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German Pages 386 Year 2015
Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell
Andrea Allerkamp lehrt als Maître de Conférences Deutsche Literatur und Ideengeschichte an der Universität Le Mirail in Toulouse. Sie forscht und publiziert über Literaturtheorie, Anthropologie und Literatur, Gedächtnis und Übertragung und über Zeugenschaft.
Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur
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I N H AL T Vorwort 9
1. Performanz des Anrufs 31
Zur Frage der Macht 31
Tonloser Gewissensruf (Martin Heidegger) 41
Polizeiliche Interpellation (Louis Althusser) 52
Sprechakt und Zitat: Die angeführte Sprache (John L. Austin) 58
Das Drama der Apostrophe (Jacques Derrida) 65
Das Versprechen der Sprache 79
2. Sakrale Anrufungen 85
Medium und Bekenntnis 85
Ruf nach Innen: Noli foras re (Augustinus) 91
„So geh und werde selbst die Schrift“ (Angelus Silesius) 104
Bejahung des Anrufs: „Urwort Ja“ (Franz Rosenzweig) 123
Anruf im Namen (Walter Benjamin) 133
3. Verwerfungen „Wem sonst als dir“ (Friedrich Hölderlin) 145
Das Echo des Nachrufs 145
Quälende Quellen 154
Genommener Name 160
Im Echo versagende Stimme(n) 169
Widmung oder/und Poetologie: „O Diotima!“ 174
„Je signe“ – Hölderlins Unterschriften 182
4. Post-Adressen 187
Verwaltung und Adresse 187
Die Ironie der Adresse (Sören Kierkegaard) 202
Virtuelles Postvergnügen (Stéphane Mallarmé) 226
Der Witz der Adresse (Franz Kafka) 244
5. Die letzte Adresse „Pensa, lettor“ (Dante Alighieri) 265
Anrufung des Lesers 265
Inferno: Infernale Apostrophe 271
Purgatorio: Den Schleier nehmen 282
Paradiso: O Höhenflug des Rufs (fama) 291
6. Politik des Appells 305
Zeugnis 305
Akten und Zuschauer 315
Délire/Unlesbarkeit (Charlotte Delbo) 334
Nachwort 347
Dank 354
Bibliographie 355
E INLEIT UNG Der Titel Anruf, Adresse, Appell enthält eine provokative These. Drei Redefiguren sind in eine bewußt gewählte Reihenfolge gestellt. Vom unmittelbaren Anruf zum entarteten Appell, so hätte der Titel auch lauten können. Es geht jedoch nicht darum, eine neue Variante der alten Verfallsgeschichte zu präsentieren. Zwar folgt die Anordnung der vorliegenden Arbeit den historischen Stationen, die der Titel vorgibt, aber ihre Progression wird auch in Frage gestellt. Keine Reihenfolge, sondern ein „Reigen von Figuren”1 tritt zutage, in dem die Figuren sich abwechseln, sich voneinander abstoßen, sich wiederholen, aufeinander antworten, sich widerrufen. Der Grund für diesen regen Austausch liegt in den Figuren Anruf, Adresse, Appell. Sie nicht nur typologisch einzukreisen, sondern sie als Figurationen über sich selbst sprechen zu lassen, ist das Ziel. Der Titel spricht das aus, was er hervorbringt. Die Figuren Anruf, Adresse, Appell sprechen an, fordern auf und stellen in Beziehung. Als Redefiguren verweisen sie auf sich selbst und antworten einander. Unterscheiden sich Anruf und Appell von der administrativen Adresse, weil sie eine direkte Beziehung von Anrufer und Angerufenem suggerieren? Wie aber kommt diese Beziehung zustande? Und was verbindet die drei Redefiguren miteinander? Sie sind alle drei performativ, d.h. sie fordern zu etwas auf, bezeichnen noch zu vollziehende Handlungen. Wie verhalten sich Stimme und Schrift zueinander? Gibt es einen Anfang des Sprechens, Schreibens, Anredens, Anschreibens? Eine Anrede kann mit einem Gruss beginnen. Doch wie ruft sich dieser Gruss selbst ‚ins Leben’, wo beginnt und wo endet er? Eine Stimme ruft an und ist ihrerseits schon angerufen. Ein- und Ausgangsadressen werden ununterscheidbar. Der Ruf hallt nach innen. „Zuhören heißt widerhallen, heißt, in sich die Töne, die von anderswo herkommen, schwingen zu lassen und ihnen durch ihre Reverbalisierung in einem dafür zum
1 Erich Auerbach: „Figura”, in: E. Auerbach, Dantestudien, Istanbul 1944, S. 11-71, hier S. 17: „Die zahllosen Atome sind in unablässiger Bewegung, sie schweifen im Leeren, vereinen sich und stossen einander ab: es ist ein Reigen von Figuren.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL Hohlraum gewordenen Körper antworten. Diese Höhle ist nicht die von Platon. Sie ist nicht bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, durch den von außen Schatten geworfen werden, sondern sie ist die Öffnung in sich als Öffnung im Innersten meiner selbst und die Öffnung an sich als Öffnung schlechterdings selbst.”
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Ein Echo wirft den Ruf in einen „Hohlraum” zurück. Es ist ein Hohlraum des Textes, der sich das Zitat einverleibt. Anruf, Adresse und Appell zeichnen sich durch ihre Unbedingtheit aus. Sie schlagen in einen Befehl zum Lesen um: „Folge mir!” Sie fordern zu einem Rückruf auf, zum Zuhören. Und sie konfrontieren mit der Entscheidung, dem Befehl Folge zu leisten oder auch nicht. Einer Stimme Gehör zu schenken bedeutet, sich für sie zu engagieren, ihr eine Zugehörigkeit zu erweisen. Von einer Stimme angerufen zu werden bedeutet, auf sie zu hören, ihr zu gehorchen. Zugehörigkeit und Gehorsam – „zwei Modi der ‚Antwort’”3. Doch wer entscheidet darüber, was oder wer in welchem Moment wen anruft? Einer Stimme zuzuhören bedeutet, alle anderen zu überhören. Wenn Schreiben antworten ist, dann stellt sich die Frage nach der Verantwortung, der Ant-Wort, dem Wort vor dem Wort. Was löst einen Anruf aus? Und was für Erwartungen löst ein Anruf aus? Was verspricht er? Gesprochene Sprache ist adressierende (An-)Sprache. Sie kann flehentlich oder sehnend anrufen, höflich oder beleidigend anreden, politisch oder militärisch appellieren. Sprache handelt, weil sie in Beziehung setzt und Machtverhältnisse (re)produziert. Sie ist unterwegs zum anderen: „Wenn wir dem Wesen der Sprache nachdenken sollen, muß sich die Sprache zuvor uns zusagen oder gar schon zugesagt haben.”4 Mit dem Wort ‚Anruf’ ist im deutschen Sprachgebrauch eine laute Anrede, Aufruf, Zuruf oder auch ein Rufzeichen, ein Signalruf gemeint. Für einen Anruf gibt es viele Gründe: die Götter, die Muse, den Genius, Furor und Pathos, die Inspiration, den Auftrag, die Berufung, die Seele oder die Nerven, einen heiligen Befehl, das Gericht, den Hilferuf, den Ruf des Gewissens, die polizeiliche Interpellation, die Erinnerung oder das Vergessen und nicht zuletzt das Telefon… Eine Bitte in tiefer Not lautet etwa so: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir./Herr, höre meine Stimme!” (Ps.130,1-2)5 Wessen Stimme hallt im Zitat des Textes wider? Wer hat sie herbeigerufen? Wer antwortet, wenn gefragt wird? Ein Gericht wird man anrufen, damit es ein Urteil spricht. Das Gericht übernimmt die Rolle der Autorität. Es entscheidet. Worauf aber beruft sich das 2 Jean-Luc Nancy: „Verantwortung des Sinns”, in: Marianne Schuller/Elisabeth Strowick (Hg.), Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg 2001, S. 15-27, hier S. 17. 3 Ebd., S. 19. 4 Martin Heidegger: „Das Wesen der Sprache”, in: M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 111997, S. 180. 5 Die Bibel, Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, Freiburg/Basel Wien 1980, S. 684.
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EINLEITUNG
Gesetz? Wird man angerufen, so kann dies als Berufung zu Höherem ausgelegt werden oder einen Herausruf aus der Masse bedeuten. Anrufer und Angerufener gehen eine Beziehung ein. Wer behält in dieser Beziehung die Oberhand? Das Verb ¸appellieren’ kommt aus dem lateinischen appellare – ‚anreden, anrufen’, ‚jemanden einladen zu kommen oder Aufmerksamkeit zu schenken mittels eines Wortes, eines Schreis, einer Geste oder eines Signals’, ‚jemanden um Hilfe rufen, mit Worten antreiben’, ‚jemanden beim Namen nennen’. Im englischen appeal oder im französischen appel werden so unterschiedliche Bedeutungen angesprochen wie die Verführung (der Lockruf), die juristische Berufung oder der militärische Appell (die Einberufung). Appelle können Zurufe, Anrufe, Aufrufe sein. Ein Signal mit Hilfe eines Instruments ist ein Appell. Im Deutschen setzt sich vor allem die militärische Bedeutung des Appells durch, der Ruf zum Versammeln, Appell zum Antreten, Hissen der Fahne, zur Befehlsausgabe, zum Verlesen der Namen oder der Nummern von Gefangenen. Auch das Zitat ist eine Anrufung, eine Figur der Vokation, mit dem sich ein Text selbst ermächtigt, ins Sein ruft. Daß die intratextuelle Beziehung zwischen einem „zitierten Wissen” und den „zitierten Dokumenten” zur Autorisierung eines Textes dient, zeigt besonders die Geschichtsschreibung. Der zitierten Sprache kommt hier die Rolle einer Akkreditierung des Diskurses zu. Einerseits führt sie den Effekt des Realen ein und andererseits sendet ihr Zerfall diskret an den Ort der Autorität zurück.6 Diese Rücksendung eines Textes an sich selbst wirft aber auch die Foucaultsche Frage auf: „Wer spricht?” Wie reguliert sich der Zugang zu einem Zitat? Die Wiederholungen und Frequenzen einer Zitation, der Respekt, den man ihr zollt, enthüllen einen institutionellen Charakter.7 Das englische Wort address kommt von „ausgehend” und betont das Richtungsweisende der Adresse, ihre Beweglichkeit, ihr Sprechen von einem anderen her: „sich an jemanden wenden”. Im französischen meint adresse „Geschicklichkeit, Gewandtheit”. Die Adresse als Geschicklichkeit kann beim Spiel, bei einer geistigen oder einer manuellen Tätigkeit zum Einsatz kommen. Adressen verschaffen „Zugang, Zutritt, Gelegenheit” und sie geben eine präzise Angabe über einen Aufenthaltsort, einen Wohnsitz. Man findet sie „besonders auf Postsendungen, Anschrift (der Hauptgebrauch des Wortes)”, als „Anschrift des Zahlungspflichtigen”, auf dem „Begleitzettel bei Postsendungen, der die Anschrift enthält”. Eine Adresse kann eine „schriftliche Botschaft an eine (hochgestellte) Person, ein Gremium u.ä. (zuletzt an 6 Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire, Paris 1975, S. 111. 7 Vgl. Bettine Menke: „Zitier-Fähigkeit: Findungen und Erfindungen des Anderen”, in: Andrea Gutenberg/Ralph J. Poole (Hg.), Geschlechterdifferenz und Literatur, Berlin 2001, S. 153-171. Und Sibylle Benninghoff-Lühl: „Figuren des Zitats”. Eine Untersuchung zum Funktionieren übertragener Rede, Stuttgart/Weimar 1998.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
den englischen König), insbes. als Denkschrift oder Petition, jünger vorwiegend als Glückwunsch oder Gruß” sein.8 Adressen markieren einen textuellen Rand, sie sind Zeugen einer Zustellbarkeit. In modernen Aufzeichnungsmedien stehen Adressen innerhalb von Reihen, Ordnungen und Apparaten. Sie nehmen einen festen Platz in der Welt der Büros und der Bürokratie ein. Es gibt Adressenverzeichnisse oder -kalender, Adressiermaschinen, Adresskarten und Adresskontoren („nachweisungsanstalt od. -geschäft [für stelle- oder personalsuchende]”9). Was unterscheidet absolute, echte, effektive, physikalische, tatsächliche oder wahre Adressen?10 Da Adressen sichtbare Spuren hinterlassen, macht man sie in einem Dreischritt von „Speichern, Übertragen und Rechnen” aus, was sich „auf das informatische Kategorientripel von Daten, Adressen und Befehlen abbilden” läßt.11 Die Frage nach der Adresse weist auf eine Ontologie der Schrift hin, von der es bei Jean-Luc Nancy heißt, sie sei ein adressierter Gedanke, der sich an einen Körper wenden würde bzw. an das, was diesen verwirft („à ce qui l’écarte”), was ihn entfremdet („à ce qui l’étrange”).12 Die Figur der Adresse ist auch eine ästhetische und metaphysische, genauer eine meta-körperliche Figur, die sich in der Grauzone zwischen Literatur und Philosophie befindet. Aus diesem Grund ist die Adresse zum Paradigma einer modernen Ästhetik geworden, die zugleich in verschiedene religiöse und mystische Sprechakte zurückreicht. Die Frage nach der Adresse bestimmt weiterhin säkularisierte Praktiken; zum einen im juristischen Diskurs, der dahin tendiert, den Unterschied zwischen Rede- und Denkfiguren zu übersehen; zum anderen in der Literatur und Philosophie, für die sich die Frage nach der Adresse jeweils anders darstellt. In Diskursen, die sich nicht zwangsläufig auf die strikte Referenz eines gegebenen Gesetzes berufen können, liegt der Bedarf an einer theoretischen Klärung über die Funktion der Rhetorik auf der Hand. Das aber bedeutet, sich der schwierigen Frage der Unhintergehbarkeit von Sprache und Rhetorik zu stellen, die nach Paul de Man „erst gestellt werden kann, nachdem die wuchernde und erschütternde Macht der figürlichen Sprache rückhaltlos anerkannt worden ist”.13
8 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 12 Bde, Leipzig 1983, S. 1526f.. 9 Ebd. S. 128. 10 Vgl. Hans-Jochen Schneider (Hg.): Lexikon der Informatik und Datenverarbeitung, München/Wien 21986, S. 357. 11 Bernhard Dotzler/Erhard Schüttpelz/Georg Stanitzek: „Die Adresse des Mediums: Einleitung”, in: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, Köln 2001, S. 10. 12 Jean-Luc Nancy: Corpus, Paris 2000, S. 19. 13 Paul de Man: „Epistemologie der Metapher”, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 414-437, hier S. 437.
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EINLEITUNG
Das Erscheinen einer Figur, ihre Figuration, nimmt den ersten Platz im Fragenkatalog der Rhetorik ein: Wie erklärt sich der Gebrauch, die Popularität und die historische Bedeutung einer Figur? In der Regel sind mit Figuren mehr sprachlich und weniger grammatikalisch bestimmte Oberflächen- oder Grundstrukturen von Texten gemeint.14 Doch trotz wiederholter Anstrengungen von Rhetorikern, Philosophen, Semiotikern, Linguisten, Kunsthistorikern, Literaturwissenschaftlern, Soziologen und Psychologen gibt es immer noch keine systematische Theorie der Figuration, die eine globale Antwort auf die Frage geben könnte, wie sich das Erscheinen einer Figur im Text erklären läßt. Friedrich Nietzsche kommt das Privileg zu, als erster auf die unzugängliche Vermittlungsinstanz von Sprache und Rhetorik hingewiesen zu haben.15 Nietzsche zweifelt sowohl am Unterschied zwischen der wortwörtlichen und der übertragenen Rede als auch an jenem zwischen der Rede und ihren Figuren: „Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt.”16 Der Begriff der Figur spielt nicht nur in der Rhetorik eine unerläßliche Rolle sondern auch in so unterschiedlichen Gebieten wie der Musik, der Geographie, der Geometrie, dem Theater, dem Spiel, der Religion. „Figur” weist auf eine plastische Form. Die etymologische Verbindung zu fingere, figulus, fictor und effigies drückt eine Aktivität und weniger ein Ergebnis aus. Erich Auerbachs Studie figura zeigt nicht nur, welchen Stellenwert die figurae für Patristik und Realprophetie hatten, sondern auch, welche Risiken damit verbunden waren. Da die Figur etwas Lebendiges, Unabgeschlossenes und Spielerisches darstellt, konnte ihre tropologische Dimension für die Allegorese gefährlich werden. Eine Theorie der Figuration schließt also nicht nur die Definition und die Klassifizierung von Figuren und Tropen ein, sondern sie zielt auch auf das Erscheinen der Figuren und der figurierten Bedeutungen. Seit der Antike schließt der figura-Begriff sowohl die visuelle Idee einer Gestalt ein als auch die Plastizität eben dieser Gestalt – „jene performative Dimension, die die Figur selbst als Szene von Verwandlung erscheinen läßt.”17 Eine solche Definition zielt auf die beiden prinzipiellen Elemente der Sprache: ihre Figuralität und ihren performativen Aspekt. Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen Figur und Sprechakt genau? Und ist es
14 Vgl. Joachim Knape: „Figurenlehre”, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, S. 290. 15 Vgl. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: F. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Bd. 1, München/Berlin/New York 1988, S. 873-890. 16 Friedrich Nietzsche: „Darstellung der antiken Rhetorik”, in: F. Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe, Bd. II/4: Vorlesungsaufzeichnungen WS 1871/72 – WS 1874/75, Berlin 1995, S. 427. 17 Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters: Bd. „Einleitung”, in: G. Brandstetter/S. Peters (Hg.), De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002, S. 8.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
nicht gerade die Anrufung, die sich in diesem „Zwischenraum des Sinns”18 befindet, provoziert durch die Kluft zwischen Rede- und Gedankenfiguren, letztere seit der Klassifizierung im 18. Jahrhundert als „gehobenere Figuren einer neuen Ordnung aus einer absolut anderen Sprache”19 definiert? Da sich die Anrufung genau auf der Schwelle zwischen Rede- und Gedankenfiguren befindet, macht sie auf deren Differenz aufmerksam und verhindert auf diese Weise eine Konfusion zwischen beiden. Indem sie einer Figur Gestalt verleiht, verspricht die Anrufung ihrem Ansprechpartner oder Gegenstand eine Stimme oder ein Gesicht zu verleihen. Da sie selbst über keinen Gegenstand verfügt, sondern für diesen in Anspruch genommen wird, enthüllt sie eine Verbindung zum griechischen Wort theorein, dessen Etymologie Martin Heidegger in Erinnerung ruft. Theorie, so Heidegger, meine sowohl den „Anblick, das Aussehen, worin sich etwas zeigt” als auch „etwas ansehen, in den Augenschein nehmen, es be-sehen” und führe insofern zu einer doppelten Betrachtung: „den Anblick, worin das Anwesende erscheint, ansehen und durch solche Sicht bei ihm sehend verweilen.”20 Heideggers Theoriebegriff ist ein Versuch, „mit den alten Worten, Bildern und Formen nach einer Kunst ohne Figur – und in diesem Sinne nach einer Sprache ohne Figur” zu suchen.21 Doch der Ikonoklasmus, der aus Heideggers Kritik an Platons Priviligierung der Anschauung resultiert, muß seinerseits wieder auf eine figürliche und damit verbildlichende Rede zurückgreifen. An einer unmöglichen Theoretisierung der Figur hat sich auch Paul de Man versucht. In de Mans Worten läßt sich der Kreisgang der Rhetorik, die gleichzeitig die Figurationen der Redekunst wie auch ihr Scheitern ausstellt, als „Defiguration” kennzeichnen, welche wiederum in die eigene „Figuration” hineinführe, d.h. in „die Figur der Proposopöie, die Fiktion der Apostrophierung”: „[…] prosopon poein, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie, durch die jemandes Name […] so verstehbar und erinnerbar wird wie ein Gesicht. Bei unserem Thema, der Autobiographie, geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration.”22
18 Jean-Luc Nancy: Etre singulier pluriel, Paris 1996, S. 21: „Explosion du rien, en effet: espacement du sens, espacement comme sens, et circulation.” 19 Pierre Fontanier: Les Figures du Discours, Paris 1977, S. 280. 20 Martin Heidegger: „Wissenschaft und Besinnung”, in: M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 71994, S. 48. 21 Martin Schäfer: „(A-)Figurativ. Heidegger mit Celan und Benjamin”, in: G. Brandstetter/S. Peters, De figura, S. 51-77, hier S. 57. 22 Paul de Man: „Autobiographie als Maskenspiel”, in: P. de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1993, S. 131-145, hier S. 140.
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EINLEITUNG
Indem die Prosopopöie die Verstehbarkeit und Erinnerbarkeit eines Gesichtes suggeriert, an dessen Stelle sie sich setzt, macht sie den Wechsel von Figuration und Defiguration sichtbar. Ihre Zeitlichkeit sprengt den Rahmen einer Darstellung der Figur als geometrisches Gebilde. Indem sie selbst in die metafigurative Beschreibung der figurativen Rede eingeschlossen ist, legt diese „Trope der Autobiographie” im Moment des Zusammenfalls von Erscheinen und Verschwinden die Zeitlichkeit eines Textes bloß. Auf dem Hintergrund dieser Rhetorikkritik, die nicht vor ihrer eigenen Selbstkritik zurückscheut, kündigt der Untertitel Figurationen der Kommunikation den zweifellos unmöglichen Versuch an, Figuren der autoritären und autoritativen Anrufung zu versammeln, ohne diese zwangsläufig reproduzieren zu müssen. Diese Ethik ist zum Teil eng mit dem Gegenstand der Untersuchung verbunden – der Appell, die Anrufung. Wenn die „‚Dienstbarkeit’ der Schrift” sich in der „Gründung eines textuellen Raumes” niederschlägt, so Michel de Certeau, dann geht es um nichts geringeres als um die Herausforderung, die Verfaßtheit eben dieser Schrift als „Raum einer Figuration” transparent zu machen.23 Die im Inhaltsverzeichnis aufgerufenen Namen von Autoren stellen für sich genommen bereits Figurationen der Kommunikation dar. Die „Funktion Autor […] ist das Ergebnis einer komplizierten Operation”, schreibt Michel Foucault und weist damit gerade auf den Bruch mit dem „Individuum ohne Äquivalent” hin: sie „wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen”24. Da der Begriff ‚Autor’ der „Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideenund Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte” ist, wird er zum Brennpunkt aller diskursiven und kulturellen Merkmale und ihrer Transformationen, welche ihrerseits wiederum Auskunft geben über „die Art der Verbreitung, der Wertung, der Zuschreibung, der Aneignung”25. Ein Autorenname ist daher die erste Adresse innerhalb eines literaturwissenschaftlichen Korpus. Ein kurzer Blick auf den Inhalt dürfte jedoch genügen, um zu konstatieren, daß im vorliegenden Fall die historische Chronologie nicht immer respektiert wurde: Augustinus findet man am Anfang eines großen Kapitels über sakrale Anrufungen wieder, während Dante Alighieri zwischen einer Studie zu Kafka und einer historiographischen Analyse des Lagerappells steht. Bereits das Inhaltsverzeichnis löst
23 M. de Certeau: L’écriture de l’histoire, S. 101. 24 Michel Foucault: „Was ist ein Autor?”, in: M. Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988. Wiederabdruck in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Stiegler, Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 233-247, hier S. 241 u. 242. 25 Ebd., S. 246.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
einen performativen Effekt aus: indem es die Wahl läßt, den hergestellten Verbindungen zu folgen oder nicht, lädt es dazu ein, sich zu adressieren. Während das zweite Kapitel über die sakralen Anrufungen der Geschichte von der Unterdrückung der Stimme in der jüdisch-christlichen Kulturgeschichte folgt, sieht sich diese meta-narratologische Perspektive durch die Umkehrung der Chronologie zwischen dem vierten Kapitel über PostAdressen und dem fünften Kapitel über Lese-Adressen einer Störung ausgesetzt. Die Arbeit hätte mit den drei allegorischen Adressier-Räumen der Göttlichen Komödie schließen können. Das sechste und letzte Kapitel über den Lagerappell unterbricht diese Vision einer allegorischen Erfüllung jedoch bewußt, um auf die Frage nach der Performanz von Macht noch einmal in Hinblick auf das Genre der Zeugenschaft zurückkommen zu können. Durch diese Mobilität von Epochen, Genres und Methoden soll zugleich daran erinnert werden, daß der Akt der Lektüre eine Art (zweite, nachträgliche) Zeugenschaft ist: Zeuge eines Textes zu werden heißt, für die Singularität einer einzelnen Adresse erreichbar zu sein. Die Störung einer historischen Chronologie ist also auch das Resultat einer Rücksichtnahme auf das diskursive Dispositiv von Texten, auf ihre wiederholbare und doch einzigartige Kommunikationsstruktur. Der postmoderne Wissensbegriff zeichnet sich durch einen großen Skeptizismus gegenüber einem meta-narrativen Geschichtsverständnis aus.26 Er ist deshalb auch mit der provozierenden Erkenntnis verbunden, daß literarische Ereignisse selbst „Rezeptionsfiguren” darstellen, die „geschichts-bildend sind.”27 Auf der einen Seite handelt es sich um eine Aktualisierung im jeweiligen Leseakt, der bereits im Innern eines textuellen Raums antizipiert wird, und auf der anderen Seite erinnert die Figur der Adresse daran, daß die Rezeption bereits in die – jedesmal wieder partikulare – Geschichte eines Werkes eingeschrieben ist. Welche Erwartungen werden durch eine Theorie und „ihre” Literatur, ihre Figuren und Figurationen, geweckt? Besteht die Erneuerung einer Theorie nicht auch darin, sich ständig selbst zu überbieten und „aus der Reihe ihrer eigenen kanonischen Verfahren” auszubrechen?28 Diskursivität, Szenographie (Performativität, Rituell, Aktualisierung), Referenz (explizite und implizite Normen), Mimesis (Theatralität, skripturale Ökonomie), Rhythmus (Interpunktion, Metrik, Vers, Musikalität) – alles das gehört zur Textanalyse. Geht man davon aus, daß Literatur eine theatrale und subversive 26 Jean-François Lyotard: La condition postmoderne, Paris 1979, S. 7. 27 Anselm Haverkamp: „Als der Krieg zuende war. Dekonstruktion als Provokation der Rezeptionsästhetik.” In: Dorothee Kimmich/Bernd Stiegler (Hg.), Zur Rezeption der Rezeptionstheorie, Berlin 2003, S. 39-62, hier S. 58. Zur Geschichte als Teil des texte général vgl. auch Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, Tübingen/Basel 22001. 28 Werner Hamacher: „Unlesbarkeit”, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 7.
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EINLEITUNG
Kunst ist, so stellt sich aber auch die Frage, ob Literaturtheorie nicht Gefahr läuft, ihren Gegenstand zu zähmen. Besonders zwei Disziplinen sind von dieser Frage betroffen: die Literaturwissenschaft und die Philosophie. Nähert man sich der Philosophie mit der gleichen Fragestellung wie der Literatur, liest man sie wie eine große Erzählung mit ihren eigenen Adressen und Tropen, so hat dies natürlich Folgen für die Klarheit des philosophischen Systems. Aus diesem Grund ist die cartesianische Forderung nach Klarheit eng an das Zweifeln über die Diversität der Diskurse gebunden.29 Anders als die geschriebene Adresse, die entwendet werden kann, scheint der vokale Anruf eine unmittelbarere Beziehung zur Herrschaft zu unterhalten. Die Frage nach der Macht betrifft jedoch alle Wissensfelder. Sie durchquert Epochen und Kulturen und zeigt zugleich, daß die diskursive Struktur der drei Figuren Anruf, Adresse, Appell den jeweiligen institutionellen (religiösen, politischen, mediativen…) Bedürfnissen angepaßt wird. Ihre Bedeutung für die Diskursanalyse und für die Ideengeschichte macht diese drei Redefiguren zu einer epistemologischen Kategorie. Der Titel Anruf, Adresse, Appell stellt einen systematischen Dreischritt vor. Er verspricht ein dialektisches Fortschreiten, das im Appell zu einer Synthese findet. Wird sich diese Konstruktion aufrecht erhalten lassen? Die Anordnung der Kapitel entspricht einer Engführung. Während die ersten drei Kapitel um den Anruf kreisen, dessen Unmittelbarkeit sich zunehmend als Chimäre entpuppt, werden in Kapitel vier und fünf Post- und Lese-Adressen untersucht. Das letzte Kapitel über die Politik des Appells knüpft wieder an die zu Anfang gestellte Frage nach der Macht an. Wie wird ein Subjekt im Anruf gestellt, behaftet und positioniert? Wie entsteht das Verhältnis der Hörigkeit? Wodurch wird ein Anruf performativ? Warum übt souveränes Sprechen Herrschaft aus? Im ersten Teil wird durch die Analyse von philosophischen, literarischen und theologischen Texten von Augustinus über Hölderlin bis zu Derrida deutlich, daß sich das diskursive Muster der Anrufung zwar über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhalten aber auch Veränderungen, Krisen und Verwerfungen durchlaufen hat. Bereits Heideggers „Ruf ins Sein” führt zur Frage nach dem „Anruf der Sprache” (Walter Benjamin). Im Anruf und im Angerufenwerden stellt sich das Problem der Konstitution und der Destruktion eines Subjekts, seiner durch Diskursivität hervorgebrachten Individuation und Institutionalisierung, die Hörigkeiten erzeugt. Wenn aber der Anruf des Gewissens nichts mitteilt, wie Heidegger im Anschluß an Kant sugge29 René Descartes: Discours de la méthode, Paris 1966, S. 29: „Que, considérant combien il peut y avoir de diverses opinions, touchant une même matière, qui soient soutenues par des gens doctes, sans qu’il y en puisse avoir jamais plus d’un seule qui soit vraie, je réputais presque pour faux tout ce qui n’était que vraisemblable.”
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riert, gibt es dann überhaupt noch eine Möglichkeit zum Widerspruch? Was bedeutet es, den Anruf zu erwarten, sich schon vor seinem Eintreffen schuldig zu fühlen? Trägt der Ruf ins Sein nicht auch erstaunlich metaphysische Züge, die sich sogar noch solch profanen Anruf-Figuren wie Althussers Polizeiruf einprägen? Die Performativität von Texten, so wird zu zeigen sein, entzieht sich einer abgeschlossenen Analyse. Das Drama der Apostrophe (Jacques Derrida) sucht die Spannung auszuhalten, die das Begehren der sich adressierenden Sprache produziert. Die Unhintergehbarkeit der – sprachlichen – Übertragung läßt die Suche nach einer Adresse, einem richtigen Ton, in den Vordergrund treten. Was macht den Anruf so begehrenswert, was verspricht er? Mit der Frage nach dem Versprechen der Sprache endet das erste Kapitel zur Performanz des Anrufs, um zum Versprechen sakraler Anrufungen überzuleiten. Das Kapitel über die sakralen Anrufungen zeigt anhand dreier paradigmatisch ausgewählter Textbeispiele, daß Redefiguren sogar noch für den Rettungsakt der jüdisch-christlichen Tradition einspringen. Die rhetorische Regulierung der religiösen Anrufung stellt sich als Versuch dar, Antagonismen zwischen Geschichtsphilosophie und Theologie zu überwinden. Die Gottesanrufung (invocatio) nimmt in Liturgien, Gebeten, Ritualen einen festen Platz zur Konstitution eines sich selbst bestätigenden Glaubens ein. Von Augustinus über Angelus Silesius bis zu Franz Rosenzweig und Walter Benjamin ist die jüdisch-christliche Figur der Anrufung einer kontinuierlichen Entwicklung unterworfen, die sich zunehmend auf sprachphilosophische Überlegungen konzentriert. Bereits in Augustinus’ Confessiones erscheint der Ruf nach Innen als komplexe Figur der Verwicklung von anrufendem Ich und göttlichem Du. Der Anruf entzündet sich an der Re-Zitation heiliger Texte und Gebete. Welche stillen und lauten Lese-Modelle kommen zum Einsatz? Augustinus’ Ruf ins „Innerste des Innersten” ist an die Teilnahme eines Dritten, eines Zuschauers und Zeugen gebunden, der zum wiedererkennenden Lesen und Rezitieren des göttlichen Rufes aufgefordert wird. Im 17. Jahrhundert gehört die Anwendung rhetorischer Figuren zu einem rigorosen Programm. Angelus Silesius’ spätbarocke Epigramme fordern jedoch paradoxerweise dazu auf, es ihrem Schweigen gleichzutun. Die sich selbst befragenden, ‚laut’ mit sich selbst redenden Anrufungen in Augustinus’ Confessiones werden nun in die mystische „Gelassenheit” und das stillschweigende Gebet eingelassen. Läßt die „pure Performanz” des Cherubinischen Wandersmanns überhaupt noch Anrufungen zu oder wird nicht vielmehr im Spätbarock eine moderne „Verwerfung des Rezitativs” (Benjamin) vorbereitet? Wenn der mystische Appell an die Stille eine Reaktion auf ein verändertes Lesemodell ist, so äußert diese sich nun in einem
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EINLEITUNG
unbedingten, sich einer christlichen Mission verschreibendem Ruf: „Folge mir”. Mit Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung liegt eine Kritik an christlicher Heilsgeschichte vor. Sie zielt auf die Repression jüdischer Traditionen, in denen die Anrufung an das ‚Hören auf eine andere Zeit’ gebunden ist. Das Gedenken an die Toten ruft die Zeit der Generationen wach. Indem Rosenzweig das „Urwort Ja” an den Anfang allen Sprechens setzt, weist er der Anrufung wieder eine wesentliche Rolle zu. Das isolierte „Urwort” Ja, das Wort vor dem Wort, ruft in der universellen Sprache den Einzelnen in die Verantwortung. Um diesen „Anruf der Sprache” geht es auch Walter Benjamin, der Rosenzweigs Werk geschätzt und kritisiert hat. In seinem frühen sprachphilosophischen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen thematisiert Benjamin die Un-mittel-barkeit der Sprache selbst. Als göttliche Namens-Gabe taucht der Anruf bei Benjamin nicht mehr als vorgängiger und in prä-performativer Unhintergehbarkeit eines „Ja” auf, sondern als ein un-mittel-barer, nach dem Sündenfall – und mit dessen Lektüre. Adorno zufolge vertritt Benjamin ein säkularisiertes, radikal neues Denken. Doch worin unterscheidet sich die Sprache der Offenbarung bei Rosenzweig und Benjamin? Die Analyse der sakralen Anrufungen macht den großen Stellenwert des Anrufs für Philosophen wie Benjamin, Heidegger oder Derrida deutlich. Bei letzteren finden sich zahlreiche Bezüge zu Augustinus, Angelus Silesius und Rosenzweig, was sowohl die Verbindung zum alten Thema „Glauben und Wissen” unterstreicht als auch auf die Konjunktur von Anrufungsfiguren in post-sakralen Gesellschaften hinweist.30 Die Dialektik des Säkularisierungsprozesses enthüllt nicht nur eine „Entzauberung der Welt” (Max Weber) sondern läßt selbst noch die These einer vollends aufgeklärten, säkularisierten Gesellschaft als ein letztes Theologem der Neuzeit erscheinen.31 Bei Derrida wird die Anrufung in die Materialität der Schrift selbst eingelassen, eine Schrift, die sich für so wenig metaphysisch wie möglich ausgibt: es geht um die Materialität des Lebens als Spur, Schreibweise, Text. Diese Priorität des Textes zieht eine Umkehrung der Methode nach sich. Schrift wird von nun an als Immanenz betrachtet, „in der alles gegeben und entzogen ist, sie ist die nicht vereinheitlichte, stratifizierte und konfliktreiche ‚Materie’ oder ‚Textur’ der Phänomene.”32 Mehr denn je gilt es von nun an, die Materialität des Buchstabens mit einzubeziehen, seine Literarizität. Wenn Schrift als différance oder dissémination beschaffen ist, so wird hier eine rissige, sich selbst (re)produzierende Struktur sichtbar.
30 Vgl. Jürgen Habermas: „Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft.” In: J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2003. 31 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2003. 32 Marc Goldschmitt: Jacques Derrida, une introduction, Paris 2003.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Die Analyse einiger Gründungstexte der Geschichtsphilosophie und der abendländischen Literatur zeigt die Bedeutung sakraler Anrufungen, welche auf die Dialektik des Säkularisierungsprozesses aufmerksam machen. Zum anderen aber konturiert sich im Widerstreit zwischen philosophischen und literarischen Texten auch das Besondere der literarischen Adresse heraus. In der Poesie erweisen sich alle Adressen als möglich: abstrakte oder mythologische Ideen, Abwesendes, Totes, Gegenstände aller Art sind potentielle Ansprechpartner. Ist es nicht gerade dieser Wechsel der beweglichen Adresse, welcher bei der Suche nach einer Literarizität hilfreich sein kann? Angesichts der Bedeutung sakraler Figuren für das abendländische Denken, daß sich doch seit mehreren Jahrhunderten als ein säkularisiertes versteht, stellt sich die Frage, ob es in der Literaturgeschichte eine ähnliche Entwicklung gibt. Die Anrufung läßt nicht ein menschliches oder göttliches Anlitz erscheinen; sie erlaubt es vielmehr, die Verhüllung eines Diskurses aufzudecken, der a posteriori die Illusion erzeugt, daß sich etwas hinter den Masken und Figurationen verbergen könnte. Muß daran erinnert werden, daß das Zitat (Text, Figur, Gesicht, Stimme) keine neuen Diskurse oder Konversationen hervorbringt, sondern das wiederholt, was bereits an anderer Stelle schon gesagt wurde? Dieser wiederholende Charakter findet sich auch in anderen vokativen Modi wieder – so zum Beispiel in der Frage. Sie gehört Paul de Man zufolge zu den tropologischen Figuren.33 Der performative Effekt einer Frage oder eines Ausrufs unterbricht die Lektüre, weil er die konstativen und narrativen Elemente durchkreuzt, welche ihrerseits die Existenz einer Maske verbergen und stattdessen die Erscheinung eines Gesichtes vorgaukeln.34 Die Apostrophe enthüllt ihren trügerischen Zug, indem sie einen Augenblick lang auf ihre eigene Existenz hinweist. Indem sie apostrophiert, appelliert Poesie an Affekte. Sie ruft „Ah!” und „Oh!”. Und doch ist es erst der Akt des Lesens, der den toten Buchstaben („O!”) zum Klingen bringt und ihn in einen Ausruf („Oh!”) verwandelt.35 In der vorliegenden Arbeit leitet die Auseinandersetzung mit Hölderlins Poetologie von der Figur des Anrufs zur Figur der Adresse über. Die Geschichte der sakralen Anrufung weist auf eine zunehmende Ablösung vom Ideal der Unmittelbarkeit. Zweifel werden schon bei Augustinus laut. Mit Angelus Silesius bereitet sich eine Verwerfung des Rezitativs vor. Friedrich Hölderlin geht in dieser Entwicklung noch einen Schritt weiter. Hölderlins poetische Anruf-Figuren sind verworfene. Sie werfen zahlreiche Fragen auf: nach der
33 Paul de Man: „Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik”, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, S. 201. 34 Vgl. Jonathan Culler: The pursuit of signs. Semiotics, Literature and Deconstruction, Ithaca 1981, S. X und 135. 35 Vgl. Georg Stanitzek: „Kommunikation (Communcatio und Apostrophe einbegriffen)”, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft, München 1995, S. 13-30.
