention: „[D]as Leben des Menschen ist die Indifferenz aller Bestimmtheiten.“ (V 305) Bisher wurden verschiedenste Verhältnisse untersucht, zuletzt die Sachgewalt der Marktbeziehung betrachtet, in welcher das Individuum nur als ein besitzendes anerkannt war, also als Eigentümer. Das Individuum darf aber nach Hegel eben gerade nicht nur als ein einzelne Dinge besitzendes angesehen werden, sondern es muß „als im Ganzen für sich seyendes“ anerkannt werden. (V 304) Das Leben selbst sperrt sich gegen die Bestimmtheit des Besitzes.31 Zwar wird es gerade im Rechtsverhältnis so gefaßt, doch ist das eine künstliche Abstraktion. Hegel erläutert dies und führt damit das Individuum in der Bestimmung des nur formell lebendigen oder als „Person“ ein.32 „Das Leben des Individuums, ist die aufs höchste gesteigerte Abstraction seiner Anschauung; die Person aber der reine Begriff desselben, und zwar ist dieser Begriff, der absolute Begriff selbst.“ (V 304) Hier tritt Hegel nun als glänzender junger Theoretiker auf: „In diesem Anerkennen des Lebens, oder im Denken des andern, als absoluten Begriffs ist er als freyes Wesen, als Möglichkeit, das Gegentheil seiner selbst in Bezug auf eine Bestimmtheit, zu seyn […]. Alle Dinge sind ebenfalls durch ihren Begriff die Möglichkeit das Gegentheil ihrer selbst zu seyn“. (V 304f.) Interessant ist, daß Hegel erneut auf Gefahren der Freiheit hindeutet und sie eigentlich wiederum unter dem Aspekt der Verweigerung nennt. Das Anerkennen bringt offensichtlich Probleme mit sich: „[E]s ist in dieser Freyheit also ebenso gut die Möglichkeit des Nichtanerkennens, und der Nichtfreyheit gesetzt.“33 (V 305) Wahrscheinlich meint Hegel, daß indem die Anerkennungsprozedu30

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Vgl. zur Rolle des Lebensbegriffs: Christoph Jamme, „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800 (Hegel-Studien Beiheft 23), Bonn 1983. Hier findet sich eine genaue Dokumentation von Hegels Sicht auf die Positivität, insbesondere im 5. Kapitel (226–316): „Leben versus Tod – Philosophieren und Politisieren aus dem Geist der Vereinigungsphilosophie“. Vgl. V 304: „[A]ber weil das Individuum als solches schlechthin Eins mit dem Leben ist, nicht bloß im Verhältniß mit ihm, so kann nicht, wie von den andern Dingen, als mit denen es nur im Verhältniß ist, vom Leben gesagt werden, daß das Individuum es besitze“. Vgl. V 304: „[D]as Leben ist die höchste Indifferenz des Einzelnen, aber es ist zugleich schlechthin etwas formelles, insofern es die leere Einheit der einzelnen Bestimmtheiten ist, und keine Totalität und aus der Differenz sich reconstruirende Ganzheit damit gesetzt ist. [Auf diese Rekonstruktion kommt es Hegel aber an, sie soll geleistet werden! – d. A.] Als das absolut formelle ist es ebendarum auch die absolute Subjectivität, oder der absolute Begriff, und das Individuum unter dieser absoluten Abstraction betrachtet die Person.“ Es gibt nicht nur „diese Freyheit“, sondern auch die positive und höchste „Freyheit“. Vgl. V 329 und V 358.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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ren eben wesentlich formelle sind und sich über das Medium des Eigentums vollziehen – sie also keine erlebnishaften mehr sind –, sie so die Gefahr der Nichtanerkennung in sich bergen.34 Das Anerkennen des Individuums als auch „formal lebendiges“ (Person), nicht nur als besitzendes (wie noch zuvor), ist also gegeben, wenn auch mit Unsicherheiten belastet. Hegel fragt nun nach dem realen Verhältnis, in welchem sich die Individuen als „lebendige“ gegenüberstehen: „Dieses Verhältniß, das das indifferente und freye, das mächtige ist, gegen das differente, ist das Verhältniß der Herrschafft und Knechtschafft.“ (V 305) Hegel beschreibt dieses Verhältnis als der Natur zugehörig. Es sei „mit der Ungleichheit der Macht des Lebens unmittelbar und absolut gesetzt; es ist hiebey an kein Recht und keine nothwendige Gleichheit zu denken“. (V 305) Dieses Verhältnis sei einfach dadurch vorhanden, daß es eine Mehrheit von Individuen gebe: „[I]n der Realität […] ist die Ungleichheit des Lebens gesetzt, und damit das Verhältniß [der Herrschafft] und Knechtschafft; denn in der Realität ist die Gestalt und Individualität und Erscheinung, also Verschiedenheit der Potenzen oder der Macht“.35 (V 305) Es wird in Hegels Darstellung nicht gänzlich klar, woraus er die Ungleichheit ableitet. Wenn er von der Macht des Lebens spricht, könnte man auf den Gedanken kommen, daß er sie anthropologisch begründet. Dagegen spricht aber in jedem Falle der systematische Ort im Manuskript selbst. Und ebenso die nachfolgenden Erläuterungen, welche den Herrn kennzeichnen als „die Indifferenz der Bestimmtheiten, aber bloß als Person, oder ein formal lebendiges“, und den Knecht ebenso ausdrücklich sich zum Herrn „als zu der formalen Indifferenz, oder zu der Person“ verhaltend bestimmen. (V 306) Diese Ausführungen verbieten die Annahme, physische Ungleichheiten würden jenes Verhältnis notwendig erzeugen. Der Gang des Manuskripts verweist eigentlich darauf, daß die Ungleichheit aus unterschiedlich großem Eigentum resultiert. Dieses wiederum setzt elementare Sozialisierungsakte als längst erfolgt voraus. Eine entscheidende Bedingung für das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft scheint eher der Übergang zu sein, der mit dem Überfluß einsetzt. Gebrauchs- und Tauschwert stimmen nicht unbedingt überein. Mit dem Übergang von der gebrauchswertbildenden Arbeit zur tauschwertbildenden Arbeit ist das Problem entstanden, daß 34

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Bereits bei der ersten Nennung des Eigentums machte Hegel auf die Möglichkeit seines Nichtanerkennens aufmerksam, die in der Struktur desselben mitbegründet sei. Vgl. V 299: „Das Negative besteht also im nichtanerkennen des Eigenthumes […]; aber das Eigenthum ist hier selbst gesetzt, als nicht nothwendig, nicht auf den Gebrauch und Genuß des Subjects bezogen; […] die Beziehung des Subject auf sie [die Materie] ist selbst bestimmt als eine bloß mögliche. […] [In der Negation] wird ein Überfluß, was schon für sich keine Beziehung auf das Bedürfniß hat aufgehoben, was die Bestimmung hat, aus der Beziehung des Besitzes zu treten.“ Die in der Neuedition vorgenommene Ergänzung „[der Herrschafft]“ – bei Lasson (Hegel 1923, 442) hieß es noch „[von Herrschaft]“ – ist nicht unbedingt notwendig, denn Hegel erklärt kurz darauf (V 306), daß hier eigentlich noch nur das „Verhältniß der Knechtschafft“ gegeben sei, „denn die Knechtschafft ist der Gehorsam gegen einzelnes und besonderes“. Erst wenn der Gehorsam sich auf ein „absolut allgemeines“ beziehe und dieses selbst also eine Macht darstellt, könne man vom „Verhältniß der Herrschafft und des Gehorchens“ (V 306) sprechen; dieses sei jedoch erst im Sittlichen erreicht.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

der Gebrauchswert sich nicht als solcher realisiert, sondern erst umgewandelt werden muß – es entsteht Abhängigkeit vom Markt. Hegel hatte das sehr prägnant als „reale Verwechslung“ beschrieben. (V 301) Im Grunde kommt er nun auf diesen Punkt zurück: „[E]s ist die Besonderheit überhaupt, im praktischen die Noth, was das Band beyder ausmacht; der Herr ist im Besitz eines Überflusses des physischen Nothwendigen überhaupt, und der andere im Mangel desselben; und zwar so daß jener Überfluß wie dieser Mangel nicht einzelne Seiten, sondern die Indifferenz der nothwendigen Bedürfnisse ist.“ (V 306)

5.1.3.4. Familie als marktfreie, nichtrechtliche (aber nicht „rechtlose“) Sphäre und natürliche Indifferenzstufe Der Markt vermittelt die eigentlichen Bedürfnisse der Individuen untereinander; diese Marktgesetze treten als eine anonyme Macht auf und entwickeln eine Sachgewalt. Die Individuen sind diesem Markt ausgeliefert. Dies ist eine eruptive, schwankende, katastrophale Welt, die sich nicht selbst regeln kann und eingebunden werden muß. In ihr herrscht reale Ungleichheit, die Menschen stehen sich als Personen gegenüber. Hegel weist auf die Notwendigkeit der Überwindung des „Verhältniß[es] der Knechtschafft“ hin: es „muß indifferentiirt seyn“. (V 306) Er fragt nach einer vorhandenen Indifferenzstufe, in der die Ungleichheit aufgehoben ist und Eigentum als solches keine Bedeutung hat. Und er findet sie in der Familie – Hegel faßt hier das Erreichte zusammen: „Diese Indifferenz des Herrschafft- und Knechtschafftsverhältnisses, in welcher also die Persönlichkeit und die Abstraction des Lebens absolut eins und dieselbe ist, und diß Verhältniß nur als das äussere erscheinende, ist die Familie: In ihr ist die Totalität der Natur, und alles bisherige vereinigt, die ganze bisherige Besonderheit ist in ihr ins allgemeine versetzt“. (V 307) Was also vereinigt ist, erhellt aus Hegels Definition der Familie: Sie ist „die Identität α) der äussern Bedürfnisse, β) des Geschlechtsverhältnisses; der natürlichen, an den Individuen selbst gesetzten Differenz, und γ) des Verhältnisses von Eltern zu Kindern, oder der natürlichen herausgetretenen, aber als Natur seyenden Vernunft“. (V 307) Hegel betont vor allem, daß es sich bei der Familie um eine rechtsfreie Sphäre handelt, „aller Vertrag, über Eigenthum, Dienstleistung und dergleichen hinweg“ fällt, und „der Überfluß, Arbeit, Eigenthum […] absolut gemeinschaftlich [ist], an und für sich, und beym Tode des einen ist nicht ein Übergang von einem an einen fremden, sondern nur die Theilnahme des Verstorbenen am gemeinschafftlichen Eigenthum hört auf“. (V 307) Diese Gemeinschaftlichkeit ist der wesentliche Punkt, deshalb kann auch nicht von Herrschaft gesprochen werden, oder doch nur oberflächlich; der Mann ist zwar Herr, aber eigentlich Verwalter, keinesfalls „Eigenthümer im Gegensatz gegen die andern Mitglieder der Familie“. (V 307) Dies war aber vorhin die Bedingung der Ungleichheit, des Knechtschaftsverhältnisses: Daß einer mächtiger Eigentümer ist und der andere dessen bedarf, was jener sein Eigentum nennt. In der Familie hingegen gibt es zwar auch Unterschiede, aber nicht das Eigentum betreffend, da dieses „an und für sich selbst gemeinschafftlich“ ist: „Die Arbeit ist […] nach der Natur eines jeden Gliedes vertheilt; aber ihr Product gemeinschafftlich; jedes arbeitet eben durch diese Vertheilung, einen Überfluß aus, aber nicht als sein Ei-

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genthum; der Übergang ist kein Tausch, sondern es ist unmittelbar an und für sich selbst gemeinschafftlich.“ (V 307) Sodann kommt Hegel auf die „Ehe“, wo also nicht der Besitz, sondern das „Verhältniß des Geschlechts, des Weibs zum Mann“, welches „an sich ein Besonderes“ ist, indifferentiiert wird. (V 307f.) „[D]ie Besonderheit wird eine beständige, dauernde, fixirte; das Geschlechtsverhältniß schränkt sich nur auf diese zwey Individuen gegeneinander ein, und es beharrt für immer; so ist es Ehe.“ (V 308) Es folgt eine scharfe Polemik gegen Kant, die aus der Abwehr der Möglichkeit eines Kontrakts zwischen den Eheleuten resultiert, „wie überhaupt an sich kein Contract über persönliche Dienste möglich ist, da das Product allein, nicht das persönliche in den Besitz des andern übergehen kann“. (V 308) Die Ehe als Kontrakt anzusehen ist falscher Schein: „[I]hr Contract würde den Inhalt haben, keinen Contract zu machen, also sich unmittelbar aufheben.“36 In einem „positiven Contract“ würden sich die Eheleute „zu einer Sache machen, die in Besitz ist“, sich ihre „ganze Persönlichkeit als eine Bestimmtheit seiner selbst setzen“, an die sie absolut gebunden wären. (V 308) „[D]iese Bestimmtheit müßte wie Kant thut, als die Geschlechtsteile betrachtet werden; aber sich als absolute Sache, als absolute Verbindung mit einer Bestimmtheit setzen, ist die höchste Vernunftwidrigkeit und Infamie.“37 (V 308f.) Hegel behält diese Kritik bei. So heißt es in den Jenaer Systementwürfen I: „Diß Band, als in dem die Totalität das Bewußtseyn eines jeden, ist darum heilig, und von dem Begriffe eines Contracts als welchen man die Ehe hat ansehen wollen gänzlich entfernt.“38 Und in den Jenaer Systementwürfen III: „Diß in sich beschlossne Ganze ist nicht Verbindung durch einen Contract, über ihr Eigenthum contrahiren sie wohl beyde; aber nicht über ihren Leib – barbarische Vorstellung Kants, sich die Geschlechtstheile zum Gebrauch überlassen zu wollen, und so auch den ganzen Körper gleichsam als Zugabe; – durch Soldaten könnten sie so zu36

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Vgl. V 308: „Der Knecht kann, als Ganzes der Persönlichkeit Eigenthum werden, und so auch die Frau; aber diß Verhältniß ist nicht die Ehe, auch kein Contract mit dem Knecht, sondern über den Knecht oder die Frau, mit einem andern; wie unter vielen Völkern die Frau den Eltern abgekaufft wird. Mit ihr selbst aber ist kein Contract möglich; denn eben insofern sie in der Ehe sich frey geben soll, gibt sie mit sich selbst, und ebenso der Mann, die Möglichkeit des Contractes auf“. Vgl. hierzu Kant: Metaphysik der Sitten, 1. Teil, §§ 24ff. (Kant 1900ff., Bd. VI, 277f.) Im § 27 heißt es: „Der Ehe-Vertrag wird nur durch eheliche Beiwohnung (copula carnalis) vollzogen. Ein Vertrag zweier Personen beiderlei Geschlechts mit dem geheimen Einverständniß entweder sich der fleischlichen Gemeinschaft zu enthalten, oder mit dem Bewußtsein eines oder beider Theile, dazu unvermögend zu sein, ist ein simulirter Vertrag und stiftet keine Ehe; kann auch durch jeden von beiden nach Belieben aufgelöset werden. Tritt aber das Unvermögen nur nachher ein, so kann jenes Recht durch diesen unverschuldeten Zufall nichts einbüßen. Die Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten geschieht also nicht facto (durch die Beiwohnung) ohne vorhergehenden Vertrag, auch nicht pacto (durch den bloßen ehelichen Vertrag ohne nachfolgende Beiwohnung), sondern nur lege: d. i. als rechtliche Folge aus der Verbindlichkeit in eine Geschlechtsverbindung nicht anders, als vermittelst des wechselseitigen Besitzes der Personen, als welcher nur durch den gleichfalls wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenthümlichkeiten seine Wirklichkeit erhält, zu treten.“ (Kant 1900ff., Bd. VI, 279f.) Zu Kants Eheauffassung vgl. Reinhard Brandt, „Kants Ehe- und Kindesrecht“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2, 2004, 199–219. JSE I, VI 302.

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sammengezwungen werden.“39 Noch in der Rechtsphilosophie wird dieser Einwand wiederholt: „Unter den Begriff vom Vertrag kann daher die Ehe nicht subsumiert werden; diese Subsumtion ist in ihrer – Schändlichkeit, muß man sagen, bei Kant […] aufgestellt.“ (7/157) Zum Abschluß des ersten Teils folgt eine der schönsten Passagen des Werks; Hegel erläutert, wie die Familie in ihrem Kind „ihrem zufälligen, empirischen Daseyn […] entrissen“ ist, und man kann wohl sagen, daß Hegel das Kind hier nahezu feiert. In dem Kind ist die Familie „gegen den Begriff, durch welchen die Einzelnheiten, oder Subjecte sich vernichten, gesichert; das Kind ist gegen die Erscheinung das absolute, das vernünftige des Verhältnisses; und das Ewige und bleibende, die Totalität welche sich als solche wieder producirt“. (V 309) Betrachtet man den Aufbau des ersten Teils unter formalen Gesichtspunkten, so fällt auf, daß er nur zwei Hauptpotenzen enthält. Nach Hegels im System des Sittlichkeit angewandter Methode fehlt also eigentlich eine dritte Potenz, welche die Indifferenz der zwei Hauptpotenzen der natürlichen Sittlichkeit darzustellen hätte. Betrachtet man den inhaltlichen Verlauf und insbesondere den letzten Abschnitt des ersten Teils, so kann man – mit etwas gutem Willen – in der Familie diese Indifferenzstufe erkennen. Ich hatte schon ausgeführt, daß Hegel hier alles bisher Erreichte bündelt. Die Familie, jedenfalls so wie sie Hegel an dieser Stelle präsentiert, enthält alle im Text bisher verorteten „Elemente“ der natürlichen Sittlichkeit: Bedürfnis, Arbeit, Genuß, Kinder, Werkzeuge, Rede (die in der ersten Hauptpotenz behandelt worden waren); was die Elemente der zweiten Hauptpotenz betrifft, so wurde die Familie ausdrücklich als abschließende Stufe, die „Indifferenz des Herrschafft- und Knechtschafftsverhältnisses“, eingeführt. (V 307) Auch Hegels Definition, daß in der Familie „die Totalität der Natur, und alles bisherige vereinigt“ sei, spricht dafür, daß mit der Familie die Indifferenzstufe der ersten zwei Potenzen gegeben ist. Vor allem die Bestimmung, daß „die ganze bisherige Besonderheit […] in ihr ins allgemeine versetzt“ (V 307) sei, legt den angegebenen Status der Familie als Indifferenzstufe der natürlichen Sittlichkeit im Manuskript nahe.40 (V 286–288)

5.2. Exkurs: Zur Thematik der Liebe, Ehe, Familie und Rolle der Kinder Wir haben gesehen, daß Hegel in der Familie eine natürliche Einheit erkennt. Sie repräsentiert für ihn eine sittliche Ganzheit, die schon im nichtstaatlichen Bereich vorhanden ist. Sie dokumentiert, daß bereits auf der natürlichen Stufe Prinzipien herrschen, die das bloße Eigeninteresse übersteigen, daß also nicht nur egoistische Motive das Leben bestimmen. Man sieht das schon daran, wie Hegel die „Liebe“ akzentuiert. Es handelt 39 40

JSE III, VIII 239. Vgl. Schnädelbach 2000, der diese Deutung vorschlägt und resümiert: „Hegel hat es offenbar als redundant empfunden, dies explizit auszuführen, und man mag darin bereits eines der Motive für die Methodenveränderung in der JPG [Jenaer Philosophie des Geistes] erblicken.“ (92) Vgl. außerdem Ilting 1974, der die Übergangsfunktion betont.

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sich bei ihr nicht um eine romantische Verklärung (z. B. lehnt Hegel die Ehe aufgrund bloßen Verliebtseins ab),41 sondern die Betonung der freiwilligen Hingabe, zu der niemand gezwungen werden könne. Dieser Sachverhalt war Hegel vermutlich durch Hölderlin nahegebracht worden und zugleich einer der Gründe, weshalb Hegel seinen frühen Kantianismus mäßigte bzw. schließlich aufgab. An dieser Stelle kann nicht untersucht werden, wie Hegel das Motiv der „Liebe“ in seinen verschiedenen Entwürfen – zentral war es insbesondere in den sogenannten theologischen Jugendschriften – handhabte; dazu gibt es detaillierte Studien. Ich möchte nur auf einige Konsequenzen aufmerksam machen, die zugleich geeignet sind, die Differenzen zu Kant und Fichte zu verdeutlichen.42 Außerdem soll wenigstens kurz angedeutet werden, wie Hegel in seinen späteren Werken die genannte Thematik behandelt. Die Themen eignen sich ausgezeichnet für einen Vergleich mit Kant und Fichte, da sich auch diese hierzu teils ausführlich geäußert haben; die festzustellenden Differenzen verdeutlichen und betonen aufschlußreich die jeweiligen Positionen.43 Was z. B. sofort auffällt, ist die differierende Auffassung der Ehe. Obwohl alle Autoren sie als eine rechtliche Verbindung begreifen, wird sie doch sehr verschieden beurteilt. Während Kant den juridischen Aspekt in den Vordergrund rückt, betrachten Fichte und Hegel sie vor allem als Ausdruck einer innigen Beziehung, die als solche daher auch durch eigene und andere als nur rechtliche Verpflichtungen charakterisiert ist. Gerade für Hegel ist sie primär Versittlichung einer natürlichen Verbindung. Die Ehe wird getragen durch die Liebe; sie dokumentiert öffentlich, was sonst nur natürliche Vereinigung (Triebbefriedigung) oder bloßes (subjektives) Gefühl der Liebe bliebe. Die nur biologische oder gefühlte Einheit wird durch die Ehe also auf eine neue, laut Hegel sittlich höhere Stufe gehoben. Das Verhalten der Ehepartner kann nicht wirklich erzwungen werden, da die Ehe grundsätzlich auf der nicht zu gebietenden Liebe beruht.44 Das heißt natürlich nicht, daß es keine wechselseitigen Pflichten gebe. Hegel möchte – entgegen Kant – aber betonen, daß die Ehe prinzipiell etwas anderes als ein rechtlicher Vertrag zur wechselseitigen Überlassung der Geschlechtsorgane ist. Die Ehe mündet bei Hegel in der Familie, sie hat also (auch) den Zweck der natürlichen Fortpflanzung. Im Kinde schauen die Eltern (Eheleute) ihre Einheit an. Durch das Kind wird die zuvor „bloߓ gefühlte Einheit der Liebenden (bzw. der öffentlich anerkannten Einheit der Eheleute) zu einer anschaubaren Einheit oder auch, wie Hegel sagt, „Mitte“. Das Kind ist eine Art faktisches Zeugnis der Verschmelzung der Eltern, die 41 42

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Vgl. z. B. in der Rechtsphilosophie den Zusatz zu § 161. Man hat hierin öfters auch Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität gesehen. M. E. trifft dies durchaus zu, nur daß es sich eben tatsächlich nicht um ein eigens von Hegel herausgehobenes oder gar tragendes Prinzip handelt. Vgl. vor allem Michael Theunissen, „Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts“, in: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, 317–381. Außerdem Dellavalle 2000. Es bleibt aber festzuhalten, daß sich Fichte und Hegel trotzdem als im Geiste Kants arbeitend verstehen. Vgl. schon Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1/325): „[…] weil in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt“.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

zwar schon zuvor durch Liebe vereinigt sind, aber – schon durch biologische Polarität – prinzipiell je einzelne bleiben. Mit dem Kind ist ihnen eine real existierende Einheit gegeben; in ihm schauen sie sich, ihre Liebe und Einheit an, es ist, grob gesprochen, das in die äußere Existenz getretene Resultat ihrer Beziehung. Das Kind ist also in gewissem Sinne eine unleugbare Bestätigung ihrer Vereinigung.45 Wozu braucht Hegel diese Ausführungen? Sind sie mehr als bloße Phänomenanalyse, mehr als die Trivialität, daß es zu einem Kinde zweier Eltern bedarf? M. E. möchte Hegel auf den affirmativen Charakter der Struktur hinweisen, die mit dem Kind gegeben ist. Ist die Ehe schon eine Art Objektivierung der Liebe, so erst recht das Kind. Die Eltern besitzen in ihm „die objektive Gegenständlichkeit ihrer Verbindung“.46 Der Sinn wird deutlich, wenn man die Unterschiede zu anderen Autoren betrachtet. Bei Rousseau z. B. (jedenfalls in bestimmten Publikationen) hatte die natürliche Fortpflanzung keine direkten Folgen für die (zufällige, nur momentane) Beziehung der Eltern. Jeder war und blieb Solitär, es entstehen durch das Kind keine neuen Bindungskräfte oder Verpflichtungen der Eltern untereinander.47 Bei Hegel, so scheint es, verändert sich das menschliche Bewußtsein durch und bei den verschiedenen Tätigkeiten, Begegnungen, Interaktionen. Es muß also in gewisser Weise Erfahrungen machen (vgl. auch den Untertitel der Phänomenologie des Geistes: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins), und diese Erfahrungen bewirken etwas. Das Denken (und Verhalten) formt sich also nicht nur durch Selbstreflexion oder rationale Selbstkontrolle, sondern ist wesentlich auf die Mitwelt angewiesen. Die Subjektivität ist nicht allein weltbildend, sondern auf Interaktionen angewiesen.48 Damit ist nicht gemeint, daß die jeweiligen Umstände konkret vorherbestimmen, wie schließlich gedacht wird; aber doch ist das menschliche Bewußtsein so komplex, daß die Synthese der verschiedenen Sphären, die es zu erbringen hat, von diesen immerhin beeinflußt wird. Die Normen menschlichen Verhaltens lassen sich z. B. nicht aus bloßer Intellektualität herleiten, sie sind, jedenfalls einige, auch geschichtlich bestimmt. Doch heißt das nun wiederum nicht, daß die historische Genese bestimmter Normen diese auch als vernünftig legitimiert. Für Hegel ist wichtig, daß die Empfindung der Liebe die eigentliche Grundlage für die Familie und Ehe ist. Dieses substantielle Band der Liebe ist gerade nicht einklagbar, von Rechten ist daher eigentlich nur unter äußerlichem Gesichtspunkt die Rede (Vermögen, Erbschaft u. ä.). In der Familie ist man nicht rechtliche Person, auch nicht primär Subjekt, sondern vor allem Mitglied, Glied eines organischen Ganzen. In der Ehe verschmelzen die Liebenden zu einer Einheit, eigentlich zu einer Person. Freiwil45

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Auch dieser Gedanke hält sich bei Hegel durch. Vgl. Rechtsphilosophie, § 173 (Zusatz): „Die Mutter liebt im Kinde den Gatten, dieser darin die Gattin; beide haben in ihm ihre Liebe vor sich“. (7/326) Rechtsphilosophie, § 175 Zusatz bzw. 7/329. Es kann und soll hier nicht diskutiert werden, ob das nicht mitunter empirisch bestätigt werden könnte; an dieser Stelle interessieren Systematik und Konsequenzen der verschiedenen Bestimmungen. Vgl. auch Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, 9–197. Die Originalausgabe von 1928 trug auf Anraten Heideggers noch den Untertitel: „Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme“. Vgl. 469f.

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ligkeit ist dabei Voraussetzung.49 Hegel hat diese Position auch noch in seiner Rechtsphilosophie vertreten: Ausgangspunkt der Ehe sei „die freie Einwilligung der Personen, und zwar dazu, eine Person auszumachen, ihre natürliche und einzelne Persönlichkeit in jener Einheit aufzugeben, welche nach dieser Rücksicht eine Selbstbeschränkung, aber, indem sie in ihr ihr substantielles Selbstbewußtsein gewinnen, ihre Befreiung ist“.50 Auch hier ist das Zusammengehen der Menschen also nicht als leidige Einschränkung, sondern als Bereicherung, Erfüllung und Ausdruck der Freiheit gesehen. Hegel lehnt mit dieser Akzentuierung gleich mehrere Positionen ab: die Ehe wird weder auf sexuelle Triebe reduziert (wie in manchen naturrechtlichen Abhandlungen), noch ist sie nur ein Vertrag, der jederzeit kündbar wäre (kontraktualistische Vorstellung, auch bei Kant). Auch die empfindsame Vorstellung (Ehe beruhe auf Verliebtsein) weist Hegel implizit zurück, denn nicht die unzuverlässige Laune, ein temporärer Zustand, das bloße Mögen, sondern die sittliche Kraft der Liebe und der Entschluß zur lebenslangen Bindung (auch das öffentliche Bekenntnis) machen für Hegel die Ehe aus, die aber durchaus aus Neigung hervorgehen darf. Die Ehe ist eine Institution, und die Eheleute wissen das: Ehe ist eine Objektivation der Liebe. Der Wunsch nach und die Entschlossenheit zu dauerhafter Bindung dokumentieren für Hegel einen sittlichen Wert, der über das bloß Naturhafte hinausgeht. Sie ist also nicht der Ausdruck einer nur gesteuerten, kontrollierten Triebbefriedigung, sondern eine Erhebung über die Natur, indem etwas Neues, neben dem natürlichen auch ein geistiger Bund gestiftet wird.51 Die Eheleute müssen ja nach Hegel ihre alten, gleichsam natürlichen und vertrauten Verhältnisse (nämlich ihre alten Familien, in denen sie aufgewachsen sind) verlassen.52 Die Ehe, die in einer neuen Familie münden soll, ist eine gegen die Herkunft selbständige, in gewisser Hinsicht höhere Institution. Die Verbindung mit dem Elternhaus oder Stamm „hat die natürliche Blutsverwandtschaft zur Grundlage, die neue Familie aber die sittliche Liebe“, schreibt Hegel später im § 172 der Rechtsphilosophie.53 Gerade weil die Eheleute zu einer Einheit werden, ist der kontraktualistische Ansatz abzulehnen. Denn sie stehen sich nicht als einzelne Individuen gegenüber, die an den anderen Vertragsforderungen stellen und damit ihre jeweilige Einzelheit betonen. Das Wesen der Ehe besteht in der freien Hingabe. Nicht ein Vertrag bindet die Partner, sondern die Liebe.54 Die Liebenden dürfen und können gerade nicht zu einer Sache 49

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Vgl. zum Folgenden Vittorio Hösle: Hegels System: der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Bd. II: Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1987, 530– 537. § 162; vgl. auch § 158 und dessen Zusatz sowie § 213 Zusatz, und Hösle 1987, 530. Vgl. auch die Anmerkung zum Band der Ehe in JSE I, VI 302: „Es wird nicht wie in der Natur, durch das Kind, ein dauerndes, nur ein Moment, des sich in einem dritten erkennens, des Seyn der Mitte, sondern an sich selbst ein dauerndes. Und es ist hierin zum erstenmale eine Mitte gesetzt, wie sie in Individuen selbst existirt, oder wie ihre entgegengesetzten das Ganze derselben ist“. Vgl. Rechtsphilosophie, § 178: „[…] und als jede Ehe das Aufgeben der vorigen Familienverhältnisse und die Stiftung einer neuen selbständigen Familie wird.“ (7/330) Rechtsphilosophie, 7/324. Vgl. § 176. „So wenig ein Zwang stattfinden kann, in die Ehe zu treten, so wenig gibt es sonst ein nur rechtliches positives Band, das die Subjekte bei entstandenen widrigen und feindsinnigen Ge-

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

gemacht werden. Hieraus resultiert die scharfe Polemik gegen Kant im System der Sittlichkeit und auch in der Rechtsphilosophie.55 Nach Hegel erfüllt sich die Ehe erst in der „eigentlichen“ Familie, d. h. wenn die Eheleute auch Kinder haben. Einerseits objektiviert sich die Liebe, also die Beziehung der Eheleute, im Kinde. Andererseits ist diese Objektivierung schließlich selbst Subjekt, Individuum. Dieses wird zwar von den Eltern erzogen, doch ist es dazu bestimmt, selbständig zu werden und die unmittelbare Einheit der Familie schließlich zu verlassen und selbst eine neue Familie zu gründen. Im System der Sittlichkeit ist die Familie wesentlich natürliche Einheit, die Stufe des staatlich geschützten Rechts ist in der dortigen Darstellung noch nicht erklommen. Doch wird deutlich, daß die Kinder Anspruch auf Zuwendung, Erziehung und Versorgung haben. In der Rechtsphilosophie wird dies später ganz deutlich ausgesprochen: „Die Kinder haben das Recht, aus dem gemeinsamen Familienvermögen ernährt und erzogen zu werden“, heißt es im § 174, und im Zusatz: „Was der Mensch sein soll, hat er nicht aus Instinkt, sondern er hat es sich erst zu erwerben. Darauf begründet sich das Recht des Kindes, erzogen zu werden.“56 Die Kinder werden von Hegel also auch als Rechtssubjekte begriffen. Das war keineswegs selbstverständlich. Fichte etwa sprach den Kindern solche Rechte ab: Man könne „nicht sagen, das Kind habe ein Zwangsrecht auf Erziehung“.57 Nach Fichtes Auffassung können Kinder gar keine Rechtssubjekte sein, da dies nur aktual vernünftigen Wesen zukomme. Hier sieht man besonders scharf die Folgen der vertragstheoretischen Konzeption: Nur Vernunftwesen zählen, die Kinder dagegen könnten im Extremfall sogar getötet werden, ohne daß das Vernunftrecht Fichtes verletzt würde.58 Hegels Auffassung wirkt wesentlich humaner, und sie begründet auch, warum Kinder Schutz und Fürsorge nicht nur verdienen, sondern auch rechtlich beanspruchen können. Kinder dürfen schon deshalb nicht als Sachen behandelt werden, weil in ihnen die Vernunft bereits angelegt ist, sie eine Geistnatur haben. Sie sind also in jedem Falle schon potentielle Vernunftwesen. Gegen Fichtes rohe Auffassung betont Hegel: „Die Kinder sind an sich Freie, und das Leben ist das unmittelbare Dasein nur dieser Freiheit, sie gehören daher weder anderen, noch den Eltern als Sachen an.“59 Im System des Sittlichkeit und anderen Jenaer Systementwürfen sind zahlreiche pädagogische Aussagen enthalten. Wichtig ist, daß das Kind durch die Eltern geformt wird. Hegel zeigt sich einigermaßen streng, das Wort Zucht (auch Aufzucht) ist ernst zu nehmen, ebenso der Gehorsam. Doch bilden Liebe und Zutrauen das tragende Gerüst. Hegel ist der Auffassung, daß die Kinder der Eltern bedürfen, um die Welt zu erfahren. Die Eltern sind die primär Gebenden und haben große Verantwortung. Es erweist sich,

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sinnungen und Handlungen zusammenzuhalten vermöchte.“ (7/329) Im Extremfalle mag es sogar zur „totalen Entfremdung“ kommen; die Ehe kann bei Hegel durch eine berechtigte sittliche Autorität (Kirche, Gericht) daher durchaus geschieden werden. Vgl. § 75; Hösle kommentiert dies ausführlich: Hösle 1987, 531, Fußnote 204. Rechtsphilosophie, 7/326f. Fichte 1845–1846, Bd. 3, 359. Vgl. Fichte 1845–1846, Bd. 3, 361f. Rechtsphilosophie § 175 (7/327).

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daß wesentlich die Eltern den Kindern den Weltbezug vermitteln. Die Kinder stehen also nicht in einem unmittelbaren Weltbezug, vielmehr finden sie sich in einer durch die Eltern geprägten und vermittelten Welt vor und sind durch deren Interpretationen beeinflußt; sie lernen sich schrittweise in die tradierte, vorgeformte oder zubereitete Welt ein, ehe sie selbständig urteilen lernen.60

5.3. Zusammenfassung zum ersten Teil des Manuskripts: Analyse und Bewertung Nach der ausführlichen Übersicht über das von Hegel im ersten Teil des Systems der Sittlichkeit präsentierte Material, die dem Textverlauf selbst zu folgen hatte, soll nun nachfolgend der argumentative Aufbau des Textes rekonstruiert werden. Macht man sich von dem spezifischen methodischen Korsett der verschiedensten Subsumtionen frei, stellt sich ungefähr folgender Gedankengang dar: Der Mensch wird zunächst als bedürftiges Wesen aufgefaßt und dargestellt. Verschiedene, nur ganz elementare, sinnliche Bedürfnisse stehen am Anfang. Das Bedürfnis wird von den als bedürftig ausgezeichneten Menschen als Gefühl „erlebt“. Durch das Bezogensein auf ein begehrtes Etwas beginnt sich ein Objektbewußtsein in dem Begehrenden herauszubilden. Denn das begehrte Etwas wird über das Gefühl des von-ihm-Getrenntseins zu einem Gegenstand oder Objekt des begehrenden Menschen, auf den (bzw. das) er sich richtet. Dieser Vorgang ist eigentlich noch ganz animalisch: Wird der begehrte Gegenstand erlangt und vernichtet, tritt eine (vorübergehende) Befriedigung ein, z. B. die Sättigung. Erst wenn der Begehrende (und Bedürftige) zwischen Begierde und Genuß eine Tätigkeit einschiebt, die über die bloße Bemühung des Vernichtens (also etwa die aufgewendeten Energien durch Muskelbewegungen beim Essen) hinausgeht, entsteht eine Entwicklung, die den animalischen Sektor verläßt. Hegel benutzt hierfür den prägnanten Begriff der „gehemmten Begierde“. Indem der Bedürftige also auf eine Weise tätig wird, daß zwischen Bedürfnis und Befriedigung nicht nur eine zeitliche Differenz fällt, sondern eine aktive Arbeit vollbracht werden muß, in der von der gewünschten Befriedigung vorübergehend abgesehen wird, die Befriedigung also vorerst verschoben wird, beginnt eigentlich erst dasjenige, was als spezifisch menschlich anzusehen und insofern auch der Kennzeichnung als „sittlich“ fähig ist. (Hier soll nicht darüber diskutiert werden, ob das haltbar ist oder etwa auch höhere Tiere zum partiellen Werkzeuggebrauch u. ä. fähig sind.) Die auf die Arbeit folgende Befriedigung ist dann bereits ein viel differenzierterer Genuß. Die menschliche Möglichkeit, auf die spontane Befriedigung eines Bedürfnisses verzichten und statt dessen zunächst arbeiten 60

S. auch JSE I, VI 304f.: „Die Welt kommt nicht an diß Bewußtseyn als ein werdendes, wie bisher in der absoluten Form eines äussern, sondern durchgegangen durch die Form des Bewußtseyns; seine unorganische Natur ist das Wissen der Eltern, die Welt ist schon eine zubereitete; und die Form der Idealität ist es, was an das Kind kommt.“ Vgl. hierzu Hösles Interpretation (Hösle 1987, 536), die hierin eine Vorwegnahme des Grundgedankens der transzendentalen Hermeneutik von Peirce und Royce auf realphilosophischer Ebene erkennt.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

zu können, erscheint als eine Voraussetzung für die verschiedenen hierauf einsetzenden Kulturleistungen.61 Erst durch die Arbeit wird es möglich, Besitz zu bilden. Denn das begehrte Objekt wird nicht sofort verbraucht, sondern gespart bzw. noch zusätzlich veredelt. Es entstehen also Produkte, über die dann verfügt werden kann. Die Produkte des Arbeitenden sind eine Synthese der antizipierenden ideellen Formung (durch die vorangehende Begierde) und der real geleisteten Arbeit; folglich erblickt der Arbeitende in ihnen ein Resultat seiner eigenen Tätigkeit, das er sich selbst zu Genuß führen oder aber auch veräußern kann, sobald seine Produktion über das hinausgeht, was ihm unmittelbar und sofort nötig ist. Nicht nur wird also eine Vorratswirtschaft möglich (die ja ebenfalls einige Tiere „betreiben“), sondern es entsteht auch die Möglichkeit des Tausches. Hiermit setzt eine gewaltige Veränderung, ein kräftiger Schub ein: Der Tausch ermöglicht eine Vervielfältigung der Genüsse, denn der Mensch, der seine eigenen (in gewisser Weise überflüssigen) Arbeitsprodukte zum Tausch anbietet, kann für diese die Resultate anderer Arbeitsprozesse erwerben und sich so auf Dauer viel mehr (entstehende und sich permanent erweiternde) Bedürfnisse befriedigen, als er je könnte, würde er alles „Nötige“ selbst produzieren (davon abgesehen, daß es aufgrund der Beschränktheit der jeweiligen Fertigkeiten eines Menschen faktisch nicht möglich wäre). Es ist leicht einsehbar, daß mit und durch den Tausch bestimmte Beziehungen zwischen den Tauschenden, also den über Besitz verfügenden Menschen, entstehen. Denn der Tausch muß real vor sich gehen; dazu bedarf es einiger Formen des Anerkennens mindestens unter den am Tausch beteiligten Personen. Dafür, daß der Tausch Geltung beanspruchen darf, muß der Besitz zuvor als Eigentum anerkannt sein. Das heißt wiederum, daß eine gewisse ideelle Allgemeinheit angerufen und anerkannt wird. Auch das ist ja keine Selbstverständlichkeit: Die Frage, wann und ob ein Besitz auch Eigentum ist (ob etwa Land durch den Akt der Bearbeitung oder des Zaunbauens angeeignetes Eigentum wird), war lange umstritten. Bevor Hegel aber diese Fragen behandelt, bevor er überhaupt den Tausch, Vertrag usw. thematisiert, wo also bereits „ideelle Beziehungen“ und ein „Allgemeines“, auf das man sich beruft, anerkannt werden, bleibt er zunächst noch im Umfeld der „lebendigen“ Arbeit, die ja in der „Bildung“ der Menschen gipfelte. Auszeichnendes Kriterium der höchsten Stufe dieser Arbeit ist, daß sie sich auf Intelligenzen bezieht.62 Da sich Hegel zunächst nur für die natürlichen Gegebenheiten interessiert, untersucht er vorerst 61

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Hegel analysiert im Anschluß verschiedene Arbeiten des Menschen, wobei eine deutliche Stufung erkennbar wird: Bezieht sich die Arbeit zunächst nur auf pflanzliche Produkte, so können sich die Tiere etwa auch selbst bewegen, wodurch eine weitläufigere Arbeit möglich und nötig wird. Ganz offensichtlich ist die menschliche Arbeit aber am höchsten (und kompliziertesten), wenn sie sich selbst auf Menschen richtet. Hegel legt großen Wert darauf, daß es sich um „lebendige“ Arbeit an lebenden Objekten handelt. Gegenüber Pflanze und Tier, die ja auch lebendig sind, besteht die neue Stufe bei der auf den Menschen gerichteten Arbeit darin, daß dieser selbst Intelligenz ist (also nicht nur ein organisches oder sich lediglich bewegen könnendes Lebewesen). Es leuchtet sofort ein, daß dadurch eine ganz neue Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt der Arbeit eintritt, da das „Object“ zugleich selbst ein denkendes Subjekt ist. Zu „Intelligenz“ und „Bildung“ in der ersten Hauptpotenz vgl. auch Siep 1979, 241–244.

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das natürliche Verhältnis der „Intelligenzen“, welches für sich selbst wiederum schon eine Totalität bilden soll. Daher rekonstruiert Hegel diese Totalität aus verschiedenen Momenten: Auch hier ist erneut eine Stufung zu beobachten. Am Anfang steht wieder ein (Natur-)Gefühl, nämlich das differenzlose Gefühl der Geschlechterliebe. Als Gefühl ist es das Moment der Idealität. Das zweite Moment wird als Moment der Realität eingeführt, nämlich als das Eltern-Kind-Verhältnis. Hier ist also aus dem ideellen Verhältnis des Gefühls der „Geschlechterliebe“ bereits ein reales ‚Resultat‘ entstanden, das sich in dem Aufeinanderbezogensein der Eltern und Kinder manifestiert. Als drittes Moment, sozusagen als Einheitsmoment, wird die allgemeine Wechselwirkung der Menschen („Bildung“) genannt. Es zeichnet sich dadurch aus, daß die Menschen hier als gleichberechtigte Individuen betrachtet werden. Sie sind zwar durch ihre je eigene vollkommene Individualität Entgegengesetzte, aber dies als jeweils Gleiche. Dieser Aspekt ist wesentlich, weil er zuvor fehlte: Die Geschlechterliebe zeichnete sich durch die (nach Hegel) überhaupt höchste organische Polarität aus, so daß sich die aufeinander Bezogenen als Fremde anschauten, und im Eltern-Kind-Verhältnis kann aufgrund der Abhängigkeit bzw. Zuwendung auch nicht von Gleichheit gesprochen werden. Obwohl also alle geschilderten Momente Beziehungen zwischen Intelligenzen darstellen, wird erst im dritten Moment die Stufe erreicht, wo sich die Intelligenzen als (mit je eigener Individualität versehene) Intelligenzen und (also mindestens) in dieser Hinsicht als Gleiche begegnen. Die allgemeine Wechselwirkung und Bildung der Menschen stellt also innerhalb der ersten Hauptpotenz der natürlichen Sittlichkeit die Stufe dar, auf der sich die Menschen primär als Intelligenzen verhalten (und wohl auch verstehen). Bevor Hegel die zweite Hauptpotenz beginnt, in der die im Bereich der natürlichen Sittlichkeit auftretenden Phänomene schließlich unter dem Aspekt des „Hervortreten[s] des ideellen“ und somit „das Bestimmtwerden des besondern oder einzelnen durch dasselbe“ Ideelle (V 296) betrachtet werden, fügt er noch einen spannenden Abschnitt ein, der das Realsein des Vernünftigen innerhalb der Naturpotenz dokumentiert – nämlich die Darstellung der „Mitten“. Man sieht also, daß Hegel die Beschreibung des sachlichen Zusammenhangs von lebendiger Arbeit und resultierendem Markt unterbricht, um zuvor noch andere Phänomene behandeln zu können. Ob diese gewählte Darstellung der tatsächlichen Genese entspricht oder aber aus methodischen Gründen der Rekonstruktion der Idee der absoluten Sittlichkeit erfolgt, kann hier nicht explizit untersucht werden. Mein Eindruck ist, daß es sich jedenfalls nicht um die historische Genese der dargestellten Phänomene handeln kann. Insofern tendiere ich zu der These, daß das Verlangen nach Vollständigkeit der relevanten Problemfelder Hegel dazu bringt, noch Sachverhalte anzufügen, die nach der methodischen Gliederung in diese Potenz der natürlichen Sittlichkeit gehören müssen.63

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Hegel ist Philosoph und interessiert sich für den logischen Zusammenhang. Vgl. diesbezüglich Tredes Interpretation, der die im Manuskript verwendete Methode der Rekonstruktion der Idee über wechselseitige Subsumtionen von Anschauung und Begriff „in völliger Übereinstimmung mit der in der Logikeinleitung“ beschriebenen sieht, „nämlich die endlichen Formen ‚nicht empirisch zusammengerafft, sondern wie sie aus der Vernunft hervortreten‘ als ‚Reflex des Absoluten‘ darzu-

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Der Einschub hat aber dadurch auch einen eigenen Sinn, daß er den Gesichtspunkt der zweiten Hauptpotenz tatsächlich vorbereitet: Denn bevor das Ideelle als Allgemeines den einzelnen bestimmen kann, muß es überhaupt erst einmal „auftreten“, und sei es auch nur in besonderer Gestalt. Hegel gewährleistet mit seiner Darstellung, daß genau dies auch geschieht. Er zeigt, wie noch auf dieser frühen Stufe der Naturpotenz Ideelles reell wird. Besonders plastisch tritt dieser Gedanke bei der Bestimmung des „Werkzeugs“ hervor. Und indem Menschen sprechen, beweisen sie, daß Ideelles und Reelles verschmelzen und daß dies in der praktizierten Sprachbeherrschung auch verstanden und akzeptiert wird. Das „Ideelle“ wird also quasi bereits selbstverständlich gebraucht (in der Benutzung des Werkzeugs, beim Sprechen), bevor seine Geltung in der zweiten Hauptpotenz eigenständig thematisiert und zum entscheidenden Faktor wird. Wie man aus den frühen Hegelschen Druckschriften weiß, soll und muß die Vernunft auch erscheinen und in ihren Manifestationen anwesend sein – und Hegel fordert, daß die Philosophen dies zu zeigen hätten. Insofern hat der Abschnitt zu den Mitten eine erhebliche Bedeutung, weil Hegel hier ausdrücklich beansprucht, das Reellsein des Vernünftigen aufzeigen zu können. Nur am Rande und der Korrektheit halber sei angemerkt, daß Hegel nicht direkt vom Erscheinen der Vernunft, sondern „nur“ vom Reellsein des Vernünftigen (der „realen Vernünftigkeit“) spricht. Der Sache nach dürfte es wohl das Gleiche sein. Das Vernünftige ist nach der Darstellung im System des Sittlichkeit „vorhanden“, es ist in den Mitten „verkörpert“ (in der mündlichen Sprache, der Rede, nicht körperlich, sondern, wie Hegel sich ausdrückt, als „Äther“). Beim Werkzeug und der Rede ist diese Auslegung recht einfach nachvollziehbar. Wie aber soll im Kind als Kind das Vernünftige reell sein, was kann hiermit gemeint sein? Handelt es sich um eine Naturalisierung des Geistes? Die Vernunft ist in Gestalt der Natur anwesend. Hegels Gedankengang ist folgender: Das Vernünftige wird als jene Mitte charakterisiert, die zwischen dem Subjektiven und Objektiven vermittelt.64 Die SubjektObjekt-Relation selbst hatte Hegel zuvor bereits eingeführt und „gerechtfertigt“. Solange Subjekt und Objekt getrennt bleiben, ist aber noch keine Identität „vorhanden“. Hegels Absicht ist jedoch, diese Identitäten oder Einheitspunkte nachzuweisen. Dies war ihm zuvor auch bereits gelungen, man erinnere sich an die „Liebe“. Wenn man es grob sagen will, besteht der qualitative Unterschied zu der „neuen“ Identität der „Mitte“ darin, daß diese nun selbst faktisch vorhanden ist. Die Liebe bleibt ja ein Gefühl und ist – wenn die harte Formulierung hier gestattet ist – nicht intersubjektiv nachprüfbar oder demonstrierbar. Das sagt selbstverständlich nichts gegen ihre Echtheit. Mit der neuen Stufe der Mitte ist aber ein ganz anderes Niveau der Explizierbarkeit gegeben: Das Vernünftige realisiert sich selbst in ‚Produkten‘, auf die man also zeigen oder die man

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stellen; als eine Kopie, die sich als solche durch den Vergleich mit dem vorausgesetzten ‚Ausdruck der Vernunft selbst‘ bestimmt.“ (Trede 1972, 155) Die „Mitten“ sind für Hegel so wichtig, weil es ihm um das Aufzeigen von Identitäten geht (im System der Sittlichkeit ist Schellings Identitätsphilosophie durchaus noch wirksam). Und die „Mitten“ sind für Hegel zentral innerhalb der Logik der Vermittlung beim Aufsteigen vom analytisch Abstrakten zum synthetisierten Konkreten. Vgl. auch den vielfachen Gebrauch der „Mitte“ in den Manuskripten der Jenaer Systementwürfe I, insbesondere VI 275–279 und 282.

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tatsächlich gebrauchen kann. Damit wird die bloße Stufe des Gefühls überschritten. Deshalb bezeichnet Hegel das Kind als die herausgeborene, also natürliche, sichtbare Identität und Mitte der Eltern. Zuvor waren die in Liebe zueinander Verbundenen durch eine bleibende Differenz getrennt, sie erblickten einander zugleich als gleich und fremd, die natürliche Differenz der Geschlechter blieb (im Trieb?) unaufgehoben. Hegel sagt selbstverständlich nicht, daß dieser natürliche Unterschied durch die Elternschaft getilgt wäre, die Eltern bleiben natürlich auch weiterhin Mann und Frau. Aber ihr Bezogensein in der Liebe, ihre nur gefühlte Einheit, erfährt nun eine sichtbare, objektive Gestalt. Das Kind ist ihr gemeinsames Kind, und deshalb können sie, so Hegel, in ihm ihre reale Einheit anschauen. Es kommt hinzu, daß das Kind selbst ein lebendiges Individuum ist und daher zwar sein Leben lang Kind seiner Eltern bleibt, aber eben auch selbständig wird, selbst Vater oder Mutter werden kann und insofern die Eltern-Kind-Beziehung im eigentlichen Sinne durch die Individualität des Heranwachsenden zeitlich begrenzt ist. Der letzte Punkt hat Bedeutung, weil er die von Hegel demonstrierte Steigerung innerhalb der Trias Kind – Werkzeug – Rede motiviert: Denn die Eltern-Kind-Beziehung ist irgendwann aufgelöst. Die Mitte, das Kind, bleibt zwar zunächst weiterhin vorhanden, doch muß man fragen, für wen es dann noch Mitte sein kann. Auch leuchtet ein, daß das Kind überhaupt jeweils nur die Mitte der leiblichen Eltern „ist“. Hegel sucht daher nach Beispielen, wo diese Mitte, das Reellsein des Vernünftigen, eine ausgebreitetere Allgemeinheit erlangt. Im „Werkzeug“ findet er eine derartige Mitte. Denn die im Werkzeug verkörperte Vernunft kann auf relativ einfache Weise zeitlich unabhängig von vielen verschiedenen Menschen erfahren und gebraucht werden. Hier bedarf es keiner biologischen Bindung mehr. Hegel macht diesen Unterschied explizit: das Kind sei die reale Vernünftigkeit der Natur, hingegen das Werkzeug die reale Vernünftigkeit der Arbeit. Das Werkzeug bleibt, anders als das Kind, erhalten. Es stellt eine bleibende Manifestation der Vernünftigkeit der Arbeit dar, jeder kann es benutzen. Die „Rede“ führt Hegel als Indifferenzstufe ein, indem er sie als „das Werkzeug der Vernunft, das Kind der intelligenten Wesen“ bezeichnet. Trotz des metaphorischen Sprachgebrauchs ist der gemeinte Sachverhalt damit deutlich benannt. Die Rede ist eine weitere, und zwar eine bleibende Manifestation der Vernunft; sie kann von jedem Sprachteilnehmer nicht nur zum Ausdruck beschränkter Sachverhalte gebraucht werden und ist insofern tatsächlich Werkzeug in vielerlei Hinsicht; und die Rede erweist sich als ein von den Menschen, insofern sie als natürliche Wesen auch über Intelligenz verfügen, hervorgebrachtes Produkt. Man hat hier den Eindruck, als erhebe sich der Mensch schrittweise aus der Natur. Das Werkzeug, so Hegel, sei der Natur entrissen, die Rede soll das Produkt intelligenter Wesen sein: Sie kommt in der animalischen Welt nicht vor, hierfür muß der Mensch also bereits, wohlgemerkt immer noch auf der Naturstufe, als Intelligenz fungieren. Ist der Mensch von Natur aus also ein Kulturwesen? Die Konzeption des Systems der Sittlichkeit legt diese Auslegung nahe. Es sei noch bemerkt, daß alle drei von Hegel beschriebenen Mitten jeweils so eingeführt werden, daß in ihnen zwar das Vernünftige reell ist, das Allgemeine also erscheint, aber jeweils „nur“ in einer besonderen Gestalt, also im eigenen Kind der Eltern, in einem bestimmten, besonderen Werkzeug oder einer (zufällig?) an diesem Ort ge-

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sprochenen Sprache. Das Allgemeine wird also im je Besonderen angetroffen (aber von den Beteiligten wohl noch nicht als Allgemeines erkannt). Diese besondere Gestalt des Allgemeinen interessiert primär in der ersten Hauptpotenz der natürlichen Sittlichkeit. Für die zweite Hauptpotenz gilt eine andere Perspektive: Jetzt wird untersucht und dargestellt, daß und wie „Ideelles“, das Allgemeine, selbst als Allgemeines Geltung beanspruchen kann und auch verstanden und akzeptiert wird. Der Sache nach wird die Entwicklung fortgesetzt, die mit der Arbeit und ihren Produkten begonnen wurde. Der Grundgedanke ist, daß durch die Steigerung der Produktion (durch verschiedene Faktoren bestimmt) ein Überfluß entsteht, den der jeweilige Produzent also nicht unmittelbar ge- oder verbrauchen muß, sondern umzuwandeln strebt, um weitere Bedürfnisse zu befriedigen. Damit entsteht die Möglichkeit und schließlich Notwendigkeit zum Tausch mit allen zugehörigen „Folgen“: Der Tausch muß realisiert, seine Modalitäten geklärt werden; die Übergabe der Tauschobjekte wird schließlich vertraglich geregelt. Um die Tauschprozesse effektiv gestalten zu können, also z. B. auch die Abwesenheit eines Tauschpartners und seiner Tauschgegenstände oder größere Distanzen nicht zum Hindernis werden zu lassen, werden immer differenziertere Tauschformen entwickelt, bis schließlich das Geld eingeführt wird und die Produkte zu Waren werden. Damit Geld als Zahlungsmittel fungieren kann, müssen zuvor erhebliche Schritte getan sein. Wurde die erste Hauptpotenz vor allem unter dem Aspekt der lebendigen Naturbeziehung behandelt, „so ist in dieser [zweiten] Potenz nichts, was nicht Beziehung auf andere Intelligenzen hätte, so daß eine Gleichheit unter ihnen gesetzt [ist], oder es ist die Allgemeinheit, welche so an ihnen erscheint“. (V 296) Hegel sagt auch, daß die zuvor unregierte, lebendige Naturbeziehung nun fixiert werde. Das Fixieren kann man sich gut vergegenwärtigen an dem Übergang vom Besitz zum Eigentum. Daß etwas als Eigentum betrachtet werden kann, setzt voraus, daß man bereits eine gedankliche Distanz zur Unmittelbarkeit einnehmen kann und soziale Beziehungen zwischen Besitzenden statthaben müssen. Eigentum wird ja erst notwendig, wenn man seinen Besitz gegen andere „sichern“ muß oder für andere nicht sichtbar ist, daß etwas bereits im Besitze eines anderen ist. Mit dem Eigentum ist also ein Rechtsanspruch verbunden, was auch heißt, daß das Gelten eines solchen Anspruchs auch prinzipiell anerkannt wird. In Hegels Darstellung – so scheint es – entsteht das Eigentum erst mit dem Überfluß. Damit ist aber noch kein Rechtssystem in Kraft; dafür fehlen selbstverständlich die verschiedensten Institutionen samt der Möglichkeit, Sanktionen auszuüben. Hegel sagt ja hier zunächst nur, daß ein Anerkennungsverhältnis entsteht, nicht, daß es bereits gesellschaftlich oder gar staatlich gesichertes Recht gibt: „Recht an Eigenthum ist Recht an Recht“. (V 298) Es wird also „nur“ rekonstruiert, wie dieser Anspruch (quasinatürlich) entsteht und er – sofern es nicht zu Konflikten kommt, in denen sich dann einfach der Stärkere durchsetzt – auch schon gelebt wird. Das rechtliche Anerkennen läuft hier also über den Besitz, der zu Eigentum wird, womit der besitzende Eigentümer „in die Allgemeinheit“ aufgenommen ist. Die Menschen als Intelligenzen sind hier Gleiche, unabhängig von ihren spezifischen Besonderheiten. Hegel legt großen Wert darauf zu zeigen, daß es selbstverständlich eine Abstraktion sei, ein Individuum als Eigentümer zu begreifen. „An und für sich“ sei es das nämlich gar nicht, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht. Seine Einzelheit wird als allgemeine aner-

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kannt, aber als Individuum ist es noch viel mehr und auch in weiteren Beziehungen. Jemanden als Eigentümer zu sehen, sei daher auch ein bloßes „Gedankending“. (V 298) Dennoch ist mit diesem Schritt eine neue Allgemeinheitsstufe erreicht: In bestimmter Hinsicht, nämlich (wenigstens) als Eigentümer, als rechtsfähige Personen, sind alle Menschen gleich; daß Eigentum anerkannt wird, bezeugt das Vorhandensein einer Allgemeinheit, die nicht mehr an eine besondere Situation oder an einen einzelnen Mensch gebunden ist, sondern für alle gilt. Hegel schließt den ersten Manuskriptteil, also die Darstellung der natürlichen Sittlichkeit, mit einer weiteren natürlichen Indifferenzstufe ab: der Familie. In der Familie sind alle bisher thematisierten Potenzen und Aspekte vereinigt. Insofern kommt ihr in der Konstruktion der sittlichen Welt eine herausgehobene Stellung zu. Fragt man nach dem Sinn der von Hegel gewählten Reihenfolge der Darstellung, sieht man hier besonders deutlich, daß die historische Entwicklung gar nicht gemeint sein kann. Daß erst Maschinen gebaut worden sein sollen, bevor es die Familie als solche gab, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Keinesfalls behandelt Hegel die Familie hier unter dem Aspekt einer besonderen modernen Rechtsform, von der man also vielleicht noch sagen könnte, sie sei erst später entstanden. Die Reihenfolge muß also anders erklärt werden. Kommt die historische Genese nicht in Betracht, so sollte man nach sachlichen Gründen oder Zwängen der Darstellung fragen. Mein Eindruck ist, daß Hegel im ersten Manuskriptteil die verschiedenen Phänomene von einer spezifischen Perspektive aus ordnet und sie daher „zeitunabhängig“ als natürlich bezeichnet werden müssen (sofern man Hegels weiten Naturbegriff zugrundelegt). Kurzum, die hier besprochenen Tätigkeiten und auch ersten natürlichen Institutionen kommen „naturwüchsig“ zustande; diese Beziehungen stellen sich immer her, auch wenn keine staatliche Sphäre vorhanden ist (also z. B. auch in oder nach akuten Krisensituationen, wo der ehemals bestehende Staat aufgelöst ist).65 Ebenso scheint es so zu sein, daß innerhalb der Nahsphäre der Familie ein besonderer, marktfreier und mit einer Schutzfunktion versehener Zusammenhalt statthat (der sich freilich kulturell wandeln kann). Im weiteren Verlauf des Manuskripts wird dann auch deutlich, daß die Naturpotenz dauerhaft besteht und also nicht etwa nur für eine bestimmte historische Epoche stehen soll. Vielmehr kommt es darauf an, die „natürlichen“ Beziehungen so einzubinden, daß sie ihr Eigenleben behalten, zugleich aber „regiert“ werden können. Denn wie noch zu sehen sein wird (vgl. insbesondere den zweiten Hauptteil), kommt es „natürlicherweise“ zu erheblichen Konflikten, denen begegnet werden muß. Hegel erwähnt zwischendurch immer wieder „das Negative dieser Potenz“, stellt es aber erst im zweiten Manuskriptteil geschlossen dar. Es kommt hinzu, daß das menschliche Zusammenleben mehr hervorbringt als „nur“ natürliche Beziehungen; anders formuliert: Es entstehen zunehmend differenziertere Vermittlungsformen, die spezifische Kulturentwicklung ist nur noch eingeschränkt als natürlich zu beschreiben. Man könnte sagen: Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen, doch käme eine derartige Definition ohne die genauere Bestimmung der Natur bzw. Kultur nicht aus. Vermutlich müßte man argumentieren, daß des Menschen „zwei65

Zur Verbildlichung: Für das Vorhandensein eines Schwarzmarktes, auf dem zweifellos differenzierte Marktgesetze gelten und von den Beteiligten auch anerkannt werden, bedarf es keiner staatlichen Institutionen.

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te“ Natur, die also über die biologischen Gegebenheiten hinausgeht, ihn zum Kulturwesen macht.66 Der Zusammenhang von erster und zweiter Natur müßte dann aber noch genauer analysiert werden. Hegel scheint, obgleich er diese Terminologie nicht benutzt, etwas ähnliches zu tun. Er untersucht die Naturanlagen des Menschen und stellt fest, daß sich diese durch und in der Ausübung verschiedener Tätigkeiten ausformen und weiterentwickeln, so daß ein schrittweises Herausarbeiten aus der „ersten“ Natur erfolgt und dann die „zweite“ Natur in den verschiedenen sozialen Interaktionen entfaltet wird. Das Herausarbeiten oder Erheben ist jedoch nicht als nur einmaliger Akt zu verstehen, sondern der Mensch bleibt selbstverständlich, egal in welch noch so hochzivilisierter Kultur er lebt, ein an die Natur gebundenes, in ihr handelndes Wesen, das sich seine eigene Kultur erschafft.67 Hegel zeigt im ersten Teil seines Manuskripts eindrucksvoll (und m. E. überzeugend), daß und wie der Mensch innerhalb natürlicher Aneignungsprozesse seine bloße Naturbestimmtheit überwindet. Seine Darstellung fasziniert vor allem dadurch, daß er mit dem elementarsten Stadium beginnt und die einsetzenden Transformationen Schritt für Schritt analysiert. Es handelt sich hier freilich nicht um eine ethnologische Feldstudie, die akribisch die empirische Entwicklung nachzeichnet. Hegel hat ein anderes Ziel und achtet daher vor allem auf diejenigen Prozesse, die als Entstehen oder Vorhandensein eines „Sittlichen“ gedeutet werden können bzw. müssen. Dabei bleibt Hegel ganz nüchtern: Das Sittliche wird von den Menschen zunächst noch gar nicht als solches gewußt, es bleibt entweder Inneres (das für das Subjekt selbst nicht vorhanden, „in ihm verborgen“ ist) oder Äußeres („etwas über diesem einzelnen Schwebendes, oder etwas Formelles“).68 In beiden Fällen ist – wie aus Hegels Bestimmungen und Text klargeworden sein sollte – ein Defizit hinsichtlich der absoluten Sittlichkeit gegeben, so daß Hegel dieses Stadium der natürlichen Sittlichkeit konsequent als noch unvollkommene Sittlichkeit ausweist (und es deshalb als „absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniߓ bezeichnet). Hier ist die Sittlichkeit noch nicht bewußte Identität des Inneren und Äußeren, Subjektiven und Objektiven, Besonderen und Allgemeinen usw.; die objektiv vorhandene sittliche Organisation ist im ersten Teil also noch nicht zugleich Inhalt des gewollten Tuns. Weil die sittliche Organisation hier als fremde erfahren und nicht frei gewollt wird, nennt Hegel den ersten Teil auch „Potenz der Nothwendigkeit“. (V 311) Obgleich die natürliche Sittlichkeit nach modernem Sprachgebrauch defizitär ist, sind in ihr schon erste der gesuchten Identitäten vorhanden: Die „Mitten“ sind laut Hegel Erscheinungen der Vernunft innerhalb der Naturpotenz. Die Vernunft tritt also nicht erst nachträglich als ‚das Andere‘ hinzu, sondern schon im Naturverhältnis gibt es derartige Objektivationen. Selbst wenn man Hegels erste Mitte (das Kind) nicht als 66

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Hegel spricht an keiner Stelle vom Menschen als einem „Mängelwesen“, wie es etwa Herder in seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache angedeutet hatte und auf den sich Gehlen später ausdrücklich beruft. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, Wiesbaden 1997, 82ff. Vgl. auch Nuzzo 1998, 92. Bloß Inneres ist das Sittliche als Naturanlage, Trieb, Gefühl (und damit lediglich die „Möglichkeit, sittlich oder vernünftig zu sein“); die in der zweiten Hauptpotenz des ersten Teils behandelten (ökonomischen) Abhängigkeits- und Rechtsverhältnisse nennt Hegel Formen der „formellen“ Sittlichkeit.

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Manifestation der Vernunft akzeptieren mag, es also z. B. nur als das Resultat rein animalischer Prozesse auffaßt, wird man bei den folgenden Mitten zustimmen müssen: Das Werkzeug (so wie Hegel es einführt) ist in der Tat bereits der Natur entrissen, und der Gebrauch der Rede offenbart ganz offensichtlich geistige Fertigkeiten, die sich qualitativ von der bloß animalischen Triebbefriedigung abheben (und ebenso von den Tierlauten).69 Die Mitten haben einen so zentralen Status, weil sie die Subjekt-ObjektTrennung aufheben. Und dies war für Hegel seit Beginn seiner publizistischen Tätigkeit ein wichtiges Thema und Anliegen. Indem Hegel die Subjekt-Objekt-Relation in dieser Weise in den Vordergrund stellt, treten die Differenzen zu seinen philosophischen Vorgängern plastisch heraus. Nicht nur läßt Hegel sein Manuskript anders und ungewöhnlich beginnen, m. E. hat er zudem einen ganz anderen Subjektbegriff als Kant und Fichte, auch als Schelling. Im Abschnitt zur natürlichen Sittlichkeit wird sehr klar, daß es strenggenommen keine bloß subjektive Verhaltensweise des menschlichen Geistes gibt.70 Bereits in den allerersten spontanen Äußerungen des Subjekts der Naturpotenz gibt es eine SubjektObjekt-Relation: Vernichten (Essen, Trinken), Arbeiten, Lieben, Sprechen. Auf diesen ursprünglichen Akten baut Hegel den sittlichen Prozeß auf. Es handelt sich zuerst im Grunde um eine Ebene naher emotionaler, fast intimer individueller Verhältnisse. Es fällt auf, daß für Hegel die Naturpotenz nicht (wie bei anderen Theoretikern) nur durch Selbstsucht und individuellen Genuß ausgezeichnet ist, sondern gleichzeitig das Individuum sich schon von seinem unmittelbaren Begehren löst und sich in einem anderen Individuum (zum Beispiel dem Partner, dem Kind) wiederfindet. Das individuelle Selbst konstituiert sich also von vornherein über den Bezug zu dem Anderen. Bereits auf dieser elementaren Handlungsebene verhält sich das Subjekt eben nicht nur theoretisch oder praktisch. Dieser Nachweis ist eine deutliche Kritik an Kants Trennung der verschiedenen Subjektvermögen.71 Überhaupt bildet sich das Selbst nicht nur über ein 69

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Daß es auch im Tierreich Phänomene gibt, die man als Werkzeuggebrauch beschreiben kann, spricht nicht gegen den Sachverhalt, den Hegel ausdrücken möchte. Bei keinem Tier steht nämlich das Werkzeug selbst höher als das Produkt. Vgl. Haering 1938, 355, der angesichts der Leistungen des ersten Teils begeistert formulierte: „Niemals ist die gerade heute immer mehr wieder sich durchsetzende Wahrheit grundsätzlicher ausgewertet und insbesondere auch begrifflich-systematisch verwertet worden als hier, daß es eine bloß subjektive Verhaltensweise des menschlichen Geistes eigentlich überhaupt nicht gibt, sondern daß sie immer nur eine Abstraktion bedeutet innerhalb einer Subjekt-Objektbeziehung, die, sowohl nach der Seite des Subjekts als nach der des Objekts, zugleich immer schließlich über deren bloße Einzelheit hinausweist, uns so schließlich nur in einem nach Objekt wie Subjekt überindividuellen und allgemeinen Ganzen (und zwar nach Hegel dialektischen, d. h. alle diese Abstraktionen als lebendige und notwendige Momente in sich enthaltenden Ganzen) bestehen und auch begriffen werden kann.“ Hier kann und soll nicht besprochen werden, ob sich diese „Wahrheit“ eigentlich wirklich durchgesetzt hat, wie Haering es damals vermutete, oder ob sie möglicherweise schon wieder vergessen ist. Vgl. noch in der Rechtsphilosophie, 7/46f.: „Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht

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ideelles Formieren der Objekte, sondern Hegel zeigt, daß das Subjekt immer in einer Wechselbeziehung steht. Es ist nicht nur bestimmend, sondern wird zugleich bestimmt.72 Das gilt nicht nur bezüglich der Objekte, mit denen das Subjekt umgeht, sondern auch für die Subjekte, mit denen es in Wechselwirkung steht. Das angeblich nachhegelsche Thema der Intersubjektivität ist in Hegels Manuskript bereits ausführlich – wenn auch nicht unter diesem Namen – bearbeitet.73

5.4. Exkurs: Zum Hegelschen Begriff der Arbeit im System der Sittlichkeit Im System der Sittlichkeit wird mit großer Intensität über das Wesen und die Rolle der Arbeit reflektiert. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem erreicht bei Hegel ein bis dahin unbekanntes Niveau, das unter anderem dadurch erreicht wird, daß sich Hegel von traditionellen Behandlungen abwendet oder diese zumindest in neue Bezüge einordnet und somit auf neue Weise integriert. Selbstverständlich ist Hegel nicht der erste Philosoph, der sich dem Problem der „Arbeit“ zuwendet.74 Doch ist er derjenige, der ihr auch innerhalb der philosophischen Rekonstruktion des Rechts, der Sitten, der Kultur eine Funktion zuschreibt, die sie zuvor in diesem Maße nicht eingenommen hatte. Das ist besonders deutlich zu ersehen im direkten Vergleich mit Kant und Fichte, die zeitnah an der gleichen Thematik forschten. Man kann an diesem Zusammenhang die Besonderheit des Hegelschen Ansatzes herausstellen.75 Tatsächlich war Hegel wohl auch derjenige

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etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben. […] Das Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten: es geht gegen die Vorstellung, daß beide getrennt sind“. Beim Arbeitsprozeß war dies genau zu verfolgen: Es handelt sich um einen reellen Objektivierungsprozeß, in welchem sich das Subjekt in den Gegenstand einschreibt und dieser auf es zurückwirkt, zum Teil die Form der Arbeit bestimmt. Das wird in der Forschung inzwischen anerkannt (vor allem von Habermas, Siep, Honneth); in der Regel wird davon ausgegangen, daß Hegel diese Fragestellungen in seinem späteren Philosophieren wieder vernachlässigt hat – eine Position, die einer eingehenden Analyse der Texte des reifen Hegel freilich nicht standzuhalten vermag. Vgl. Theunissen 1982a. Vgl. z. B. den Artikel „Arbeit“ von Werner Conze (in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff., 154–215); außerdem Bobbio 1973 (zu Vorformen bei Locke, Hume). „Hegel war der einzige unter den deutschen Philosophen seiner Zeit, der die primäre Bedeutung der ökonomischen Sphäre für das politische, religiöse und kulturelle Leben erfaßte und die Beziehungen zwischen der von ihm später so genannten ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ und dem politischen Leben aufzudecken suchte. Fichtes Schrift ‚Der geschlossene Handelsstaat‘ (1800), in der eine vergleichbare Erkenntnis der politischen Ökonomie völlig fehlt, liest sich dagegen wie ein verspätetes merkantilistisches Pamphlet, bei dem jede Berührung mit den Realitäten des modernen ökonomischen Lebens fehlt.“ Avineri 1976, 17. Vgl. auch Arndt 2003, 57, der die Differenz zu Fichte diagnostiziert: „Die physiokratische Auffassung ermöglicht zwar die Thematisierung der Naturproduktion und des Stoffwechsels mit der Natur als Voraussetzung des gesellschaftlichen Lebensprozesses, bleibt aber beim Hereinragen der Natur in die Gesellschaft stehen. Die Trennung von Produzenten und Künst-

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Philosoph, der die mit der einbrechenden modernen Arbeitswelt verbundenen gravierenden Veränderungen in seiner Zeit am deutlichsten erkannte und bereits die sozialen Folgen mitbedachte.76 Es ist dieser Umstand, der Hegels Manuskript (bisher) das meiste sachliche und nicht nur historische Interesse bei verschiedenen Autoren sicherte.77 Am deutlichsten ist dies sicherlich für Lukács zu konstatieren, auch der Titel von Habermas’ „Arbeit und Interaktion“ dokumentiert diesen Zugang (obwohl sich der Aufsatz insgesamt mehr an die Jenaer Vorlesungen hält). Ritter und Riedel haben in weit nachwirkenden Texten die philosophiegeschichtlichen Verflechtungen, die Rezeption der Nationalökonomie und die Bedeutung der Neuerungen Hegels betont.78 Auch gibt es bereits einzelne Untersuchungen zu Hegels Arbeitsbegriff.79 Eine spezielle Analyse des Arbeitsbegriffs, wie er sich im System des Sittlichkeit darstellt, liegt meines Wissens aber nicht vor.80 Wenn behauptet wurde, Hegels Manuskript integriere die alten Theoriebausteine auf neue Weise, so muß allerdings zugegeben werden, daß sein Text phasenweise den Eindruck vermittelt, als schwanke er zwischen den beiden Extrempositionen des Arbeitsverständnisses, die zu seiner Zeit Anfang und Ende der Theorieentwicklung bezeichnen, sich einander ausschließend gegenüberstehen und zeitlich mit großem Abstand und vielen Zwischenpositionen aufeinander folgen: nämlich dem klassischantiken und dem modernen Arbeitsbegriff. Mit dem klassischen Arbeitsbegriff ist hier das antike Verständnis von Arbeit gemeint.81 Es zeichnet sich wesentlich durch die Unterscheidung zweckgerichteter menschlicher Tätigkeit in Poiesis (bzw. Ponos) und Praxis aus. Mit dieser Differenzierung der menschlichen Tätigkeit ging einher, daß z. B.

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lern, die nur durch die Willkür des Staates vermittelt werden kann, verfestigt vielmehr die Entgegensetzung der Natur gegen Praxis gesellschaftlich-sittlichen Handelns, deren äußere Voraussetzung sie bildet. Aus Gründen der Systemkonstruktion ist Hegel auf einen Arbeitsbegriff angewiesen, der diese Entgegensetzung vermeidet und zugleich die natürlichen Voraussetzungen gesellschaftlicher Praxis thematisiert und diese mit jenen vermittelt.“ Weder zeichnete er sich als Kulturpessimist noch durch übertriebenen Optimismus aus. Indem er keinem dieser einseitigen Lager angehörte, sorgten seine nüchternen Analysen für bleibende Erkenntnisse der Struktur der modernen Gesellschaft. Hegels Arbeitsbegriff fand in der Literatur weitgehende Beachtung, auch wenn dabei das System des Sittlichkeit meist wenig berücksichtigt wurde. Zur Literatur vgl. z. B. die Zusammenstellung bei Conze 1972, 186. Vgl. auch bereits die frühe Studie von Paul Chamley: Economie politique et philosophie chez Steuart et Hegel, Paris 1963. Vgl. die Literaturangaben bei Göhler 1974, 483, Anmerkung 3. Vgl. auch Andreas Arndt, „Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie“, in: Archiv für Begriffsgeschichte (1985), 99–115; vgl. dort die Literaturangaben vor allem in der Anmerkung 2. Die neueste Monographie zum Thema von Hans-Christoph Schmidt am Busch berücksichtigt das System der Sittlichkeit erstaunlicherweise überhaupt nicht. Vgl. derselbe: Hegels Begriff der Arbeit, Berlin 2002. Auch die frühere Studie von Sok-Zin Lim (Der Begriff der Arbeit bei Hegel. Versuch einer Interpretation der Phänomenologie des Geistes, Bonn 1963) geht nicht auf das System der Sittlichkeit ein. Selbstverständlich wurde der Arbeitsbegriff des Manuskripts aber schon thematisiert. Vgl. beispielsweise Lukács 1948, Dubsky 1961 und die verschiedenen Aufsätze von Riedel und vor allem Arndt. Letztere sind nun in einem Sammelband zugänglich (Arndt 2003). Zum Folgenden vgl. ausführlich Conze 1972, 154–215.

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die rein körperliche, manuelle Arbeit, die Arbeit des Hervorbringens, in der gesellschaftlichen Wertung weit unten plaziert wurde: Ackerbau, Tierhaltung und Handwerksarbeit wurden also mit geringer Wertschätzung bedacht, sie galten zumeist als wenig oder nicht würdig.82 Diese Arbeit wurde großenteils oder gänzlich von Sklaven geleistet. In der Polis, wie Platon sie sah, sollte der Bürger nicht körperlich arbeiten, sondern sich durch Praxis, die angemessene Tätigkeit, für die Polis auszeichnen. Nicht also Arbeit, sondern Tüchtigkeit für die Polis galt als Bürgerpflicht und -tugend. Unverkennbar gehört zu einer derartigen Auffassung eine starke Hierarchisierung der Gesellschaft, ihre Teilung in für den Arbeitsdienst bestimmte Menschen und diejenigen, die – von Arbeit befreit – sich unter anderem der Bildung, politischer Tätigkeit, dem Herrschen widmen.83 Auch in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist die Abwertung körperlicher Arbeit sichtbar, wird die Praxis deutlich der Arbeit des Hervorbringens übergeordnet. Und ausdrücklich wird die in der Praxis ausgeübte Klugheit des ethischpolitischen Handelns zu einem privilegierten Herrschaftswissen, welches lediglich dem Politiker und Hausherrn zugesprochen wurde. Abwertung und Zusprechen einer untergeordneten Stellung der Arbeit bedeuten aber deshalb nicht generelle Arbeitsverachtung. Auch ist unstrittig, wie wichtig die Arbeit für die Sicherstellung der Befriedigung verschiedenster Bedürfnisse ist, daß sie es ermöglicht, daß bestimmte Menschen überhaupt Muße haben können, die wiederum Voraussetzung für die eigentlich höheren menschlichen Tätigkeiten ist, denen diese dann nachgehen sollen. Keineswegs wird ja Müßiggang empfohlen. Gerade bei Aristoteles ist das überhaupt Tätigsein (Energeia) oberster Begriff, das ‚Am-Werk-Sein‘. Dieses wird aber nach seinen Zwecken gegliedert, eben als Handeln oder Hervorbringen, und verschieden bewertet. Das praktischpolitische Handeln gilt als höherwertig, zugleich als ehrenhafter und würdiger als das auf äußere Gegenstände gerichtete Arbeiten. – Woraus resultiert aber diese Bewertung, wie wird sie begründet? Das auf Gegenstände der äußeren Natur gerichtete Arbeiten führt nach der antiken Auffassung – anders als das aktive politische Handeln – nicht zur erstrebten Selbsterkenntnis, auch nicht zu einer besseren Einrichtung des Gemeinwesens zur Ermöglichung des guten, tugendhaften Lebens, sondern dazu, daß der Arbeitende sich an den Gegenstand verliert. Die in der Arbeit angelegte Naturbeherrschung erscheint also nicht als zu bejahende Chance auf einen anzustrebenden Fortschritt oder als geschätzter Erweis spezifisch menschlicher Schöpferkraft. Man erblickt in der körperlichen Arbeit und in der Vergegenständlichung des Arbeitenden in seinem Produkt eher die Gefahr, daß sich der Mensch an die äußere Welt verliert und seiner eigentlichen Bestimmung nicht nachkommen kann. Dahingegen bewegt sich die Tätigkeit der Praxis ganz innerhalb der Polis, sozusagen in der Menschenwelt, und dient deren Erhaltung und Vervollkommnung. Letzteres wird als eigentliches Ziel menschlichen Tuns angesehen, und darum wird die Praxis auch wesentlich höher geschätzt.84 82

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Vgl. Conze 1972, 155: „Die Abwertung der Handwerks- und Lohnarbeit gehörte schon den ältesten Zeiten an und war auch außergriechischen Völkerschaften eigen.“ Als Beleg wird auf Herodot verwiesen. Es muß dann folglich Sklaven und Bürger geben. Die Umwertung der Arbeit im Christentum kann hier nicht ausgeführt werden. Zweifellos führt sie aber mit ihrer Auslegung der Arbeit als Gottesdienst zu einer neuen Arbeitsehre, zu einer generel-

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Die englische Nationalökonomie, die den modernen Arbeitsbegriff hervorbrachte, geht in der Bewertung der Wichtigkeit und Bedeutung der Arbeit wesentlich weiter. Vergleicht man diese moderne Position mit der antik-klassischen, so erscheint sie beinahe als Umkehrung: Die produktive Arbeit erfährt nun größte Achtung, wohingegen die Tätigkeit der Politiker, Lehrer, Juristen abgewertet wird, da sie sich gerade nicht in einem Produkt realisiert. Die Vergegenständlichung des Arbeitenden in den Produkten gilt nicht mehr vorrangig als Gefahr des Selbstverlusts, sondern Bedingung von Wertschöpfung, als Beitrag zur Vermehrung des Nationalreichtums.85 Aber nicht nur der ökonomische Aspekt ist wichtig. Bereits Locke bricht mit der alten Vorstellung einer unveränderlichen Naturordnung, indem er feststellt, daß die die Dinge verändernde Arbeit auch selbst Recht schafft, z. B. das Eigentumsrecht an Dingen, Boden.86 Zugleich verleiht die Arbeit den Dingen ihren Wert. Beide Thesen sind modern. Arbeit wird nun immer mehr als das Mittel betrachtet, durch welches der Mensch zur Glückseligkeit gelangt. Da Arbeit allen Menschen zur Ehre gereicht, ist sie nicht mehr auf die unteren Stände beschränkt und wird nicht mehr lediglich mit Mühsal, sondern zunehmend mit zielgerichteter Tätigkeit identifiziert. Arbeit und Tätigkeit werden auch synonym verwendet; der Fleiß ist die zugehörige Tugend. 1798, also in zeitlicher Nähe zu Hegels Manuskript, schreibt Garve: „Alles vereinigt sich also dahin, daß der Hauptzweck des Menschen und die Quelle seiner Glückseligkeit in seiner Tätigkeit liege“87. Damit wird Arbeit tendenziell ihres ehemaligen Rufs als Last entledigt und avanciert beinahe zur Lust, zum Vergnügen, schließlich zur beglückenden Tätigkeit.88 Sie gewinnt damit zugleich Bedeutung für pädagogische Konzepte. Hegel kennt beide Arbeitsauffassungen, die antike und die moderne. Und es ist bezeichnend, daß er sich keiner einseitig anschließt: Im System der Sittlichkeit finden sich zweifellos Aspekte beider Theorien.

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len Aufwertung jeglicher Arbeit, noch nicht aber zu einem Selbstwert der Arbeit, weil der Dienstcharakter stets gewahrt bleibt. Mit Adam Smiths Analyse der politisch-sozialen Implikationen der Arbeit avanciert „Arbeit“ „zu einem Hauptbegriff der ökonomischen Theorie und damit der alsbald zur Spezialdisziplin werdenden Wirtschaftswissenschaft (Politische Ökonomie, Nationalökonomie, Sozialökonomie). Als solcher spielt er seit Smith seine Rolle in der Dogmengeschichte dieses Fachs.“ (Conze 1972, 179) Kant lehnt diesen Eigentumsbegriff ab: Vgl. Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre, Tl. 1, § 16. (Kant 1900ff., Bd. VI, 267) Es soll hier festgehalten werden, daß Kant, obschon er die moderne englische Theorie ablehnt, durchaus über die Funktion der Arbeit im Zivilisationsprozeß Auskunft gibt und ihr eine wichtige Funktion zuschreibt (wenngleich der Arbeitsbegriff nur in einer eingeschränkten Bedeutung erscheint). In seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) spricht er im „Dritten Satz“ ausdrücklich von einem „Hervorarbeiten“: daß der Mensch „sich soweit hervorarbeitete, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.“ (Kant 1900ff., Bd. VIII, 20) Christian Garve, Einige Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre, Breslau 1798, 178. Kant betrachtet es als „Unglück“, daß der Mensch „so sehr zur Untätigkeit geneigt ist“. In: Über Pädagogik. (Kant 1900ff., Bd. IX, 470) Vgl. z. B. Justus Möser (1774): „Die Quelle alles wahren Vergnügens ist Arbeit“, in: Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 15. (Zitiert nach Conze 1972, 172)

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Arbeit wird von Hegel insgesamt als weltbildend begriffen; sie gehört in diesem Sinne prinzipiell nicht zur ersten Welt der Natur (die sich ohne humane Vermittlung von selbst produziert und reproduziert; Tiere und Pflanzen „arbeiten“ nicht), sondern in die zweite Welt des (tätigen) Geistes, in der der arbeitende Mensch sich die Welt aneignet, sie zu seiner Welt und eigenen Umwelt macht.89 Hierin unterscheidet sich Hegel etwa von Aristoteles, für den die menschliche Arbeit (das Hervorbringen, das Herstellen; jedoch nicht die geistige Schau, nicht politische Tätigkeit) weitgehend zur Welt der Natur gehört.90 Arbeitsvorgänge und Naturvorgänge sind bei Aristoteles teleologisch, haben Finalität.91 Das menschliche Herstellen bringt Aristoteles zufolge Gebilde der Natur teils zum Abschluß, nämlich dort, wo sie die Natur selbst nicht zu einem Abschluß zu bringen vermag, teils bildet es Gebilde der Natur nach. Die Natursteine fügen sich mithin nicht allein zum Haus oder zur Mauer; die Holzteile liegen nicht über den Steinen, weil das Holz leichter als die Steine ist (nicht also aus dem Materialgrund), sondern weil der arbeitende Mensch es dort positioniert (aus dem Zweckgrund). D. h. Arbeitsvorgang und Naturvorgang sind zwar beide final, aber trotzdem voneinander unterschieden. Daß die herstellende Arbeit Teil der materiellen Natur (also nicht ‚theoria‘) und teleologisch ist, bildet für Hegel einen Anknüpfungspunkt.92 Aber er macht 89

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„Die beiden Grundbedeutungen der Arbeit, als Not und Mühsal (molestia), und zugleich Leistung (opus, opera), zeigen sich auch in der Geschichte ihrer Wortbedeutung. ‚Labour‘ bezeichnet ursprünglich vor allem die harte Arbeit des Ackerbestellens und also ein Arbeiten in höriger Knechtschaft. Zugleich ist aber die auf dem Knechte lastende und zum Taglohn gewerkte Arbeit auch eine werkschaffende Leistung, gleich derjenigen, die andere Werke hervorbringt. Diese Doppelbedeutung ist aber nicht für ihr ganzes Wesen bezeichnend. Arbeit ist vielmehr schlechthin zum Sein des Menschen gehörig, sofern es nur überhaupt ein Tätigsein in der Welt ist. In diesem vollen und ursprünglichen Sinn hat sie zuletzt noch Hegel begriffen. Nach ihm ist die Arbeit keine einzelne wirtschaftliche Tätigkeit, im Unterschied etwa zum Müßiggang oder Spiel, sondern die grundlegende Art und Weise, wie der Mensch sein Leben hervorbringt und dabei weltbildend ist.“ (Löwith 1995, 287f.) Vgl. Nikomachische Ethik, Buch X, Kap. 6–7, wo das „Tätig-sein im Sinne der Trefflichkeit“ behandelt wird, welches als „geistige Schau“ „Muße“ voraussetzt. Dieses Tätigsein ist freilich, anders als das Herstellen, nicht mehr Teil der Natur, sondern beruht auf „der obersten Kraft in uns“, die man als „Geist“ oder „von dem, was in uns ist, [als] das göttlichste Element“ bezeichnen kann. Die „praktische Trefflichkeit“ (die sich in den „Aufgaben des öffentlichen Lebens“ bzw. „Aufgaben des Kriegs“ entfaltet und bewährt) bedarf jedoch nicht unbedingt der „Muße“: „Das Handeln in diesem Bereiche verträgt sich aber erfahrungsgemäß nicht mit der Muße, kriegerisches Tun schon gar nicht“. (1177 a–b bzw. 1983a, 230f.) „Ein weiterer Beweis (für die Finalität in der Natur): Bei allen Tätigkeiten, die einen bestimmten Abschluß in einem Ziel besitzen, gilt der Satz, daß die Etappen der Tätigkeit eine nach der anderen um dieses Zieles willen vollzogen werden. Nun decken sich aber – vorausgesetzt, daß äußere Hindernisse nicht auftreten – die Struktur des menschlichen Herstellens und die Struktur der Naturproduktion völlig. Das Handeln ist aber final bestimmt. Daraus folgt, daß die Naturbildung genauso final bestimmt ist.“ (Physikvorlesung II, 8, 199a bzw. 1983b, 52) Vgl. die deutlichen Parallelen zwischen den Abschnitten zur Ökonomik im 1. Buch der Aristotelischen Politik und dem ersten Teil des Systems der Sittlichkeit. Riedel spitzt es sogar auf einen eigentlich identischen Aufbau zu: „Wie bei Aristoteles mündet Hegels Analyse der naturhaften, Bedürfnis und Trieb entspringenden Tätigkeiten und Gemeinschaften des Menschen (Arbeit, Werkzeugge-

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zugleich auf einen neuen Punkt aufmerksam: Hegel betont, anders als Aristoteles, nicht so sehr den gebrauchswertbildenden Aspekt menschlicher Arbeit innerhalb dessen natürlicher Umgebung, sondern von vornherein auch ihren Tauschwert. Damit kommt das System der Bedürfnisse in den Blick, die vielfachen Abhängigkeiten nicht nur von der Natur, sondern von den realen Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft. Hegel macht klar, daß die aus den verschiedenen Bedürfnissen und der Arbeit zu ihrer Befriedigung entspringenden Produkte und Beziehungen selbst ein System, eine Realität bilden, und zwar eine Sphäre der allgemeinen gesellschaftlichen Abhängigkeit der Individuen.93 Während Aristoteles die ökonomischen Tätigkeiten letztlich aus der Polis als ‚koinonia politike‘ ausschließt, haben sie „für Hegel von vornherein einen spezifisch ‚gesellschaftlichen‘, weil gesellschaftsbildenden, von dem herrschaftlich-politischen Handeln unabhängigen Charakter“.94 Obwohl Hegel die gesellschaftsbildende Funktion der ökonomisch-poietischen Tätigkeiten insgesamt klar anerkennt, versucht er zugleich, das politisch-sittliche Handeln nach antikem Vorbild im ganzen den Herstellungsprozessen überzuordnen. Daraus resultieren u. a. die Zuordnungsschwierigkeiten der Arbeit der Stände im dritten Teil (der erste Stand darf nicht „arbeiten“). Bei der konkreten Ausgestaltung von Hegels Arbeitstheorie (die auch für seine späteren Werke gültig bleibt) ist unverkennbar, daß die begriffliche Fassung vorerst noch nicht abgeschlossen ist: Z. B. wird im System des Sittlichkeit teils auch die rein animalische Bedürfnisbefriedigung als „Arbeit“ bezeichnet, auch scheinen Pflanze und Tier hier noch zu „arbeiten“.95 Es ist schwierig, von dem einen Arbeitsbegriff im Manuskript zu sprechen.96 Der Terminus selbst kommt in vielen verschiedenen Kontexten vor;

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brauch, Besitz, Tausch; Verhältnis von Mann – Frau, Eltern – Kind, Herr – Knecht) in der ‚Familie‘, der höchsten ‚Totalität‘, deren die naturbezogene, relative Sittlichkeit durch Herrschaft und Oikoswirtschaft fähig ist“. (Riedel 1982, 121) Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 450: „[…] physische Bedürfnisse und Genüsse, die für sich wieder in der Totalität gesetzt, in ihren unendlichen Verwicklungen Einer Nothwendigkeit gehorchen, und das System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse, und der Arbeit und Anhäuffung für dieselbe, und dieses als Wissenschaft das System der sogenannten politischen Oekonomie bilden.“ Riedel 1982, 122; vgl. „Hegels z. T. sehr enge Anlehnung an Kategorien der klassischen Ökonomik kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie für das Faktum der industriellen und gesellschaftlich-ökonomischen Emanzipation, deren Bedeutung Hegel durch das Studium der Nationalökonomie begreifen lernt, kein tragfähiges Fundament mehr sind. […] So erscheint denn, was den Aristotelischen Voraussetzungen schlechthin widerspricht, die Ökonomik als die Praxis des bourgeois innerhalb des Systems der Sittlichkeit [nach der Behandlung im ersten Teil des Manuskripts] noch einmal, und zwar unter dem Titel: Regierung, – Ausdruck der öffentlich-politischen Stellung, die sie für Hegel, im Unterschied zu Aristoteles, erlangt hat.“ (Riedel 1982, 122f.) Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 463: „[…] des heerdeweisen Lebens und gemeinsamen Arbeitens der Thiere“. In Hegels Manuskript finden sich – das hat sich bereits gezeigt – keine „griffigen“ Definitionen, keine sorgfältig aufeinander abgestimmten Paragraphen wie im späteren Werk, die man bei Bedarf zitieren könnte. Selbst die Passagen, die man gern zu Schlüsselstellen erheben möchte, weil sie so klar Auskunft geben, werden durch spätere abweichende oder widersprechende Formulierungen relativiert. Es handelt sich eben um einen unveröffentlichten Text, einen frühen, wahrscheinlich

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schon seine quantitative Häufung wäre ein Beleg dafür, wie zentral er für den Systementwurf ist. Auffallend ist das umfangreiche Wortfeld, das sich um den Terminus „Arbeit“ bildet. Arbeit wird z. B. als individuelle Bemühung, Tätigkeit, aufgeschobener Genuß usw. verstanden, aber auch als Tätigkeit eines Kollektivsubjekts, also etwa als Arbeit der Regierung. Hegels Argumentation legt eigentlich nahe, daß „Arbeit“ etwas ist, wodurch sich der Mensch auszeichnet und also von anderen Lebewesen unterscheidet. Dann wiederum spricht er aber auch von der Arbeit der Pflanze oder des Tieres (dem Sichproduzieren). Schließlich gibt es sogar eine Arbeit des Krieges u. ä.97 Diese kleine Zusammenstellung soll zeigen, daß mit dem gleichen Wort mitunter extrem Verschiedenes gemeint ist. Noch einmal: Man kann von einem unveröffentlichten Text nicht verlangen, daß er das Maß an Konsistenz erfüllt, das eine wissenschaftliche Abhandlung als solche aufzuweisen hätte. Dennoch kann aus Hegels Manuskript mit großer Sicherheit die wesentliche Argumentation extrahiert werden.98 Folgt man dem Verlauf des Manuskripts, so kann man insgesamt einen schrittweisen, zunehmend komplexer werdenden Aufbau und Umfang der verschiedenen Arbeitsformen feststellen. Hegels eigentümliche Methode verhindert eine genaue Befolgung dieser nur idealtypischen ‚Entwicklung‘, weil in den verschiedenen Potenzen und Unterpotenzen mitunter derart komplizierte Differenzierungen untergebracht werden, daß es zu Rückblenden oder auch zur Neuaufnahme vorheriger Themen kommt. Dennoch kann man die obige Charakterisierung der generellen Entwicklung gut nachweisen. Sie wird besonders deutlich, sofern man den Beginn des Manuskripts mit seinen weitgehend primitiven, noch gänzlich naturwüchsigen Tätigkeitsformen in Beziehung setzt zum abschließenden dritten Teil des Manuskripts, in welchem hochgradig ausdifferenzierte Arbeits- und Lebensverhältnisse analysiert werden. Man könnte diesbezüglich einwenden, daß es sich gar nicht um eine tatsächliche Entwicklung handle und der Eindruck einer solchen nur dadurch entstehe, weil nun einmal die plausible Darstellung den Fortgang vom Einfachen zum immer Komplexeren verlange. Jedoch belehrt der Textverlauf über die vielschichtigen Zusammenhänge, die tatsächlich erst durch fortschreitendes Arbeiten und sonstige Tätigkeiten entstehen und gerade nicht von vornherein gegeben sind. Ein Vorzug des Hegelschen Manuskripts besteht gerade darin, daß es zu zeigen vermag, wie der Mensch sich und seine Umwelt durch Arbeit prägt und verändert. Dies ist nicht notwendig gleichzusetzen mit einer marxistischen

97

98

ersten Versuch zu diesem Gegenstand. Es ist also überhaupt nicht zu vermeiden, daß die hier vorgelegte Rekonstruktion bereits einen stark interpretierenden Charakter trägt; die damit einhergehenden Gefahren und möglichen Mißverständnisse sind einkalkuliert, anderenfalls müßte man schweigen. Der Anspruch ist, konsistente, grundlegende Gedanken Hegels aufzeigen zu können. Man denke auch an Hegels berühmte spätere Formulierung von der „Arbeit des Begriffs“ im Sinne des Begreifens als eines Aneignens, Durchbohrens, in die Form der Allgemeinheit Bringens, wodurch dieses Begreifen nicht nur metaphorisch Arbeit ist. Z. B. ist an fast allen Stellen deutlich, daß die Arbeit vom Genuß getrennt bleibt. Obwohl also die Arbeit hochgeschätzt wird und eine äußerst wichtige Rolle etwa für die Subjektkonstitution oder die Herausbildung gesellschaftlicher Allgemeinheit spielt, ist sie nach Hegel nie Selbstzweck. D. h. nicht, daß sie nicht auch Spaß bereiten oder uneigennützig sein dürfte, doch bleibt die Arbeit auch dann prinzipiell stets ein Mittel.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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Arbeitstheorie, die den Menschen vorbehaltlos optimistisch als selbstmächtigen Schöpfer seiner eigenen Verhältnisse präsentiert. Hegel ist vorsichtiger, bescheidener, weiß um das lange Fortwirken geschichtlicher Konstellationen99 und lokaler Traditionen;100 dennoch ist die Betonung der aktiven Gestaltungskraft und -macht des Menschen unverkennbar. Auch ist die Feststellung zutreffend, wie ein Textvergleich leicht zeigen kann, daß Hegel Problemstellungen und Diagnosen erbrachte, zu denen der frühe Marx ebenso gelangte, ohne daß er das Manuskript oder das Material der Jenaer Vorlesungen hätte kennen können.101 Dieser Sachverhalt sollte, sofern man ihn offen und ohne ideologische Scheu zur Kenntnis nimmt, das Hegelsche Manuskript sogar noch interessanter machen. Es gibt gute Gründe für die These, daß die von Hegel geleistete geistige Arbeit tatsächlich geeignet war, vorher unbegriffene oder nicht beachtete Sachverhalte in ihrer Struktur zu erfassen und zu durchdringen.