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EINLEITUNG
Anrufung des Gesetzes im Namen – nom – des Vaters, über das Mißtrauen gegenüber heiligen Quellen und geliebten „Nahmen”, zur Beziehung zwischen Anruf und Nachruf, über das Entstehen der poetischen Arbeit der Introjektion und Inkorporation oder auch bezüglich des Scheiterns der Apostrophe im Kannibalismus der Sprache. Die Analyse der verstreuten Anrufungen in den Gesängen und Hymnen Hölderlins steht zweifellos noch aus. Der Rahmen der Untersuchung wurde hier enger gesteckt. Es geht um ein Exemplar des Hyperion, das für Hölderlins Geliebte Suzette Gontard bestimmt war. Herkunft und Ziel der handgeschriebenen Widmung Wem sonst als Dir beschäftigen bis heute die Forschung. In der vorliegenden Arbeit werden keine weiteren biographischen Vermutungen angestellt. Vielmehr wird der Versuch unternommen, die einzelnen Unterstreichungen des Widmungsexemplars als adressierten Brief zu lesen und darin die kondensierte Form einer Poetologie der Anrufung zu entdecken. Im Kontext der Anagramme und Unterschriften aus dem Spätwerk gewinnt die namentliche Adresse an poetischer Tiefe. Die Wiederherstellung von handgeschriebenen Zeichen in einem gedruckten Text wirft die Frage nach der adressierten Nachwelt auf. Quälende Quellen, genommene Namen und versagende Stimmen verdichten sich im Anagramm eines Namens, der ein ganzes philosophisches Programm enthält: Diotima. Die Um- und Abwendung, die Quintilian für die Apostrophe festgestellt hatte, macht letztere zu einer Schlüsselfigur innerhalb einer Figurenlehre, die sich auf Abweichungen gründet. Hölderlins kryptische und diskurierende Adressierungen führen daher immer wieder zur Materialität des Buchstabens zurück. Die übertragene Bedeutungsbildung und -flucht von Sprache, ihre halluzinatorischen und selbstreflexiven Echos, werden für eine unabgeschlossene Trauerarbeit in Anspruch genommen. In der Komplexität von Hölderlins Poetologie liegt auch der Grund, warum ihr ein vollständiges Kapitel gewidmet ist. In den nächsten beiden Kapiteln geht es hingegen um die institutionelle Form von Adressierung. Adressen haben in Rechtsprechung, Verwaltung und Bürokratie eine ständige Entwicklung durchlaufen, von der schon die Herkunft des Wortes „Adresse” berichtet. Im 18. Jahrhundert durch die Rationalisierung der Post formalisiert, unterscheidet man seit dem 19. Jahrhundert zwischen Sender (Adressant) und Empfänger (Adressat).36 Ohne diese beiden Termini wäre auch die Entstehung der Sprach- und Medientheorien undenkbar. Im 17. Jahrhundert beginnt die Ablösung der wissenschaftlichen Methode von individuell adressierten Urkunden. Individuelle Adressierungen sind von nun an amtlichen und persönlichen Korrespondenzen vorbehalten. Diese Unterscheidung von öffentlich und privat, Büro und Wohnung, Recht36 Vgl. R. Bernecker: „Adressant/Adressat”, in: Gert Ueding, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 119-131.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
sprechung und Intimität führt seit dem 17. Jahrhundert dazu, daß Adressierungen in Philosophie und Literatur zu einem (fruchtbaren) Problem werden. Durch die Diversität von menschlicher und technisch gesteuerter Kommunikation, die sich nicht in ein simples Empfänger-Sender-Schema pressen läßt, bieten sich zahlreiche Gelegenheiten für Mißverständnisse und Parasiten. Ist es nicht gerade dieses Konfliktpotential, das sich für die Literatur und ihre Kritik als interessant erweist? Literatur hat selbst ein Bedürfnis zu kommunizieren. Sie adressiert sich an ein Publikum, das sich mehr oder weniger den Gefahren einer manipulierten oder kommerzialisierten Kommunikation bewußt ist. Indem Literatur verschiedene Sprechakte in einem anderen Kontext neu inszeniert, imitiert und pervertiert sie institutionelle Machtstrukturen aus einer exterritorialisierten Perspektive. Es sind oft die Ränder und Grenzen, die Ängste und Revolten, die Hindernisse und das Nichtgesagte, die sich als konstitutiv für das herausstellen, was man Literarizität nennt. Wo also liegt genau der Unterschied zwischen einer funktionalen Adresse und einer durch die literarische Fiktion entwendeten Adresse? Ohne die Standardisierung einer postalischen Adresse wäre die Evolution der Verteilersysteme undenkbar gewesen. Im System der modernen Gesellschaft gewinnen elektronische und ortsunabhängige Adressen immer mehr an ökonomischer Bedeutung. Sie schaffen neue soziale Ordnungen und scheinen sogar den Beweis für eine Kommunikation ohne Aufschub, für eine ununterbrochene Übertragung zu liefern, in der die Übersetzungsprozesse immer komplexer und multipler werden.37 Wenn mit der Geburt eines allgemeinen discours de la méthode der Anspruch auf allgemeine Zustellbarkeit und polizeiliche Interpellation (Louis Althusser) einhergeht, wie reagiert dann Literatur auf das Dispositiv dieser administrativen und technischen ZwangsAdressierung? Kierkegaards ironische Verstrickungskunst, Mallarmés virtuelle Loisirs de la Poste und Kafkas witziges Rätsel ‚Odradek’ liefern Beispiele für eine sich immer wieder als explosiv erweisende Auseinandersetzung eines literarischen Textes mit seiner Adressierbarkeit. Die Analyse von Kierkegaards Tagebuch des Verführers zeigt, daß Literatur dazu befähigen kann, die Adresse in ihrer Komplexität zu denken. Die Pseudonyme, Aphorismen, Lebensfragmente, Nachlässe, Vorworte, Essays, Versuche, Schriftproben, Studien, Pièces, Brocken, Sammelsuria, Tagebücher unterhalten einen philosophischen Dialog mit der romantischen Epoche. Diese nicht klassifizierbaren Bruchstücke drücken ein gleichzeitiges Bedürfnis nach Philosophie und Literatur aus. Denn trotz des wohl kalkulierten
37 Vgl. Rudolf Stichweh: „Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem”. Und Christoph Neubert: „Elektronische Adressenordnung”, in: S. Andriopoulos/G. Schabacher/E. Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 25-63.
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EINLEITUNG
Spiels einer imaginären Wucherung von Texten und Genres, hält sich dieses ‚zerstreute’ Werk streng an ein Denksystem. Man findet hier zugleich eine Repräsentation und eine Kritik der romantischen Suche nach Unendlichkeit. Indem sie die poetische Selbstreflexion bis zur Verzweiflung treiben, überschreiten die Texte Kierkegaards die Codes der Intimität um 1800.38 Eine textuelle Verschachtelung entsteht, die dazu einlädt, die einzelnen Schachteln zu öffnen, welche jedoch fest verschlossen und auf sich zurückgezogen bleiben. Die Vision eines Intimisten bietet sich an, in der die Anrufung des Inneren wortwörtlich genommen wird: interior intimo meo, „noch innerer als mein Innerstes” heißt es bei Augustinus.39 Kierkegaards Fuchsbauparabel entwirft die geheime Topographie eines „intriganten Kopfes”, der die Differenzen zwischen Außen und Innen nicht mehr zu erkennen vermag und sich zusehends in der Paranoia zu verlieren droht. Kierkegaard übt somit radikal Kritik an der romantischen Subjektivität, die mit ihrem Risiko eines Selbstverlustes dem anderen Extrem eines wissenschaftlichen, die Adresse ignorierenden Diskurses naherückt. Kierkegaards Vorschlag der „Selbstwahl”, die sich dank einer indirekten und sokratischen Kommunikation realisieren soll, fordert dagegen das Wagnis eines dialektischen Sprungs (ausgelöst durch das „Inzitament”), mit der die Kluft zwischen beiden Extremen überbrückt werden könnte. Während die ironischen Adressen Kierkegaards eine Lektüre in die Irre führen, die auf autobiographischen Spuren bleiben will, stellt Stéphane Mallarmé dagegen eine schonungslose Offenheit zur Schau, die von vornherein den öffentlichen Charakter von privaten Adressen entlarvt. Das Geschicklichkeitsspiel der Gelegenheitsverse über das Postvergnügen (Loisirs de la poste) besteht darin, das materielle Dispositiv der Postadresse zu delokalisieren. Zur Poesie deklarierte Briefumschläge theatralisieren den Akt der individuellen Adressierung, schreiben das Drama der Apostrophe in eine Komödie um. In einer Geste der Selbstironie wird sich über das eigene Begehren, am literarischen Leben teilzunehmen, lustig gemacht. Persönliche Adressen und Namen berühmter Zeitgenossen werden offen auf den Tisch gelegt. Der adressierte Briefumschlag gehört zu den Konventionen einer postalischen Korrespondenz. Einmal ihrem Empfänger ausgehändigt, ist sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Doch die Transformation in eine poetische Form macht auf die Iterabilität der Schrift aufmerksam. Die Adresse ist hier nur aufgeschoben. Im Gedicht wird sie zur reinen Gabe, die sich dem Zufall einer Überlieferung verdankt. Mit einem ironischen Seitenblick auf die gute alte
38 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. 39 Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse, Zweisprachige Ausgabe, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, S. 115, III,6,11.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Postepoche liefert Mallarmé nicht nur eine ideologische Kritik der Mediengesellschaft und ihres Bedürfnisses nach Kalkulation, er zerstört zugleich auch Illusionen über die Bedeutung von Literatur. Die Entwertung der adressierten Schrift führt genau zum gegenteiligen Effekt. Für Mallarmé ist es gar nicht erst notwendig, eine Adresse zu verstecken, auch wenn diese ‚privat’ ist, denn eine solche Information gibt sowieso nichts mehr her. Der Tausch von Adressen ist keine Frage des Glaubens und des Wissens mehr, sondern eine der Ökonomie. Diese kritisch-ironische Darstellung einer Kommunikation, die sich trotz ökonomischer Tauschgesetze nicht vollständig auf ihren utilitären Aspekt reduzieren läßt, wird von Franz Kafka geteilt, dessen Werk die Reputation einer mise en abyme der institutionellen, juristischen und technischen Macht vorangeht. Daß es in Kafkas Texten ähnlich wie in den Gedichten Hölderlins von Rufen nur so wimmelt, ist der Forschung bekannt. Sie hat dies jedoch eher zum Anlaß theologischer Spekulationen genommen.40 Kafka ist ein Verwandter Kierkegaards mit dem entscheidenden Unterschied, daß ersterer jegliche Teleologie verweigert. Die Romane Der Prozeß und Das Schloß kreisen um den Ruf eines omnipräsenten Gesetzes, das für das Individuum unerreichbar bleibt. Wenn sich das Kafka-Kapitel dagegen auf die Parabel Die Sorge des Hausvaters konzentriert, so um zu demonstrieren, daß die Lektüre der Adresse – deren postalische Form in den Briefen an Felice Bauer und an Milena problematisiert wird – weit über die Sorgen der Post hinausführt, daß sich andererseits aber auch die Adressierung nicht auf die – metaphysische – Frage nach der Schuld begrenzen läßt. In der kurzen Parabel Die Sorge des Hausvaters vollzieht das kleine Fabelwesen Odradek aberwitzige und sogar materialisierte Kreisbewegungen. Das winzige Ding ohne „irgendeine zweckmäßige Form”, ein „Wesen”, das weder „Ziel” noch „Tätigkeit” kennt, ist eine Konstruktion in actu. Es setzt sich selbst in Bewegung, ist zu nichts nütze und produziert komische Effekte. Weil das Ding Odradek sich nicht an irgendeiner Tätigkeit „zerrieben” hat, pfeift es auf einen roten Faden. Wie alle intermittierenden Adressiermaschinen schickt Odradek seine Verfolger auf verschiedene Fährten. Seine ineinander verfilzten Zwirnstücke spielen auf den Er-Mythos aus Platons Politeia an. In Platons Mythos geht es um die Wahl des Schicksals und um die Verbindung von irdischen und himmlischen Adressen. Eine „Spindel der Notwendigkeit” arbeitet dort wie eine Kanzlei zwischen Archiv und Depot. Diese Mischung aus Mathematik und Mystizismus wird in Die Sorge des Hausvaters zu einer impliziten Adresse, wenn auch mit anderen Vorzeichen. 40 Malcom Pasley: „Kafka und das Thema der ‚Berufung’”, in: M. Pasley, Die Schrift ist unveränderlich… Essays zu Kafka, Frankfurt a. M. 1995. Und Hans-Dieter Zimmermann: „Kafka und das Judentum”, in: H.-D. Zimmermann, Der babylonische Dolmetscher: zu Franz Kafka und Robert Walser, Frankfurt a. M. 1985.
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EINLEITUNG
Die moderne Parabel kann sich weder auf einen Seelen- oder Staatsmythos noch auf pythagoreische und orphische Traditionen berufen. Stattdessen sieht sich der Hausvater, der sich im 18. Jahrhundert noch dank der Unterstützung durch zahlreiche pädogische Schriften einer uneingeschränkten patriarchalen und ehelichen Macht erfreuen durfte, durch die Existenz Odradeks einer abgrundtiefen Lächerlichkeit ausgesetzt. Man tut also recht daran, Kafka als einen säkularisierten Autor zu identifizieren. Doch die Säkularisierungsthese reicht nicht aus, um auf die alte Frage zu antworten, die schon die narrativen Fäden in Platons Mythos durcheinanderbringt: Wer spricht im Text? Wer autorisiert? Wenn der Glaube alle Argumente liefert und eine zentrale Instanz in Aussicht stellt, die den Zugang zum Wissen regelt, so besteht der größte Aufwand doch weiterhin darin, dem tropologischen Sinn der Sprache Einhalt zu gebieten. Die funktionalistische Annäherung eines Augustinus, der gleichzeitig Hermeneutik und Homiletik aufbieten muß, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Ein anderes Beispiel in einem historisch entscheidenden Moment, in dem sich die Adresse zu säkularisieren beginnt, ist Dante Alighieri. Der Einsatz der Leser-Adressen in der Divina Commedia ist bekannt und gut recherchiert. Dank dieser Vorarbeiten konnte sich das Dante-Kapitel auf die Verschiebung der Adresse vom rhetorischen Ornament zum säkularisierten Firmament des Textes konzentrieren. Symmetrisch siebenmal verteilt auf die drei virtuellen und kosmischen Räume Inferno, Purgatorio und Paradiso orientieren sich die genau berechneten Leser-Adressen an einer irdischen Größe, die außerhalb des phantastischen Textes liegt. Die Leser-Adresse wird zu einer unumgänglichen und mitsprechenden Figur, um das Unglaubliche vor Augen zu stellen und abzusichern. Durch die Adressierung exponiert und maskiert der Text seine eigene Fiktionalität. Er „webt” eine Verbindung zu einem Draußen, während er zugleich die Metaphorizität solcher Figuren und Bilder bewußt macht: la spola, die Spule, der Stoff, der Schiffbruch, die Schulbank usw.. Alle diese imaginären und religiös autorisierten Lesemodelle haben das Ziel, das kommunikative Dispositiv des Textes zu steuern. Auf der Schwelle einer historischen Konzeption, die zwar noch an eine teleologische Version des Jenseits glaubt, die jedoch diesen Glauben auch in einen imaginären literarischen Raum übersetzen muß, sieht man die Anfänge einer Neuzeit. Wie die literarisierte Dante-Figur ist auch der Leser nicht mehr durch mythische Konstruktionen, durch initiierte Begleiter wie Vergil und Beatrice oder auch durch verschiedene Inspirationsquellen (Musen) geschützt und kann sich auch nicht mehr der Leitung durch einen Führer überlassen. Allein gelassen irrt er im Innern eines unendlichen Universums umher. In einem solchen metaphysischen Spektakel sieht er sich vielleicht zum ersten Mal ‚wirklich’ aufs Spiel gesetzt.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Dantes Werk markiert einen historischen Wendepunkt in der Geschichte des Lesens. Während noch bei Augustinus vorwiegend laute Lesemodelle Pate gestanden haben, macht sich in der Divina Commedia eine Wandlung zu einer stillen, zurückgezogenen Lektüre bemerkbar. Der Akt des Lesens läuft somit aber auch Gefahr, zu einem blinden und verblendeten zu werden. Infernale Apostrophen, verschleierte Allegorien und phantastische Höhenflüge rufen daher immer wieder in Erinnerung, daß die abenteuerlichen Expeditionen einer autoritativen Absicherung bedürfen. Nach der Analyse dieses utopischen, zwischen Realismus und Fantasmagorie oszillierenden Werkes führt das letzte Kapitel einen radikalen Wechsel der Methode vor, um sich am Ende einer ganz anderen Herausforderung zu stellen: der Analyse einer Politik des Appells. Warum dieser lange Umweg, um schließlich beim Terror der Konzentrationslager zu enden? Schon Dantes Darstellung der Hölle konnte auf weit mehr Vorbilder zurückgreifen, als die des Purgatoriums oder des Paradieses. Nach Dante ist die Hölle zu einer kollektiven Metapher geworden, deren Heraufbeschwörung allein schon zu genügen scheint, um sich ein Bild über das menschliche Leiden zu verschaffen. Im 20. Jahrhundert hat der Name Auschwitz jedoch nicht nur den allegorischen Sinn der Hölle bei weitem übertroffen, sondern auch die Illusion einer obligatorischen Kommunikation zerstört.41 Zwischen der SS und den Deportierten gab es nur Exekutionsbefehle. Für Giorgio Agamben ist dieser Ausnahmezustand (Carl Schmitt) zum Paradigma einer Geschichte des Abendlandes geworden, die sich zusehends als eine Biopolitik (Michel Foucault) entpuppt hat. Geht man davon aus, daß die Existenz von Lagern zum charakteristischen Kennzeichen der modernen Politik geworden ist, so muß die Beziehung zwischen Macht und Sprache in der „Grauzone” des Lagers (Primo Levi) genauer analysiert werden. Zu diesem Zweck bietet sich ein Nachdenken über den Status des Opfers und über die unmögliche und doch notwendige Adressierung der Toten an. Die Figur des Muselmanns, aus der Agamben ein weiteres Paradigma macht, bedarf jedoch einer gründlichen historischen Studie. Geht Agambens Gleichsetzung des Muselmanns mit dem Gorgonenhaupt, diesem Nicht-Gesicht der Griechen, das man nicht anschauen darf, weil es den Tod provoziert, nicht ein gefährliches Risiko ein, indem sich hier auf ein emblematisches Bildschirm-Opfer, ein idealisiertes Bild berufen wird? Oder schlimmer noch: Mutiert der Appell des Philosophen nicht zu einer Geschichtsphilosophie, die die Geschichte außer acht läßt?42
41 Vgl. Giorgio Agamben: Ce qui reste d’Auschwitz, Paris 1999. 42 Vgl. Philippe Mesnard/Claudine Kahan: Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, Paris 2001.
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EINLEITUNG
Spätestens an diesem Punkt gelangt man also wieder zur Frage nach der Kontingenz theoretischer Vorgaben, die dennoch unerläßlich sind, um die unüberschaubare Menge an historischem Material auszuwählen und zu ordnen. Daß kein Weg aus dieser Kontigenz führt,43 zeigt auch der im letzten Kapitel angestrebte Rekonstruktionsversuch des Lagerappells anhand von historischen Quellen. Ein unmögliches und doch notwendiges Unterfangen. Der Lagerappell gehörte zu den meist gefürchtesten Institutionen im Innern der Lager. Ohne den performativen Effekt des Appells ist im übrigen auch die kollektive Hypnose des Totalitarismus undenkbar. Die inaugurative Kraft des Rufes ist die Voraussetzung für die Konstitution und die Destruktion des Subjekts. Der Appell formiert auf der einen Seite eine aufgeregte und gefeierte Masse der „Volksgemeinschaft” und auf der anderen eine verachtete, gedemütigte, gefolterte und ermordete Masse der Deportierten. Durch die Analyse dieser Politik des Appells wird das Funktionieren der Propaganda, des Fanatismus und des Terrors deutlich. Aber die Befragung der Quellen entläßt nicht aus einem sprachlichen und damit auch ethischen Dilemma: Welche Rezeption ist diesen Zeugnissen angemessen, die sich je nach Perspektive und Genre (Täter/Opfer, Tagebuch/Verwaltungsformular) anders adressieren? Die Zeugen bleiben selbst „außerhalb der Zeit”, so Charlotte Delbo, der ein letztes Kapitel gewidmet ist. Und doch muß es möglich gemacht werden, die „erstickten Worte” (Sarah Kofmann)44 zu lesen. Denn die Verweigerung der Kommunikation zwischen Tätern und Opfern war bereits während des ritualisierten Appells im Lageralltag Teil des Vernichtungsprogramms – man erinnere sich an die Drohung, daß niemand mehr übrigbleiben sollte, um Zeugnis abzulegen. Die Verbindung von Adresse und Körper stellt sich in diesem Kontext so fragil dar, wie vielleicht nie zuvor. Diskontinuität und Serialität bestimmen daher auch die Texte der Schriftstellerin und Zeugin Charlotte Delbo. Eine intermittierende, brüchige Stimme fordert hier jenseits einer Souveränität dazu auf, erhört zu werden. Wurde Delbo immer von einem größeren Publikum ignoriert, so ist die Trilogie Auschwitz et après auf große Resonanz bei zahlreichen Historikern gestoßen, die in Delbos Texten eine Chance sehen, dem unpersönlichen und unbeständigen Charakter von Gedenkstätten durch eine tiefergehende Erinnerung zuvorzukommen.45 Appellszenen folgen in dichter und unverbundener Rei-
43 Vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negociations. The Circulation od Social Energy in Renaissance England, Berkeley/Los Angeles 1988, S. 3: „there is no escape from contingency”. 44 Vgl. Kap. 6 dieser Arbeit. 45 Vgl. Lawrence L. Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven/London 1991, S. 38. Und Geoffrey Hartman: Der längste Schatten. Erinnerung und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 221.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
hung aufeinander und bewahren so ihre Singularität und Isolation. Eine brüchige Stimme, die sich selbst befragt, ist trotz oder gerade aufgrund der beharrlichen Auslassungen und Momenten der Stille ständig präsent. Die Darstellung bricht mit Vorstellungen von Linearität und Kohärenz, ohne damit das Leiden der Körper zu übersehen. Körper und Text sind vielmehr auf eine paradoxe Weise miteinander verbunden. Der erste Band Aucun de nous ne reviendra („Keiner von uns wird zurückkehren”) hebt mit einer Klage über das Kommen und Gehen der Menschen an. Die Anrufungen wenden sich in einem elegischen Ton an die Toten, die kaum merkbar durch Zeilensprung und Zeitenwechsel von den Lebenden getrennt sind: „O vous qui savez/saviez vous”. In den Momenten, in denen die Sprache über sich selbst spricht, scheinen sich Körper und Text flüchtig zu berühren: im Rhythmus der sich ablösenden Worte, im Echo der abrupten Befehlsfetzen, in der Interpunktion und den Leerzeilen oder in der Abwesenheit von Zeit- und Ortsangaben. Der Text stellt vor Augen, während er zugleich akustische und visuelle Wahrnehmungen auf engstem, kaum lesbaren Raum aufeinanderprallen läßt. Die llusion einer Authentizität wird durch Wörter, die sich von der leeren Seite abzeichnen, unterbrochen. Durch die Aneinanderreihung einzelner Szenen entsteht paradoxerweise eine depersonalisierte und insistierende Stimme. Es kann nicht erstaunen, daß am Ende einer Untersuchung, die sich einem einschlägigen philosophischen und literarischen Kanon gewidmet hat, eine feminine Stimme zu ‚hören’ ist. Im Anschluß an Michel Foucault und Judith Butler ist deutlich geworden, daß Geschlecht, Körper und Identität diskursive und keine ontologischen Kategorien sind. Frauen müssen aufgrund ihrer Geschlechterdifferenz oft die Erfahrung machen, aus den Diskursen souveränen Sprechens ausgeschlossen zu sein. Die Kenntnisnahme weiblicher Zeugenschaft beginnt erst in den 70er Jahren – genauer in feministischen Kreisen an amerikanischen Universitäten – und hat sich seitdem zu einem regelrechten Interesse entwickelt. Nicht nur, daß die Deportationen und Ermordungen der Frauen zahlreicher als die der Männer sind,46 in der Endphase des Krieges waren offensichtlich auch die Überlebenschancen der weiblichen Gefangenen in den Rüstungsfabriken größer.47 Delbos historische
46 Vgl. Joan Ringelheim: „Verschleppung, Tod und Überleben. Nationalsozialistische Ghetto-Politik gegen jüdische Frauen und Männer im besetzten Polen”, in: Theresa Wobbe (Hg.): Nach Osten: Verdeckte Spuren nationalsozialistischer Verbrechen, Frankfurt a. M. 1992. 47 Vgl. Gabriele Pfingsten/Claus Füllberg-Stolberg: „Frauen in Konzentrationslagern – geschlechtsspezifische Formen des Überlebens”, in: Ulrich Herbert et al., Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. I, Göttingen 1998. Vgl. auch die polemische Feststellung in Ruth Klüger: Weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 263: „Ich glaubte fest, obwohl die Männer es unbegreiflicherweise bestritten, daß Frauen lebensfähi-
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EINLEITUNG
und literarische Zeugenschaft ist ein frühes und eindrucksvolles Beispiel dafür, daß eine intensive Rezeption noch aussteht. Zeugnisse von Opfern, die diskriminiert, ausgeschlossen oder deportiert worden sind, hören nicht auf, das Trauma ihrer beschädigten Erinnerung und die gleichzeitige Unfähigkeit, die Stelle der Toten zu besetzen, anzuprangern. Wenn das Zeugnis versucht, die Toten zum Sprechen bringen, so weist dies umso eindrücklicher auf das Gespenstische des Sprechens selbst hin. Ist doch der Appell an den Zeugen schon immer in die traumatische Erfahrung insofern mit eingeschrieben, als das Bezeugen des Traumas auch ein Sakrileg an seiner Integrität bedeuten kann.48 Den Toten gewidmet und an zukünftige Leser gerichtet, ist das Zeugnis doppelt adressiert. Die Berichte von Überlebenden wehren sich daher auch dagegen, in eine „intellektuelle Sperrzone der ‚Authentizität’” verbannt zu werden, eine Haltung, welche die traumatische Isolation in der ursprünglichen Erfahrung auf Rezeptionsebene noch einmal zu wiederholen scheint.49 Anruf, Adresse, Appell – die Untersuchung der drei Figuren und ihrer Bedeutung für Rhetorik, Linguistik, Theologie, Philosophie, Politik, Literatur und Zeugenschaft zeigt vor allem, daß der Akt des Lesens selbst eine Art der Zeugenschaft ist, die ihrerseits von der Latenz ihrer eigenen Konstruktion heimgesucht wird. Textuelle Figurationen müssen als Adressierung gelesen werden, d.h. als „Figur eines Vorgriffs, der diese (nachträglich) gewesen ist.”50 Es erscheint deshalb auch angebracht, die Introspektion eines Textes angesichts seiner ‚eigenen’ Geschichte nicht zu vernachlässigen. Die Präsenz sakraler Figuren in säkularisierten Texten macht zudem deutlich, daß es um komplexe zeitliche Prozesse geht: Ein stetiger Wechsel von Figuration und Defiguration, ein „Reigen von Figuren”.
ger als Männer sind. Aber auch weniger wertvoll; daß unsere Toten männlich waren, bedeutete demzufolge, daß die wertvolleren in der Familie nicht mehr lebten.” 48 Vgl. Cary Caruth: „Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen”, in: Ulrich Baer (Hg.), Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Schoah, Frankfurt a. M. 2000, S. 84-98. 49 Vgl. Ulrich Baer: „Einleitung”, in: ebd., S. 19. 50 Bettine Menke: „Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne”, in: S. Andriopoulous/G. Schabacher/E. Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 100-120, hier S. 101.
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1. P ER FOR MANZ DES A NR UFS
Zur Frage der Macht Warum Sprache verletzen kann fragt Judith Butler in ihrem Buch Hate speech – Haß spricht. Gerade die Figur des Anrufs bietet sich als Antwort auf diese Frage an. Denn wenn Sprache verletzen kann, so Butler, dann sei dies Zeichen dafür, daß der „Modus der Anrede selbst, ein Modus – eine Disposition oder eine konventionelle Haltung”, das Subjekt anruft und konstituiert. Das zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Wenn Dinge mit Worten nicht nur gemacht, sondern getan werden, wenn die Sprache den Körper erhalten oder ihn auf der anderen Seite in seiner Existenz bedrohen kann, dann muß von einer „primäre[n] Abhängigkeit” ausgegangen werden, „die jedes sprachliche Wesen durch die anrufende oder konstitutive Anrede des Anderen erfährt.”1 Im Anruf konstituiert sich ein Gegenüber. Die Ansprache macht ein angesprochenes Subjekt erst zu dem, was es ist oder werden soll – im Moment der Ansprache selbst. Und so führt das Historische Wörterbuch der Rhetorik zum Stichwort „die Anrede” an, „die Jesus in der Apostrophe an die Schriftgelehrten und Pharisäer richtet: ‚Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler […] ihr blinden Führer […]. Ihr Narren und Blinden.’”2 Mit der Anrede, so der Versuch einer Definition im Wörterbuch, würde „die Meinung des Sprechers über den Adressaten transportiert.” Doch wem gilt das „ihr” der Anrede im hier angeführten Zitat? Mit „ihr Heuchler […] ihr blinden Führer […], Ihr Narren und Blinden.” sind die Schriftgelehrten und Pharisäer gemeint. Sie bedienen sich der Schrift, um sich ihres Wissens zu vergewissern. Das aber macht ihre Blindheit aus. Sie übersehen die Adressierung der Schrift und vergessen die Selbstreflexivität der Sprache. Sprache hat teil an der Mitteilung.
1 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Kathrin Menke/Markus Krist, Berlin 1998, S. 15. 2 Vgl. F. Braun: „Anrede”, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 637–650, hier S. 647.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Die Sprache ist ein Wissen – und ist so das der Schrift eigene Wissen […] Wissen, das die Schrift schreibend ist. Sie ist das Wissen dessen, wovon sie Zeugnis trägt. Und sie bezeugt, daß sich der Sinn, weil er Schickung und Verweis, Ruf und Antwort ist, im Entzug oder in der Überschreitung gilt oder auftaucht.”
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Während diejenigen, die über die Schrift das letzte Wort haben möchten, als blind apostrophiert werden, richtet sich die Apostrophierung an ein plurales „ihr”. Dieses namenlose „ihr” spricht nicht etwa von einem festen Standort aus Identität zu, sondern es bleibt in seiner Allgemeinheit weiterhin adressierbar. Die schmähende Anrede „ihr Heuchler […] ihr blinden Führer. […] Ihr Narren und Blinden.” nimmt all diejenigen in Verantwortung, die im Moment ihrer Lektüre nun ihrerseits angesprochen werden. „Angesprochen werden bedeutet also nicht nur, in dem, was man bereits ist, anerkannt zu werden, sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die Anerkennung der Existenz möglich wird.”4 Da Sprache Anruf ist, läßt sie überhaupt erst die Möglichkeit zu, den Anderen in seiner Existenz anzuerkennen, auf ihn zu antworten. Auch das Schweigen gehört zur möglichen (Nicht-)Anrede. Wie der sich adressierenden Sprache geht dem Schweigen eine getroffene Wahl voraus: Statt aber jemanden anzusprechen, verweigert das Schweigen zu sprechen. Damit sind alle Möglichkeiten des Widerspruchs verworfen: „Das Schweigen ist gleich der restlosen Verwerfung unwählbarer Worte; nicht Negation, vielmehr Disqualifizierung”5. Im Schweigen wird der Andere seiner Nicht-Existenz preisgegeben. Anreden werden über Konventionen hergestellt, sie sind Effekt und Instrument eines gesellschaftlichen Rituals, das Hierarchien und Unterwerfungsmechanismen in Szene setzt. Sie können angreifen oder gar krankmachen, eine Tatsache, die schon in traditionellen Heilungs-Zeremonien Beachtung fand.6 Andererseits können Anreden aber auch subversiv umgeleitet, auf anderem Weg zurückgesendet werden. Eine verletzende Anrede fordert ihren Widerspruch heraus, mit dem sich die Drohung plötzlich einem andersartigen performativen Akt gegenübersieht. In diesem Fall bietet sich die Ambivalenz der Rede dazu an, „den einen Teil gegen den anderen zu wenden, und damit die performative Macht der Drohung zu verwirren.”7
3 J.–L. Nancy: „Verantwortung des Sinns”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 26. 4 J. Butler, Haß spricht, S. 15. 5 Vgl. Edmond Jabès: „Mit Nelson Mandela”, in: E. Jabès, Die Schrift in der Wüste, Berlin 1989, S. 153. 6 Vgl. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bern 21996, S. 53ff.. 7 Vgl. J. Butler, Haß spricht, S. 24.
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PERFORMANZ DES ANRUFS
Warum nun spielt ausgerechnet die Figur des Anrufs bei einer solchen Umwendung der Rede zu sich selbst – nach Louis Althusser weist die Geste der Bereitschaft zur Annahme den Anruf überhaupt erst als performativ aus – eine unweigerlich zentrale Rolle? Inwiefern gehen Gegenrede und Verantwortung dem Anruf bereits voraus? „[…] responsabilitas aus respondeo, von Verantwortung aus antworten. Es geht in der Verantwortung um ein ‚angesprochen werden’. Aber respondere enthält auch spondere: für andere bürgen. Spondeo heißt also: Ich spreche für, ich spreche an Stelle von und zugleich zugunsten anderer.”
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Da ein Subjekt selbst immer schon angesprochen ist, wenn es andere anspricht, befindet es sich auf beweglichem Terrain. Es spricht in seiner Singularität und zugleich als ersetzendes („an der Stelle von”) und ersetzbares („zugunsten anderer”). Der Anruf als nicht zu erfassende, da immer wieder aktualisierbare, neu zu bestimmende Figur, ist nicht ausschließlich nur Phänomen der Kommunikation zwischen Subjekten, die sich anreden und benennen. Selbst bereits (Rede-)Figur ist die Anrufung ein mitsprechendes Mittel der Machtausübung. Sie macht daher auf den „Anruf der Sprache” aufmerksam, wie Walter Benjamin in seinem Entwurf zur adamitischen Ursprungssprache und zur Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung schreibt: „Der Name ist aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache.”9 Das Paradox der Gleichzeitigkeit – vom letzten Ausruf (dem uneinholbaren Moment des Rufes, dem Ereignis) zum eigentlichen Anruf der Sprache (der wiederholbaren Anrufung) – ruft noch über die Klassifizierung von Sprechakten hinaus nach einer Auseinandersetzung.10 Ein Anruf ist umso unerbittlicher, wenn er in der Instanz einer anonymen Autorität spricht, wie es in der Vorstellung der inneren Stimme des Gewissens oder des Gesetzes (Immanuel Kant, Martin Heidegger) geschieht. Diese innere Stimme ruft zu einer Hin- oder Umwendung auf, Moment der Erwartung des anrufenden Gesetzes. Durch die Erwartung unterwirft der Angerufene sich von vornherein dem Gesetz. Damit wird der Anruf zur Vorbedingung einer nicht mehr nur linguistischen Konsolidierung, das Aner-
8 Vgl. Gianluca Solla: „‚Sprich als letzter’: Zeugenschaft – Ersetzung – Stellvertretung”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 95–110, hier S. 98. 9 Vgl. Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II,1, Frankfurt a. M. 1977, S. 140–157, hier S. 145. Vgl. auch Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, S. 59. 10 Vgl. Sibylle Krämer/Marco Stahlhut: „Das ‚Performative’ als Thema der Sprach– und Kulturphilosophie”, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Anthropologie, 10,1/2001, S. 35–64, hier S. 39.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
kennung und Identität verspricht, wenn die prompte Antwort „Hier bin ich” erfolgt. Die Bejahung, die Annahme des Rufes, durch die Abnahme des Telefonhörers in eine mittlerweile allzu bekannte Szene der Empfangsbereitschaft gefaßt, weist auf eine Tautologie, die in nichts begründet ist: „Ich bin, der ich bin” verheißt der Name des hebräischen Gottes dem Angerufenen. Das Gesetz, das im Namen eines selbst-identischen Subjektes in eigener Sache spricht, verspricht Anerkennung und ist daher oft auch Objekt des Begehrens, das im Zustand einer vorgesetzlichen Schuldigkeit erwartet wird.11 Wo die Stimme eines Gesetzes erwartet wird, verbietet sich jeder Widerspruch. Dies gilt auch für das „Performative”, das im „Zusammenhang binärer Schemata” auftritt. Werden diese destabilisiert oder pervertiert, so wird ein radikales Performanzkonzept angeführt.12 Philosophische Vorschläge, die den Anruf als Herausforderung begreifen, mediale und psychische Bedingtheiten mitzudenken (Jacques Derrida), oder die Bereitschaft, den Ruf des Gesetzes anzunehmen, mit einer zuvorkommenden Bejahung unterlaufen wollen (Friedrich Nietzsche), sind daher nicht etwa unzeitgemässe Betrachtungen. Sie weisen vielmehr auf einen Widerstreit im Begriff der Performanz selbst hin. Er ist provoziert durch so binäre Schemata wie Kompetenz/Performanz, konstative/performative Äußerung. Die von der Sprechakt-Theorie gezogenen Grenzen und Kategorien erhalten hier Risse, durch die es sich lohnt hindurchzuschauen. Mit der Erfindung des Telefons wird der Anruf zum Mittel einer Übertragung von abwesenden Stimmen über das Hörorgan, das im Prozeß von Aufklärung und Rationalisierung aufgrund seiner Verbindung mit Hörigkeit und Gehorsam in Mißkredit geraten war.13 Schon in Antike und Mittelalter sind Sehen und Hören Modi der Rezeption, um Gott und die Götter zu verstehen. Insofern stehen sie in einer „Beziehung zur Herrschaft”. Die biblische Ordnung, die „das Hören der Menschen vor dem Sehen rangieren ließ”14, wird in Platons Timaios umgestürzt. Das Auge erscheint nun als privilegiertes Organ, weil es die Beobachtung der Himmelskörper und damit auch die Vorstellung von der Zeit erlaubt oder gar Selbsterkenntnis und Teilnahme am Göttlichen verspricht. In christlichen Traditionen dagegen darf die 11 Vgl. Joseph Hoppe: „Das Ohr als Tür zur Seele. Einiges zur Telephonie–Kultur”, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Schweigen: Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit, Berlin 1992, S. 149–156, hier S. 155. 12 Vgl. S. Krämer/M. Stahlhut, „Das ‚Performative’”, S. 56. 13 Vgl. Christoph Wulf: „Das mimetische Ohr”, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Anthropologie, 2,1–2/1993, S. 9–14. Wiederabdruck in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 459–464. 14 Donat Chapeaurouge: „Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht”. Der Weg von der mittelalterlichen zur abstrakten Malerei, Wiesbaden 1983, S. 8 und 11.
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Gottesschau erst nach dem Tod in Aussicht gestellt werden, während sich auf Erden „der Fromme auf das Hören und Gehorchen” zu beschränken hat.15 Sehen droht mit einem (zu) aktiven Verhalten, das in Worten wie Augenschein, Augenzeuge, Absicht, Einsicht, Vorsehung, Besichtigung zum Ausdruck kommt. Dem passiven Ohr dagegen kommt die Aufgabe des Erleidens zu. Es hört und hat hörig zu sein, zu gehorchen, damit es die laut verlesenen göttlichen Botschaften vernimmt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.” (Joh.1,1)16 Wie sehen nun die Versprechen von modernen Medien aus? Was ändern technologisch vermittelte Unmittelbarkeiten, die ein kompliziertes Verhältnis von (gehörtem) Anwesenden und (nicht sichtbarem) Abwesenden herstellen? Das Telefon, das wäre der Apparat, der es offenbar möglich macht, Distanzen zu überwinden und die Stimme des Anderen ‚direkt’ zu hören. Damit stellt es aber auch vor so diverse Probleme wie Passivität, Gehorsam, Gesetz, Autorität und Schuld, Bedrohung, Bekenntnis, körperlose Stimmenerotik, kurz vor Möglichkeit und Unmöglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation, Differenz des Nicht-Daseienden im Dasein.17 Nicht umsonst hat die telekommunikative Revolution durch das Telefon gleich zu Beginn das Interesse der Psychoanalyse geweckt, von Sigmund Freud in seiner berühmten Formel zum Ausdruck gebracht, das Unbewußte des Kranken müsse zum Unbewußten des Analytikers so eingestellt sein „wie der Receiver des Telephons zum Teller”18. Der Apparat, der für die „gleichschwebende Aufmerksamkeit” der Redekur stehen und als Metapher für eine Übertragungsarbeit am Unbewußten in Anspruch genommen wird, hat jedoch nur einem Herren zu dienen. Dem Patienten, der, ähnlich wie der Gläubige, unter Leidensdruck steht und einen Hilferuf aussendet, ist der Gebrauch von Aufzeichnungsmedien wie Notizblock oder Phonograph strengstens untersagt, da sich, so Freud, zu dem Text nicht die Einfälle einstellen würden, „und der Effekt der nämliche [ist], als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre.”19 Damit legt die Psychoanalyse eine Konkurrenz von seiten akustischer Aufzeichnungsgeräte vorerst zu den Ak-
15 Ebd., S. 10. 16 Zitiert nach Bibel, Einheitsübersetzung, S. 1195. 17 Vgl. z.B. Michael Köhler: „Körpertelefon. Hörigkeiten zwischen Offenbarung und Sirenengesang”, in: Gerburg Treusch–Dieter (Hg.): TELEKULT, Berlin 1955, S. 15–19. 18 Vgl. Sigmund Freud, „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung”, in: S. Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 175. 19 Sigmund Freud, „Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse”, in: S. Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 156. Zum Vergleich der Erinnerungsleistung mit dem Phonographen, vgl. Sigmund Freud: „Bruchstücke einer Hysterie–Analyse”, in: S. Freud: Studienausgabe, Bd.VI, S. 90: „Die Niederschrift ist demnach nicht absolut – phonographisch – getreu, aber sie darf auf einen hohen Grad von Verläßlichkeit Anspruch machen.”
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ten. Die „Metapher der Schrift” wird gegen die „Metapher des Telefons” ausgespielt.20 Noch Jacques Lacan wird das „volle Sprechen” gegen das aufgezeichnete halten, wenn er betont, die Psychoanalyse habe nur ein Medium und das sei das Sprechen des Patienten: „Or toute parole appelle une réponse.”21 Jenes „Appellieren” sei Dreh- und Angelpunkt für die Selbstanalyse des Subjekts: „Appell des Subjekts jenseits der Leere seiner Aussage”, „Appell an die Wahrheit”, „Appell bescheidenerer Bedürfnisse”, schließlich „Appell in dem zweideutigen Aufklaffen einer versuchten Verführung des anderen mit den Mitteln der Selbstgefälligkeit und der Selbststilisierung zum Monument des eigenen Narzißmus”. Alles das spreche gegen „die Wiedergabe einer Tonbandaufzeichnung”, die nicht „dieselbe Wirkung habe wie das analytische Gespräch.”22 Der notierende Analytiker übernimmt deshalb nicht allein die mächtige Rolle eines Anrufbeantworters, der Fehlleistungen, Witze, Stockungen, Versprecher etc. aufzeichnet und deren Mündlichkeit verschriftlicht, um sie bei Bedarf wieder abzuspulen und auf diese Weise dem Patienten Erinnerungs- und Wiederholungsmechanismen vorzuführen.23 In persona, durch seine Unfähigkeit, direkt zum Unbewußten durchzustellen – per-sonare heißt auch ‚durchtönen’ (vgl. Kap.5) – gibt er eine (Ohn-)Macht zu, über die selbst Metaphern der Tele-Technik nicht hinwegtäuschen mögen.24 Denn schließlich ist mit der Unberechenbarkeit der Übertragungsliebe das Unvermögen und die Uneinlösbarkeit eines Versprechens zugegeben, das suggeriert, ‚wirklich’ dazusein und zu heilen. Schon bei Paracelsus und in der darauffolgenden astrologisch-magnetischen Medizin zielt der Heil-Gedanke auf eine Wiederherstellung des gestörten Anschlusses an eine „All-Harmonie”25. 20 Vgl. Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 138ff.. 21 Jacques Lacan: „Parole vide et parole pleine dans la réalisation psychanalytique du sujet”, in: J. Lacan: Ecrits, Paris 1966, S. 247. Dt. „Leeres Sprechen und volles Sprechen in der psychoanalytischen Darstellung des Subjekts”, in: J. Lacan: Schriften I, Olten/Freiburg 1973, S. 84: „Denn jedes Sprechen appelliert an eine Antwort.” 22 J. Lacan, „ Leeres Sprechen und volles Sprechen”, S. 96f.. 23 Vgl. Uwe Wirth: „Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter”, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M. 2000, S. 161–184. 24 Vgl. Heinz Schott: „Die ‚Strahlen’ des Unbewußten – von Mesmer zu Freud”, in: Freiburger Universitätsblätter, Themenheft Mesmer, 25,93/1968, S. 35–54, hier S. 14: „Denn die psychoanalytische Aufklärung nach Freudschem Geschmack hat neben ihren Verdiensten unübersehbar auch zeitgemäße Defizite in der modernen Anthropologie festgeschrieben: Ich meine hier die Herauslösung des Menschen aus den Naturzusammenhängen, die Abstraktion von den Leibesvorgängen, die systematische Unterbindung direkter Kommunikation (des Dialogs).” 25 Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart/Weimar 1995, S. 45.
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Damit es zu einer geglückten Kommunikation zwischen sendendem und empfangendem Unbewußten kommt, müssen sich daher nach Freud beide Seiten auf bestimmte Voraussetzungen einlassen. Während der Patient seine Widerstände überwinden muß, um den kathartischen Affekt der Analyse aufzubauen, der es ihm ermöglicht, unter das Deckblatt des Wunderblocks zu kommen,26 signalisiert der Analytiker seinerseits Bereitschaft, den Hörer abzunehmen, ohne sich dabei gleich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Die „gleichschwebende Aufmerksamkeit” in der „Teleanalyse” hat nicht nur mit technischen Zwischenschaltungen und Speicherfunktionen zu rechnen, welche aufnehmen und archivieren, eine permanente Produktion von „recordings”27. Neben der medialen Grenze zwischen schriftlicher und phonographischer Aufzeichnung, mit der Freud die Erinnerungsleistung des Analytikers vergleicht, gibt es noch weitere Hürden, die für die Figur des Anrufs nicht unbedeutend sind. So beispielsweise die Grenze zwischen Telefonie und Telepathie, „zwischen der Übertragung von fernmündlichen Botschaften und der Gedankenübertragung”28. Freud grenzt sich von der Telepathie als einer „angebliche[n] Tatsache” ab. „Telepathie nennen wir die angebliche Tatsache, daß ein Ereignis, welches zu einer bestimmten Zeit vorfällt, etwa gleichzeitig einer räumlich entfernten Person zum Bewußtsein kommt […] so, als ob sie telefonisch verständigt worden wäre, was aber nicht der Fall gewesen ist, gewissermaßen ein psychisches Gegenstück zur drahtlosen Telegraphie.”
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Der (telefonische) Anruf führt in der psychoanalytischen Praxis zum „psychischen Gegenstück zur drahtlosen Telegraphie”, zur, wenn auch in Distanz vorgestellten, Telepathie und damit zur Figur der Anrufung im Ritual der Geisterbeschwörung. Mit populären Geistern und Gespenstern haben sich Geistes-Philosophen von Platon bis zu Kant immer schon auseinandersetzen müssen.30 Vor die
26 Vgl. Sigmund Freud: „Notiz über den ‚Wunderblock’”, in: S. Freud, Studienausgabe, Bd.III, S. 363–377. 27 Vgl. Jacques Derrida, „Aus Liebe zu Lacan”, in: J. Derrida: Vergessen wir nicht! – die Psychoanalyse!, übers. v. Hans–Dieter Gondek, Frankfurt a. M. 1998, S. 43. 28 U. Wirth, „Piep”, hier S. 174f.: „Bei dieser Übertragung ist der psychische Apparat des Patienten mit dem des Arztes verbunden: Zwei Wunderblöcke telefonieren miteinander. Der Notizblock des Arztes jedoch übernimmt nur eine Funktion des ‚Wunderblocks’ […]”. 29 Sigmund Freud: „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse”, in: S. Freud: Studienausgabe, Bd.I, S. 477. 30 Vgl. Liliane Weissberg: Geistersprache: philosophischer und literarischer Diskurs im späten achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 1990, hier S. IX–XIV. Und Gérard Raulet: „Esprit/Geist”, in: Jacques Leenhardt/Robert
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Frage nach Fiktion und Einbildungskraft gestellt, sucht man in einer Gegenüberstellung von Ratio und Phantasie Zuflucht, die das „andere”, Geisterhafte als „Dichtung oder Literatur”, als das aus der Philosophie vertriebene von sich weist. Metaphorik und Modell bedingen sich gegenseitig. Im Medium des Anrufers findet die Figur der Anrufung zu ihrer ritualisierten und initiierenden Funktion, um im Namen von etwas ‚Anderem’ zum Sprechen anzuheben, herbeizurufen, zu zitieren, um Hilfe zu rufen oder den die Krankheit hervorrufenden Geist auszutreiben.31 In seinem Wegweiser für Medien und Anrufer äußert Allan Kardec, Begründer der ersten spiritistischen Gesellschaft in Paris (1858), eine Vorahnung, die sich nicht nur in Form eines gegenseitigen Anrufens selbst in der dialogischen Form eines Frage- und Antwortkatalogs repräsentiert, sondern sich vor allem schon bald mediengeschichtlich mit der Erfindung des Telefons erfüllen wird: „Können zwei Menschen, indem sie sich wechselseitig anrufen, ihre Gedanken miteinander austauschen und auf diese Art korrespondieren? ‚Freilich, und diese menschliche Telegraphie oder Telepathie wird eines Tages ein allgemeines Mittel gegenseitiger Verständigung sein.’”
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Das geisterhafte, von Alexander Graham Bell erfundene Membran-Telefon wird diese Geister-Vision beim Wort nehmen. Bell läßt sich von den Mittelohren zweier Leichen inspirieren, um „in einem einzigen Versuchsaufbau Technik mit Physiologie, Stahl mit Fleisch, Phonautograph mit Leichenteilen” zu koppeln. „Wo immer Telephone klingeln, haust seitdem ein Gespenst in der Muschel.” faßt Friedrich A.Kittler die unüberhörbare Differenz des Fernsprechens zusammen.33 Während die psychoanalytische Praxis ihrem heimlichen Ideal der akustischen (Direkt-)Übertragung des Unbewußten aufsitzt und zu diesem Zweck die Anrufung als Mittel der talking cure einsetzt, reflektieren Philosophen mit und in der Schrift. Das Thema Anruf erhält im zwanzigsten Jahrhundert eine erstaunliche philosophische Resonanz von Heidegger über
Picht (Hg.), Esprit/Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München 1989, S. 148–160. 31 In der dynamischen Psychotherapie nehmen Anrufung/Appell und Anerkennung bzw. Bereitschaft einen wichtigen Platz ein. Vgl. Ellenberger, Entdeckung, S. 49: „Bei diesem aktiven Verfahren ruft der Patient zuerst um Hilfe (dies ist der ‚appellative Prozeß’); der Therapeut antwortet mit seinem Willen und seiner Bereitschaft, zu helfen; dann weckt er die Selbstheilungs–Tendenzen im Patienten; […]” 32 Allan Kardec: Das Buch der Medien. Ein Wegweiser für Medien und Anrufer 3 über Art und Einfluß der Geister, Freiburg i.Br. 2000, S. 252. 33 F. A. Kittler, Grammophon, S. 117. Bell hatte sich die Beobachtung zunutze gemacht, daß ein „Instrument, ähnlich dem, das als Sender diente, auch als Empfänger benutzbar war.”
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Althusser bis zu Derrida. Daß der Anruf zu einer Denkfigur wird, um über Machtverhältnisse nachzudenken, erscheint als Reaktion auf die Entwicklung phonographischer Medien durchaus plausibel. Seit dem neunzehnten Jahrhundert können akustische Signale übertragen werden und zwar unabhängig von Transportmitteln, die an menschliche Körper gebunden sind (Bote, Kutsche, Eisenbahn etc.). Die körperlosen Nachrichtensysteme beflügeln die Illusion einer direkten Kommunikation und zerstören sie zugleich. Endlich erschüttert eine implizite oder explizite „Telefonie” auch das Selbstbewußtsein der Bewußtseinsphilosophie. Dies wirft neue Fragen auf. Stellt die Affirmation, die Bejahung des Anrufs nicht von vornherein in ein unausweichliches Machtgefälle? Und wird nicht umgekehrt der Ruf an eine höhere Instanz (Gott, der Richter, das Gericht) auf das eigene Echo zurückgeworfen, weil mit keiner Antwort zu rechnen ist? Wenn der Anruf ein vorrufender Rückruf ist, wie Martin Heideggers Ruf ins Dasein nahelegt, wenn der Anruf des Gewissens nicht etwa etwas, sondern vielmehr nichts mitteilt, gibt es dann überhaupt noch die Möglichkeit zu widersprechen? Profane Anruf-Szenen wie die polizeiliche Verhaftung, die Interpellation, lassen mit Louis Althussers ideologiekritischer Theorie der Anrufung die Schlußfolgerung zu, daß der Anruf auf eine vorgängige, um sich selbst wissende Schuld trifft. Wie aber kommt es zu dieser allmächtigen und religiösen Verbindung von Anruf und Schuld? Die Anrufung hat sich als ontotheologisches, kulturelles und diskursives Muster über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten. Das zweite Kapitel über die sakralen Anrufungen geht daher den kritischen Momenten und Umbruchsphasen dieser kontinuierlichen Entwicklung nach. Von Augustinus über Angelus Silesius bis zu Franz Rosenzweig und Walter Benjamin entpuppt sich die jüdisch-christliche Anrufung zusehends als ein „Anruf der Sprache” selbst. Der Weg nach Innen ist mit Augustinus vorgezeichnet, er geht mit Angelus Silesius noch einen Schritt weiter, indem er bis in die Schrift ruft, und er wird sodann vom jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig in den Dienst zur Versöhnung gestellt, um schließlich mit Walter Benjamin zu einem sprachphilosophischen Höhepunkt im „Anruf der Sprache” zu finden: in der (unmöglichen) Mitteilung von der Sprache über sich selbst. Doch bevor diese Stationen sakraler Anrufungen vorgestellt werden, geben Heideggers, Althussers und Derridas „Telefonien” Anlaß zur Frage nach der „Performanz des Anrufs”. Performanz der/in der Rede, so wird zu zeigen sein, ist keine Garantie für geglückte Kommunikation. Zu viele Faktoren bzw. Konventionen sind daran beteiligt, die eine Tendenz zum Verunglük-
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ken, zu Fehlleistungen und Fehlgeleitetem in sich tragen. Wie kommt es, daß Heideggers Gewissensruf zwar das auf unheimliche Weise rufende Dasein aufruft, jedoch nicht das „Ding” Telefon als Medium der Moderne und auch nicht die das 20. Jahrhundert erschütternde Vernichtung der Juden weder vor noch nach 1945 einer Erwähnung für würdig hält? Warum versagt Louis Althussers allmächtiger Herausruf, der eine traumatische Ur-Szene staatlicher Kontrolle begründet, im entscheidenden Moment des passage à l’acte? Was treibt John Langshaw Austin an die Grenzen seiner sprechakttheoretischen Versuche, verunglückte Sprechakte durch Klassifizierung zu bannen? Und wie überkreuzen sich Anruf und Adresse in Jacques Derridas medialen Überlegungen zur Postkarte und zu Ulysses Grammophon? Zuletzt wird mit Friedrich Nietzsches Bejahung des Rufes und dem, was danach kommt (nach Nietzsche), wieder auf Butlers „Politik des Performativen” zurückzukommen sein. Die philosophische Frage nach einer „Performanz des Anrufs” stößt auf eine extreme und grundlegende Form der Anrufung, die nicht mit einer Antwort ihres Adressaten rechnen kann. Ohne über einen Beweis für die Existenz des Angesprochenen zu verfügen, ohne der Reaktion eines physischen Gegenübers visuell beiwohnen zu können – ein Gegenüber, das schließlich durch die Ansprache erst zu einem Angesprochenen wird – zeigt die Adressierung der religiösen Rede exemplarisch, wie hart die Probe ist, auf die der Anrufer gestellt wird. Denn anders als beim profanen oder analytischen Telefongespräch kann der göttliche Anruf nicht mit Antworten rechnen. Im Gebet wird die rhetorische Anstrengung unternommen, einen unendlich weit aufklaffenden Abgrund zwischen Rufer und Gerufenem zu überbrücken, zwischen dem Morast sündig-satanischer Fluten und der Unerreichbarkeit einer himmlischen Hierarchie. Der grundlose Grund, der hier rhetorisch erst gelegt werden muß, erklärt die exponierte Stellung, die der Anrufung im Aufbau des Gebets selbst zukommt. Bevor Doxologie („das Rühmen der Gottheit durch Häufung poetischer Attribute”) und Gebetsbitte („als Ekstasis der Seele aus dem Leib und als Konstituens für das Erlangen höherer Offenbarungen interpretiert”) vorgebracht werden können, muß die Anrufung ihrer verbindenden Aufgabe (re-ligio) „von theologischem Gehalt mit intimstem seelischem Ausdruck” nachkommen.34 Sakrale Anrufungen stellen die Eröffnungsszene – dies gilt allerdings nicht nur für strenge Gebetsformen, sondern auch für poetische Texte, die sich adressieren, sich selbst poetisch ins ‚Leben’ rufen müssen. Auch sie müssen einen Anfang setzen, wo es sich um unbelebte Gegenstände, Artefakte, Abstraktionen oder Natur, um literarische Figuren, die Zuweisung einer Stimme 34 Vgl. Jörg Villwock: Die Sprache – Ein ‚Gespräch der Seele mit Gott’, Frankfurt a. M. 1996, S. 33ff..
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oder eines Gesichts (Paul de Man) handelt. Die Anrufung ist eine Figur der Vokation, mit dem sich ein Text selbst ermächtigt, ins Sein ruft.35 Damit macht sie die setzende Kraft der (An-)Sprache deutlich, eine Kraft, die der Sprache generell, unabhängig von Genre und Medium, von Rede und Schrift zugesprochen wird. Sobald Sprache auf ihre Grenzen, Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten, ihren Rest oder das, „was abgeschnitten wird”, das „Nicht-Performierbare der Performativität”36 hin untersucht wird, stellt sich die Frage nach ihrer generellen Strukturierung durch Anrufung bzw. Anruf. Und wer könnte darüber mehr Auskunft geben als Friedrich Hölderlin, angerufener Dichter des Anrufs, der nicht aufhört, das Fehl der Götter zu konstatieren? Hölderlins Werk führt einen „Wechsel der Töne” vor. Die Stimme, die verlockend ruft, ist zugleich vom Verstummen bedroht. Anhand eines kryptisch adressierten Widmungsexemplars des frühen Hyperion soll dieser Komplexität einer begehrten und verhinderten Zustellung verklingender Stimmen nachgegangen werden. Ein Weg „ins Offene” zeichnet sich ab, von Ängsten, Faszination und Aphasie begleitet. Gerade Gebet und Gedicht sind eigentliche „Ort[e] der Koinzidenz von Rhetorik und Mystik”37. Sie initiieren einen Sprechakt, indem sie vorgeben, etwas aus sich selbst heraus – in seiner Singularität – ansprechen zu können. Sie beruhen auf Rezitation und Archivierung. Keine genuine Adresse ist ohne Wiederholung und Iteration möglich.38 Weil Sprache adressiert, nimmt sie ihre „Haltungen innerhalb jenes gekreuzten Vektors der Macht ein […].”39. Welche Haltung aber nimmt der allzeit schuldige Sünder ein, der nur darauf wartet, vom Ruf einer göttlichen Stimme getroffen zu werden?
T onloser Gewissensruf (Mart in H eidegger) Damit geht das Wort an Martin Heidegger, dessen „Ruf der Sorge” in Sein und Zeit dem angerufenen Selbst nichts zuruft, „sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen”40. Der Heideggersche Anruf erscheint als ein Aufruf, d.h. als auffordernde Stimme des Gewissens, die befremdend ist, weil sie nichts sagt – weder explizit einen Befehl, eine 35 Vgl. Jonathan Culler: „Apostrophe”, in: J. Culler, The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction, Ithaca 1981, S. 135–154. Vgl. Kap. II,1: „Rhetorik der Adresse”. 36 Vgl. J. Butler, Haß spricht, S. 196. 37 J. Villwock, Sprache, S. 33. 38 Vgl. Jean–Luc Nancy: Des lieux divins, Paris 1997. 39 Butler, Haß spricht, S. 49. 40 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161993, S. 273. Im folgenden im laufenden Text zitiert als SZ.
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moralische Maxime noch einen kategorischen Imperativ ausgibt: „Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts.” (SZ, 273) Das Gewissen als „Ruf der Sorge” redet hier im „Modus des Schweigens”. Der Ruf entbehrt somit jeglicher Verlautbarung und Mitteilung. Heidegger ruft auf zum Hören einer „fremden Stimme” des Gewissens als eine, die keine bestimmte Botschaft sendet, die eine Erwartung auf Mitteilung nicht erfüllt und gerade deshalb umso unerbittlicher ruft. Die Vorstellung des Gewissens als anklagende oder warnende Stimme erinnert an Immanuel Kants Heraufbeschwörung einer „furchtbaren Stimme”, die zu hören nicht zu vermeiden ist. Jeder Mensch, so Kant, fühle sich durch einen inneren Richter beobachtet, ja bedroht.41 Das Gewissen sei zwar ein „Geschäfte des Menschen mit sich selbst”, die Vernunft sehe sich jedoch genötigt, „es auf den Geheiß einer anderen Person” zu treiben, damit der Innere Gerichtshof nicht einfach für Freispruch plädieren könne: „Also wird sich das Gewissen der Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d.i.), als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen denken müssen”42. Über den Umweg der Konstruktion einer imaginären Stimme verspricht der kategorische Imperativ seinen Adressaten anzutreffen: über eine Stimme, die weder zeitliche Markierungen noch persönliche Referenzen enthält. Sie ist es, durch die angerufen, gestellt bzw. versetzt wird, ihr wird die Aufgabe zugesprochen, den Befehl im Namen des Gesetzes auszuteilen, über sie soll er empfangen werden.43 Jene innere, richtende, in ein Anderes des Selbst verlagerte Richterinstanz appelliert bei Kant an einen moralischen Imperativ. Ihrer reinen Beschaffenheit als phonè (Stimme, Laut, Ton) entspricht die Unbestimmtheit, mit der sie bestimmt, denn sie fordert gerade nicht zum direkten Handeln auf und verweigert somit eine konkrete Aussage, die auf Performanz abzielt. Kants Imperativ zeigt Affinität zum Versprechen – beides sind Sprachhandlungen, „die voraus- und vorsprechen, versprechen, was kommen soll.”44 Die Sprache des Gesetzes zielt nicht auf Übereinkunft, Wiedergabe oder Repräsentation, sie fordert nicht bloß, sondern überfordert, „also nicht bloß kein konstativer, setzender, performativer,
41 Vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985, Kap.VI „Moral als Herrschaftszusammenhang”. 42 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Ethische Elementarlehre, in: Königlich–Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kant’s Werke, Bd. VI, Berlin 1914, S. 438, § 13, A 99-100. 43 Vgl. Jean-Luc Nancy: L’Impératif catégorique, Paris 1983, S. 133: „L’homme qui entend cette voix, sans peut-être s’y entendre lui-même, n’est pas un étant-devant. Son étantité n’est pas prédiquée, elle est à la fois interpellée, posée, et déposée par l’ordre qu’elle reçoit.” 44 Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998, S. 68.
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vielmehr ein exformativer Akt.”45 Heidegger spielt in Sein und Zeit auf jene „Deutung der Stimme als einer in das Dasein hineinragenden fremden Macht” an und warnt zugleich vor einer Annahme, daß „der festgelegten Macht ein […] Besitzer” unterlegt bzw. „sie selbst als sich bekundende Person (Gott)” (SZ, 275) genommen werde. In Sein und Zeit ist der Kantsche Imperatif zu einem übermächtigen und mythischen geworden.46 Das Problem einer zu legitimierenden Urheberschaft des Rufes klingt immer noch als Frage an, wird jedoch nicht beantwortet. Die Aufforderung zum Tun verschiebt sich im Gegenteil zu einem lautlosen Appell an das Sein zum Tode: „Der Ruf weist das Dasein vor auf sein Seinkönnen und das als Ruf aus der Unheimlichkeit.” (SZ, 280) „Die Unheimlichkeit der geworfenen Vereinzelung” werde im Rufen mitgerufen und gleichzeitig erschlossen. Somit gibt der Ruf kein „ideales, allgemeines Seinkönnen” zu verstehen, sondern spricht das Dasein selbst als „schuldig” an. Da der Begriff der Schuld sich nicht einstimmig fassen lasse, müßten alle Bedeutungen des moralischen und rechtlichen Schuldigmachens bzw. Schuldigseins zur ontologischen Grundbedingung des Seins zusammengefaßt und als ein „Grundsein für einen Mangel im Dasein eines Anderen” verstanden werden: „Das Dasein ist als solches schuldig” (SZ, 285). Nichts anderes gibt hier der Ruf zu verstehen als ein ursprüngliches Schuldigsein: „Der vorrufende Rückruf des Gewissens gibt dem Dasein zu verstehen, daß es […] aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen soll, das heißt schuldig ist.” (SZ, 287) Damit kehrt Heidegger die Ursache eines Schuldigseins um, das nicht mehr aus einer Verschuldung resultiert, sondern dieser voransteht und sie als ihre Folge gar erst möglich werden läßt. Nicht mehr „intersubjektiv”47 ist die Schuld aus dieser Perspektive Grundbedingung des Daseins, das in seiner Existenz immer einer Wahl untersteht, d.h. eben nicht zwischen „eigensten” Möglichkeiten frei wählen kann. Da es einer immer schon getroffenen Wahl unterstehe, sei das Dasein schuldig – und nicht etwa weil es einem anderen Dasein Unrecht zugefügt
45 W. Hamacher, Verstehen, S. 75. 46 Zum Begriff des Übermächtigen in Sein und Zeit, vgl. Otto Pöggeler: „Hölderlin, Hegel und Heidegger im amerikanisch-deutschen Gespräch”, in: Christoph Jamme/Karsten Harries (Hg.), Kunst, Politik und Technik, München 1992, S. 7-42, hier S. 17f.: „[…] das Ist-sagen des Menschen und die Frage ‚Warum überhaupt?’ setzen schon das Miteinander des Menschen mit dem sonstigen Leben voraus, stellen ihn als Sterblichen vor etwas ‚Übermächtiges’. Das Übermächtige kann als das Heilige durch Mythos und Kunst das Zusammenleben der Menschen prägen; die religiöse Dimension des Lebens wird nun vom Paradigma des Mythos her gesehen.” 47 Vgl. Michel Haar: Heidegger et l’essence de l’homme, Grenoble 1990, S. 49: „L’‚intersubjectivité’ de la dette s’évanouit. Le ne-pas que le Dasein introduit dans le monde et chez les autres doit se trouver préalablement en luimême. D’où l’idée d’une dette originaire du Dasein envers lui-même […].”
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hätte: „seinkönnend steht es je in der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine andere nicht und hat sich ihrer im existentiellen Entwurf begeben.” (SZ, 285) Die paradoxe Struktur der zwingenden Wahl ist angesprochen, wie sie Sören Kierkegaard in Entweder – oder in der Auseinandersetzung zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen diskutiert. Dort ist das Dilemma der Wahl, ihre Aporie, Auslöser für einen pathetisch seufzenden Ruf an den Freund: „Mein Freund! Was ich Dir schon sooft gesagt habe, ich sage es noch einmal, oder besser, ich rufe es Dir zu: entweder – oder; aut – aut; denn ein einzelnes aut, das berichtigend hinzutritt, macht die Sache nicht klar, da das, worum es hier geht, zu bedeutungsvoll ist, als daß man sich mit einem Teil begnügen, zu zusammenhängend in sich, als daß man es partiell benutzen könnte.”
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Eine Wahl bedeutet Auswahl, d.h. Wahl einer Möglichkeit, der Akt der Wahl muß die Existenz einer anderen verwerfen: Im Moment der Verwerfung der anderen Möglichkeit wird zugleich die Möglichkeit der Wahl zwischen mehreren Alternativen überhaupt abgewendet – diese bestehen nach getroffener Wahl als Alternative de facto nicht mehr. Der Ausdruck Wahl erscheint nunmehr unangemessen. Das hat Kierkegaard schließlich dazu veranlaßt, seinen Begriff der „Selbstwahl”, die dem Ethischen in Entweder – oder noch den Vorzug gibt, aufzugeben und ihn in Krankheit zum Tode in den des „Selbstseinwollen[s]” zu überführen.49 Auch Heidegger setzt den Ausdruck der Wahl im Sinne eines „Selbstseinwollens” ein und gegen eine Identifikation des Gewissens als „Stimme des Man”, die darüber zu entscheiden hätte, was der Einzelne tun oder lassen müsse. Vielmehr müsse sich die Wahl „eigentlich” entscheiden, also verstehen, daß jede Entscheidung eine Reihe anderer Möglichkeiten definitiv ausschliesse. „Gewählt wird das Gewissen-haben als Freisein für das eigenste Schuldigsein.” (SZ, 288) Ein „Gewissen-haben-wollen” konstituiere jedoch erst Ethik und sei nicht etwa aus einer ethischen Haltung heraus abzuleiten.50
48 Sören Kierkegaard: Entweder - oder, übers. v. Heinrich Fauteck, München 1998, S. 704. [erste Hervorhebung v. Verf., weitere im Text]. 49 Vgl. Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 254f.. Vgl. auch Elisabeth Strowick: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart 1999. Das Kapitel „Der paradoxe Akt der Wahl”, S. 237: „In der Wahl vollzieht das Subjekt eine doppelt-gegenläufige dialektische Bewegung: Indem es sich wählt, wird es zu dem, was es war, und was zugleich absolut verschieden von diesem ist. Zugleich dasselbe und absolut verschieden – die ‚Geburt aus dem Widerspruch’ beschreibt die paradoxe Bewegung der Wahl wie auch die der Wiederholung.” 50 Vgl. G. Figal, Heidegger, S. 256.
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Das Modell einer ontologisierten und formalisierten Schuld setzt bei einer radikalen Loslösung von einer Schuldigkeit des Anderen an. Das heißt sowohl, daß die „Idee der Schuld abgelöst” ist „von dem Bezug auf ein Sollen und Gesetz” (SZ, 283), als auch, daß – wenn Schuld eine ursprüngliche ist – eine Befreiung von Schuld, d.i. die Unschuld, überhaupt unmöglich ist. „Es geht, wenn man auf diesen Ruf hört, gerade nicht um eine ‚Befreiung von der Schuld im Sinne des wesenhaften ‚schuldig’’ (SZ, 288), sondern darum, ‚das ‚schuldig’ […] eigentlich [zu] sein’“51. Mit der Anonymität eines schweigenden Rufes, der nichts sagt, geht die Behauptung einher, daß der Ruf, wie bei Kant, nicht von einem Rufer ausgeht. Er kann weder einem „Besitzer” noch einer „Person (Gott)” unterstellt werden. Nicht mehr an eine bestimmte Person oder Instanz gebunden, gibt es so auch keine Möglichkeit mehr, die Stimme einfach zu überhören oder sie zum Verstummen zu bringen. Dagegen ist der „Ruf der Sorge”, wie Heidegger ihn vernimmt, „seinem phänomenalen Charakter nach ein ‚es’ und ‚Niemand’” (SZ, 278). Er sei weder „von uns selbst […] geplant noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ‚Es’ ruft.” (SZ, 275) Das eingeklammerte ‚Es’ steht einer Freudschen Konzeption des Gewissens als Über-Ich in nichts nach: „eine Stimme, die wir alle hören, die Stimme des Gewissens. Dabei ist auffällig, daß das Über-Ich nicht zu sehen ist, es hat keine Gestalt”52. Eine eigenartig zirkuläre, solipsistische Bewegung entsteht, ein „vorrufender Rückruf”: „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.” (SZ, 275) . Diese Zirkularität betont Heidegger nicht nur, er wiederholt die Unvermeidlichkeit jenes vorrufenden Rückrufes durch die typographische Hervorhebung, appelliert an lautes, betonendes Lesen. Mit dem Ruf der Sorge in Sein und Zeit ist der „Modus eines Schweigens” und das Konstat einer Anonymität verbunden, das die „Flucht vor der Unheimlichkeit” (SZ, 276) zu verhindern sucht, eine Flucht, die sich dem „Man-Selbst” irrtümlicherweise als vermeintliche Freiheit und Erleichterung darstelle. Um diese Flucht zu vereiteln, muß „der durch die Angst gestimmte Ruf” (SZ, 277) unerbittlich sein und auf ein Hören drängen, welches „eigentlich” sein und damit gleichzeitig schon im Ruf selbst, ohne Aufschub, als „volle[s] Gewissenserlebnis” (SZ, 279) einsetzen soll. Rufer und Angerufener fallen in einem ‚Selbst’ zusammen, in dem ‚Ich’ und ‚Anderes’ keinerlei Instanzen mehr zugeordnet werden können: „Andererseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.” (SZ, 275) Der sprechende Körper hört
51 G. Figal, Heidegger, S. 249. 52 Jutta Prasse: „Wenn jemand spricht, wird es heller”, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, 35,36/1991, S. 23-30, hier S. 29.