5.4.1. Arbeit des bedürftigen Menschen als „gehemmter Genuߓ Hegel gelangt schon auf den ersten Seiten des Manuskripts zum Begriff der „Arbeit“, den er sorgfältig einführt und auch optisch hervorhebt. Dieselbe Hervorhebung gebraucht er für die Begriffe „Bedürfnis“ und „Genuߓ. Vollends die jeweilige Zuordnung eines griechischen Kleinbuchstabens bezeugt den intendierten Zusammenhang: Die Arbeit, hier zusätzlich noch als „Bemühung“ gekennzeichnet, steht zwischen dem 99

„[W]as in der Gegenwart keinen wahrhaften lebendigen Grund hat, dessen Grund ist in einer Vergangenheit, d. h. es ist eine Zeit aufzusuchen, in welcher die im Gesetz fixirte aber erstorbene Bestimmtheit lebendige Sitte und in Uebereinstimmung mit der übrigen Gesetzgebung war. Weiter aber als gerade für diesen Zweck der Erkenntniß reicht die Wirkung der rein geschichtlichen Erklärung der Gesetze und Einrichtungen nicht; sie wird ihre Bestimmung und Wahrheit überschreiten, wenn durch sie das Gesetz, das nur in einem vergangenen Leben Wahrheit hatte, für die Gegenwart gerechtfertigt werden soll; im Gegentheil erweißt diese geschichtliche Erkenntniß des Gesetzes, welche in verlornen Sitten und einem erstorbenen Leben seinen Grund allein aufzuzeigen weiß, gerade, daß ihm jetzt in der lebendigen Gegenwart der Verstand und die Bedeutung fehlt, wenn es schon noch durch die Form des Gesetzes, und dadurch, daß noch Theile des Ganzen in seinem Interesse sind und ihr Daseyn an dasselbe knüpfen, Macht und Gewalt hat.“ (Naturrechtsaufsatz, IV 482) 100 Die konkrete Form einer Gesellschaft ist auch abhängig von geographischen und geopolitischen Konstellationen, selbst von klimatischen Verhältnissen (d. h. vorgegebenen Bedingungen, die nicht oder nicht beliebig zu beeinflussen sind). Zum Einfluß Montesquieus vgl. Coppieters 1994. 101 Vgl. dazu bereits Löwith 1995, 291: „[W]enn Marx die kritischen Darlegungen in den Jenenser Vorlesungen und den Kommentar zu Stewarts Staatswissenschaft hätte einsehen können, er hätte noch viel unmittelbarer als in der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie aus Hegels Problemstellung die seine entwickeln können. Eine Zwischenstellung zwischen dem ökonomischen, aber prinzipiell philosophisch begründeten Arbeitsbegriff von Marx und dem spekulativen von Hegel nehmen die Hegelianer Rößler und Ruge ein“; außerdem 302f. zu den prinzipiellen Differenzen zwischen Hegel und Marx (universaler bzw. ökonomisch-fixierter, spezialisierter Arbeitsbegriff). 304 außerdem die Feststellung, daß das Problem der Arbeit von der Philosophie bislang (1941!) wenig behandelt, eigentlich vergessen wird; zur Befreiungswirkung der Marxschen Frühschriften auf Löwith vgl. die Diskussion mit Theunissen, Gründer u. a. zu Löwiths Vortrag „Aktualität und Inaktualität Hegels“, abgedruckt im Bd. 5 (Sämtliche Schriften), dort insbesondere 311.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Bedürfnis und dem Genuß. Sie tritt also sofort als ein Mittel auf: Die Arbeit ist eingeschoben zwischen Bedürfnis und Genuß und ermöglicht offensichtlich deren Vermittlung, d. h. sie vernichtet das „Gefühl der Trennung“ (V 281), das mit dem Bedürfnis ausgedrückt ist, und ist somit die Voraussetzung für den Genuß, welcher als das Gefühl des „Aufgehobenseyns“ eben jener Trennung (und zusätzlich als bewußtes Gefühl) bezeichnet wird. Ohne Arbeit gibt es also keinen Genuß, der Genuß kommt „aus der Differenz“ (V 281f.) hervor. Etwas später wird die Arbeit „als negatives praktisches Anschauen“ (V 284) bezeichnet. Hegel möchte klarstellen, daß es bei der Arbeit selbst gerade noch nicht zum Genuß kommt, vielmehr das begehrte und bearbeitete Objekt verwandelt, „vernichtet“ wird in der Weise, daß ein anderes neues Objekt „an seine Stelle gesetzt wird“: „Dieses Vernichten aber ist die Arbeit“. (V 284) Kurz darauf folgt die prägnante Formulierung, die es unmißverständlich ausspricht: „[E]s ist im Arbeiten die Differenz der Begierde und des Genusses gesetzt; dieser ist gehemmt, und aufgeschoben, er wird ideell“. (V 284) Die Arbeit ist also, dies ist eine weitere Spezifizierung, gehemmter Genuß, ein Genuß, der ideell bleibt und keineswegs während des Prozesses der Arbeit praktisch wird, also nicht etwa mit der Stillung des Hungers zusammenfällt. Der Genuß folgt der Arbeit erst, sie ist ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, zur Erlangung des Genusses.

5.4.2. Die spezifische Rolle der „Arbeit“ für die Subjektkonstitution – Wechselwirkung zwischen „arbeitendem“ Subjekt und „bearbeitetem“ Objekt Hegel stellt die Arbeit also zunächst in den Zusammenhang der Objekt- und Subjektkonstitution. Durch die Bemühung oder Arbeit wird ein verändertes „Selbstgefühl“ erzeugt. War der Begehrende, das Subjekt, von dem Objekt seiner Begierde zunächst getrennt, das Objekt also etwas äußeres, so wird es im Arbeiten verwandelt und angeeignet, bleibt also keineswegs etwas nur äußeres. Der Genuß, der die vorherige Differenz von Subjekt und Objekt voraussetzt, ist für Hegel an dieser Stelle wesentlich praktisch; der Genuß ist jedenfalls dadurch gekennzeichnet, daß in ihm bereits ein Objektbewußtsein vorhanden ist, „ein Bewußtseyn der Negativität des Objects, in ihm ist“. (V 283)102 Es ist hier unschwer zu erkennen, daß es sich bei der Einführung des Arbeitsbegriffs noch nicht um eine ökonomische Kategorie handelt. Vielmehr geht es um eine erste Subjekt-Objekt-Vermittlung, um das Sicherstellen der primär notwendigen Bedürfnisbefriedigung („Sättigung“, V 283). Auch wenn die Konstitution des Subjekts durch seine Tätigkeit, sein durch Arbeit verändertes Verhältnis zu den Objekten hier nur in einer Art Skizze thematisiert wird, ist doch der Vorgang, der Prozeß genau bezeichnet.

102

Hegels Darstellung ist äußerst gedrängt, skizzenhaft. So ist es schwierig zu entscheiden, worauf sich bestimmte Formulierungen beziehen, etwa das „in ihm“. Man wüßte gern mehr über jenes Selbstgefühl im Genuß, zumal in diesem Gefühl zugleich ein „Bewußtsein“ enthalten sein soll; fallen Gefühl und Bewußtsein hier zusammen? Das Bewußtsein von der Negativität des Objekts soll wohl noch kein explizites Wissen sein.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

195

Die weitere Aufschlüsselung der Arbeit bestätigt dies noch. Hegel analysiert das entstehende „Verhältniß durch Arbeit“ und unterscheidet an ihm drei Momente. Auf die „Besitzergreifung“ (V 284) (ideale Bestimmung des Objekts durch die Begierde des Subjekts; d. h. es wird nicht wörtlich ergriffen, sondern nur ideell fixiert) folgt die eigentliche „Thätigkeit der Arbeit“ (V 285), die im Resultat zum „Besitz des Products“ (V 285) führt und damit die Möglichkeit schafft, zum Genuß überzugehen. Auch hier ist der Rahmen klar. Hegel spricht ausdrücklich davon, daß das zuvor begehrte Objekt der „Vernichtung seiner Form“ unterliegt, daß es zu einer „Formgebung durch das Subject“ kommt. (V 285) Wurde vorhin behauptet, daß es sich bei der Arbeit zunächst nicht um eine ökonomische Kategorie handelt, so kann man nun dem Wortlaut des Textes entnehmen, daß die soeben beschriebenen am „Verhältniß durch Arbeit“ unterschiedenen Momente auch nicht als juristische Kategorien zu verstehen sind: „Von einem rechtlichen Grund, oder Seite des Besitzes kann hier gar nicht die Rede seyn.“ (V 285) Statt dessen wird aber erneut die Subjekt-Objekt-Beziehung angesprochen, die Arbeit beschrieben als eine „Realität“ und „Bewegung“, als „das eingehen des subsumirenden Subjects in die Realität des Objects“. (V 285) Beachtung erfahren also gerade diejenigen Veränderungen, die im Subjekt der Tätigkeit zu verorten sind und also auch die wechselnde Perspektive des Subjekts auf das durch diese seine Tätigkeit sich wandelnde Objekt.

5.4.3. Ausdifferenzierung spezifischer Arbeitstechniken und -formen In einem weiteren Schritt wechselt Hegel die Fragerichtung und analysiert, wie das Objekt die Arbeit bestimmt. Dadurch werden andere Gesichtspunkte wesentlich, verschiedene Arbeitsformen und -techniken werden thematisiert, nunmehr soll die „lebendige Arbeit“ erkannt werden. (V 286) In diesem Zusammenhang geht Hegel der Frage nach, wie und wodurch sich die Arbeit je unterscheidet. Gegenstand seiner Untersuchung ist die Arbeit als Kultur der Pflanzen, als Bezähmung und Mast der Tiere und schließlich als Bildung (das Wirken in einen anderen Menschen durch „Intelligenz“, die „allgemeine Wechselwirkung“ der Menschen). Hegel zeigt, daß es jeweils verschiedener Fertigkeiten bedarf und sich auch der Grad der Lebendigkeit der Arbeit je nach Objekt unterscheidet. (V 286–290) Für Hegel steht fest, daß die „Lebendigkeit“ der Arbeit, welche sich auf die beschriebenen „Objecte“ richtet, in der gegebenen Reihenfolge zunimmt. Die Bildung als gegenseitige Wechselwirkung von Intelligenzen stellt den vorläufigen Höhepunkt dar. Zur Beschreibung des Phänomens der Bildung greift Hegel erneut auf das SubjektObjekt-Modell zurück. Dabei hat es nichts Anstößiges, einen anderen Menschen, von dem man weiß, daß er ein menschliches Subjekt ist, als Objekt zu betrachten, vielmehr hat man gar keine Wahl. Nach dieser Theorie muß alles andere, auf das sich das Subjekt bezieht, für das Subjekt ein Objekt sein: „Die ideale Bestimmung des andern ist objectiv, aber so daß diese Objectivität unmittelbar auch sich subjectiv setzt, und Ursache wird“. (V 288) Die Stufung Pflanze – Tier – Intelligenz steht dabei zugleich für eine Zunahme der Komplexität des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Zum einen wird deutlich, daß die Arbeit in der Interaktion mit der natürlichen Umgebung erfolgt (der Arbeitende richtet sich auf ein „natürliches Objekt“, dies trifft auf alle drei Stufen zu), zum anderen

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

aber auch, daß der arbeitende Mensch mit anderen Menschen (den gleichstrukturierten Intelligenzen) in einer permanenten Wechselbeziehung steht: Auf der Stufe der Intelligenz kommt letzterer Sachverhalt besonders plastisch zum Vorschein. Denn hier agiert der Mensch nicht mehr „nur“ in der Natur (also Bearbeitung von Pflanze und Tier), sondern die „bearbeitete“ andere Intelligenz (etwa in der Bildung) ist zugleich tätiges Subjekt, so daß sich die Intelligenzen wechselweise Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung sowie Allgemeines und Besonderes werden.

5.4.4. Bedeutung und Folgen des Werkzeuggebrauchs: Manifestation der „Vernunft“ Die theoretisch ergiebigsten Aussagen zur Arbeit erfolgen m. E. im Zusammenhang mit der Explikation der sogenannten „Mitten“, hier insbesondere bei der Darstellung des Entstehens, des Wesens, der Funktionen und Folgen des Werkzeuggebrauchs. Da dieser Textteil oben ausführlich besprochen wurde, soll hier nur an den Zusammenhang erinnert werden. Das Werkzeug wird von Hegel so eingeführt, daß es einerseits subjektiv ist (d. h. in diesem Falle, daß es sich in der Hand eines Subjekts befindet und von diesem benutzt, vielleicht sogar zuvor selbst hergestellt wurde), andererseits „objectiv gegen den Gegenstand der Arbeit gerichtet“ ist. (V 291) Diese doppelte Ausrichtung weist darauf hin, daß es eigentlich zwischen dem arbeitenden Subjekt und dem bearbeiteten Objekt steht. Es ist zudem geeignet, die im Arbeiten des Subjekts gegebene „Unmittelbarkeit des Vernichtens“ aufzuheben, was bedeutet, daß das arbeitende Subjekt von bestimmten Folgen des manuellen Arbeitens entlastet wird. Die Arbeit wird ja durchaus auch unter dem Aspekt der Mühsal und Last betrachtet: „Hand und Geist wird stumpf durch sie“. (V 291) Der Werkzeuggebrauch trägt dagegen tendenziell dazu bei, diese negativen Begleitumstände der manuellen Arbeit abzumildern und die Tätigkeit zunächst intelligenter werden zu lassen. Denn harte (körperliche) Arbeit ist in bestimmter Hinsicht immer „ebenso eine Vernichtung des Subjects, eine Negation, blosse Quantitativität in ihm setzendes“. (V 291) Diese „blosse Quantitativität“ wird in der Tendenz ersetzt durch die „Vernünftigkeit“ des Werkzeugs: „Im Werkzeug trennt das Subject sein Stumpfwerden, und die Objectivität von sich ab, es gibt ein anderes der Vernichtung hin, und wältzt auf es den subjectiven Theil derselben“. (V 292) Die benutzten Termini bekunden eindeutig die Entlastung des Subjekts, welche mit dem Werkzeug gegeben ist. Das „Abwälzen“ erinnert ein wenig an den späteren „Betrug“ der Natur mittels der Maschinen.103 Für Hegel ist aber vor allem wichtig, daß durch den Werkzeuggebrauch eine gänzlich neue Qualität der Subjekt-Objekt-Vermittlung erreicht wird. Man könnte sagen, daß sich der Status der Arbeit ändert, ein neuer Grad von Allgemeinheit erreicht wird: Mit dem Werkzeuggebrauch hört die Arbeit des Subjekts nämlich zugleich auf, „etwas einzelnes zu seyn; die Subjectivität der Arbeit ist im Werkzeug zu einem allgemeinen erhoben; jeder kann es nachmachen, und ebenso arbeiten“ (V 292); damit ist also eine neue zwischenmenschliche Struktur geschaffen, der andere Mensch kann die im Werk103

Vgl. z. B. JSE I, VI 321.

1. DIE NATÜRLICHE SITTLICHKEIT

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zeug bereits vergegenständlichte und investierte Arbeit nutzen, ein neues Moment der Dauer (entgegen der unmittelbaren Vernichtung und vereinzelten Arbeit) und Interaktion (ein anderer kann das Werkzeug auch nutzen) ist gegeben. Fazit: Das Werkzeug „ist insofern die beständige Regel der Arbeit“ (V 292), ebenso: „Im Werkzeug macht das Subject eine Mitte, zwischen sich und das Object, und diese Mitte ist die reale Vernünftigkeit der Arbeit“. (V 291) In Hegels Argumentation wird also über die Arbeit und die Werkzeugherstellung, den Werkzeuggebrauch quasi eine erste Kulturstufe erreicht. Er spricht von der überlieferten Werkzeugverehrung aller „in der Naturpotenz stehenden Völker“. (V 292) Das durch die Arbeit geschaffene Werkzeug steht um seiner Vernünftigkeit willen höher als das Arbeiten selbst, höher auch als das für den Genuß bearbeitete Objekt.

5.4.5. Durch „Arbeit“ bedingte Integration in verschiedene Stände: offensichtliche Vermischung antiker und moderner Gesichtspunkte Die Arbeit wird in Hegels Manuskript wieder zentral innerhalb der zweiten Hauptpotenz, wo die ökonomischen und rechtlichen Verhältnisse rekonstruiert werden. Diese sind überhaupt nur dadurch denkbar und wirksam, daß durch Arbeit (zuvor) „Überfluߓ erzeugt wird. Das Thema Arbeit begegnet aber auch dort, wo nicht ausdrücklich von ihr gesprochen wird, etwa in der Anerkennungsproblematik des zweiten Hauptteils. Schließlich findet sich im dritten Teil noch eine Art Zusammenstellung der je verschiedenen Arbeit, welche die einzelnen Stände leisten. In allen Fällen ist zu beobachten, daß die Tätigkeit der Arbeit immer auch den Effekt hat, die Arbeitenden in ihre Umwelt zu integrieren. Wesentliche Möglichkeiten von diversen Interaktionen werden überhaupt erst durch sie erzeugt. Gerade im dritten Manuskriptteil stellt sich heraus, daß Hegel mitunter noch traditionelle und moderne Arbeits- und Lebensformen mischt, etwa die Organisation in Zünften mit industrieller Maschinenarbeit, dazu das gleichzeitige Bestehen eines eigenen (von Gott gegebenen) Standes, der die Regierungsgeschäfte leiten soll. Es entsteht der Eindruck, daß Hegel in der Beurteilung der Funktion der Arbeit für die Gesellschaft zwischen dem klassischen und dem modernen Arbeitsbegriff schwankt.104

104

Die antike Abwertung der Poiesis gegenüber der Praxis findet sich vor allem im dritten Teil; dagegen ist im ersten Teil z. B. unter dem Aspekt der Wertschöpfung eine unbestreitbare Aufnahme der modernen englischen Nationalökonomie zu konstatieren. Die moderne Theorie wirkt sich freilich auch im dritten Teil aus. Vgl. auch die Interpretation zum dritten Teil des Manuskripts.

198

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

6.

Der zweite Teil des Manuskripts: „Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen“

6.1.

Rekonstruktion des Inhalts und Argumentationsgangs des zweiten Teils

6.1.1. Hegels „Regieanweisung“ – Bestimmung der verschiedenen Aufhebungen: fixierte und absolute Negation Nicht zufällig beginnt der zweite Teil mit einer längeren Vorbemerkung Hegels, die – halb Resümee, halb Ausblick – wohl als ein Innehalten und nochmaliges Vergegenwärtigen des Gesamtgangs zu lesen ist.1 Dabei scheint vor allem ein Aspekt wesentlich zu sein. Die bisher behandelten Momente der natürlichen Sittlichkeit, die nach Hegel allesamt auch Momente der absoluten Sittlichkeit sein sollen, konnten noch nicht als Bestimmtheiten des Absoluten nachgewiesen werden. (V 309f.) Dieser Nachweis ist aber notwendig, um den systematischen Anspruch auf Erkenntnis der absoluten Sittlichkeit durchhalten zu können. Es muß also ein Weg gefunden und beschritten werden, der zu einer Eingliederung aller bisherigen Bestimmungen des Sittlichen in einen übergreifenden und ordnenden Zusammenhang führt. Nun ist aber eines der Ergebnisse der Hegelschen Darstellung, daß die beschriebenen Momente der natürlichen Sittlichkeit sich gerade naturwüchsig herausbilden, also bereits ein tatsächliches Eigenleben haben. Es stellte sich gleichzeitig heraus, daß in diesem gesamten nichtstaatlichen Zustand oder Bereich keinerlei Schutz vor Gewalt des Stärkeren oder Gewährleistung von Ansprüchen rechtlicher Art vorhanden war. Alle sich ausbildenden Beziehungen unterliegen noch einer Gefährdung, sind anfällig gegen Gewalt und sonstige Verweigerung.2 Es besteht also trotz aller Naturwüchsigkeit stets die Möglichkeit der Aufhebung. Hegel nimmt diesen Umstand zum Anlaß festzustellen, daß verschiedene Aufhebungsvarianten bestehen; dabei behält er sein Ziel fest vor Augen: „Die Aufhebung der Bestimmtheiten muß die absolute seyn, die Aufnahme der Bestimmtheiten in die absolute Allgemeinheit.“ (V 310) Der folgende Textverlauf bietet einige Schwierigkeiten, die wesentlich aus Hegels Sprachstil resultieren. Unzweifelhaft unterscheidet Hegel nun verschiedene Aufhebungsarten, doch ist es schwer, die Bezeichnungen zu den verschiedenen Arten der Aufhebung zuzuordnen. Der mit der „absoluten Aufhebung“ bewirkte Vorgang und zugleich ihr Resultat (die Aufnahme aller Bestimmtheiten in die absolute Allgemeinheit) erfährt nun eine weitere Bestimmung, womit erneut der Prozeßcharakter betont 1

2

Vgl. auch Hegels Vorgehen in der Phänomenologie des Geistes: Am Beginn eines jeden Kapitels erfolgt die Zusammenfassung des vorangehenden. Hegel sprach bereits im ersten Teil mehrfach von dem jeweils Negativen der gerade behandelten Potenzen (z. B. V 295 und 298). Man kann diese Textstellen als Beleg dafür verstehen, daß die einzelnen Manuskriptteile sehr wohl miteinander verklammert sind. Der zweite Teil erweist sich in gewisser Weise als Ausführung der im ersten Teil jeweils nur angedeuteten Negationsformen.

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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wird. Aus der „Aufnahme“ wird ein „Aufnehmen“. Und dieses Aufnehmen ist nicht nur absolut, sondern zugleich das „positive“. Diese Bestimmungen des „Aufnehmens“ gelten m. E. erst für die absolute Sittlichkeit im dritten Teil. Hegel fügt aber noch hinzu, daß das Aufnehmen auch anders verfahren kann: „[A]ber es ist auch bloß negativ“. (V 310) Diese Form des Aufnehmens ist Gegenstand des zweiten Teils. Zu dieser Deutung passt Hegels direkt anschließende Bemerkung: „[W]ie die absolute Form sich als Bestehen des Gegensatzes im vorigen [also im ersten Teil] ausgedrückt hat, so drückt sie sich [jetzt im zweiten Teil] in ihrem Gegentheil, oder im Vernichtetseyn des Gegensatzes aus“. Es folgt ein nicht leicht zu verstehender Satz, der den frühen Gebrauch des Terminus „dialektisch“ durch Hegel dokumentiert;3 allerdings hat dieser hier noch eine andere Bedeutung als die aus den reifen Schriften gewohnte, so dass man zunächst etwas irritiert ist: „Aber diß Vernichtetseyn ist entweder rein negativ, so ist es dialektisch, die Erkenntniß der Idealität, und das reale Aufheben der Bestimmtheit; das negative wird nicht fixirt, ist nicht im Gegensatze, und so ist es im Absoluten“. (V 310) Vor dem Semikolon wird die Art der Aufhebung thematisiert, wie sie im zweiten Teil erfolgt; nach dem Semikolon wird angekündigt, wie die positive Aufhebung erfolgt, wie das Negative im Absoluten selbst aufgehoben ist. Die letzteren Bestimmungen der Form der Negation gelten, wie der weitere Textverlauf zeigt, unmissverständlich erst für den Bereich der absoluten Sittlichkeit: Denn erst darin kommt es nicht mehr zum Festhalten an den beklagten Fixierungen, sondern zur vollkommenen Identität.4 Die Passage vor dem Semikolon bezieht sich deutlich auf eine andere (nicht die absolute) Form des „Vernichtetseyns“ des Gegensatzes. Darauf verweist m. E. das eingefügte „entweder“; entweder ist es nur rein negativ („so ist es dialektisch“) oder es ist absolut („so ist es im Absoluten“). Ein weiterer Beleg hierfür ist, daß es beim rein negativen Vernichten zur „realen Aufhebung der Bestimmtheit“ kommt, also exakt zu dem, was Hegel für den zweiten Teil mehrfach beschreibt.5 Nach der von mir vorgeschlagenen Lesart lassen sich also genau zwei Formen der Aufhebung unterscheiden: 1. die absolute (positive) Aufhebung, 2. die negative Aufhebung.6 3 4

5

6

Vgl. zur eingeschränkten Bedeutung des Begriffs „dialektisch“ Trede 1972, 156 und 1973, 208f. Vgl. die Fortsetzung von Hegels eigenem Text: „[D]ie absolute Sittlichkeit erhebt sich über die Bestimmtheit, dadurch daß es sie aufhebt, aber so daß es sie in einem höhern mit ihrem Entgegengesetzten vereinigt, also nicht in Wahrheit es bestehen läßt, und nur mit negativer Bedeutung setzt; sondern durch die vollkommne Identität mit seinem Gegentheil seine Form, oder Idealität aufhebt, gerade ihm das negative nimmt, und es absolut positiv und reell macht.“ (V 310) Vgl. V 311f., wo Hegel für das negative Aufheben vom „Gegensatz gegen das reelle“ spricht, auch vom Aufheben der „Objectivität“, daß „die Realität“ negiert werde. Von der absoluten Sittlichkeit, dem absoluten Aufheben heißt es dagegen im Kontrast (und analog zum obigen Zitat), dieses vernichte nur die „ideelle Bestimmtheit als Gegensatz“ (V 311), hebe die „Idealität“ auf. (V 310) Vgl. dagegen Schnädelbachs abweichende Interpretation (Schnädelbach 2000, 93f.), in der er zwei andere Aufhebungsformen ausfindig macht; seine Deutung liest sich flüssig, paßt aber m. E. nicht zum System der Sittlichkeit: die „negative“ Aufhebung gegen die Aufhebung ist hier nämlich nicht „Aufhebung der Aufhebung“, nicht also Vorform der reifen Negation der Negation, nicht also die höhere Stufe als Negation der Negation. Es werden im System der Sittlichkeit nicht „einfache“ und „negative“ Aufhebung unterschieden, wie Schnädelbach unterstellt (im Text ist nirgends die Be-

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Daß Hegel von der absoluten Aufhebung – der Kontrast könnte schärfer kaum ausgedrückt werden – die „negative Aufhebung“ unterscheidet, ist schon am Satzbau ablesbar: „Ganz anders ist die negative Aufhebung“. (V 310) Die nähere Bestimmung jener (bloß) „negativen Aufhebung“ verdeutlicht klar die Unterschiede. Wenn man bedenkt, daß all diese Ausführungen am Beginn des zweiten Teils erfolgen, so hört man gleichsam Hegels Selbstvergewisserung mit: Die absolute Aufhebung ist diejenige der absoluten Sittlichkeit (und Hegels Ausführungen hierzu wirken geradezu wie ein Ausblick auf den dritten Teil des Manuskripts); die „negative Aufhebung“ ist zwar offenkundig mit Mängeln behaftet, aber zugleich ein notwendiger Vorgang, der jetzt thematisiert wird: „[S]ie ist selbst Aufhebung gegen die Aufhebung, Entgegensetzung gegen die Entgegensetzung, aber so daß die Idealität, die Form gleichfalls in ihr besteht, aber in umgekehrtem Sinne, nemlich daß sie das ideelle Bestimmtseyn der Einzelnheit festhält, und es so als ein negatives bestimmt; also seine Einzelnheit und sein Entgegengesetztseyn bestehen läßt, den Gegensatz nicht aufhebt, sondern die reale Form in die ideelle umwandelt.“ (V 310) Wie man sich dieses Umwandeln der realen Form in die ideelle vorzustellen hat, illustriert Hegel an einem Beispiel. Wenn das Reelle als ein Ideelles gesetzt werde (wie es durch die reine Freiheit hier im zweiten Teil geschieht), verhalte es sich so, „wie wenn die Empfindung als Gedanke gesetzt wird“; die Bestimmtheit ändert sich also gar nicht, „das empfundene roth bleibt gedachtes roth“. (V 310f.) Die „Freyheit der Intelligenz“, so wie sie hier als „reine Freyheit“ auftritt, fixiert allerdings die Entgegensetzung von Ideellem und Reellem, setzt sich der Objektivität entgegen, ist „im Gegensatz gegen das reelle“. Das hat Folgen: „Dieses Negative, oder die reine Freyheit geht also auf die Aufhebung des objectiven so, daß es die ideelle stimmung oder Bezeichnung „einfach“ zu finden), sondern vielmehr „negative“ und „absolute“ Negation, wobei die „negative“ Aufhebung gerade nicht die höhere ist! Schnädelbachs Lesart ist mit dem Text des Systems der Sittlichkeit nicht kompatibel: Von der „ganz anderen“ negativen Aufhebung – in Absetzung zur „absoluten“ – wird vielmehr ausdrücklich gesagt, daß sie das „Entgegengesetztsein bestehen läßt, den Gegensatz nicht aufhebt“. Nicht die „negative Aufhebung“ führt also direkt zur absoluten Sittlichkeit oder ist das höchste, sondern die absolute Sittlichkeit hebt selber die Bestimmtheiten auf, aber vereinigt dabei zugleich. (V 310 Zeile 12ff.) Dazu passen auch die Ausführungen V 324 („völlige Vernichtung der Besonderheit“) und V 311 Zeile 27ff.: Die absolute Sittlichkeit hebt die Subjektivität auf, vernichtet sie aber nur als Gegensatz, als ideelle Bestimmtheit, läßt ihr Wesen bestehen. Relativ deutlich ist auch Hegels Distanz der negativen Aufhebung gegenüber zu spüren, jedenfalls macht er klar, daß dies nicht die höchste Stufe sein kann; er unterstellt ihr hingegen den (letztlich vergeblichen) „falschen Versuch“ etwas tun zu wollen. (V 311) Die Vorform der bestimmten – im Gegensatz zur abstrakten – Negation, die Schnädelbach erkennen möchte, kann sich m. E. nicht auf Hegels negative Aufhebung beziehen, sondern – sofern überhaupt – auf die absolute Aufhebung. Selbst bei Schnädelbach müßte es also die „einfache“ Negation sein; die negative wäre hingegen die abstrakte. Daß Schnädelbachs Interpretation bezüglich der Negation nicht zutrifft, kann man auch an dessen ziemlich fragwürdiger Einschätzung des zweiten Teils erkennen: „Er ist der Negativität am Ort der absoluten Sittlichkeit gewidmet“. (2000, 92f.) Das widerspricht völlig Hegels eigener Einschätzung am Beginn des dritten Teils, wonach im Rückblick auf die vorherigen Potenzen ausdrücklich betont wird, das Negative sei „am wenigsten […] sittlich.“ (V 324) Vgl. auch frühere, Schnädelbachs Deutung entgegenstehende Interpretationen bei Wildt 1982, 322 und Siep 1979, 326 (Anm. 166).

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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[…] Bestimmtheit […] zum Wesen macht; also die Realität in ihrer Bestimmtheit negirt, aber diese Negation fixirt.“ (V 311f.) Hier ist angekündigt, was in diesem zweiten Teil behandelt wird. Im zweiten Teil wird die natürliche Sittlichkeit von dieser negativen Aufhebung gleichsam angegriffen. Die negative Aufhebung befreit sich zwar von der Gebundenheit an die Natur und den ersten sozialen Beziehungen der natürlichen Sittlichkeit, setzt sich ihr jedoch nur einseitig entgegen und fixiert dieses Verhältnis, vereinigt sich also nicht mit ihr. Dazu, so Hegels Konstruktion, bedarf es noch einer weiteren, der absoluten Negation. Dennoch hat, wie der Text beweist, auch dieses negative Aufheben eine wichtige Funktion. An einer Stelle spricht er explizit von der „Erkenntniß der Idealität“. (V 310) Und das scheint der Verlauf des Textes zu belegen: Nicht nur wird in destruktiven Akten die natürliche Sittlichkeit erschüttert, es offenbart sich zugleich auch die Kraft und Wirksamkeit des Ideellen. Offensichtlich reicht es für die vollständige, erfüllte Individualität nicht aus, im Bereich der natürlichen Sittlichkeit zu verharren. Im zweiten Teil setzen sich Individualitätsansprüche durch, wenngleich nur als Entgegensetzung des Besonderen gegen das Allgemeine und damit auch in Form von Verletzungen. Die positive Freiheit wird noch nicht berührt.7 Um zu ihr, überhaupt zum Bereich des Politischen zu gelangen, bedarf es jedoch des zweiten Teils und seiner Negationen. Jedenfalls werden die vorhandenen strukturellen Defizite der bloß natürlichen Sittlichkeit deutlich. Außerdem zwingt Hegels Text zu der Deutung, daß jene im zweiten Manuskriptteil beschriebene Negativität unvermeidbar ist, quasinatürlich auftritt: Und nicht alle natürlichen Impulse sind der natürlichen Sittlichkeit selbst bekömmlich. Da sie aber „natürlich“ sind, können sie nicht einfach verschwinden, man muß also auch weiterhin mit der Negativität rechnen und sie irgendwie bändigen. Jedoch geht es im zweiten Manuskriptteil nicht allein um natürliche Negativität oder bloße Affekte wie etwa die Wut, sondern in gewisser Weise auch um die zivilisierenden Effekte des (wenn auch einseitigen) Verstandesgebrauchs.

6.1.2. Inhaltliche und formale Differenz zum ersten Teil; Potential und Folgen der „reinen Freyheit“ Unzweideutig ist Hegels Abgrenzung des zu behandelnden Stoffs vom ersten Teil des Manuskripts: „Das bisherige hat die Einzelnheit zum Princip“, alle erreichten Indifferenzen sind lediglich „formell“ (V 309) und „selbst wieder nur Besonderheiten. Es ist also schlechthin keine absolut; jede kann aufgehoben werden.“ (V 310) Nachdem Hegel die negative und positive Aufhebung unterschieden hat, legt er fest: „Itzt ist die Form als Negatives das Wesen; das reelle wird gesetzt als ein ideelles; es ist durch die reine Freyheit bestimmt.“ (V 310) Man erinnere sich an Hegels Überschrift zum zweiten Manuskriptteil; hier ist zu verstehen, wie Hegel die Verbindung von „Freyheit“ und „Negative[m]“ faßt. (Und das noch fehlende, in der Überschrift ebenfalls enthaltene „Verbrechen“ wird auch sogleich noch im Vorspann des zweiten Teils nachgeschoben.) An anderer Stelle wird die Beziehung noch präzisiert: „Dieses Negative, oder die reine 7

Vgl. im dritten Teil z. B. V 329 und V 358: „Das organische Princip ist die Freyheit, daß das regierende selbst das regierte sey“.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Freyheit geht also auf die Aufhebung des objectiven so, daß es die ideelle […] Bestimmtheit, das negative zum Wesen macht; also die Realität in ihrer Bestimmtheit negirt, aber diese Negation fixirt.“ (V 311f.) Wenn Hegel hier von „reiner Freyheit“ spricht und diese mit dem „Negative[n]“ gleichsetzt, so ist darin sogleich die Kritik oder doch wenigstens der Hinweis enthalten, daß die „Reinheit“ zu unzulässigen Verzerrungen, zu fixierten Negationen führt. Die Fixierung ist der eigentliche Fehler, stellt sie doch eine „Verletzung des Lebens“ dar. Folgerichtig schließt er an: „Dieser Negation aber muß entgegengewirckt werden“. (V 312) Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, sei hier der Gedankengang in Kürze dargestellt. Hegel führt als eine Form der negativen Aufhebung das „Verbrechen“ ein.8 Es ist dies eine Negation, die beinhaltet, daß „Objectivität aufgehoben wird“ (V 311). Das war natürlich auch bereits der Fall beim „praktischen Setzen“, dem „praktischen, das an und für sich negativ ist“. (V 311) Im ersten Teil konnte ja verfolgt werden, wie z. B. in der Arbeit durch Formgebung Objektivität aufgehoben (und umgestaltet) wurde. Das Verbrechen negiert auch, aber – anders als bei den Negationen im Arbeitsprozeß – wird dabei „das Leben […] nur verletzt, nicht höher gehoben“. (V 312) Im Extremfall des „Mordes“ wird sogar „das lebendige als Einzelnheit, als Subject“ aufgehoben, nicht nur verletzt. Ohne Scheu konstatiert Hegel an dieser Stelle: „aber die Sittlichkeit thut diß ebenso“. (V 311) Der alles entscheidende Unterschied liegt darin, daß „die Sittlichkeit [… nur] die Subjectivität, die ideelle Bestimmtheit desselben [d. h. des Lebendigen] auf[hebt]; der Mord aber seine Objectivität“. Anders gesagt: In der Sittlichkeit kommt es nicht zu einer tatsächlichen Vernichtung der „Subjectivität“, sondern lediglich zur Aufhebung ihres „Gegensatzes“, womit gewährleistet ist, daß „ihr Wesen schlechthin bestehen“ bleibt; „die Intelligenz bleibt in der Sittlichkeit eine solche“. (V 311) Es leuchtet ein, daß dies beim Mord nicht der Fall ist. Die in ihm vollbrachte Aufhebung oder Negation hat ein wesentlich anderes, ein unumkehrbares Resultat.

6.1.3. Notwendig resultierende, „vernünftige“ Umkehrungen (Rache und Gewissen) Interessanterweise bleibt es aber nicht allein bei der durch den Mord bewerkstelligten Vernichtung eines Lebens, sondern es muß eine Umkehrung erfolgen: „[D]as Negirende, macht sich zur Ursache und setzt sich als negative Indifferenz, aber darum muß der Satz an ihm umgekehrt werden […]; was es negirte, ist reell an ihm ebenso zu negiren, […] und diese Umkehrung des Verhältnisses ist absolut“. (V 312) Aufschlußreich ist Hegels Begründung, die bezeugt, daß er permanent seine praktizierte Methode im Blick behält: „[D]enn im Bestimmten ist es der Vernunft nur möglich, durch gleichmässiges Setzen der beyden entgegengesetzten sich als Indifferenz, also sich auf eine formale Weise zu behaupten.“ (V 312) Die Gegenwirkung, welche der Mord hervorruft, ist also nicht aus der Empirie aufgegriffen, sondern wird quasi aus einem Gesetz der Vernunft 8

Vgl. schon in Der Geist des Christentums und sein Schicksal: „[D]enn das Verbrechen ist eine Zerstörung der Natur; und da die Natur einig ist, so ist im Zerstörenden soviel zerstört als im Zerstörten.“ (1/338)

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abgeleitet. Hier ist wieder die Mischung von spekulativer Begründung und sachlich relevanter Erkenntnis zu beobachten: „Mit dem Verbrechen steht die rächende Gerechtigkeit absolut in Verknüpfung; es ist die Absolute Nothwendigkeit, welche sie verbindet, denn eins ist das entgegengesetzte des andern; das eine die entgegengesetzte Subsumtion des andern.“ (V 312) Während die „rächende Gerechtigkeit“ die „reale Gegenwirkung oder Umkehrung“ des Verbrechens ist, führt Hegel zusätzlich eine „ideale Umkehrung“ ein – sie „ist das Gewissen“. (V 312f.) Hegel beschreibt anschließend sehr anschaulich, in welcher Weise sich der „Trieb des Gewissens“ äußert.9 (V 313)

6.1.4. Natürliche Vernichtung Nach der umfangreichen Vor- und Rückschau, die eine zuverlässige Orientierung über den Sinn des zweiten Teils erlaubt, wird nun der angedeutete Inhalt, „das Negative“, in den bereits bekannten Subsumtionen behandelt. Der zweite Teil ist von Hegel auf diese Weise in drei Unterpotenzen a, b und c gegliedert. In der Potenz a wird die Negation zunächst bestimmt als „die natürliche Vernichtung, oder die zwecklose Zerstörung, die Verwüstung“. (V 313f.) Hegels eigenhändige Hervorhebung macht es leicht, den Akzent dieser Potenz zu verstehen. Es geht ihm – wie fast immer in der je ersten Potenz – um die natürlichen Implikationen. Negativität erscheint zunächst in „natürlicher“ Gestalt, einer Naturgewalt gleich. Der Terminus „natürlich“ steht allerdings nicht allein für die faktische Natur, sondern soll beschreiben, daß der Akt der Zerstörung nicht aus einer bestimmten Zielrichtung oder etwa einem Mangel heraus gegen etwas Ausgesuchtes, einzelnes geschieht, sondern vielmehr eine Verwüstung, „Vernichtung für sich [ist], ohne daß sie auf etwas anderes bezogen“ (V 313) wäre. Das „natürlich“ steht also eher

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Hegel nennt schließlich auch noch das „böse Gewissen“ (V 322), welches bereits in seinen Manuskripten zum Geist des Christentums eine Rolle gespielt hatte. Vgl. dort 1/306: „Das böse Gewissen ist das Bewußtsein einer bösen Handlung, eines Geschehenen, eines Teils eines Ganzen, über das ich keine Macht habe; eines Geschehenen, das nie, nie ungeschehen gemacht werden kann, denn es war ein Bestimmtes, ein Beschränktes.“ Außerdem 1/340: „[A]n dem bösen Gewissen, dem Bewußtsein einer bösen Handlung, seiner selbst als eines Bösen ändert die erlittene Strafe nichts; denn der Verbrecher schaut sich immer als Verbrecher, er hat über seine Handlung als eine Wirklichkeit keine Macht, und diese seine Wirklichkeit ist im Widerspruch mit seinem Bewußtsein des Gesetzes.“ Hegel führte damals das Schicksal zur Versöhnung ein. Im System der Sittlichkeit tritt die Strafe innerhalb des zweiten Teils noch nicht auf, da sie eines staatlichen Ordnungsraums bedarf; die erst noch folgende Entwicklung wird schließlich in der Ablösung der Rache (aus dem zweiten Teil) durch die Strafe (im dritten Teil) deutlich. Schnädelbach 2000, 95 deutet die Passage zum Gewissen im System der Sittlichkeit wie folgt: Das Gewissen sei „Hegel zufolge kein ‚Faktum der Vernunft‘ wie bei Kant, sondern eine aus intersubjektiven Lebensverhältnissen rekonstruierbare psychische Instanz – eine sehr moderne Gewissenstheorie, die auf Nietzsche und Freud vorausweist.“ Vgl. Harris 1983, 125: „The criminal must suffer what he did. His own inward consciousness of this creates a sense of guilt. Hegel’s view that one who is conscious of guilt must go on provoking attack until his debt is paid, is one of the most interesting anticipations of modern depth psychology produced by his conception of our universal human nature as an inwardness that must utter itself.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

dafür, daß es eine Art Trieb gibt, der sich „gegen die Abstraction des Gebildeten“ richtet.10 (V 313) In der Erläuterung der „natürlichen Vernichtung“ fährt Hegel fort: „So ist die Natur gegen die Bildung, welche ihr die Intelligenz erteilt, gekehrt, so wie gegen ihr eigenes Produciren von organisirten“. (V 314) Hegel gibt an dieser Stelle also zwei Fronten an, gegen die sich diese Vernichtung richtet. Das Zerstören des „eigene[n] Produciren[s] von organisirten“ scheint wieder triebhaft zu sein, jedenfalls gehört es der Natur – was immer Hegel hier darunter versteht – selbst zu. Andererseits richtet sich die natürliche Verwüstung aber nicht nur gegen die vorherigen (eigenen) Hervorbringungen der Natur, sondern auch oder zugleich gegen die Resultate (Bildungen) der „Intelligenz“. Diese wird hier ganz offensichtlich als etwas nicht mit der „Natur“ Vereinigtes präsentiert, hat aber Rückwirkungen oder Einfluß auf die „Natur“, indem sie ihr „Bildung“ erteilt. Man muß es entsprechend den nachfolgenden Ausführungen wohl so lesen, daß quasi naturhaft und unterschiedslos all das verwüstet wird, was entweder rein natürlich entstanden war oder eben durch Intelligenz (im ersten Teil schon kurz im Zusammenhang mit der „Bildung“ thematisiert) erzeugt wurde, also als Produkt der Zivilisation zuvor geschaffen wurde.

6.1.5. Die Besen Gottes. Vorform der List der Vernunft? Hegel führt die Wechselwirkung von Natur und Intelligenz hier nicht weiter aus, sondern gibt lediglich eine Anmerkung zur notwendigen wechselseitigen Subsumtion, um dann – etwas überraschend – zu einer kulturgeschichtlichen Betrachtung überzugehen. An dieser Stelle wird zwar nicht zum ersten Mal auf die reale Geschichte verwiesen, doch hier wird geschichtliche Erfahrung für den Theorieaufbau im Manuskript selbst relevant (vorher diente sie lediglich der Illustration, z. B. bei der nachgewiesenen Verehrung der Werkzeuge bei den Naturvölkern). Jetzt hingegen spricht Hegel vom Verlauf der ‚Geschichte‘ selbst: „So wechselt in dem Menschengeschlecht das Bilden mit dem Zerstören; wenn das Bilden der unorganischen Natur lange genug Abbruch gethan, und ihre Formlosigkeit nach allen Seiten bestimmt hat, so springt die gedrückte Unbestimmtheit los, und die Barbarey der Zerstörung fällt auf das Gebildete, raümt auf, und macht alles frey und eben und gleich. In ihrer grösten Pracht tritt die Verwüstung im Morgenlande auf, und ein Cingiskan, Tamerlan, kehren als die Besen Gottes, ganze Welttheile völlig rein.“ (V 314) Historische Persönlichkeiten als Werkzeuge Gottes? Selbstverständlich sollte man in der Textexegese des mit Bedacht unveröffentlichten Manuskripts Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen, es nicht zu wörtlich nehmen. Dennoch darf man hier wohl ohne Überinterpretation von einer strukturellen Analogie zur „List der Vernunft“ sprechen.11 10

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Zur Bedeutung des Triebs vgl. Kunio Kozu, Das Bedürfnis der Philosophie. Ein Überblick über die Entwicklung des Begriffskomplexes „Bedürfnis“, „Trieb“, „Streben“ und „Begierde“ bei Hegel (Hegel-Studien Beiheft 30), Bonn 1988. Vgl. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Berlin 1966, 105: „Man kann es die List der Vernunft nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt“. Im Umkreis dieses Zitats finden sich weitere Gedanken, die schon im System der Sittlichkeit vorgebildet sind, insbesondere, daß das Allgemeine Resultat einer Auseinandersetzung ist und stets mit

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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Auch wenn man der angedeuteten Analogie nicht beipflichtet, muß man zugeben, daß Hegel hier zumindest historische Ereignisse einfügt, denen er eine spezifische Gesetzlichkeit unterlegt. Es ist interessant zu beobachten, wie Hegel beginnt, die Geschichte in sein erst entstehendes System zu integrieren. Hegel scheint hier zwei verschiedene Entwicklungen zu beschreiben, von denen man nicht genau weiß, ob sie parallel verlaufen oder nicht. Einerseits möchte er die logische Geschichte der menschlichen Sittlichkeit vorführen (wofür er einen extremen terminologischen Aufwand betreibt), andererseits möchte er die realen geschichtlichen Gestalten einbeziehen.12 Letzteres geschieht aber vorerst nur an Einzelstellen, wenn es gerade paßt, und wirkt so etwas willkürlich, ähnelt einem bloßen Gleichnis. Manchmal gibt es überzeugende Verbindungen, insgesamt aber keine durchgehende konsequente Verknüpfung. Nach meinem Eindruck dienen die geschilderten konkreten historischen Ereignisse im ganzen eher als Beispiele, in denen sich das im Manuskript zuvor metaphysisch Konstruierte als historisch vorkommend erweist.13 Ganz sicher darf man den Verlauf des Manuskripts, die Abfolge der einzelnen Potenzen nicht mit der historischen Entwicklung gleichsetzen.14 „Der Fanatismus des Verwüstens ist weil er absolutes Element ist, und die Form der Natur annimmt, nach aussen unüberwindlich“. (V 314) Hegel bezeichnet diese natürliche Seite als wild, formlos usw. (auch Affekte haben hier ihren Ort, ausdrücklich wird die „Wut“ genannt). Aufschlußreich für die Argumentation Hegels und das Problem der Negativität im allgemeinen ist, daß die geschilderte natürliche Vernichtung selbst ihr

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dem Besonderen in Relation steht, nicht unverbunden über ihm schwebt: „Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Das Besondere hat sein eigenes Interesse in der Weltgeschichte; es ist etwas Endliches und muß als solches untergehen. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft […]. Aber eben im Kampf, im Untergange des Besondern resultiert das Allgemeine.“ Vgl. zur „List der Vernunft“ auch § 209 sowie den entsprechenden Zusatz der Enzyklopädie (XX 213 bzw. 8/365) und Wissenschaft der Logik (XII 166). Der Manuskriptaufbau läßt es als unwahrscheinlich erscheinen, daß Hegel zugleich eine reale Geschichte der menschlichen Sittlichkeit zu schreiben beabsichtigte. Die weltgeschichtlichen Erfahrungen werden als Kontrast zur „Idylle“ der natürlichen Sittlichkeit eingeführt. Deutlich ist, daß sich Hegel gegen die Geschichtsphilosophie der Aufklärung wendet, gegen die simple Perfektibilität. Hegel hatte schon früher gefragt, warum alle großen Reiche untergegangen sind. Die Lektüre von Montesquieu und Gibbon fließt hier sichtbar ein (vgl. auch Naturrechtsaufsatz und Verfassungsschrift). Die reale Bewegung der Geschichte ist eben nicht geradlinig, in ihr kommt es auch zu Katastrophen, Mord und Untergang. Das muß letztlich auch in eine Theorie integriert werden können. Der spezifische Ort eines Themas im Manuskript sagt m. E. nichts über die reale zeitliche Abfolge. Vgl. auch in der Erläuterung zum Zusatz zu § 408 der 1830er Enzyklopädie: Aus der notwendigen wissenschaftlichen Darstellungsart folge „jedoch nicht im mindesten, daß wir die Sittlichkeit zu etwas der Zeit nach Späterem als das Recht und die Moralität machen oder die Familie und die bürgerliche Gesellschaft für etwas dem Staate in der Wirklichkeit Vorangehendes erklären wollten. Vielmehr wissen wir sehr wohl, daß die Sittlichkeit die Grundlage des Rechtes und der Moralität ist, sowie daß die Familie und die bürgerliche Gesellschaft mit ihren wohlgeordneten Unterschieden schon das Vorhandensein des Staates voraussetzen. In der philosophischen Entwicklung des Sittlichen können wir jedoch nicht mit dem Staate beginnen, da in diesem jenes sich zu seiner konkretesten Form entfaltet, der Anfang dagegen notwendigerweise etwas Abstraktes ist.“ (10/171)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

„Ende“ in sich trägt. In Bezug auf den Fanatismus des Verwüstens sagt Hegel in einem Nebensatz etwas, das er sofort generalisiert: Er habe, „wie die Negation überhaupt, seine Negation in sich“. Zur Verdeutlichung, daß etwas seine Negation in sich trägt, bemüht Hegel das Beispiel oder Schicksal einer Wasserblase, deren triebhafte Entwicklung „so weit in die Expansion [führt], bis sie in unendliche kleine Tropfen zerplatzt, sie geht aus ihrer reinen Einheit, in ihr entgegengesetztes die absolute Formlosigkeit der absoluten Vielheit über; und wird dadurch völlig formale Form, oder absolute Besonderheit“. (V 314) Es folgt die Passage zur Wut, die zugleich über Hegels Gebrauch des Terminus „absolut“ Auskunft gibt. Der „Fortgang der Verwüstung zur absoluten Verwüstung, und dem absoluten Übergang in sein entgegengesetztes, ist die Wuth, die weil die Verwüstung ganz im Begriff ist, das reine das entgegengesetzte unendlich steigern muß, bis es sein entgegengesetztes ist, und also sich selbst vernichtet hat; auf dem Extrem, der absoluten Abstraction stehend, ist sie der absolute mittellose Trieb; der absolute Begriff in seiner völligen Unbestimmtheit, die Unruhe der Unendlichkeit, des absoluten Begriffs, die nichts als dieses ist, und in ihrem Vernichten der entgegengesetzten durch einander sich selbst vernichtet, das realseyn der absoluten Subjectivität“. (V 314) Die Wut scheint also ein extremer Ausdruck der negativen Freiheit zu sein. So kann es nach Hegel aussehen, wenn sich die Subjektivität absolut setzt. Es ist klar, daß Hegel noch wird zeigen müssen, wie aus diesem überzogenen Absolutsetzen des absoluten Begriffs schließlich doch die Vermittlung resultieren soll. Aber soweit ist es noch nicht. Zunächst gibt es keine Entlastung, Entspannung oder Versöhnung, dagegen wird die Figur der Negation sogar noch gesteigert und auf weitere Bereiche ausgedehnt. Was Hegel hier wichtig ist, wird aber schon deutlich. Der „absolute Begriff“ – was auch immer er hier darunter versteht15 – bringt Unruhe, Bewegung und, sofern er nicht eingebunden ist, sondern „auf dem Extrem, der absoluten Abstraction“ steht (also die Fixierungen festhält), Gefährdungen. Man sieht an dieser Stelle außerdem, daß Hegel den „absoluten Begriff“ bereits als „das unmittelbare Gegentheil seiner selbst“ (V 314f.) begreift, von dem er hier sagt, daß er nun reell sei – und zwar mit der Erklärung: „[W]eil das Product schlechthin keine Identität des subjectiven und objectiven ist, sondern reine Objectivität, Formlosigkeit.“ (V 315) Wenn Hegel von „Reinheit“ und fehlender „Identität“ spricht, so ist klar, daß dies nur ein Zwischenstadium sein kann. Erst und sogar „allein“ 15

Zum Wortgebrauch vgl. auch die Passage im Naturrechtsaufsatz: „Der absolute Begriff, welcher das Princip der Entgegensetzung und die Entgegensetzung selbst ist, stellt sich, der fixirt ist, in der Trennung so dar, daß er als reine Einheit sich entgegengesetzt ist als Vielheit; so daß er sowohl unter der Form der reinen Einheit, als der reinen Vielheit der absolute Begriff bleibe, also in der Form der Vielheit nicht eine Mannichfaltigkeit von verschieden bestimmten Begriffen, sondern wie unter die Einheit, so auch unter die Vielheit subsumirt sey; in vielen bestimmten Begriffen subsumirt er und ist nicht ein Vieles, sondern eines. Der absolute Begriff, als selbst eine Vielheit, ist eine Menge von Subjecten; und diesen ist er in der Form der reinen Einheit, als absolute Quantität, gegen dieses sein qualitatives Gesetztseyn entgegengesetzt. Es ist also beydes gesetzt, ein inneres Einsseyn der entgegengesetzten, das das Wesen beyder, der absolute Begriff, ist, und ein Getrenntseyn desselben unter der Form der Einheit, in welcher er Recht und Pflicht ist, und unter der Form der Vielheit, in welcher er denkendes und wollendes Subject ist.“ (IV 441)