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sich selbst und ermöglicht dadurch, sich seiner selbst zu vergewissern.53 Diese Koinzidenz von Sprechen und Hören, Rufen und Angerufenwerden wird in Sein und Zeit auch rhetorisch befolgt. Der Text erlaubt sich keine affektiven Ausrufe wie Kierkegaards „Mein Freund !”, um dem Gesagten performative Kraft zu verleihen. Zwar tritt die Gestalt des Freundes auf, aber nicht mehr als apostrophierte Figur. In der elliptischen Formulierung „als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt” (SZ, 163) bricht in der kurzangebundenen Erwähnung einer „Stimme des Freundes” plötzlich eine Kluft auf, ein „seltsamer Zwischenraum des Rufes”54. Läßt sich in diesem apersonalen Zwischenraum noch eine Möglichkeit zur Rebellion, zur Umleitung ausmachen? Jacques Derridas Heidegger-Lektüre legt dies nahe. Die „Stimme des Freundes”, so Derrida, zeige auf die Figur eines Mitteilens, d.h. all dessen, was geteilt ist mit dem Anderen im Mitsein des Diskurses, der Adresse und der Antwort. Als ein verstehendes In-der-Welt-Sein mit den Anderen sei das Dasein ein „höriges”, d.h. zugehöriges. Das AufeinanderHören beschränkt sich aber nicht auf sich selbst, sondern bezieht durchaus die Möglichkeit einer Wahl mit ein: Wahl zur Opposition, zum Widerstand gegenüber der „Stimme des Freundes”. In Heideggers Hölderlin-Vorlesung Der Rhein, entstanden zu einer Zeit (1933-1934), die keinen Widerstand zuließ, sondern Gleichschaltung praktizierte, flüchtet sich Heidegger in eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Modi des Hörens, die nicht alle befreundeten Stimmen mit gleicher Elle mißt. Vielmehr soll hier das Ohr geschärft werden für eine säuberliche Tranchierung zwischen dem erbarmenden Erhören der Götter, dem Überhören wie dem Nichthörenkönnen oder Überhörenwollen der Menschen und schließlich dem Erhören des Dichters.55 Das Sprechen der Spra53 Dazu zahlreiche Arbeiten Derridas, z.B. Jacques Derrida: „qual quelle. Les sources de Valéry”, in: J. Derrida, Marges de la Philosophie, Paris 1972, S. 325-363. [Dt. Randgänge der Philosophie, Wien 1988.] 54 Jacques Derrida: „L’oreille de Heidegger”, in: J. Derrida, Politiques de l’amitié, Paris 1994, S. 345. 55 Vgl. Martin Heidegger: „Hölderlins Hymne ‚Andenken’”, in: M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 52, II. Abteilung, Vorlesungen 1923-1944, Frankfurt a. M . 1982, S. 13ff.: „Hören auf das Gedicht ist Horchen: Warten auf das Kommende des anfänglichen Wortes”, und Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen „Germanien” und „Der Rhein”, in: M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 39, Vorlesungen 1923-1944, Frankfurt a. M. 1980, § 14b: „Hören des Ursprungs […] Das erbarmende Hören der Götter und das Nichthörenwollen der Sterblichen. Das standhaltende Hören (Leiden) des Dichters als Vernehmen des ursprünglichen Ursprungs in seinem Entspringen”. Über das ‚richtige’ Hören äussert sich Heidegger auch in „Nur noch ein Gott kann uns retten”, in: Der Spiegel, 30. Jg., Nr. 23, 31. Mai 1976, S. 193-219, hier S. 196. Wiederabdruck „Das Spiegel-Interview”, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. v. Günther Neske/Emil Kettering, Tübingen, 1988, S. 81-114, hier S. 204: „Im folgenden Semester 1934/35 hielt ich die erste Hölderlin-Vorle-
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che hat Heidegger zufolge sein Wesen zunächst im (hermeneutischen) légein/legen56 und untersteht weder Akustik, Phonetik oder Phonologie noch einer Theorie der Bedeutung. Nicht um den Hörsinn geht es, sondern um ein Hören, das Heidegger „authentisch” nennt, und das ein Sich-Versammeln, ein Sichsammeln zur adressierten Rede (Anspruch, Zuspruch) meint.57 Das Hören ist Horchen: besorgtes und zugleich fasziniertes Warten auf einen unheimlichen Ruf, der erfolgen könnte. „Das Hören ist eigentlich dieses Sichsammeln, das sich auf Anspruch und Zuspruch zusammennimmt. Das Hören ist erstlich das gesammelte Horchen. Im Horchsamen west das Gehör. Wir hören, wenn wir ganz Ohr sind.”
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Wie sollten hier verschwiegene Reminiszenzen an totalitäre Versammlungszwänge ausbleiben können? Heideggers Ruf bricht in Sein und Zeit als ein anonymer und schweigender ein, unberechenbar und unhörbar. Der Eindruck von Angst, Faszination und Schuld – der Unheimlichkeit – entsteht in Sein und Zeit gerade durch die stillschweigende Bestätigung der ängstlichen Erwartung, hier könne ein Ruf zum „eigensten Schuldigsein” ergehen. Gerade das Nicht-Berechenbare, Plötzliche, Unterbrechende des Rufes ist es, das keine Antwort auf die „fremde” Stimme zuläßt, eine „Stimme des Freundes”, die umso dringlicher ertönt, da sie aus einem ‚Selbst’ kommt: „daß der Ruf aus mir über mich kommend an mich ergeht” (SZ, 275). Einzig die willige Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen ist in einer solchen Konstruktion entscheidend dafür, ob der Ruf treffen wird oder nicht. Wie jedoch entsteht wiederum diese Bereitschaft, aus welcher Disposition geht sie hervor? Und von wo aus sollte beurteilt werden können, wann ein Ruf tatsächlich eintrifft, wann oder von wem er abgenommen wird? Fragen, die in Sein und Zeit zwar ausgelöst, aber nicht beantwortet werden wollen. Mit den Metaphern des Rufes und des Freundes gelangt Heidegger schließlich zu einer Konzeption des „Dings”, das er erst 1950 unter diesem Namen vorstellt. In diesem Text übergeht er jedoch offensichtlich das Tele-
sung. 1936 begannen die Nietzsche-Vorlesungen. Alle, die hören konnten, hörten, daß dies eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war.” 56 Martin Heidegger: „Logos (Heraklit, Fragment 50)”, in: M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 71994, S. 201: „Legen ist lesen. Das uns bekanntere Lesen, nämlich das einer Schrift, bleibt eine, obzwar die vorgedrängte Art des Lesens im Sinne von: zusammen-ins Vorliegen-bringen.” 57 Zu Heideggers Versammlung als göttlichem Ort, vgl. Jean-Luc Nancy: Des lieux divins, Paris 1997. Und Hent de Vries: „Theotopographies: Nancy, Hölderlin, Heidegger”, in: Modern Language Notes, 109,1/1994, S. 445-477, hier S. 459. 58 M. Heidegger, „Logos”, S. 206.
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fon ausdrücklich. Andere Medien stehen für das „Ding” und verdeutlichen die Gefahr eines fernen „Man”: „Flugmaschine”, Rundfunk, Film, sogar der „Fernsehapparat”. Schließlich aber dient der „Krug” dazu, Heideggers Idee vom Ding zu versinnbildlichen, das als erstes an die Frage nach Nähe gekoppelt ist.59 Nähe, so Heidegger, sei im Wesentlichen „Nähern”: „Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne.”60 Genau das aber trifft auf das Telefon zu, das mir den anderen näherbringt und gleichzeitig verhindert, daß er mir nahekommt. Während nun der „Krug” das Funktionieren des Dings paradigmatisch ‚aufbewahrt’, indem er als „Gefäß” das eine Bedeutungsmoment des althochdeutschen „thing” heraushebt, um das es Heidegger ausschließlich geht, nämlich das „Versammeln”, fällt die andere Bedeutung von „thing”, das ist „die Versammlung und zwar Versammlung zur Verhandlung einer in Rede stehenden Angelegenheit, eines Streitfalles”61, förmlich unter den Tisch. Die „Stimme des Freundes”, die in Sein und Zeit angesprochen wurde, ist keine, die dazu befähigt wäre, den Hörer abzuheben und zu antworten. Der heraufbeschworene „Zwischenraum des Rufes” flieht gerade vor akustischer Nähe, die ein „Mitsein” ja nahelegen könnte. Der angerufene „andere” ist zu einer transzendentalen Figur des „Anderen” geworden, den es auf Abstand zu halten gilt.62 Zwar ruft der „Ruf der Sorge” vor auf die Endlichkeit, den Tod, er ruft jedoch auch gleichzeitig zurück.63 Weil solche Fragen nach dem Prinzip einer fundamentalen Urheberschaft des Seins und nicht nach dem Da des Seins zielten, müssen sie für Heidegger offenbleiben und sich dem anderen verschließen. Das Ohr wird hier für den Ruf der Stille geschult, „die ihn
59 Martin Heidegger: „Das Ding”, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stutt7 gart 1994, S. 158: „Wie steht es mit der Nähe? Wie können wir ihr Wesen erfahren? Nähe läßt sich, so scheint es, nicht unmittelbar vorfinden. Dies gelingt eher so, daß wir dem nachgehen, was in der Nähe ist. In der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen. Doch was ist ein Ding? Der Mensch hat bisher das Ding als Ding so wenig bedacht wie die Nähe. Ein Ding ist ein Krug.” 60 M. Heidegger, „Das Ding”, S. 170. 61 M. Heidegger, „Das Ding”, S. 167. 62 Vgl. Michael Theunissen: Der Andere, Berlin 1981, S. 168: „So hat sich bei Heidegger der Andere im transzendentalen Verstanden nach ‚mir’ zu richten: er ist das Entworfene meines Entwurfs und unterscheidet sich in diesem Punkte nicht vom Zuhandenden.” Vgl. auch Alexander Roesler: „Das Telefon in der Philosophie: Sokrates, Heidegger, Derrida”, in: S. Münker/A. Roesler (Hg.), Telefonbuch, S. 142-160, hier S. 152: „Überraschenderweise zeigt sich für Heidegger der andere zunächst über den Umweg des ‚Zuhandenen’, als dessen bestes Beispiel immer das Werkzeug dient. Die anderen begegnen mir dadurch, daß das Zuhandene auf sie als Träger verweist; […]”. 63 Vgl. dagegen Mike Sandbothe, „Zeit und Medien. Postmoderne Medientheorien im Spannungsfeld von Heideggers Sein und Zeit”, in: Medien & Zeit, 2/1993, S. 14-20. Der Aufsatz wirft im Anschluß an Peter Sloterdijks Eurotaoismus (Frankfurt a. M. 1989) Heideggers Ontologie des Noch-Nicht-Seins vor, keine Rücksicht auf die „Eigenmacht des Vergangenen” zu üben.
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[Heidegger] im Jenseits philosophischer Spekulation anwehte […]. Was sich nicht zeigen läßt, das muß man erhorchen”64. Heideggers Anruf tele-kommunikativ beim Wort zu nehmen – das ist eine Herausforderung, der es sich im Zeitalter des Telefons zu stellen gilt. Das versucht Avital Ronell, wenn sie in The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech65 ausgehend von einem Ausschnitt aus dem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview von 1976 „Nur noch ein Gott kann uns retten” einen unmittelbar eintreffenden Telefonanruf mit dem Gewissensruf in Sein und Zeit verbindet. „SPIEGEL: Daraufhin erklärten Sie sich endgültig befreit. Wie gestaltete sich Ihr Verhältnis zu den Nationalsozialisten? HEIDEGGER: […] Nach einigen Tagen kam ein fernmündlicher Anruf des SA-Hochschulamtes in der Obersten SA-Führung, von SA-Gruppenführer Dr. Baumann. Er verlangte die Aushängung des genannten Plakates, das bereits in anderen Universitäten angebracht sei.”
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Ronell nimmt Heideggers Telefon-Anekdote aus der Freiburger Rektoratszeit (1933-34) zum Anlaß, sie als Urszene zu verstehen, die Telefon und Gewissen mit vergleichbarer Autorität aus der anonymen Ferne rufen lassen: „nach einigen Tagen kam ein fernmündlicher Anruf”. Dies sei von Heidegger selbst (sozusagen unbewußt) so inszeniert worden, und zwar, indem er seinen angenommenen „Be-ruf” (Ronell), den Rektoratsposten, aus der Anonymität eines zum Gehorsam aufrufenden „call” nachträglich rekonstruiere. Jene scheinbar ungewollte aber unausweichliche Ur-Szene des ‚call’ geistert durch The Telephone Book und dient hier zum Beweis dafür, daß der ‚Urheber’ eines Denkens des „Sein-am-Telefon”67 der Macht der Technik seinerseits nicht entkomme. Dabei drängt sich der Eindruck auf, daß Ronell den philosophischen Gestus Heideggers, der Flucht ins „Gerede” nicht anheimzufallen und sich ganz in die wüsten Gefilde eines schuldigen Daseins zurückzuziehen, ästhetisch und ethisch umzumünzen versucht, um ihn in ihren eigenen „versteckte[n], spielerische[n] Intertext”68 einzulassen. In The Te-
64 Vgl. Michael Wetzel: „Im Labyrinth des Ohres. Erinnerungen an ein unerhörtes Sinnesorgan”, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, 35,36/1991, S. 9-15, hier S. 13. 65 Avital Ronell: The Telephone Book. Technologoy, Schizophrenia, Electric Speech, Lincoln, London 1989. 66 M. Heidegger, „Nur noch ein Gott kann uns retten”, S. 83. 67 Jacques Derrida: Ulysse gramophone. Deux mots pour Joyce, Paris 1987, S. 84. Dt. J. Derrida, Ulysses Grammophon. Zwei Worte für Joyce, übers. v. Elisabeth Weber, Berlin 1988, S. 66. 68 Franc Schuerwegen: „A Telephone Conversation: Fragments”, in: Diacritics, Special Section on the Work of Avital Ronell, 24,4/1994, S. 30-40, hier S. 34.
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lephone Book wird den Lesern ein Gegengift zum Terror des Anrufs versprochen. Sie werden dazu aufgefordert, den Hörer aufzulegen und erneut zu wählen. Eine Wiederwahl löst die Selbstwahl ab („When you hang up, it does not disappear but goes into remission.” A User’s Manual). Dies entspricht schließlich sowohl Ronells eigener Methode der Verschaltung verschiedenster „Stimmen” (Carl Gustav Jung telefoniert mit Marguerite Duras, Heidegger mit Ronald D. Laing, Jacques Lacan mit Jean Cocteau, es gibt eine Konferenzschaltung zu dritt…) als auch der außergewöhnlichen Form des Textes. Das einfallsreiche und „nervöse” Buch nimmt Heideggers Wortfeld Hören, gehören, zugehören, hörig, Gehörigkeit, Zusammengehörigkeit wörtlich, um die unterbrochene Verbindung von Auge und Ohr durch ausgefallene Typographien wiederherzustellen. Durchstreichungen, Überbordungen, Rahmensprengungen, Akkumulation verschiedener Schriftzeichen, Hervorhebungen von Alliterationen, Illustrationen und unerwartete Seitenumbrüche stören das lesehungrige Auge in seiner melancholischen Versunkenheit auf. Immer wieder versucht Ronell, Heideggers „Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.” (SZ, 275) in ihre surrealistische, an automatische Texte erinnernde Schreibweise hineinzuzitieren. Dabei läßt die Übersetzung ins Englische jedoch gerade das vermissen, was The Telephone Book mit der automatischen Schreibweise aufzuholen verspricht: „I receive the call as coming both from me and from beyond me” [Hervorhebung von der Verf.]. Dieser prädikative Bezug zwischen einem aktiven, empfangenden Subjekt und seinem Handeln, der Annahme des Anrufs, wird dagegen in Sein und Zeit allein durch die passivische Wendung ostentativ vermieden. Insofern steht Ronells literale Verbindung von Telefon- und Gewissens-Ruf ihrer eigenen Diagnose entgegen, allein die Existenz des Telefons kehre die Beziehung von Selbst und anderem um und gebe dem anderen zur Erschütterung des Selbst den Vorzug. Denn die Annahme einer unerschütterlichen Performanz des Rufes in Form der historisch verortbaren, supratechnischen Macht des Nationalsozialismus schiebt dem Subjekt (in dem Fall Heidegger) individuelle Schuld zu. Das aber schließt implizit die Möglichkeit einer Wahlfreiheit in Betracht, mit der Unterwerfung, Unterlegenheit und Anrufung bei stärkerer Wachsamkeit hätten vermieden werden können (etwa indem der Hörer nicht abgenommen worden wäre). Heideggers Schweigen, das immer wieder als Versäumnis einer öffentlichen Distanzierung und Verurteilung im eigenen Fall aufgerufen wurde, zeigt jedoch auf das Problem einer Unentschuldbarkeit, die sich nicht einfach durch eine Aussprache hätte „wiedergutmachen” lassen können. Denn wer wäre in dieser Situation berechtigt gewesen, Absolution zu erteilen? Dies läßt sogar die Hypothese zu, Heidegger selbst hätte die Unmöglichkeit einer solchen Entschuldigung voraussehen können und sie mit seinem Schweigen zu verhin-
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dern gesucht.69 In jedem Fall scheint es schwierig, von einem Standpunkt aus – von welchem? – darüber zu entscheiden, wie der Ruf hätte anders ausfallen können oder müssen.70 Ronells eindeutige Diagnose einer Hörigkeit des kompromittierten Philosophen erwägt die Möglichkeit eines Vergleichs von Telefon- und Gewissens-Anruf, weil beide Anrufe in vergleichbar unheimlicher und daher autoritärer Weise rufen. Gleichzeitig liegt aber auch die Unmöglichkeit eines solchen Vergleichs nahe. Das Telefon klingelt und Heidegger trifft es mit der Konzeption des Dinges gerade, indem er es verfehlt, seinen schrillen Ton überhört: „Schmiegsam, schmiedbar, geschmeidig, fügsam, leicht heißt in unserer alten deutschen Sprache ‚ring’ und ‚gering’.”71 Beide Anrufe, des anderen und des Anderen, zielen direkt ins philosophische Ohr, das als einziges der Sinnesorgane nicht aufhören kann (Augen kann man schließen, Ohren nicht), zum Hören gezwungen ist. Während im ersten Fall der „Anruf des SA-Hochschulamtes in der Obersten SA-Führung” zum Aushängen des diffamierenden Plakates „Juden unerwünscht” auffordert, (über)fordert ein virtueller, unhörbarer Anruf im zweiten Fall. Der Telefonanruf stellt einen performativen Präzedenzfall der autoritären Staatsmacht dar und macht das Subjekt im Appell zu einem unterworfenen. Der Gewissensanruf Heideggers versucht dagegen, dieser Form der Unterwerfung zu entgehen, indem er die Aufforderung zum direkten Handeln durch einen exformativen Akt (Hamacher) ersetzt und ein ursprüngliches Schuldigsein einfordert. Doch der Preis ist ein überfordernder und herrischer Ruf, der schon vor jeder sprachlichen Äußerung eingesetzt hat. Es ist daher eher unwahrscheinlich, daß Heidegger quasi unbewußt gegenüber einem Presseorgan des „Man” eine autobiographische Anekdote mit dem „Ruf der Sorge” zu rekonstruieren versucht hat. Oder daß umgekehrt die Urszene dieses einen Telefonanrufs Licht auf Sein und Zeit werfen könnte. 69 Vgl. Silvio Vietta: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989; Berel Lang: „Heidegger’s Silence and the Jewish Question”, In: Alan Milchman/Alan Rosenberg (Hg.), Martin Heidegger and the Holocaust, New Jersey 1997, S. 1-18. Vgl. auch Jacques Derrida: „Heideggers Schweigen”, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Anm. 15, S. 159: „Was wäre wohl geschehen, wenn Heidegger etwas gesagt hätte, und was hätte er sagen können? Was ich hier ausspreche ist sehr gewagt, und ich wage es als Hypothese, indem ich Sie darum bitte, mich bei diesem Wagnis zu begleiten. Angenommen, Heidegger hätte zu 1933 nicht nur gesagt: Ich habe eine große Dummheit begangen, sondern: Auschwitz ist der absolute Schrecken, es ist das, was ich von Grund auf verurteile. Ein Satz, der uns allen geläufig ist. Was wäre dann gewesen? Er hätte wahrscheinlich ohne weiteres die Absolution erhalten.” 70 Zwar fragt Ronell einerseits nach dem „wo” des Rufes, nach seinem Ort und seiner Ankunft, beantwortet aber andererseits schon im Vorfeld, daß er stattgefunden hat. Vgl. auch Avital Ronell: „Eurozeit”, in: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 201-210, hier S. 202f.. 71 M. Heidegger, „Das Ding”, S. 173.
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Polizeiliche Int erpellat ion (Louis Alt husser) Ähnlich wie beim Heidegger-Beispiel drängt sich im ‚Fall’ Louis Althusser die Frage nach der Praxis förmlich auf, wenn lange nach der Niederschrift der Theorie diese für die autobiographische Re-Konstruktion in Anspruch genommen werden soll, jedoch offensichtlich nicht kann. Daß die Rekonstruktion nicht reibungslos in früheren Schriften untergebracht werden kann, zu dieser Einsicht muß der Theoretiker angesichts eines offenbar sich jeglicher Kontrolle und Bewußtheit entziehenden Aktes der Gewalt, eines passage à l’acte,72 kommen. Im Rückblick schreibt Althusser, daß er seine Ideen zur „eigenen Überraschung, nicht für das Verständnis dessen zunutze machen konnte, was mir widerfahren ist” („faire l’économie pour comprendre ce qui m’est advenu”).73 Althusser berichtet in seiner sich von Rousseau absetzenden Bekenntnisschrift L’avenir dure longtemps („Die Zukunft ist offen”), wie er nach begangenem Mord an seiner Ehefrau die Wohnung verläßt, auf die Straße läuft und nicht aufhört, sich und allen anderen in Erinnerung zu rufen, was er soeben getan hat.74 Auffällig ist die religiöse Färbung des akribisch erinnerten Moments: Es ist Sonntag, die alma mater, die École normale supérieure, in der Althusser damals arbeitete und lebte, ist zur Hälfte leer und schläft, sie scheint die Hiobsbotschaft einfach nicht hören zu wollen. Im autobiographischen Text, der den Schock erinnert, es getan zu haben, versammeln sich alle Elemente von Gottverlassenheit, Wahnsinn und Einsamkeit in der Figur des Ausrufers, der Züge von Friedrich Nietzsches „tollem Menschen” trägt. Dieser hatte mit vergleichbarer Vergeblichkeit den Mord an Gott verkündet und war auf taube Ohren gestoßen.75 Judith Butler interpretiert die Szene als Inversion des Polizeirufs in Althussers früherem Text „A propos de l’idéologie.” Indem Althusser auf die Straße laufe und seine begangene Tat ausrufe, gebe er seinem Begehren Ausdruck, vom Ge-
72 Vgl. Hans–Dieter Gondek: Anm. zur deutschen Fassung von Jacques Derrida: „Aus Liebe zu Lacan”, in: J. Derrida, Vergessen wir nicht! – die Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1998, hier S. 27. 73 Louis Althusser: L’avenir dure longtemps suivi Les faits. Autobiographies, Paris 1992, S. 25. 74 Vgl. L. Althusser, L’avenir, S. 12: „Je me précipite, et dans un état de panique intense, courant à toute force, je traverse l’appartement, descends le petit escalier à rampe de fer qui conduit à la cour de la façade aux hautes grilles et me dirige, toujours courant, vers l’infirmerie où je sais trouver le Dr Étienne, qui loge au premier étage. Je ne croise personne, c’est dimanche, l’École est à demi vide et dort encore. Toujours hurlant je monte quatre à quatre l’escalier du médecin: ‚J’ai étranglé Hélène!’”. Zur Frage nach der Verbindung von Biographie und Werk, vgl. Etienne Balibar: „Althusser, ein Denken an den Grenzen”, in: KultuRRevolution, 20/1988, Wiederabdruck in: E. Balibar, „Tais–toi, encore, Althusser !”, Ecrits pour Althusser, Paris 1991. 75 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: F. Nietzsche, Kritische 2 Studienausgabe, Giorgi Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Bd.3, München 1988, S. 480f..
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setz bestraft zu werden.76 Daß die Verbindung von Theorie und Handlung nicht funktioniert, überrasche, so Althusser. In seiner Autobiographie bedauert er, mangels Zurechnungsfähigkeit keinem Gerichtsverfahren und keiner Gesetzmäßigkeit unterstellt worden zu sein. Ohne Möglichkeit zur Antwort auf die gerichtliche Anklage, interniert als lebenslanger Kranker, sei er dazu verdammt, „lebenstot” zu sein.77 In dem frühen Text zur Ideologie hatte Althusser den Versuch unternommen, die Performanz eines Modells zu überprüfen, mit der die Frage beantwortet werden sollte, warum der Ruf des Gesetzes mit dem Ruf nach dem Gesetz einhergeht. Jene schwer nachvollziehbare Unterwerfungsgeste, die sich weder aus rituellen Wiederholungen noch aus Solipsismen befreien kann, schien in der Einschnürung durch ideologische Korsette zu einer Erklärung zu finden. Ideologische Staatsapparate wie Familie, Schule, Justiz, Medien, Kirchen etc. stellten unter eine „geschichtslose”, eine ewig gültige Ideologie und machten den Status des Subjekts als unterworfenes (assujetir im Sinne von ‚unterwerfen’, ‚zum Subjekt machen’) offensichtlich: „L’idéologie interpelle les individus en sujets”78. Interpellation kann eine parlamentarische Anfrage zu deutsch Interpellation meinen, eine (laute, brüske) Anrede, im juristischen Sinne auch Aufforderung oder Mahnung bedeuten und im polizeilichen Kontext Überprüfung der Personalien oder gar vorübergehende Festnahme. Althusser setzt einen vielfach benutzbaren Begriff ein, um seine Differenz zum Marxschen Ideologiebegriff zu verdeutlichen. Marx qualifiziert in Die deutsche Ideologie die Ideologie, darin Metaphysik und Moral ähnlich, als geschichtslos ab.79 Während Ideologie so als „pure Illusion” oder „Traum” unterschätzt wird, will Althusser die Freudsche Traumarbeit zum Einsatz bringen und Ideologie mit dem Unbewußten in Beziehung setzen. „Die Ideologie ist ewig, ebenso wie das Unbewußte ewig ist.”80 Was bedeutet diese Behauptung nun für die Figur der polizeilichen Anrufung, deren Performanz darin besteht, als Instrument von Repression zu dienen? Warum räumt die Interpellation im Vorfeld
76 Judith Butler: „‚Conscience Doth Makes Subjects of Us All’”, in: Yale French Studies, 88/1995, S. 6–26, S. 12: „[…] in which he recounts, in a telling reversal of the police scene in ‚Ideology’, how he rushed into the street calling for the police in order to deliver himself up to the law.” Wiederabdruck in: J. Butler, The Psychic Life of Power, Stanford 1997, S. 106–131, 77 Vgl. L. Althusser, L’avenir, Kap. II, bes. S. 18. 78 Louis Althusser: „A propos de l’idéologie”, in: L. Althusser, Positions (1964–1975): Freud et Lacan, Paris 1976, S. 97–125, hier S. 110. „Über die Ideologie”, in: L. Althusser, Ideologie und Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130–153, hier S. 140: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.” 79 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Berlin 1960, S. 23: „Die Ideologie überhaupt, namentlich die deutsche”. 80 L. Althusser, „Idéologie”, S. 133.
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keine Möglichkeit zur Wahl ein?81 Althussers beschworener Polizeiruf läßt in der Stimmung der siebziger Jahre, zwischen Aufbruch, Rebellion, polizeilichen und terroristischen Übergriffen, nichts an Appellcharakter zu wünschen übrig und beschwört in ganz anderer Weise als Heidegger eine dennoch vergleichbare Unheimlichkeit des Allmächtigen. Wenn man die Interpellation nicht ausschließlich auf Althussers dyadische Beispiele begrenzt, sondern sie generell als eine Form der Darstellung akzeptiert, wie Sprache ins Sein ruft, so ist sie auch heute noch aktuell. Das Modell der ewig „omnipotenten” Ideologie nimmt dann angesichts einer wachsenden Verfügbarkeit des Seinam-Telefon immer bedrohlichere Züge an. Weder Selbstwahl noch Wiederwahl haben in einer solchen Konstruktion eine Chance. Um der ideologisierenden Performanz der Interpellation jeglichen Zweifel zu nehmen, führt Althusser ein Beispiel an, welches jedermann zugänglich ist: „die christliche religiöse Ideologie”. Deren fiktiver Beweisgang läßt sich auch für moralische, juristische, politische und ästhetische Ideologien wiederholen. Es muß „eine rhetorische Figur […] zum Sprechen [gebracht]” werden, um die Übertragbarkeit des verschränkten Geflechts von theologischer Dogmatik und ritueller Zeremonie auf alle anderen Bereiche der Ideologien vorzuführen. Althusser zitiert die Szene der göttlichen Namensgebung, die das Individuum durch die Vergabe des Namens zu einem passiven macht, es an ein absolutes, göttliches Prinzip erinnert, dem es von nun an ihre Existenz zu verdanken hat – ein Diskurs, der „nur allzu banal und bekannt”, aber auch „überraschend” sei. Denn die Namensgebung ruft auf und spricht einen göttlichen Ursprung zu. Die allegorische Übertragbarkeit der göttlichen Namensgebung auf andere gesellschaftliche Funktionen legt hier den Grundstein für eine rhetorische Figur, die soziale Anerkennung verspricht. Bei Annahme des Rufes steht eine feste Adresse in Aussicht, die bereitwillig angenommen wird. „[…] si elle [l’interpellation] les appelle de telle sorte que le sujet répond ‚oui, c’est bien moi!’; si elle obtient d’eux la reconnaissance qu’ils occupent bien la place qu’elle leur désigne comme la leur dans le monde, une résidence fixe: ‚c’est bien vrai, je suis ici, ouvrier, patron, soldat!’”82
Die Anrufung als nicht aufhörende Aufforderung, den vorgeschriebenen Platz einzunehmen, stellt Subjekte unter den Zwang der Identifizierung, der 81 Zur „erzwungenen” Wahl aus psychoanalytischer Sicht vgl. Mladen Dolar: „Jenseits der Anrufung”, in: Slavoj Zizek: Gestalten der Autorität, Wien 1991, S. 9–25, hier S. 15 u. 17. 82 L. Althusser, ,Idéologie”, S. 117; dt. S. 146: „[…] wenn sie die Individuen in einer Weise anruft, daß das Subjekt antwortet: ‚Ja, ich bin es!’, wenn sie von ihnen die Anerkennung erhält, daß sie in der Tat den Platz einnehmen, den sie ihnen in der Welt vorschreibt, einen festen Wohnsitz, von dem aus sie sagen: ‚Es ist wahr, hier bin ich, Arbeiter, Unternehmer, Soldat!’”
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Anerkennung und Wiedererkennung (reconnaissance). Der Appellcharakter der Anrufung aber schließt die Möglichkeit einer Wahl von Anfang an aus. Denn der Rückruf auf ein einziges, allmächtiges, göttliches (Führer)Prinzip muß angenommen, bejaht werden – unter der unausgesprochenen Androhung, zur Ausnahme sogenannter ‚schlechter’ Subjekte zu gehören, die flüchtig sind, eine feste Adresse verweigern und die das Gesetz teilweise sogar mit dem Tod straft. Alle anderen aber „funktionieren ganz von alleine”, so Althusser. Es sei eine Illusion zu glauben, das Bewußtsein leite Ideen und Handlungen, vielmehr müsse man von Praxen sprechen, die wiederum durch Rituale geregelt seien. Pascals skandalöse Formulierung „Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben.”83 – skandalös, weil sie auf das materielle Ritual des Gebets das Ideal des Glaubens erst folgen läßt – zeige genausogut wie die Szene der göttlichen Namenszuschreibung die unhintergehbare Materialität der Anrufung. Über eine sich wiederholende Ritualisierung, die von der Gesetzmäßigkeit eines „immer schon” ausgeht, funktioniert das Subjekt, ohne tatsächlich niederknien zu müssen „ganz von alleine”. Nicht nur die Inversion von Beten und Glauben ist entscheidend, sondern die Tatsache, daß sich die Materialität des rituellen Gebetsaktes auf keine Idealität zurückführen läßt. Eine kreisförmige Struktur entsteht: „[…] que l’existence des idées de sa croyance est matérielle, en ce que ses idées sont ses actes matériels insérés dans des pratiques matérielles, réglées par des rituels matériels eux–mêmes définis par l’appareil idéologique matériel dont relèvent les idées de ce sujet.”84
Ohne die Bereitschaft zur Annahme kann eine Anrufung nicht performativ werden. So wie Bekannte sich durch Handschlag auf der Straße begrüßen oder Freunde an der Haustür auf die Frage „Wer ist da?” nur mit einem „Ich bin’s !” zu antworten brauchen, damit man ihnen öffne, müsse der „Verfasser dieser Zeilen als auch der Leser” ununterbrochen Wiedererkennungsrituale praktizieren, um sich gegenseitig der Evidenz des Vorgetragenen zu versichern. Im Unterschied zur Szene an der Haustür kann ein Text jedoch weder auf ein charakteristisches Timbre der Stimme noch auf eine unmittelbare Begegnung mit seinem Leser hoffen. Die Schlüsselszene der sich selbst vergewissernden Wiedererkennung ist für Althusser der Ruf des Polizisten, der einen Passanten aus der Menge mit einem „He, Sie da !” rekrutiert, um Personalien zu überprüfen oder festzunehmen (interpeller). Treffsicherheit ge83 L. Althusser, „Ideologie”, S. 139. 84 L. Althusser, „Idéologie”, S. 108; dt. „daß die Existenz der Ideen seines Glaubens materiell ist, insofern seine Ideen seine materiellen Handlungen sind, die in materielle Praxen eingegliedert und durch materielle Rituale geregelt sind, die ihrerseits durch den materiellen ideologischen Apparat definiert werden, dem die Ideen dieses Subjekts entstammen.”
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winnt der Ruf durch die „einfache physische Wendung um 180 Grad”, in der „es zum Subjekt” werde.85 Die Anrufung trifft zu 90 Prozent der Fälle diejenigen, die gemeint sind. Ohne die Geste einer Umwendung bzw. Hinwendung in die Richtung, aus der der Ruf kommt, ohne die augenblickliche Bereitschaft, aus der Masse rekrutiert zu werden, könnte der Polizeiruf nicht so sicher mit einer sofortigen Annahme rechnen. Womit aber läßt sich diese Bereitschaft zur Umwendung auf Seiten des Subjekts erklären? Mit der Schuld allein sicher nicht. Es ist vielmehr das Versprechen der Anerkennung, das den Preis der Schuld rechtfertigt. Denn bei Annahme des Rufes verspricht das Gesetz eine eindeutige Ausrichtung. Das Subjekt wird stromlinienförmig angepaßt. Es bekommt eine feste Adresse, eine bestimmte Identität zugewiesen, „die sozusagen um den Preis der Schuld erkauft ist. Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution; die Anrede ruft das Subjekt ins Leben.”86 Die Interpellation hat politische Funktion, führt zur Figur des Appells. Ihre Doktrin ist von der Stimme des Gesetzes beherrscht. Der Wunsch sich umzudrehen und den Ruf anzunehmen ist dabei vorgängig. Die physische Geste des Umdrehens nimmt die rhetorische Figur beim Wort – die Apostrophe meint die Umwendung zu einem Dritten (zu einem anderen als dem Richter heißt es bei Quintilian).87 Die Möglichkeit zur Umkehr beziehungsweise Abkehr steht dabei noch als antizipierte Drohung im Raum, nicht zu reagieren und das Gesetz zu brechen.88 Althussers Doktrin bestätigt die konstituierende Macht der Anrufung. Durch ihre Kreisstruktur ähnelt sie Heideggers vorrufendem Rückruf. Wer sich ihr nicht widersetzt, den lockt das Versprechen gesellschaftlicher Anerkennung. Wer sich dagegen dem Zwang zur Identifizierung oder Ausweisung nicht stellen will oder kann, dem droht die Verwerfung (im Falle des ‚schlechten’ Subjektes). Durch die konstitutive Anrede entsteht eine „pri-
85 Vgl. L. Althusser, „Idéologie”, S. 114: „L’expérience montre que les télécommunications pratiques de l’interpellation sont telles, que l’interpellation ne rate pratiquement jamais son homme: appel verbal, ou coup de sifflet, l’interpelle reconnaît toujours que c’était bien lui que l’on interpellait. C’est tout de même un phénomène étrange, et qui ne s’explique pas seulement, malgré le grand nombre de ceux qui ‚ont quelque chose à se reprocher’, par le ‚sentiment de culpabilité’.”; dt., S. 143: „Wie die Erfahrung zeigt, verfehlen die praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann: Ob durch mündlichen Zuruf oder durch ein Pfeifen, der Angerufene erkennt immer genau, daß gerade er es war, der gerufen wurde. Dies ist jedenfalls ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein ‚Schuldgefühl’ erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die ‚sich etwas vorzuwerfen haben’.” 86 J. Butler, Haß spricht, S. 43. 87 Marcus Fabius Quintilian: Institutionis oratoriae. Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, Helmut Rahn (Hg.), Darmstadt 1972, Buch IX,38, S. 285: „aversus […] a iudici […]. 88 Vgl. J. Butler, „‚Conscience Doth Makes Subjects of Us All’”, in: Yale French Studies, S. 6f..