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in der absoluten Sittlichkeit des dritten Teils wird nämlich für Hegel der Punkt erreicht sein, wo der unendliche Begriff „schlechthin Eins mit dem Wesen des Individuums, und dasselbe in seiner Form als wahre Intelligenz vorhanden“ ist. Erst dort ist „das lebendige Individuum“ schließlich „dem absoluten Begriffe gleich“ (V 324); und Hegel erklärt diese Möglichkeit mit derjenigen Bestimmung, die hier im zweiten Teil für den absoluten Begriff genannt wird, nämlich Gegenteil seiner selbst zu sein.16

6.1.6. Zielgerichtete Negation: Raub, Diebstahl (absichtlich verletzte Anerkennung) In der Potenz b wird ein weiterer Gesichtspunkt herausgearbeitet, der wesentlich mit der Anerkennungsproblematik zu tun hat. Es leuchtet ein, daß es bei der bisher behandelten Vernichtung und Verwüstung nur um Zerstörung, nicht um Aneignung fremder Güter ging. „Die Verwüstung der Natur […] kann nur den Besitz entreissen; […] die Indifferenz des Besitzes oder das Recht geht sie nichts an; sie ist nur in der Besonderheit“, d. h. uneingebunden, nicht bezogen auf ein bindendes Allgemeines. (V 315) Bei der natürlichen Verwüstung ist also nicht fremder Besitz als ein solcher Besitz oder gar Eigentum das Ziel, sondern er wird eher beiläufig „entrissen“ und in der Regel wohl dabei zerstört. Nun aber geht es um eine ganz neue Perspektive. Die jetzige Negation ist derart, daß sie die Anerkennung des Besitzes und damit die Beziehung des Besitzers auf seinen Besitz ausdrücklich verweigert, der fremde Besitz anvisiert und entwendet wird: „Die reale Aufhebung des Anerkennens […] ist Beraubung, oder insofern sie rein auf das bezogene Object geht, Diebstahl.“ (V 315) Worum es Hegel hier geht, wird daraus deutlich, wie er die mit Diebstahl oder Raub verbundenen Begleiterscheinungen, ihre Wirkungen darstellt. Er untersucht nämlich, welche Veränderungen damit einhergehen. Sein Befund lautet: „[D]as geraubte Object bleibt was es ist; aber nicht das Subject“ (der ehemalige Besitzer oder Eigentümer). (V 315) Hegel ist hier nicht kleinlich; der materielle Verlust des ehemaligen Eigentümers und die damit verbundene „Minderung seines Besitzes“ interessieren ihn gar nicht, „denn diese geht dasselbe nicht als Subject an“. (V 316) Was Hegel hingegen wirklich interessiert und was er zum Gegenstand dieser gesamten Potenz macht, ist der Umstand der damit verbundenen Verletzung des Subjekts: „[…] die Vernichtung seiner als Indifferenz durch und in diesem einzelnen Act“. (V 316) Was hiermit gemeint ist, wird aus der Struktur der Anerkennung verständlich, die Hegel bereits im ersten Teil behandelt hatte und an die er hier noch einmal erinnert. „[A]ber das sittliche ist durch seine Natur Intelligenz zu seyn, zugleich objectiv allgemein, und also im indifferenten Verhältniß mit einem andern“. (V 315) Dieses objektiv Allgemeine, welches mit der Anerkennung vorhanden ist, wird nun in den Vernichtungen attackiert dadurch, daß die mit der Anerkennung eigentlich schon erreichte Indifferenz verletzt wird. 16

Vgl. V 324f.: „Dieses völlige Gleichseyn ist allein möglich durch die Intelligenz, oder den absoluten Begriff, nach welchem das lebendige Wesen, als Gegentheil seiner selbst als Object [ist]; diß Object ist selbst absolute Lebendigkeit und absolute Identität des einen und vielen, nicht wie jede andere empirische Anschauung unter ein Verhältniß gesetzt“.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Wichtig ist Hegels Anmerkung, daß es sich bei den hier zu behandelnden Vernichtungen jeweils um die „an einem sittlichen Wesen“ handelt und jegliche Vernichtung einer Besonderheit „zugleich Vernichtung der Indifferenz“ sei. (V 315) Denn damit ist die im Vergleich zum Abschnitt a neue Stufe bezeichnet. Nicht mehr wird nur „Natur“ negiert, sondern hier geht es bereits um die Verletzung von Recht (aber noch nicht von Gesetzen): „Vernichtung der Indifferenz des Anerkennens“ ist „eine Verletzung des Rechts“. (V 315) Es handelt sich also um „Gewalt, nicht überhaupt, sondern gegen Eigenthum“. (V 316) Die „reale Vernichtung des Anerkennens“ ist dann „auch eine Trennung der Beziehung der Bestimmtheit auf das Subject“, denn, so begründet Hegel, „das Anerkennen anerkennt gerade diese Beziehung, die an sich bloß ideell ist, als eine reale“. (V 315) Das Anerkennen bewirkt eigentlich, daß „die relative Beziehung selbst indifferent, ihre Subjectivität zugleich objectiv“ wird. (V 315) Es leuchtet ein, daß im „Diebstahl“ und „Raub“ diese Beziehung absichtlich negiert wird. Stehlen und rauben im eigentlichen Sinne kann nur jemand, der um diese bestehende Beziehung weiß. Also weder ein Tier noch der verwüstende Barbar. Hegel wertet diese Negationen, die „Minderung des Eigenthums“, als „eine persönliche Verletzung“. (V 316) Daß sie „persönlich“ ist, rechtfertigt Hegel durch den Verweis auf die Potenz, die gerade behandelt wird. Man sieht hieran deutlich, wie eng gerade getroffene Aussagen mit dem formalen Status der jeweiligen Potenz verwoben sind oder sogar direkt von ihm abhängen: „Denn unmittelbar ist sie nicht persönlich, wenn nur die Abstraction der Beziehung des Subjects aufs Object verletzt wird; aber diese Abstraction als solche ist in dieser Potenz nicht gemacht, sie hat noch nicht in einem selbst allgemeinen ihre Realität und Halt, sondern ihn allein in der Besonderheit der Person; und darum ist jede Beraubung persönlich“. (V 316)

6.1.7. Vernunftgemäße, notwendige Umkehr: Bezwingung, Unterjochung Im weiteren Textverlauf ist gleichfalls spürbar, daß der Aufbau trotz der sachlich oft überzeugenden Phänomenbeschreibungen extrem konstruiert ist: Hegel ermutigt und erinnert sich geradezu selbst, daß nun eine erneute Umkehrung erfolgen „muߓ. Die Gegenwirkung gegen den Raub wird also nicht aus historischer Betrachtung oder Beobachtung faktischen Geschehens übernommen, sondern konsequent aus der spekulativen Idee hergeleitet: „[D]er Raub muß auch seine Gegenwirkung, oder die umgekehrte Subsumtion haben. Wie hier bezwungen worden ist, d. h. die geringere Gewalt unter die grössere subsumirt worden ist, so muß umgekehrt die itzt grössere als die kleinere gesetzt werden; und nach der absoluten Vernunft ist diese Umkehrung an und für sich so nothwendig, als jene Subsumtion wirklich Raub ist.“ (V 316) Hegel beschreibt, daß die Individuen „ohne Beziehung“ nicht nebeneinander sein können. (V 317) Sofern zwischen ihnen bereits ein Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft besteht, sich also eines der Individuen als die „höhere Potenz“ bereits bewiesen habe, gibt es überhaupt keinen Raub. Anderenfalls, also im Falle des wirklichen Raubs, wo also dem Beraubten die Anerkennung als Eigentümer verweigert wird, kommt ein Geschehen in Gang: Weil der Raub nämlich wesentlich „persönlich“ ist, „in das persönliche übergeht, mißt sich Person mit Person“. (V 317) Hegel spricht an dieser Stelle nur von diesem sich miteinander Messen, noch nicht ausdrücklich vom Kampf

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(wie Honneth irrtümlich unterstellt).17 Im Resultat dieser Auseinandersetzung wird der Unterliegende, „der Bezwungene“, zum „Knecht des andern“. Die „reelle“ Umkehrung gegen den Raub „ist die Unterjochung“, die „Erscheinung des Werdens“ dieses neuen „Verhältnisses“ ist „die Bezwingung“. (V 317) Hegel gibt hier gleichsam eine Gewinngarantie: „Raub ist die einzelne, nicht auf die Totalität der Persönlichkeit gehende Subsumtion, und insofern muß dasjenige was diese persönliche Verletzung zur Sache seiner ganzen Persönlichkeit macht die Oberhand behalten“. (V 317) So wie Hegel hier noch nicht vom Kampf spricht, so ist die Bezwingung auch keinesfalls absolut. Weder führt sie zum Tod (wie er in Potenz a als „absolute Bezwingung“ drohte und schließlich in Potenz c im Kampf auf Leben und Tod zum Thema wird), noch darf die Rückwirkung eine dauerhafte Unterjochung zur Folge haben. Gerade weil im Raub (trotz der persönlichen Verletzung) nicht die ganze Persönlichkeit angegriffen wird, darf auch die Rückwirkung nur „momentan“ sein und nicht die ganze Persönlichkeit vernichten. Die Ausnahmen, die Hegel ganz am Ende zulässt („Krieg“, „Noth in Ansehung des ganzen Lebens“) kann man bereits als Vorblick auf die Potenz c ansehen, die schließlich den Kampf verherrlicht.

6.1.8. Ehre und (Zwei-)Kampf In der Potenz c wird erneut ein anderer Akzent gesetzt, der sich nach Hegels Worten jedoch notwendig aus den zuvor thematisierten Negationen ergibt: „Die Indifferenz oder Totalität dieser beyden Negationen geht auf die Indifferenz der Bestimmtheiten, oder das Leben, und ganze Persönlichkeit“. (V 318) Hegel wechselt abermals die Perspektive und fragt, was durch die Verletzung einer Bestimmtheit einer Person denn eigentlich bewirkt wird. Er hatte bereits in b die Person definiert als „Indifferenz der Bestimmtheiten“ und daraus abgeleitet, daß Raub und Diebstahl „persönliche“ Verletzungen darstellen. (V 316) Nun untersucht er genauer, welcher Art die Verletzung der Person ist. Sein Resultat besteht darin, daß die Auffassung, die Verletzung negiere lediglich eine Bestimmtheit oder eine Besonderheit einer Person, eine unzulässige „Abstraction“ darstelle: „[E]ine Besonderheit der Person negirt, ist nur eine Abstraction, denn in der Person ist sie absolut in die Indifferenz aufgenommen; es wird das 17

Das ist bestimmt kein Zufall. „Kampf“ ist für Hegel erst in der Indifferenzstufe gegeben, mithin für die Form der Auseinandersetzung reserviert, wo sich je „ganze Personen“ miteinander messen. Beim Raub und seiner Rückwirkung ist genau das noch nicht der Fall. Honneth behauptet dagegen, daß es sich bereits bei der ersten Gegenwehr (also der Reaktion auf Diebstahl oder Raub) um die Handlungssequenz jenes Geschehens handle, „die Hegel ausdrücklich mit dem Begriff des ‚Kampfes‘ belegt: es entsteht ein Kampf von ‚Person‘ gegen ‚Person‘“. (Honneth 1992, 39) Daß Honneth bereits diese frühe Textstelle (Potenz b) meint, wird aus dem genannten Gegenstand ersichtlich, daß jener Kampf nämlich einerseits um den Anspruch auf Akzeptanz des Eigentumsrechts, andererseits auf ungehemmte Entfaltung der Partikularität geführt werde und mit der Bezwingung des Verbrechers ende. Natürlich ist es schwer vorstellbar, wie es sachlich ohne Kampf zu einer Bezwingung oder Unterjochung kommen könne, dennoch verwendet Hegel hier den Begriff „Kampf“ definitiv noch nicht. Er spricht nur von dem obigen Sich Messen, daß im Raub die „geringere Gewalt“ durch die „grössere Gewalt subsumiert worden“ sei und es nun folglich zu einer Umkehrung kommen müsse. „Kampf“ wird erst in der Potenz c eingeführt.

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Lebendige verletzt.“ (V 318) Da „das Lebendige“ in dieser Konstellation zugleich „ideell gesetzt“ ist, ergibt sich für Hegel: „[D]as Verletzte ist die Ehre.“ (V 318) Schon der Ausdruck „ganze Persönlichkeit“ am Beginn der Potenz c verwies auf den nun interessierenden Aspekt; Hegel ordnet der „Ehre“ die wichtige Funktion der Steigerung „zu einem Ganzen“ zu: „Durch die Ehre wird das einzelne zu einem Ganzen und persönlichen“. Da die „scheinbare Negation von einzelnen allein“ in Wirklichkeit „die Verletzung des Ganzen“ ist, „so tritt der Kampf der ganzen Person gegen die ganze Person ein“. (V 318) Es ist nicht zu übersehen, daß Hegel dem Kampf einige Sympathie angedeihen läßt. Der Kampf bringt gleichsam Wahrheit ans Licht, man kann nicht ausweichen, muß ihn bestehen: „[E]s ist die Gleichheit der Gefahr gesetzt, und zwar der freysten, weil das Ganze auf dem Spiel steht.“18 Ganz unsentimental wird auch festgehalten, wie der Kampf verlaufen und enden muß – „die Stärke entscheidet die Subsumtion, und hier wo die ganze reale Persönlichkeit das Subject ist, muß unmittelbar das Verhältniß von Herrschafft und Knechtschafft eintreten“.19 (V 318) Hegel läßt aber auch eine weitere und drastischere Möglichkeit zu. Sofern sich keine der kämpfenden Parteien als eindeutig überlegen erweist, also „die Unmöglichkeit eines solchen differenten Verhältnisses vorausgesetzt ist“, „so ist im Kampfe als der absoluten Differenz und gegenseitigen Negation die Indifferenz zu erhalten, und der Streit zu schlichten allein durch den Tod“. (V 318f.) Es versteht sich für Hegel von selbst, daß im Tod „das Bezwingen absolut ist, und ebendurch das Absolutseyn der Negation schlechthin sein Gegentheil, die Freyheit behauptet ist“.20 (V 319)

6.1.9. Verweigerter Kampf: Unterdrückung und Mord Von diesem offenen Kampf, der „schwankend“ und „die Mitte als Möglichkeit“ ist, unterscheidet Hegel ausdrücklich eine weitere Variante von Negation: die „Unterdrükkung“. (V 319) In ihrer extremen Form, „wenn sie zur absoluten Negation fortgeht“, ist die Unterdrückung „Mord“. Es ist leicht einsehbar, daß hier dem offenen Schlagabtausch im Kampfe ausgewichen wird. „Die Unterdrückung und der Mord ist nicht mit dem Verhältniß der Herrschafft, und dem Kampfe zu verwechseln; die wahrhaffte ungerechte Unterdrückung ist persönlicher Angriff und Verletzung, auf eine Weise, durch welche schlechthin aller Kampf aufgehoben wird, dem andern es unmöglich ist, sich vorzusehen, und hiedurch den Kampf zu setzen.“ (V 319) Hegels unaufgeregte Nüchternheit erweist sich beispielhaft in dem trockenen Konstatieren des Sachverhalts, daß es ungerechte Unterdrückung gibt. An dieser Stelle erlaubt er sich trotzdem eine Kritik an der Unangemessenheit der italienischen Praxis des 18 19 20

Vgl. auch § 432 und Zusatz der Enzyklopädie. In Potenz b hatte es sich laut Hegel lediglich um das „Knechtwerden“ (V 317) gehandelt. Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 448: „Diese Möglichkeit von Bestimmtheiten zu abstrahiren, ist ohne Beschränkung, oder es ist keine Bestimmtheit, welche absolut ist, denn dieß widerspräche sich unmittelbar; sondern die Freyheit selbst oder die Unendlichkeit ist zwar das negative, aber das absolute, und sein Einzelnseyn ist absolute in den Begriff aufgenommene Einzelnheit, negativ absolute Unendlichkeit, reine Freyheit; dieß negativ absolute, die reine Freyheit, ist in ihrer Erscheinung der Tod, und durch die Fähigkeit des Todes erweist sich das Subject als frey und schlechthin über allen Zwang erhaben. Er ist die absolute Bezwingung“.

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Meuchelmords: „[D]ie Italiener geben als Grund der Rechtmässigkeit des Meuchelmords die Unmittelbarkeit der Kriegserklärung durch die Beleidigung“ an, d. h. wenn jemand beleidigt, muß er mit der Sanktion rechnen, sie trifft ihn nicht aus heiterem Himmel, er kann sich vorsehen. Hegel beanstandet daran dennoch die Unverhältnismäßigkeit der Sanktion: „Aber wenn auch eine Beleidigung vorhergegangen, also Persönlichkeit und Ganzheit im Spiele ist, so ist die Beleidigung ganz ungleich der totalen Negation in Beziehung auf die Realität; die Ehre ist wohl verletzt, aber die Ehre ist vom Leben unterscheidbar“.21 (V 319) Hegel demonstriert an dem Ehrverhältnis, wie die Steigerung einer Einzelheit zu einem Ganzen vonstatten geht: „[D]ie Ehre besteht darin, daß wenn einmal Eine Bestimmtheit negirt ist, auch die Totalität der Bestimmtheiten, oder das Leben darauf gehen soll“. Das hat dann zur Folge, daß „das eigene Leben auf das Spiel gesetzt werden [muß]; als wodurch allein jene Negation der Einzelnheit zu einem Ganzen gemacht wird, was sie soll“. (V 319)

6.1.10. Erhebung zu einem Ganzen, Rache als zu erfüllendes Vermächtnis Hegel behauptet erneut, daß diese „Totalität der Negation […] unter ihren drey Formen vorgestellt werden“ muß. Diesbezüglich befindet sich eine hilfreiche Anmerkung am Rand des Manuskripts, welche die Gliederung vorwegnimmt: „3 Potenzen a) Mord b) Rache c) Zweykampf; die Mitte ist der Kampf, das Schwanken.“ (V 319) Der Mord erweist sich in dieser Hinsicht als die „rohe Totalität“, als das „unmittelbare Setzen der Realität der Negation“. (V 320) Wesentlich ist der Hinweis, daß der Mord „das Anerkennen dieses Verhältnisses, das Wissen des andern um dasselbe“ ausschließt und ihm nicht „die Gleichheit der Gefahr“ vorangeht. Als nächste Stufe folgt die „Rache“, die Hegel als „die Umkehrung nach dem Gesetz der Gleichheit“ präsentiert, wobei „diese Gleichheit, als Form, als Bewußtseyn, über der Entgegensetzung der Individuen schwebt“, es also kein „Bewußtseyn und Anerkennen derselben“ gibt. (V 320) Wie beim Mord fehlt auch hier die „Gleichheit der Gefahr“, die Hegel sehr präzis als „die werdende Negation“ beschreibt. (V 320) Auch die Rache wird nicht als zufällige oder spontane eingeführt, sondern aus dem Vernunftgesetz hergeleitet. „Die Rache ist das absolute Verhältniß gegen den Mord, und den einzelnen Mörder; sie ist nichts anders als die Umkehrung dessen, was der Mörder gesetzt hat; dieses läßt sich auf keine andere Weise aufheben, und vernünftig machen […]; denn es ist eine Wirklichkeit gesetzt, die als solche ihr Recht haben muß, daß nemlich nach der Vernunft das Gegentheil des aufgestellten aufgestellt werde“. (V 320) Hegel unterscheidet, auf welche Weise sich die Rache realisiert. Wenn der Getötete keine Angehörigen hat, die ihn als verlorenes „einzelnes Glied“ ihrer Familie (als dem immer „noch lebendigen Leib“) rächen können und müssen, so kann „nur sein Geist rächend emporsteigen“ und „dieser den Mörder so lange herumjagen, bis auf welche Weise es sey, dieser sich eine Realität gegenüberstelle, und selbst dem Geiste des erschlagenen einen 21

Hegel wirkt hier wie ein Kulturrelativist, er erhebt keinen Protest gegen die italienische Praxis. Jedoch formuliert er einen nüchternen Einspruch und bezweifelt die Angemessenheit des Meuchelmords.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Körper verschaffe, der, weil er nicht mehr dieselbe äussere Erscheinung des Erschlagenen ist, als ein allgemeines überhaupt erscheint; und der Geist als Schicksal sich seine Rache verschafft“.22 (V 320) Wurde der Mord als „rohe Totalität“ bezeichnet, die Rache als „formale Indifferenz“ und „absolutes Verhältniß gegen den Mord“ eingeführt (V 320), so folgt in der dritten Stufe noch die „Totalität dieses Verhältnisses“. (V 321) Erst sie „ist das vernünftige, und macht die Mitte hervortreten“. (V 321) Denn bei beiden vorhergegangenen Stufen fehlte die „Gleichheit der Gefahr“, wobei Gefahr als werdende Negation verstanden wurde, bzw. das Wissen um dieselbe. Nun tritt „die Indifferenz der Gerechtigkeit […] in die Individuen als gleiches Bewußtseyn der werdenden Negation“. Als Ergebnis kann Hegel festhalten: „[U]nd dadurch wird die Realität dieses Werdens selbst gleich.“ (V 321) Unschwer ist zu erkennen, daß nun der „Kampf“ thematisiert wird. Aber Hegel schweift zunächst ab, analysiert weitere Momente der Rache, um Mißverständnisse auszuräumen und den Kampf von ihr abzugrenzen. Er weist darauf hin, daß man bei der Rache vor allem sicherstellen müsse, daß sie erfolgreich verläuft und tatsächlich auch nur denjenigen trifft, der sie verdient hat. Dies erlaube nicht nur, sondern erfordere geradezu das Vermeiden der „Gleichheit der Gefahr“, mit „Ungerechtigkeit“ habe dies alles nichts zu tun. „Wenn von Rache die Rede ist, so muß auch schlechthin nur derjenige, der der Mörder war, auf eine sichere Weise wieder subsumirt werden; und die rächenden also die Gleichheit der Stärke vermeiden, und entweder durch die Übermacht gegen die Gewalt, oder durch List, d. h. durch Umgehung der Stärke überhaupt die Rache ausüben.“ (V 321)

6.1.11. Offener Kampf als reale Mitte und anerkanntes Entscheidungsritual (Krieg und möglicher Friedensschluß) Nun aber geht es um die „Totalität des Verhältnisses“, die „Totalität der Rache“, was in diesem Zusammenhang bedeuten soll, daß „nemlich unmittelbar die Einzelnheit“ ausgeschlossen ist. (V 321) „[R]ächender“ und „Angreifender“ werden in dieser Perspektive ausschließlich je als „Glied einer Familie“ betrachtet, wodurch sich plötzlich sogar die vorherige Bewertung des Mordes ändert: „[I]ndem aber diß ist, so ist der Mord nicht 22

Es ist bekannt, daß Hegel bereits als Schüler in Stuttgart eine komplette Shakespeare-Ausgabe von einem seiner Lehrer als Geschenk erhielt. Vgl. auch Der Geist des Christentums und sein Schicksal, 1/340: „[W]as geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden, die Strafe folgt der Tat; ihr Zusammenhang ist unzerreißbar; gibt es keinen Weg, eine Handlung ungeschehen zu machen, ist ihre Wirklichkeit ewig, so ist keine Versöhnung möglich, auch nicht durch Ausstehen der Strafe“. Ebenda noch deutlicher: „Die Täuschung des Verbrechens, das fremdes Leben zu zerstören und sich damit erweitert glaubt, löst sich dahin auf, daß der abgeschiedene Geist des verletzten Lebens gegen es auftritt, wie Banquo, der als Freund zu Macbeth kam, in seinem Morde nicht vertilgt war, sondern im Augenblicke darauf doch seinen Stuhl einnahm; nicht als Genosse des Mahls, sondern als böser Geist. Der Verbrecher meinte es mit fremdem Leben zu tun zu haben; aber er hat nur sein eigenes Leben zerstört; denn Leben ist vom Leben nicht verschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist; und in seinem Übermut hat er zwar zerstört, aber nur die Freundlichkeit des Lebens: er hat es in einen Feind verkehrt.“ (1/342f.) Vgl. zu Shakespeare als inspirierender Quelle für Hegel auch Harris 1979, 47.

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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eine absolute Negation; der Geist hat nur ein Glied des Leibes verlohren, und die Rache kann ebenso wenig absolute Negation seyn.“ (V 321) (An einer späteren Stelle, V 322, wird Hegel noch deutlicher, indem er präzisiert: „nicht die Ausrottung“.) Hegels Konstruktionsgang erfordert: „In der Totalität der Rache muß die Form als absolutes Bewußtseyn gesetzt seyn“. Damit sind jegliche Fremdheit und „Abstraction“ verschwunden, statt dessen ist „[h]iedurch […] unmittelbar zugleich die Mitte gesetzt“, nämlich der „Kampf“. (V 321) Dieser wird definiert als „Aufhebung der Übermacht und Bewußtlosigkeit des einen, und die Gleichheit der Gefahr für beyde“. (V 321) Letztere Bestimmung zeigt deutlich den Unterschied zu Mord und Rache, aber auch die beiden ersteren beziehen sich auf sie; denn der Ermordete hatte gar kein Wissen von dem, was ihm bevorstand, und da List u. ä. entfallen, ist auch die Übermacht der einen Seite nicht mehr gesichert. Der Ausgang des Kampfes ist also „zweifelhafft gesetzt“ und nicht von vornherein „gewiߓ (vgl. V 318). Hegel macht den Kampf, da „die Differenz für das Verhältniß […] bey völlig äusserer Gleichheit im innern“ liegt, sogar zu einem „Gottesurtheil“. (V 321) Anschließend führt Hegel den zuvor schon angedeuteten Gedanken fort, daß der Mord nicht mehr als „absolute Negation“ betrachtet werden darf, sofern man berücksichtigt, daß durch ihn „nur ein Glied des Leibes“ der Familie verlorengegangen ist. (V 321) Unmerklich führt Hegel nun auf eine weitere Ebene: „Aber mit der Grösse des noch lebenden Körpers mindert sich der Verlust des verlohrenen Gliedes, und damit auch das Recht“ der beleidigten Seite, die Gegenseite zu subsumieren. (V 322) Es kommt vielmehr zu einer Angleichung des Rechts: „[D]as Recht oder die Indifferenz wird dadurch, daß die Besonderheit der Handlung des Beleidigten in die Indifferenz des Ganzen, zur Sache des Ganzen gemacht wird, zur Ehre, und hiemit auf beyden Seiten gleich“. (V 322) Kurz danach wird deutlich, worauf Hegel hinaus will: „Diese Gleichheit, vor welcher die Seite des Rechts, und des nothwendigen Subsumirens, verschwindet, ist der Krieg“. (V 322) Das Subsumieren ist jetzt nicht mehr notwendig, vielmehr ist „das subsumirtwerden ganz zweifelhafft“. Nun entscheidet „das höhere, nicht die Kleinigkeit der ersten Beleidigung“; den Ausschlag gibt „die grössere oder geringere Stärke der Totalität, welche durch den Kampf sich in die Gleichheit, und in die Prüfung derselben“ einläßt. Diese Entscheidung, sofern die Totalitäten sich als verschieden stark erweisen, führt in ihrem Resultat zu dem „Verhältniß der Herrschafft“. (V 322) Hegel läßt aber ebenso die Möglichkeit zu, daß es „zu keiner absoluten Entscheidung, welche die Ganzheit der totalen Individuen beträffe“, kommt. (V 322) Dann, wenn also die Kräfteverhältnisse nicht so deutlich sind oder der Kampf nicht mit aller Konsequenz geführt wird, nimmt der „Zorn“ ab, und es kann „ein Frieden gemacht“ werden.23 (V 323) Im letzten Satz liefert Hegel schließlich das Resümee: „Die Vernünftigkeit dieser Totalität ist also an den Gegensätzen die Gleichheit der Indifferenz; die Mitte das Einsseyn derselben“. (V 323)

23

Vgl. schon in Hegels Der Geist des Christentums und sein Schicksal: „Gegen die feindselige Macht sicherte sich Noah dadurch, daß er sie und sich einem Mächtigeren unterwarf, Nimrod, daß er selbst sie bändigte; beide schlossen mit dem Feinde einen Frieden der Not und verewigten so die Feindschaft; keiner versöhnte sich mit ihm“. (1/276)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

6.2. Zur Bestimmung des systematischen Orts des zweiten Manuskriptteils Nicht nur die systematische Stellung des zweiten Teils wurde in der Sekundärliteratur extrem unterschiedlich bewertet, Streit gab es selbst darüber, was in diesem Teil überhaupt behandelt wird. Lange Zeit fand dieses Kapitel fast gar keine Beachtung. In der Regel wurde es als ein merkwürdiges Zwischenstück gekennzeichnet, das sich nicht ins Ganze einfüge.24 Noch Riedel zum Beispiel behauptete einfach die Unverbundenheit des zweiten Teils mit dem übrigen Text und bestritt eine Übergangsfunktion desselben zur absoluten Sittlichkeit.25 Diese These ist m. E. nicht korrekt.26 Insbesondere Ilting, den Riedel sogar zitiert und also zur Kenntnis genommen haben muß, hat m. E. den Stellenwert des zweiten Teils innerhalb des Systementwurfs überzeugend zur Geltung gebracht. Dabei ist es ihm gelungen, die Verschmelzung von antiken und neuzeitlichen Motiven des Philosophierens nachzuweisen und diese Neufassung als folgenreich auszuweisen. Im zweiten Teil nämlich werde Hegels Umbildung der antiken Metaphysik offenkundig, dies geschehe im Wesentlichen über die Einbeziehung spinozistischer und hobbesscher Gedanken. Exemplarisch könne man das an Hegels Fassung des Verhältnisses von Macht und Wahrheit verfolgen. Ilting hat Hegels Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles bezüglich der Bestimmung von „Natur“ und „Macht“ analysiert und neben den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten festgestellt, daß Hegel schließlich so weit gehe, „‚die Wahrheit, die in der Macht liegt‘, zu feiern, wo Platon und Aristoteles von der Macht der Wahrheit gesprochen haben“. Hegel setze gegen die metaphysische Lehre, es gebe eine Gerechtigkeit, den Gedanken einer höheren Gerechtigkeit der Natur 24 25

26

Vgl. z. B. Haering 1938. Riedel 1982, 96f.: „Dieser Teil des Systems steht zwischen dem 1. der ‚natürlichen Sittlichkeit‘ (Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältnis) und dem 3. der (absoluten) Sittlichkeit, ohne sich freilich mit dem einen oder anderen zu berühren. Sofern die Sittlichkeit einfach als das ‚Positive‘ gesetzt ist, muß die Möglichkeit eines Übergangs im vorhinein abgewiesen werden.“ Nach Riedel ändere sich das schließlich in der sog. Realphilosophie I: „Erst jetzt beginnt das ‚Negative‘, das im Systementwurf eine lediglich beziehungslose Stellung einnahm […], diejenige Funktion zu erhalten, die fortan eine der wichtigsten Grundlagen des Hegelschen Rechtsdenkens bilden wird: die der Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit.“ Zur Kritik der Riedelschen These vgl. auch Honneth 1992, 42 und Wildt 1982, 312. Dennoch ist, könnte man sagen, mit dem zweiten Teil eine Veränderung in Hegels eigener Darstellung eingetreten. Die konzentrierte, lückenlose Abfolge von Allgemeinheitsstufen wird nun verlassen, metaphysische Setzungen werden häufiger. Hegel hat dabei jedoch ein festes Ziel vor Augen und verfolgt dieses auch konsequent. Er formuliert die Notwendigkeit der Transzendenz des empirisch Gegenständlichen, um zur absoluten Sittlichkeit zu kommen, enttarnt die Entgegensetzungen der Reflexionsphilosophie und zeigt die aus der Verabsolutierung der Endlichkeit resultierenden Konflikte plastisch in ihrer ganzen zerstörerischen Realität, so daß ein Versöhnendes, Übergreifendes (die absolute Sittlichkeit) geradezu notwendig wird. Vgl. Honneth 1992, 42: Ein bloß negativer Stellenwert der dargestellten Zerstörungsakte des zweiten Teils sei ausgeschlossen. „Vielmehr scheinen die verschiedenen Konflikte zusammengenommen gerade den Prozeß auszumachen, der den Übergang von der natürlichen zur absoluten Sittlichkeit dadurch vorbereitet, daß er die Individuen mit den dafür notwendigen Eigenschaften und Einsichten ausstattet.“

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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und der Wahrheit, die sich in der Macht enthülle.27 Da Hegel die Macht als Natur begreife, könne er die Manifestationen der Natur ‚Wahrheit‘ nennen und, insofern die Natur sich als Macht manifestiert, sie schließlich mit der ‚Gerechtigkeit‘ identifizieren. „Mag er auch eine Grundlehre der griechischen Metaphysik dabei umkehren, dieser Zusammenhang zeigt, daß die Grundlage dieses Gedankens eine Metaphysik der Natur als der Wirklichkeit des Wirklichen ist.“28 Ilting zeigt die engen philosophischen Verbindungen zu Machiavelli, Hobbes und Spinoza und wertet Hegels Gedanken über das Verhältnis von Macht und Wahrheit als „eine Weiterbildung der Naturrechtslehre Spinozas“.29 Diese weitreichenden Voraussetzungen bringe Hegel in seinen Systementwurf ein, wenn er in seinem Manuskript zwischen natürliche und absolute Sittlichkeit die Darlegungen über „das Negative oder die Freyheit oder das Verbrechen“ einfügt. Die aus der neuzeitlichen Naturrechtslehre stammenden Gedanken werden damit Teil eines nach dem Vorbild der Aristotelischen Politik konzipierten Systems und erhalten eine neue Bedeutung.30 Sie zeigt 27

28 29

30

Ernst Cassirer hat diese Hegelschen Worte (die Wahrheit liege in der Macht) später als „Programm des Faschismus“ bezeichnet. In: Vom Mythus des Staates, Zürich 1949, 347. Allerdings gibt Cassirer zu, daß Hegel „die modernen Auffassungen des ‚totalitären Staates‘ verworfen und verabscheut [hätte]“. (359) Zwischen Hegels Vergöttlichung des Staates und der neuen Art der Vergöttlichung gebe es einen „klaren und unmißverständlichen Unterschied“. (360) Vgl. dazu Rosenkranz 1844, 201: „Nie ist von Hegel die Wirklichkeit des Vernünftigen als eine schaale Zufriedenheit mit allem Bestehenden, wie es eben ist, genommen worden, sondern das Seinsollen der Vernunft gegen das Nichtseinsollen der Unvernunft im Existirenden hat er ebenso stark hervorgehoben“. Vgl. auch Marcuse, der sich schon 1941 zum „faschistischen Hegelianismus“ positionierte und den Nationalsozialismus „als Gegner Hegels“ bezeichnete. Im 1954 verfaßten Nachwort zur Neuedition von Vernunft und Revolution nimmt er das Thema noch einmal auf. Übrigens bezieht sich Cassirer in seinem Buch auch auf Hegels System der Sittlichkeit selbst, worin dieser zuerst seine scharfe Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit einführe. (Vgl. Cassirer 1949, 344) Ilting 1974, 776. „Erst Spinoza hat der Naturrechtslehre des Hobbes ein metaphysisches Fundament gegeben, indem er Sein als Tätigkeit und ihre Einheit als Macht bestimmte, die jeweils ein beschränkter Ausdruck der unendlichen Macht der Natur oder Gottes ist. [… er hat], ebenso wie Aristoteles, nicht die Vorhandenheit der Dinge, sondern Tätigkeit zur Grundbestimmung des Wirklichen gemacht.“ (Ilting 1974, 777) Vgl. hierzu ausführlich Ilting. Auch Riedel hat selbstverständlich diese Quellen gekannt. Daß er den zweiten Teil so eigenartig abwertet, hindert ihn nicht an hervorragenden Analysen. Er sieht die Hegelsche Verbindung von Aristoteles und Spinoza (übrigens in Anlehnung an Ilting) schon in dessen Konstruktion der „sittlichen Natur“: „Was Spinoza allgemein vom Wesen des Endlichen gelehrt hatte, daß es das Negative sei, welches für sich nicht zu bestehen vermag, wird mit Aristoteles’ relativ spezieller, d. h. politischer These, daß der einzelne abgesondert nichts Selbständiges, sondern ‚von Natur‘ auf die Polis angewiesen ist, gleichsetzt. […] Wichtig ist, daß Hegels Rückgriff auf Spinoza nicht dessen von Aristoteles erheblich unterschiedenes Natur- und Staatsrecht, sondern nur jene Lehren seiner Metaphysik berücksichtigt, die sich mit Aristoteles’ Politik und Platos Politeia einigermaßen parallelisieren lassen. Ja, man kann sagen, daß sich Hegel im Zusammenhang der Naturrechtskritik der spinozistischen Metaphysik vorzüglich deshalb bedient, um die Konstruktion der ‚absoluten Sittlichkeit‘, deren Bau-Elemente er der klassischen Politik entlehnt, reiner herausarbeiten zu können.“ (Riedel 1982, 91)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

sich vor allem in Hegels Beurteilung der Funktion des Kampfes und des Krieges, worin nämlich die je größere Stärke der Totalität sich durchsetze und „das höhere“ (V 322) entscheide: Es kommt ans Licht, was vorher nur „unkenntlich und unbemerkt im Ungeschiedenen enthalten war“, und für die Beteiligten wird derart das, „was vorher als Form (‚Idee‘) nur dem außenstehenden Betrachter kenntlich war“, selbst zu einem Wirklichen.31 Ilting hat es somit unter Einbeziehung der neuen Quellen vermocht, den Übergang der Teile untereinander schlüssig zu erklären und hat damit ein neues Licht auf die spezifischen Leistungen dieses Manuskriptteils geworfen: Was der zweite Teil „für die Konstruktion des Übergangs von der natürlichen Sittlichkeit der Familie zur absoluten Sittlichkeit der politischen Gemeinschaft leisten soll, ist demnach der Aufweis, wie die ideelle Form des Ganzen zum realen Wesen für die Individuen werden kann“, und genau diese Aufgabe ist es, die Hegel am Schluß des ersten Teils seines Manuskripts mit deutlichem Hinweis auf Aristoteles erläutert.32 Dort heißt es, nachdem die Familie als eine Indifferenzstufe gekennzeichnet wurde: „Weil aber in der Familie als der höchsten Totalität, deren die Natur fähig ist, eben die absolute Identität ein inneres bleibt, nicht in der absoluten Form selbst gesetzt ist, so ist auch die Reproduction der Totalität eine Erscheinung, die der Kinder“. (V 309) Hegel vergleicht diese Totalität mit der „wahrhafften Totalität“, wo „die Form schlechthin eins mit dem Wesen, also ihr Seyn nicht die auseinander in die Vereinzelung der Momente gezogene Form“ ist. Diese letztere Bestimmung der Vereinzelung der Momente ist es nun, die bisher immer noch die beherrschende ist, und die aufzuheben eines der Ziele des Manuskripts darstellt. Vorerst jedoch „ist das beharrliche ein anderes, als das seyende; oder die Realität übergibt ihre Beharrlichkeit an ein anderes, welches ebenso selbst wieder nur dadurch dauert, daß es wird, und sein Seyn, welches nicht in ihm bleiben kan, an ein anderes überträgt“. (V 309, Hervorhebung von mir)33 Für Hegel ist die bisher in der Familie und dem Kind erreichte Stufe aber mit einem entscheidenden Mangel behaftet: „[D]ie Form oder die Unendlichkeit ist also die empirische, negative des andersseyn, welche eine Bestimmtheit nur dadurch aufhebt, daß es eine andere setzt, und eben nur positiv immer in einem andern ist.“ (V 309, Hervorhebungen von mir) Das aber, die Vereinzelung und Trennung, genügt Hegel nicht; für das empirische Bewußtsein soll und wird, wie es im dritten Teil heißt, die „Ansicht der Philosophie von der Welt und der Nothwendigkeit, nach welcher alle Dinge in Gott sind, und keine Einzelnheit ist, […] vollkommen realisirt“ sein. (V 325) Dorthin zu gelangen bedarf es noch eines langen Weges. Das sagt Hegel nicht, doch beginnt genau an dieser Stelle der zweite Teil. Daß der dritte Teil also gänzlich übergangslos an den ersten Teil anschließe, wie Riedel behauptet hatte, kann durch die Textbasis widerlegt werden.34 31 32 33

34

Ilting 1974, 778f. Ilting 1974, 780. Ilting hat dies als ein indirektes Zitat nachgewiesen. Schon Aristoteles habe in Weiterbildung platonischer Gedanken es als ein natürliches Streben alles Lebendigen bezeichnet, ihm Gleichartiges zurückzulassen, da es nur so am Ewigen und Göttlichen teilhaben kann. (Ilting 1974, 780) Als Belegstellen werden angeführt für Platon: Symp. 207 c 8–208 b 6; Polit. 294 b 2–5; für Aristoteles: Pol. A 2, 1252 a 29–30; De anim. B 4, 415 a 26–b 8. Riedels scharfe These trifft m. E. nicht und verkennt den Argumentationsaufbau: „Sofern die Sittlichkeit einfach als das ‚Positive‘ gesetzt ist, muß die Möglichkeit eines Übergangs im vornhin-

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Wie der gesuchte Übergang aber genau erfolgt, ob er wirklich gelingt, ist freilich noch nicht geklärt. Axel Honneth hat ihn in seiner anregenden Studie nachzubilden versucht: Die Konstruktion des Übergangs sei „von der Überzeugung geleitet, daß erst durch die Zerstörung der rechtlichen Anerkennungsformen das Moment an den intersubjektiven Beziehungen zu Bewußtsein gelangt, welches einer sittlichen Gemeinschaft als Fundament zu dienen vermag; denn der Verbrecher macht dadurch, daß er die Personen zunächst in ihrem Recht und dann in ihrer Ehre verletzt, die Abhängigkeit der besonderen Identität jedes einzelnen von der Gemeinschaft zum Gegenstand eines allgemeinen Wissens“. 35 Zwar bricht im zweiten Teil das organische Wachstum der Sittlichkeit ab,36 doch lassen die die natürliche Sittlichkeit zerbrechenden Konflikte in den Subjekten etwas Neues entstehen, nämlich die Bereitschaft, „sich wechselseitig als zugleich aufeinander angewiesene und doch auch vollständig individuierte Personen anzuerkennen“.37 In der Gruppierung der von Hegel thematisierten Phänomene ist deutlich eine beabsichtigte Reihenfolge erkennbar. Honneth hat einen Vorschlag unterbreitet, der die Logik der Darstellung zu entschlüsseln verspricht: „[D]ie Reihenfolge, in der er [Hegel, d. A.] die einzelnen Typen eines destruktiven Verhaltens aufführt, ergibt einen Sinn, wenn als ihr Bezugspunkt die Rückführung des Verbrechens auf unvollständige Anerkennung hinzugedacht wird.“38 Vergegenwärtigt man sich den oben rekonstruierten Textverlauf in dieser Weise, so lassen sich in der Tat drei Stufen unterscheiden: Der Text beginnt mit einer ziellosen Destruktion (Verwüstung), die destruktive Handlung richtet sich sodann (im Raub) auf ein konkretes Objekt und schließlich wird (im Kampf um Ehre) darum gerungen, den Gegner von der eigenen Anerkennungswürdigkeit zu überzeugen. Man kann also sagen, daß sich im Fortgang der geschilderten Stufen sozialer Konflikte „die Identitätsansprüche der beteiligten Subjekte schrittweise erweitern“.39 Offenbar sind die

35 36

37 38 39

ein abgewiesen werden.“ (Riedel 1982, 98) Hegels Text läßt eine derartige Interpretation kaum zu. Es ist sicher richtig, daß Hegel in der „Einleitung“ die „absolute Sittlichkeit“ als das Positive setzt. Genauso gilt aber, daß diese rekonstruiert werden soll. Dazu bedarf es ihrer nachvollzogenen Genese, die das System der Sittlichkeit zu geben beansprucht. Vorbehalte gegenüber dem Hegelschen Text mögen berechtigt sein, vielleicht muß man sogar sagen, daß die „absolute Sittlichkeit“ einfach vorausgesetzt oder eine bloße Denkfigur bleibt und nicht wirklich überzeugend hergeleitet wird. In der Tat gelingt es Hegel ja nicht zu zeigen, wie sich für das einzelne empirische Bewußtsein die behauptete Einheit herstellt. Das berechtigt jedoch keineswegs zu dem Schluß, der zweite Teil sei ein isolierter Fremdkörper. Interessanterweise relativiert Riedel seine Aussage selbst, indem er zugesteht, daß jener Übergang wenigstens für die „Freien“ möglich sei (Riedel 1982, 98). Honneth 1992, 43. Ilting 1974, 775: „Während Hegel unter dem Titel ‚natürliche Sittlichkeit‘ die organische Entfaltung der Sittlichkeit aus dem ursprünglichen Bedürfnis aufzeigt und sich dabei in vollkommener Übereinstimmung mit Aristoteles befindet, wird im zweiten Teil gleichsam dieses natürliche Wachstum unterbrochen.“ Daß sich Hegel jedoch trotz der auch von mir betonten Nähe nicht in gänzlicher Übereinstimmung mit Aristoteles befindet, sollte an seinem (ebenso bereits im ersten Teil) modifizierten Arbeitsbegriff deutlich geworden sein. Auch Ilting konstatiert die Differenzen der beiden Philosophen. Honneth 1992, 43. Honneth 1992, 38. Honneth 1992, 42.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Negativerfahrungen also notwendig. Hegels „natürliche Sittlichkeit“, die nicht mit einem vorgesellschaftlichen, ursprünglichen Naturzustand zu verwechseln ist, muß laut Honneth zunächst negiert werden, um sodann mittels einer weiteren Negation zu einer „reiferen“ Stufe von Sittlichkeit transformiert zu werden. Das „Werden der Sittlichkeit“ (IV 469) erweist sich folglich als ein Prozeß von sich wiederholenden Negationen. Der Entwicklungsgang wird wesentlich durch die bereits in der „natürlichen Sittlichkeit“ angelegten Differenzen hervorgerufen. Wenngleich Hegel wenig über die Motive der einzelnen Konflikte sagt, treten letztere doch keinesfalls zufällig auf.40 Ihre Bewältigung stelle, so Honneth, insgesamt eine Art Bildungsvorgang mit anschließender freier Integration der Individuen in einen sittlichen Zusammenhang dar. In dieser von Honneth gewählten und faszinierenden Perspektive erhalten die verschiedenen Formen von Negativität, Verletzungen und Gewalt also insgesamt eine Funktion für die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens. Dieser Sachverhalt, denke ich, steht tatsächlich im Mittelpunkt des zweiten Hauptteils des Systems der Sittlichkeit. Es ist eine charakteristische Besonderheit dieses Manuskriptteils, daß Hegel das Faktum von Aggression, Kämpfen usw. nicht nur nicht ausblendet, was lediglich für eine realistische Weltsicht spräche, sondern daß er diesen zusätzlich sogar eine spezifische Funktion für die Herausbildung des sittlichen Zusammenhangs zwischen den Menschen zuschreibt. Während dieser Umstand einige Interpreten irritierte und zu einer Abwertung des zweiten Teils bewog (der bloß ein Fremdkörper sei), soll hier im Gegenteil also die These vertreten werden, daß Hegel die im zweiten Teil beschriebenen Übelerfahrungen methodisch benötigt und sich somit das Zwischenkapitel als konstitutiv für die Herausbildung der absoluten Sittlichkeit erweist.41 Es ist m. E. unbestreitbar, daß dem zweiten Teil eine zentrale Übergangsfunktion zur „absoluten Sittlichkeit“ zukommt.42 Allerdings habe ich den Eindruck, daß Honneth aus Hegels Manuskript mehr herausliest, als in ihm selbst enthalten ist. Mir scheint das eine sehr produktive Lesart des Hegelschen Manuskripts zu sein, die zeigt, was unter anderem daraus zu machen wäre (und was Hegel später teils selbst einlöst). Für das Hegelsche Manuskript selbst aber 40

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Honneths Rekonstruktion der Motive scheint zu einseitig die moralischen Aspekte zu betonen. Vgl. Honneth 1992, 37. Ohnehin dürfte es kein Zufall sein, daß Hegel diesen zweiten Manuskriptteil (zusätzlich zur Nennung des Negativen im 1. Teil) schrieb. Er hatte für ihn definitiv eine Funktion. Ob er all das erfüllte, was hier vorgeschlagen wird, ist eine andere Frage. Vgl. Harris 1983, 130: „The Potenz of the negative […] shows us the forms of natural justice and their limits, and the means by which a political constitution can be established. For the undecided battle […] with which it ends, can end without decision in a peace of mutual recognition and alliance. Hegel is concerned only with the logical development of each Potenz to a totality. As such a totality each Potenz is an eternally necessary moment in the order of things.“ Vgl. auch Siep 1979, 163. Im zweiten Teil komme es zur Verabsolutierung der unendlichen, von keiner natürlichen oder positiven Beschränkung gebundenen Einzelheit (nachdem im ersten Teil das Individuum bis zur freien Person gebildet war, aber in der Familie eingebunden blieb): „Erst die Vereinigung der natürlichen Sittlichkeit mit der verabsolutierten subjektiven Freiheit ist die Sittlichkeit des Volkes. Obgleich Hegel also, wie im Naturrechtsaufsatz, die leere Freiheit des Subjekts als für sich ‚unsittlich‘, ja als ‚Verbrechen‘ bezeichnet, versucht er schon im System der Sittlichkeit die substantielle Sittlichkeit des Volkes als Erfüllung des ‚modernen‘ Prinzips der Subjektivität nachzuweisen.“

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trifft sie m. E. nicht zu. Gegen die vorgeschlagene Interpretation sprechen mehrere Anmerkungen Hegels und insbesondere seine Darstellung im dritten Manuskriptteil. Honneth hat freilich von sich aus zur Vorsicht gemahnt und angemerkt, daß die von ihm herausgelesene positive sozialisierende Funktion des Verbrechens nur in Umrissen im System der Sittlichkeit enthalten sei und dort noch gar nicht dargestellt werde.43 Es ist offensichtlich, daß die (im zweiten Teil dargestellten) zu bewältigenden Konflikte bei den Beteiligten Spuren hinterlassen. Indem diese, wie sich vor allem am Kampf um Ehre gezeigt hatte, als Kampf um Anerkennung ausgetragen werden, entsteht bei den Involvierten ein Bewußtsein ihrer Individualität, zugleich ihrer Interdependenz von den jeweils anderen Individuen. Ilting ist der Auffassung, daß insbesondere hier „das Neue“ des Hegelschen Entwurfs studiert werden könne. Es liege „in dem Gedanken, daß durch den Kampf nicht nur überhaupt etwas ‚Wahres‘ herausgebracht wird, sondern im Verhältnis der Kämpfenden und für diese Wahrheit und Wirklichkeit hervorgeht“.44 Prozeßcharakter und Lerneffekt sind hier offensichtlich. Hegel betrachtet den Kampf aber „nicht nur als ein Bewegungsmoment in der Realisierung des Ideellen, sondern zugleich als ein Ideell-Werden des Realen. Denn im Kampf setzen die Kämpfenden ihr Leben aufs Spiel für etwas Ideelles und beweisen damit durch die Tat, daß ihnen dieses Ideelle für wesentlicher gilt als die Realität ihres eigenen Lebens“.45 Damit ist das Ideelle zur eigentlichen Realität ihres Lebens geworden. Beim Kampf um die Ehre wird besonders deutlich, daß die Streitenden wesentlich auf intersubjektive Anerkennung zielen. Weil im Kampf aber die Anerkennung gesucht wird, handelt es sich eigentlich immer schon um ein soziales Geschehen und wohl auch um mehr als die bloße Selbsterhaltung. Honneth hat diese Anerkennungsproblematik völlig zutreffend analysiert und weitergeführt. Fraglich aber ist, ob seine konflikttheoretische Lesart nicht etwas zu weit geht. Laut Honneth stellt der Konflikt nämlich „eine Art von Mechanismus der sozialen Vergemeinschaftung dar, der die Subjekte sich wechselseitig so in dem jeweils Anderen zu erkennen zwingt, daß sich am Ende ihr individuelles Totalitätsbewußtsein mit dem aller anderen zu einem ‚allgemeinen‘ Bewußtsein verschränkt hat“.46 Was immer das „am Ende“ auch heißen mag, für Hegels System der Sittlichkeit trifft dieser Befund sicher nicht zu. Hegel ist in dieser Hinsicht skeptischer oder vorsichtiger. Auch für ihn haben die Konflikte eine wesentliche Funktion, sie sind ein bewegendes Moment; doch vertraut Hegel, wie die Ausführungen im dritten Teil zeigen, nicht auf die innerhalb der Konfliktaustragung entstehenden Sozialisierungseffekte. Gibt es eine andere als die von Honneth vorgeschlagene Interpretation, die geeignet wäre, die Logik der Darstellung, die Reihenfolge der verschiedenen Typen destruktiven Verhaltens zu entschlüsseln? Ich denke, ja. In gewisser Weise muß man nur Hegels eigener Systematik folgen. Er gibt in seinem Text mehrfach Hinweise, die exakt diesen Verlauf voraussagen. Bei allen Schwierigkeiten seiner Methode ist Hegel hier ziemlich konsequent. Im ersten Manuskriptteil gab es zwei wichtige Fingerzeige auf „das Negative dieser Potenz“. Das bezog sich einerseits auf „das negative“ der ersten (oder reel43 44 45 46

Vgl. hierzu auch Weckwerth 2000, 48. Ilting 1974, 779. Ilting 1974, 779. Honneth 1992, 50.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

len) Hauptpotenz, andererseits „das Negative“ der zweiten (oder ideellen) Hauptpotenz. (V 295 und 298) Im zweiten Manuskriptteil erfolgt in den ersten beiden Potenzen a und b – jedenfalls auch – eine Art Ausführung dieser Vorankündigung. Zunächst zur Potenz a. Bei den hier thematisierten Negationen geht es vorerst jeweils nur um die Verletzung von bestimmten Aspekten der natürlichen Sittlichkeit. Wenn die Produkte der Arbeit zerstört, wenn Besitz oder Eigentum verwüstet oder entwendet werden, wenn Not das pure Überleben gefährdet oder das natürliche Leben gar gewaltsam beendet wird, so sind das alles unschwer zu erkennende Negationen dessen, was im ersten Manuskriptteil, genauer in seiner ersten Hauptpotenz, behandelt wurde. Es entspricht ziemlich präzis dem, was Hegel dort im allerletzten Absatz angekündigt hatte: „Das negative dieser Potenz, ist Noth, der natürliche Tod, die Gewalt und Verwüstung der Natur, auch der Menschen gegeneinander oder Verhältniß zur organischen Natur; aber ein natürliches Verhältniß.“ (V 295) Nach dem Semikolon ist exakt die Einschränkung benannt, unter der das Negative in der Potenz a des zweiten Hauptteils behandelt wird. Es handelt sich – wie in dieser Vorankündigung – immer noch um eine „natürliche“ Verletzung der natürlichen Belange. Dazu paßt, daß Hegel hier die Barbaren auftreten läßt; sie sind in seiner Perspektive Menschen auf der Naturstufe, treten verwüstend wie eine Naturkraft auf (vgl. V 314), also so, wie Hegel zuvor angekündigt hatte: „Gewalt und Verwüstung der Natur, auch der Menschen gegeneinander“ (Hervorhebung von mir). Die oben genannte Einschränkung „aber ein natürliches Verhältniߓ erklärt den Unterschied zu den in den weiteren Potenzen des zweiten Teils beschriebenen Negationen, in Potenz a geht es vorerst und eigentlich nur um das „Verhältniß zur organischen Natur“. Das macht m. E. recht gut klar, wieso in den verschiedenen Potenzen des zweiten Teils verschiedene Negationen behandelt werden, und zwar in dieser Reihenfolge. Noch eine Anmerkung: Sofern in Potenz a doch bereits durch Menschen zugefügtes Leid thematisiert wird (und der „bloß natürliche“ Bereich scheinbar schon überschritten wird), soll es nach Hegel noch nur aus einem natürlichen Trieb heraus geschehen, also durch nichts anderes motiviert. Deshalb die Kennzeichnungen „natürliche Vernichtung“, blinder Fanatismus, Barbaren – es soll sich hier immer nur um „zwecklose Zerstörung“, „Vernichtung für sich“ handeln, „unbestimmt“, „auf nichts einzelnes gehend“, also eben (und das ist eine wesentliche Differenz zu den nachfolgenden Potenzen) gerade noch kein zielgerichtetes Entwenden, kein Anerkennungskampf, noch kein Messen von Person mit Person im Zweikampf, erst recht kein Krieg. In Hegels eigener Terminologie handelt es sich bei der Potenz a um die „Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung“. (V 313) In der Potenz b wird eine höhere Ebene erreicht, hier geht es nun explizit um die Verletzung und Aufhebung des „Anerkennens“ (Hegel verwendet zunächst vor allem dieses Verb, noch nicht den Begriff der „Anerkennung“, vgl. V 315). Hegel legt großen Wert darauf zu zeigen, daß beim Diebstahl und Raub das Subjekt (selbst bei physischer Unversehrtheit) verletzt wird: „das geraubte Object bleibt was es ist; aber nicht das Subject“; seine „Indifferenz“ wird in diesen Akten vernichtet, d. h. es wird als „Person“ verletzt. (V 315f.) Zweifellos ist genau das der entscheidende Aspekt dieser Potenz: Hegel geht es ausdrücklich nicht um den materiellen Verlust, sondern die Verletzung der ideellen Beziehung. Das ist eigentlich analog zu den Ausführungen innerhalb der zweiten Hauptpotenz des ersten Teils (der das Hervortreten des Ideellen thematisiert

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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hatte): „Das Negative dieser Potenz gegen das Allgemeine ist die Beziehung der Freyheit; oder das negative insofern es sich positiv constituirt, und in Differenz gegen das Allgemeine setzt, also in Beziehung auf dasselbe“. (V 298) Daß die hier vorgeschlagene Lesart stimmig sein dürfte, wird durch eine weitere Passage noch wahrscheinlicher, die exakt bezeichnet, was in der Potenz b des zweiten Teils behandelt wird: „Das Negative besteht also im nichtanerkennen des Eigenthumes, im Aufheben desselben“. (V 299) In Potenz b des zweiten Teils geht es definitiv nicht mehr um die natürliche Vernichtung, sondern die Verletzung eines Allgemeinen. Das Negierende steht explizit in einer Beziehung zum Allgemeinen; nach Hegel erfolgen die Negationen aber (noch) in einer Weise, die nicht dem genügt, was eigentlich angestrebt wird. Und – vielleicht irritierend oder befremdlich – benutzt er für diese noch mangelhafte Negation47 den Begriff der „Freyheit“. Das Mangelhafte besteht unter anderem darin, daß das Allgemeine nicht als das Wahre anerkannt, sein Status verleugnet, sich ihm einseitig entgegengesetzt wird. Es geht hier also noch nicht um die Ausübung wahrhafter Freiheit, sondern, wie Hegel an anderer Stelle sagt, die „reine Freyheit“. (V 311f.) Das Besondere steht dem Allgemeinen nur abstrakt gegenüber, es handelt sich noch nicht um die angestrebte Vermittlung und Durchdringung.48 Unübersehbar aber ist die bloße Naturstufe der Negation (Potenz a) hier bereits überschritten, Hegel interessiert sich in Potenz b für die Verletzung des Ideellen; in seiner Terminologie handelt es sich (in Ergänzung zur umgekehrten Subsumtion in Potenz a) nun um die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff. Die inhaltliche Darstellung, die man sonst auch als Steigerung lesen kann, folgt genau den methodischen Vorgaben Hegels und ist deren Logik verpflichtet. Im Vorspann zum zweiten Teil hatte Hegel ebenso die notwendigen realen Umkehrungen der Negationen angekündigt, die am Ende der Potenz b kurz ausgeführt werden.49 Was nach Hegels Logik noch fehlt, ist die Stufe der Indifferenz, der Totalität. Sie wird, genau mit dieser Ankündigung im ersten Satz, in der folgenden Potenz c dargeboten. (vgl. V 318) Wie oben ausführlich dargestellt, geht es nun um die ganze Persönlichkeit. Auch hier gibt es wieder eine Art interne Steigerung,50 die der Methode Hegels

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48

49

50

In der gleichen Passage wird diese ‚falsche‘ bzw. unvollkommene Negation von der „wahrhafft[en]“ (von mir unten kursiv gesetzt) unterschieden, die Hegel anstrebt: „Das negative kommt hier allein in Betracht, insofern es dem allgemeinen als solchen widerstreitet, und als eine Einzelnheit es verleugnet und davon abstrahirt, nicht insofern die Einzelnheit seine Form wahrhafft vernichtet, denn darin setzt es dasselbe als wahrhafft ideell, und sich als Eins mit ihm; hingegen wenn es dasselbe nicht vernichten, sich nicht mit ihm vereinigen kann, sondern in Differenz mit ihm ist.“ (V 298f.) Vgl. dagegen im dritten Teil die Ausführungen zur „höchste[n] Schönheit und Freyheit“ (V 329) und V 358. Rückblickend für das vorhergehende Verhältnis (Potenz a) entsprechend der dortigen absoluten Vernichtung auch eine derart absolut vernichtende Rückwirkung, „also die Rückwirkung wie gegen ein reissendes Thier, absolute Bezwingung oder der Tod“. Und entsprechend für den Raub (Potenz b): Da keine absolute Vernichtung stattfindet, darf die Rückwirkung auch nicht die absolute Unterjochung sein, sondern „nur für einen Moment“, also z. B. ein „nur Momentanes Setzen der Herrschafft und Knechtschafft“. (V 317) Hegel benutzt selbst diesen Terminus, vgl. V 318: „Weil die Negation nur eine Bestimmtheit sein kann; so muß diese, daß das Ganze auf dem Spiel sey, zu einem Ganzen gesteigert werden.“

222

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

entspricht.51 Derart kommt die präsentierte Reihenfolge der Negationen zustande: Mord, Rache, Kampf. Es bedarf also keiner externen Entschlüsselung des zweiten Teils, dieser paßt sich, wie soeben gezeigt, konsequent in Hegels Gedankengang ein. Dennoch ist es sicher kein Zufall, daß dieser zweite Teil in der Sekundärliteratur verschiedentlich als ohne Zusammenhang mit dem übrigen Manuskript, als bloß zufälliger Einschub beschrieben wurde. Vielleicht resultiert dieser Eindruck aus dem Umstand, daß Hegel im dritten Manuskriptteil den Individuen so erstaunlich wenig zutraut.52 Dort wirken sie eigentümlich unmündig, unreif, weitgehend in ihren egoistischen Interessen befangen, zu wahrem politischen Handeln kaum fähig; nur der erste Stand erfüllt eigentlich das, was wahre Sittlichkeit ausmacht. Alle anderen bedürfen seiner, um die absolute Sittlichkeit überhaupt „anschauen“ zu können. Das läßt in jedem Fall darauf schließen, daß Hegel den Großteil der Menschen als eben noch nicht mit den Fähigkeiten ausgestattet sieht, die Honneth als Ergebnis der Konfliktaustragung beschrieben hatte. Nach meinem Eindruck geht es in der Darstellung des Systems der Sittlichkeit aber auch kaum um die Perspektive eines einzelnen Bewußtseins, das etwas lernt und sich nach und nach mit seiner Umwelt vermittelt und schließlich zum politischen Leben erhebt. Es geht primär um die logische Rekonstruktion der Idee der absoluten Sittlichkeit. Sowohl in den drei Teilen als auch in all ihren Potenzen mit deren vielfachen Subsumtionsstufen wird das Material entsprechend dieser Logik geordnet, wobei sich Hegel um Vollständigkeit bemüht, nicht um die Plausibilität der Übergänge.53 Der Aufbau des Systems der Sittlichkeit läßt die realen Bildungsprozesse wie auch die historische Genese in den Hintergrund treten. Diese spezielle Darstellungsart, durch die quasi der gesamte Verlauf vorherbestimmt ist, macht es schwer zu beurteilen, wie Hegel selbst über eine ggf. notwendig erfolgende Bewußtseinsentwicklung denkt.54 Für den Gang der philosophischen Rekonstruktion aber ist klar: Trat im ersten Teil das Ideelle nur erst hervor (vgl. V 296), so geht es im zweiten Teil bereits um die „Erkenntniß der Idealität“. (V 310) 51 52

53 54

„Die Totalität der Negation muß unter ihren drey Formen vorgestellt werden“. (V 319) Vielleicht kann man sagen, daß Hegel dasjenige, was er aus dem zweiten Teil als ‚sachliche Errungenschaft‘ für die Gestaltung des dritten Teils hätte übernehmen können, in seiner abschließenden Darstellung nicht mehr fruchtbar gemacht hat. Dadurch entsteht zum einen der Eindruck, der zweite Teil bleibe letztlich ein Fremdkörper, zum anderen, daß der dritte Teil anschließend nur noch eher veraltete Konzepte präsentiert, faktisch eine Art Bruch zum vorangegangenen Manuskript darstellt. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, daß sich der zweite Teil völlig konsequent aus der gesamten Anlage des Manuskripts ergibt. In dieser Hinsicht hat Riedels oben kritisierte These durchaus ihre Berechtigung. Für die absolute Sittlichkeit im dritten Teil proklamiert er freilich, „daß das lebendige Individuum, als Leben dem absoluten Begriffe gleich sey, daß sein empirisches Bewußtseyn eins sey mit dem absoluten und das absolute Bewußtseyn selbst empirisches Bewußtseyn“. (V 324) Es steht fest, daß Hegel nachfolgend das für sein Manuskript spezifische Konstruktionsverfahren aufgab und sich dem Bewußtsein selbst zuwandte. Der zweite Teil des Systems der Sittlichkeit stellt, indem die Individuen durch das ihnen Begegnende, an dem sie aktiv beteiligt sind, zu einem erweiterten Standpunkt geführt werden, sachlich durchaus eine Erfahrungsreise des Bewußtseins dar, jedoch noch auf andere Weise als in der Phänomenologie des Geistes, und vor allem ohne daß Hegel diesen Aspekt selbst in den Vordergrund rückt.

2. „DAS NEGATIVE, ODER DIE FREYHEIT, ODER DAS VERBRECHEN“

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Wenn Hegel auch, wie der dritte Teil zeigt, die meisten Menschen als nicht mit jenem umfassenden sittlichen Bewußtsein ausgestattet ansieht, so läßt der zweite Teil doch zugleich auch deutlich werden, daß sich die Subjekte aus dem beengten Raum der Familie zu emanzipieren wünschen, daß sie den Kreis ihrer Wirksamkeit erweitern wollen. In gewisser Weise ist das eine Bedingung für ihre geglückte Individualisierung, ebenso dafür, daß die Stufe des politischen Handelns überhaupt erreicht werden kann, also sowohl der ökonomische als auch der bloß private Raum überschritten werden.55 Für Hegel geht es im zweiten Teil nicht so sehr um kognitive Schritte oder die Bewußtseinsentwicklung, sondern eher schon darum, wie das entstehende Wissen um die tatsächlichen gegenseitigen Abhängigkeiten sich vergegenständlicht, um phänomenale Evidenzen also, die den zwischenmenschlichen Zusammenhang selbst bei Verletzungen desselben bekunden. Deshalb interessiert er sich für das böse Gewissen des Verbrechers, aber auch für die Rache und schließlich den Sachverhalt, daß der einzelne auch „Glied eines Ganzen“ ist und durch seine Familie gerächt werden kann.56 Die „absolute Sittlichkeit“ entwickelt sich also keineswegs erst aus einem intellektuellen Entschluß, etwa dem, den gewalttätigen Zwistigkeiten ein Ende zu bereiten, sondern sie ist (wenngleich bislang nur eingeschränkt) in den praktizierten Lebensformen und sittlichen Beziehungen bereits wirksam. Damit ist deutlich erkennbar, daß Hegel sich nicht nur gegen die von der Transzendentalphilosophie suggerierte Theorie wendet, nach der erst mittels der Unterdrückung der sinnlichen Natur des Menschen und dessen Einsicht in das Vermögen der praktischen Vernunft die Fähigkeit zu sittlicher Gemeinschaft entstünde, sondern ebenso gegen die durch Hobbes vertretene Traditionslinie, wonach in einem plötzlichen Vernunftakt zwecks Eindämmung der Gewalt ein Vertrag geschlossen werde.57 Nach Hegels Auffassung wird, wie der erste Teil zur „natürlichen Sittlichkeit“ ja bereits gezeigt hatte, der Mensch im Gegenteil immer schon in sittliche Lebenszusammenhänge hineingeboren. Es stellt sich also nicht die Aufgabe, vom isolierten einzelnen Individuum den Schritt zur Gemeinschaft zu finden, sondern es gilt, die natürlicherweise vorhandenen elementaren Sozialbeziehungen schrittweise zu umfassenderen gesellschaftlichen Interaktionen zu entfalten und zu erweitern.58 Dann braucht das Zusammengehen mit den anderen Individuen gerade nicht als freiwillige Selbsteinschränkung verstanden zu werden. Es ist vielmehr, wie Hegel es schon in der Differenzschrift gefordert hatte,59 als Bereicherung und notwendige Bedingung für die Entwicklung, als eigentliche Erfüllung des menschlichen Daseins zu verstehen. 55

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Vgl. Honneth 1992, 51: „[B]eides zusammen aber, sowohl die Emanzipation der einzelnen Subjekte als auch ihre wechselseitige Vergemeinschaftung untereinander, sollte durch eben jenen Kampf um Anerkennung ausgelöst und vorangetrieben werden, in dem er sie schrittweise auf ihre subjektiven Ansprüche aufmerksam macht, zugleich ein rationales Gefühl für ihre intersubjektiven Gemeinsamkeiten entstehen läßt.“ Vgl. V 320: Ist „die eigene, dem Geiste angehörige reale Lebendigkeit geblieben [… und hat] der Mord […] nur ein einzelnes Glied und Organ umgebracht, so nimmt dieser noch lebendige Leib, die Familie die Rache auf sich.“ Vgl. hierzu überzeugend Honneth 1992. Vgl. Honneth 1992, 27. Vgl. IV 54f.

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

224

7.

Der dritte Teil des Manuskripts: Die absolute Sittlichkeit

7.1. Rekonstruktion des Inhalts und Argumentationsgangs des dritten Teils 7.1.1. Vorbemerkung Der dritte Teil des Systems der Sittlichkeit zeigt schon äußerlich, daß Hegel in seinem methodischen Konstruktionsgang an Grenzen stößt. War die Gliederung zuvor bereits nicht immer völlig konsequent, so wird der Text nun noch schematischer, um schließlich mehr und mehr ins Skizzenhafte und Fragmentarische überzugehen und dann einfach abzubrechen.1 Die Unzuträglichkeiten des Konstruktionszwanges werden unübersehbar: Sie führen nicht nur zu merkwürdigen, skurrilen Konstellationen, sondern auch zu in der Sekundärliteratur bisweilen als gefährlich kritisierten Thesen (z. B. daß sich ein Volk Anerkennung verschaffen müsse durch Krieg). Wenig überzeugend ist ebenso die lediglich aus der Methode resultierende, sachlich unangemessene Ständegliederung. Schließlich gab es bereits – wenn auch zahlenmäßig noch nicht in bedeutendem Ausmaß (jedenfalls in deutschen Ländern) – das von Hegel diesbezüglich unberücksichtigte Proletariat. Hier wird Hegel gegenüber nicht der von außen herangetragene Vorwurf erhoben, er hätte dies doch sehen müssen, sondern nur konstatiert, daß er mit unterschiedlicher Konsequenz zuvor erschlossene Themen integriert. So erfordert seine Methode eben eine Dreiteilung, und also läßt er den vierten Stand einfach ungenannt wegfallen, während er etwa zum „Sklavenstand“ noch ausdrücklich anmerkt, daß er gar „kein Stand“ (V 334) sei.2 Überhaupt hat man den Eindruck, daß Hegels Ausführungen zur Organisation des Staates – auch für seine Zeit – etwas unzeitgemäß sind und in starkem Kontrast zu den zuvor untersuchten und beschriebenen vielschichtigen, sich selbst ausdifferenzierenden 1

2

Über die Gründe des Abbruchs kann nur spekuliert werden: Empfand Hegel weitere Ausführungen als redundant und begnügte sich daher mit einer Skizze? Waren die Vorlagen, aus denen er das Reinschriftmanuskript erstellte, erschöpft? Betrachtete er ein Fortfahren mit dieser Methode am Ende als unproduktiv und überflüssig? Aufgrund des unausgeführten bzw. sich in aphoristischen Andeutungen verlierenden (so Rosenzweig) Endes kann das Manuskript als Fragment bezeichnet werden. Zu den wenigen Überarbeitungsspuren und Zustand des handschriftlichen Manuskripts vgl. V 660–662. Meist ist in seinem editorischen Bericht sicher, daß – jedenfalls am Ende – keinerlei Textverlust vorliege: „Hegel beendet die Niederschrift auf der vorletzten Seite des letzten Bogens mit Satzpunkt; fragmentarische Überlieferung des Schlusses ist daher nicht anzunehmen.“ (V 661) Zu dem einige Zeit als Schluß des Manuskripts betrachteten Text (Hegel 1936) – der (durch Rosenkranz übermittelten) sogenannten „Fortsetzung“ des Systems der Sittlichkeit – vgl. den Herausgeberbericht V 668f. und Franz Hespe, Sittlichkeit als konkrete Allgemeinheit. Interpretationen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes (Dissertation, Marburg 1987), 76ff. In seiner letzten Schrift Über die englische Reformbill (1831) gelangt Hegel zur Auffassung, daß die Teilung der Gesellschaft in die drei Stände des Adels, der Bürger, der Bauern nicht mehr vollständig dem Zustand der meisten Staaten entspricht. Zu Hegels früher Ständelehre vgl. ausführlich: Rolf K. Hocevar, Stände und Repräsentation beim jungen Hegel, München 1968.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

225

Sphären stehen.3 Der Versuch ihrer Ordnung und Einbindung trägt auf den ersten Blick antikisierende Züge. Es wird noch geklärt werden müssen, weshalb Hegel, der ja zuvor immerhin die ausgesprochen moderne Verfassungsschrift geschrieben hatte, im dritten Teil des Systems der Sittlichkeit – wenigstens an der Oberfläche – so antimodern wirkt.4 Im Vorgriff darf die Vermutung geäußert werden, daß Hegel zunächst tatsächlich noch keine komplette eigenständige Lösung anzubieten hatte und deshalb hilfsweise auch auf klassische Vorlagen zurückgriff. Diese kopierte er jedoch nicht einfach, sondern modifizierte sie deutlich für sein System und verband sie mit modernen Theorien beispielsweise der Ökonomie und des Staatsrechts: Keinesfalls rekonstruiert Hegel also nur den antiken Staat oder die alte Sittlichkeit;5 er ist zu jener Zeit – wie die Verfassungsschrift zeigt – bereits davon überzeugt, daß die auf ständischer Repräsentation beruhende Monarchie die höhere Gestalt der Weltgeschichte darstellt.6 3

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Vgl. die gesammelten Beiträge im dem Begriff des Staates gewidmeten Internationalen Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2 (2004) sowie die dortige Einleitung von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg: „Der Begriff des Staates im Deutschen Idealismus“, ebd., 1–9. Hegel ist in Jena – wie z. B. der Naturrechtsaufsatz deutlich zeigt – keinesfalls mehr von der Überlegenheit der Antike über die Moderne überzeugt. Hierin stimmt er mit Schelling überein, der zur gleichen Zeit in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802) vermerkt hatte, daß die wissenschaftliche Konstruktion des Staates, „was das innere Leben desselben betrifft, kein entsprechendes historisches Element in den späteren Zeiten finden“ würde. (Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 5, 313) Riedel vermutet, daß Schelling dies aus Gesprächen mit Hegel entnommen habe. Vgl. Anm. 23 in Riedel 1982, 91f.; Siep 1981, 280f. zeigt an verschiedenen Texten, daß Schelling sich unter Hegels Einfluß von seinem eigenen System abkehrt und der Hegelschen Staatsauffassung annähert. Vgl. ebenso Jenaer Systementwürfe III, VIII 262: „Diß ist die schöne glükliche Freyheit der Griechen, die so sehr beneidet worden und wird [am Rand: derselbe Willen ist der Einzelne, und derselbe der Allgemeine] – Das Volk ist zugleich aufgelöst in Bürger, und es ist zugleich das Eine Individuum, die Regierung – es steht nur in Wechselwirkung mit sich. […] Aber es ist eine höhere Abstraction nothwendig, ein grösserer Gegensatz und Bildung, ein tieferer Geist.“ Und eine weitere Randnotiz lautet: Platons „Staat ist vergangen […,] weil er des Princips der absoluten Einzelnheit entbehrte“. (VIII 263) „Das Ganze aber ist die Mitte, der freye Geist, der sich frey von [… den modernen] vollkommen befestigten Extremen selbst trägt, das Ganze [aber ist] unabhängig von dem Wissen des Einzelnen […]. Dieß ist das höhere Princip der neuern Zeit, das die Alten das Plato nicht kannte“. (JSE III, VIII 263) Jaeschke 2003, 154 spricht von einem „antik-moderne[n] Doppelantlitz des Systems der Sittlichkeit“. In der Verfassungsschrift hatte Hegel unmißverständlich die neue, die Antike überragende Stufe des Weltgeists begrüßt: „Diß System der Representation ist das System aller neuern Europäischen Staaten; es ist nicht in Germaniens Wäldern gewesen, aber es ist aus ihnen hervorgegangen; es macht Epoche in der Weltgeschichte. Der Zusammenhang der Bildung der Welt hat das Menschengeschlecht nach dem orientalischen Despotismus und der Herrschafft einer Republik über die Welt, aus der Ausartung der letztern in diese Mitte zwischen beyde geführt, und die Deutschen sind das Volk, aus welchem diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes gebohren worden ist.“ (V 111) Vgl. Siep 1981, 282: „Rechtliche Gleichheit, sittliche Freiheit vom Privategoismus in der selbstzweckhaften Vereinigung mit dem Volksgeist und monarchische Einheit eines in seinen Gliedern selbständigen staatlichen Organismus sind die Grundzüge der Hegelschen Synthese von antiker und ‚neuer‘ Welt.“

226

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

7.1.2. Äußere Gliederung Der dritte Teil beginnt mit einer kurzen Rückschau auf die bisherigen Konstruktionsschritte. Hierauf folgt ein mehrere Seiten umfassender Einschub, der zu bestimmen sucht, wie das Bewußtsein in der Sittlichkeit real ist. In diesen Passagen sind wichtige Hinweise enthalten, die geeignet sind, Hegels Idee der absoluten Sittlichkeit verständlich zu machen. Erst danach setzt die genauere Durchführung ein, die Betrachtung dieser „Totalität […] nach den Momenten ihrer Idee“. (V 327) Als die wichtigen Momente unterscheidet Hegel hier die „Staatsverfassung“ sowie die „Regierung“, denen er den Status der „Ruhe“ bzw. „Bewegung“ zuschreibt. (V 327) Bewegung und Ruhe stehen sich freilich nicht starr gegenüber,7 sondern bleiben aufeinander bezogen. Aus dieser Unterteilung folgt der gesamte Verlauf des übrigen dritten Teils: Der erste Abschnitt („I.“) behandelt den Stoff in einer Weise, daß Hegel, der hier übrigens die titelgebende Wendung benutzt, rückblickend sagen kann: Es „wurde das System der Sittlichkeit in seiner Ruhe dargestellt“. (V 339) Im zweiten Abschnitt („II.“) ist hingegen eine andere Perspektive eingenommen, denn nun wird „die absolute Bewegung oder der Proceß des sittlichen Lebens“ betrachtet. (V 339) Wie ist die Beziehung von Ruhe und Bewegung hier zu verstehen? Hegel gibt selbst eine Hilfestellung, indem er auf das Verhältnis des Organischen und Unorganischen verweist. Im System der Sittlichkeit ist der Gedanke nur angedeutet (im Naturrechtsaufsatz wird er breit ausgeführt): Der Begriff der Ruhe wird für den Aspekt reserviert, wie das Organische für sich besteht; der Begriff der Bewegung kommt dadurch ins Spiel, daß „das organische different gegen das unorganische ist“.8 (V 339) Es mag irritieren, daß Hegel in seiner Gliederung die Zwischenüberschrift „A. Die Staatsverfassung“ einfügt, der dann nicht mehr – wie zu erwarten wäre – weitere Gliederungspunkte (mit entsprechenden Bezeichnungen) folgen. Etwas verwirrend ist auch der Umstand, daß Hegel zwar den gesamten Abschnitt „Die Staatsverfassung“ nennt, dann dem Wort nach diese aber nur im ersten Unterabschnitt („I. Die Sittlichkeit als System, ruhend.“) behandelt, während der zweite Unterabschnitt unter dieser gemeinsamen Gesamtüberschrift nun schon die „Regierung“ thematisiert, obwohl Hegel sie zuvor von der Staatsverfassung getrennt hatte. Rosenzweig unterbreitet einen Vorschlag, der diese Merkwürdigkeit auflöst und zugleich wahrscheinliche Quellen für Hegels Einteilung benennt.9 Hegel habe nämlich ursprünglich den Staat als „Staatsver7

8 9

Vgl. zum Unterschied und Bezug von Ruhe und Bewegung Aristoteles’ Ausführungen zur Zeit innerhalb der Physikvorlesung, Buch 4, Kap. 12 (1983b, 118): „Wenn auch alles in Bewegung Stehende bewegt sein muß, so doch nicht alles in der Zeit Seiende. Denn die Zeit ist ja nicht Bewegung, sondern nur die Anzahl für die Bewegung, in dem von der Anzahl für die Bewegung beherrschten Feld ist auch Platz für das Ruhende. Keineswegs sind ja Bewegungslosigkeit und Ruhe das nämliche; von Ruhe läßt sich nur sprechen bei solchem, was seiner Natur nach Bewegung besitzt, aber gerade eine bewegungsfreie Phase durchmacht“. Vgl. nochmals die Einteilung der Totalität nach den Momenten ihrer Idee V 327. Schnädelbach 2000, 98 hat dies offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen, wenn er die mit Hegels Überschrift angekündigten Ausführungen im zweiten Abschnitt vermißt. Dennoch ist seiner generellen Beurteilung des dritten Teils zuzustimmen: „So kann man sich […] des Eindrucks nicht erwehren, daß Hegel bei dem Versuch, die Elemente und Motive einer Konzeption absoluter Sitt-

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

227

fassung“ (in einem ersten Abschnitt) von dem Staat als „Regierung“ (in einem zweiten Abschnitt) sondern wollen. Eine solche Gegenüberstellung sei damals aber noch ungewöhnlich gewesen und erst im 19. Jahrhundert mit einer Verschiebung des Sinns als „Verfassung und Verwaltung“ geläufig geworden: „Hegel wird sie persönlich oder literarisch von dem Tübinger Staatsrechtler Majer haben, der sie seinerseits aus Pütters reichsrechtlichem Hauptwerk übernahm.“10 Nach dieser von Hegel zuerst geplanten Einteilung sollte also die „Staatsverfassung“ (der Ständebau, das „System der Sittlichkeit in seiner Ruhe“) der „Regierung“ gegenüberstehen, welche ihrerseits jenes ruhende System in Bewegung zu setzen und zu regieren hätte. „Nun aber hatte der Bedeutungswandel des Wortes Verfassung diese Einteilung mißverständlich gemacht; Hegel erkannte, daß das, was neuerdings ‚Konstitution‘ hieß und im politischen Denken eine so ungeheure Rolle zu spielen begann, im Sinne jener Pütter-Majerschen Einteilung nicht zur ‚Verfassung‘, sondern zur ‚Regierung‘ zu rechnen sei, da es sich ja nicht bezog auf das ruhende Dasein des Volks im Staat, sondern das Gesetz war, nach welchem der Staat sich gegen jenes ruhende Dasein betätigt.“11 Dieser Umstand erklärt, warum Hegel die Überschrift „Die Staatsverfassung“ über beide Teile greifen läßt. Den ersten Abschnitt, welchem er eigentlich den Namen „Verfassung“ vorbehalten wollte, nannte er nun „in sichtbarer Verlegenheit um einen staatswissenschaftlichen Kunstausdruck“12 die „Sittlichkeit als System, ruhend“. (V 327) Die Regierung hingegen „ist die wahre Constitution“. (V 340)

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11 12

lichkeit […] mit Schellingschen Mitteln zu systematisieren, an die Grenzen dieser Methode gestoßen ist. Das Material will sich dem Schematismus einfach nicht mehr fügen.“ Hegel stößt in der Tat mit seinem Vorgehen an eine Grenze, allerdings auch seine eigene, denn er hat – wie oben gezeigt wurde – nicht nur einfach die Schellingsche Methode bloß äußerlich übernommen. Horstmann 1972, 113ff. zeigt, daß Hegels Modell seine eigenen kategorialen Grenzen sprengt. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 140. Rosenzweig bezieht sich auf das Werk von Johann Christian Majer: Teutsche Staatskonstitution (1800). Die Werke von Johann Stephan Pütter: Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches; Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte. Die Werke wurden inzwischen nachgedruckt (Hildesheim u. a. 2001–2002). Hegel hat, entgegen Rosenzweigs Annahme, Pütter sogar selbst gelesen, wie wörtliche Zitate in anderen Manuskripten (z. B. V 152 und 207ff.) belegen. Vgl. hierzu ausführlich den Bericht der Herausgeber, insbesondere V 572f. und 753ff. (dort auch Hinweise zu Majer). Rosenzweig 1920, Bd. 1, 141. Ebd. Rosenzweig folgert: „Die beste Verfassung also wäre nach Hegels Ansicht eine gute Verwaltungsordnung.“ Dasjenige, was Hegel eine „rohe“ Verfassung nennt und ablehnt, sei beispielsweise der „neufranzösische […] Begriff von Verfassung“, wo der Staat unmittelbar als solcher auf den einzelnen wirke. Rosenzweig kann sich hier auf Hegels Abgrenzung beziehen: „Die Roheit in Beziehung auf Verfassung, in der nichts geschieden sondern gegen jede Einzelnheit der Bestimmung unmittelbar das Ganze als solches sich bewegt, ist Formlosigkeit, und Aufhebung der Freyheit; denn diese ist in der Form, und darin, daß der einzelne Theil, ein untergeordnetes System des ganzen Organismus für sich in seiner Bestimmtheit selbstthätig ist.“ (V 340) Hier ist übrigens deutlich zu sehen, daß „Freyheit“ in Hegels Manuskript nicht durchweg (wie im ersten oder zweiten Teil vielleicht zu vermuten war) negativ konnotiert ist. Nur die Freiheit als fixierte, willkürliche Entgegensetzung soll aufgehoben werden, nicht hingegen – wie hier deutlich zu sehen – die positive Freiheit gefährdet werden. Vgl. auch V 329.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

7.1.3. Der neue Status des dritten Teils; Abgrenzung von den bisherigen Indifferenzstufen Der dritte Teil beginnt mit einer Rückschau auf und Abgrenzung von den beiden ersten Teilen. Das herbe Fazit lautet: „Aber die absolute Natur ist in keinem in Geistesgestalt, und darum auch nicht als Sittlichkeit vorhanden.“ (V 324) Wie ernst Hegel diesen Befund meint, wird durch die Fortführung des Satzes deutlich: „[W]eder die Familie noch viel weniger die untergeordneten Potenzen, am wenigsten das negative ist sittlich.“ Diese letzteren Ausführungen erstaunen erheblich und passen nicht zu den Aussagen etwa des ersten Teils. Hegels Satz – aus dem Kontext gerissen – lädt förmlich zu Mißverständnissen ein. Man kann den Satz nur aufklären und in Übereinstimmung mit den sonstigen Ausführungen bringen, wenn man dem Wort „sittlich“ hier das Attribut „absolut“ voransetzt, was der ganze Bezugsrahmen auch nahelegt. Es ist sicher merkwürdig, daß Hegel den gesamten dritten Teil lapidar überschreibt mit „3. Sittlichkeit“, obwohl hier – auch nach seinen eigenen Aussagen – die „absolute Sittlichkeit“ behandelt wird. Genau so verhält es sich auch in der zitierten Passage. Daß die Familie usw. nicht „sittlich“ seien, wird ja direkt mit einem Mangel begründet, nämlich daß in ihnen nicht „die absolute Natur […] in Geistesgestalt“ vorhanden sei. Nur „darum“, so erfahren wir, ist die absolute Natur „nicht als Sittlichkeit“ da. Liest man genau, so versteht man, daß sie dort „anders“ anwesend ist, eben nur nicht in „Geistesgestalt“. Hegel hatte ja in eben diesem Sinne in den vorhergegangenen Potenzen auch durchaus verschiedene Erscheinungsweisen der absoluten Sittlichkeit dargestellt, ihre Momente entschlüsselt und in ihrer Notwendigkeit nicht nur bestätigt, sondern ausdrücklich als „sittlich“ charakterisiert. Dabei war stets klar, daß es sich um prinzipiell noch unvollständige, nur partielle Vereinigungen oder Identitäten handelte, sie also noch nicht in die „absolute Indifferenz“ aufgenommen waren. (Für Hegel scheint die „Sittlichkeit“ in graduellen Abstufungen vorhanden zu sein.) Wenn man also das gesamte bisherige Manuskript betrachtet und nicht als absurd abzuwerten bereit ist, so muß man die Familie durchaus als „sittlich“, aber eben nicht als „absolut sittlich“ (oder sittlich im ganzen Umfang und reflektiert) betrachten, da eine wichtige Komponente noch fehlt. Diese wird von Hegel im Folgesatz angesprochen, wodurch vollends deutlich wird, daß hier von „absoluter Sittlichkeit“ die Rede ist und Hegel – vielleicht weil es ihm so selbstverständlich scheint – das „absolut“ einfach wegläßt: „Die Sittlichkeit muß mit völliger Vernichtung der Besonderheit und der relativen Identität, deren das Naturverhältnis allein fähig, absolute Identität der Intelligenz seyn“. (V 324) Daß es nicht mehr (wie in den ersten beiden Teilen) nur um „Totalität[en] der Besonderheit“ (vgl. V 323) geht, ist unübersehbar: „[O]der die absolute Identität der Natur muß in die Einheit des absoluten Begriffs aufgenommen, und in der Form dieser Einheit vorhanden seyn, […] ein vollkommenes13 sich Objectivseyn und Anschauen des Individuums in dem fremden; also die Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung, völlige Indifferenz des Selbstgenusses“. (V 324) Die Attribute „vollkommen“ und „völlig“ zeigen an, daß zuvor noch etwas fehlte und von Sittlichkeit in einem anderen Sinne die Rede war, nämlich so, wie es Hegel zu Beginn des 13

In der Edition Lassons steht hier fälschlich und entstellend: „unvollkommenes“. (Hegel 1923, 460)

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zweiten Teils gesagt hatte: „Das bisherige hat die Einzelnheit zum Princip […]. Die Indifferenz, die absolute Totalität jeder Potenz ist nicht An sich, sie liegt unter der Form“. (V 309f.) Dort hatte er auch bereits angekündigt: „Die Aufhebung der Bestimmtheiten muß die absolute seyn, die Aufnahme aller Bestimmtheiten in die absolute Allgemeinheit.“ (V 310) Das soll nun im dritten Teil geleistet werden. Diese vorgeschlagene Interpretation stimmt mit Hegels Ausführungen zu Beginn des dritten Teils überein. War die „Anschauung“ zuvor „im Verhältniߓ, also mit Bestimmtheiten versehen, so soll sie nun eine „vollkommene“ sein. Über den unterschiedlichen Status gibt es keinen Zweifel, weil Hegel selbst ein Beispiel nennt: „[D]as sich reell objectiv anschauen des Individuums in dem andern ist mit einer Differenz behafftet; das Anschauen im Weibe, im Kinde und im Knechte ist keine absolute vollkommene Gleichheit“. (V 323) Dies gilt aber, so Hegel, nur für die „vorhergehenden Potenzen“. Der Mangel besteht unter anderem darin, daß die „absolute vollkommene Gleichheit“ noch gar nicht erkannt wird, sondern diese eine „innere, nicht hinausgebohrne, unausgesprochene“ bleibt. (V 323) Das ändert sich nun – im dritten Teil – völlig. Im Kontrast zu der im ersten Anschauen enthaltenen „Unüberwindlichkeit des Begreiffens der Natur“ (V 323) gilt jetzt: „[D]ie Augen des Geistes und die leiblichen Augen fallen vollkommen zusammen; der Natur nach sieht der Mann Fleisch von seinem Fleisch im Weibe, der Sittlichkeit nach allein Geist von seinem Geist in dem sittlichen Wesen, und durch dasselbe.“ (V 324)

7.1.4. Die Geistesgestalt der absoluten Sittlichkeit (der Ort der absoluten Sittlichkeit): Die Göttlichkeit des Volkes In Hegels Text wird anschließend geschildert, wie das Individuum in der Sittlichkeit aufgeht, d. h. „sein empirisches Seyn und Thun“ auch zugleich ein „schlechthin allgemeines“ ist. Es werden nun die Ankündigungen der dem Manuskript vorangestellten „Einleitung“ zur Idee der absoluten Sittlichkeit eingelöst, indem das „Einsseyn des Allgemeinen und Besondern“ aufgezeigt und als „ins Bewußtseyn herausgetreten“ gekennzeichnet wird. (V 325) So führt Hegel – der „Einleitung“ durchaus adäquat – aus: „Die Anschauung dieser Idee der Sittlichkeit aber, die Form in der sie von Seiten ihrer Besonderheit erscheint, ist das Volk.“ (V 325) Hegel legt großen Wert darauf nachzuweisen, daß es sich beim „Volk“ keinesfalls um „eine Beziehungslose Menge, noch eine blosse Mehrheit“ handelt (V 325); hier schließt sich Hegel etwa Hobbes und Kant an;14 an Hobbes knüpft Hegel gewissermaßen auch äußerlich an, wenn er – ähnlich 14

Vgl. De cive, 6.1 und die zugehörige Anmerkung: „[E]ine Menge ist keine Einheit sondern mehrere Menschen […, hat folglich nicht] einen Willen, sondern der eine diesen, der andere jenen. Daher kann man ihr auch nicht irgendeine Handlung zuschreiben. Die Menge ist daher von Natur keine Person. Dieselbe Menge wird aber eine Person, wenn der Wille einer Person oder der Mehrheit als der Wille aller gilt; denn dann ist sie mit einem Willen begabt, und wird nun Volk statt Menge genannt. Unter Volk versteht man einen Staat, der durch den Willen eines Menschen oder den übereinstimmenden Willen einer Personengruppe befiehlt, will oder handelt“. Vgl. außerdem Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (Kant 1900ff., Bd. VII, 311): „Unter dem Wort Volk (populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemein-

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dem Titelkupfer des Leviathan, auf welchem der dargestellte Körper (als Symbolisierung des Staats) selbst wieder aus vielen einzelnen Körpern zusammengesetzt ist – die Sittlichkeit durch Briareus, eine vielarmige und vielköpfige Gestalt aus der griechischen Mythologie, symbolisiert.15 Nach Hegels Auffassung kommt es vor allem auf die konkrete, vielschichtige Beziehung jener Menge von Individuen, die im Volk „überhaupt formell […] gesetzt“ ist, an. (V 325) Hegel wird das etwas später in seiner Ständelehre noch ausführlich zeigen. Sein wesentlicher Befund an dieser Stelle, der zugleich die Unterschiede zu allen bisherigen Indifferenzstufen ausdrückt, lautet: „Indem das Volk die lebendige Indifferenz, und alle natürliche Differenz vernichtet ist, schaut das Individuum sich in jedem als sich selbst an; es gelangt zur höchsten Subjectobjectivität; und diese Identität aller ist ebendadurch nicht eine abstracte, nicht eine Gleichheit der Bürgerlichkeit, sondern eine absolute, und eine angeschaute im empirischen Bewußtseyn, im Bewußtseyn der Besonderheit sich darstellende; das allgemeine, der Geist, ist in jedem und für jedes, selbst insofern es einzelnes ist.“ (V 325f.) Hegel proklamiert, daß „dieses Anschauen und Einsseyn unmittelbar“, das Individuum als „besonderes Bewußtseyn schlechthin dem Allgemeinen gleich“ sei. (V 326) Über diese Unmittelbarkeit (das „schlechthin“ häuft sich im Text auffallend), wo das Anschauen also „nicht symbolisch“ ist, gelangt Hegel schließlich zu einer quasi modernen religionssoziologischen Feststellung: „[U]nd diese Allgemeinheit, welche die Besonderheit schlechthin mit sich vereinigt hat, ist die Göttlichkeit des Volkes“.16 (V 326)

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schaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation (gens); der Theil, der sich von diesen Gesetzen ausnimmt (die wilde Menge in diesem Volk), heißt Pöbel (vulgus), dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottiren (agere per turbas) ist; ein Verhalten, welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.“ Vgl. auch Bd. XXIII, 461 (Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten) und Zum ewigen Frieden (Bd. VIII, 366), wo das Problem der Staatsgründung in signifikant anderer Weise behandelt wird: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ‚Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.‘ Ein solches Problem muß auflöslich sein.“ Zum Titelkupfer des Leviathan vgl. ausführlich Reinhard Brandt: Philosophie in Bildern, Köln 2000. Die Stelle aus Hegels Reinschriftmanuskript findet sich V 328: „[…] Sittlichkeit, als dieser lebendige, selbstständige Geist, der als ein Bryareus erscheint, von Myrien von Augen Armen und den andern Gliedern, deren jedes ein Absolutes Individuum ist, ist ein absolut allgemeines, und in Bezug auf das Individuum, erscheint jeder Theil dieser Allgemeinheit, jedes was ihr angehört, als ein Object, als ein Zweck“. Zur Gestalt des Briareus vgl. Hesiod, Theogonie, 147ff., auf den Hespe 1987, 70 hinweist. Vgl. Glockner 1940, 381: „Diese Warnung vor einer bloß symbolischen Auffassung war uns schon in den Frankfurter Jugendschriften begegnet. An diese werden wir auch erinnert, wenn Hegel nun weiterhin von der ‚Göttlichkeit des Volkes‘ und dem ‚Gott des Volkes‘ spricht. Das alte Jugendideal einer Volksreligion ist in die Systemform eingegangen!“ Glockner bezieht sich auf Hegels Interpretation des Abendmahls: Man möge sich davor hüten, Jesu Handlung lediglich „symbolisch“ aufzufassen oder in ihr „ein bloßes Gleichnis“, eine bloße „Parabel“ zu erblicken. Das gemeinsame

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So wie hier Allgemeinheit und Göttlichkeit des Volkes zusammenfallen, wird anschließend analog gefolgert: „[U]nd dieses Allgemeine in der ideellen Form der Besonderheit angeschaut, ist der Gott des Volks“.17 (V 326) In der Sittlichkeit, so Hegel, erkennt das Individuum die Identität von Subjekt und Objekt. Das „empirische Bewußtseyn […] erkennt an dem entgegengesetzten, dem Object, absolut dasselbe, was das Subject ist; es schaut die Dieselbigkeit an“. (V 326) Hegel erklärt, daß diese Anschauung „absolut“ ist, wobei er der Reihe nach auseinandersetzt, weshalb sie absolut, sodann weshalb sie überhaupt Anschauung und schließlich weshalb ihr Inhalt ebenfalls absolut ist. In einem nochmaligen Resümee faßt er schließlich zusammen: „Alle Beziehung auf Bedürfniß und Vernichten ist aufgehoben, und das praktische, welches mit dem Vernichten des Objects anfing, ist in sein Gegentheil in Vernichtung des subjectiven übergegangen, so daß das objective die absolute Identität von beydem ist.“ (V 326f.) Nach dieser gedrängten Analyse der Beziehung des Individuums zum Volk, des realen Bewußtseins in der Sittlichkeit, folgt nun der eigentliche dritte Teil, dessen Gliederung oben bereits beschrieben wurde.