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märe Abhängigkeit”.89 Jedes Subjekt ist für Althusser bereits in ein Ritual eingetreten, das Ritual der Ideologie, die als eine „ewig” gültige, unabhängig von einem Glauben an ein Ideal, materielle Form angenommen hat. Pascals Formel „Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet und Du wirst glauben” ist hier der Beweis dafür, daß der Glaube einer Ideologie und der Geste einer Ideologie erst folgt und nicht umgekehrt: „[…] l’idéologie a toujours-déjà interpellé les individus en sujets“90. Althussers Interpellation ist an das Ereignis einzelner, mündlicher Szenen gekoppelt. Dies macht allerdings die Stimme der Autorität zur einzigen Bedingung für Performanz. Implizite oder unausgesprochene Formen des Rufes (wie Schweigen, Nicht-Zur-Kenntnisnahme) werden übersehen. In Zeiten informationstechnisch perfekter gewordener Rasterfahndung mutet das recht nostalgisch an. Der herbeiwinkende Polizist erinnert an die vocatio im römischen Recht, wonach durch die Stimme eines Ausrufers oder eine Glocke vor Gericht gerufen wurde.91 Schon das heute noch gültige englische Gesetz der Habeas-Corpus-Akte (‚du habest den Körper’, 1679), wonach niemand ohne richterliche Überprüfung und Anordnung in Haft genommen und gehalten werden darf, ein Gesetz, das dem Schutz persönlicher Freiheit dienen sollte, läßt Zweifel an einer Garantie für die gerichtliche Präsenz aufkommen. Denn die Idee der persönlichen Bewegungsfreiheit, die den Angeklagten im Endeffekt nicht vor Gericht zwingen, sondern eben nur laden kann, beginnt mit einem Befehl des Herbeizitierens: Der König adressierte sich an den Sheriff, der den Angeklagten ausrief, ihn vor Gericht zitierte und auf diese Weise unter Beweis stellte, daß er den flüchtigen Körper haben, d.h. über ihn verfügen, ihn herstellen konnte. Die öffentliche Vorladung gab sich mit der Vorführung des Aktes selbst zufrieden. Auf diese Weise kam sie dem institutionellen Begehren nach der Präsenz des Körpers nach.92 Auch für Althusser hat der Polizeiruf allegorische Bedeutung, um die appellative Funktion der Anrufung zu demonstrieren. Sie trägt totalitäre Züge und zwingt das Subjekt in die Position eines immer schon unterworfenen, terrorisierten. Die Annahme des Rufes geschieht in der Hoffnung auf Anerkennung durch eine Autorität, die Identität in Aussicht stellt: „Das Ziel
89 J. Butler, Haß spricht, S. 15. 90 L. Althusser, „Idéologie”, S. 115; dt. S. 144: „Die Ideologie hat immer–schon (toujours–déjà) die Individuen als Subjekte angerufen”. 91 Vgl. M.T. Clanchy: From Memory to Written Record: England, 1066–1307, Cambridge, 1979, S. 220; Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, Darmstadt 1955, S. 324. 92 Vgl. Anselm Haverkamp/Cornelia Vismann: „Habeas Corpus: The Law’s Desire to Have the Body”, in: Hent de Vries/Samuel Weber (Hg.), Violence, identity and self–determination, Stanford 1997, S. 223–235. Vgl. auch Austin, J. L., How to do things with words, Massachusetts, 1975. J. L. Austin: Zur Theorie 2 der Sprechakte, Stuttgart 1972, S. 41. Austin erinnert daran, „daß viele von den ‚Akten’, mit denen der Rechtswissenschaftler zu tun hat, performative Äußerungen sind”.
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der Anrufung ist nicht deskriptiver, sondern inaugurativer Art.”93 Das heißt aber nicht, daß Anrufungen nicht wiederholbar wären. Für die Anrufung gilt das, was für die Schrift generell gilt: Sie ist zitierfähig. Butler kritisiert daher Althussers Eingrenzung der Anrufung auf die „Stimme”, die zu einem „Bild der souveränen Macht gehört”. Indem diese Macht „nach dem Vorbild der göttlichen Macht der Benennung begriffen” zu einer magischen, ursprungsbildenden wird, übersehe sie die menschliche Redesituation, die „diesen göttlichen Effekt” nur selten nachahme, weil sie immer abgeleitet sei und ihr Ursprung nicht im sprechenden Subjekt liege: „Ausnahmen sind die Fälle, in denen das Sprechen von der Staatsmacht gestützt wird, wie bei einem Richter, bei der Einwanderungsbehörde oder bei der Polizei.”94 Doch sobald die Souveränität schwindet, gäbe es Möglichkeiten zu widerstehen – kraft des Zitats. Das wiederum wirft Fragen auf, die sich an J.L. Austin richten: Wie wirken sich Kontext und Konvention auf den Sprechakt als Handlung eines sprechenden Körpers aus? Warum übersteigt sowohl die anrufende Macht das Subjekt, das durch sie konstituiert ist, als auch umgekehrt das Subjekt die Anrufung? Und was bedeutet Butlers Formulierung, jeder Sprechakt sage „immer mehr” oder „in anderer Weise, als er sagen will”95?
Sprechakt und Zit at : Die angeführt e Sprache (J.L. Aust in) Auch der Sprachphilosoph John L. Austin besteht auf bestimmten Konventionen, die in einem sogenannten illokutionären Sprechakt aufgerufen würden. Anders als Althussser konzentriert sich Austin auf die Art und Weise des Sprechens: „‚ernsthaft’”, „scherzhaft” oder „ehrlich” beziehungsweise „unredlich” oder „inkonsequent”. Paradebeispiel für die performative Aussage ist das Versprechen. Austin wendet sich aber gegen voreilige Psychologisierungen bei der Erfüllung eines solchen Versprechens und warnt davor, von „märchenhaften, inneren Akten” auszugehen. Nicht ein innerer Akt, sondern die Handlung, ihre Ausführung, Unterlassung oder Fehlanwendung sei entscheidend. How to do things with words bringt Sprechen und Tun zusammen und das heiße im Fall des illokutionären Aktes: „we also perform ilocutionary acts such as informing, ordering, warning, undertaking & c., i.e. utterances which have a certain (conventional) force.”96
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Butler, Haß spricht, S. 54. Ebd., S. 53. Ebd., S. 22. J.L. Austin: How to do things, S. 108; dt. S. 126: „wir […] vollziehen […] illokutionäre Akte, wie Informieren, Befehlen, Warnen, Sichverpflichten und so-
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Kraft der Konvention kann der illokutionäre Akt als Vollzug des Sprechens wirksam werden. Über die Bedeutung von Worten hinaus ist die performative Kraft einer Äußerung entscheidend. Denn sie weist darauf hin, daß es einen Rest, Überschuß, Exzeß des Ausgesagten gibt, der nicht im Sprechakt aufgeht.97 Während ein illokutionärer Akt das tut, was er sagt und zwar im gleichen Augenblick, ruft ein „perlokutionärer” Akt erst bestimmte Effekte bzw. Wirkungen als Folgeerscheinungen hervor. Hier fallen Sprechen und Tun nicht im selben Moment zusammen, sondern das Sprechen zielt auf ein Tun als Folgeerscheinung, als Konsequenz: „Saying something will often, or even normally, produce certain consequential effects upon the feelings, thoughts, or actions of the audience, or of the speaker, or of other persons: and it may be done with the design, intention, or purpose of producing them; […]”
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Die amtliche Erklärung eines staatlichen Sprechers ist ein illokutionärer Akt. Indem sie deklaratorisch setzt, vollzieht (to perform) sie das Gesetz. Eine geglückte performative Äußerung geht jedoch nicht gänzlich in der Ausführung einer dem Sprechen gleichgesetzten Handlung auf, sondern sie löst auch eine bestimmte Kette von Effekten aus. Diese stützen sich zwar auf sprachliche und gesellschaftliche Konventionen, müssen jedoch zu Konsequenzen führen, um überhaupt wirksam werden zu können. „This does make the act one ascribed to me and it is, when words are or may be employed, a perlocutionary act.”99 Der Begriff des Performativen, seine Differenzierung von illokutionär und perlokutionär stößt an Grenzen, wenn es darum geht zu klären, unter welchen Bedingungen ein illokutionärer Akt auch tatsächlich vollzogen ist.100 weiter, d.h. wir tun Äußerungen, die eine bestimmte (konventionale) Rolle spielen.” 97 J. L. Austin, How to do things, S. 100: „But I want to distinguish force and meaning in the sense in which meaning is equivalent to sense and reference, just as it has become essential to distinguish sense and reference.”: In der französischen Austin–Übersetzung ist force mit „valeur” übersetzt – damit aber wird eine der Äußerung eigene Kraft (force d’énonciation) verfehlt. „Kraft” meint Überschuß, d.h. referentieller Rest des Sinns, eine Art energetischer Rest, der nicht im Sprechakt aufgeht. Vgl. Shoshana Felman: Le Scandale du corps parlant. Don Juan avec Austin ou La séduction en deux langues, Paris 1980, hier S. 103f.. „Le savoir matériel de la langue”. 98 J. L. Austin, Sprechakte, S. 118: „Wenn etwas gesagt wird, dann wird das oft, ja gewöhnlich, gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen des oder der Hörer, des Sprechers oder anderer Personen haben; und die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, diese Wirkung hervorzubringen.” 99 J. L. Austin, How to do things, S. 117; dt., S. 134: „Das macht aus der Handlung meine Handlung, und zwar, soweit Worte verwendet werden oder verwendet werden können, einen perlokutionären Akt.” 100 Vgl. Sibylle Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift”, in: Paragrana. Kulturen des Performativen, 7,1/1998, S. 33–57.
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Nicht immer erscheint der Fall so klar wie beim souveränen Sprechen des Staates – und auch dort kann sich unter veränderten politischen Bedingungen eine Deklaration plötzlich ganz anders anhören. Die illokutionäre Form etwa des verletzenden Sprechens vollzieht sich im Augenblick der Anrufung, die durch die Anrede das Subjekt konstituiert. Kraft der Konvention, auf die sich in einem bestimmten Kontext berufen wird, kann das Sprechen den Körper treffen, ihn sogar vernichten. Eine Stimme ist jedoch nicht allein, denn sie zitiert gewesene und künftige Kontexte, die im Augenblick der Äußerung verdeckt sind. Austin nennt dies „Ausweitungen”. Eine Stimme wird erst dann laut, wenn sie „auf irgendeine Weise polyphon” ist. Daran erinnert Jean-Luc Nancy: „Eine Stimme ist immer mindestens zwei Stimmen […] Die menschliche Stimme tönt immer auf eine andere Stimme zu und von einer solchen her, oder in einer anderen Stimme.”101 Daß Sprechen sich allein auf rituelle Konventionen gründe, suggeriert dagegen der sozio-linguistische Befund Pierre Bourdieus. Bourdieu führt Sprechen auf einen körperlichen und partizipatorischen Habitus zurück, der genau das widerspiegelt, was durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse suggeriert wird: „Le langage est une technique du corps et la compétence proprement linguistique, et tout spécialement phonologique, est une dimension de l’hexis corporelle où s’expriment tout le rapport du monde social et tout le rapport socialement instruit du monde.”102
Sprechen aktualisiert ein Körperwissen, das sich unbewußt in Gesten, Stilen, Floskeln oder gar phonologischen Kompetenzen reproduziert. Durch die „soziale Magie” des Körpers – nicht nur Ort oder Speicher eines vorgängigen Wissens, sondern auch Instrument, „mit dem der Glaube an die Offensichtlichkeit in der Gegenwart immer wieder hergestellt wird” – wird den Sprechakten die performative Kraft der Autorität verliehen. Bourdieu vergißt jedoch die inaugurative Kraft der Anrufung. In einer Stimme spricht gleichzeitig eine „überlieferte Reihe von Stimmen, ein Echo von anderen”103 mit. Außerdem zeigt die Analyse von Sprechakten, daß einige „unbeabsichtigte” Wirkungen dazwischen kommen können: „There is no restriction to the mi101 J.–L. Nancy: „Verantwortung des Sinns”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 17. 102 Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques, Paris 1980, S. 89f. [Übers. v. Verf.]: Die Sprache ist eine Technik des Körpers und der eigentlichen linguistischen, besonders phonologischen Kompetenz, sie ist eine Dimension der körperlichen Hexis, in der sich die ganze Beziehung zur sozialen Welt, durch diese auf soziale Weise vermittelt, ausdrückt. 103 Butler, Haß spricht, S. 43.
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nimum physical act at all.”104 Im Performativen liegt eine Kraft zur Transformation. Die spektakuläre Bedeutung von to perfom, das dramaturgischtheatrale Moment, ruft nach einer Würdigung.105 Welchen Faktoren ist die Performanz des Sprechens in Gestalt eines ‚Ich’, das sich immer auf ein ‚Du’ bezieht, ausgesetzt? Austins Insistieren auf Begriffen wie „Situation”, „Umstände” oder „Kontext” haben dazu geführt, darin den referentiellen Charakter einer Theorie des Performativs zu sehen. Die Rückführung auf ein bewußtes, referentielles Sprechen scheint es uneingeschränkt zu erlauben, von „geglückter Erfüllung der Kommunikation” (Searle) oder von einer „Rezeptionsvorgabe” (Iser) auszugehen – pragmatische Konzepte, die Austins Philosophie des „Mißerfolgs” so eindeutig gar nicht vorgibt.106 Denn oft wird bei einer Theorie, die Intention und Bewußtsein über die Hintertreppe eines geregelten Sprechens wiedereinführt, die Eigendynamik in Austins Texten übersehen. Die dort „angeführten” Beispiele, welche einem permanenten Verunglücken des „ansteckenden Wortes” (Butler) ausgesetzt sind, lassen es erst notwendig erscheinen, Termini wie Kontext, Situation und Umstände einzuführen, die immer wieder revidiert werden müssen. Bereits in der Zweiten Vorlesung von How to do things with words wird auf die Möglichkeit der „Unglücksfälle” hingewiesen, die kurzerhand zur Doktrin deklariert werden: „Besides the uttering of the words of the socalled performative, a good many other things have as a general rule to be right and to go right if we are to be said to have happily brought off our action. What these are we may hope to discover by looking at and classifying types of case in which something goes wrong and the act – marrying, betting, bequeathing, christening, or what not – is therefore at least to some extent a failure: the utterance is then, we may say, not indeed false but in general unhappy. And for this reason we call the doctrine of the things that can be and go wrong on the occasion of such utterances, the doctrine of the Infelicities.”
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104 Austin, How to do things, S. 107. 105 Vgl. auch Klaus–Peter Köpping: „Zur Theorie performativer Transformationen kultureller Kodierungen: Die Gründung einer ‚Neuen Religion’ in Japan”, in: Paragrana. Inszenierungen des Erinnerns, 9,2/2000, S. 61–83, hier S. 69. 106 Vgl. John Rogers Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969; John R. Searle: „Reiterating the Differences”, in: Glyph 1/1977, S. 198–208, frz. J. R. Searle, Pour réitérer les différences. Réponse à Derrida, Combas 1991; Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, Mün3 chen 1990, S. VII. Gegen eine pragmatische Inanspruchnahme Austins wendet sich Stanley Cavell: „What did Derrida Want of Austin?”, in: Philosophical Passages: Wittgenstein, Emerson, Austin, Derrida, Oxford 1995, S. 42–65; Jonathan Culler: „Convention and Meaning”, in: New Literary History, 13/1981, S. 15–30. 107 Austin, Sprechakte, S. 36: „Außer daß man die Wörter der perfomativen Äusserung aussprechen muß, müssen in der Regel eine ganze Menge anderer Dinge
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Die „doctrine of the Infelicities” stellt die Geduld – nicht ohne Humor – auf eine harte Probe, wenn immer wieder neue Listen und Klassifizierungen von performativen Verben aufgerufen werden und so zwar nur Dinge herauskommen, „die sowieso keiner bestritten hätte”, die jedoch der Genauigkeit wegen einen nötigen Aufschub zur Beantwortung aller Fragen schaffen.108 So schiebt der Text vor sich her, was er eigentlich bewältigen wollte und zeigt damit, daß der acte manqué, die Fehlleistung, zur Natur der Sache selbst gehört, als acte de manquer. Der Mißerfolg der linguistischen Fallbeispiele, ihre unaufhörliche Vermehrung, ist kein Mangel an etwas. Er führt eine psychoanalytische Ersetzungsstruktur vor, die den vermeintlich unmittelbaren, plötzlichen Effekt eines anrufenden Sprechaktes in seiner komplexen Zeitlichkeit nicht ausschließt, sondern antizipiert und so ermöglicht. Die aufschiebende Differenz ist in Austins Text selbst als Sprechakt inszeniert.109 Das aber wirft die Frage nach dem Verhältnis von Linguistik und Psychoanalyse auf: Wer spricht hier (mit)? Shoshana Felman zieht Parallelen zwischen Austins SprechaktTheorie und der psychoanalytischen Theorie Lacans, nach der die Sprache des Unbewußten mit Entsprechungen arbeitet, die von einer anderen Logik gesteuert sind.110 Dies führt zu Butlers Frage zurück, warum jeder Sprechakt „immer mehr” sagt oder „in anderer Weise, als er sagen will”. Das Ver-
in Ordnung sein und richtig ablaufen, damit man sagen kann, wir hätten unsere Handlung glücklich zustande gebracht. Wir hoffen, daß wir diese Dinge entdecken können, indem wir Fälle untersuchen und klassifizieren, in denen etwas schiefläuft und die Handlung – Heiraten, Wetten, Taufen, Vermachen oder was es gerade ist – deshalb mindestens zu einem gewissen Grade ein Mißerfolg ist. Wir können die Äußerung dann nicht falsch nennen; sie ist im allgemeinen verunglückt. Die Lehre davon, was bei solchen Äußerungen schiefgehen kann, nennen wir die Lehre von den Unglücksfällen [infelicities].” 108 Vgl. J. L. Austin, How to do things with words, S. 123: „You will say: ‚Why not cut the cackle? Why go on about lists available in ordinary talk of names for things we do that have relations to saying, and about formulars like the ‚in’ and ‚by’ formulars? Why not get down to discussing the thing bang off in terms of linguistics and psychology in a straight–forward fashion? Why be so devious?’ When, of course, I agree that this will have to be done – only I say after, not before, seeing what we can screw out of ordinary language even if in what comes out there is a strong element of the undeniable.” Dt., S. 139: „Sie werden fragen: ‚Warum hört er nicht auf mit dem Blabla? Warum faselt er in einem fort von Bezeichnungen (ganzen Listen davon!), die wir in der Umgangssprache für Handlungen verwenden, die entfernt mit dem Sprechen zu tun haben? Was soll das Gerede über Schemata wie das ‚indem’–Schema und das ‚dadurch, daß’–Schema? Warum kommt er nicht endlich zur Sache und diskutiert die Angelegenheit zackzack! ordentlich sprachwissenschaftlich und psychologisch? Wozu die ganzen Um– und Abwege?’ Nun dazu zweierlei: Zuerst müssen wir schauen, was wir aus der Umgangssprache herauspressen können; und selbst wenn da nur Dinge herauskommen, die sowieso keiner bestritten hätte, dürfen wir doch erst hinterher sprachwissenschaftlich und psychologisch arbeiten – und müssen es dann natürlich auch.” 109 Vgl. S. Felman, Scandale, S. 115. 110 S. Felman, Scandale, S. 117.
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hältnis zwischen Sprechen und Körper ist skandalös (Felman), weil der Akt nicht wissen kann, was er tut. Er ist in eine andere Zeit eingebunden. Der Augenblick der Äußerung zeugt zwar von der begrenzten Redezeit eines Subjekts, deckt sich aber nicht mehr mit der vorherigen und künftigen Zeit des Diskurses. „Der Körper ist gleichsam der blinde Fleck des Sprechens: das, was über das Gesagte hinaus, jedoch in ihm und durch es agiert.”111 Dieser Überschuß des Körpers, der durch die Ansprache in den Status eines gesellschaftlichen Subjekts hineingerufen, gedrängt, ja gezwungen werden kann, macht die Bewertung eines Sprechaktes zu einer Aufgabe der Psychoanalyse. Sie fordert zur genauen Analyse von Machtverhältnissen auf und zeigt zugleich, daß ein Subjekt als herrschendes und beherrschbares sprachlich flexibel bleibt. Sprache birgt die Chance einer Resignifikation. Nichts garantiert, daß ein Kontext von allen Beteiligten akzeptiert, daß er mit der Präsenz einer Gegenwart, einer Stimme und einem Körper gegengezeichnet wird. Bourdieus Theorie läßt mit seiner Metaphorik des Habitus als körperlicher Geschichte, als „Behälter” für Vergangenes das Subjekt in einem ritualisierten Machtverhältnis des Sprechaktes aufgehen. Sprache und Handlung stimmen so mit geregelten Praktiken überein. Sie identifizieren sich durch eine Art praktische Mimesis mit der Vorgabe von gesellschaftlichen Konventionen, „eine stillschweigende Form von Performativität […], eine Zitatenkette, die auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird”112. Wenn aber auf eine unbewußte, nicht kontrollierbare Dimension des sprechenden Körpers mit seinen ihm eigenen rhetorischen Möglichkeiten hingewiesen wird, dann bleibt nicht nur das Subjekt, sondern auch der Text als angerufener und anrufender beweglich. Eine solche Bewegung ist der Performance eines Textes eingeschrieben, in dem überlieferte und künftige Stimmen in Szene gesetzt sind. Zwar fehlt hier eine körperliche Rhetorik, die im Sprechakt entscheidend ist, die Möglichkeit zur Überschreitung birgt jedoch eine Chance, die sich ein Text in der Zukunft eines erst noch zu Lesenden offenhält. Sprechakttheorie und Psychoanalyse stellen beide heraus, daß Sprache Handlungen vollzieht. Und doch unterscheidet sich das methodische Interesse der beiden Diszplinen in einem wesentlichen Punkt. Während Austin das Verunglücken der performativen Akte zwar vorführt, sie aber im Bemühen um eine systematische Ordnung wieder ausschließen muß, akzentuiert Freud gerade das „Mißlingen, die Fehlleistung bzw. ‚Fehlhaltung’ als entscheidendes Moment des Performativen.”113 Intention und Sinn werden so durchkreuzt und zur Artikulation eines Begehrens. Als ein Beispiel für
111 J. Butler, Haß spricht, S. 22. 112 Ebd., S. 219. 113 Elisabeth Strowick: „Singularität des Aktes. Zur Performanz des Lesens”, in: S. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 59–72.
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die Fehlhandlung nennt Freud das „Verlesen”, das zur „Theorie des Verlesens” führe.114 Im „Anderen des Sinns” stellt sich die Fehllektüre des Unbewußten als Performanz des Lesens selbst aus: Ein Wiederholungsakt, der Differenzen sichtbar werden läßt und sich dabei stets selbst verfehlt.115 Heideggers und Althussers Figuren des Anrufs zeigen, wie brisant das politische Machtverhältnis von aufrufender Sprache, anrufendem Gewissen und zurückrufendem Gesetz ist. Austins Versuchen, performative Begriffe durch Klassifikation in den Griff einer Gesetzmäßigkeit zu bekommen, macht der Zitierfähigkeit von (unbewußter) Sprache einen Strich durch die Rechnung. Die Frage, wer warum zu welcher Zeit von einem Anruf getroffen werden kann, warum bestimmte Stimmen an einer Stelle einfallen und andere nicht, ist damit noch lange nicht beantwortet. Schreiben ist Antworten, so Jean-Luc Nancy, der daran erinnert, wer oder was zu dieser Antwort auffordern kann: „Wem oder worauf er oder sie antwortet, dafür hat die Tradition viele Namen. Es gab die Muse, den dichterischen Furor, den Genius, den Geist, die Inspiration und manchmal den Auftrag oder die Berufung oder zuweilen auch eine Notwendigkeit der Seele oder der Nerven, eine Gabe des Himmels, einen heiligen Befehl, eine Schuldigkeit der Erinnerung oder des Vergessens und eine Selbstzeugung des Textes.”
116
Jacques Derrida, der immer wieder danach fragt, wie eine Antwort auf Heidegger aussehen könnte, knüpft an viele dieser Traditionen an. Heideggers vorrufender Rückruf und Althussers polizeiliche Interpellation setzen dabei nicht nur theoretisch Prämissen. Das „Sein-am-Telefon” impliziert ein Umdenken der eigenen Rhetorik. Es wurde gezeigt, daß Heidegger und Althusser dank des Einsatzes appellativer Strategien über das Funktionieren des Anrufs philosophieren. Der Text, so Althusser, praktiziert ununterbrochen Wiedererkennungsrituale, damit Verfasser und Leser sich der Evidenz des Vortragenden versichern können. Heideggers und Althussers Anrufungsfiguren führen den Anruf auf einen autoritären Grund zurück. Nicht so Derrida. Derrida verspricht erst gar nicht, eine (ontologische oder ideologiekritische) Antwort auf die „Interpellation des Seins” zu geben.117 Anders als bei den beiden Vordenkern liegt der Akzent auf der Spannung und dem „Wechsel der 114 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: S. Freud: Studienausgabe, Bd. I, S. 62. 115 E. Strowick, „Singularität des Aktes”, S. 61: „Das Unbewußte praktiziert die Kunst des ‚Fehllesens’, die zweifellos weniger Sinn als Differenz macht, nicht einen anderen Sinn, sondern das Andere des Sinns performativ in Szene setzt.” 116 J.–L. Nancy: „Verantwortung des Sinns”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 15. 117 Vgl. J. Derrida, Ulysses grammophone; S.107.
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Töne” (Hölderlin), welcher der rhetorischen Figur der Apostrophe selbst eingeschrieben ist. Deren perverse Effekte, ihre parasitären Momente der Unterbrechung, Abwendung und Umkehr, spielen nun keine marginale Rolle mehr, sondern rücken in den Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die das eigene Sprechen nicht ausläßt (die Apostrophe ist auch Zeichen der Auslassung). Der Ruf bricht unmittelbar ein (Heidegger), er erzeugt eine Erwartungsangst (Althusser), seine Unheimlichkeit birgt aber eine Chance, die es auszuspielen gilt (Derrida). Anders als Austin versucht Derrida nicht, Normen für eine Theorie des Performativen aufzustellen und den parasitären Zug der zitierbaren (schauspielernden, nicht ernsthaften) Sprache zum Schweigen zu bringen.118 Während die Sprechakttheorie einzelne Situationen des Sprechens zitiert, um sie zu beschreiben, zu klassifizieren und zu kategorisieren, trennt Derrida nicht mehr zwischen Performativ und Zitat. Weil Schrift selbst performativ ist, läßt sich ihre Performativität nicht aufhalten. Statt über die Performanz von Anrufen zu philosophieren, setzt sich der Anruf nun als prä-performativer Effekt des Textes selbst in Szene. Die Apostrophe dramatisiert die Beziehung zum Anderen und setzt sie unter Spannung. Das Drama der Apostrophe wiederholt sich bei jeder einzelnen Lektüre von neuem.
Das Drama der Apost rophe (Jacques Derrida) In Derridas Texten wird schon fast obsessionell nach dem Funktionieren von performativem Anruf und zirkulärem Zitat gefragt: Welche Stimmen rufen sich an welcher Stelle in Erinnerung? Wie beginnt ein Text, wie ruft er sich selbst ins Leben? Was verbindet eine Stimme mit einer anderen? Wer führt das erste oder letzte Wort? Wie die Adresse, den richtigen Ton finden, um die Adressierung zur Sprache zu bringen? Kann Sprache überhaupt über sich selbst sprechen? Wie das Drama der Apostrophe unter Spannung halten?119 Diese Fragen werden im folgenden an zwei Texte Derridas adressiert. La carte postale (1980), vor der sogenannten „performativen Wende”120 und Ulysse gramophone. Deux mots pour Joyce (1987), kreisen um zwei unterschiedliche Medien und setzen sich damit auch der Differenz von Schriftlichkeit und Stimme aus. Wie thematisieren Postkarte und Grammophon den
118 Vgl. Jacques Derrida: „Signature Evenement Contexte”, in: J. Derrida, Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 365–393. Wiederabdruck in: J. Derrida, Limited inc., übers. v. Elisabeth Weber, Paris 1990, S. 17–51. 119 Vgl. Marcos Siscar: Jacques Derrida. Rhétorique et philosophie, Paris 1998. 120 Hans–Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels: „Derridas performative Wende”, In: H.–D. Gondek/B. Waldenfels, Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–18.
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Schnitt zwischen Bild und Ton, wie korrespondieren sie im Medium Buch miteinander? Titel und Buchdeckel von La carte postale weisen auf die Geste des Umwendens bzw. der Umkehrung. Es gehört zum Prinzip einer Postkarte, daß sie sich wie ein offenes Geheimnis verschicken läßt. Nicht wie der Brief in einem Umschlag eingeschlossen, sondern für alle lesbar, führt die Postkarte Bild und Schrift zusammen – unter der Bedingung, daß beide Seiten ins Blickfeld geraten: „doppelbändige oder doppelgesichtige Logiken”121. Eine Aufforderung zur Umwendung taucht daher schon auf dem Buchdeckel von La carte postale auf. Sie zeigt die Abbildung einer Postkarte, die einer Urszene der Philosophie in den Rücken fällt. Darauf ist ein altes Paar zu sehen: Plato und Sokrates. Hinter Sokrates, der an einem erhöhten Pult sitzt, steht der kleinwüchsige Plato, der am schreibenden Sokrates vorbei auf die mit Stilus und Feder beschäftigten Hände seines Vorgängers zeigt. Die karikaturale Darstellung der beiden Denker, eine Inversion von Meister und Schüler, Redner und Schriftsteller, nimmt Derrida zum Anlaß, die Geschichte des Denkens seit Platon zu revidieren. Die historische Postkarte aus der berühmten Oxford-Bibliothek Bodleian kommentiert das Buch, das sich einer einheitlichen Form beharrlich verweigert. Weder Essay noch medienphilosophische oder psychoanalytische Abhandlung, Briefroman, Bekenntnisliteratur oder Tagebuchaufzeichnung verbindet sich La Carte postale mit allen literarischen Genres, die eine Verbindung zwischen Post und Literatur herstellen. Die erste Hälfte des Buches enthält eine einseitig bleibende Korrespondenz, die chronologisch datiert, aber weder adressiert noch signiert und unterbrochen von weißen Zeilen ist. Die Sendungen enthalten kryptische Adressen (das Sigel „D” als Anredeformel oder die offengelassene Genrebezeichnung im Apostroph zu l’autre). Widersprüchliche Ansprüche kommen zu Wort: zum einen ein Begehren, gelesen bzw. empfangen zu werden, zum anderen Faszination und Schrecken vor einem Aufdecken der Postkarte. Die sowohl anonym als auch intim adressierten Sendungen richten sich an einen großen Anderen, „an den der Fluß der Worte adressiert ist, den angenommenen Adressaten der unbewußten Botschaften”122. Der geisterhaft einseitigen Adressierung sitzt ein Schrecken im Nacken. Die Unaufhaltsamkeit der postalischen Korrespondenz löst eine Lust zur Verführung und Verwicklung, aber auch Trauer und Angst aus. Die 121 Jacques Derrida: La carte postale de Socrate à Freud et au–delà, Paris 1980, S. 59: „[…] de ces logiques à double bande ou à double face, comme celui d’introjection et quelques autres, moi par exemple: plus y en a, moins y en a.” Dt. J. Derrida, Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, übers. v. Hans–Joachim Metzger, Bd.1., Berlin 1982, hier S. 68. 122 Vgl. Dolar, „Jenseits der Anrufung”, in: S. Zizek: Gestalten der Autorität, S. 19. Vgl. auch Sigmund Freud, „Bemerkungen über die Übertragungsliebe. (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse)”, in: S. Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband.
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Vergleiche gehen hier bis zum äußersten: Das Ich spricht über ein inkorporiertes Liebesobjekt (das nie geborene Kind) und mit seinem Trauma, von Auslöschung bedroht zu sein, beruft es sich sogar auf das Zeichen „Holocaust”. In Berufung auf ein inflationäres, weil zu oft aufgerufenes, sich abnutzendes Bild wiederholt sich die Auslöschung ein weiteres Mal.123 Der sich monoton wiederholende Text der carte postale hört nicht auf, über eigene Zensurmechanismen zu reden. Mehrfach ist von Interzeption die Rede, vom Risiko, ab- bzw. aufgefangen, abgehört oder unterschlagen zu werden: „Il faut l’accepter, j’accepte.” murmelt das Postkarten schreibende ‚Ich’ vor sich hin.124 Daß der Schreibakt in seiner Materialität als postalisches Dokument nicht aufgeht, zeigt die psychoanalytische Verfehlungsstruktur einer retardierenden, an sich haltenden Post-Aufzeichnung, dieser einen immer wieder zitierten Karte. Sie umkreist die Korrespondez anagrammatisch als carte, écart, trace (Karte, Abstand, Unterschied, Spielraum, Abweichung, Spanne, Diskrepanz, Spur). „Poster, c’est envoyer en ‚comptant’ avec une halte, un relais ou un délai suspensif, le lieu d’un facteur, la possibilité du détournement et de l’oubli (non pas du refoulement, qui est un moment de garde mais de l’oubli).”125
Die Geschichte der Post, ihr Gegenstand, die Übertragung, wird erst an ihren Rändern, den Archivalien oder Speichertechniken lesbar. Die Weigerung des schreibenden Ich, eine systematische Geschichte der Post zu schreiben, ist daher auch eine Antwort auf Heideggers „Grundzug des Schickens, das jeweilige An-sich-Halten seiner selbst zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe”126. Ein An-Sich-Halten oder Umwenden, Aufhören im doppelten Sinne als Moment der Unterbrechung und der Versammlung, des Sich-Sammelns zur Rede, die adressiert wird (Anspruch, Zuspruch), ist die Voraussetzung dafür, daß etwas zugestellt werden soll – so Heidegger. Derridas „prä-ontologische Sendung” dagegen erhebt den Einwand der Spaltung und Differenz, die sich nicht anhalten, nicht „versammeln” läßt.127 123 Vgl. J. Derrida, La carte postale, S. 46; dt. S. 53. Zum inflationären Begriff des Holokaust, vgl. Willi Goetschel: „Zur Sprachlosigkeit von Bildern”, in: Klaus Scherpe/Manuel Köppen (Hg.), Bilder des Holocaust, Köln/Weimar/Wien, 1997, S. 131–144. 124 Derrida, La carte postale, S. 58; dt. S. 66. 125 Derrida, La carte postale, S. 73; dt. S. 83: „Postieren, das heißt senden, indem man ‚rechnet’ mit einem Halt, einem Relais oder einem aussetzenden Verzug, dem Ort eines Facteurs, die Möglichkeit der Ablenkung und des Vergessens (nicht der Verdrängung, die ein Moment der Bewahrung ist, sondern des Vergessens).” Vgl. dazu auch Bernard Siegert: relais. Geschicke der literatur als epoche der post, Berlin 1993. 126 Martin Heidegger: „Zeit und Sein”, in: M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 1–25, hier S. 9. 127 Zum „Denken der Spur” und zur reinen Bewegung der Differenz, vgl. Derrida, Jacques, De la Grammatologie, Paris 1967, S. 91f.; dt. J. Derrida, Gramma-
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Daß sich der Anfang einer Sendung nicht zurückverfolgen läßt,128 illustriert eine scheinbar marginale Anekdote in La carte postale. In einer Fußnote taucht hier plötzlich das „Phantom” Heidegger und ein „R-Gespräch” aus Amerika auf, welches das schreibende ‚Ich’ erhalten haben soll.129 Die Szene unterbricht den Haupttext und leitet in Anspielung an ein Hölderlin-Zitat einen „Wechsel der Töne” ein. Sie verbindet mit einer Reihe anonymer Stimmen, die sich „am anderen Ende der kontinentalen Leitung” offenbar in die intime Korrespondenz eingeschaltet haben. Das R-Gespräch fordert dazu auf, die Gebühren für das Gespräch zu übernehmen und erinnert an den Preis der Schuld, mit dem sich das Subjekt seine Identität erkaufen muß (Althusser). Auf den zweiten Blick gilt die Ablehnung, den Anruf anzunehmen, außerdem Heideggers Figur des vorrufenden Rückrufs als Aufforderung zum ursprünglichen Schuldigsein. Autobiographische, politische und akademische Gründe mögen zudem eine Rolle spielen: Die immer wieder angesprochene Frage, was es heißt als ‚algerischer Jude’ Heidegger zu lesen. Außerdem die umwegige Rezeption der Texte Derridas, die nicht zuerst in Frankreich, sondern an amerikanischen Universitäten auf Resonanz gestossen sind.130 Anders als Heidegger, der laut Ronell die medientheoretische Tragweite seines Satzes „nach einigen Tagen kam ein fernmündlicher Anruf” noch nicht übersehen kann oder will, meldet sich Derridas La carte postale in einer Epoche, in der das postalische Schickungssystem schon einem nostalgischen Blick ausgesetzt ist. Geht es doch einerseits wie in Mal d’archive um die „Macht über das Dokument, seine Zurückhaltung oder seine Auslegung”, um „verheimlichte oder zerstörte, verbotene, abgelenkte, ‚verdrängte’ Archive”131. Und andererseits um eine Kritik an dem Wahn, „ohne Schrift schreiben zu können”132. Der Einfall einer Stimme, vom Rand über einen fingierten Telefonanruf (un)vermittelt in den Haupttext einbrechend, verleiht dem Text ein neues Timbre. Das Wort Timbre meint im französischen sowohl das Postwertzeichen als auch die Klangfarbe einer Stimme. Daß Timbre keine Metapher, sondern daß die Metapher selbst eine Timbre sei, weil sie postiert ist, betont der Kartenschreiber ausdrücklich.
tologie, übers. v. Hans–Jörg Rheinberger/Hanns Zischler, Frankfurt a. M . 1983, S. 108f.. 128 Vgl. Jacques Derrida: „Envoi”, in: J. Derrida, Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987–1998, S. 109–143. 129 Vgl. Derrida, La carte postale, S. 25; dt. S. 29. 130 Vgl. dazu Anselm Haverkamp: „Breakfast in America. Dekonstruktion und Kritik der Gewalt. Anläßlich Jacques Derridas Gesetzeskraft”, in: Sigrid Weigel, Flaschenpost und Postkarte, Köln 1995, S. 9–24. 131 Vgl. Jacques Derrida: Mal d’Archive, 1995. Dt. Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S. 1. 132 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, München 1995, S. 357.
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PERFORMANZ DES ANRUFS „Le 31 août 1977. Non, le timbre n’est pas une métaphore, au contraire, la métaphore est un timbre: l’impôt, la taxe à acquitter sur la langue maternelle est sur la voix. Et ainsi de suite pour la catastrophe métaphorique. Poste non plus n’est pas une métaphore.”