7.1.5. Gestaltete, aber dennoch organische Totalität Im ersten (und einzigen als solchen mittels „A.“ gekennzeichneten) Abschnitt „Die Staatsverfassung“ sollen die verschiedenen Momente der „organischen Totalität“, welche das „Volk“ ist, dargestellt werden. Hegel spricht jetzt weder von Subsumtionen noch von Potenzen, sondern nennt plötzlich drei „Formen“: „[1.] die Form der Identität, der Indifferenz; [2.] alsdenn die der Differenz, und [3.] endlich die der absoluten lebendigen Indifferenz“. Dabei soll jedes der Momente „eine Realität“ (und keine „Abstraction“) sein. (V 327) Unklar ist, wie diese verschiedenen Momente im folgenden Text, der mit „I. Die Sittlichkeit als System, ruhend“ überschrieben ist, zu verorten sind. Eine Passage (V 333, Zeile 4ff.) legt nahe, daß Hegel hiermit die drei Formen der Sittlichkeit meint, die nacheinander charakterisiert werden als a) „absolute Sittlichkeit“, b. „relative Sittlichkeit“ und c. „das Zutrauen“. (V 328–333) Es ist allerdings nicht sofort überzeugend, in der Sittlichkeit als „Zutrauen“ die Form der „absoluten lebendigen Indifferenz“ ausmachen zu wollen.18 Zweifellos läuft Hegels Konzeption aber darauf hinaus, daß

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Essen und Trinken ist schon im Vollzug bereits mehr als nur symbolisch. Vgl. zur Thematik: Herbert Scheit, Geist und Gemeinde. Zum Verhältnis von Religion und Politik bei Hegel, München und Salzburg 1973. Dort insbesondere 112–115. Die Göttlichkeit des Volkes liege in der absoluten Macht, die es mit Hilfe der Sitten und Gesetze über den einzelnen ausübe. Um eventuelle Mißverständnisse auszuschließen, fügt Hegel noch an: „[E]r [der Gott des Volkes] ist eine ideelle Weise es anzuschauen.“ Vgl. Scheit 1973, 113: „Das ‚Absolute‘ in der empirischen Wirklichkeit, im Bereich der Objektivität und der ‚Erscheinung‘ ist das Volk; das ‚Absolute‘ in seiner absoluten Gestalt ist jedoch nur im Bewußtsein des einzelnen, und zwar in der Religion gegeben, da beide, Volk und Individuum, gegenseitig subsumiert werden, und jedes jeweils den absoluten Bezugspunkt bildet.“ „Lebendig“ könnte in diesem Falle freilich auch auf die Art der Arbeit jenes diese Sittlichkeit verkörpernden Standes hindeuten, die „ganz und derb“, unmittelbar mit der Natur verbunden sei,

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jene drei Formen der Sittlichkeit alle „ebenso real seyn“ müssen: „[J]ede muß sich für sich selbst organisiren ein Individuum seyn, und Gestalt annehmen“. (V 333) Damit ist die nachfolgende Ständegliederung bereits angekündigt. Etwas später heißt es schließlich: „Die Potenzen der Sittlichkeit in dieser Realität sich darstellend innerhalb der vollkommenen Totalität sind die Stände; und das Princip eines jeden ist die bestimmte Form der Sittlichkeit der vorhin aufgezeigten“. (V 334) Durch Hegels eigenen Verweis auf die „vorhin aufgezeigten“ Formen ist die Entsprechung gewährleistet, und so kann Hegel analog zu den drei aufgezeigten Formen nun anfügen: „[E]s ist also ein Stand der absoluten freyen Sittlichkeit, ein Stand der Rechtschaffenheit, und ein Stand der unfreyen, oder natürlichen Sittlichkeit.“19 (V 334) Diesen Gedankengang sollte man als grobe Gliederung präsent haben, ehe man sich auf die einzelnen Ausführungen Hegels einläßt, die hier– gegen alle Erwartung – mehrfach abschweifen und nicht einheitlich gegliedert sind; es finden sich aber zahlreiche wichtige Details zum Verständnis der „Sittlichkeit“, so daß die nicht einfache Lektüre sich doch lohnt. Hegel hatte betont, daß der „Begriff der Sittlichkeit […] in ihre Objectivität, die Aufhebung der Einzelnheit gelegt worden“ ist. (V 327) Deshalb wird also diese Objektivität, das „absolute aufgenommenseyn des Besondern ins Allgemeine“, untersucht. Hegel legt weiterhin fest, daß die Objektivität der Sittlichkeit, welche sich als „Vernichtetseyn des subjectiven im Objectiven“ erweist, nach zwei Aspekten zu betrachten ist: a) als „Anschauung“ (V 327), b) als „Erscheinung“ der Sittlichkeit auch unter der „aüssere[n] Form der Subjectivität“, also als die „Sittlichkeit des einzelnen, oder die Tugenden“.20 (V 328)

7.1.6. Drei Formen der Sittlichkeit: absolute Sittlichkeit, relative Sittlichkeit, Zutrauen Hegel unterteilt die Sittlichkeit in die oben genannten drei Formen (a, b, c). Die „absolute Sittlichkeit“ wird zu Beginn geradezu enthusiastisch dargestellt. Sie erscheint also nicht etwa nur „als Liebe zum Vaterlande und Volk und Gesetzen, sondern als das absolute Leben im Vaterlande und für das Volk“ selbst. (V 328) Sie ist die absolute Vereinigung, und so wundert es nicht, daß Hegels Ton ins Religiöse umschlägt: „[S]ie ist und jede ihrer Bewegungen die höchste Schönheit und Freyheit, denn das reellseyn und die Gestaltung des ewigen ist seine Schönheit; sie ist ohne Leiden und seelig; denn

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nicht aus dem Verstand käme, also im Kontrast zum zuvor Geschilderten. Vgl. V 332. Die „sittliche Anschauung“ sei hier so elementarisch wie die Arbeit. Siehe auch V 338: „Der Charakter der Arbeit […] geht die Erde oder das Thier, etwas lebendiges an“. Es fällt auf, daß „natürlich“ und „unfrey“ hier synonym verwendet werden. Der natürlichen Sittlichkeit scheint also die Freiheit noch zu mangeln. (Dies entspricht auch dem Aufbau des Manuskripts.) Hegel gibt nebenbei einen wichtigen Hinweis zum integrativen Charakter der Sittlichkeit, den man wohl auch als methodische Anmerkung verstehen darf: „In jeder Gestalt und Aüsserung der Sittlichkeit hebt sich der Gegensatz einer Position und Negation durch die Integration derselben auf“. (V 327) Wenn dies nicht gelingt, so erscheint die „Trennung“ des Allgemeinen und Besondern „ernstlich als eine Knechtschafft des besondern“ und dieses Besondere dann „als ein dem Sittengesetz unterjochtes“. Hegels Fichtekritik lautete ähnlich!

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in ihr ist alle Differenz und aller Schmerz aufgehoben; sie ist das göttliche, absolut, reell, existirend, seyend, unter keiner Hülle“. (V 329) Trotz des Vokabulars ist aber keine religiöse Versöhnung gemeint. Das geht nicht nur aus dem Kontext hervor, sondern wird durch weitere Bestimmungen der „absoluten Sittlichkeit“ bestätigt. Hegel geht es eindeutig um das „Einsseyn der Individualitäten“ im Volk, das Wegfallen von Differenzen oder fixierten Bestimmtheiten. Besonders deutlich wird das dadurch, daß Hegel, nachdem er die „Tugend“ als „Sittlichkeit des einzelnen“ definiert hatte, nun die „absolute Sittlichkeit“ als die „Indifferenz aller Tugenden“ – und gerade nicht als ihren „Innbegriff“ – bezeichnet. (V 328) Hegel schildert im Anschluß die „Bewegung“ dieser absoluten Sittlichkeit, wobei sich die „Tapferkeit“ als „Indifferenz der Tugenden“, als „Tugend an sich“ herausstellt. (V 329) Sie bewährt sich darin, daß „der Einzelne sich in die Gefahr des Todes begibt“, und zwar „für das Volk“, indem er gegen den „Feind des Volkes“ kämpft.21 (V 329) Hegel beschreibt verschiedene Auswirkungen der „Noth des Kriegs“. (V 330) Dabei ist es für ihn von großer Bedeutung, daß es sich nicht um einen „Krieg von Familien gegen Familien, sondern von Völkern gegen Völker“ handelt. (V 331) Denn dadurch wird eine viel höhere Stufe von Allgemeinheit erreicht: „[D]er Haß [ist] indifferentiirt, von aller Persönlichkeit frey“. War im zweiten Teil des Manuskripts bereits die „Ehre“ eingeführt worden, so steigert Hegel diese nun zur „Nationalehre“: „[E]s ist die Nationalehre das treibende, nicht das verletztseyn eines Einzelnen, sondern die Verletzung, welche die Veranlassung des Krieges ist, kommt ganz in die Indifferenz der Ehre an jedes Individuum.“ (V 331) An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, daß scheinbar gleiche Themen in den verschiedenen Manuskriptteilen nicht einfach nur wiederholt oder leicht variiert, sondern unter verschiedenen Gesichtspunkten stets neu behandelt werden. Verallgemeinernd kann man vielleicht sagen, daß die Wirkkreise der je untersuchten Phänomene sich im Verlauf des Manuskripts permanent erweitern. So verliert in dem eben behandelten Zusammenhang – durchaus abweichend von der Darstellung im zweiten Teil – für Hegel selbst der Tod seinen Schrecken. „[D]er Tod geht ins allgemeine hinein, wie er aus dem allgemeinen kommt, und ist ohne Zorn“. (V 331) Aufschlußreich ist außerdem, daß Hegel hier eine Parallele in der Realgeschichte sieht: „[D]as Schießgewehr ist die Erfindung des allgemeinen indifferenten, unpersönlichen Todes“.22 (V 331) Die zweite „Form der Sittlichkeit“, die „relative Sittlichkeit“, wird dadurch charakterisiert, daß sie „sich auf Verhältnisse bezieht, und sich nicht in ihnen frey organisirt und bewegt, sondern die Bestimmtheit, welche in ihnen ist, bestehen läßt, aber sie zur Gleichheit mit der entgegengesetzten bringt“. (V 331) Der Terminus „Verhältniߓ besagt schon, daß hier keine vollständige Indifferenz – wie zuvor in der Form der absoluten Sittlichkeit – vorhanden ist.23 Auch handelt es sich nicht mehr um verkörperte 21

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Hier ist deutlich die Steigerung und Ausweitung der Perspektive im Vergleich zum zweiten Teil des Manuskripts zu bemerken. Vgl. die Interpretation Hermann Hellers 1921, 121: „So vermochte Hegel, was bislang wohl niemand gelungen war, den Krieg logisch und die Logik imperialistisch zu machen. Darüber hinaus wird aber selbst der Schießprügel philosophisch“. Vgl. das Kapitel zu Hegels Terminologie und Naturrechtsaufsatz, IV 445f.: „Was hiemit gezeigt worden, ist, daß das sittliche, welches nach dem Verhältniß allein gesetzt wird […] als Totalität

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„höchste Freyheit“ (V 329), sondern es wird ausdrücklich gesagt, daß sich diese Form der Sittlichkeit gerade nicht frei organisieren und bewegen kann. Insofern ist Hegels ‚Limitierung‘ durch die Bezeichnung „relative Sittlichkeit“ konsequent, er muß aber auch zeigen, was an ihr dann überhaupt noch Sittlichkeit ist. Das gelingt ihm durch die Zuschreibung, sie schaffe „das Recht, und ist Rechtschaffenheit“. (V 331) Indem sie am Recht festhält, sorgt sie dafür, „daß jedem das seinige zukomme“.24 Deshalb kann Hegel auch feststellen: „[I]hre Totalität ist die empirische Existenz des einzelnen, deren Erhaltung sie an sich und andern sich angelegen seyn läßt.“ (V 331) Es gibt also mit den verschiedenen Formen der Sittlichkeit zugleich eine Abstufung: Um etwa den Zusatz „relativ“ richtig zu verstehen, hilft Hegels Hinweis, daß das „allgemeine, das absolute der Sittlichkeit, und wie dieses in seiner Realität seyn und die Realität unterworfen werden müßte“, für die Rechtschaffenheit nur „ein Gedanke“ ist. (V 331) Unverkennbar ist denn auch Hegels distanzierte, fast spöttelnde Haltung.25 Charakteristisch ist, daß die „Rechtschaffenheit“ im Alltag und im Konfliktfall „weder den ganzen Besitz noch das Leben“ hingibt. Die Begründung lautet: „[D]enn die Einzelnheit ist in ihr fixirt“. (V 332) Obwohl Hegel die pragmatische Bedeutung dieser „Form der Sittlichkeit“ durchaus anerkennt, betont er an dieser Stelle vor allem ihr Defizit: „[D]ie empirische Totalität der Existenz setzt der Uneigennützigkeit und der Aufopferung ihre bestimmte Gräntze, und muß unter der Herrschafft des Verstandes stehen.“ (V 332) Dennoch muß man aber wohl insgesamt unterstellen, daß es eben genau dieser „relativen Sittlichkeit“ auch bedarf, sie eine notwendige Form der „Sittlichkeit als System“ ist und dieses mitträgt. Es muß also im System der Sittlichkeit – wahrscheinlich aus Gründen der Sicherstellung des Erhalts des Ganzen – eine Form von Sittlichkeit geben, für die tatsächlich zwingend gilt, daß „die absolute Sittlichkeit ein Gedanken bleiben muߓ. (V 331) Wenn das stimmt, stellt sich aber auch die Frage, ob Hegel seinen selbstformulierten Ansprüchen bezüglich der lebendigen Unmittelbarkeit der absoluten Sittlichkeit gerecht wird.26 Die dritte Form der Sittlichkeit, das „Zutrauen“, wird in genauer Beziehung auf die vorherigen beiden „Formen“ eingeführt: „[D]as Zutrauen ist in der Identität des ersten und der Differenz des zweyten; so daß jene Identität der absoluten Sittlichkeit eine eingehüllte nicht zugleich in den Begriff aufgenommene und ausgebildete Anschauung ist, und daher dieselbe in der Form ihrer Intellectualität ausser ihr liegt“. (V 332) Bei

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gedacht sich selbst aufhebt; […] – denn daß das Verhältniß überhaupt nichts an sich ist, hat theils die Dialektik zu erweisen, theils ist es oben kurz dargestellt worden.“ Sie „sorgt für die Familie […] so für die Mitbürger, hilfft der einzelnen Noth ab“. (V 331) Vgl. V 331: „[I]hr höchster Schwung ist hierüber mancherley Gedanken zu haben; aber ihre Vernunft zugleich, daß sie einsieht, wie der empirische Zustand verändert werden würde, und dieser liegt ihr zu nahe am Herzen, als daß sie ihm etwas geschehen lassen sollte“. Vgl. schon die Bemerkung in Der Geist des Christentums und sein Schicksal, 1/361f.: „Ein lebendiges Band der Tugenden, eine lebendige Einheit ist eine ganz andere als die Einheit des Begriffs, sie stellt nicht für bestimmte Verhältnisse eine bestimmte Tugend auf, sondern erscheint auch im buntesten Gemische von Beziehungen unzerrissen und einfach; ihre äußere Gestalt kann sich auf die unendlichste Art modifizieren, sie wird nie zweimal dieselbe haben, und ihre Äußerung wird nie eine Regel geben können, denn sie hat nie die Form eines Allgemeinen gegen Besonderes.“

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dieser Form der Sittlichkeit fehlt also das Wissen um die absolute Identität, vielmehr handelt es sich um eine „elementarische“ sittliche Anschauung, „ganz und derb“, wie Hegel sagt, welcher die absolute Sittlichkeit „nicht einleuchten kann“. (V 332) Bei der Schilderung des „Zutrauens“ als einer Form der Sittlichkeit ist unübersehbar, daß Hegel bereits an den Bauernstand denkt. Anders ist die Kennzeichnung der „Arbeit“ des „Zutrauens“, so merkwürdig und künstlich eine solche Verbindung ohnehin ist, auch nicht zu verstehen: Diese Arbeit „läßt das Nützliche durch die Natur thun und hervorbringen“. (V 332) Schließlich gibt Hegel noch den Hinweis, daß – trotz fehlender Einsicht – das „Zutrauen, weil es auf ein ewiges sich verläßt, […] denn auch der Tapferkeit fähig“ ist. (V 333)

7.1.7. Die Stände (Ruhe) Hegel geht hierauf zur Darstellung der Realität der drei Formen der Sittlichkeit über, wie sie nämlich „in der realen absoluten Totalität der Sittlichkeit“ sind, und gelangt auf diese Weise zu den drei „Ständen“: a) „der absolute Stand“, b) „der Stand der Rechtschaffenheit“ und c) „der Bauernstand“ (auch: „Stand der rohen Sittlichkeit“).27 (V 334– 339) Wie stark Hegel immer noch an der methodischen Zuordnung orientiert ist, wird einsichtig, wenn man seine hier selbstgestellte Aufgabe betrachtet. Nach der spekulativen Setzung – das „reellseyn [des absoluten Standes] und seine Idee sind schlechthin eins, weil die Idee die absolute ist“ – formuliert er als nun zu lösendes Problem: „In dem reellseyn der absoluten Sittlichkeit, ist allein die Art zu betrachten, wie dieser Stand in Rücksicht auf das Bestehen der Differenz sich verhält und wie das praktischseyn in ihm differentiirt seyn kan.“ (V 334) Man spürt hier überall den Zwang der vorgängigen Konstruktion. Nur deshalb entsteht etwa folgendes Dilemma: „[S]eine Arbeit darf nur eine allgemeine seyn, aber die Arbeit für das Bedürfniß wäre eine einzelne.“ (V 335) Hegel muß also zeigen, daß die vom absoluten Stand zu erbringende Arbeit eigentlich gar „keine Arbeit“ ist.28 So verfällt er auf folgenden Ausweg: „[D]ie Arbeit kann keine andere, als die des Krieges seyn, oder ein Bilden für diese Arbeit; denn die unmittelbare Thätigkeit im Volke ist keine Arbeit, sondern in sich organisch und absolut.“ (Tätigkeit und Arbeit werden hier also in einer Weise geschieden, die an antike Vorbilder erinnert.) Andererseits muß Hegel zugeben, daß auch der absolute Stand bedürftig ist. Da er aber – nach den ge27

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Zur Ständelehre vgl. umfassend Hocevar 1968. Die Charakterisierung der Stände erfolgt entsprechend der realen historischen Gegebenheit (Aristokratie im Absolutismus), aber auch als Idealisierung und Konstruktion entsprechend der von Hegel befürworteten konstitutionellen Monarchie. Riedel verweist auf die noch unbewältigten Widersprüche in Hegels Manuskript, welche durch die gleichzeitige Rezeption der modernen politischen Ökonomie und der klassisch-politischen Lehre über das Verhältnis von Handeln und Arbeit erzeugt wurden, und die sich in der eigentümlichen Sonderung von erstem und zweitem Stand fortsetzen: „Man sieht leicht, daß Hegel damit eigentlich nur die klassische Trennung von Politik und Ökonomik reproduziert, aber […] auf der Basis der modernen Nationalökonomie, welche die klassischen Trennungslinien durchbrochen hat.“ (Riedel 1982, 127) Mag die Ständelehre auch antike Vorbilder reproduzieren, so geht das System selbst insgesamt ganz deutlich über die antike Ökonomie und den antiken Staatsbegriff hinaus.

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machten Voraussetzungen – für seine Bedürfnisse selbst nicht arbeiten darf, bleibt nur folgende Variante übrig: „[S]o ist [es] nothwendig, daß die Arbeit durch die andern Stände geschähe, und das für das Bedürfniß zubereitete und verfertigte ihm geliefert werde, und ihm nur die unmittelbare Vernichtung im Genusse übrig bleibt.“ (V 335) Hegels Konzeption der Entsprechung erfordert, daß der absolute Stand, da „er fremdes Gut und Erwerb zu seinem eigenen macht“, eine Gegenleistung erbringt – er muß „nach der Gleichheit den andern wieder nützlich seyn“. (V 335) Hegel stellt einen doppelten Nutzen des ersten Standes für die übrigen Stände fest. Die „erste Nützlichkeit ist daß er die absolute reale sittliche Gestalt ist, und also für sie das Bild des sich bewegenden und seyenden Absoluten“ verkörpert. (V 335) Während die anderen Stände sich nicht so hoch erheben und „ihrer Natur nach bey diesem Anschauen stehen“ bleiben, bietet der absolute Stand ihnen „die höchste reale Anschauung, welche die sittliche Natur verlangt“, dar. (V 335) Die andere Nützlichkeit besteht darin, daß der absolute Stand die „absolut indifferente“ Arbeit „der Regierung und der Tapferkeit“ übernimmt, wodurch den übrigen Ständen „die Sicherheit ihres Eigenthums und Besitzes“ gewährt wird. (V 336) Der Stand der Rechtschaffenheit hat zudem „die absolute Sicherheit“ – wird also noch ein weiteres Mal entlastet (oder eben für unfähig erklärt) –, daß und indem er „der Tapferkeit überhoben ist“, sich nicht der Todesgefahr aussetzen muß (und kann).29 (V 336) Der Stand der Rechtschaffenheit wird wesentlich dadurch definiert, daß er „in der Arbeit des Bedürfnisses, dem Besitz und Erwerb und Eigenthum“ ist. (V 336) Damit ist eine deutliche Abgrenzung zum ersten Stand vollzogen. Sie wird noch verschärft durch die Bestimmung, daß die „Einheit, welche in diesen Verhältnissen ist, etwas schlechthin ideelles, gedachtes“ bleibt und „die abstracte innhaltslose Macht überhaupt, ohne Weisheit“ ist. Das „Festseyn der Differenz“ ist konstitutiv, dadurch bleibt auch die Abhängigkeit von „der Zufälligkeit der reellen Dinge und der Willkühr“ erhalten. Dennoch: „das allgemeine, rechtliche dieser Verhältnisse wird real, physische Gewalt gegen die Besonderheit, welche negativ dagegen seyn will.“ (V 336) Dieser Umstand steht für die Realität der vorhin bezeichneten „Form der Sittlichkeit“. Das Recht ist nun also eine reale Macht, „das Personseyn wird im Volk respectirt“. Der „besitzende“, der sich „nicht in persönliche[r] Abhängigkeit“ befindet, ist also nicht mehr nur Besitzender, 29

Vgl. die ähnliche Argumentation in Der Geist des Christentums und sein Schicksal: „Vom Kriegsdienste waren alle frei, die ihr neugebautes Haus noch nicht bewohnt, vom neuangelegten Weinberg noch keine Traube gegessen, mit der Braut noch nicht Hochzeit gemacht hatten, – denn sie, denen ihr Leben jetzt bevorstand, hätten töricht gehandelt, für die Wirklichkeit die ganze Möglichkeit, die Bedingung des Lebens zu wagen; es ist widersprechend, für Eigentum und Existenz dies Eigentum und diese Existenz selbst aufs Spiel zu setzen; nur Heterogenes kann füreinander aufgeopfert werden, Eigentum und Existenz nur für Ehre, Freiheit oder Schönheit, für etwas Ewiges; aber an irgendeinem Ewigen hatten die Juden keinen Teil. Moses versiegelt seine Gesetzgebung mit einer orientalisch-schönen Drohung des Verlustes alles Genusses und alles Glückes; er brachte vor den knechtischen Geist die Vorstellung seiner selbst, den Schrecken vor der physischen Macht. Andere Reflexionen auf den menschlichen Geist, andere Arten des Bewußtseins kommen unter den Religionsgesetzen nicht vor“. (1/287f.) Der zweite Stand in Hegels System vermag es jedoch, an der absoluten Sittlichkeit zu partizipieren. Allerdings bedarf er hierfür der vermittelnden Anschauung durch das Handeln des ersten Standes.

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sondern auch „Bürger, bourgeois; und wird als allgemeines anerkannt“. (V 336) Anders als der erste Stand, wo „alle Besonderheit und Individualität vernichtet“ ist, kann der Stand der Rechtschaffenheit „um des Festseyns seines Besitzes willen, nur ein formell allgemeines; ein absolut einzelnes“ sein. (V 336) Hegel untersucht anschließend die „Arbeit“ des zweiten Standes, die hier aufgrund der Konstruktion als „allgemeine“ betrachtet werden muß. Hegel konstatiert also verschiedene Allgemeinheiten. Zunächst stellt er eine „allgemeine Abhängigkeit wegen der Befriedigung des physischen Bedürfnisses“ fest. (V 336) Somit hat er auch ein „allgemeine[s] System aller Bedürfnisse“, welches – in getreuer Wiederholung der Analysen des ersten Teils – den „Werth und […] Preis der Arbeit und des Products bestimmt“. (V 337) Hegel betont, daß sich die durch „besondere Noth“ und sonstige Ungewißheiten oder Unwägbarkeiten gegründete „Willkühr im Werthe“ durch eine weitere Allgemeinheitsstufe oder „Mitte“ „völlig“ aufhebt, nämlich durch „das Geld“, in welches sich Arbeit und ‚überflüssige‘ Produkte „unmittelbar umwandeln“ können. (V 337) Folglich ist „der Handelsstand […] der höchste Punct der Allgemeinheit in dem Austausch des Erwerbs; was er producirt, ist, daß er den im besondern vorhandenen Überfluß aufnimmt, und ihn dadurch zu einem allgemeinen macht, sowie das was er eintauscht, gleichfalls Geld, oder das allgemeine ist“.30 (V 337) Anschließend wird darauf verwiesen, wie die mit dem Austausch von Besitz und Übertragung von Eigentum entstehende und angerufene Idealität gesichert und „reell gesetzt“ wird (was sie im ersten Teil im Zusammenhang mit der Anerkennung noch nicht war): nämlich „dadurch daß die ganze Macht des Staats sich daran hängt“. (V 337) Hier spricht Hegel erstmals im Manuskript von der „Macht des Staats“ (überhaupt erstmals vom Staat).31 Durch ihn wird abgesichert, daß „Gerechtigkeit über dingliches Eigenthum“ vorhanden ist. (V 337) Damit wandelt sich auch die Rückwirkung auf mögliche Verletzungen des Rechts, welche in den ersten beiden Manuskriptteilen stets „persönlich“ waren und zu einer „Sache der Ehre und der ganzen Person wurde[n]“. (V 337) Nun verhält es sich – anders als in der natürlichen Potenz – so, daß „da die Indifferenz des Individuums hier die absolute Indifferenz das Volk ist, dieses aber nicht verletzt werden kann“, die Verletzung eines „Bürgers“ nicht mehr als „persönliche“ und Angriff aufs Ganze verstanden werden kann, sondern lediglich eine Bestimmtheit verletzt. (V 337) Deshalb darf die Umkehrung auch nicht mehr als Rache auftreten: „Die 30

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Vgl. JSE I, VI 324: „Diese mannichfaltigen Arbeiten der Bedürfnisse als Dinge müssen ebenso ihren Begriff, ihre Abstraction realisiren; ihr allgemeiner Begriff muß eben so ein Ding seyn wie sie, das aber als allgemeines alle vorstellt; das Geld ist dieser materielle existirende Begriff die Form der Einheit, oder der Möglichkeit aller Dinge des Bedürfnisses.“ Vgl. ebenso JSE III, 269: „[D]iese Bewegung – die reine, ist hier Gegenstand, und Thun – der Gegenstand selbst ist entzweyt in den besondern, Handelsartikel, und das abstracte, das Geld [am Rande: alle Bedürfnisse sind in diß Eine zusammengefaßt] – eine grosse Erfindung – das Ding des Bedürfnisses zu einem bloß vorgestellten, ungenießbaren geworden“. Vgl. JSE III, VIII 225: „[D]ieser Werth selbst als Ding ist das Geld.“ und VIII 270: „Der Werth ist klingende Müntze. – Es ist das formale Princip der Vernunft vorhanden. (Aber diß Geld, das die Bedeutung aller Bedürfnisse hat, ist selbst nur ein unmittelbares Ding)“. Jaeschke 2003, 153 bemerkt, daß der Begriff des Staates im Manuskript „geradezu provokativ“ fehle.

238

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Rache verwandelt sich auf diese Weise in Straffe; denn die Rache ist unbestimmt und gehört der Ehre und der Ganzheit an; sie wird hier vom Volke übernommen, denn an die Stelle des besondern beleidigten tritt die abstracte aber reale Allgemeinheit, nicht seine lebendige Allgemeinheit, die des Individuums ein.“ (V 338) Dieser Stelle kann man erneut entnehmen, daß Hegel „Volk“ und „Staat“ fast synonym verwendet und das Volk nicht primär durch Blutsbande, einheitliche Sprache o. ä. definiert ist.32 Die vom Volke übernommene Strafe – in dem hier beschriebenen Sinne – ist nur möglich, sofern es staatliche Institutionen gibt. Hegel nennt noch einige Charakteristika des Standes der Rechtschaffenheit, die an seine spöttelnden Bemerkungen über den „höchste[n] Schwung“ (V 331) der relativen Sittlichkeit erinnern: „Er ist weder einer Tugend noch der Tapferkeit fähig; denn jene ist eine freye Individualität; die Rechtschaffenheit ist in der Allgemeinheit ihres Standes ohne Individualität, und in der Besonderheit ihrer Verhältnisse, ohne Freyheit.“33 (V 338) So bringt er es nur dazu, einen Beitrag zur Bedürfnisbefriedigung des ersten Standes zu liefern, welcher aber (da er über Steuern erfolgt) „ohne Lebendigkeit“ ist, oder aber sporadisch Bedürftigen zu helfen, was von Hegel jedoch nur als „lebendige[s] Aufopfern ohne Allgemeinheit“ gewertet wird. (V 338) Seine eigentliche Erfüllung findet dieser Stand also gerade nicht in der Tätigkeit fürs Volk. Statt dessen gilt: Die „lebendige Totalität […] für die Rechtschaffenheit ist die Familie; oder die natürliche, und ein Zustand des Eigenthums und des Auskommens“.34 (V 338) Damit wird diesem zweiten Stand seine spezifische Sphäre zuerkannt; und immerhin ist ein Ziel erreicht: lebendige Totalität. Abschließend kennzeichnet Hegel noch den „Stand der rohen Sittlichkeit“, den „Bauernstand“. (V 338) Auch dieser Stand hat seine Stellung „im System der allgemeinen Abhängigkeit“ und produziert für die Befriedigung (nicht nur seiner eigenen) physischen Bedürfnisse. Seine „Arbeit und Erwerb“ werden als „eine grössere und umfassendere Totalität“ beschrieben. Hegel meint, daß die Bauern nicht mit der Herstellung einzelner, für isolierte Bedürfnisse gedachter Dinge zu tun haben, sondern ihre Arbeit lebendiger ist, weil sie „die Erde oder das Thier“ betrifft, welche selbst wiederum als „etwas lebendiges“ aufgefaßt werden, das schließlich „für sich selbst sich producirt“. (V 338) Die „rohe Sittlichkeit“ des Bauernstandes „kann nur im Zutrauen, oder gezwungen, für Vereinzelung des Thuns offen seyn“. (V 339) Immerhin zeichnet sich dieser Stand aber trotz seiner durch das „Zutrauen zu dem absoluten Stande“ ausgewiesenen Unselbständigkeit gegenüber dem zweiten Stand durch eine Befähigung zur Tätigkeit für das Volk aus: „Er ist um seiner Totalität willen auch der Tapferkeit fähig, und vermag in dieser Arbeit und in der Gefahr des Todes sich an den ersten Stand anzuschliessen.“ (V 339) 32

33 34

Vgl. Horstmann 1974, 223f., der mindestens zwei Bedeutungen des Staatsbegriffs konstatiert: „[E]inmal steht er für die Gesamtheit der politischen und gesellschaftlichen Organisation eines Volkes […], zum anderen steht er für das, was als Allgemeines gegenüber Besonderem auftritt […] und sich für das Besondere (Stände, Einzelinteressen) als Regierung formuliert.“ Vgl. die obige Kennzeichnung des 3. Standes als natürlich oder unfrei. Er sorgt deshalb vor allem für die Sicherung der „empirische[n] Totalität des ganzen Lebens“ und die „Erziehung der Kinder“. (V 338)

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

239

7.1.8. Aufgabe und Organisation der Regierung (Bewegung) Damit ist nach Hegels Aussage „das System der Sittlichkeit in seiner Ruhe“ dargestellt. (V 339) Nach seiner eigenen Ankündigung (V 327, Zeile 5ff.) fehlt nun noch, dieses System „in der Bewegung“ aufzuzeigen. Das ist – nebenbei – eine Forderung, die er bereits im Naturrechtsaufsatz aufgestellt hatte. Dort hatte er Fichtes Konsequenz gelobt, zugleich aber kritisiert, daß dieser es nur zu einer formalen Indifferenz bringe, zu einer „Ruhe ohne Bewegung“.35 Konsequent gelangt Hegel endlich also zur Darstellung der „Regierung“ und schließt damit das Manuskript ab. In diesem letzten Abschnitt soll „die absolute Bewegung, oder der Proceß des sittlichen Lebens“ gefaßt werden.36 (V 339) In einer sehr klaren Wendung formuliert Hegel die Aufgabe: „[…] zu erkennen wie das allgemeine real, oder in Händen von Individuen ist“. (V 339) Es geht hier nun auch um „Macht“. Nachdem Hegel zuvor die verschiedenen Stände als notwendige Gliederung der Gesellschaft beschrieben hatte, besteht er auch jetzt darauf, daß das „Auseinandertreten der Potenzen“ (V 340) zwar notwendig ist, es dennoch aber zugleich selbst als Totalität begriffen werden muß. Der volle Reichtum des Lebens ist nur über die eigenständigen Subsysteme zu gewährleisten. Nun bleibt noch zu klären, wie diese regiert werden und zwar so, „daß die Regierung wahrhafft Potenz gegen das besondere sey, daß die Individuen nothwendig im allgemeinen und sittlichen seyn“. (V 339f.) An dieser Stelle (V 340) führt Hegel den Begriff der „Constitution“ ein, der nicht sonderlich scharf von dem der „Verfassung“ geschieden wird.37 Formal teilt sich der Abschnitt zur Regierung in: „A. [Die absolute Regierung]“ und „B. Allgemeine Regierung“. Die Ausführungen zur „absoluten Regierung“ zielen noch überhaupt nicht auf irgendwelche speziellen Regierungsformen oder -einrichtungen, sondern zunächst nur darauf, daß die absolute Regierung keinem Stande angehören darf, „ungeachtet sie aus dem ersten hervorgegangen ist“. (vgl. V 345) Hegel reagiert damit auf das Problem, daß alle drei Stände in der Realität als in sich organisierte Totalitäten auch Partikularinteressen haben und somit „Individualität“ verkörpern. Hegels Konstruktionsgang verlangt aber, daß „die höchste Regierung“, welche die „absolute Erhaltung aller Stände“ gewährleistet, „die Indifferenz aller ist“. (V 341) Folglich darf 35

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Vgl. Naturrechtsaufsatz, IV 443: „In dem Systeme einer solchen Aeußerlichkeit – und wir beziehen uns hiebey auf die Fichtesche als die consequenteste Darstellung, die am wenigsten formal ist, sondern wirklich ein consequentes System versucht, das nicht der ihm fremden Sittlichkeit und Religion bedürfte, – kann, wie in allem von bedingtem zu bedingtem fortschreitenden, entweder kein unbedingtes aufgezeigt werden, oder wenn ein solches gesetzt wird, so ist es die formale Indifferenz, welche das bedingte differente ausser sich hat, Wesen ohne Form, Macht ohne Weisheit, Quantität ohne innre Qualität oder Unendlichkeit, Ruhe ohne Bewegung.“ (Hervorhebung von mir) Vgl. zum Prozeß (im Zusammenhang mit Ruhe und Bewegung) erneut Aristoteles, Physikvorlesung, Buch IV, Kap. 10–12. Vgl. Rosenzweigs oben zitierte Bemerkung zur Beziehung von Staatsverfassung und Regierung und den wechselnden Wortbedeutungen. Hegel gibt hier zugleich einen Hinweis auf das Zusammenspiel der verschiedenen Totalitäten: „Eine wahrhaffte sittliche Totalität muß in diese Trennung gegangen seyn, und der Begriff der Regierung sich als Weisheit der Verfassung darstellen; so daß die Form und das Bewußtseyn ebenso reell ist“. (V 340)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

sie selbst nicht einem Stande angehören. Hegels offerierte Lösung ist erstaunlich und scheint sehr unmodern: „Sie muß also aus denjenigen bestehen, welche das reale Seyn in einem Stande gleichsam aufgegeben haben und schlechthin im idealen leben, die Alten und die Priester, welche beyde eigentlich Eines sind.“38 (V 341) So merkwürdig diese Lösung wirkt, so wird sie von Hegel doch immerhin begründet: „An das höchste indifferente, an Gott und die Natur, an die Priester und an die Alten kann allein die Erhaltung des Ganzen geknüpft werden; denn jede andere Form der Realität ist in der Differenz“. (V 342) Hegel folgt also streng seinem Konstruktionsgang; er gibt sich große Mühe, konsequent zu sein. Hegel will nachweisen, daß die „Natur […] sich hier als Werkzeug“ verhält. „[S]ie ist das vermittelnde der bestimmten Idee des sittlichen, und ihrer äussern Erscheinung“. (V 342) Über die je verschiedene Leib-Seele-Verbindung „in der Natur“ und „im Sittlichen“ (V 342f.) gelangt er zu der Analogie: „So ist das Alter der Leib der absoluten Indifferenz gegen alle Stände“. (V 343) Wie große Schwierigkeiten Hegel mit diesen Zuordnungen dennoch hat, ersieht man daran, „daß der wahrhaffte Priester auch des äussern Alters als seines Leibes bedarf“; ausdrücklich kann also ein noch junger Priester im genannten Sinne nicht „wahrhafft“ sein.39 (V 343)

7.1.9. Aufgaben der absoluten Regierung Hegel arbeitet hierauf wieder mit dem Begriffspaar „Ruhe“ und „Bewegung“. Hatte er zuvor angekündigt, daß nach der Darstellung des „Systems der Sittlichkeit in seiner Ruhe“ (nämlich der Darstellung des Verhältnisses der Stände) nun eigentlich „die absolute Bewegung oder der Prozeß des sittlichen Lebens“ selbst aufgezeigt werden solle, wird nun die „höchste Regierung“ so gekennzeichnet, daß in ihr „schlechthin die Bewahrung [des] absoluten Verhältnisses des Ganzen niedergelegt“ ist: „[S]ie ist die absolute Ruhe in der unendlichen Bewegung desselben, und in Beziehung auf dieselbe“. (V 343) Ist sie also ein statisches Element innerhalb einer pulsierenden Bewegung der Gesellschaft? Hegel scheint etwas anderes zu meinen: Er bestimmt die Aufgaben jener „Regierung“. Sie soll die „Lebendigkeit des Ganzen“, auch den „Unterschied der Stände“ erhalten. (V 343) Indem sie überhaupt Regierung ist, „ist sie in der Entgegensetzung, und Erscheinung“, „negativ nach ihrem Thun“. (V 344) Hegel fragt, wie ihr „negatives Geschäffte“ beschaffen ist. Keinesfalls soll sie „bloß beaufsichtigend und negativ im Verbieten, durch ein Veto“ sich verhalten. (V 344) Vielmehr übt sie eine aktive „Thätigkeit“ aus: „[S]ie ist also gesetzgebend, anordnend, wo sich ein Verhältniß entwickelt, das sich für sich organisiren wollte, oder wo eine vorhin unbedeutende Seite nach und nach in ihrer bisherigen Unbeschräncktheit sich entwickelt, und mächtig zu werden anfängt.“ (V 344) Die Gesetzgebung ist also eine der vordringlichen Aufgaben. Die absolute Regierung soll dann eingreifen, wenn die sich augenscheinlich nicht von allein 38

39

Vgl. Lukács 1948, 495f. und Rosenzweig 1920, Bd. 1, 143 sowie die folgenden Hinweise in der Fußnote 45. Vgl. zur Untauglichkeit junger Menschen für solcherart Aufgaben auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, Kap. 1, 1095 a bzw. 1983a, 7.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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herstellende Harmonie der Teile des Ganzen gefährdet ist. „Vornehmlich hat sie in allen Fällen zu entscheiden [in denen] verschiedene Rechte von Systemen in Collision kommen, und die Gegenwart sie in ihrem positiven Bestehen unmöglich macht.“ (V 344) Als gesetzgebend ist sie demnach zugleich vermittelnd zwischen disparaten Interessen. Über den Ständen stehend ist diese Regierung die „absolute Macht“, „absolute Potenz für alle Stände“; „ihre Macht[,] das wodurch sie Potenz ist, ist kein aüsseres“, beruht also nicht darauf, daß sie „eine Armee oder was es sonst wäre, zu Vollstreckern ihrer Anordnungen hätte“.40 (V 345) Die Macht beruht eben gerade nicht auf physischer Stärke, sondern geistiger Zwingkraft.41 Die absolute Regierung hat es nicht mit partikularen Zwecken zu tun, sie darf sich nicht in zeitliche Interessenkonflikte hineinziehen lassen, sondern soll über die Erhaltung des Ganzen wachen, sie „ist absolut nur Allgemeinheit gegen besonderes; und als diß absolute ideelle allgemeine, wogegen alles andere ein besonderes, ist sie die Erscheinung Gottes“. (V 345) Damit ist der ausgezeichnete Status genannt und laut Hegel auch klar: „[A]lles menschliche und alle andere Sanction hört hier auf.“ (V 346) Hegel verwehrt sich an dieser Stelle gegen eine mögliche Wahl dieser Regierung. Er erklärt schlichtweg: „[D]ie absolute Regierung ist göttlich, in sich sanctionirt, und nicht gemacht, […] schlechthin das Allgemeine“. (V 346) Hegels Beschreibung der absoluten Regierung läßt einige Fragen offen.42 Es fällt auf, daß er mehrfach metaphorisch spricht, manchmal fast mystisch verklärend formuliert. Wie etwa soll man verstehen, daß die absolute Regierung „nicht gemacht“ ist, statt 40

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Vgl. – freilich in einem anderen Zusammenhang – Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch X, Kap. 6: „[N]icht auf äußerer Macht beruht ethische und geistige Höhe, von denen die Aktivität wertvollen Handelns ausgeht“. (1176b bzw. 1983a, 229) Vgl. JSE III, VIII 258. So wie die absolute Regierung den Erhalt des Ganzen ohne reale physische Gewalt sicherstellt, so haben die „großen Menschen“, die freilich anders als im Reinschriftmanuskript selbst als große Machtmenschen verstanden werden (und anders als die Alten und Priester auch Leidenschaft mitbringen müssen), durch ihren gewaltigen Willen und ihre Ausstrahlung die Fähigkeit, einen Staat zu gründen: „So sind alle Staaten gestiftet worden, durch die erhabne Gewalt grosser Menschen – nicht physische Stärke, denn viele sind physisch stärker, als Einer.“ Ebd.: „Diß ist das voraus des grossen Menschen, den absoluten Willen zu wissen, auszusprechen, es sammeln sich alle um sein Panier, er ist ihr Gott.“ Absolute Regierung und Hegels „grosser Mensch“ sind nicht identisch. Wichtig ist aber in beiden Fällen Hegels Hinweis, daß Macht und Stärke sich nicht der bloßen Physis verdanken. Vgl. auch Hegels Bemerkung in den Entwürfen zur Verfassungsschrift, daß „die Stärke eines Landes weder in der Menge seiner Einwohner und Krieger, noch seiner Fruchtbarkeit, noch seiner Größe besteht, sondern allein in der Art, wie durch vernünftige Verbindung der Teile zu einer Staatsgewalt alles dies zum großen Zweck“ gebraucht werden kann. (1/503) Vgl. die Hinweise bei Horstmann 1974, 222–225. Für Hegel stelle sich ein generelles systematisches Problem, dessen Lösung später den Wandel seiner Konzeption vom Staat bedinge. Im Manuskript sei die Unterscheidung von absoluter und allgemeiner Regierung noch die versuchte Lösung für das allgemeinere Problem, nämlich „das Problem der Etablierung einer Staatskonzeption im Rahmen einer Theorie, die mit dem Begriff der absoluten Sittlichkeit arbeitet, ohne einerseits die Identität zwischen Staat und absoluter Sittlichkeit behaupten zu können, andererseits aber genötigt ist, eben diese Identität zu beanspruchen, um mit Hilfe ihrer den Nachweis der spezifischen Differenz des Staates von anderen Formen der Sittlichkeit erbringen zu können“. (223)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

dessen im Heiligtum des Allerhöchsten mit ihm Rat pflegt und seine Offenbarungen erhält? Es kann sich dann eigentlich nicht mehr um eine reale, tatsächliche Regierung handeln, denn eine solche wird auch zu jener Zeit bereits „gemacht“, mithin „ernannt“, weitervererbt oder „gewählt“; jedenfalls hört da nicht „alles menschliche“ auf. Das erbliche Königtum kann kaum gemeint sein, denn darin sind die Alten und Priester nicht Angehörige einer absoluten Regierung.43 Was meint dann aber die „absolute Regierung“, wo ist ihr realer Ort?44 Oder ist vielleicht gar keine Regierungsinstanz im herkömmlichen Sinne gemeint? Andererseits benennt Hegel ihre Aufgaben, und er hätte sich kaum solcher Mühe unterzogen, über ihre Besetzung derart genaue und komplizierte Vorgaben zu machen, wenn die absolute Regierung nicht selbst eine reale Institution sein sollte. Die vorliegende Textfassung gewährt auf all diese Fragen keine vollständig gesicherte Antwort.45 Hegel sieht sich wohl auch nicht verpflichtet, in seinem Manu43

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Rosenzweig, der ein historisches Pendant sucht, behauptet dagegen, daß unter „der ‚absoluten Regierung‘ das Königtum“ zu verstehen sei, während die „allgemeine Regierung“ Hegels „Idealbildnis der Beamtenschaft“ darstelle. (1920, Bd. 1, 147) Scheit 1973, 114 macht folgenden Vorschlag: Hegel gehe es darum, „für die empirische Anschauung das Volk als lebendiges ganzes zu symbolisieren“. Auch die Spitze müsse göttlich sein: „Die Spitze und den eigentlichen Repräsentanten des Volksgeistes bildet nicht mehr der ganze Stand der Freien und der Staatsmänner; die Spitze des Volkes bildet die ‚absolute Regierung‘, die deshalb absolut heißt, weil sie dem ständisch gegliederten Volk ganz entnommen und damit von ihm nicht abhängig ist.“ Letzteres stimmt freilich kaum, auch die Alten und Priester müssen versorgt werden. In der Forschungsliteratur konnte bislang nicht geklärt werden, welche reale oder ideale politische Institution die absolute Regierung darstellen soll; es gibt natürlich mehrere Vorschläge: Für Rosenkranz (1844, 129) entspricht die absolute Regierung der Gesetzgebung (dazu paßt vielleicht Hegels Formulierung V 341). Haym (1857, 166) erblickt in ihr ein am Idealstaat Platons orientiertes gesetzgebendes Staatsoberhaupt. Rosenzweig betont den Unterschied zu Platon: „Bei Platon soll ein hoher sittlicher Wille die schlechte Natürlichkeit des Lebens beherrschen, ihr das Gesetz auflegen; bei Hegel erhebt sich aus der vorhandenen und ‚vorausgesetzten‘ hohen Sittlichkeit des Lebens ein rein natürliches Wissen heraus, das von Natur fähig ist, jene Sittlichkeit des vorhandenen Lebens zu erkennen […] und so über ihre Erhaltung zu wachen. Die platonischen Philosophen lassen sich herab, einer schlimmen Welt das gute Gesetz zu geben, Hegels Greise erhalten und entwickeln die beste Verfassung. Damit aber ordnet sich auch dieser scheinbar verstiegen zeitfremde Gedanke ein in den Zusammenhang der Zeit.“ Es ist der Hegelsche „Lösungsversuch für eine Aufgabe, an der sich die Staatslehre des ganzen letzten Jahrzehnts in Deutschland wie in Frankreich mühte: durch die Verfassung die Verfassung zu schützen und zu entwickeln – zu den verfassungsmäßigen Gewalten ein ‚pouvoir constituant‘ zu fügen.“ (1920, Bd. 1, 143) Rosenzweig verweist auch auf das Reichskammergericht (1920, Bd. 1, 143f.). Lukács 1948, 495 sieht in den Alten und Priestern „eine mystifizierte Nachbildung des Rates der Alten im Directoire“ und kritisiert Hegel dafür, daß er das Alter zu einem Kriterium für die Aufhebung von Besonderem und Allgemeinen hochstilisiert, indem Hegel „eine einfache Naturtatsache in einer gedanklich ganz unerlaubten Weise mit der Weihe einer tiefen Mystik umgibt.“ (1948, 496) Göhler meint: „Der Bezugspunkt eines legislativen Staatsoberhaupts bleibt vage, die Reduktion auf eine verfassungserhaltende und -entwickelnde Institution nach französischem Vorbild ein möglicher sachlicher Anknüpfungspunkt, mehr nicht. Immerhin läßt sich die Möglichkeit einer Umschreibung zeitgenössischer Sachverhalte nicht ausschließen, ebensowenig allerdings wie ein sehr inhaltlicher und konkreter Rückbezug zur Antike. Insgesamt läßt sich weder einem antiken noch einem modernen Bezugspunkt eine dominierende Relevanz

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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skript reale politisch-praktische Institutionen zu beschreiben. Er hat sich eine andere Aufgabe gestellt, und die theoretische Stimmigkeit von Ausgangspunkt und Resultat seines Textes wird für ihn einzig dadurch gewährleistet, daß sich die anfangs entworfene philosophische Konstruktion bis zum Ende bewährt. Gerade im dritten Teil ist zu spüren, daß er zum logisch-spekulativen Duktus der „Einleitung“ zurückkehrt.46 Die Kritik an Fichtes Ephorat (vgl. V 344f.) verdeutlicht, daß Hegel die absolute Regierung auf ihre spezifische Aufgabe, die „oberste Aufsicht“ auf den Erhalt des Ganzen, und ihr Dasein als „höchste Regierung“ begrenzt. Sie soll die Verkörperung des Allgemeinen, des Ganzen, der absoluten Sittlichkeit sein, nichts Partikulares und Besonderes an sich haben (deshalb der Trick mit den Alten und Priestern, die nur noch fürs Allgemeine lebten). Sie darf nicht als besondere agieren, sich nicht ins Einzelne verstricken und damit ihrer eigentlichen Funktion (der „Bewahrung [des] absoluten Verhältnisses des Ganzen“ V 343) verlustig gehen. Fichtes Ephorat sei dagegen eine Instanz zur Beaufsichtigung der anderen Regierungsgewalten, welche selbst zwar ohne richterliche oder exekutive Macht bleibe, sich dann aber doch in die Einzelheiten einschalte, darin verliere und andere Instanzen für ihr Wirksamwerden erst einschalten müsse (etwa die Einberufung der Versammlung der Gemeine).47 Für Hegel stellt dies eine „rohe Vermischung des allgemeinen und einzelnen“ dar, er spottet über eine derartige Zentralgewalt: „[S]ie soll eine Macht seyn über alles, also gebietend, übermächtig wirken; und zugleich als Macht doch ein Nichts seyn“. (V 344f.) Hegels eigener Vorschlag läuft dagegen auf das oben bereits Dargestellte hinaus: Die absolute Regierung

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zuweisen.“ (Göhler 1974, 409f., Anm. 102) Vgl. außerdem Oliver Lembcke, „Institutionalisierung eines pouvoir neutre? Oder: Wie Hegel aus dem Klumpen einen Knoten machte“, in: Michael Henkel (Hg.), Staat, Politik und Recht beim frühen Hegel, Berlin 2002, 85–121. Vgl. exemplarisch die vielfachen Subsumtionen zur Darstellung der allgemeinen Regierung (V 347f.). Dieser am Text zu belegende Sachverhalt steht übrigens in gewisser Spannung zu Tredes These der vollkommenen Entsprechung der logischen Konzeptionen von System der Sittlichkeit und früher Jenenser Logik und seiner Behauptung, die Subsumtionen würden im dritten Teil eigentlich keinen Ort mehr haben. Vgl. Trede 1973, 178. Rosenzweig betont weitere Differenzen: Hegels absolute Regierung erhalte die Verfassung, indem sie dieselbe erneuere. „Da wird nun ihr Gegensatz gegen das Fichtesche Ephorat – und zugleich der Unterschied Fichtescher und Hegelscher Staatsanschauung – ganz deutlich: Das Fichtesche Ephorat ist die Macht, die von den augenblicklichen Machthabern an das im souveränen Volk wirkende ewige Vernunftgesetz appelliert; Hegels absolute Regierung verhilft gerade umgekehrt der geschichtlichen Bewegung, der ‚Gegenwart‘, zu ihrem Recht gegen die im Schoße der sittlichen Vernunft ruhenden Formen der ständischen Staatsordnung.“ Während Fichtes Ephorat nur in besonderen Situationen aktiv wird, sei Hegels absolute Regierung „in jedem Augenblick wirksam; ununterbrochen fließt von ihr das Leben des Staates aus“. (1920, Bd. 1, 144f.) Rosenzweig unterstreicht erneut die Quasinatürlichkeit des Hegelschen Staats. Es ist zu bezweifeln, ob er damit wirklich Hegels Intention genau trifft, da dieser ja gerade im dritten Teil vielfach betont, daß der Staat „nicht die Form von Natur behalten“ dürfe, sondern Intelligenz voraussetze. Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 145: „Aus der sittlichen Ordnung des ruhenden Lebens der Stände im Staat hebt sich die natürliche Spitze, durch die das Ganze erst ‚Realität‘ bekommt. Der Staat, im Innern sittliche Ordnung, wird als Ganzes in der Welt ein Naturwesen mit der frag- und antwortlosen Gewaltsamkeit eines solchen: es ist trotz aller metaphysischen Beleuchtungskünste doch der Staat der Flugschrift [Verfassungsschrift], der Staat als Macht.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

muß die Stände voraussetzen.48 Ihre Funktion ist primär, diese Staatsverfassung, also die reale Gliederung zu erhalten. Sie setzt sich gegen diese besonderen Stände als das Allgemeine und ist auch nur so begründet und legitimiert (d. h. sie stützt sich nicht auf militärische oder sonstige Machtmittel): Ihre Autorität hat sie im Grunde dadurch, daß niemand beanspruchen kann, ihr gegenüber als ein noch Allgemeineres (und sie damit zu einem bloß Besonderen machend) auftreten könnte; ihre Macht kann in diesem Sinne nicht abgeleitet werden. Sie ist Macht dadurch, daß sie das Bewußtsein der absoluten Sittlichkeit verkörpert und darin ‚Gott nah ist‘. Die absolute Regierung darf sich deshalb weder auf einzelne Regierungsgeschäfte festlegen lassen, weil es sonst zu einer ungewollten Vermischung von Allgemeinem und Einzelnen käme, noch die Funktionen der „allgemeinen Regierung“ übernehmen, da sonst die lebendige Gliederung bedroht wäre und eine unnötige, freiheitsgefährdende Überreglementierung einsetzen könnte (statt der Gewaltenteilung würde es nur noch eine oberste und allmächtige Macht geben).49 Zugleich legt Hegel Wert auf die Feststellung, daß die absolute Regierung auch wirklich die absolute Macht im Staat sei (vgl. V 345); ihre Entscheidungen sind im Grunde unanfechtbar und politisch nicht mehr hinterfragbar. Hierin liegt vermutlich der Grund für die Besetzung der absoluten Regierung, die nicht nach menschlicher freier Willkür erfolgen darf: Denn die Alten und Priester werden hierzu nicht gewählt oder bestimmt oder durch irgendeine sonstige Instanz eingesetzt, sondern einzig die Natur, das fortgeschrittene Lebensalter bestimmt sie für dieses Amt (freilich ist auch die ‚richtige‘ Standeszugehörigkeit – Hegel sagt, die absolute Regierung rekrutiere sich aus dem ersten Stand – erforderlich). Sicher kann die von Hegel dargebotene Lösung, daß also allein das Alter und die Herkunft für eine bestmögliche Lösung der recht anspruchsvol48

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Sonst droht Gefahr: „[S]etzt sie ihn [den Unterschied der Stände] nicht voraus, so fällt die ganze Macht der Realität in einen Klumpen, er möchte sonst in sich sich noch so verzweigen, und die Roheit dieses Klumpens würde ihre ebenso rohe und weisheitslose Macht ungetheilt in ihrer Spitze haben“. (V 345) In diesem Falle würden also die notwendigen Differenzen fehlen. Hegel erwähnt an einer späteren Stelle im Manuskript (im Zusammenhang mit dem System der Gerechtigkeit) ausdrücklich, daß die absolute Regierung den zweiten und dritten Stand in Angelegenheiten des bürgerlichen Rechts (nicht des Strafrechts!) „sich hierüber selbst überlassen“ könnte (V 358); die Rechtspflege im Zivilrecht wird also von den ständischen Organisationen selbst wahrgenommen. Hegel legt größten Wert auf die Selbständigkeit der einzelnen „Potenzen“. Vgl. hierzu auch Hegels Verfassungsschrift: „[S]o kan eine Staatsgewalt ohne Furcht und Eifersucht den untergeordneten Systemen und Körpern frey einen grossen Theil der Verhältnisse, die in der Gesellschaft entstehen, und ihre Erhaltung nach den Gesetzen überlassen; und jeder Stand, Stadt, Dorf Gemeine u.s.w. kann der Freyheit geniessen, dasjenige, was in ihrem Bezirke liegt, selbst zu thun und auszuführen“. (V 173) In der Verfassungsschrift wird klar, daß sich Hegel gegen einen bestimmten Theorietyp stellt: „In den neuen […] Theorieen aber ist es das Grundvorurtheil, daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mittheilt; von der obersten Staatsgewalt sollen alle Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschaft mit sich bringt, ausgehen, regulirt, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden. Die pedantische Sucht, alles Detail zu bestimmen, die unfreye Eifersucht, auf eigenes Anordnen und Verwalten eines Standes, Korporation u.s.w. diese unedle Mäckeley alles eigenen Thuns der Staatsbürger, das nicht auf die Staatsgewalt, sondern nur irgend eine allgemeine Beziehung hätte, ist in das Gewand von Vernunftgrundsätzen gekleidet worden“. (V 174)

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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len Aufgaben stehen sollen, den Ansprüchen des modernen, selbstbewußten Menschen nicht genügen. Hegel sucht hier ganz offensichtlich vorrangig nach einem möglichen Ruhepol, der über allen besonderen Interessen steht, und schlägt daher vorerst diese Lösung vor. Die Differenzierung zwischen einer Regierungsgewalt, die über allen anderen steht, und einer Regierungsgewalt, die sich der einzelnen konkreten Regierungsgeschäfte anzunehmen hat, hat Hegel übrigens fortan beibehalten, wenngleich er sie alsbald modifizierte: Schon in den Jenaer Manuskripten zur Realphilosophie wird hierfür auf die fürstliche Gewalt verwiesen, nimmt also der Fürst jene Rolle ein, die im System der Sittlichkeit die Alten und die Priester auszufüllen hatten.50

7.1.10. Allgemeine Regierung, die drei Staatsgewalten Hegel führt in genauer Abgrenzung zur „absoluten Regierung“ schließlich die „allgemeine Regierung“ ein. Sie wird so bestimmt, daß ihr nicht „das absolute bleibende“, sondern nur „eine Bestimmtheit des Volkes für diese Zeit“ zukommen kann. (V 346) Also hat sie auf konkrete, zeitgebundene Erfordernisse zu reagieren: „[S]ie sorgt für das Bedürfniß, welches ein allgemeines ist, und für dasselbe im allgemeinen.“ (V 347) Bevor Hegel die genauere Einteilung der allgemeinen Regierung motiviert, erläutert er in einem rückblickenden Vergleich, daß das „besondere“ in verschiedener Weise durch das Allgemeine subsumiert werden kann. Am zweiten Manuskriptteil war zu ersehen, daß dasjenige, „was schlechthin als besonderes gesetzt ist, und die Identität nicht herausgebähren kann, […] nicht absoluter Begriff, Intelligenz ist“ und „nur durch Vernichtung eins mit dem Allgemeinen werden“ kann. (V 347) Nun hat das „besondere“ einen anderen Status, ist „selbst als absoluter Begriff, und als organische Totalität als Volk“. (V 347) Die Weise seiner Subsumtion durch das Allgemeine ist nicht mehr „auf Vernichtung gehend“, sondern eine „mannichfaltige“ Bewegung, nämlich die Regierung mit ihren „verschiedenen Staatsgewalten“. (V 347f.) Hegel unterscheidet in Anlehnung an Kant drei Staatsgewalten, die er jedoch nur als Momente sieht und bezeichnet sie folgendermaßen: „[…] das Setzen des allgemeinen als gesetzgebende Gewalt; das ideelle Subsumiren, als richterliche überhaupt, Gerechtigkeit; das reelle als ausübende.“ (V 348) Wie wichtig Hegel die Überlegung ist, daß diese drei Staatsgewalten – isoliert genommen – nur „Abstractionen“ sind, ersieht man an der weiteren Bestimmung ihrer Tätigkeiten: „[G]esetzgeben, urtheilen und ausführen sind etwas völlig formelles, leeres, innhaltsloses. Ein Innhalt macht sie reell“. (V 348) Auch hier ist der Formalismusvorwurf gegen die Transzendentalphilosophie indirekt artikuliert. In Wirklichkeit nämlich, so Hegel, sind die drei Staatsgewalten immer schon vereinigt: „Jede reale oder lebendige Bewegung ist eine Identität dieser drey Momente, und in jedem Act der Regierung sind alle drey vereinigt“. (V 348) Für sich „constituirte gewaltlose Gewalten“ (oder „Abstractionen“) – die laut Hegel „allerdings Realität erhalten“ können – hängen letztlich doch immer „von der ausübenden Gewalt ab“. Es gibt also keine Gewalt ohne Gewalt, und „die erste Aufgabe“ bleibt, „sie als Regierung zu erkennen“. (V 348)

50

Vgl. Lembcke 2002.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Hegel erläutert anschließend, wie eine „organische Bewegung […] erkannt werden“ muß. (V 348f.)51 Dabei stellt sich heraus, daß die zu treffenden Unterscheidungen „durchaus formal“ sind, die festen Gegensätze oder behelfsmäßigen Trennungen also „ausser dem organischen selbst“ und nur „in der Reflexion über die Bewegung“ sind. (V 349) Die Subsumtionsabfolgen erweisen sich hier eindeutig als ‚künstliche‘ Hilfsmittel zur Erfassung komplexer organischer Strukturen. Hegel betont, daß die nun behandelten Momente der Bewegung bereits für sich organische Systeme bilden, obgleich sie nicht völlig autark sind, sondern als Momente zusammengehören: „[J]ene Momente müssen, daß sie Systeme seyn, die Differenz ganz von aussen, in der Reflexion haben, an sich aber die absolute Identität in sich selbst, nicht so daß diese als solche, sondern nur als Form über ihnen schwebte.“ (V 349) Hegel nennt dann zwei „System[e] der Bewegung in der Totalität“, wovon das zweite „ein gedoppeltes“ ist. (V 350) Im Folgenden unterscheidet er aber schließlich – durch Großbuchstaben gekennzeichnet – dann doch drei Systeme der Regierung (wobei das zweite und dritte als die Doppelungen des ursprünglich zweiten verstanden werden können). Das erste „System der Regierung“, das Hegel selbst in der Überschrift lediglich mit „A.“ bezeichnet, enthält eine Fülle von Gesichtspunkten, die Hegel fortan beibehielt und die später unter der Bezeichnung „System des Bedürfnisses“ weitreichende Bedeutung erfuhren.52 Auch hier findet sich bereits diese Wortverbindung, und es ist unübersehbar, wie in diesem Abschnitt Hegels umfangreiche Lektüreerfahrungen aus der politischen Ökonomie zum Tragen kommen.53

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Vgl. zur Figur des Organischen in Hegels Philosophie die Studie von Wolff 1984. Die von Lasson für den gesamten Abschnitt „A.“ eingesetzte Überschrift „System des Bedürfnisses“ (Hegel 1923, 488) bleibt etwas problematisch, weil Hegel hier nicht vorrangig dieses ökonomische System behandelt (es also nicht zum eigentlichen Gegenstand macht), sondern vielmehr fragt, wie sich die Regierung zu den Gleichgewichtsstörungen (und Fehlentwicklungen) dieses Systems zu verhalten habe. D. h. hier wird bereits die notwendige staatliche Reaktion auf dieses System des Bedürfnisses behandelt. Vgl. neben Lukács 1948 exemplarisch Manfred Riedel, „Die Rezeption der Nationalökonomie“, in: Riedel 1982, 116–139 und „Der Begriff der ‚Bürgerlichen Gesellschaft‘“, in: Riedel 1982, 139– 169. Riedel weist darauf hin, daß die Nationalökonomie als die Wissenschaft einer sich neu formierenden bürgerlichen Gesellschaft zu den bevorzugten Gegenständen, deren Popularisierung sich die sogenannten Popularphilosophen wie Garve, Schlosser, Abbt, Iselin zum Ziel gesetzt hätten, gehört habe. Durch ihre Vermittlung erst habe Hegel die Werke von Steuart, Smith, Ferguson und Hume kennengelernt. Von Rosenkranz (1844, 86) wissen wir, daß Hegel im Frühjahr 1799 James Steuarts Inquiry into the Principles of Political Economy (1767) mit einem Kommentar zu der deutschen Ausgabe von 1769 versehen hatte. Spätestens in Jena hat Hegel die Theorien von Adam Smith kennengelernt. Ob Hegel Smith’s Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) tatsächlich in der Übersetzung von Christian Garve (Breslau 1794–96) gelesen hat, wie von Riedel angenommen, ist nicht gesichert; in den Anmerkungen der Herausgeber zu den Jenaer Systementwürfen I wird (VI 384f.) darauf verwiesen, daß sich in Hegels Bibliothek die englische Ausgabe (Basel 1791) befand, auf deren ersten Band sich Hegel in seinem Entwurf zur Geistesphilosophie 1803/04 deutlich beziehe. Vgl. auch JSE I, VI 323 und ebd. die Randbemerkung mit dem Verweis auf Smith. Fergusons Essay on the History of Civil Society erschien 1767.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

247

7.1.11. System des Bedürfnisses Zunächst wird die „allgemein gegenseitige physische Abhängigkeit voneinander“ analysiert und als ein System begriffen; Hegel nennt es „System des Bedürfnisses“. (V 350) Die Abhängigkeit ist wörtlich zu nehmen, es gibt in dieser Hinsicht keinerlei Selbständigkeit: „[K]einer ist für die Totalität seines Bedürfnisses für sich selbst“. Vielmehr herrscht Unsicherheit, ob alle Bedürfnisse befriedigt werden können. Arbeit allein gewährt diesbezüglich keine Sicherheit für den einzelnen, weil die tatsächlichen Verhältnisse viel komplizierter sind. Die Verflechtungen erscheinen dem einzelnen als „eine fremde Macht, über welche er nichts vermag“ und von der allein „es abhängt, ob der Überfluß, den er besitzt,“ auf dem Markt genug einbringt, um alle seine Bedürfnisse befriedigen zu können. (V 350) Wie von Hegel auch schon an anderen Stellen des Manuskripts vermerkt, ist der „Werth“ des Überflusses „wandelbar“ und abhängig „vom Ganzen der Bedürfnisse und vom Ganzen des Überflusses“. Dieses Ganze ist aber „eine wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht“. Als Begründung fügt Hegel an, daß sie einerseits „eine Summe unendlich vieler Einzelnheit[en]“ ist, andererseits „aus unendlich vielen Qualitäten zusammengesetzt ist“. (V 350) Deshalb ist es schwierig, genaue Voraussagen zu geben; die „Wechselwirkung des einzelnen auf das Ganze“ und umgekehrt wird beschrieben als „ein beständig auf und niedersteigendes Wogen“. (V 350) Das große Problem ist hier also die Unsicherheit des einzelnen gegenüber diesen Prozessen: Er kann, obwohl er arbeitet, durch seine eigene Arbeit allein nicht sicherstellen, daß seine Bedürfnisse befriedigt werden. Die neuen Abhängigkeiten verändern damit den zu Beginn des Manuskripts beschriebenen Verlauf des Arbeitens, wo es nach dem aufgeschobenen Genuß letztlich doch kontinuierlich zur zeitlich verschobenen Bedürfnisbefriedigung kam. Jetzt aber lauern ganz andere Risiken: Trotz harter Arbeit kann man leer ausgehen. In den Jenaer Systementwürfen I (also im Entwurf der Geistesphilosophie 1803/04) wird es heißen: „[D]er Zusammenhang der einzelnen Art von Arbeit mit der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse [wird] ganz unübersehbar, und eine blinde Abhängigkeit, so daß eine entfernte Operation oft die Arbeit einer ganzen Klasse von Menschen, die ihre Bedürfnisse damit befriedigte, plötzlich hemmt, überflüssig und unbrauchbar macht“.54 Als erstes Fazit faßt Hegel analog in seinem Reinschriftmanuskript zusammen: „In diesem System erscheint also das regierende, als das bewußtlose blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen.“ (V 351) Diese Gefüge entfaltet eine immense Sachgewalt, der man sich nicht entziehen kann. Sogleich formuliert Hegel die entsprechende Aufgabe: „Aber dieses bewußtlosen blinden Schicksals muß sich das Allgemeine bemächtigen und eine Regierung werden können.“55 Und plötzlich stellt sich heraus, das jenes Ganze, welches zuvor aus der Perspektive des einzelnen als 54 55

JSE I, VI 324. Vgl. JSE I, VI 324: „Das Bedürfniß und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben bildet so für sich in einem grossen Volk ein ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein sich in sich bewegendes Leben des todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

„wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht“ charakterisiert worden war (vgl. V 350), gar nicht mehr „ausser der Möglichkeit des Erkennens“ liegt. (V 351) Zwar ist die „Möglichkeit des Erkennens“ auch jetzt in Beziehung auf die unendlichen Bedürfnisse „nur des Grades fähig“. Allerdings ist ein wesentlicher Aspekt der Beziehung von Überfluß und Bedürfnis ohne alle Einschränkung ganz unbezweifelbar erkennbar: „[O]b ein Mensch sich davon ernähren kann“ und ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. (V 351) Hegel gibt also konkrete Kriterien an und erkennt auch bereits die Relativität des Existenzminimums: „[W]as ein Mensch nothwendig braucht“, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nicht nur das je nach verschiedenem Klima zum rein physischen Überleben Notwendige ist gemeint, sondern auch soziale Faktoren spielen mit: „[W]as im Durchschnitte in einem Volke für die Existenz für nothwendig erachtet wird,“ muß ebenso in die Bestimmung des Notwendigen (des Existenzminimums) einfließen. (V 351) Ich hatte bereits in der Einleitung auf Hegels Beschäftigung nicht nur mit der Nationalökonomie, sondern auch mit den gravierenden sozialen und ökonomischen Problemen Englands, mit der Geschichte der amerikanischen Revolution,56 mit der Reform des preußischen Landrechts, mit Fragen des Strafvollzugs usw. hingewiesen.57 Ist auch der Kommentar zu Steuarts Inquiry into the Principles of Political Economy (London 1767) verlorengegangen, so sieht man hier im System der Sittlichkeit doch deutliche Spuren dieser Lektüre.58 So hatte, um ein Beispiel zu nennen, auch Steuart gefordert, dem Arbeiter das ‚physical necessary‘ zu sichern und diese Aufgabe der Regierung, dem Staatsmann übertragen.59

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Vgl. auch die Nachwirkungen in der Cartschrift, 1/258. Vgl. z. B. in den Fragmenten historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit das Fragment 16 zum Gefängniswesen und den diesbezüglichen Reformen des Preußischen Landrechts. (1/443) Zur Überlieferungsgeschichte dieser Fragmente (mitgeteilt durch Karl Rosenkranz) vgl. 1/428, Anmerkung 1. Vgl. den Bericht bei Rosenkranz 1844, 86: „Alle Gedanken Hegel’s über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, über Bedürfniß und Arbeit, über Theilung der Arbeit und Vermögen der Stände, Armenwesen und Polizei, Steuern u.s.w. concentrirten sich endlich in einem glossirenden Commentar, zur Deutschen Uebersetzung von Stewart’s Staatswirthschaft, den er vom 19. Februar bis 16. Mai 1799 schrieb und der noch vollständig erhalten ist. Es kommen darin viel großartige Blicke in Politik und Geschichte, viel feine Bemerkungen vor.“ Rosenkranz macht aber auch schon klar, daß Hegel Steuarts System nicht einfach übernahm: „Stewart war noch ein Anhänger des Mercantilsystems. Mit edlem Pathos, mit einer Fülle interessanter Beispiele bekämpfte Hegel das Todte desselben, indem er inmitten der Concurrenz und im Mechanismus der Arbeit wie des Verkehrs das Gemüth des Menschen zu retten strebte.“ Birger P. Priddat, Hegel als Ökonom, Berlin 1990, 10, akzentuiert die Differenzen zwischen Smith und Steuart; es sei ein irritierender Hinweis, wenn man Steuart und Smith in das Einheitsgewand der englischen Klassik kleide: „Beide sind sie britisch, aber in den ökonomischen Konzeptionen konträr.“ Ebd.: „Durch die Lektüre Steuarts ist Hegel nicht nur das erste Mal mit der Ökonomie, sondern zugleich auch mit deren gouvernemental-merkantilistischen Spielart bekannt geworden, was die nachfolgende Lektüre Smiths in der gleichen Weise beeinflussen konnte wie das Gros der deutschen Ökonomen seiner Zeit, die, bei aller emphatischen Aufnahme der Smithschen Kapitalwirtschaftstheorie, in der Frage des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft skeptisch blieben.“

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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7.1.12. Erforderliche Eingriffe der Regierung, Steuerungsmöglichkeiten Hegel stellt fest, daß sich das wirtschaftliche Gleichgewicht gewöhnlich „von selbst durch die Natur […] unter unbedeutendem Schwancken“ erhält bzw. wiederherstellt. (V 351) Sind die Schwankungen jedoch ungewöhnlich groß, hervorgerufen etwa durch „unfruchtbare Jahre“, hat die Regierung allerdings energisch einzugreifen, da anderenfalls das Gleichgewicht zerstört bliebe, das „Zutrauen“ eines Teils des Volkes betrogen würde. (V 351f.) Wie schon bei der gerade thematisierten Sicherung des Existenzminimums wird auch hier deutlich, daß Hegel der Regierung eine erhebliche Verantwortung aufbürdet, ihr aber damit auch einen echten Handlungsspielraum zuspricht.60 Hegel unterscheidet von diesen doch eher zufälligen, „empirischen Schwanckungen“ und also „nicht nothwendigen Differenzen, gegen welche die Regierung gewalthabend indifferent ist“, sehr genau die notwendigen Beeinträchtigungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts. (V 352) Es gibt nämlich einen Trieb, der dafür sorgt, daß das Wirtschaftsleben gar nicht zur Ruhe kommen kann – „der nothwendige in die Zerstörung des Gleichgewichts gehende Trieb der Differenz“. (V 352) Selbstverständlich muß die Regierung auch diesen Trieb sinnvoll einbinden und steuern und, weil es ein Trieb ist, sein Ausleben ermöglichen. Der „Trieb der Differenz“ bewirkt unter anderem, daß die Bedürfnisse „empirisch unendlich“, „grenzenlos“ werden. (V 352) Damit wird auch der Genuß, der zunächst „ein fest bestimmtes und beschräncktes zu seyn“ scheint, in „seine[r] Idealität […] unendlich. Als Genuß selbst idealisirt er sich zum reinsten, geläutertsten Geniessen“. (V 352f.) Es kommt zu einer Genußdifferenzierung, „und je differenter seine Reitze werden, desto grösser wird die Arbeit, welche sie nöthig machen“. (V 353) Die Differenzierung der Arbeit wächst also im gleichen Maße. Der Unendlichkeit der Idealität des Genusses steht allerdings „ein bestimmtes Quantum“ entgegen, die Begrenztheit der Arbeit und des Besitzes. Damit ist Hegel bei der „Ungleichheit des Reichthums“ angelangt, die er für „an und für sich nothwendig“ erklärt, denn sie entspricht der faktischen „natürliche[n] Ungleichheit“. (V 353) Allerdings bemerkt Hegel gleichfalls, daß die „nothwendige Ungleichheit […] durch ihre quantitative Beschaffenheit […] ein Verhältniß der Herrschafft“ hervorbringt: „[D]er einzelne ungeheuer reiche wird eine Macht“. (V 353f.) Die Folgen dieses Reichtums beschreibt Hegel mit deutlicher Mißbilligung. Der übergroße Reichtum nämlich zerstört die „durchgehende physische Abhängigkeit […] von einem allgemeinen“ und ist „gleicherweise mit der tiefsten Armuth verbunden“. (V 354) In der Folge – sofern nicht gegengesteuert wird – können Mechanisierung und Verrohung der Arbeit eintre-

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Hier zeigt sich auch, daß Hegel in der Sache sehr liberal ist, aber aus systematischen Gründen skeptisch bleibt, den Markt gänzlich zu liberalisieren. Klar ist, daß der Markt nicht überreguliert werden darf. Vgl. auch Rosenzweig 1920, Bd. 1, 150: „[N]ach dem Vorgang eines gemäßigten Merkantilismus, wie ihn gerade Steuart mit seiner Auseinanderhaltung von ‚Wirtschaft‘ und ‚Regiment‘, vom ‚Staatsmann‘ als Haushalter und Hausherrn vertrat, beschränkt sich Hegel darauf, den Staat regulierend eingreifen zu lassen; er will ihn nicht zum unumschränkten Herrn und letzten Urheber des nationalen Wirtschaftsleben machen, wie es der echte Merkantilismus in Lehre und Tat durchzuführen suchte.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

ten, schlimmer noch – „die Bestialität der Verachtung alles hohen“.61 Dann wird „die Masse des Reichthums“ zum „Ansich“. Kommt es tatsächlich so weit, gilt: „[D]as absolute Band des Volks, das sittliche ist verschwunden, und das Volk aufgelöst.“62 (V 354) Hegel ist selbstverständlich der Auffassung, daß es dazu weder kommen darf noch muß.63 Es wirkungsvoll zu verhindern, ist im Gegenteil eine der wesentlichen Aufgaben der Regierung: „Dieser Ungleichheit, und ihrer und der allgemeinen Zerstörung hat die Regierung aufs höchste entgegenzuarbeiten“.64 Nun bleibt zu klären, auf welche Weise die Regierung dazu in der Lage ist. Hegel nennt hier zunächst zwei Wege. Der erste Weg besteht in der „Erschwerung des hohen Gewinns“, der zweite darin, daß, wenn schon ein Teil des (erwerbenden) Standes von der Regierung „zur mechanischen und Fabrikarbeit auf[ge]opfert“ wird,65 sie „das Ganze schlechthin in der ihm möglichen Lebendigkeit“ zu erhalten hat, genauer „durch die Constitution des Standes in sich“. (V 354) Diese Konstitution (die in der Rechtsphilosophie später Korporation genannt wird) setzt an die Stelle der „physischen Abhängigkeit“ eine „lebendige Abhängigkeit, und ein Verhältniß von Individualität zu Individualität, einen andern, einen innern thätigen Zusammenhang“. Es verschwindet also dadurch die Anonymität der Abhängigkeit, es entsteht so etwas wie Übersichtlichkeit und „organische Existenz“: „Dieser Stand ist in sich constituirt, heißt, er ist innerhalb seiner Beschränckung ein lebendiges Allgemeines; was sein Allgemeines, sein Gesetz und Recht ist, ist zugleich als seyend in den Individuen, reell in ihnen, durch ihren Willen und Selbstthätigkeit.“ (V 354) Hier haben wir also eine Form lebendiger Sittlichkeit (das Allgemeine ist 61

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Vgl. JSE I, VI 323f.: „[D]ie Arbeit wird umso absolut todter, sie wird zur Maschinenarbeit, die Geschicklichkeit des einzelnen umso unendlich beschränkter, und das Bewußtseyn der Fabrikarbeiter wird zur letzten Stumpfheit herabgesetzt“. Dieser Gedanke wurde von Hegel schon früher formuliert: Der unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger kann selbst in einer an sich freien Verfassung die Freiheit zerstören. Als Beleg gibt Hegel historische Beispiele an: Athen, Rom, Florenz. Vgl. Dokumente (Hoffmeister 1936, 269). Allerdings ist Hegel der Auffassung, daß ein Volk ebenso wie ein Staat aufgelöst sein kann. In der Verfassungsschrift spricht er vom „Zustand der Auflösung des Staats“. (V 161) Dieses Motiv findet sich schon früh bei Hegel. Am modernen Staat kritisiert Hegel mit bösem Spott vor allem, daß er primär für den Schutz des Eigentums instrumentalisiert wird; die ungleiche Verteilung des Eigentums ermöglicht zudem, daß auf politische Macht zum Schutz ökonomischen Eigeninteresses der Reichen zurückgegriffen werden kann. (Vgl. Avineri 1976, 22) Nach Hegel war das nicht immer so: „In den Staaten der neueren Zeit ist Sicherheit des Eigentums die Angel, um die sich die ganze Gesetzgebung dreht, worauf sich die meisten Rechte der Staatsbürger beziehen. In mancher freien Republik des Altertums ist schon durch die Verfassung des Staats das strenge Eigentumsrecht, die Sorge aller unserer Obrigkeiten, der Stolz unserer Staaten, beeinträchtigt worden. In der Lakedämonischen Verfassung war Sicherheit des Eigentums und der Industrie ein Punkt, der fast gar nicht in Betracht kam, der man kann fast sagen, vergessen war. In Athen wurden die reichen Bürger gewöhnlich eines Teils ihres Vermögens beraubt. Doch gebrauchte man einen für die Person, die man berauben wollte, ehrenvollen Vorwand: man übertrug ihr nämlich ein Amt, das einen ungeheuren Aufwand forderte.“ Dokumente (Hoffmeister 1936, 268f). Vgl. zur Notwendigkeit des Opfers Naturrechtsaufsatz, IV 485.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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nicht abstrakt, sondern lebendig), wenngleich nur in einer beschränkten Sphäre.66 Diese „Sittlichkeit hebt das elementarische, die reine Masse, Quantität auf, setzt ein lebendiges Verhältniߓ, nötigt auf diese Weise den Reichen, „das Herrschafftsverhältniߓ zu mindern und rottet den „Trieb nach unendlichem Reichthum“ aus.67 (V 354f.) Hegel erinnert selbst daran, daß diese Ausführungen zur Konstitution eigentlich „mehr zur Natur des Standes selbst und seinem organischen Wesen“ (was erneut auf die spätere Korporation hindeutet, vgl. auch V 358), nicht eigentlich „zur Regierung“ gehören. (V 355) Er weist darauf hin, daß diese vielmehr mittels der „aüssern Beschränkungen“ Einfluß nehmen muß. Die Regierung hat also in den Auflagen ein Mittel, übergroße Ungleichheiten zu beschränken, vor allem „das unendliche Schwancken im Werth der Dinge“ abzumildern. (V 355) Hegel zeigt, daß die allgemeine Regierung, da sie Bedürfnisse hat, auch selbst am Wirtschaftsleben teilnimmt. Denn sie muß die Versorgung des ersten Standes sichern, sodann „für den formell allgemeinen Stand, nemlich für denjenigen, der in den andern Ständen Organ der Regierung, und bloß im Allgemeinen arbeitet“, sorgen (also wohl die Staatsbeamten) und schließlich die allgemeinen Bedürfnisse „des ganzen Volks, als eines solchen“ (Wohnungen, Straßenbau usw.) absichern. (V 355) Rosenzweig zeigt, daß Hegel ziemlich genau den Vorgaben von Adam Smith folgt.68 Die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse hat sich die Regierung durch Steuern zu erwerben.

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„Diese organische Existenz dieses Stands, macht jeden einzelnen, soweit Lebendigkeit in ihm ist, eins mit den andern; aber der Stand kann nicht in der absoluten Einheit seyn“. (V 354) Hegel hat sich dem Problem der Ungleichheit des Eigentums und dem gesetzlichen Vorgehen zur Einschränkung der resultierenden Gefahren (insbesondere Freiheitsverlust) schon in Der Geist des Christentums und sein Schicksal gewidmet. Dort erörtert er „die Unterordnung der bürgerlichen Rechte unter Staatsgesetze“ und vergleicht die Einrichtung des mosaischen Staates mit jenen Verhältnissen, die zwei berühmte Gesetzgeber in ihren Republiken gründeten. Hegel konstatiert diesbezüglich eine auffallende Ähnlichkeit: „Um die Gefahr, womit der Freiheit die Ungleichheit des Reichtums droht, von ihren Staaten abzuwenden, hatten Solon und Lykurg die Rechte über Eigentum auf mancherlei Art beschränkt und manche Willkür ausgeschlossen, die zu ungleichem Reichtum hätte führen können. Ebenso war im mosaischen Staate das Eigentum einer Familie auf immer in dieser befestigt; wer aus Not seine Habe und sich selbst verkauft hatte, sollte im großen Jubeljahr wieder in seine Sachrechte und sonst im siebenten Jahr in seine Personenrechte eintreten, wer mehr Felder erworben hatte, in den alten Umfang seines Ackerbesitzes zurückkehren“. Hegel diagnostiziert die mit übergroßer Ungleichheit verbundenen Risiken am Beispiel der griechischen Republiken, z. B. daß „die Freiheit der Verarmten in Gefahr kommen und sie in eine politische Vernichtung hätten geraten können“. (1/289f.) Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 152: „Die Bedürfnisse der Regierung sind bei Hegel – nach Zahl, Art und Folge genau entsprechend Smiths berühmten drei Staatsaufgaben defence, justice, public works and public institutions – Erhaltung des kriegerischen Standes, Besoldung des Beamtenstandes, Bedürfnisse des ganzen Volks. An die Staatszwecke schließt Hegel – wie A. Smith, und auch in der Hauptteilung ihm folgend – die Lehre von den Staatsmitteln.“ Daher geht es bei Hegel anschließend um die Finanzverwaltung. Zu den klassischen Smithschen Steuerprinzipien vgl. Priddat 1990, 249f.; dort werden vier Prinzipien unterschieden: 1. Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung bzw. der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, 2. Grundsatz der Bestimmtheit der Steuer in bezug auf den Betrag, die Zeit und Art der Zahlung, 3. Grundsatz der Bequemlichkeit hin-

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

7.1.12.1. Varianten der Besteuerung Hegel untersucht dann, wie ein Steuersystem („System der Auflagen“ V 356) beschaffen sein kann und welches vorzuziehen sei. Da der Besitz „nichts liegendes, festes, sondern im Erwerbfleiß ein lebendiges unendliches, unberechenbares“ darstellt und „selbst nicht die Form des objectiven hat“, ist eine diesbezüglich gerechte Belastung durch Auflagen nicht zu gewährleisten. (V 356) Hingegen sind „liegende Güter, etwas objectives, wiß- und erkennbares“ und darum einfacher gerecht zu belasten. Aber auch hier muß die Regierung darauf achten, welche Folgen ihr Auflagensystem zeitigt und rechtzeitig variieren; diese Güter sollen in der Regel belastet werden „nach dem Werth, den sie nach ihrer Möglichkeit des producirens haben“. (V 356) Am schwierigsten gestaltet sich die Frage nach der gerechten Besteuerung der je besonderen „Geschicklichkeit“. Hegels Vorschlag läuft darauf hinaus, nicht die Einkünfte, sondern die Ausgaben zu belasten.69 Als Begründung gibt er an, daß die Einnahmen der jeweiligen „Geschicklichkeit“ „ein besonderes, eigenthümliches“ bleiben, hingegen „das was sie kaufft, macht den Durchgang durch die Form der Allgemeinheit aus seiner Besonderheit, oder es wird Waare“.70 (V 356) Priddat zeigt, daß Hegel mit seinem Vorschlag, die „Geschicklichkeit“ zu besteuern, ein zentrales Problem der damaligen Steuersystematik erfaßt hat: Zu Hegels Zeiten waren die Ertragssteuern in Deutschland eigentlich Objektsteuern, so daß nicht der variable Output, sondern nur ein konstanter Input besteuert wurde. „Das hatte zur Folge, daß zwischen vermeintlich objektiv bestimmter Steuerleistung und subjektiver Leistungsfähigkeit aufgrund der tatsächlichen Erträge eine immer größere Differenz entstand.“ Deshalb sank der Anteil der direkten Steuern am steigenden Volkseinkommen.71 Die Regierung hat darauf zu achten, „die vielmöglichste Besonderheit“ der Produktion zu ermöglichen und deren verschiedene Zweige so mit Auflagen zu versehen, daß

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sichtlich der Zeit und der Art der Zahlung für den Besteuerten, 4. Grundsatz der Billigkeit der Erhebung bzw. der relativen Erträglichkeit. Auch in dem Nebeneinander von Grund- und Verbrauchssteuer scheint Hegel Smith zu folgen. Vgl. ausführlich Rosenzweig 1920, Bd. 1, 153. Skeptisch äußert sich dagegen Priddat 1990, 250 und 257. Vgl. hierzu Priddat 1990, 255: „Hegel erörtert die Steuerbemessung auf eigentumsrechtlicher Grundlage. Die scheinbare Gerechtigkeit, jeden nach seinem Besitz zu besteuern, ist in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ungerecht, da der ‚Besitz […] nichts Festes‘ mehr ist. Der Anschein, als ob eine Ertragssteuer gerecht die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten besteuern könnte, trügt nach Hegel. Wenn man den Besitz allein als Kapital betrachtet, dessen Erträge besteuert werden könnten, ist man ungerecht gegenüber der darauf verwandten Geschicklichkeit bzw. Arbeit, die die Ertragshöhe wesentlich mitbestimmt. Als Kapital allein und ausschließlich betrachtet habe der einzelne Besitz nicht die Form eines Objektiven“. Deshalb folgt, wie Hegel sagt: „Die Geschicklichkeit ist also zugleich zu imponiren“ (494). Priddat schlägt vor, es müsse statt „imponiren“ richtiger „impostiren“ heißen. Er verweist auf das Neue Conversations= und Zeitungs=Lexicon für alle Stände (Ausgabe Nürnberg 1821, hg. von J. H. Meynier), 249: „Impostiren, mit Steuern oder Abgaben belegen“ – Priddat relativiert seinen Verbesserungsvorschlag sogleich: „Allerdings mag die dem ‚Imponieren‘ zugeschriebene Bedeutung des ‚auflegen‘ sprachlich dem ‚Steuern auferlegen‘ (auch Meynier, 249) ebenfalls nahegekommen sein.“ Priddat 1990, 255.

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das Gleichgewicht gewahrt bleibt und nicht etwa „die arbeitende Klasse verarmt“. (V 356)

7.1.13. System der Gerechtigkeit Nach dem „System des Bedürfnisses“ (V 350) als dem ersten folgt nun das „zweyte System der Regierung“, das „System der Gerechtigkeit“ (V 357), allerdings in vergleichsweise kurzer Form. In Abgrenzung vom ersteren System, dessen Wesen rückblickend als „Beziehung auf ein Bedürfniߓ gekennzeichnet wird, formuliert Hegel den nun leitenden, neuen Gesichtspunkt: „Aber in diesem System des Auseinandertretens [des Allgemeinen und Besonderen] ist die ideelle Beziehung das Wesen“. (V 357) Was eben noch weitgehend zufälliger „Besitz“ – „die aufs Bedürfniß bezogene Sache“ – war, wird nun als rechtlich anerkanntes „Eigenthum“ behandelt. Die Anerkennung des Eigentums und die mit ihr verbundene, sie ermöglichende Beziehung zwischen den Individuen haben nun „objective Realität“. Die Regierung tritt diesbezüglich als „Mitte“ auf, als „öffentliche Gewalt“, als „Totalität aller Rechte“ und „als denkend, bewußt […] hier als Rechtspflege“. (V 357) Für die Rechtspflege erscheint das einzelne Individuum zunächst als „eine völlig indifferente allgemeine Person“. D. h., daß sie als „reine Gerechtigkeit“ nicht auf den konkreten Einzelmenschen mit seinen je einzelnen Lebensumständen, sondern auf ihn als allgemeinen, als „Person“ bezogen ist. (V 357) Nach Hegel muß aber die Gerechtigkeit zugleich „selbst ein lebendiges seyn“. (V 357) Zwar besteht Hegel auf der Notwendigkeit, „daß das Recht in der Form des Bewußtseyns als Gesetz vorhanden ist“, doch vermerkt er zugleich, daß diese Gesetze wenig mit lebendiger Gerechtigkeit gemein haben. (V 358) Deutlich ist auch Hegels Distanz gegenüber dem „vergeblichen Bestreben, das absolutgesetzte endliche des Besitzes ins unendliche aufzunehmen“ und in einer „Vollständigkeit der bürgerlichen Gesetze“ kulminieren zu lassen.72 (V 358) Hegel sträubt sich auch hier gegen die „Reinheit“. Selbst wenn „die Regel, in der Form der Regel vollkommen wäre, und der Richter reines Organ“, bliebe doch der gravierendste Mangel bestehen, weil sie „ohne Lebendigkeit und Anschauung des Ganzen“ wären. (V 358) Hegel spricht an dieser Stelle – wie später ähnlich auch in der Wissenschaft der Logik – von einer „falsche[n] Unendlichkeit“. Die Unendlichkeit ist „falsch“ oder „schlecht“, weil es sich nur um eine unendliche Anhäufung eigentlich endlicher Verhältnisse handelt. Hegels Vorschlag lautet deshalb: „Diese falsche Unendlichkeit muß durch das organische der Constitution beseitigt werden“. (V 358) Die Regierung hat also die Aufgabe, die Rechtspflege so einzurichten, daß die „Freyheit, daß das regierende selbst das Regierte sey“, gesichert ist. (V 358) Organisatorisch bedeutet dies die Einrichtung „der Gerichtshöfe“ (V 559), wobei die „Identität“ von Regierenden und Regierten dadurch gewahrt wird, „daß derselbe Stand, die Ebenbürtigkeit, die Constitution in einem engern Kreise zu einem Ganzen, Wohnung unter derselben Bürgerschafft, das lebendige Einsseyn constituirt“. (V 358) Hegel plädiert in der Rechtssprechung für eine die tatsächlichen Individuen 72

Vgl. schon Platons Einwände im Vierten Buch des Staats, alles durch Gesetze regeln zu wollen; man solle nicht unnötig Sachverhalte an Juristen delegieren.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

berücksichtigende „Ausgleichung“. Nicht „die Abstraction des Gesetzes [soll] das absolute seyn“, sondern er wünscht eine Konfliktlösung „zur Zufriedenheit und mit Überzeugung und Beistimmung der Partheyen nach Billigkeit“. (V 358) Hegel unterscheidet noch „bürgerliche“ und „peinliche“ Rechtspflege voneinander. (V 359) Während erstere es nur mit Eigentumsdelikten, mit Störungen von „Bestimmtheiten“ zu tun hat, hat die peinliche Rechtspflege dafür zu sorgen, daß „ausser der Bestimmtheit auch die Negation der Allgemeinheit, und die an dieser ihre Stelle gesetzte Allgemeinheit“ aufgehoben wird: „[D]ieses Aufheben ist die Strafe“. (V 359) Sie hat sich nach dem Grad der Verletzung der Allgemeinheit zu richten. In einer nur noch als nicht ausgeführte Entwurfsskizze zu bezeichnenden Passage unterscheidet Hegel schließlich noch „I. bürgerliche [Strafe] II. peinliche [Strafe] III. Krieg“. Im „Krieg“, der nach Hegel die „Identität“ von „Allgemeinheit“ und „Einzelnheit“ darstellt und dessen Wesen also „Totalität“ ist, wird „das Volk […] der Verbrecher“, „opfert den Besitz“ auf und wird gerichtet. (V 359)

7.1.14. System der Zucht Hegel fügt noch ein „C. Drittes System der Regierung“ (V 360) an, das aber nicht nur vom Umfang her sehr kurz gefaßt ist, sondern – im Vergleich etwa zum ersten System der Regierung – auch in der konkreten Durchführung lediglich als Skizze bezeichnet werden kann. Lasson hat es m. E. ziemlich angemessen „System der Zucht“73 betitelt (vgl. Hegels eigene inhaltliche Ankündigung V 350, Zeile 7). Verblüffend ist der Ernst, mit dem Hegel, obwohl er inhaltlich schließlich beinahe gar nichts mehr ausführt, auch noch dieses dritte System der Regierung von den beiden vorherigen abgrenzt. Man muß dies wohl als Zeugnis dafür akzeptieren, daß ihn die Konstruktion des Gesamtsystems, das Architektonische seines Aufbaus bis zum Schluß beschäftigt hat. Hegel sagt – ein letztes Mal auf das Bisherige rückblickend und fast etwas abwertend –, daß im System des Bedürfnisses das Allgemeine nur als „das rohe, bloß quantitative weisheitslose Allgemeine“ aufgetreten sei, im System der Gerechtigkeit hingegen nur „die Allgemeinheit des Begriffs, die formelle, das Anerkennen“ das Bestimmende gewesen sei. (V 360) Als auszeichnenden Umstand des dritten Systems der Regierung benennt Hegel dagegen: „In diesem ist das Allgemeine das absolute, und rein als solches das bestimmende“. (V 360) Man muß die rudimentären Ausführungen zum dritten System wohl derart interpretieren, daß hier die Regierung durch die einzelnen hindurch auf das Volk als Ganzes einwirkt. Sie tut dies – nach Hegels Gliederung – auf dreierlei Weise: „I. Erziehung. II. Bildung, und Zucht […] III. Kinderzeugung“. Letztere meint hier als selbst Objektivwerden des Volkes konkret auch die „Colonisation“. (V 360) „Erziehung“ und „Colonisation“ wird von Hegel nicht mehr ausgeführt.74 Einzig die zweite Weise („Bildung, und 73 74

Hegel 1923, 497. Im Naturrechtsaufsatz findet sich dagegen eine prägnante Beschreibung der Erziehung als Werden der Sittlichkeit: Das Positive und Wesen der Erziehung sei, daß das Kind „an der Brust der allgemeinen Sittlichkeit getränkt, in ihrer absoluten Anschauung zuerst als eines fremden Wesens lebt, sie immer mehr begreift, und so in den allgemeinen Geist übergeht“. (IV 469)

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

255

Zucht“) erfährt eine wenige Zeilen umfassende nähere Erläuterung. Dabei stellt sich heraus, daß „Erfindungen“ und „einzelne Wissenschafften“ (selbst die Philosophie!) für die hier gemeinte „Bildung“ nicht allzu viel bedeuten.75 Die eigentliche, hier fokussierte Bildung oder „Bildung in der Wahrheit, mit Vernichtung alles Scheins ist das sich bildende und besprechende und bewußte Volk“. Während die „Policey“ nur „Zucht im Einzelnen“ bewirkt, erfolgt die maßgebliche Zucht (wie schon im Naturrechtsaufsatz) auf andere Weise: „[D]ie grosse Zucht sind die allgemeinen Sitten, und die Ordnung, und die Bildung zum Kriege, und die Prüfung der Wahrhafftigkeit des einzelnen an ihm“. (V 360)

7.1.15. Formen freier Regierung Am Ende des Manuskripts finden sich einige wenige Ausführungen zu den „möglichen Formen einer freyen Regierung“. Hegel nennt derer drei: „I. Demokratie. II. Aristokratie. III. Monarchie“. (V 360) Sogleich fügt er an, daß alle diese Regierungsformen dennoch „unfrey“ sein können: „I. Ochlokratie. II. Oligarchie; III. Despotie; das aüssere mechanische ist dasselbe“.76 Die tatsächlichen Unterschiede der verschiedenen Regierungsformen liegen dagegen in dem „Verhältniß der Regierung zum Regierten; ob das Wesen dasselbe, und die Form der Entgegensetzung nur oberflächlich ist“. (V 360) Sind Regierende und Regierte also nicht nur oberflächlich getrennt, sondern vom Prinzip her nicht Eins, handelt es sich nicht um eine freie Regierung: Letzteres ist in Ochlokratie, Oligarchie und Despotie der Fall. Es fällt auf, daß sich Hegel gegenüber den konkreten Regierungsformen relativ gleichgültig zeigt, sie alle können frei und unfrei sein. Daß Hegel hier nicht eindeutig Partei für eine der Regierungsformen ergreift (wenngleich er über die Aristokratie nachfolgend noch etwas spottet) – man weiß, daß er die konstitutionelle Monarchie präferierte –, darf man wohl als weiteres Indiz dafür nehmen, daß es ihm hier um die philosophische Systematik zu tun ist und nicht um den Weg vom Gedanken zur Wirklichkeit.77 75

76

77

Vgl. Harris 1983, 139f.: „We can see, however, that Bildung which was the highest flower of natural ethics, was now destinated to take its place on the negative side of the full concept. It is the individualized aspect of Zucht, for which the great agency is the social order itself (for the bourgeoisie) and the military establishment (for nobility and peasantry). The positive aspect – the development of the sciences, scientific discovery, and philosophy is briefly alluded to, but because of its theoretical character it forms only an aside in the thread of Hegel’s essentially practical argument. If I am right in supposing that the manuscript was originally drafted as part of an outline of systematic philosophy, then here at the end we can see very clearly why Hegel became dissatisfied with a ‚philosophy of spirit‘ that is founded on ‚Natural Law‘. A better balance between theoretical and practical concerns is obviously necessary.“ Vgl. auch in der Verfassungsschrift: „Zu demjenigen Theile der Wirklichkeit eines Staats, welcher dem Zufall angehört muß die Art und Weise gerechnet werden, wie die gesammte Staatsgewalt in einem obersten Vereinigungspunkte existirt; ob das Gewalthabende Einer oder mehrere, ob dieser Eine oder die Mehrern, zu dieser Majestät gebohren oder gewählt werde, ist für das Einzig nothwendige, daß eine Menge einen Staat ausmache, gleichgültig.“ (V 167) Vgl. Rosenzweig 1920, Bd. 1, 146, der diesbezüglich auf einen auffallenden Unterschied zu Fichte aufmerksam macht: „Auch hier weicht Fichtes Staatslehre von 1796 in ihrer ganzen Stimmung ab.

256

II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Schließlich werden die drei freien Regierungsformen danach befragt, wie in ihnen die natürliche Realität des Sittlichen verkörpert ist und über diese je spezifische Darstellung voneinander geschieden: „Die Monarchie ist die Darstellung der absoluten Realität der Sittlichkeit, in einem Individuum; die Aristokratie in mehrern; [… die] Demokratie ist die Darstellung in allen“. (V 361) Hegel verweist sogleich auf Defizite dieser Regierungsformen, insofern die Regierenden hier nicht – wie es Hegel zuvor an den Alten und Priestern ausgeführt und gefordert hatte – ohne Besitz bleiben und die teils mögliche „Erblichkeit“ eine zusätzliche partikulare Interessengebundenheit befördert. Letzteres scheidet zwar in der Demokratie aus, doch behält sie jenes erste Problem, daß die Regierung nicht besitzlos bleiben kann, es folglich zu einer „Vermischung des Besitzes“ mit ihr kommen muß; außerdem kann in ihr prinzipiell kein absoluter Stand ausgesondert werden. (V 361) Die letzten drei Absätze beschäftigen sich flüchtig mit der Frage, in welchem Verhältnis die jeweiligen Regierungsformen zur Religion stehen. Für die Monarchie ergibt sich, daß „eine Religion neben dem Monarchen stehen“ muß; Gleiches gilt für die Aristokratie, wobei „um ihrer Väterlichkeit“ willen „wenig Phantasie und Religion“ vorhanden sind. In der Demokratie schließlich ist „zwar absolute Religion, aber unbefestigte, oder vielmehr Naturreligion, das sittliche ist mit dem natürlichen verbunden“.78 (V 361)

7.2. Schlußbemerkungen zum dritten Teil Betrachtet man die Funktion des dritten Teils für das Manuskript selbst, so ist festzuhalten: Er enthält die Darstellung der „absoluten Sittlichkeit“, nachdem in den beiden ersten Teilen zuvor nur bestimmte Sphären der Sittlichkeit behandelt worden waren. Der dritte Teil löst in dieser Hinsicht konsequent die Ankündigungen der „Einleitung“ (und der im Textverlauf mehrfach erfolgten Vorschau auf die absolute Sittlichkeit) ein und stellt in dieser Hinsicht den Höhepunkt des Manuskripts dar. Insbesondere die ersten Passagen des dritten Teils zeigen deutlich, daß Hegel (mittels Rückschau und detailliertem Vergleich) die neue „Stufe“ der Sittlichkeit selbst fest im Blick hat und sie durch genaue Abgrenzung von den vorherigen Formen auszeichnet. Doch bleibt es nicht bei Definitionen, vielmehr wird die Struktur des reichen Baus der im Volk (bzw.