133
Die „metaphorische Katastrophe” löst Unruhe aus, die der griechische Begriff metaphorikos – Transfer, Transport, Übertragung und Übersetzung – aufhebt. Die Verbindung von Sprache und Weg, Erinnerung an Heideggers Unterwegs zur Sprache, läßt den postalischen Text als Geflecht von sich plötzlich einstellenden, entstellten und abgehörten Stimmen erscheinen. Das Wortfeld Stimme legt wiederum den Akzent auf die Zwischentöne dieser Übertragungsszene: Stimmung, Verstimmung, bestimmen und Bestimmung. Im Zusammentreffen von Post, der Technologie der Bestimmung, und Stimme, die Selbstpräsenz garantieren soll, öffnet sich eine Kluft oder Spanne, welche die Beziehung zum Anderen (als dem Adressaten, dem destinataire) im Entzug öffnet. Die Postkarte ist als ein privat-öffentliches Dokument an eine und mehrere Personen zugleich gerichtet. Sie verführt die Lektüre zu einem Anderen ihres Sinns. Die Apostrophierung spricht dem Text eine (verstellte) Stimme zu. Kartenlesen ist also eine heikle Angelegenheit. Es läuft Gefahr, die eine Spur aus den Augen zu verlieren, das Geheimnis zu überlesen, es zu unterschätzen. Schon Franz Kafka verschickte Postkarten in Zeiten des Krieges, weil es so schneller an Zensurstellen vorbeiging.134 Offenen Briefen, Postkarten, mißtraute die militärische Zensur weniger als versiegelten Briefumschlägen. Indem etwas offen verschickt wird, gibt es sich hin.135 Postkarten gehen auf Spielkarten zurück, die man versendet und ausgibt. In diesem Zufallsprinzip sieht das postkartenschreibende Ich seine Chance: „la bonne aventure, le livre des destinées, le sort, le lot, la rencontre, la chance”136. Die Leser der Carte Postale sind dazu aufgefordert, einer anagrammatischen
133 J. Derrida, La carte postale, S. 51; dt. S. 60: „Nein, das Timbre ist keine Metapher, im Gegenteil, die Metapher ist eine Timbre: die Steuer, die Taxe, die auf die natürliche Sprache und auf die Stimme zu entrichten ist. Und so weiter für die metaphorische Katastrophe. Post ist auch keine Metapher.” 134 Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Erich Heller/Jürgen Born (Hg.), Frankfurt a. M. 1995, S. 652, Postkarte aus Prag vom 14. April 1916. 135 Vgl. die Übersetzung des Titels Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. Die Hinzufügung von ‘bis an’ unterstreicht durch das ‘und jenseits’ die Dimension der Gabe. La carte postale ist Freuds Analyse des fort–da Prinzips gewidmet. Vgl. auch Davids Wills: „Dem Buchstaben nach geben”, in: Michael Wetzel/Jean–Marie Rabaté (Hg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, S. 285–300. Zur Evidenz des offen versteckten Briefes vgl. Jacques Lacan: „Le séminaire sur ‚La lettre volée’”, in: J. Lacan, Écrits, Paris 1966; dt. J. Lacan: „Das Seminar über E.A.Poes ‚Der entwendete Brief’”, in: J. Lacan, Schriften I, Olten 1973. 136 Derrida, La carte postale, S.16; dt. 18.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Herausforderung des Flüchtigen nachzukommen : „Joue encore avec les initiales sur le sable ou la neige”137. Eine Postkarte ist ausgewählt, um gegen die ganze ‚unzulässige’ Literatur ausgespielt zu werden. Sie verleiht dem Dilemma der Reproduzierbarkeit ein Gesicht („pour toi, à toi, qu’est-ce que ça veut dire?”). „A toi d’abord: je n’attends qu’une réponse et elle te revient. Ainsi j’apostrophe. C’est aussi un genre qu’on peut se donner, l’apostrophe. Un genre et un ton. Le mot – apostrophe – , il dit la parole adressée à l’unique, l’interpellation vive (l’homme de
discours
ou
d’écriture interrompt
l’enchaînement continu de la séquence, d’une volte il se tourne vers quelqu’un, voire quelque chose, il s’adresse à toi) mais le mot dit aussi l’adresse à détour138
ner.”
Apostrophen bringen den Moment der Adressierung, die Wendung, rhetorisch auf den Punkt. Einerseits markieren sie einen Moment des Innehaltens, in dem sich der Sprecher an ‚den Einzigen’ adressiert – eine beschwörende, flehende Geste, wie sie vor allem im Gebet, der Gottesanrufung zum Ausdruck kommt.139 Und sie wiederholen sich in der Differenz, als Umkehrung. Wie ist das zu verstehen für die Frage nach dem, der im Text spricht? Eine andere Stimme, die des großen römischen Lehrers der Rhetorik, fällt ein. Aus der Ausbildung des Redners von Marcus Fabius Quintilianus heißt es im Kapitel über die Gedankenfiguren: „Auch die Rede, die sich vom Richter wegwendet, die sogenannte Apostrophé, macht erstaunlichen Eindruck, ob wir nun gegen die Gegenseite unmittelbar losbrechen […] oder ob wir zu einer Anrufung wenden […] oder zu einem erbitternden Flehen […] Aber auch die Form heißt Apostrophe, die den Hörer von der vorliegenden Frage ablenkt […]. Dies läßt sich in zahlreichen, abwechselnden Figuren erreichen, wenn wir etwa so tun, als hätten wir etwas anderes erwartet oder etwas Schlimmeres gefürchtet oder es könne Ahnungslosen als bedeutender erscheinen”
140
.
137 Ebd., S.142; dt. 162. 138 Ebd., S. 8; dt. S. 8: „An Dir zunächst: ich erwarte nur eine Antwort und sie kommt Dir zu. So apostrophier’ ich. Das ist auch ein Genre, das man sich geben kann, die Apostrophe. Ein Genre und ein Ton. Das Wort – apostrophe –, es sagt das Sprechen, adressiert an den Einzigen, die lebhafte Zwischenrede (der Mensch des Diskurses oder der Schrift unterbricht die fortwährende Verkettung der Sequenz, mit einer Volte wendet er sich hin an jemand, ja etwas, er adressiert sich an Dich), aber das Wort sagt auch die Adresse abzuwenden.” 139 „Zu dir rufe ich, Herr, mein Fels” (Ps 28,1); „Höre mich, Herr, sei mir gnädig […].” (Ps 39,11); „Herr, bleib mir nicht fern!” (Ps 35,22) Zitiert nach Die Bibel, Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung. 140 Quintilianus, Ausbildung des Redners, Buch IX 2, 38, S. 285.
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PERFORMANZ DES ANRUFS
Apostrophen können eine Agression, ein Hilferuf oder eine Bitte ausdrücken, sie können ablenken oder überraschen. Im Gerichtssaal dient die Aversio dazu, den Richter auf seine Seite zu bringen. Indem sich die Rede abwendet, beansprucht sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für sich. Als Volte überfällt sie den ‚Ahnungslosen’. Zurück zur Postkarte. Auch sie lenkt den Leser des Textes ab, zeigt mit dem Finger Platons auf einen anderen Text, der auf Sokrates’ Pult liegt. Das Buch La carte postale kommentiert, schweift ab, wendet um zur BildSeite der Postkarte, eine Ansicht, die irritiert, weil sie wieder auf einen geheimen, verkehrten Text verweisen könnte: „Ce que je préfère, dans la carte postale, c’est qu’on ne sait pas ce qui est devant ou ce qui est derrière, ici ou là, près ou loin, le Platon ou le Socrate, recto ou verso. Ni ce qui importe le plus, l’image ou le texte, et dans le texte, le message ou la légende, ou l’adresse. Ici, dans mon apocalypse de carte postale, il y a des noms propres, S. et p., au-dessus de l’image, et la réversibilité se déchaîne, elle devient folle”
141
.
Die Postkarte parodiert die metaphorische Katastrophe, treibt sie auf die Spitze im ver-rückten, erschlichenen Diskurs.142 Die autobiographischen Auswüchse der Carte Postale wären dann auch melancholische Ausbrüche, die auf die Erschütterung der Bedeutung reagieren. Die Umkehrung oder conversio (Bekehrung, Sinnesänderung, aber auch Umwandlung, Umschuldung, Konvertierung…) stellt den Schreibenden nicht mehr als einen die Rede Aufschreibenden, Protokollierenden dar und dreht das Verhältnis von Rede und Schrift um. Kein entweder-oder (Kierkegaard) wird hier vorgeführt, sondern eine ironische Verklammerung zweier Momente. Inversion von Vorgänger und Nachfolger, von Vorschrift und Kopie, von Buchstaben, Namen und Metaphern: „Il est trop évident, je reprends tes mots comme toujours, que S. ne voit pas P. qui voit S., mais […] seulement de dos.”143 141 Derrida, La carte postale, S. 17f.; dt. S. 20: „Was ich vorziehe, an der Postkarte, ist, daß man nicht weiß, was vorne oder hinten ist, hier oder da, nah oder fern, der Platon oder der Socrate, recto oder verso. Noch was das Wichtigste ist, das Bild oder der Text und im Text, die Botschaft oder die Legende, oder die Adresse. Hier, in meiner Apokalypse der Postkarte, gibt es Eigennamen, S. und p., über dem Bild, und die Umkehrbarkeit entfesselt sich, wird irre” 142 Vgl. Anselm Haverkamp: Die paradoxe Metapher, Frankfurt a. M. 1998, S. 16: „Daß der Begriff der Metapher die fortgehende metaphorische Konstitution philosophischer Begriffsbildungen eingestehen muß, ist nur die eine Seite; gravierender, daß in dieser Weise der vorbegrifflichen Konstitution die Unterstellung des Begriffenen phantasmatisch errungen, erzwungen, erschlichen ist.” 143 Derrida, La carte postale, S. 55; dt. S. 63: „Es ist allzu offensichtlich, ich übernehme wie immer Deine Worte, daß S. nicht P. sieht, der S. sieht, aber […] nur von hinten.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
„De dos”, von rückwärts, von hinten liest sich ein Bild/Text, dessen Prädikat (p) im Subjekt der Schickung (S) einbegriffen ist. Der heimtückische Überden-Rücken-des-Anderen sich richtende Blick ist auf sich selbst zurückgeworfen und wiederholt die Geste des Adressierens durch die Erinnerung an das, was vielleicht an Stelle einer ‚Quelle’, einer Autorschaft stehen könnte: die Apostrophe als Wendepunkt. Dies beleuchtet die zweite, autobiographische Lektüre der Textseite der Carte Postale. Dort richtet sich ein ‚Ich’ an ein (weibliches? männliches?) ‚Du’. Die Tatsache, daß es Beziehung gibt, dramatisiert und parodiert der postierte Liebesdiskurs. Jene Beziehung zum anderen, jene immer wieder beteuerte Einzigartigkeit, widerspricht sich, weil sie sich auf den Weg begibt, transportiert, aufschiebt, verschiebt, entstellt und mortifiziert. „Et tu es, mon amour unique la preuve, mais vivante justement, qu’une lettre peut toujours ne pas arriver à destination, et que donc jamais elle n’y arrive. Et c’est bien ainsi, ce n’est pas un malheur, c’est la vie, la vie vivante, battue, la tragédie, par la vie encore survivante. Pour cela, pour la vie je dois te perdre, pour la vie, et me rendre pour toi illisible. J’accepte.”144
Der Versuch, den Text lesbar zu machen, die Sendung ankommen zu lassen und sie mit einem Rückschein bestätigen zu wollen, Versuche der hermeneutischen Inbetrachtnahme und der Zuschreibung der Stimme an eine Person (‚Wer spricht?’), übersieht die sich um sich selbst drehende Figur der Apostrophe und ihren paradoxen, apokalyptischen Zug: Sie ruft herbei (‚komm’) und droht zugleich (‚komm bloß her’). Indem das ‚Ich’ im Text das ‚Ich’ des Textes verdoppelt und durchkreuzt, interpelliert der eine (Text) den anderen (Text), wiederholt zitierend und bringt gleichzeitig zum Verschwinden. Eine Bewegung des Abwendens, der Rückwendung, der Überholung, der Verfehlung. Über den Umweg eines Transports, im Transfer einer Gabe des anderen spricht die Apostrophe über das, was sie zu überwinden sucht, über die Angst vor dem Risiko der Adressierung. Die Schickung als Weg ist eine Unmöglichkeit, eine aporia. In La carte postale wird dies nicht nur betrauert, sondern auch als chance gelesen, die Spur, trace, im Anagramm von carte, auszulöschen und kryptisch aufzubewahren. Das schreibende ‚Ich’ erzählt nicht nur von nicht ausgetragenen, zurückgehaltenen, archivierten und geöffneten Briefen, es spielt mit einem ständigen „Sein-am-Telefon”, er spielt mit einem Zustand, der auf Selbstbezüglichkeit 144 Ebd., S. 39; dt. S. 44: „Und Du, meine einzige Liebe, bist der Beweis, aber der lebendige eben, daß ein Brief immer nicht am Schickungsort ankommen kann, und daß er also nie dort ankommt. Und das ist gut so, das ist kein Unglück, so ist das Leben, das lebendige Leben, geschlagen, die Tragödie, von dem noch überlebenden Leben. Dafür, für das Leben muß ich Dich verlieren, für das Leben, und mich für Dich unlesbar machen. Ich akzeptiere.”
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weist und das geliebte, angerufene Objekt im Echo auf sich selbst zurückwirft: „et quand je t’appelle mon amour, mon amour, est-ce toi que j’appelle ou mon amour?”145 Der Anruf als Wende-Figur ist wie die anderen Ritornell-Bewegungen in Derridas Werk eines seiner „rekurrentesten Motive”146. Wie in der psychoanalytischen Redekur ist ihm sowohl die Aufgabe einer anfangslosen Eröffnung („et quand”) zugeteilt als auch die einer Übertragung („mon amour”). Der Widerstand soll in der (telefonischen) Übertragungstheorie der Analyse durch die (telepathische) Übersetzung gebrochen werden: „Gleichgültig, ob es sich um die Kommunikation zwischen Verdrängtem und Ich oder die zwischen Patient und Analytiker handelt: Voraussetzung ist eine Empfangsbereitschaft, ‚als ob’ man sich telefonisch verständige.”147 Daß diese „Empfangsbereitschaft” nicht von ihren medientechnischen Bedingungen zu trennen ist, wird das ‚Ich’ in La carte Postale nicht müde zu betonen. In seiner Funktion, sprechende Subjekte miteinander zu verbinden, ruft der Anruf wiederholte Konventionen und Rituale auf, ohne die eine Verbindung zusammenbrechen würde. Er setzt jedoch auch eine singuläre Markierung, den Einschnitt, Beginn des Sprechens, vorsprachliche Bejahung eines adressierten Anderen. Somit wird der Anruf zur paradigmatischen Figur für die Drehungen und Wendungen von Sprache – und das sind auch die Redewendungen, die einen Mißbrauch bzw. ein Versagen der performativen Äußerungen als Bedingung für Performativität einschließen. Der Rest oder das, „was abgeschnitten wird”, das „Nicht-Performierbare der Performativität” (Butler) schreibt sich als Selbstadressierung in einen sich um sich selbst wendenden Text ein. Auch in Ulysse gramophone geht Derrida dem verdrehten „Phantasma der Adresse” nach, das James Joyce’s Jahrhundert-Werk Ulysses in der Form eines Tagebuchs exhibitioniert: „la forme d’un journal de la conscience et de l’inconscient au hasard de lettres, de télégrammes, de journaux intitulés par exemple Telegraph, écriture à distance, et finalement de cartes postales […]”148. In Joyce’s Ulysses wimmelt es nur so von Briefen, Post145 Ebd., S. 12; dt. S. 14: „[…] wenn ich Dich meine Liebe rufe, meine Liebe, rufe ich dann Dich oder meine Liebe?” 146 Vgl. Derrida, Ulysse gramophone, S. 10: „[…] les mouvements circulaires de la conférence ou de la circonférence, de la circumnavigation ou de la circoncision, les tours et les retours […]”; dt. S. 6. 147 U. Wirth: „Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter”, in: Münker/Roesler, Telefonbuch, S. 177. Vgl. auch Andrea Allerkamp: „Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft”, in: Georg Christoph Tholen/Gerhard Schmitz/Manfred Riepe (Hg.), Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, Bielefeld 2001, S. 369–380. 148 Derrida, Ulysse gramophone, S. 66f.; dt. S. 51f.: „die Form eines Tagebuchs des Bewußtseins und des Unbewußten, dem Zufall von Lettern überlassen, Telegrammen, Journalen, zum Beispiel Telegraph, Fern–Schreiben tituliert, und schließlich von Postkarten”.
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karten, Schreibmaschinen, Telegraphen, Grammophonen und es „läutet” auch hin und wieder das Telefon. Ein Buch setzt sich selbst, in der Stimme des Propheten Elias, wie eine Telefonzentrale oder ein Rangierbahnhof, eine „transferentielle und teleprogrammophonische Zentrale”149 in Szene. Die Stimme des Propheten Elias meldet sich in Joyce’s Ulysses so abrupt wie das Telefon, deus ex machina, zu Wort: „Und es kam eine Stimme vom Himmel und rief: Elias! Elias!”150 Eine Epiphanie-Szene, die von der berühmten Molly Bloom bereitwillig mit „Abba! Adonai!” begrüßt wird, was wiederum einen Anschluß zur ersten Telefonszene mit Leopold Bloom schafft, der Szene mit dem Titel „Und da nun das Passahfest nahte”151. Bloom zitiert hier mechanisch den Anfang des Morgen- und Abendgebetes: Shema Israel Adonai Elohenu („Höre Israel, der Herr, dein Gott ist EINER”152), jene Aufforderung, sich zum – einzigen – hebräischen Gott zu bekennen. Nachdem Bloom aber sofort einsehen muß, daß es sich bei der rezitierten Formel um die falsche Stelle zum Ritual des Osterfests handelt („Nee, das ist das andere.”), fällt ihm plötzlich ein, daß er „lieber doch erst telefonieren” möchte. Die Gebetsformel Shema Israel Adonai Elohenu spricht das Gebot aus, Elias loben zu müssen und das heißt nichts anderes als „das Buch (book), das eine ‚eternity junction’ vertritt”153. Übersetzungen und der „babelsche Kriegsakt”154 im vielsprachigen Ulysses unterlaufen ironisch göttliche Autorität, indem der Transfer innerhalb einer aufgezeichneten, inzwischen verzerrten Wiedergabe, über eine gestörte Leitung stattfindet. Zwischen ausrufenden Zeitungsjungen, einem verrücktgewordenen Kobold, dem plärrenden Grammophon und einer in den Himmel rauschenden Rakete predigt Elias höchstpersönlich von seiner Kanzel herab, um unter anderem folgendes zu verkündigen: „Say, I am operating all this trunk line. Boys, do it now. God’s time is 12.25. Tell mother you’ll be there. Rush your order and you play a slick ace. Join on right here! Book through to the eternity junction, the nonstop run.”155 149 Derrida, Ulysse gramophone, S. 93; dt. S. 73. 150 Joyce, Ulysse gramophone, S. 479; dt. S. 343. 151 Ebd., S. 172; dt. S. 124. 152 5. Buch Moses 6,4, übers. v. in Johann Maier: „Jüdische Mystik des Mittelalters”, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrung von Meister Eckhart bis Paul Celan, Frankfurt a. M. 1994, S. 43–62, hier S. 50. Der Kabbalist erkennt hinter der Vielheit der göttlichen Wirkungskräfte die Tatsache der Einheit Gottes. Shema Israel […] ist der Höhepunkt eines Bekenntnisses, das zweimal täglich im Gebet des Einzelnen zitiert und in der Kabbala zum Ziel allen Gottesdienstes überhaupt wird.“ 153 Derrida, Ulysse gramophone, S. 93; dt. S. 73. 154 Ebd., S. 22; dt. S. 15. 155 James Joyce, Ulysses, London 1993, S. 513. Dt. Ulysses, übers. v. Hans Wollschläger, Frankfurt a. M. 1979, S. 672: „So, jetzt werd ich die Lok mal anheizen, und ab gehts. Los, Jungs, alle einsteigen. 12 Uhr 25, nach Gottes Fahr-
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Göttliche Worte rufen in heiligen Texten nach Übersetzung. Und so wird der Satz „Say, I am operating all this trunk line. Boys, do it now.” im Deutschen zu „So, jetzt werd ich die Lok mal anheizen, und ab gehts. Los, Jungs, alle einsteigen” und in der französischen Version zu „Attention, c’est moi qui opère tous les téléphones de ce réseau-là. Les fistons, c’est le moment.”156 Der Übersetzer Jacques Aubert begründet dies damit, daß man aus der Zuglinie eine telefonische Verbindung heraushören müsse.157 Derrida erinnert anläßlich der Reservierung der Plätze am Fahrkartenschalter von Elias („Book to the eternity junction”) an das englische Homonym von ‚reservieren’ – book/Buch. Da Medien nichts anderes sein sollen als Ausweitungen des „natürlichen Körpers”158, liegt das Telefon, „eine Ausweitung des Gehörs und der Stimme, die eine Art außersinnliche Wahrnehmung darstellt”159, nicht weit vom Ursprung der Bedeutung. Bedeutung aber kam reformpädagogischen Programmen zufolge aus den Mündern der alphabetisierenden Mütter.160 Die Stimme der Mutter steht für die Tiefen eines Gedächtnisses ein, zu der eine reine, telefonische Stimme Zugang gewähren soll.161 Joyce schließt Mütter allerdings von der Reise ins Paradies der Ur-Stimme aus. Die Verbindung läuft im Ulysses ohne Unterbrechung direkt vom Vater zum Sohn, der „Legal-Fiktion”162. Im „Nabel, Knospe aus Fleisch”163 sind alle Transportwege und Telefonleitungen gebündelt. Das patriarchale Hör-Unternehmen erweist sich als Gipfel eines sich um sich selbst drehenden Narzißmus: „The cords of all link back, strandentwining cable of all flesh. That is why mystic monks. Will you be as gods? Gaze in your omphalos.”164 Die Verwicklung ins permanente „Sein-am-Telefon, ein Sein für das Telefon, wie Heidegger vom Sein zum Tode des Daseins spricht”165, ist in die Reise des Buches Ulysses eingegangen. Das metaphorisch-verwickelte, immerfort plan. Sagt Muttern, ihr seid mitgefahren. Einzweidrei bestellt, und ihr habt einen tollen Trumpf in der Hand. Schließt euch gleich jetzt hier an! Nehmt euch ‘ne Fahrkarte bis Endstation Ewigkeit, durchgehend ohne Aufenthalt”. 156 Joyce, Ulysse, in: Joyce, Œuvres, Bd.2, übers. v. Jacques Aubert, Paris 1995, S. 560. 157 Vgl. J. Aubert, „Notes in Ulysse”, in: ebd., S. 1691. 158 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf/Wien 21970, S. 54. 159 Ebd., S. 289. 160 Vgl. F. A. Kittler, Aufschreibesysteme; Bernhard Siegert: „Gehörgänge ins Jenseits. Zur Geschichte der Einrichtung telephonischer Kommunikation in der Psychoanalyse”, in: Fragmente, 35,36, S. 51–70. 161 Vgl. Jacques Derrida: „Circonfession”, in: Geoffrey Bennington/Jacques Derrida, Jacques Derrida, Paris 1991, 80. Dt. Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 1994, S. 95. 162 Joyce, Ulysses, S. 290. 163 Ebd., S. 88; dt. S. 122. 164 Ebd., S. 40; dt. S. 54: „Alle Schnüre laufen rückwärts zusammen, duchtenverflechtendes Kabel allen Fleisches. Darum die mönchischen Mystiker mit ihrer [Wolle]. Wollt ihr sein wie Götter? Beschaut euren Omphalos.” 165 Derrida, Ulysse, S. 84; dt. S. 66.
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zu anderen Stimmen durchstellende Buch fordert zum Ein- und Aussteigen auf. Der Leser des Ulysses kann in jedem Moment lustvoll damit rechnen, daß sein Empfang parasitär gestört wird.166 Verbindungen werden geschaffen, wieder aufgelöst, unterbrochen. Handelt es sich um eine Vorform des Hypertextes, der die Ökonomie des „Weges” nachvollzieht, reich an Zufällen und Umwegen?167 Das regressive Begehren, über geisterhafte Telefonstimmen zu einer bedeutungsbildenden, mütterlichen Instanz zurückzukehren, zurückgerufen zu werden, kontrastiert mit einem vorrufenden Versprechen, das paternalen Schutz und patristische Namensgebung in Aussicht stellt, „nach Gottes Fahrplan”. In der – telefonischen – Beweglichkeit, die auflegt und wiederwählt, von einem (Homonym bzw. Buch) zum anderen wechselt, wird die Performanz eines anrufenden Gesetzes aufgerufen und zerstört. Der Leser sieht sich auf diese Weise zugleich zurück- und vorgerufen, ver-setzt. Ulysses erzählt die Geschichte einer Reise, die um den „Omphalos” kreist und in den Heimathafen der eigenen „Stimme” mündet, während das Grammophon „absolut – phonographisch – getreu”168 die Rolle der Aufzeichnung der verschiedenen Stationen dieser Rückreise übernimmt, um sie bei Gelegenheit in Erinnerung zu rufen. In der Beweglichkeit eines literarischen Textes stecken Drohung und Chance des Anrufs. Das illustriert der Namensanruf des Propheten Elias. Denn der Heilige ist „Schutzpatron der Beschneidung”. Er ruft das Trauma eines beschnittenen Juden auf, dessen Texte „zu vernähen sind”.169 Der medientechnisch verspielte Elias in Joyce’s Ulysses schickt in Derridas Ulysse Gramophone weiter zum Elias der Circonfession – dem Text, der am unteren Rand des Buches von Geoffrey Bennington steht, welcher wiederum in Anspielung auf das Speichermedium Computer den Titel Derridabase trägt. Schon in Ulysse Gramophone kommt Derrida auf den Wahn einer akademischen Joyce-Gemeinde zu sprechen, die von einer erschöpfenden Datenbasis zum Ulysses träume, welche bei Bedarf abrufbar ist und in letzter Konse-
166 Vgl. Cixous, Hélène, „Joyce: The (r)use of writing”, in: Derek Attridge/Daniel Ferrer (Hg.), Post–Structuralist Joyce: Essays from French, Cambridge 1984, S. 15–30, hier S. 19. 167 Vgl. Marc Guillaume:„La révolution commutative”, in: Les Cahiers de médiologie: Pourquoi des médiologues?, 6/1999. 168 Sigmund Freud: „Bruchstücke einer Hysterie–Analyse”, in: S. Freud, Studienausgabe, Bd. IV, S. 90. 169 J. Derrida, „Circonfession”, in: G. Bennington/J. Derrida, Jacques Derrida, S. 128f.; dt. S. 148f. u. S. 70; dt. S. 82: „Circoncision, je n’ai jamais parlé que de ça, considérez le discours sur la limite, les marges, marques, marches, etc., la clôture, l’anneau (alliance et don), le sacrifice, l’écriture du corps, le pharmakos exclu ou retranché, la coupure/couture de Glas, le coup et le recoudre”. Vgl. auch Jacques Derrida: „Edmond Jabès et la question du livre” und „Ellipse”, in: J. Derrida, L’écriture et la différence, Paris 1967. Dt. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972. Darin Überlegungen zum „Jüdischsein” nach der „répétition nazie” (ein Begriff – narzistischer/nazistischer Wiederholungszwang – , der schwer zu übersetzen ist).
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quenz womöglich eine Lektüre des Werkes selbst ersetzen könnte. Kein anderer Autor als Joyce habe es vermocht, dieser trügerischen Abrufbarkeit eines enzyklopädischen Wissens durch das eigene Werk den Riegel vorzuschieben.170 Neben Texten wie Ulysse und Finnegans Wake sei „die heutige Technologie unserer Computer […] ein prähistorisches Kinderspielzeug”171. In Circonfession unterwandert Derrida, ein calling up, das Abrufen von Daten, im ‚eigenen’ Fall mit einer Mischung von autobiographischen (die Trauer um die verstorbene Mutter) und religiösen (die Figur des Propheten Elias, die Bekenntnisse des heiligen Augustinus) Elementen. Dem metaphorischen Rangierbahnhof und Telefonnetz droht eine Überlastung durch Überdeterminierung. Die „Stereophonie eines Textes, der jeder Aussage mehrere Reliefs gibt”172 vollzieht in Joyce’s Ulysses, Figur der circumnavigation (Umschiffung) und Defiguration (in alium figuram mutare)173 die Bewegung des „sich-Zurückschickens”, zum genealogischen und postalischen Absender nach. Ähnlich wie bei Heidegger und Althusser ereignet sich der tragisch-komische Moment des Rufes bei Derrida in einer bereits woanders getroffenen (Aus-)Wahl desjenigen, der das Versprechen des Lesens noch auslösen wird: „Non, Élie, c’est vous, vous êtes l’Élie de Ulysse, qui se présente comme le grand central téléphonique […], la gare de triage, le réseau par lequel toute information doit transiter.”174 Hans Blumenberg hat das Handlungsmoment, daß Leopold Bloom nicht wie der homerische Telemach den Vater, sondern den Sohn sucht, als „Inversion des Bezugsmythos” bezeichnet, der einen „Schlüssel zum Ulysses” liefere.175 In Konfrontation mit Wolfgang Isers Konzept des impliziten Lesers liest Blumenberg das Joycesche Epos als eine „hinterhältige Form der Sinnverweigerung”. Statt die Frage nach der Intention des Autors ähnlich „verharmlosend” und „besänftigend” zu beantworten wie Iser es mit seinem Idealleser tut, der die zahlreichen Anspielungen des Romans reduziert auf zu füllende Leerformen,176 drängt Blumenberg auf Ironie, die nur „im Gegenzug 170 Derrida, Ulysse gramophone, S. 96–97; dt. S. 76–77. 171 Ebd., S. 23; dt. S. 16. 172 Ebd., S. 83f.; dt. 65. 173 Vgl. ebd., S. 10; dt. S. 6. Die Figur als Verschiebung zu einer anderen Figur: in alium figuram mutare. Vgl. Georges Didi–Huberman: Fra Angelico. Dissemblance et Figuration, Paris 1995, S. 97: „l’équivalence paradoxale des termes figurae, defigurae, praefigurae, et toute sa définition se concentre alors sur l’altérité et la valeur de conversion des figures: figurare revient au même que defigurare, pour la raison qu’une figure consiste à ‚transposer le sens dans un autre figure’, in aliam figuram mutare.” 174 Derrida, Ulysse gramophone, S. 106; dt. S. 84: „Nein, Elias, das sind Sie, Sie der Elias der Ulysses, der sich als die große Telephonzentrale präsentiert […]. […] der Rangierbahnhof, das Netz, durch das jede Information im Transit hindurch muß.” 175 Vgl. Hans Blumenberg: „Bedeutsamkeit”, in: H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996, S. 91–97. 176 Vgl. Wolfgang Iser: „Der Archetyp als Leerform, Erzählschablonen und Kommunikation in Joyce’s Ulysses, in: Poetik und Hermeneutik, Bd. IV, München
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zu der mythischen Überhöhung des Kreisschlusses als das stechende Mißtrauen erkennbar” sei. Ähnlich wie Derrida sieht Blumenberg mit Joyce eine Literatur anbrechen, „in der noch die Schwächen der klassischen Fertigkeiten zu dichten, zu erfinden, zu konstruieren, zu erzählen in Meisterschaft des Schreibens für Eingeweihte umgesetzt worden sind: eine Produktionsindustrie für eine Rezeptionsindustrie.” Daß Ulysses für geborene Hermeneuten geschrieben ist, bedeute aber noch lange nicht, daß Isers Konzept einer „Wiederkehr des schöpferischen Subjekts auf der anderen Seite, auf der der Rezeption” in der Art eines Lernprogramms zu folgen wäre. Im Gegenteil handle es sich bei Joyce um eine „Sinnverweigerung”, die zwar Professoren über Jahrhunderte beschäftigen könne, aber weiterhin am „Mythos des Verfassers” festhalte: „Er hatte, bei allem Spott auf den offiziellen, einen impliziten Gott, und dessen Attribut war, sich der Befragung seiner Ratschlüsse auf deren Sinn zu entziehen. Im Umkehrverfahren wurde der Autor, der sich gleichfalls nicht befragen ließ und dies durch Mystifikation und Irreführung zu verstehen gab, auf den Rang eines Gottes oder auf die Stelle des seinigen versetzt.”177
Die Apostrophe erhält in Derridas Texten schon fast obsessionellen Einzug. Ist sie damit zu einer dramatisierten, göttlichen Metafigur geworden, die sich jegliche Rückfragen verbittet? Die Verweisungsstruktur der anrufenden Sprache ist auf eine ununterscheidbare Spitze getrieben. Endlos ließe sich weiter lesen, telefonisch durchstellen und neu sortieren. Das Zitat des göttlichen Namens (Elias) ruft den Akt des Lesens als bewegliche, flüchtige und irrende, nicht aufhörende Adressierung auf. Der Moment des Aufhörens, daran erinnert Werner Hamacher, markiert sowohl eine Unterbrechung (auf etwas hören) als auch ein Ende (aufhören). Er vollzieht sich in einem immer wieder neu zu hörenden, imperativen Appell („Folge mir”): „Nach der Logik des Anrufes, des Rufs, des appel, und damit der Forderung, der Verpflichtung, des Gesetzes, kann kein Ruf einfach als er selbst seinen Adressaten erreichen und jedes Hören vollzieht sich im Bereich der Möglichkeit, nicht hören zu können, als Aufhören. Hören hört auf […] es hört auf etwas wie ein Geräusch, einen Laut, einen Ruf; und so hörend, hört es immer auf zu hören, weil es sich anders nicht immer weiter als Hören, zum Hören bestimmen lassen könnte. Hören hört auf. Hören Sie”
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1971, S. 369–408. Und W. Iser, „Historische Stilformen in Joyces Ulysses, in: W. Iser, Der implizite Leser, München 1972, S. 276–299. 177 Blumenberg, „Bedeutsamkeit”, S. 96. 178 Werner Hamacher: „Interventions”, in: Qui parle. Journal of Literal Studies, 1,2/1987, S. 37–42.
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Das Versprechen der Sprache In Joyce’s Ulysses sind Telefon und Gottesanrufung, Elias-Figur, rezitierte Gebets- und Befehlsformen, die Mutter und ihre Jungs, väterlicher Transport und Übertragung der „Legal-Fiktion”, Gottes Stimme und Name miteinander im Medium Buch vernetzt. Wodurch nun erhält diese Vernetzung auffordernden Charakter? Durch seine ängstliche Erwartung, vom Ruf getroffen zu werden, ist ein Subjekt immer schon interpelliert. Es ruft nach dem Gesetz, bevor überhaupt eine Stimme zu hören ist. Das ‚Ich’ konstituiert sich dank seiner Bereitschaft, einen (autoritären) Ruf anzunehmen, zu akzeptieren, zu bejahen. Jenes „Ja”, das sich adressiert als ein minimales und primäres, „telephonisches Hallo oder Klopfzeichen durch eine Gefängnismauer hindurch”179, ist Vorbedingung allen Sprechens. Die „vor-performative Kraft” des „Ja”, welche die Rede auf ihren Weg bringt, spricht in seiner Adressierung ein Versprechen aus. Während die Postkarte mit einem fiktiven, nicht zuteilbaren, zukünftigen Empfänger rechnet, verpflichtet das Telefon just im Moment, in dem der Hörer persönlich abgenommen wird: „Hallo? Ja? Yes? Pronto?”180. Indem sich der Angerufene zurückmeldet, verspricht er, dazusein, willigt ein, anfallende Gebühren und ursprüngliches Schuldigsein zu übernehmen, sich dem Anderen hörend zu widmen, ganz Ohr zu sein. Ein Vollzug des Versprechens steht aber noch aus. Diese zukünftige Dimension übergeht Austin, wenn er vom Jasagen des Heiratsversprechens ausgeht, um das Funktionieren performativer Äußerungen, den Vollzug von Handlungen im und durch das Sprechen zu erläutern.181 Das Versprechen etabliert eine Kontinuität zwischen einem Statement und einem Akt, die von der zeitlichen Disjunktion zwischen beiden zerschlagen wird. Sie bietet Gelegenheit zu Unfällen.182 Oder wie Paul de Man es formuliert: „Zitate haben jedoch keine setzende Kraft. Das Zitieren der Heiratsformel erlaubt einem, eine Eheschließung zu vollziehen, aber es setzt nicht die Ehe als Institution.”183 Austins Theorie der Performativität stellt das sprechende Subjekt als ein souveränes hin, wo dieses als grammatisiertes „stummes Ich” spricht.
179 Derrida, Ulysse gramophone, S. 124; dt. S. 102. 180 Vgl. Rüdiger Campe: „‚Pronto’. Telefonate und Telefonstimmen”, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen I, Opladen 1987, S. 77–79. 181 J. L. Austin, Sprechakte, S.30. 182 Vgl. Judith Butler, „Zirkel des Schlechten Gewissens. Nietzsche und Freud”, in: J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 63–80. 183 Paul de Man: „Hegel über das Erhabene”, in: P. de Man, Die Ideologie des Ä s thetischen, Christoph Menke (Hg.), Frankfurt a. M. 1993, S. 70.
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Sprache wird durch ihren versprechenden Charakter von ihrem Tun getrennt. Die Rückführung der Sprache auf einen intentionalen Sprecher ist eine fiktive, metaleptische. Friedrich Nietzsche drängt in Zur Genealogie der Moral darauf, daß das Subjekt erst nachträglich als handelnde Instanz eingesetzt wird, um eine Schuldzuweisung vorzunehmen: „‚der Thäter’ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.”184 Ein moralischer Kausalnexus verknüpft Subjekt und Handlungen nachträglich miteinander. Das Tun aber weiß nichts von moralischen Erfordernissen, die überhaupt erst mit der Fähigkeit, Versprechen zu geben, entstehen. „Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? Ist es nicht das eigentliche Problem des Menschen?” mit diesen Fragen setzt die „Zweite Abhandlung” über „‚Schuld’, ‚schlechtes Gewissen’ und Verwandtes” ein.185 Die rhetorische Figur der Metalepsis bezeichnet die Vertauschung eines Künftigen mit einem Gegenwärtigen. Das Versprechen ist die metaleptische Figur schlechthin. Es behauptet eine gegenwärtige Wirksamkeit für das, was sich erst in Zukunft erfüllen soll. „Das Gesetz des Versprechens ist Versprechen des Gesetzes: Aussetzen zum Gesetz und Aussetzen des Gesetzes, weder eine Handlung noch keine, sondern ihre Eröffnung, ihre Auslegung auf eine Handlung, und da diese als solche unerreichbar ist, selber die ‚einzige Handlung’.”186 Ein Versprechen des Gesetzes geht der Performanz von Sprache voraus, ist prä-performativ, weil es den Akt oder Nietzsche zufolge den „Willen” erst ermöglicht. Dies gilt für die Sprache des Gesetzes im Sinne Kants als auch Nietzsches. Während Kants Sprache des Gesetzes nicht fordert, sondern überfordert, „also nicht bloß kein konstativer, setzender, performativer, vielmehr ein exformativer Akt” (Hamacher) ist, trennt die Sprache nach Nietzsche das Geschehen von sich selbst, das sich an ihr bricht, weil in ihr das Werden zum Sein immobilisiert wird. „Das Ereignis wird in seiner sprachlichen Artikulation verdeckt und entstellt.”187 Der zitierte, d.h. zirkulierende Einsatz von Sprache erzeugt eine Bewegung der tropischen Rück- bzw. Umwendung. Nietzsche ermöglicht eine politische Innensicht des Subjekts und des Problems der Unterordnung, welche paradoxerweise nicht bloß als eine des Subjekts unter eine Norm, sondern auch als konstitutierender Faktor der Subjektwerdung überhaupt verstanden wer-
184 Friedrich Nietzsche: Genealogie, Erste Abhandlung, Sektion 13, S. 279. Vgl. auch F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, in: Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Bd. 13, München 1988, 11 [113], S. 54: „hier ist erst ein Akt imaginiert, der gar nicht vorkommt, ‚das Denken’ und zweitens ein Subjekt–Substrat imaginirt in dem jeder Akt dieses Denken und sonst nichts Anderes seinen Ursprung hat: d.h. sowohl das Thun, als der Thäter sind fingirt […].” 185 F. Nietzsche, Genealogie, S. 291. 186 W. Hamacher, Verstehen, S. 189. 187 Ebd., S. 87.
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den muß.188 Das Performative des Versprechens erinnert an diese Voraussetzung, denn es stellt das inaugurative Ereignis dar, in dem Sprache, Gesetz und Handeln überhaupt erst entworfen werden – als ein daseiendes Zukünftiges. Das Versprechen läßt Rede im Vor-Wurf da sein.189 Auch das unmittelbare, dionysische „Ja”, welches spontan und willkürlich sich selbst bejahen kann, ist ein Versprechen. Zarathustra erwähnt es im „Ja- und Amen Lied” mit den „Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen”190. Er muß sich aber auch die Ohren zuhalten vor dem Geschrei des Esels, dessen I-A nur Zeichen blinden Gehorsams ist: „Er trägt unsere Last, er nahm Knechtgestalt an, er ist geduldsam von Herzen und redet niemals Nein”191. Das doppelte Ja ist janusköpfig: „L’un revient à l’assomption chretienne du fardeau, le „Ja, Ja’ de l’âne surchargé, comme le Christ, de mémoire et de responsabilité; l’autre oui, oui léger, aérien, dansant, solaire est aussi un oui de réaffirmation, de promesse et de serment, un oui à l’éternel retour.”
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Die Ambiguität eines einerseits hörigen und andererseits befreienden, lachenden, sich selbst affirmierenden „Ja” finden sich in Joyce’s Telefon- und Monologszenen wieder. Ferne Stimmen fordern hier zu einem Jasagen auf, das sich bedingungslos Befehlen ergibt. So wird beispielsweise die Sekretärin Miss Dunne beim Tippen auf der Schreibmaschine durch das „rüde neben ihrem Ohr” klingelnde Telefon aufgeschreckt. Wie eine Archiviermaschine ist sie sogleich zu ihren Antworten bereit, welche die Informationen einer abwesenden Befehlsstimme langsam einsickern lassen: „– Hello. Yes, sir. No, sir. Yes, sir. I’ll ring them up after five. Only those two, sir, for Belfast and Liverpool. All right, sir. Then I can go after six if you’re not back. A quarter after. Yes, sir. Twentyseven and six. I’ll tell him. Yes: one, seven, 193
six.”
188 J. Butler, „Zirkel des Schlechten Gewissens. Nietzsche und Freud”, in: J. Butler, Psyche der Macht. 189 W. Hamacher, Verstehen, S. 83: „Vorauswurf des Menschen und, ablativ, vom Menschen weg, ihm voraus und fremd und nur so dem Menschen eigentlich […] was von ihm selbst versprochen werden soll, muß schon da sein, um sich zu versprechen […].” 190 Friedrich Nietzsche: Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, München 1988, S. 287: „Die sieben Siegel. Oder: das Ja– und Amen–Lied).” 191 F. Nietzsche, Zarathustra, „Die Erweckung”, S. 388f.. 192 Derrida, Ulysse, S. 108; dt. S. 86: „das eine, das auf das christliche Auf–sich–nehmen der Last hinausläuft, das ‚Ja, Ja’ des Esels, der wie Christus mit Erinnerung und Verantwortung überladen ist; das andere ja, ja, leicht, luftig, tanzend, sonnengleich, ist auch ein ja der Wiederbejahung, des Versprechens und des Schwures, ein ja zur ewigen Wiederkehr.” 193 J. Joyce, Ulysses, S. 241; dt. S. 319: „– Hallo. Ja, Sir. Nein, Sir. Ja, Sir. Ich werde nach fünf bei ihnen anrufen. Nur die beiden, Sir, nach Belfast und Li-
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Und Molly Bloom, dem klassischen Liebestopos getreu „bis ins Bett hinein […] am Telephon, fragend wartend”194, beschließt mit ihrem letzten „Ja” am Ende des inneren Monologs gleich das gesamte Buch Ulysses: „[…] as well him as another and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes.”
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Austins Heiratsversprechen findet am Ende von Ulysses zu seiner beispielhaften Inszenierung. Molly erzählt über das Jasagen und das Bejahen ihres Körpers, über gegebene und zu gebende Versprechen, die im vergangenen Augenblick zur Hingabe an den Zukünftigen auffordern. Eine Performanz wird unterlaufen, weil ihr Körper als „der blinde Fleck des Sprechens” (Butler) markiert ist, als einer, der sich im Augenblick des Sprechens verdoppelt. Mollys Bericht über ihren Willen, Ja zu sagen, schält sich aus ihrem Redestrom heraus, ist vom Jasagen unterbrochen und eingerahmt: „ich hab ja gesagt ja ich will Ja”. Ihr Körper artikuliert sich als ein ausgeprochenes oder hingeschriebenes Ja, nicht nur „mit den Augen”196. Als Phantasma kehrt die Physis in den geschriebenen Text zurück und macht auf eine chiastische Beziehung des Sprechens aufmerksam, ein Hinausgehen des Körpers über das Sprechen und des Sprechens über den Körper. Mit dem letzten „Ja” Mollys ragt der Text aus sich heraus, verspricht. Das letzte „eschatologische” Ja fordert zur Gegenzeichnung des Textes auf, zur Verbindung mit anderen Anruf-Szenen, zur Weiterleitung: „Die Bejahung fordert a priori die Bestätigung, die Wiederholung, die Bewahrung und die Erinnerung des ja.”197 Eine Rechnung ist offen, deren Schuld nicht beglichen werden kann: „das Pfand einer dagelassenen Markierung.” Das „Ja” sagt nichts aus sich selbst, es beschreibt nichts und bezeichnet auch nichts. Sich selbst
verpool. Wird gemacht, Sir. Dann kann ich nach sechs also gehen, wenn Sie noch nicht zurück sind. Um viertel nach. Ja, Sir. Siebenzwanzig sechs. Ich werd’s ihm sagen. Ja: eins, sieben, sechs.” 194 Derrida, Ulysse gramophone, S. 85; dt. S. 67. Zum Liebestopos Telefon, vgl. Roland Barthes: Fragment d’un discours amoureux, Paris 1977; dt. R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. 1984, S. 109: „Ich werde dich verlassen, sagt jeden Augenblick die Stimme des Telephons.” und Kap. II,3. 195 Joyce, Ulysse gramophone, S. 777: „[…] na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er soll doch nochmal fragen ja und dann hat er mich gefragt ob ich will ja sag ja meine Bergblume und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen daß er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja.”; dt. S. 1014. 196 Derrida weist darauf hin, daß eyes das Wörtchen yes einverleibt, und das „Ja” somit in die Augensprache der Lektüre einweist. 197 Derrida, Ulysse gramophone, S. 110/87.
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PERFORMANZ DES ANRUFS
unaufhebbar fremd, ruft es ‚nur’ aus, liegt nahe dem unartikulierten Schrei, als reiner Affekt. „Ein Ja-sagen zu sich selbst” ist das „Sprachereignis par excellence, das in der punktuellen Intensität des Blitzes verglüht, weil es in ihm keine Differenz zwischen Täter und Tun […] gibt”.198 Es spricht zu sich selbst „ja ich” und adressiert sich an den anderen, indem es sich in Erinnerung ruft: „ja […] ja”. Die Zählbarkeit, Wiedergabe und Abrufbarkeit eines (auf Befehle antwortenden) Wortes markiert in Ulysses den Anfang und das Ende eines Sprechens. Das Versprechen birgt die Chance in sich, mit dem Kontext zu brechen, ein „Ja” mit einem anderen weiterzuverbinden. Judith Butler, die am Anfang meiner Überlegungen stand, stimmt mit Bourdieus Kritik „bestimmter dekonstruktivistischer Positionen” überein, „die behaupten, daß ein Sprechakt aufgrund seiner eigenen Dynamik mit jedem Kontext bricht, mit dem er auftritt.” Das von ihr mit Hate speech bezeichnete verletzende Sprechen hängt mit rassistischen Kontexten zusammen, die nur schwer zu erschüttern sind. Butler beharrt trotzdem darauf, „daß der Sprechakt eine nicht-konventionale Bedeutung annehmen kann, zu dem er nicht gehört”. Gerade darin liegt das „politische Versprechen der performativen Äußerung”199. Eine Wahl ist „retroaktive Kategorie, sie geschieht immer nur im Perfekt, aber in einer speziellen Art von Vergangenheit, die niemals gegenwärtig gewesen ist.”200 In der Nicht-Gegenwärtigkeit versetzt der Anruf ein ‚Selbst’, um es als Anderes zu sich zurückzusenden – Anrufung einer imperativen Stimme der Autorität: Setzung bzw. Versetzung. Indem literarische Texte die Performativität staatlicher bzw. göttlicher Autorität imitieren, machen sie „in diesem Akt der Imitation diese umgekehrt als Imitation seiner Performativität lesbar […]. Oder anders: einem (literarischen) Text gegenüber kann die gesetzliche Autorität sich nicht artikulieren, ohne mit einem Gegen–Gesetz konfrontiert zu sein: ihr Urteil über die Wahrheit der Aussagen des Textes kann von diesem zurückgeworfen und zugleich inkorporiert werden, indem der Text in einer Erzählung das Urteil über sich zitiert und zu seinem Gegenstand macht und damit der Autorität entkommt, indem er sie bestätigt.”
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Um Gesetz und Gegen-Gesetz, um die Frage nach einer göttlichen Autorität, geht es auch im nächsten Kapitel. Religiöse Figuren der Anrufung haben in der abendländischen Kulturgeschichte zur Begründung von sprachphiloso198 Hamacher, Verstehen, S. 88. 199 Butler, Haß, S. 228. 200 Dolar, „Anrufung”, S. 17. 201 Ulla Haselstein: „Poetik der Gabe: Mauss, Bourdieu, Derrida und der New Historicism”, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, Stuttgart/Weimar 1997, S. 272–289, hier S. 288.
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phischen Zweifeln beigetragen: in Gebet und Bekenntnis (Augustinus), in Mystik und Epigramm (Angelus Silesius), in negativ-messianischer Theologie (Franz Rosenzweig, Walter Benjamin). Der radikale Bruch mit einem Modell des unmittelbaren Anrufs aber setzt schon mit Friedrich Hölderlins Poetologien des Anrufs und seinen Verwerfungen ein.
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2. S AKR ALE A NR UFUNGEN
Medium und Bekennt nis Die Anrufung hat sich als ontotheologisches, kulturelles und diskursives Muster über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten. Schon in der griechischen Antike gab es ausgefeilte Gebetsrituale und sakrale Anrufungen.1 Das vorliegende Kapitel geht den kritischen Momenten und Umbruchsphasen dieser kontinuierlichen Entwicklung nach. Von Augustinus über Angelus Silesius bis zu Franz Rosenzweig und Walter Benjamin entwickelt sich die jüdisch-christliche Figur der Anrufung zusehends zu einem „Anruf der Sprache”. Der Weg nach Innen ist mit Augustinus vorgezeichnet, er geht mit Angelus Silesius noch einen Schritt weiter, indem er bis in die Schrift ruft, er wird sodann vom jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig in den Dienst der Versöhnung gestellt, um schließlich mit Walter Benjamin seinen Höhepunkt im „Anruf der Sprache”, das heißt in der (nicht über sich selbst sprechen könnenden) Mitteilung der Sprache zu finden. Anrufungen können nicht immer mit einer Antwort ihres Adressaten rechnen. Ohne über einen Beweis für die Existenz des Angesprochenen zu verfügen, ohne der Reaktion eines physischen Gegenübers visuell beiwohnen zu können – ein Gegenüber, das durch die Ansprache erst zu einem Angesprochenen wird – zeigt die Adressierung der religiösen Rede exemplarisch, auf was für eine harte Probe die sich selbst nicht mit-teilende Sprache stellt. Im Gebet wird die rhetorische Anstrengung unternommen, einen unendlich weit aufklaffenden Abgrund zwischen Rufer und Gerufenem zu überbrükken, zwischen dem Morast sündig-satanischer Fluten und der Unerreichbarkeit einer himmlischen Hierarchie. Der grundlose Grund, der hier rhetorisch erst gelegt werden muß, erklärt die exponierte Stellung, die der Anrufung im Aufbau des Gebets selbst zukommt.
1 Vgl. Tanja S. Scheer: „Die Götter anrufen. Die Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Gottheit in der griechischen Antike”, in: Kai Brodersen (Hg.), Gebet und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike, Münster 2001, S. 31–56.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Wer sich mit Medium und Kommunikation beschäftige, so Wolfgang MüllerFunk, könne deren religöse Herkunft schwerlich leugnen.2 Meist hätten jedoch Mißverständnisse die Klärung des einen und des anderen Begriffs verhindert. Vom Medium wird auch heute immer noch verlangt, bloß äußerliches Werkzeug zu sein. Dabei übersieht man die Rolle des Selbstzwecks, der sogar noch die so oft verballhornte These Marshall McLuhans „The Medium is the Message” in den Schatten stellt.3 Von einem Sender-EmpfängerModell wollten Kommunikationstheorien ausgehen, die dem Medium ausschließlich eine Mittlerstellung zwischen zwei Polen zukommen ließ. Reibungsloses Funktionieren von Apparaten sollte Voraussetzung für erfolgreiches Kommunizieren (communis - gemeinsam) sein. Die letzte Konsequenz eines solchen Modells ist die Maßgabe einer Unsichtbarkeit und Unauffälligkeit des Mediums. Ein inflationärer Gebrauch des Begriffs „Kommunikation” hat außerdem zunehmend Unklarheit darüber geschaffen, was überhaupt wie, wann oder wo unter „Kommunikation” zu verstehen ist. Beiden Begriffen gemeinsam ist ihre Herkunft: die christliche Kultur, die konträr zum jüdischen Bilderverbot mit ihrer ideogrammatischen Bilderwelt televisionär zwischen Diesseits und Jenseits zu übertragen versprach.4 In der Figur des willenlosen Visionärs, dem die Zeugen des neutestamentarischen Geschehens und die von jeder Individualität losgelöste Christusgestalt vorangeht, enthält die Message ihr physisches Medium. Als tertium comparationis wird sie in der Gestalt des Gottessohnes, Apostels, Visionärs, Sehers, Heilers, Propheten oder Priesters vermittelt, der als Bürge für metaphysische Existenz und Glaubwürdigkeit des Jenseits auftritt. Medien werden als „Signalverstärker” oder „Zwischenträger” eingesetzt.5 Vor allem seit der Romantik erhält die religiöse Telekommunikation ein neues Gesicht. Das Medium ‚Buch’ verschickt sich als „Systemverbund von schöpferischen Dichtern und interpretierenden Denkern”, als virtuelles Übertragungsmedium einer sicht- bzw. hörbaren Natur, unter dem Namen seines Autors.6 Im Widerstreit von „Stimme und Text” melden sich sprechende Steine, Ruinen oder verführerisch-bedrohliche Sirenentöne zu Wort. Als gespenstische, körperlose Stimmen beginnen sich Texte selbst zu insze-
2 Wolfgang Müller–Funk: „Ouvertüre zu einer Philosophie der Medialität des Menschen”, in: W. Müller–Funk (Hg.), Inszenierte Imagination: Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien et al. 1996, S. 63–86, hier S. 70ff.. 3 Vgl. dazu Wofgang Coy: „Einleitung”, in: Marshall McLuhan, Die Gutenberg–Galaxis: das Ende des Buchzeitalters, Bonn et al. 1995, S. XII. 4 Vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 5 Vgl. Jörg Rüpke: „Antike Religionen als Kommunikationssysteme”, in: K. Brodersen (Hg.), Gebet und Fluch, S. 13–30, hier S. 26. 6 Vgl. Friedrich A. Kittler: „Über romantische Datenverarbeitung”, in: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn 1987, S. 127–140, hier S. 139.
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SAKRALE ANRUFUNGEN
nieren, sie setzen (auch wörtlich im Sinne des Buchdrucks zu verstehen) in einer Bewegung der Inversion das, was sie doch in Berufung auf den mediatisierenden Dichter erst hervorbringen sollten und drängen damit zum Vergessen ihrer eigenen Bedingung: „Die Texte der Romantik situieren sich an der Stelle der Frage nach einer Gegenwart, einer Figur für das Absente, als der Stimme für das Stumme, für das Tote.”7 „Das blinde Spiel der Natur” dient als Ort der Übertragung im Medium Poesie. Poesie gerät zum „Zauberstab […], der die Natur zur Sprache bringt”8. Die Mittlerfigur des Visionärs muß bei diesem Einlaufen „in die archaische Heimat der Mutternatur” auf der Strecke bleiben.9 Die Religiösität überlebt schließlich auch in anderen, medizinischen Zusammenhängen. Mit der metaphysischen Überlastung romantischer Poesie floriert eine säkularisierte Tele-Kommunikation, die mit technischen Mitteln religiöse Übertragungs-Maschinerien herstellt. Die Bewegung des Magnetismus kann zu den Anfängen einer Entdeckung des Unbewußten gerechnet werden. In spiritistischen Sitzungen, magnetischen Rapports, esoterischen Versammlungen und vorpsychoanalytischen Übertragungsszenerien wirkt die präperformative Kraft der Anrufung weiter. Franz Anton Mesmers (17341815) Behandlungsmethoden, seine Anwendung von Gefäßen, sogenannten „baquets”, die eine große Anzahl von Menschen und Körperteilen über eiserne Stäbe an ein magnetisches Verbundsystem anschliessen, kündigen bereits das Prinzip einer virtuellen Vernetzung an.10 Der Begriff der Übertra-
7 Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Texte bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 10. 8 H. Böhme, Natur, S.53. 9 Über Schellings Naturphilosophie als Einlaufen „in die archaische Heimat der Mutternatur”, eigentlicher Gund „für das ständige Fluidisieren, Potenzieren und Grenzüberschreiten des romantischen Denkens” (S. 160), vgl. G. Böhme/H. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Kunst als Religion, als Möglichkeit der Zusammenbindung (re–ligion), vgl. Philippe Lacoue–Labarthe/Jean–Luc Nancy: L’absolu littéraire. Théorie de la Littérature du Romantisme Allemand, Paris 1978. 10 Vgl. J. Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 321. Vgl. auch den Augenzeugenbericht eines englischen Arztes, in: Sir Williams Ramsey, The Life and Letters of Joseph Black, London 1918, S. 84–85, zitiert in Ellenberger, Entdeckung, S. 104: „Ich war vor einigen Tagen in seinem Haus und habe seine Arbeitsmethode mit angesehen. In der Mitte des Raumes steht ein Gefäß von etwa anderthalb Fuß Höhe, das man hier einen baquet nennt. Es ist so groß, daß zwanzig Menschen leicht darum herum sitzen können; in den Deckel, mit dem das Gefäß bedeckt ist, sind nahe dem Rand Löcher gebohrt, entsprechend der Anzahl von Menschen, die das Gefäß umgeben soll. In diese Löcher sind eiserne Stäbe gesteckt, die im rechten Winkel nach außen gebogen sind, so daß sie den Körperteil berühren können, an den sie angelegt werden sollen. Außer diesen Stäben gibt es ein Seil, das einen der Patienten mit dem baquet verbindet, und von ihm zum nächsten führt, und so fort, die ganze Runde entlang. Die spürbarsten Wirkungen werden durch die Annäherung Mesmers hervorgerufen; man sagt, er übermittle das Fluidum durch bestimmte Bewegungen seiner Hände oder seiner Augen, ohne die Person zu berühren. Ich habe mit mehre-
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
gung lehnt sich nicht zuletzt auch an die Tatsache an, daß Krankheiten durch Infizierung übertragen wird. Er geht von physikalischem (elektrischem) Energietransfer oder physiologischen Reizübertragungen aus, die sich in Heilritualen aktivieren lassen.11 Aber nicht erst das 19. Jahrhundert brachte den Typus der Heiligen, Seherin, Hysterikerin hervor, die als Gefäß für Anderes aus einer mysteriösen Welt berichtet und als automatische Empfängerin den Auftrag einer Weiterleitung an ein romantisches Publikum zu erfüllen hat. Mystik und Sprachphilosophie blicken auf eine lange Geschichte sakraler Anrufungsfiguren zurück. Dieser Geschichte bereiten antike Rhetoriker wie Augustinus den Weg. Ihre diskursiven Praktiken kann schließlich auch die Medizin für sich nutzen. Michel Foucault hat gezeigt, daß die Methoden der Psychiatrie selbst noch die größten Erfolge hermeneutischen Verstehens überbieten. Die Einfühlungspraxis einer beobachtenden Gerichtspsychiatrie geht in ihren Möglichkeiten einer Durchleuchtung des Individuums noch über „althergebrachte Geständnistechniken der Beichtväter, Ermittlungsbeamten und Literaten” hinaus.12 Macht die Psychoanalyse um die Hypnose einen großen Bogen? Die Debatte um den Eingriff der Hypnose in Übertragungspraktiken13 zeigt den Kampf mit einem Phantom an, das vehement desavouiert wird.14 Dazu gehört auch das Freudsche Telefongleichnis, das im Dispositiv der psychoanalytischen Sprechkur – d.i. die Technik der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit” – das Ideal eines neutralen Aufzeichnungsmediums sieht, das sich selbst unsichtbar macht.15 Die Übertragungsszenerien zwischen Philosoph/Dichter und Natur oder von Arzt/Schriftsteller und Medium laufen pa-
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ren Leuten gesprochen, die diese Wirkungen erlebt haben, bei denen durch eine Handbewegung Krämpfe hervorgerufen und behoben wurden.” Vgl. Heinz Schott: „Fluidum – Suggestion – Übertragung. Zum Verhältnis von Mesmerismus, Hypnose und Psychoanalyse”, in: Jean Clair et al. (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 85–95, hier S. 86. Vgl. Wolfgang Schäffner: „Wahnsinn und Literatur. Zur Geschichte eines Dispositivs bei Michel Foucault”, in: Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, S. 59–77, hier S. 62. Vgl. J. Lacan, „Leeres Sprechen und volles Sprechen”, S. 94: „Die hypnotische Erinnerung ist zweifelsohne Reproduktion der Vergangenheit, aber vor allem ist sie gesprochene Repräsentation und als solche setzt sie alle Arten von Gegenwarten voraus.” Vgl. Daniel Bougnoux: Le fantôme de la psychanalyse. Critique de l’archéologie freudienne, Toulouse 1991. Und Mikkel Borch–Jakobsen/Jean– Luc Nancy/Eric Michaud (Hg.), Hypnoses, Paris 1984. Und Isabelle Stengers/ Léon Chertok, Le Cœur et la raison. L’hypnose en question de Lavoisier à Lacan, Paris 1989. S. Freud: „Ratschläge”, S. 171: „Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das Niederschreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts besonderes merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit’ […] entgegenzubringen.”
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rallel zu einer Flut autobiographischer Bekenntnis-Literatur, die ihre Inspiration altbekannten Beichtpraxen und kriminologischen Verhörtechniken zu verdanken hat. Eine mediale Konzeption der „Herzensschriften” zieht die Direktive mit sich, daß Verfasser nach Paulus – „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in die fleischernen Tafeln des Herzens” (2.Kor.3,2) – ihre Leser im Herzen lesen lassen wollten. Die Zeit der absoluten spirituellen Schriften oder der einheitlichen kulturellen bzw. juristischen Codes, welche die christliche Gemeinschaft organisieren, beginnt mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert abzulaufen. In der konsequenten Nachfolge eines drucktechnischen Verfahrens setzt ein strategischer Neubeginn ein, der die Geister nicht mehr loswird, die er gerufen hat. „Phantome von Bücher-Innerlichkeiten” melden sich über die Gleichförmigkeit von Druckbuchstaben zu Wort, um der „Polizei des Herzens”16 Bericht zu erstatten. „Die Prinzipien lauten: ‚Erkenne dich selbst! Liefere deine innerste Wahrheit ab! Schreib auf!’ Allein der Titel der Verwaltung ist neu. Die neuen Angestellten des paulinischen Logos heißen nicht mehr Theologen, sondern Psychologen und Kriminologen.”17 Autobiographische Archive unterstehen einem kriminologischen Willen zum Wissen. Bereits Augustinus sucht eine Offenbarung Gottes und des Herzens nicht mehr ausschließlich im Buch der Bücher, sondern im Buch der Natur. Seine confessiones enthalten neben der berühmten Memoria-Analyse im X.Buch, welches „zur ersten fundamentalen Selbstanalyse der abendländischen Geschichte wird”18, eine umfassende Inszenierung der Autorität des göttlichen Rufes, der dazu ermächtigt, den autoritativen Ruf weiterzuleiten. Er kündet vom inneren Wort, das sich über das Ohr dem Geist offenbaren soll. Das gezähmte Ohr greift zwar einerseits auf die Aristotelische Unterscheidung in Sprecher, Hörer und Gegenstand zurück19 und ist andererseits neuplatonischen Sehpostulaten nachgebildet. Augustinus’ Vor- und Nachbereitung einer sich in der Ansprache ereignenden Szene der conversio steht am Anfang des vorliegenden Kapitels über sakrale Anrufungen, bevor es um die Christusmystik des Johann Scheffler (1624-1677) geht, dessen Pseudonym Angelus Silesius (schlesischer Himmelsbote, elysischer Künder) das ganze Programm einer ‚himmlischen’ Schrift enthält. Silesius’ Cherubinischer Wandersmann ist anders als Augustinus’ Confessiones schon Produkt des Buchdrucks. Der schnellen Vervielfältigung der Druckbuchstaben begegnet eine hyperbolische Aufforderung zur schriftlichen Imitation: „So geh und 16 Vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien 1986, S. 260. 17 M. Schneider, Herzensschrift, S.11. 18 H. Böhme, Natur, S. 239. 19 Vgl. Uwe Neumann: Augustinus, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 98ff..
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werde selbst die Schrift” lautet der Auftrag, die der alten Imitatio Christi mit einer Imitatio Libri,20 einer Imitation im „Buch des Gewissens” (Angelus Silesius) entgegnet. Christliche Mystiker sind als besonders ekstatische und leuchtende Beispiele in die Geschichte der Medien eingegangen. Nicht nur daß sie an einem emphatischen Begriff von Leben und Erleben festhalten und daß ihr bedingungsloser Imperativ zur Nachfolge keinen Widerspruch dulden will. Sie müssen den Weg über die Schrift als logos gehen. Die Schrift wird in den Dienst genommen, um über Gottesschau und akustisch vernommene Berufung öffentlich Zeugnis abzulegen. Zugleich aber macht mystische Schrift auf sich selbst als Grenzfigur aufmerksam. Das gesteckte Ziel, etwas einmalig Geschautes und Gehörtes bezeugen zu wollen, ähnelt einem Trauma, das seltsame Paradoxa und Zeitlichkeiten erzeugt. Einer negativen Theologie wird Ausdruck verliehen, als deren orientalischer „Gründungsvater” PseudoDionysius Aeropagita gilt. Die Negation des Gottesnamen führt in der barocken Spätmystik zur paradoxen Aufforderung, dem mystischen Ruf in die Stille zu folgen. Wenn Franz Rosenzweig in seinem Hauptwerk Der Stern der Erlösung (1921) Angelus Silesius’ Spiegelmystik zitiert, so geschieht dies in der kritischen Absicht, christliche Heilsgeschichte und ihre Einverleibung jüdischer – ritualisierter und akustischer – Anrufungsfiguren an den Pranger zu stellen. Politisch richtet sich Rosenzweigs Attacke gegen den deutschen Idealismus und den kriegerischen Fortschrittsglauben der christlichen Heilsgeschichte. Die Rehabilitation der Anrufung als ritualisiertes Gedenken in der Gemeinde läuft jedoch Gefahr, die Selbstmitteilung der Sprache zu übersehen. Um den „Anruf der Sprache” geht es deshalb Walter Benjamin, der Rosenzweigs Werk geschätzt und kritisiert hat, in einem frühen sprachphilosophischen Aufsatz. Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916) kreist ähnlich wie Angelus Silesius’ Cherubinischer Wandersmann um die Un-mittel-barkeit der Sprache selbst. Die Figur der religiösen Anrufung ist durch ihre traumatische Antwortlosigkeit überraschend aktuell, weil sie im Gestus des Verneinens ein Durchstreichen vornimmt, das den durchgestrichenen Sinn weiterhin durchschimmern läßt: „Man muß in den Mund nehmen, was man bestreitet oder verleugnet.”21 Damit ist kurioserweise auch eine andere Geschichte eingeleitet, nämlich die des Telefons als einem Medium, das die Magie der erotisier20 M. Schneider, Herzensschrift, S. 19. Siehe die dazugehörige Anmerkung, S. 260: „Thomas a Kempis’ (1470): De Imitatione Christi ist eines der am häufigsten auferlegten Erbauungsbücher der Welt mit der paradoxen Aussage, daß nicht die Lektüre, sondern das Gebet, Einsamkeit und Sammlung die Formen der Christusnachfolge sein sollten. Die Negation der Lektüre inauguriert die Ausschließlichkeit der Lektüre–Frömmigkeit.” 21 Bernard Waldenfels: „Hybride Formen der Rede”, in: Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, S. 323–337, hier S. 328.
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ten Stimme zu nutzen weiß und den Ort des Woher des Anrufers ebenso unhintergehbar werden läßt wie der religiöse Diskurs es tut: „Telefonie ist ein Spiel der Situierung von Orten des Sprechens, die ihr Woher im Offenen lassen können, weil die Verbindung ja immer schon besteht.”22 Das Telefon schafft nicht nur einen neuen Bezug zu Raum und Zeit, es suggeriert im Anspruch auf bedingungslose Hörigkeit Zugehörigkeit. In Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1931) liefert das Telefon schließlich den Anlaß, über die Figuren der sakralen Anrufungen hinaus einer vermittelten, zugleich nahen und fernen, un-mittel-baren Stimme Gehör zu schenken.
R uf nach Innen: Noli foras i re (August inus) Mit Augustinus’ Confessiones liegt die erste profunde Seelenanalyse des Abendlandes vor. Schon das Neue Testament widerspricht einer Unterscheidung zwischen platonischem Sehen und hebräisch-christlichem Hören, weil es ein gläubiges Ohr mit einem einsichtigen Auge koppelt. Augustinus macht das Hören des göttlichen Rufes von einer Übersetzung in Schrift abhängig. „Das aus dem Nichts heraus rufende Wort” ist „in eine Ausstrahlung von Licht auf das Dunkel des Stoffes”23 zu transponieren. Die Confessiones führen an der Schwelle zwischen altem Griechenland und römischem Reich vom ‚dunklen’ Afrika bis ins ‚erleuchtete’ Europa, sie geben den Auftrag einer Schrift-Mission bekannt. Spätantike Vorlese-Modelle aber auch oratorische Praktiken römischer Rechtssprechung kommen zum Einsatz, um die politische, religiöse und mediale Kehrtwende vorzuführen. Die Bekehrung (conversio) eines sich selbst ermächtigenden Autors, der sich aus den beruflichen Fesseln der rhetorischen Lehre löst, um sich einer höheren Berufung in Rom zu widmen und es am Ende bis zum Bischof von Hippo zu bringen, steht im Vordergrund dieses berühmten Zeugnisses über eine „Lebensmitte”24. Die Confessiones präsentieren sich in Form eines anrufenden Gebetes, das sowohl hymnisch preist (laudare) als auch um Erfüllung bittet (implere).25 Eine Vor-Zeit, in der das laute oder „äußere” Wort noch zum Verkauf stand (venditore verborum, Conf. IX,5,13), geht der Erzählung als 22 Wolfgang Hagen: „Gefühlte Dinge. Bells Oralismus, die Undarstellbarkeit der Elektrizität und das Telefon”, in: Münker/Roesler (Hg.), Telefonbuch, S. 35–60, hier S. 52. 23 Hans Blumenberg: „Licht als Metapher”. In: Studium generale: Zeitschrift für interdisziplinäre Studien, Berlin 1947, S. 431–447, „Exkurs: Auge und Ohr”, S. 442. 24 Peter Brown: Augustinus von Hippo, München 2000, S. 142. 25 Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse, Zweisprachige Ausgabe, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, S. 13, I,1,1. Künftig im laufenden Text in Klammern zitiert als Conf. I,1,1.
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Vergangenheit voraus, von der sich ihr Erzähler abwenden möchte. Schon in Augustinus’ De magistro („Über den Lehrer”) geht es um eine „Umwendung des Herzens, eine Reinigung für das innere Auge”26. Der „Weg” nach innen – peregrinatio animae27, die „Metaphysik der Bekehrung”28 – arbeitet kontinuierlich weiter mit rhetorisch geschickt ausgelegten Figuren des Rufes (invocatio). Wie geht die rezitierte Stimme in die invocatio der Schrift ein? Wie unterstützt der Ruf die religiöse Forderung nach Innigkeit und Hörigkeit? Was läßt den Anruf der Sprache zum Aufruf werden, zur „Warnung des Gewissens”, scriptia conscientia? Und wie steigert sich die Einsicht zur illuminatio, das „Licht meines Herzens” (lumen cordis)” zum Licht des Geistes (lumen intelligibilis)? Wie entzündet sich das Gebet in einer Sprache des Feuers? Anrufungen bestreiten in den Confessiones die Szene der Eröffnung. Sie sind mit vielen, sich selbst zurückrufenden Fragezeichen versehen. Ein „vorrufender Rückruf”, um den der Augustinus-Leser Martin Heidegger noch in unheimlicher Weise in Sein und Zeit weiter kreist, geht als Frage der göttlichen Antwort voraus. Er hallt in der Tiefe einer Antwortlosigkeit nach. Eine ins innere Ohr sprechende ‚Stimme’ ruft in die memoria hinein und das heißt in ein „noch innerer als mein Innerstes” (interior intimo meo, Conf. III,6,11). Re-zitierte Rufe stehen am Anfang und Ende der dreizehn Bücher, sie unterbrechen und umrahmen das intime und sich als schriftliche Predigt öffentlich adressierende Gebet. Doch gerade aufgrund der Berufung auf Kanon und Konvention befragt sich die confessio immer wieder in eigener Sache, in der heraufbeschworenen, sich selbst anfeuernden Intimität des Gebetes. Mit einem abgewandelten Psalm Magnus es, domine beginnt das erste Buch.29 Re-Zitationen werden aufgeboten, um aus der Enge (angustias) des Weges (Conf. VIII,1,1) ins Innerste hinauszuführen: (Angusta est domus animae meae, quo venias ad eam, dilatetur abs te)30. Das Rätsel des Eigennamens Augustinus könnte hier auf eine Antwort stoßen.31 Denn die Angst (von angustiae, Enge) weist auf etwas anderes als auf sich selbst hin – so Freud, für den die Angst der Phobien „geradezu inappellabel” ist. In der
26 Aurelius Augustinus, De serm. Dom. in monte II,3,14, zitiert in Brown, Augustinus, S. 144. 27 Vgl. Georg Nicolaus Knauer: „‚Peregrinatio animae’. Zur Frage der Einheit der augustinischen Konfessionen”, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie, Bd. 85, Wiesbaden 1957, S. 216–248. 28 E. Gilson: Introduction à l’étude de St. Augustine, Paris 1929, zitiert in Blumenberg, „Licht als Metapher”, S. 441. 29 Aurelius Augustinus, Retract.I. II c.32, zitiert in Conf.: „Das Werk beginnt mit den Worten: ‚Groß bist Du, Herr’.” 30 Conf. I,5,6: „Eng ist das Haus meiner Seele, in das Du kommen sollst zu ihr: weit soll es werden, weit durch Dich!” 31 Vgl. Kenneth Burke: The Rhetoric of Religion. Studies in Logology, Los Angeles, 1970, S.83 u. 105. Die Enge des Weges, von der auch zu Anfang in Buch VIII – dem Bekehrungsbuch – die Rede ist, kündigt eine Wiedergeburt an.