78

Fichtes Ideen werden dem Leser mit so zudringlicher, ruhlos die Einzelheiten hin und her wendender Logik beigebracht, daß er gezwungen wird, fortwährend die Anwendungsmöglichkeiten durchzudenken und zu bejahen. Bei Hegel ist von solchem Überzeugenwollen keine Spur. Ihm liegt nach seinen eigenen Worten, die Kraft der Sittlichkeit in der ‚Kraft der Anschauung und Gegenwart‘. Und dennoch – oder vielleicht deshalb – steckt in seinem Staatsbild mehr Leben als in Fichtes kühnen Forderungen.“ Man hat längere Zeit von einer sogenannten „Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit“ gesprochen, weil in jenem Text (Hegel 1936) diese Probleme (Fragen der Religion), mit denen das System der Sittlichkeit abbricht, näher untersucht werden. Die verwandte Problematik rechtfertigt aber nicht die These einer Fortsetzung. Vgl. hierzu – entgegen etwa Kimmerle 1982, 210 – den Herausgeberbericht V 668f. Vgl. außerdem die frühe Ablehnung jener These schon bei Haering 1938, 386ff.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

257

Staat) verwirklichten und lebendigen absoluten Sittlichkeit tatsächlich nachgezeichnet. Ganz offensichtlich will Hegel die Realität der absoluten Sittlichkeit, das Dasein der Vernunft z. B. in staatlichen Institutionen oder spezifischen Organisationsformen des ständischen Lebens ausweisen; die Sittlichkeit soll also als real vorhandene gezeigt werden. Da Hegels Manuskript aber weder eine praktische Anweisung zum richtigen Regieren noch zum wohlanständigen Verhalten darstellt, sondern eine philosophische Untersuchung über den in der Sittlichkeit eines Volkes wirkenden absoluten Geist, ist die Präsentation jener Realität keine Sammlung empirischer Ratschläge oder geschriebener, anwendbarer Verfassungen, sondern erfolgt als eine philosophische Strukturanalyse. Nicht zufällig fällt hier mehrfach der Terminus „System“ (etwa System des Bedürfnisses, System der Gerechtigkeit, System der Zucht) und überhaupt die titelgebende Wendung „System der Sittlichkeit“. Hegel beabsichtigt ein geschlossenes System – im Gegensatz zum bloßen Aggregat willkürlich herausgegriffener und letztlich zusammenhangloser Bestimmungen – zu geben und strukturiert daher den gesamten Phänomenbereich nach seinen strengen methodischen Vorgaben. Es geht ihm um systematische Konsequenz und Vollständigkeit. Die empirischen bzw. historischen Belege sind in dieser Hinsicht eher als zusätzliche Illustration des sich notwendig fortentwickelnden Gedankengangs zu verstehen. Hegel zeigt also nicht wirklich, wie ein einzelnes Individuum konkret durch verschiedene Erfahrungen und Bildungsprozesse hindurch zur Anschauung der absoluten Sittlichkeit gelangt, sondern nur (aber doch immerhin), daß es dies notwendig tut und prinzipiell kann. Das liegt an der Konzeption des Manuskripts: Es geht nicht um die Erfahrungsreise eines Bewußtseins, sondern um die philosophische Rekonstruktion der Sittlichkeit.79 Dadurch ist eine andere Perspektive vorgegeben, an die sich Hegel ziemlich konsequent hält. Das Ganze, das Allgemeine usw. hat stets ontologischen und methodischen Vorrang, so daß die individuellen Gestaltungen nur für die Phänomenbeschreibung beispielsweise der konkreten Durchdringung von Allgemeinem und Besonderen, Ganzem und Einzelnen usw. relevant werden. Es wird also nicht die Perspektive des in den Prozessen selbst befindlichen (und sie mitgestaltenden) einzelnen Bewußtseins eingenommen, sondern die des philosophischen Betrachters, der von außen die Vorgänge charakterisiert, ordnet und in ihrer Notwendigkeit begreift. Das gilt prinzipiell für das gesamte Manuskript, doch fällt es im dritten Teil viel stärker auf. Der methodische Gang zwingt zur Thematisierung und Darstellung bestimmter Sachverhalte, welche sich m. E. nicht aus der Sache selbst ergeben. Auch ist der Erfolg des ganzen Unternehmens vorgegeben: Es muß die absolute Sittlichkeit geben, sie muß real sein, die einzelnen Glieder des Volkes müssen sie anschauen. All das ist von vornherein (schon in der „Einleitung“) klar. Während sich Hegel im Zusammenhang der Darstellung der natürlichen Sittlichkeit aber noch überwiegend an notwendig ablaufende Prozesse oder geschichtlich erzeugte Phänomene hält, kommt es im dritten Teil mehrfach zu bloßen Festlegungen und Behauptungen über die Notwendigkeit bestimmter Ordnungsmechanismen oder Institutionen. Hatte Hegel also zuvor klar zeigen können, wie die Allgemeinheit und Sittlichkeit in den einzelnen Bereichen und 79

Hegel sucht den internen Zusammenhang der einzelnen Sphären (familiäre, wirtschaftliche, rechtliche, religiöse usw.) aufzuzeigen und nachzuweisen, daß Allgemeines und Besonderes sich wirklich durchdringen, daß diese Einheit von den Staatsbürgern erkannt und angeschaut wird.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

durch die Tätigkeiten der Beteiligten erzeugt wurde bzw. nach und nach ihre Kreise erweitert und wirksam wird, so wirkt im dritten Teil vieles seltsam willkürlich und zeitgebunden. Das besagt aber nichts gegen Hegels Grundaussage und den generellen Verlauf der Argumentation. Fraglich ist zunächst lediglich die von Hegel als notwendig postulierte konkrete Ausformung der absoluten Sittlichkeit. Nicht also daß sie gestaltet, vielfach gegliedert sein muß steht in Frage, sondern daß sie so gestaltet sein muß, wie Hegel es ausführt. Faszinierend (und gültig) bleibt Hegels Einsicht in die vielschichtigen Verflechtungen der geschilderten Sphären und sein Blick auf die Einheit des Ganzen. Im dritten Teil wird – bezogen auf den Argumentationsgang des Manuskripts – ein neuer, erweiterter Raum erschlossen, nämlich der Staat und dessen Gestaltung unter der eingetretenen Realität der Entäußerung und Verdinglichung der Arbeit zur Spontaneität der ökonomischen Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft. (Der Terminus „Staat“, vorher im Manuskript gar nicht verwendet, wird auch jetzt nur selten gebraucht.) Man kann m. E. eine permanente Erweiterung der analysierten Sphären im Fortgang des Manuskripts konstatieren. Stand zu Beginn die bloße Natürlichkeit im Mittelpunkt, interessiert am Ende der allgemeine, absolute Geist, wie er in einem konkreten Volk, d. h. in reicher Gliederung, lebendig ist. Dieser Quasiaufstieg erinnert an die spätere Phänomenologie des Geistes. Im System der Sittlichkeit wird vom natürlichen Subjekt ausgegangen und dann thematisiert, wie sich seine Kreise kontinuierlich ausdehnen, wie sich das Subjekt aus der bloßen Naturgebundenheit erhebt und in ganz neue, nichtanimalische, sondern spezifisch menschliche Beziehungen eintritt, daß es sich sodann als selbsthandelndes Wesen in einer Gemeinschaft begreift, in Anerkennungskämpfen bewährt und schließlich (auf je unterschiedlichem Niveau) in Einheit mit dem Volk oder Staat weiß, und zwar durch „Intelligenz“ (wie Hegel sagt und womit er den Unterschied zur Naturstufe kennzeichnet).80 Entsprechend wird im dritten Teil die konkrete Gestaltung der absoluten Sittlichkeit analysiert. Für Hegel ist es klar, daß der Staat oder das Volk (die Begriffe verwendet er nahezu synonym, weil er das Volk als politische, nicht rassische Einheit begreift) vielfach gegliedert sein muß. Er bevorzugt hierfür wie im Naturrechtsaufsatz organische Metaphern; der Staat soll nichts Mechanisches sein.81 Überaus häufig wird der Terminus „lebendig“ verwendet. So unterscheidet Hegel nicht nur drei Formen der Sittlichkeit, sondern ordnet diese sodann auch verschiedenen Ständen zu, in denen 80

81

Über die einzelnen Bewußtseinsformen macht Hegel allerdings – anders als in der Phänomenologie des Geistes und wie oben angemerkt – keine oder nur beiläufige Aussagen. Wie die Verfassungsschrift zeigt, stellt Hegel seine organische Konzeption bewußt gegen unorganische, mechanistische Theorien (bzw. Staatengebilde), in denen ein lebendiger Zusammenhalt fehle: „[D]ie maschinistische höchstverständige und edeln Zwecken gewidmete Hierarchie erweist in nichts ihren Bürgern Zutrauen, kan also auch keines von ihnen erwarten; – sie hält sich in keiner Leistung sicher, deren Befehl und Ausführung sie nicht eingerichtet hat, verbannt also freywillige Gaben und Aufopferungen; zeigt dem Unterthan die Überzeugung von seinem Unverstand und die Verachtung gegen seine Fähigkeit das zu beurtheilen und zu thun, was für sein Privatwohl zuträglich wäre, sowie den Glauben an allgemeine Schamlosigkeit, sie kann also kein lebendiges Thun, keine Unterstützung von seinem Selbstgefühl, hoffen.“ (V 176f.)

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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diese jeweils gelebt werde. Offensichtlich ist es sehr wichtig, daß es eine Art Binnendifferenzierung der Gesellschaft gibt: Hegels Staatsverfassung sieht deshalb die verschiedenen Stände vor, und die „absolute Regierung“ hat vordringlich darauf zu achten und hinzuwirken, daß dieses Gefüge bewahrt bleibt. Verschiedene Menschenoder Berufsgruppen finden ihren jeweiligen lebendigen Zusammenhalt also in einem je besonderen Stand oder auch noch spezielleren (z. B. berufsspezifischen) Unterorganisationen bzw. Korporationen. Es muß augenscheinlich eine gewisse Überschaubarkeit gewahrt bleiben, um in lebendiger Anschauung des Ganzen leben zu können. Hegel legt Wert darauf zu zeigen, daß diese Anschauung graduell abgestuft ist. Die Stände bewirken also, daß sich ihre Mitglieder prinzipiell als Angehörige einer größeren Gemeinschaft fühlen und wissen, die über der egoistischen und erbarmungslosen Wirtschaftswelt steht und dem dort üblichen und notwendig zugehörigen Streben nach Reichtum bzw. Selbstbereicherung entgegensteht. Die Wirtschaftswelt entwickelt eine Eigendynamik und kann sich nicht selbst regieren. Jenes System der Arbeitsteilung, des Handels mit seinen eigenen Gesetz von Angebot und Nachfrage wird – wie Hegel sagt – zu einer „fremden Macht“, beherrscht das Leben der Menschen als „bewußtloses, blindes Schicksal“: Es kann zu riesigem Reichtum, aber genauso unvorhergesehen zum Ruin führen. Doch ist der Mensch mehr als ein nur in das Wirtschaftsleben eingezwängtes oder von ihm profitierendes Wesen, er ist auch Bürger eines Staates. Die Stände haben eine wichtige Vermittlungsfunktion. Sie (und ebenso etwa die Korporationen82) heben die Individuen quasi zum Staat empor. Sie sind ein Gegengewicht zur schwankenden bürgerlichen Gesellschaft mit ihren auf eigenen Vorteil zielenden Gesetzen und binden diese Welt ein. Sie sind die Verkörperung einer verbindlichen, auch verpflichtenden Gemeinschaft. Hegel macht darauf aufmerksam, daß es für die Menschen notwendig ist, neben den privaten Zwecken auch einen Bereich zu haben, in denen sie als allgemeine aufgehoben sind und (als sittliche Menschen) wirksam werden können: Sie brauchen also einen Ort, an dem sie nicht primär als Privatmenschen agieren und finden diesen in ihrem Stand und seinen Unterteilungen.83 In den Ständen selbst sind verschiedene Tugenden dominant, die Mitglieder des ersten Standes sollen für alle anderen die Anschauung der absoluten Sittlichkeit verkörpern. Auch wenn dies vielleicht nicht überzeugt, bleibt doch Hegels Gedanke wichtig, daß die menschliche Gesellschaft stark gegliedert sein muß, daß es also neben der formellen Gleichheit aller Menschen im Recht (als je freie Bürger) zugleich reale Verschiedenheiten des Lebens gibt und diesbezügliche Organisationsformen vorhanden sein müssen. Hegel propagiert also keine ‚Gleichmacherei‘. Das 82

83

Hegel spricht im Manuskript nicht von Korporationen, aber z. B. von der „Constitution“ des Gewerbestandes „in sich“ (V 354), was weitgehend der späteren Korporation entspricht. Vgl. ähnlich in der Rechtsphilosophie § 253ff.; im § 254 bezeichnet Hegel die Korporationen als die „in der bürgerlichen Gesellschaft gegründete sittliche Wurzel des Staates“. (Die Familie ist eine weitere Wurzel.) Vgl. Zusatz zum § 255 der Rechtsphilosophie: „In unseren modernen Staaten haben die Bürger nur beschränkten Anteil an den allgemeinen Geschäften des Staates; es ist aber notwendig, dem sittlichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Tätigkeit zu gewähren. Dieses Allgemeine, das ihm der moderne Staat nicht immer reicht, findet er in der Korporation.“ (7/396f.)

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Leben produziert selbst so viele Ungleichheiten, und diesen muß auf möglichst intelligente Weise entsprochen werden, soll auch das staatliche Gemeinwesen lebendig sein.84 Man muß in Hegels Ständegliederung also nicht zwangsläufig die elitäre Hierarchisierung der Ebenen einer Gesellschaft in den Vordergrund rücken, sondern kann und sollte darin den Versuch erkennen, die angestrebte organische Gliederung des Volkes oder Staatskörpers zu gewährleisten. So wie die Natur ein Reich konkreter Gestalten bildet, so muß auch die Sittlichkeit verschiedene Gestalten haben. Durch die Einbindung in die differierenden Stände ist es jedem Individuum prinzipiell möglich, an der Ganzheit lebendig zu partizipieren. Denn gleichwohl in den Ständen verschiedene Tugenden dominant sind, bilden doch alle Stände selbst je eine vollständige Einheit. Hegel sagt, jeder Stand sei eine eigene „Totalität“ und trage die anderen in sich. Es gilt aber nicht nur, dem Menschen einen Ort zu ermöglichen bzw. zuzuweisen, an dem er über die Notwendigkeiten der Sicherung seiner Existenz erhoben ist, sondern es muß nach Hegel dem schicksalhaften Wirtschaftsleben auch aktiv begegnet werden. Diesen Sachverhalt mit all seinen Komplikationen behandelt Hegel unter dem Oberthema der „allgemeinen Regierung“, die sich – anders als die „absolute Regierung“ – den konkreten Anforderungen des Geschehens in der Zeit zu stellen hat. Hegel macht überzeugend auf die Notwendigkeit verschiedener Institutionen aufmerksam. Während die Sphäre der Ökonomie für den einzelnen Menschen unüberschaubar und unbeherrschbar ist, hat der Staat (mit der Regierung und ihren Institutionen) sehr wohl Möglichkeiten der Beeinflussung und teils sogar Lenkung dieser Prozesse. Dieser Einfluß kann sogar so stark werden, daß Hegel sich Gedanken darüber macht, wie er wieder zu begrenzen ist. Denn schließlich darf es auch nicht zu einer staatlichen Reglementierung des gesamten Wirtschaftslebens kommen. Der Staat übernimmt im Grunde diverse Aufgaben, die von einzelnen Menschen selbst nicht zu lösen wären. Es kommt mithin zu einer Delegierung von Kompetenzen und Zuständigkeiten an (staatliche) Institutionen. Auch hier zeigt sich das unumkehrbare Prinzip der Arbeitsteilung mit der Möglichkeit (aber auch dem Zwang) zur Spezialisierung. Dabei darf aber nicht eine derartige Verselbständigung eintreten, daß sich die Bürger in den Institutionen und Gesetzen nicht mehr wiedererkennen; es muß daher die Möglichkeit geben, diese bei Bedarf anzupassen oder auch durch neue zu ersetzen. Daß nun überhaupt Gesetze erlassen und durchgesetzt werden, offenbart wiederum das im dritten Teil erreichte neue Niveau. Denn vergleicht man die ersten beiden Teile, fällt überhaupt die schrittweise Steigerung auf und man erkennt klar die Ausweitung des in den verschiedenen Manuskriptteilen behandelten Themas. Interessierten im ersten Teil überwiegend bilaterale Beziehungen (und wurde dort in der Familie die höchste Indifferenzstufe gesehen), so wurde im zweiten Teil auf mögliche Verletzungen eben der natürlichen Sittlichkeit und auf daraus resultierende Rückwirkungen reflektiert. Maßgeblich war aber auch dort die Sphäre des 84

Vgl. Verfassungsschrift, wo auch viel Spielraum gelassen wird: „Gleich unabhängig vom Staat ist und ebenso ungleichförmig kann [seyn] die Form der Verwaltung überhaupt; alsdenn die Einrichtungen der Magistrate, die Rechte der Städte, und Stände u.s.w. alle diese Umstände sind nur relativ wichtig für den Staat, und für sein wahres Wesen ist die Form ihrer Organisation gleichgültig.“ (V 169)

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

261

direkten zwischenmenschlichen Kontakts. Besonders deutlich sieht man das an den behandelten Phänomenen der Ehre, des Kampfes, vor allem der Rache. All dies blieb im Bereich der direkten Konfrontation (im nichtstaatlichen Bereich), maximal die Familie trat als aktive Einheit (z. B. als Rächer) auf. Ganz offensichtlich handelte es sich dort um einen rechtsfreien Raum, vorsichtiger gesagt: um Situationen, in denen Gesetze oder staatliche Gewalt nicht vorhanden waren. In den beiden ersten Teilen entschied daher auch immer die reale Kraft des Lebens, der persönliche Mut o. ä.; die Konflikte endeten in Unterwerfung, Unterjochung je einzelner Beteiligter, bei Gleichgewicht der Kräfte im Frieden. Doch gab es keinerlei Sicherheitsgarantien, alles hing von der je aufgebrachten einzelnen Kraft ab. Es fehlten noch mögliche staatliche Sanktionen, weshalb es dort beispielsweise auch keine Strafen gab. Gerade die Einführung der Strafe im dritten Teil (die an die Stelle der individuellen Rache tritt) bezeichnet den wesentlichen Unterschied: Der Staat übernimmt eine Schutzfunktion (durch Androhung und mögliche Vollstreckung von Sanktionen), wodurch die verschiedenen individuellen Kräfte sich neuen, vielfältig anderen Gebieten mit ganzer Energie widmen können. Es setzt eine extreme Steigerung der Entfaltung der je eigenen Möglichkeiten ein. Hegel hat das exemplarisch an der Vervielfältigung der Bedürfnisse und der entsprechenden Genüsse gezeigt. (Der erste Teil hatte auch schon auf bestimmte Folgen der Arbeitsteilung aufmerksam gemacht.) Nicht der einzelne muß sich fortan verteidigen, sondern der Staat schützt ihn in mehrerlei Hinsicht – sein Leben, aber auch seinen Besitz als Eigentum. Bei eintretenden Delikten kommt es nun zu einem Ausgleich, also entscheidet nicht mehr einfach nur körperliche Stärke oder Mut oder List. Der Staat soll aber selbstverständlich nicht das gesamte Leben regeln oder reglementieren: Er soll lediglich eine Sicherheit gegen fundamentale Risiken bieten und ansonsten die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß die in sich selbständigen Subsysteme im Gleichgewicht bleiben. Hegels Staat ist nicht autoritär oder totalitär, er schützt eigentlich nur den Lebensraum und gestaltet ihn so, daß jeder einzelne an einem bestimmten Ort für sich selbst verantwortlich sein kann. In dieser Hinsicht wirkt Hegel geradezu liberal. Nicht also unterjocht der Staat den einzelnen, sondern individuelle und allgemeine Zwecke stimmen bei genauer Betrachtung überein. Ein Bewußtsein dieser Übereinstimmung erlangen allerdings nicht alle Bürger des Staates; nach Hegel hat daher der erste Stand die zusätzliche Funktion, für die dazu nicht Befähigten – also diejenigen, die nicht erkennen, daß der Staat ihr „absolutes inneres Wesen“ ist – wenigstens als lebendige Anschauung dieser Übereinstimmung zu fungieren. Dies sei die „höchste Weise“, auf die der Adel allen anderen nütze. Die von Hegel hier präsentierte Lösung wirkt freilich künstlich und etwas altertümlich. Im Grunde hat sich längst herausgestellt, daß die alten Regulierungsfunktionen der Feudalgesellschaft gar nicht mehr greifen und die reale Tendenz zur industriell und marktwirtschaftlich dominierten Massen-Gesellschaft weder aufhalten noch einbinden können.85 Hegel hat das selbst klar erkannt und genauestens gezeigt, daß und wie das System des Bedürfnisses eine völlig neue Sachgewalt 85

Der Staat muß daher neue Steuerungsinstrumente ausbilden und bereitstellen, die der veränderten Realität Rechnung tragen. Hegel bejaht diese Entwicklung, sie ist notwendig und unumkehrbar. Trotz aller mit ihr eintretenden Schwierigkeiten stellt sie einen Zivilisationsfortschritt dar und ist sogar der einst als unüberholbares Vorbild geltenden antiken Polis überlegen.

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

gewinnt und zur Entfremdung86 führt, daß es der einzelne nicht mehr in der Hand hat, sein Leben unabhängig von dieser Entwicklung zu gestalten, sondern ungefragt eingebunden ist in diese moderne bürgerliche Gesellschaft. Es geht in der Gestaltung jenes Systems des Bedürfnisses durch die Regierung um Relationen objektiver Sachfelder, nicht mehr unmittelbarer zwischenmenschlicher Verhältnisse. Zwar begreift Hegel die bürgerliche Zivilisation als den Gipfel der Geschichte (und Fortschritt gegenüber Antike87 und Feudalgesellschaft), aber er versteht sie zugleich als die völlige Entfaltung der Extreme: Das Individuum findet sich dem (von ihm nicht mehr überschaubaren) Totum der Gesellschaft gegenüber und zugleich untrennbar mit ihm verknüpft, es verfolgt seine partikularen Interessen vielfach rücksichtslos; die dadurch noch gesteigerte materielle Produktion gewinnt eine zunehmende und äußerst wirksame Sachgewalt (die sich selbst nicht um das Ganze der Gesellschaft bekümmert) und der deshalb eine Regierung gegenübergestellt werden muß, welche die Extreme zu bändigen hat und die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren soll. Die von Hegel in seinem Manuskript geleistete philosophische Idealisierung der sachhaften Relationen der bürgerlichen Gesellschaft zielt darauf, sie einfaßbar und beherrschbar zu machen. Hegel sieht, daß sich diese Beziehungen dauerhaft verfestigen. Deshalb betont er im System der Sittlichkeit die wichtige Funktion der Regierung und sorgt sich um die Erhaltung der organischen Gliederung der Gesellschaft. Die konkreten Aussagen zur Funktion des ersten Standes mögen zwar merkwürdig wirken, doch zielt Hegel im System der Sittlichkeit eben einzig auf die konsequente philosophische Konstruktion der absoluten Sittlichkeit und nicht auf eine unmittelbar anwendbare Staatstheorie. Primär geht es Hegel weder um die resultierende Steigerung der materialen Lebensqualität noch um den Schutz vor Risiken (der zur Bequemlichkeit führen kann), sondern um den resultierenden Freiheitsgewinn. Über der Sphäre der (von Hegel hier noch nicht so bezeichneten) bürgerlichen Gesellschaft erhebt sich nämlich eine weitere und höhere Sphäre (des Politischen). Die absolute Sittlichkeit ‚braucht‘ den Staat als Ort ihres Wirkens: Sie ist positiv vorhanden, ist der Geist des Ganzen. Der Staat ist nach dieser Ansicht nichts dem Einzelnen abstrakt Gegenüberstehendes, nichts Fremdes. Er unterdrückt auch nicht die Individualität der einzelnen Subjekte, sondern ermöglicht sie vielmehr. Der Verzicht auf Selbstjustiz darf also gerade nicht als Freiheitseinschränkung verstanden werden (Freiheit und Willkür sind voneinander zu sondern). Der von Hegel entworfene Staat braucht freie Bürger. Diese Bürger werden nicht durch Zwang, sondern eigene Einsicht und Anschauung mit dem Ganzen vereint: Man kann zur Freiheit nicht gezwungen werden, das hatte Hegel schon Fichte entgegengehalten. Das menschliche Leben findet seine Erfüllung nicht in partikularen Zwecken, sondern erst im Leben in und für die Gemeinschaft. Der einzelne ist nach Hegel zu arm, die Sittlichkeit in ihrer ganzen Realität aufzufassen und findet seine sittliche Vollendung erst dadurch, daß er einem Stand angehört. In dieser Hinsicht orientiert sich Hegel tatsäch86 87

Der Terminus „Entfremdung“ wird im Manuskript nicht gebraucht. Vgl. neben den obigen Zitaten (225, Anm. 4) auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 19/129: „Das Entgegengesetzte gegen das Prinzip Platons ist das Prinzip des bewußten freien Willens der Einzelnen, was in späterer Zeit besonders durch Rousseau obenangestellt worden ist: daß die Willkür des Einzelnen als Einzelnen, das Aussprechen des Einzelnen notwendig ist.“

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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lich an den antiken Autoren. Doch gesteht er – anders als Platon88 oder Aristoteles – prinzipiell allen Menschen eine freie Persönlichkeit zu: Die moderne Individualität bleibt anerkannt, auch wenn nicht alle Individuen gleichermaßen fähig sind, ihre Freiheit zu leben. Dem Wortlaut nach sagt Hegel durchaus das Gegenteil: Die Bürger des zweiten und dritten Standes seien „unfrey“. Davon darf man sich jedoch nicht irritieren lassen, denn im rechtlichen Sinne sind sie frei; Hegels Zuschreibung zielt eher auf ihre Mentalität. Hiermit ist auch die Frage nach dem Eigenwert des einzelnen Individuums im umfassenden Staatskörper berührt. Eine erste Lektüre mag ja durchaus den Eindruck vermitteln, als ob sich das Individuum völlig unterordnen, sich aufgeben müsse. Die Stände erscheinen als eine Art Ordnungsinstrument, welches vorgegebene Verhaltensformen und Spielräume festschreibt. Auch weiß man zunächst nicht, ob der einzelne Bürger überhaupt durch eigene Leistung seine Stellung (also auch seinen Stand) ändern kann. Das staatliche Ordnungsgefüge wirkt also vorerst relativ starr. Es ist somit nicht verwunderlich, daß man dem frühen Hegel vielfach eine individualitätsfeindliche Haltung unterstellte. Vergegenwärtigt man sich hingegen Hegels eigene Fragestellung, so wird verständlich, weshalb die überindividuelle Perspektive im dritten Teil leitend ist. Hegel möchte ja nach eigenem Bekunden darstellen, wie sich Allgemeines und Besonderes durchdringen, daß beide wirklich und nicht nur Abstraktionen sind: „[D]ie Frage ist allenthalben […], daß die Individuen nothwendig im allgemeinen und sittlichen seyn.“ (V 339f.) Hegel untersucht daher vor allem jene Institutionen, welche sich der Organisation und Gewährleistung eines funktionierenden gesellschaftlichen Lebens annehmen. Ihn interessiert der allgemeine Geist, der sich im Staatsleben offenbart und es trägt. Damit nimmt er übrigens sein frühes Thema des Volksgeistes neu auf, bindet es aber nun in eine umfassende Staatskonzeption ein. Überblickt man den genauen Gang der Hegelschen Argumentation, so ist klar, daß es einen Staat ohne die lebendige Tätigkeit und Akzeptanz der einzelnen Individuen gar nicht geben kann. In der Verfassungsschrift hatte Hegel sogar ausgerufen, Deutschland sei kein Staat mehr (V 161), obgleich es als Territorium zweifellos vorhanden war. Und im System der Sittlichkeit wird gerade im dritten Teil ausgedrückt, daß die Bewegung des Allgemeinen nur möglich ist, insofern die Realität des Allgemeinen überhaupt „als eine Menge von Individuen besteht“ und „in Händen von Individuen ist“. (V 339) Daß das Individuum hier irgendwie nebensächlich oder überflüssig sei, wird man nicht sinnvoll behaupten können.89 Für Hegel kann es ohne selbständige Individuen gar keinen Staat geben. 88

89

Vgl. etwa Rosenzweigs Hinweis zur Differenz der Ständegliederung: „Nicht wie bei Platon besondere Tugenden geziemen jedem Stande, sondern die verschiedene Ordnung der gleichen Gesamtheit der Tugenden, – mehr eine verschiedene sittliche Gesamthöhe als verschiedene, arbeitsteilig ausgebildete Einzeltugenden; soweit es doch so scheint, ist es nur Nebenfolge, nicht wie bei Platon Wurzel der Standesordnung.“ (1920, Bd. 1, 135) Vgl. auch V 333: „Die Individualisirung das lebendige Leben ist nicht möglich ohne Vereinzelung“. Hegel anerkennt dies also. Hegel hatte bereits im zweiten Teil gezeigt, daß in der einsetzenden Selbstverwirklichung zugleich Allgemeinheit realisiert wird. In der absoluten Sittlichkeit, also im dritten Teil, soll es sich nicht um eine bloß erweiterte Besonderheit, die noch kein allgemeines Leben wäre, handeln; hingegen wird die Allgemeinheit des allgemeinen Lebens von Hegel als eine

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

Dagegen ist es richtig, daß nach Hegels Auffassung ein Volk als wirklich gewordene Sittlichkeit nur dann existiert, wenn und insofern es zu einer Unterwerfung aller unter einen realen Willen kommt. Auch das ist aber keine gewaltsame Unterwerfung, denn die Individuen müssen diesen einen realen Willen als ihren Allgemeinwillen wissen. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um die angestrebte verwirklichte Sittlichkeit des Volkes, sondern es ist nur eine „beziehungslose Menge“ von Individuen vorhanden. Es gilt, diese Beziehung der Sittlichkeit (die mit der bloßen Menge noch nicht gegeben ist) herzustellen und zu bewahren, also dafür zu sorgen, daß es zu einer Subsumtion aller unter ein Allgemeines kommt. Dieses Allgemeine müßte ein solches sein, „das Realität für ihr Bewußtseyn hätte, eins mit ihnen wäre, und Macht und Gewalt über sie hätte, insofern sie Einzelne seyn wollten“. (V 325) Dieser Satz macht deutlich, daß sich die Individuen für das angestrebte Ziel bewußt einem Allgemeinwillen als einer politischen Macht unterzuordnen hätten, wobei sie ihn freilich zugleich als ihren eigenen Willen wissen, denn sonst könnten sie mit ihm nicht – wie gefordert – eins sein. An all diesen Bestimmungen ist zu erkennen, daß der Begründungsanspruch des dritten Teils extrem hoch ist. Mißt man den Hegelschen Entwurf an den Vorgaben, welche der Autor in seiner „Einleitung“ aufstellte, darf man ihn als ein erfolgreiches Projekt bezeichnen. Denn der abschließende dritte Teil (obwohl nicht bis zum Ende ausgearbeitet) rekonstruiert die absolute Sittlichkeit in einer Weise, die es ermöglicht, darin all jene Bestimmungen zu verorten, die sie von Anbeginn auszeichnen sollten. Aber hier liegt schon ein erstes Problem verborgen. Hegel argumentiert mit der ‚Vernunftnotwendigkeit‘. Er weiß schon zu Beginn, wie das System beschaffen sein muß und führt es anschließend (bei manchem Flüchtigkeitsfehler im einzelnen) insgesamt recht konsequent durch. Möchte man es zuspitzen: Hegel entwickelt das System zwar getreu seiner zu Beginn festgelegten Setzungen, aber er entwickelt eben auch nur dies, d. h. er wickelt eigentlich nur aus, was von vornherein darin enthalten war. Das ist, könnte man sagen, saubere Arbeit, und als solche ist sie zweifellos zu würdigen – die eigentliche Würdigung verdient das Hegelsche Manuskript jedoch, wie in vorliegender Arbeit gezeigt wurde, auf einer ganz anderen Ebene. Trotz der weitgehenden Konsistenz der Argumentation muß nun auch kritisch gefragt werden, ob das vorgestellte Modell die darzustellende Realität erfaßt oder nicht, ob den in der Theorie rekonstruierten Vorgängen – und erst recht bei diesem Gegenstand – eine Wirklichkeit entspricht. Das jedenfalls war auch Hegels eigener Anspruch: Es sollte nicht nur die Idee der absoluten Sittlichkeit rekonstruiert, sondern ihr Realsein aufgezeigt werden. Diesbezüglich hat Hegel, wie der Interpretationsteil gezeigt hat, zwar zweifellos sehr viel erreicht. Doch ist stark zu bezweifeln, ob ihm ein anderer Nachweis gelungen ist, der für den Erfolg seines Projektes zentral ist: Ob nämlich tatsächlich das empirische Individuum mit der absoluten Sittlichkeit identisch wird. Nach meinem Eindruck wird dies bis zum soziale Wirklichkeit beschrieben. „Bloß abstrakt oder formell ist das Allgemeine überall da, wo das Besondere von ihm getrennt und infolgedessen auch auf sich fixiert bleibt. […] Demgegenüber besteht die Konkretion des Allgemeinen in der wirklichen Durchdringung des Besonderen mit ihm.“ Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, Berlin und New York 1982, 20. Die Bemerkungen beziehen sich nicht auf das System der Sittlichkeit. Zur systematischen Relevanz der individuellen Freiheit siehe auch Dellavalle 1998.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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Ende nur behauptet. Die Frage verschärft sich noch, wenn man Hegels eigene Vorgabe zum Maßstab nimmt. Denn diese Einheit sollte nicht nur gewußt, sondern auch angeschaut werden. Freilich finden sich im Text mehrere (oft metaphernreiche) Stellen, die suggerieren, daß dies auch gegeben sei. Aber der tatsächliche Verlauf des Manuskripts kann es nicht einsichtig machen: Es ist eben nicht zu sehen, daß Hegels als notwendig behaupteter Entwicklung (vgl. das vielfache „es muߓ) eine reale Entwicklung entspricht. Insbesondere ist nicht klar, warum und auf welchem Weg das einzelne Individuum dazu gelangt, sich mit dem Ganzen identisch zu wissen und zu fühlen. Hier soll weder darüber spekuliert werden, wie man Hegels Vorschläge vielleicht doch stimmig zusammenbringen könnte, noch ihm vorgehalten werden, was er vielleicht vergessen hätte darzustellen. Mir geht es nur darum festzuhalten, daß Hegel – jedenfalls in diesem Manuskript – es nicht vermag, das konkrete Werden des Einsseins aufzuzeigen. Dieser Prozeß fehlt ganz einfach in der Darstellung, und es gibt hierfür, das muß man Hegel zugestehen, auch Gründe.90 An dieser Stelle geht es aber nicht um die Rechtfertigung des Fehlens bestimmter Systemteile, sondern allein um die Beurteilung der Leistungskraft des konkret Dargebotenen. Und diesbezüglich bleibt leider jener aufgezeigte gravierende Mangel bestehen: Hegel hat es nicht vermocht, die absolute Sittlichkeit konsequent aus einem Bewegungsgesetz der natürlichen Sittlichkeit (des ersten Teils) selbst, noch aus einem solchen der reinen Freiheit (des zweiten Teils) herzuleiten; er erreicht sein Ziel nur über die spekulativen Setzungen, d. h. als immanente logische Entwicklung.91 Den soeben an einem konkreten Beispiel kritisierten Mangel – den fehlenden Nachweis einer parallel zur logischen Entwicklung auch real ablaufenden Entwicklung – muß man vermutlich für das gesamte Manuskript geltend machen. Hegels methodische Rekonstruktion mag in sich stimmig sein, es ist jedoch nicht zu sehen, daß die in ihr beschriebene Abfolge der Subsumtionsstufen auch sachlich notwendig und überzeugend ist. Letztlich muß festgestellt werden, daß Hegel durch seine Subsumtionsmethode zwar eine ungeheure Stoffülle fassen und gliedern kann, aber diese ‚Zubereitung‘ dem behandelten Material doch vielfach äußerlich bleibt. Hierin, das war eingangs behauptet worden, liegt der ‚Bruch‘ der Methode des Manuskripts: Auf der einen Seite glänzende phänomenologische Analysen, auf der anderen Seite metaphysische Setzungen. Den Unzulänglichkeiten des Manuskripts steht freilich ein großer Reichtum an Einsichten gegenüber. Außerdem scheint Hegel selbst einige der Schwierigkeiten als solche erkannt zu haben. Er veränderte in der Folge nicht nur seine formale Darstellungsart, sondern versuchte beispielsweise auch inhaltlich zu klären, welche Transformationen das einzelne Bewußtsein zu durchlaufen habe. Ganz offensichtlich ist es Hegel in seinen auf das Manuskript folgenden Texten dann auch gelungen, eine präzisere Beschreibung der verschiedenen Stadien der Entwicklung des Bewußtseins zu geben. Die Phänome90

91

Diese liegen in der durch die Methode vorgegebenen Gliederung des Materials; Hegel hat selbst nicht beabsichtigt, eine Theorie der Bewußtseinsentwicklung zu konstruieren. Vgl. Siep 1979, 181: „Hegel vermag im System der Sittlichkeit den Übergang von den Formen der ‚natürlichen‘ bzw. der ‚negativen‘ Sittlichkeit zur wahren Sittlichkeit nicht als notwendigen Fortgang darzustellen, der in der ‚Natur‘ der relativen Sittlichkeit selbst, und d. h. in ihrem Element und Träger, dem einzelnen Bewußtsein begründet ist.“

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II. ANALYSE UND INTERPRETATION

nologie des Geistes ist hierfür ein eindrucksvolles Zeugnis. Sie steht, trotz der erheblichen Neuerungen, auch für die Kontinuität des Hegelschen Denkens: Denn neben vorhandenen materialen Übereinstimmungen weist selbst der methodische Gesamtaufbau der Phänomenologie des Geistes noch eine deutliche Parallele zum System der Sittlichkeit auf. In beiden Texten findet sich das Motiv des stufenweisen Aufstiegs – sicher in verschiedener Ausprägung, aber klar erkennbar. Die Theorie steigt vom Elementaren, Einzelnen zum Komplexen auf, sie beginnt mit der Analyse ganz einfacher ‚Bausteine‘ und schreitet dann zur Synthese fort, vollzieht also eine Bewegung vom (einzelnen, analytisch herausgelösten) Abstrakten zum synthetisierten Konkreten. Dieser Stufengang ist im System der Sittlichkeit durch das starre Subsumtionsverfahren teilweise überdeckt, aber doch ganz deutlich auszumachen: Hegel dokumentiert im Grunde den Aufstieg aus der natürlichen Gebundenheit des elementarischen Lebens hinauf in die Sphäre der absoluten Sittlichkeit, also der gewußten und angeschauten Einheit, wobei sich schrittweise verschiedene Gestalten der Vernunft und das geistige Wesen des Menschen erschließen. Das resultierende (und am Ende begriffene) Ganze ist weit mehr als nur die Summe der einzelnen Teile, und die zuvor scheinbar selbständigen Teile und Sphären (die freilich von Hegel von vornherein je nur als Reflex der absoluten Sittlichkeit bezeichnet wurden) werden schließlich als von dem Ganzen getragen und dieses gleichzeitig erhaltend ausgewiesen. Aus der Sphäre der einfachen natürlichen Sittlichkeit erhebt sich durch eine Vielzahl von Tätigkeiten und Erfahrungen hindurch schließlich der bewußte und wirkliche Bürger des Gemeinwesens. In der Phänomenologie des Geistes liegt der Akzent dann schließlich auf der Erfahrung des Bewußtseins selbst, auf den Transformationen der verschiedenen Gestalten des Geistes. Es wird somit primär der Weg des Bewußtseins untersucht, ein Aufstieg von der sinnlichen Gewißheit über das Selbstbewußtsein bis zum absoluten Wissen.92 Die absolute Sittlichkeit ist in der Phänomenologie des Geistes nicht der Zielpunkt; auf das Geistkapitel läßt Hegel nun noch separat die Religion und das absolute Wissen folgen. Rückbezieht man das System der Sittlichkeit auf seine eigenen Vorgaben in der „Einleitung“ und die im Verlauf des Textes erfolgenden emphatischen Zuschreibungen dessen, was „absolute Sittlichkeit“ sei, so ist die von Hegel zu tragende Begründungslast denkbar groß. Er müßte zeigen, „daß das lebendige Individuum, als Leben dem absoluten Begriffe gleich sey, daß sein empirisches Bewußtseyn eins sey mit dem absoluten und das absolute Bewußtseyn selbst empirisches Bewußtseyn“. (V 324) Sein Manuskript kann das nicht wirklich einlösen. Es gelingt ihm eben nicht, außer vielleicht für einen privilegierten Teil des ersten Stands, die geforderte lebendige Einheit von empirischem und absolutem Bewußtsein aufzuzeigen. Daß Hegel seinen Anspruch mit 92

Das Aufstiegsmotiv ist auch klar in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes ausgedrückt: Das Individuum habe „das Recht zu fodern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter […] zu diesem Standpunkte reiche“ (IX 23), und „ihm in ihm selbst denselben aufzeige“. (Ebd.; der letzte Teilsatz war in der Originalausgabe Bamberg und Würzburg 1807 nicht enthalten, findet sich aber seit der ersten Gesamtausgabe Berlin 1832 und in zweiter Auflage 1841 in vielen Nachdrucken; vgl. IX 23, Zeile 30) Die Phänomenologie des Geistes, die Erfahrungsreise des Bewußtseins, soll also gleichsam eine Leiter sein, auf der das einfache Individuum vom „natürlichen Bewußtsein“ bis zur Wissenschaft und zum absoluten Wissen aufsteigen kann.

3. DIE ABSOLUTE SITTLICHKEIT

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den von ihm im dritten Teil präsentierten Lösungen nicht real erfüllen kann, sollte man ihm angesichts der enormen Schwierigkeiten und der Fülle des von ihm Geleisteten nicht vorwerfen (zumal sein Text nicht zur Veröffentlichung bestimmt war) – er hätte wohl eine Gesellschafts- und Staatstheorie schreiben müssen. Hegels eigene Absicht im System der Sittlichkeit war es jedoch, die philosophischen Probleme zu klären. Obwohl das Manuskript also eine gesellschaftstheoretische Tendenz aufweist, ging es Hegel selbst primär darum, mit seiner spekulativen Logik auf Basis der Transzendentalphilosophie die Identität von Realität und Idealität, reeller und ideeller Welt zu fassen.93 Die reale empirische Identität war dagegen nicht Hegels Ziel: Hegel betreibt in seinem Manuskript unzweifelhaft Philosophie, nicht Politik.

93

Vgl. auch Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, 20/455: „Was als wirkliche Natur ist, ist Bild der göttlichen Vernunft; die Formen der selbstbewußten Vernunft sind auch Formen der Natur. Natur und geistige Welt, Geschichte, sind die beiden Wirklichkeiten.“ (Hervorhebungen von mir)

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Personenverzeichnis

Abbt, Thomas 246 Adolphi, Rainer 44, 72, 156 Adorno, Theodor W. 76 Ameriks, Karl 9, 225 Aristoteles 19, 33, 39–41, 52, 61, 72, 83, 90, 109, 114, 121, 142, 188, 190f., 214–217, 226, 239– 241, 263 Arndt, Andreas 20, 81f., 186f. Avineri, Shlomo 18, 64, 186, 250 Baum, Manfred 16, 31 Bobbio, Norbert 37, 186 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 110 Bonsiepen, Wolfgang 13, 66, 106, 146 Brandom, Robert B. 42 Brandt, Horst D. 43, 76 Brandt, Reinhard 9, 27, 171, 230 Briareus 230 Brunner, Otto 186 Bubner, Rüdiger 33, 42, 69, 160 Buchstein, Hubertus 42 Büttner, Stefan 160 Cassirer, Ernst 85, 104, 160, 215 Chamley, Paul 187 Cingiskan 204 Conze, Werner 186–189 Coppieters, Bruno 110, 135, 142, 193 Dante Alighieri 126 Dellavalle, Sergio 73, 173, 264 Dickey, Laurence 26, 71f., 164 Dilthey, Wilhelm 11, 49f.

Dohrn-van Rossum, Gerhard 110 Dubský, Ivan 61f., 187 Düsing, Klaus 49, 87, 91 Ebert, Theodor 31 Engels, Friedrich 53 Eschenmayer, Carl August 117f. Ferguson, Adam 71, 246 Fetscher, Iring 37, 61 Fichte, Johann Gottlieb 14, 17, 20f., 23f., 34–36, 38, 40f., 43, 47, 51, 53, 59, 63, 68, 70, 72, 74– 83, 86–88, 91f., 94, 108, 122f., 126–128, 143, 150, 152f., 173, 176, 185f., 232, 239, 243, 255f., 262 Fischer, Kuno 13, 46f., 49 Flechtheim, Ossip K. 56f. Förster, Friedrich 45 Förster, Wolfgang 117 Freud, Sigmund 203 Fulda, Hans Friedrich 16 Gabler, Georg Andreas 84, 145 Gadamer, Hans-Georg 147 Garve, Christian 189, 246 Gehlen, Arnold 184 Gibbon, Edward 136f., 205 Giusti, Miguel 33, 37 Glockner, Hermann 12, 33, 36, 57f., 84, 97, 104, 146–148, 230f. Goethe, Johann Wolfgang 26, 90, 107, 126 Göhler, Gerhard 30f., 33, 39, 65, 86, 106, 145, 187, 242f.

278 Gründer, Karlfried 9, 193 Grüne, Stefanie 28 Habermas, Jürgen 28, 43, 62, 130, 157, 186f. Haering, Theodor L. 13, 33, 55f., 105, 145, 165, 185, 214, 256 Halbig, Christoph 42 Hardimon, Michael O. 42 Harris, Henry Silton 64, 67f., 106, 203, 212, 218, 255 Hartkopf, Werner 117 Hartmann, Nicolai 41, 50, 121 Hasler, Ludwig 43, 68f. Haym, Rudolf 45–49, 52, 76f., 80, 242 Heidegger, Martin 61, 174 Heller, Hermann 54f., 233 Henkel, Michael 243 Henrich, Dieter 17, 26, 28, 63, 84, 86f., 91, 146, 173 Herder, Johann Gottfried 90, 107, 184 Herodot 188 Hesiod 230 Hespe, Franz 224, 230 Hobbes, Thomas 38, 40, 61, 83, 110, 146, 214f., 223, 229f. Hocevar, Rolf K. 224, 235 Hoffmeister, Johannes 11, 29, 107, 204, 250 Hölderlin, Friedrich 17, 20, 25, 74, 87, 90, 168, 173 Homer 160 Homeyer, Carl Gustav 150, 164 Honneth, Axel 40–42, 69, 72f., 114, 148f., 186, 209, 214, 217–219, 222f. Horstmann, Rolf-Peter 9, 14, 19, 28, 32–35, 55, 63, 93, 106–109, 111–114, 126, 139, 144f., 173, 227, 238, 241 Hösle, Vittorio 175–177 Husserl, Edmund 88 Ilting, Karl-Heinz 39f., 61, 114, 150, 164, 172, 214–217, 219 Irrlitz, Gerd 9, 26, 32, 63f. Iselin, Isaak 246 Jacobi, Friedrich Heinrich 21, 125–127

PERSONENVERZEICHNIS Jaeschke, Walter 9, 40, 80f., 225, 237 Jamme, Christoph 17, 46, 168 Jesus Christus 16, 143, 230 Kant, Immanuel 13, 16f., 20–24, 26–29, 33–38, 40–44, 50f., 53, 55, 59, 62f., 68, 75, 80f., 85, 88, 90f., 94, 96, 100–103, 107f., 110f., 123– 126, 128, 130, 143, 147, 150, 164, 171–173, 175f., 185f., 189, 203, 229, 245 Kesselring, Thomas 28 Kimmerle, Heinz 13f., 36, 65f., 87, 106f., 109, 113–115, 144, 161, 256 Knox, Thomas Malcolm 64 Köhler, Dietmar 42 Kojève, Alexandre 42 Kondylis, Panajotis 87 Koselleck, Reinhart 186 Kozu, Kunio 204 Kroner, Richard 50, 85, 90, 110 Krüger, Hans-Peter 9, 42 Kuhlmann, Wolfgang 41 Ladwig, Bernd 42 Lassalle, Ferdinand 53 Lasson, Georg 12, 30f., 50, 56f., 105, 162, 169, 228, 246, 254 Leibniz, Gottfried Wilhelm 90 Lembcke, Oliver 243, 245 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 71 Locke, John 19, 186, 189 Löwith, Karl 174, 190, 193 Lukács, Georg 19, 42, 49, 53, 59–61, 96, 101, 116, 187, 240, 242, 246 Lykurg 251 Majer, Johann Christian 227 Marcuse, Herbert 58f., 215 Marquard, Odo 38 Marx, Karl 53, 61, 66, 193 Marx, Werner 92, 100 McDowell, John Henry 42 Meist, Kurt Rainer 16, 31, 43, 76–80, 82f., 90, 224 Merker, Barbara 41

PERSONENVERZEICHNIS Mesch, Walter 69, 160 Meynier, Johann Heinrich 252 Mohr, Georg 41 Mollat, Georg 12, 30, 48f. Montesquieu, Charles de 27, 51, 71, 135, 193, 205 Möser, Justus 189 Moses 236, 251 Neuhouser, Frederick 42 Nicolin, Friedhelm 63 Niethammer, Friedrich Immanuel 18 Nietzsche, Friedrich 203 Niewöhner, Friedrich 117 Nimrod 213 Noah 213 Nohl, Herrmann 11 Nuzzo, Angelica 108–111, 113, 184 Oetinger, Friedrich Christoph 117 Peirce, Charles Sanders 177 Petry, Michael John 28, 107 Piaget, Jean 28 Pinkard, Terry 9, 42, 73f. Pippin, Robert B. 9, 42 Platon 39, 45, 47, 51–53, 90, 125, 138, 140, 188, 214–216, 225, 242, 253, 262f. Pöggeler, Otto 14, 17, 42, 49, 62 Priddat, Birger P. 248, 251f. Pütter, Johann Stephan 227 Quante, Michael 41f. Reinhold, Karl Leonhard 118 Ricardo, David 19 Riedel, Manfred 19f., 36, 43, 55f., 62f., 109, 137, 150, 187, 190f., 214–217, 222, 225, 235, 246 Ripalda, José María 17 Ritter, Joachim 19, 37, 42, 187 Roeßler, Constantin 61, 193 Rosenkranz, Karl 11–13, 19, 33, 44f., 47f., 73, 76f., 84, 104f., 215, 224, 242, 246, 248 Rosenzweig, Franz 29, 47, 50–54, 87, 224, 226f., 239f., 242f., 249, 251f., 255, 263

279 Rousseau, Jean-Jacques 16, 38, 71, 83, 164, 174, 262 Royce, Josiah 177 Ruge, Arnold 61, 193 Schall, Christian 160 Scheit, Herbert 231, 242 Scheler, Max 61 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 14–17, 20, 25f., 29, 33–35, 37, 40, 43, 46f., 50, 52, 54, 57f., 60–64, 68–71, 74–76, 80, 85–88, 90– 96, 99–103, 107, 111, 114–121, 126, 150, 156, 180, 185, 225, 227 Schiller, Friedrich 17, 25f., 71, 111 Schings, Hans-Jürgen 27 Schleiermacher, Friedrich 24, 160 Schlosser, Friedrich Christoph 246 Schmalz-Bruns, Rainer 42 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 187 Schmitt, Carl 42 Schmücker, Reinold 41 Schnädelbach, Herbert 13, 44, 75f., 85, 89, 101, 106, 115f., 156, 172, 199f., 203, 226 Schneider, Helmut 17, 46 Schrödter, Hermann 117 Schwemmer, Oswald 9, 160 Shakespeare, William 212 Siep, Ludwig 40–42, 69f., 116, 120f., 146, 148, 161, 178, 186, 200, 218, 225, 265 Smith, Adam 19f., 60, 189, 246, 248, 251f. Sok-Zin Lim 187 Solon 251 Spinoza, Baruch de 22, 40, 61, 90, 94, 109, 214f. Stein, Lorenz von 53, 61 Steinvorth, Ulrich 41 Steuart 19f., 71, 187, 193, 246, 248f. Stollberg-Rilinger, Barbara 25 Stolzenberg, Jürgen 9, 225 Tamerlan 204 Taminiaux, Jacques 66 Taylor, Charles 42 Theunissen, Michael 9, 173, 186, 193, 264

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PERSONENVERZEICHNIS

Trede, Johann Heinrich 33, 58, 64f., 89, 106, 179f., 199, 243 Trescher, Hildegard 51 Troeltsch, Ernst 44 Tugendhat, Ernst 37

Weckwerth, Christine 74f., 106, 219 Weisser-Lohmann, Elisabeth 42 Wildt, Andreas 70, 200, 214 Wolff, Michael 110, 246 Wood, Allen W. 42

Vieweg, Klaus 107f., 160f. Vogel, Paul 53f.

Zimmerli, Walther Ch. 43, 68–70, 87, 92, 115– 119, 146