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ständigen Bereitschaft, „sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzupassen”32, begibt sich das gläubige Ich auf die Suche nach einem Du. Im Echo der göttlichen Stimme, die der Text re-zitiert, hallen die fragenden Rufe als Antwort zurück. Stimme und Schrift beziehen sich in den Confessiones aufeinander, sie adressieren sich gegenseitig. Um diese rhetorische Doppelung und mediale Wendung zeitlich „zu fassen” (Curam post vocem hanc et adprehendam te33) und einem riskanten, flüchtigen Hören vorzubeugen, wechselt Augustinus zum Bild vom inneren und das heißt sehenden Ohr über. Wie aber wird das zeitliche Hören in räumliches Sehen übersetzt? Als gefährliches, weil verführbares Organ braucht das selbstbezügliche und emotionale Ohr Beistand. Diesen Beistand erhält es durch das sich selbst nicht sehen könnende, sich im anderen spiegelnden Auge. Inneres Ohr und spekulierendes Auge kommen gemeinsam zum Einsatz, um den Risiken tropischer Rede, möglichen Unfällen zwischen Agenten, Botschaften, Intentionen und Signifikationen vorzubeugen. Das Lüften des Schleiers der allegorischen Schrift ist eine offene, noch zu vollziehende Übersetzungsarbeit, die außer Kontrolle zu geraten droht, wenn die curiositas aus der „Opposition gegen die fides […] dämonische Züge” annimmt.34 Das aber wirft die Frage nach Tradition und Aktualität der Confessiones auf: Welche Lektüre-Modelle werden zitiert? Geht es um lautes oder stilles Lesen? Um ein öffentliches Re-Zitieren? Wer wie Gott sieht und schreibt, erhält Einsicht in die veritas. Die göttliche Stimme bringt einen Text zum Sprechen, sie spricht ihm Wahrhaftigkeit und Autorität zu. Das erste Buch setzt unvermittelt mit wiederholten Anrufungen ein, eingeleitet von vokativ abgewandelten Psalmversen. Zwei Psalm-Zitate schieben sich ineinander: Die Hymne Groß bist Du, Herr zitiert zwei Psalmverse und sogar noch einen dritten in begründender Form: „Groß ist der Herr und hoch zu loben“ (Ps.144,3 u. Ps.47,1) „Denn groß ist der Herr und hoch zu preisen/ mehr zu fürchten als die Götter.” (Ps.95,4)
Die Zitate in den Confessiones belassen es nicht bei einer distanzierten Lobpreisung Gottes, sondern akklamieren in der zitierten Anrede: magna virtus tua et sapientiae tuae non est numerus35. Die gemeinsame Erklärung aller Psalm-Zitate über die zu lobende virtus findet durch die vokative Form performativ Unterstützung: aus dominus ist domine geworden. Deklamatorisch 32 Sigmund Freud: „Die Angst”, in: Freud, Studienausgabe, Bd. I, S. 386. 33 Conf. I,5,5: „Ich will nachlaufen dieser Stimme, bis ich dich fassen kann”. 34 Hans Blumenberg: „Curiositas und veritas. Zur Ideengeschichte von Augustinus, Confessiones X 35”, in: Theologica Augustiniana, Bd. 6, 1962, S. 294–302, hier S. 298. 35 Conf. I,1,1: „groß ist Deine Macht und Deine Weisheit unermeßlich”.
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beansprucht die erzählende conversio Größe und Macht der angeredeten auctoritas. Anaphorisch leitet sich die Anrufung im dreifachen laudare als Antwort an ein Du ab. Die zweite Person dominiert die ganze erste Strophe, bevor sich erst gegen Ende der Anrufer selbst zu Wort meldet: Quaeram te, domine, invocans te36. Formen der Bitte lösen sich nun mit solchen der Frage ab: Sed quis te invocat nesciens te?37 Nach dem ersten rezitativen Auftakt in Form eines psalmodischen Gebetes geht es mit konjugierten Verbformen der Invocatio weiter: invocare, invocat, invocaris, invocabunt, invocans, invocem, invocabo. Die kunstfertige Anwendung einer Figur wiederholt sich grammatikalisch noch einmal. Nicht allein zu Anfang der Confessiones taucht die invocatio auf, sie leitet außerdem weitere, strategisch wichtig plazierte Bücher der Confessiones ein. Sie bilden jeweils den Auftakt zu neuen Teilen. Ein Wort ruft das nächste Buch auf. Und so beginnt das Du über ein zunächst im Hintergrund verbleibendes Ich zu sprechen, bevor sich das Ich an einen Dritten als Zeugen des Gebetes wendet. In Buch XI, Einleitung zum zweiten und ‚bekehrten’ Teil der Bekennntisse, kehrt der Psalmvers „magnus dominus et laudabilis valde” wieder, diesmal allerdings mit Blick auf einen erweiterten Adressatenkreis: „die Liebe zu Dir will ich erwecken in mir und in denen, die das lesen, auf daß wir alle rufen: „Groß ist der Herr und hoch zu preisen.” (Conf. XI,1,1) Gleich zu Beginn von Buch I verbindet sich die Anrufungsfigur mit der Suche nach der memoria („Ob dich kennen oder Dich anrufen früher sei!”) und mit der Frage nach der Begründung einer schriftlichen und zitierbaren confessio, die sich im Glauben verankert wissen will – „Und welches ist der Ort in mir?” (Conf. I,2,2) Augustinus, der in De musica Mathematik und Musik zusammendenkt, operiert geschickt mit Wiederholungen. Die zahlreichen Präpositionen in oder Präfixe in- unterstreichen die richtungsweisende Bewegung und rufen in ein „noch innerer als mein Innerstes” (interior intimo meo) hinein: in me – in mir, in te– in Dir, in quem – an den, in credens in – an Dich glaube, inspirati mihi – mir gegeben, Et quis locus in me – Und welches ist der Ort in mir, in quo omnias – in dem alles, in me veniat deus meus – in mich käme mein Gott. Die Bewegung nach innen findet in einer Zunahme von Negationen ihren Ausdruck: Das Wort inquietum fällt gleich in der ersten Strophe: „ruhelos ist unser Herz”, um der Beunruhigung über das Nicht-Wissen Ausdruck in der Frage zu verleihen: „Aber wer riefe dich, ohne von dir zu wissen? (Sed quis te invocat nesciens te?, Conf. I,1,1). In The Rhetoric of Religion ist Kenneth Burke der proportionalen Ab- und Zunahme von Augustinus’ richtungsweisenden und negierenden ins genau nachgegangen. Während in der ersten Strophe das direktionale in überwiegt, hat sich das Verhältnis in der 36 Conf. I,1,1: „Ich will Dich suchen, mein Herr, mit meinen Rufen”. 37 Ebd.: „Aber wer riefe Dich, ohne von Dir zu wissen?”
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vierten Strophe zugunsten des in der Negation umgekehrt.38 Die superlative Preisung Summe, optime, potentissime, omnipotentissim39 geht schließlich in Epitheta der negativen Theologie über: incomprehensibilis, inmutabilis40. Repetitionen leisten Überzeugungsarbeit, sie schlagen ‚direkt’ ans Ohr. Das in schiebt die Bewegung nach innen bis zu einem unendlichen Null-Punkt vor, faßt sie in der stellvertretenden Silbe in zusammen. In gibt nicht nur Ton und Takt an, die Negation enthält auch den Aufruf zur ethischen Besserung durch (V-)Erinnerung. Zu Anfang von Buch XIII, am Ende der Confessiones, erscheint die Häufung der Invocatio-Verben in einem Atemzug mit der gestischen Bewegung des Umwendens und Bekehrens. Die conversio folgt der göttlichen Anrufung, der Berufung, die mit einem Gebet als Ruf bestätigt wird, im Moment des Umwendens: et converterer et vocantem me invocarem te41. Mit der Bitte um Anerkennung eines Rufes, der bereits Antwort ist, beginnt der Anfang der Confessiones. Das Gebet arbeitet mit Ritualen, mit bestimmt auszuführenden Gesten. Als erster Akt des Betens gilt nicht das Anreden, sondern das Zuhören. Auf dieses Zuhören als ein Wiedererkennen beruft sich die kirchliche Exegese. Die Bibel will als Appell, als Mahnung (admonitio), als Aufforderung zur Ant-Wort (Vor-Wort) in Form eines Gebetes verstanden werden.42 An exponierter Stelle des Gebetes steht daher die Anrufung. Bei Augustinus ist sie Antwort auf eine vorausgegangene Berufung, die Gnadenwahl (gratia). Vor Doxologie – „das Rühmen der Gottheit durch Häufung poetischer Attribute” – und Gebetsbitte – „als Ekstasis der Seele aus dem Leib und als Konstituens für das Erlangen höherer Offenbarungen interpretiert” – muß die Anrufung ihrer verbindenden Aufgabe (re-ligio) „von theologischem Gehalt und intimstem seelischen Ausdruck” nachkommen.43 Den Anfang einer Entwicklung christlicher Gebetsformen bilden die ekstatischen Wort-Bekenntnisse nach Johannes und Paulus. Neben den Psalmen gehören deren Evangelien und Briefe zu den meistzitierten Bibelstellen der Confessiones. Das Zeugnis über das „innere Wort” und den „inneren Ort” bedient sich der Schriften anderer, zitiert sie. Die Rede leitet sich von einem Anderen her. Schrift unterläuft diese Ereignishaftigkeit des Rufes jedoch, weil sie weiterhin abrufbar, re-zitierbar bleibt. Die zahlreichen Zitate vor allem der Psalmengesänge sind eine Form der Adressierung, die sich nicht auf eine Per38 K. Burke, Rhetoric of Religion, S. 54. 39 Conf. I,4,4: „Du, über alles bist Du der Hohe, der Gute, der Mächtige, der Allmächtige”. 40 Ebd.: „der Unergreifliche, der Unwandelbare”. 41 Conf. XIII,1,1: „mich umwenden, rufen nach Dir, der mir rief” 42 Vgl. Monique Vincent: Saint Augustin Maître de Prière d’après les Enarrations in Psalmos, Paris 1990. 43 Jörg Villwock: Die Sprache – Ein ‚Gespräch der Seele mit Gott’, Frankfurt a. M. 1996, S. 33.
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son, sondern auf das (Adressen)Register der Bibel bezieht. Der Ruf ruft aus dem Nichts der Text-Stimme in die Schrift hinein. Der Akt des Nachschlagens von Zitaten fällt mit dem rezitativen, das heißt wiederholbaren und differierenden Akt der Rezitation zusammen. Die Confessiones beginnen mit einer Befragung der Konvention: Magnus es, domine. Wenn die Sprache ein göttliches Darlehen ist, eine „Gabe von Dir” (munero tuo, Conf. I,17,27), so stellt sie in eine Ökonomie der Schuldigkeit: Reddis debita nulli debens, donas debita nihil perdens.44 Die Frage nach der göttlichen Adresse stellt die Frage nach der Existenz überhaupt. Ich und Du existieren dank ihrer Beziehung zum Anderen: Aut vero aliquid es, ut loquar ad te?45 In Erwartung einer Antwort steht eine Frage im Raum. Oder anders gesagt: Die Frage hallt in ihrem Echo als Antwort zurück. Sie teilt mit, ist engagiert, verantwortet sich einem Anderen gegenüber. Ein Selbstgespräch mit mindestens zwei Stimmen, so Jean-Luc Nancy: „Denn selbst wenn ich allein und still ‚in meinem Kopf’ (wie man sagen zu können glaubt) spreche, das heißt, wenn ich denke, höre ich eine andere Stimme in meiner Stimme, oder ich höre meine Stimme in einer anderen Kehle widerhallen. Die Schrift ist der Name dieses Widerhalls, dieser Resonanz der Stimme. Sie ist der Ruf, die Begegnung und das Engagement […].”
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Was aber setzt in der Schrift zwei Stimmen zueinander in Beziehung? Wie bringt das „Ich” das „Du” zum Sprechen? Was löst die innere Resonanz aus, mit der die Confessiones auf das Diktat der göttlichen Stimme antworten: et admovere aurem cordis mei ori tuo?47 Das Gebet setzt in eine intime Beziehung, es adressiert sich an Gott. Die Adressierung aber unterläuft die Unterscheidung zwischen Zeichen (signum) und Inhalt (res). Es sind daher die Gegenstände des Betens selbst, die der Beter ins Gedächtnis rufen muß (intentio). Dies geschieht im stillen Kämmerlein des Herzens, über die Liebe (affectus). Das „innere Wort” ist stumm, es ruft zurück und nach innen: verbum ipsum clamat, ut redeas.48 Als ein in die „Seele” zurückrufendes ruft das innere Wort in die Heilige Schrift.
44 Conf. I,4,4: „Schulden zahlst Du, niemals Schuldner; Schulden schenkst Du, ohne zu verlieren.” 45 Conf. II,6,12: „Aber bist du überhaupt etwas, daß ich dich anrede?” 46 J.–L. Nancy, „Verantwortung des Sinns”, in: M. Schuller/E. Strowick, Singularitäten, S. 18. 47 Conf. IV,5,10: „Kann ich das Ohr meines Innern Deinem Munde nähern?” 48 Conf. IV,11,16: „Es ist das Wort–selbst, das ruft, du solltest heim”. Vgl. auch Duchrow, Ulrich, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin, Tübingen, 1965, S. 147: „Es leuchtet innen”.
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Sprechen, Lesen und Beten sind erste Stationen einer Leidensgeschichte, in der sich die Stimme einem göttlichen Diktat unterwirft.49 Der „Ton der Stimme” aber ist an die „affectionem animi”, die „Regungen der Geistseele” gebunden. Affekte entscheiden schließlich darüber, „ob die [Stimme] nach etwas verlange, es besitze, es abweise oder fliehe. So lernte ich allmählich, für welche Sachen die Wörter […] die Bezeichnungen waren”50. Aus diesem kindlich merkantilen Tausch von Zeichen und Sinn entspringt aber auch die Gewalt der Sprache, denn für tuam invocationem brach sich „der Kleine […] schier die Zunge” (Conf. I,9,14). Das heilige Wort trifft, es teilt Schläge aus. Theater und Schriftsteller dagegen, Ausgeburten der gefährlichen, ungläubigen curiositas, bewegen sich „aufs Geratewohl” hin. Ihr Vortrag in „ungebundener Rede” provoziert rhetorische Fragen: Nonne ecce illa omnia fumus et ventus?51 Der windige Ruf einer ungebundenen Rede dringt als Luftzug bis ans permissive Ohr, um in der Seele als scripta conscientia52 an den sehenden Geist weitergeleitet zu werden. Als körperliche Instrumente der Seele leisten Ohren zwar gefällige Botendienste,53 sie sind jedoch anfällig für Schmeicheleien und Verführungen. Das zeigt Augustinus’ Beispiel vom Freund Alypius, der sich trotz geschlossener Augen der „wilden Lust” des Gladiatorenkampfes nicht zu entziehen vermag: „Hätte er sich doch auch die Ohren verstopft! […] Durch seine Ohren war es in sein Inneres gedrungen und hatte seine Augen aufgeriegelt. So war der Geist dem ausgesetzt, daß er geschlagen und geworfen wurde” (Conf. VI, 8,13).
Laute Wort schlagen als mächtige und ergreifende direkt ans Ohr, das in Wartestellung verharrt: „das Gewissen hat eine ‚Stimme’, kein Licht” so Hans Blumenberg, der eine Lichtmetaphysik von Augustinus bis Kant ausmacht. Überall dort, wo „Sachverhalte der Tradition, der auctoritas, des ‚Hörens’ also, in Lichtmetaphern auftreten”54, indiziert die metaphorische Sprache ein Ungenügen. Das Hören auf die autoritäre Tradition schließt aber auch einen Verzicht auf das wählerische Sehen ein. Denn die katholische Lehre verlange „Glauben ohne Beweise”, so die Confessiones. Rhetorik konvertiert hier zum Missionarsdienst. Sie wird „die Urform des Lichtes” (Blumenberg). Um die Buchstaben ihres „üblen” oder „perversen” Sinns (litteram 49 Conf. I,8,13: „Da kam ich zu Urteil durch Erinnerung”. 50 Ebd.: sonitu vocis indicante affectionem animi in petendis, habendis, reiciendis fugiendisve rebus. Ita verba in variis sententiis locis suis posita et crebo audita quarum rerum signa essent. 51 Conf. I,17,27: „War das alles nicht nur Wind und Rauch?” 52 Conf. I,18,29: „geschriebene Warnung des Gewissens”. 53 Augen und Ohren sind Boten, vgl. Conf. X,6,9: „soweit ich nur als Boten die Blicke meiner Augen schicken konnte?” 54 H. Blumenberg, „Licht als Metapher”, S. 443.
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perversitatem, Conf. VI,4,6) zu entledigen, muß das Ohr erschlossen, das heißt einsichtig gemacht werden. In dem Moment, in dem der Prediger Ambrosius den „geheimnisvollen Schleier wegzog und ihren geistlichen Sinn erschloß”, setzt die Geschichte von der Unterwerfung von Stimme und Ohr ein. Den Ruf anzunehmen, heißt nach Augustinus ihn zu übersetzen im Wort und d.h. ihn als logos zu überführen – in Resonanz und Raison/Vernunft (réson und raison).55 Die laut gelesene Schrift wird in stumme, innere Anschauung übersetzt. Ohren und Augen haben als Boten einen genauen Auftrag auszuführen. Sie müssen Ton (sonus) und Bedeutung (significatio) im logos zusammenführen. Die eigentliche Bekehrungsszene in Buch VIII spricht daher eine Aufforderung zum Nachschlagen und Lesen aus. Sie markiert den vorläufigen Abschluß einer Geschichte der Stimmenunterwerfung. Diese beginnt mit einem ersten Versuch, die gehörten verba – ihre Figuren und Eloquenz – in Ambrosius’ Predigt in visuelle Erkenntnis zu überführen: vom Hören zum Einsehen.56 Und sie geht weiter mit einem Beispiel stiller Lektüre, über die verschiedene Spekulationen geliefert werden. Läßt der Lesende „Stimme und Zunge ruhen”, weil er zunächst selbst verstehen muß und nicht gleichzeitig Aufklärungsarbeit für andere leisten kann? Hat er es eilig, mit den Augen über die Seiten zu gleiten? Oder muß er gar seine Stimme schonen, „die bei ihm sehr leicht in Heiserkeit übergeht”? (Conf. VI,3,3) Nächste Episode der Unterwerfungsgeschichte ist die Erzählung von der Bekehrung des „Afrikaners Ponticianus”. Sie bereitet die tolle, lege Szene vor, erzählt vom Aufschlagen der Bücher und führt zu einer Reihe von Bekehrungen: zu Paulus und zu Antonius, dem „ägyptischen Einsiedler”. Der conversio geht eine laute Aufforderung zum stillen, nach innen schauenden Lesen voraus: et legebas et mutabatur intus, ubi tu videbas57. Die so narrativ legitimierte Formel tolle, lege; tolle, lege („Nimm es, lies es, nimm es, lies es!”) kommt aus einem geschlechtlich undefinierbaren Kindermund. Kinder sprechen das aus, was nicht erinnert werden kann: „aber ich entsann mich nicht, das irgendwo gehört zu haben.” Der Hörende deutet dies als einen auf ihn gemünzten Befehl zum Aufschlagen und Lesen. Arripui, aperui et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei.58 Der göttliche Ruf mahnt zum Aufschlagen des Heiligen Buches und erinnert daran, daß eine Konversion an die Lektüre der Heiligen Schrift gebunden ist. Wie zu erwarten ruft die zitierte, wieder zu lesende Stelle aus dem Römerbrief zur Askese 55 Vgl. Francis Ponge: Pour un Malherbe, Paris 1965, zitiert in Jesper Svenbro: Phrasiklea. Anthropologie de la lecture en Grèce ancienne, Paris 1988, S. 8. 56 „Ich hielt mein Herz nur aufgetan, um zu hören, wie er sprach, indessen trat zugleich die Erkenntnis ein, wie wahr er sprach […]. Zunächst begann ich einzusehen” (Nam primo etiam, Conf. V,14,24). 57 Conf. VIII,6,15: „las und ward im Innern andern Sinnes, wo nur Du es sahst”. 58 Conf. VIII,12,29: „Ich ergriff es, schlug es auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel.”
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und Verzicht auf. Sie überführt das tönende Wort in die christliche Allegorese und bringt schließlich auch den Verzicht mit sich, säkulare Rhetorik zu lehren: „Nicht in Schmauserein und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten.” (Röm.13,13)
Das „Vermögen der Wörter” beschränkt sich auf Ermahnung, die admonitio verborum ist Einkehr und das heißt Versammlung der Wörter:59: Noli foras ire,[…] in interiore homine habitat veritas60. Wen aber trifft das ermahnende und versammelnde Wort als erstes? Den Freund. Alypius klingt der nächste Satz der rezitierten Römer–Stelle sofort in den Ohren, weil er ihn an seine gefährliche Leidenschaft für den lauten Zirkus erinnert: „Des Schwachen im Glauben aber nehmet euch an.” Weil die conversio auf die divinatorische Aneignung des allegorischen Sinns aufbaut, ist ein wortwörtliches, hörendes Lesen „tödlich”61. Eine figural vorgeschriebene Lektüre stellt genau kalkulierte Hör- und Seh-Techniken zur Verfügung. Zitat, Anspielung, Exegese, sie alle kommen für die scripta conscientia – conscientia ist Gewissen und Bewußtsein – zum Einsatz. In einer skripturalen Kehrtwende des zu sich selbst rückrufenden Rufes zeichnet sich die Anstrengung einer nach innen gekehrten, sich umwendenden conversio ab. Der sich Bekehrende liest nicht mehr im Buch der Natur, sondern in sich selbst. Er kehrt als ein anderer zu sich selbst zurück, in einem ver-rückten und deformierten Entwurf, im verzerrten Spiegelbild des wiederholten Erzählens: „jener erzählte eben, was er erzählte”, heißt es nach Ponticianus’ conversio: „und Du, Du stelltest mich abermals gegen mich und drängtest mich meinen Augen auf […]” (et tu me rursus opponebas mihi […] Conf. VIII, 7,16). Das Ende der Confessiones klingt schließlich mit einem letzten Zitat aus. Dem einleitenden Psalmvers steht hier eine abschließende Stelle aus Matthäus gegenüber:
59 Vgl. Jean–Pierre Schobinger: „Augustinus Einkehr als Wirkung seiner Lektüre. Die admonitio verborum”, in: Helmuth Holzhey (Hg.), Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zur Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung, Basel 1977, S. 70–100. hier S. 73. 60 Aurelius Augustinus: De vera religione. Liber unus. Ein Buch über die wahre Religion, 39/72, Stuttgart 1983, S. 122/123. Vgl. auch Flasch, Kurt: Augustinus, München 1997, S. 143: „Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im innneren Menschen wohnt die Wahrheit.” 61 Vgl. Ralph Flores: The Rhetoric of Doubtful Authority. Deconstructive Readings of self–questioning narratives, St.Augustine to Faulkner, Ithaka 1984.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Von Dir soll man’s erbitten, in Dir es suchen, bei Dir anklopfen: so, ja so wird man empfangen, so wird man finden, so wird aufgetan (aperietur) werden.” (Mt.7,7; nach Conf. XIII, 36,53)
Diese finale Prophezeiung der Öffnung ist, wie Kenneth Burke gezeigt hat, ein „Sesam-öffne-dich” für den ganzen Text: „Siehe Herr, meines Herzens Ohr ist bei Dir, tu es auf (aperis eas)” (Conf. I,5,5) heißt es gleich in Buch I, Ambrosius verwendet dieses Wort, wenn er von dem wegzunehmenden Schleier spricht (aperiret) (Conf. VI,4,6), von der Bibel wird gesagt, sie drücke sich in offenen, „gemeinverständlichen Worten (verbis apertissimis)” aus (Conf. VI,5,8), Alypius’ Besserung von der gefährlichen curiositas ist „ohne Zweifel (aperte)” (Conf. VI,7,12) auf Gottes Initiative zurückzuführen, schließlich die conversio selbst, die mit dem Aufschlagen der PaulusStelle bei Pontician beginnt (aperuit, Conf. VIII,6,13), gefolgt von zahlreichen anderen divinatorischen Lektüre- und Orakel-Szenen in Buch VIII. Das Ende der Bekenntnisse führt an den Anfang zurück. Auch im letzten Buch macht eine aneignende, diesmal ohne Anführungszeichen einsetzende Re-Zitation durch eine Umschrift auf sich aufmerksam: Das Verbindungswort und entfällt zum Schluß, die aktive Form des „Empfangens” ist in eine passive eingegangen, der lateinische Satz ist mit seinen repetitiven End-Lauten (petatur, queratur, pulsetur, accipitur, invenietur, aperietur) rhythmisch berechenbarer geworden, er entspricht jetzt sogar der aristotelischen brevitas.62 Anstelle mit einem Pronomen zu enden, wie es die Vulgata tut (aperietur vobis), schließen die Confessiones mit dem Schlüssel-Wort aperietur ab. Zu Anfang von Buch XII wird die gleiche Matthäus-Stelle wortgetreuer, im angeführten Zitat wiedergegeben.63 Im letzten Buch aber kommt der Re-Zitation eine andere, beschließende Aufgabe zu. Der Schluß soll im Ohr hängen bleiben, er tönt aus der Schrift heraus und legt somit den Akzent auf einen ununterbrochenen, erwartenden Empfang, endlich auf die zustimmende Annahme des göttlichen Rufes. Während Metaphern des Feuers, des Entflammens und Entzündens sich noch an einer mündlichen Figur des Rufes, Stimme des sexuellen Begehrens orientieren,64 werden sie nach der Bekehrungsszene in Buch VIII in il-
62 Buch IV, 16,28 gibt einen Rückblick auf eine schädigende, weil unverstandene Aristoteles–Lektüre. 63 Conf. XII,1,1: „‚Bittet, und ihr werdet empfangen; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an; und es wird euch aufgetan werden; denn jeder, der bittet, empfängt, und der Suchende wird finden, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden.’” 64 Conf. IX, 4,8: „Wie rief ich auf zu Dir mit diesen Psalmen, wie entflammte ich an ihnen für Dich und erglühte vor Verlangen“. Conf. IX,4,11: „Ich las und entbrannte und fand und fand keinen Weg”.
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luminative Lichtmetaphern überführt und photographisch abgelichtet.65 Das geschieht in Buch IX, durch die berühmte Erzählung der Ostia-Vision. Mutter und Sohn sitzen ins Gespräch vertieft am Hafen Tiber-Ostia, Ort der Verschiffung nach Europa. Sie kommen auf die „Wonne des ewigen Lebens” zu sprechen, das sich mit keinem „Entzücken unserer fleischlichen Sinne” vergleichen lasse. In den Augen der gläubigen Mutter spiegelt sich das „Angesicht der Wahrheit”, das über dem „Getön der Rede” sichtbar wird; der Anstieg zur memoria beginnt: „da erhoben wir uns mit heißerer Inbrunst nach dem ‚wesenhaften Sein’; und durchwanderten stufenweise die ganze Körperwelt, auch den Himmel, von dem herab Sonne, Mond und Sterne leuchten über die Erde.” (Conf. IX,10,24) Die Mutter stirbt nach dieser ihren Tod bereits antizipierenden Verabschiedungs-Szene. Die neuplatonische Vor-Schau aber bereitet sich ein paar Seiten vorher schon im Gebet des bekehrten Sohnes vor: „Wie hab ich, mein Gott, zu Dir gerufen […]. Wie rief ich zu Dir mit diesen Psalmen, wie entflammte ich an ihnen für Dich und erglühte vor Verlangen” (Conf. IX,4,8). Die Antwort erfolgt durch ein Zitat von Psalm 4,2: „Da ich Dich anrief, erhörtest Du mich, Gott meiner Gerechtigkeit; in der Drangsaal hast Du Raum mir geschaffen. Erbarme Dich meiner, Herr, und erhöre mein Gebet.” (ebd., Ps. 4,2) Die Zeitlichkeit der rufenden Stimme ist im Zitat in die Räumlichkeit der Vision übersetzt. Was für Lektüre-Modelle mögen Augustinus vorgelegen haben? In seinen Untersuchungen zu antiken Lektüre-Modellen zeigt Jesper Svenbro, daß es schon ab dem 6. Jahrhundert vor Christus Zeugnisse über stille Lektüren gibt. Lautes Lesen hält sich jedoch bis zur Einrichtung klösterlicher Lesesäle im Mittelalter. Das „Griechenland der Anfänge” räumt dem gesprochenen Wort eine unbestrittene Herrschaft ein. In Form des Rufes oder kléos, was grundsätzlich „Laut” bedeutet, verspricht das gesprochene Wort, die dem Text geliehene Stimme mit „Ruhm, Berühmtheit” auszustatten. Einen Ruf zu bekommen – kléos – wird zu regelrechten Obsession epischer Helden und Staatsmänner.66 Eine im stummen Lesen verinnerlichte Stimme übersetzt in die Metapher tönender Buchstaben, die „sprechen”, „schreien”, „singen”: „Das Auge sieht den Ton.”67 In der stillen Lektüre aber wird der Leser zum passiven Zuhörer. Er gleicht einem Zuschauer im Theater: „Das visuell ‚(wieder)erkannte’ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie eine Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich — oder vielmehr: sa-
65 Anselm Haverkamp: “The Memory of Pictures: Roland Barthes and Augustine on Photography”, in: Comparative Literature, Vol. 45/3, 1993, S. 258–279. 66 Jesper Svenbro: „Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens”, in: Roger Chartier/Gugliemo Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens: von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 59–96, hier S. 59. 67 J. Svenbro, Phrasiklea, S. 9.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL gen sich — von selbst. Der ‚stille’ Leser braucht nicht auf der Bühne der Schrift einzugreifen […].“
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Das Theater spielt sich von da an im Buch ab. Augustinus’ Lektüreszenen korrespondieren mit dieser Entwicklung. Zwar gehört der stille Leser noch zur erwähnenswerten Ausnahme: Ambrosius ist eine davon.69 Psalmen dagegen deklamiert der Rhetor allein in seinem Zimmer, um gleich darauf zu bedauern, das seine manichäischen Gegenspieler weder am ausdrucksstarken Mienenspiel teilnehmen noch die kräftige Stimme seines Vortrags hören können. Das laute Lesen verspricht sich wie die Predigt von der Kanzel unmittelbare Machtausübung. Zugleich fordert die Inszenierung einer schweigenden Lesepraxis in den Confessiones zum Hören auf die „innere Lehre” auf. Der Ruf der auctoritas geht nun als verinnerlichter in die scripta conscientia ein. Es wird Zuflucht zu Orakelsprüchen genommen, die in der Bibel stehen und an wahrsagende Opfer oder divinatorische und kindliche Extase erinnern. Dieser Rückgriff auf orakelnde Schrift ließe sich sowohl mit altgriechischen Vorstellungen vom omen als auch mit Stellen aus dem Talmud oder dem Alten Testament belegen.70 Augustinus’ „Rhetorik der Stille”71 versteht es geschickt, den Ruf der divinatorischen Stimme in die performativen Versprechen christlicher Patristik einzubinden und sie für die eigene Berühmtheit in Anspruch zu nehmen. Das aber war bei einem Fachmann der Redekunst ja auch nicht anders zu erwarten gewesen. In einem Katalog von Fragen und Antworten erscheint die Anrufung als verwirrendes Wechselspiel von Ursache und Folge: „Laß mich, Herr, es wissen und erkennen, was denn früher sei: ob Dich anrufen oder Dich preisen; ob Dich kennen oder Dich anrufen früher sei! Aber wer riefe Dich, ohne von Dir zu wissen? Er möchte ja, so Wissens ohne, ein andres für das Rechte rufen. Oder ruft man zu Dir, auf daß man Dich wisse? Aber ‚wie sollen sie ihn anrufen, an den sie nicht glauben? Oder wie sollen sie glauben, wenn keiner ihn verkündigt?’ ‚Und preisen werden den Herrn, die ihn auch nur suchen.’ Denn wer ihn sucht, wird ihn finden, und wer ihn findet, wird ihn preisen. Ich will Dich suchen, Herr, mit meinen Rufen, und ich will Dich rufen, indem ich an Dich glaube; denn verkündet worden bist Du uns. Herr, es ruft Dich mein Glaube, den Du mir gegeben, den Du mir eingegeben hast durch das Menschsein Deines Sohnes, durch das Amt Deines Predigers.” (Conf. I,1,1) 68 J. Svenbro, „Erfindung des stillen Lesens”, S. 84. 69 Zum stillen Lesen in der Antike, vgl. Joseph Balogh: „Voces Paginarum”. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, Leipzig 1927, S. 6. 70 Vgl. Joseph Balogh: „Zu Augustinus Konfessionen. Doppeltes Kledon in der tolle–lege Szene”, in: Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, Berlin 1926, S. 265–270. 71 Vgl. Joseph Mazzeo: „St Augustine’s Rhetoric of Silence”, in: Journal of the history of ideas (JHI), 23, Baltimore 1962, S. 175–196.
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Die Anrufung im Gebet unterscheidet sich von der einer reinen Lobpreisung, weil Beten zunächst vor eine Wahl stellt: „Aber wer riefe Dich, ohne von Dir zu wissen? Er möchte ja, so Wissens ohne, ein andres für das Rechte rufen.” Die getroffene Wahl aber liegt außerhalb des Bekenntnisses und stellt die Frage nach ihrem Autor: Reden von einer anderen Rede her – „nicht in der Sprache, sondern durch eine Sprache, ein fremdes sprachliches Medium”72. Eine wiederholende Formulierung der Beschwörung kündigt ein Rufen an, das noch aussteht: „Ich will Dich suchen, Herr, mit meinen Rufen, und ich will Dich rufen, indem ich an Dich glaube”. Das Gebet der Confessiones ist ein öffentliches, belehrendes. Es macht darauf aufmerksam, daß gebetet wird. Die Drohung eines Scheiterns aber hallt noch in der psalmodischen Anrede „mein Gott” nach.73 Sie steht im Schatten des verzweifelten Rufes nach Gott, mit dem Jesus am Kreuz träumend vorgeführt hatte, daß Gebetsformeln nicht nur rezitiert, sondern zugleich mit Leiden gefüllt werden müssen. Die traumatische Kreisbewegung der aufgeschobenen Erfüllung ruft die tropischen Wendungen, Umdrehungen und Inversionen der Anrufung in Erinnerung. Sie wiederholen Zwang und Lust eines schriftlichen Bekenntnisses, das unter dem Gesetz einer bedingungslosen Freigabe steht.74 Nicht ökonomisch kann die Gabe eines (literarischen) Textes auch nicht mit einer Äquivalenz des Tausches rechnen. Das Sich-Wenden-an-Gott (à Dieu) inszeniert die Uneinholbarkeit eines zukünftigen Moments der Rückgabe bzw. der Vergebung: „Vergeblich, sich im Kreis zu drehen”75. Die angerufene, in den Text hineinrufende Stimme erinnert sich daran, daß sie immer schon re-zitiert ist: „Wie hab ich, mein Gott, zu Dir gerufen […] Wie rief ich zu Dir mit diesen Psalmen […]” (Conf. IX,4,8). Den Vorwurf, die gehörte Stimme habe als körperloser Gewissensruf womöglich kein Gewicht, entkräftigt die Demonstration von der Zeitlichkeit der Stimme. „Denke dir: eine körperliche Stimme hebt an zu ertönen und tönt und tönt, und mit einemmal hört sie auf, und nun ist es still, und die Stimme ist vergangen und es ‚ist’ keine Stimme mehr. Sie war künftig, bevor sie ertönte, und man konnte sie
72 Vgl. Michael Bachtin: „Das Wort im Roman”, in: M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979, S. 203f.. 73 Vgl. André LaCoque: „Mon Dieu, mon Dieu, pourquoi m’as–tu abandonné ?”. In: Paul Ricœur/André LaCoque, Penser la bible, Paris 1998, S. 263. Die Anrede „mein Gott” führt im Psalm zur Frage der Mit–teilbarkeit. 74 Vgl. Jacques Derrida: Donner le temps I: La fausse monnaie, Paris 1991. Vgl. auch J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I , übers. v. Andreas Knop/Michael Wetzel, München 1993, S. 23: „Wenn der andere mir das, was ich ihm gebe, zurückgibt oder es mir schuldet, das heißt mir zurückgeben muß, wird es keine Gabe gegeben haben, ob diese Rückgabe nun unmittelbar erfolgt oder vorprogrammiert ist im komplexen Kalkül eines lang befristeten Aufschubs [différance].” 75 J. Derrida, Circonfession, S. 56/66.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL gar nicht messen, weil sie noch nicht ‚war’; jetzt kann man sie nicht messen, weil sie nicht mehr ‚ist’. Also nur während sie erklang, konnte man sie messen, denn da ‚war’, was gemessen werden konnte […]. War diese Stimme während ihrer Dauer meßbar, so stelle dir nun weiter vor, eine zweite Stimme habe zu erklingen begonnen und klinge noch ohne Unterbrechung fort. Messen wir sie doch, solang sie erklingt, denn wird sie aufgehört haben zu erklingen, wird sie bereits vergangen sein, und es wird nichts mehr da sein, was sich messen ließe” (Conf.XI,27,34).
Die Vision der unermeßlichen, weil verklungenen Stimme ist erst im Moment des Aufhörens, also erst im Bericht über das Geschehene, nachvollziehbar. Diesen Bericht aber liefert der Zeuge, die „zweite Stimme”, eine rhetorisierte, innere Stimme – Figur des Lesens, Prosopopoiia.76 Im folgenden sind nun weitere Modelle des Lesens zu untersuchen. Denn wenn Lesen Zuhören und Schreiben Antworten ist, dann stellen sich weitere Fragen ein. Sie richten sich als nächstes an den Spätmystiker Angelus Silesius und seinen Aufruf, zum „stillschweigenden Gebet” überzugehen: „So geh und werde selbst die Schrifft”.
„So geh und werde selbst die Schrifft ” (Angelus Silesius) Augustinus’ Ruf der Innerlichkeit bindet das Gebet an die Intimität des Bekennenden. In Augustinus’ Confessiones geht die Bewegung nach innen von der Figur der invocatio aus. Die Anrufung befragt sich dialektisch selbst und setzt sich damit einer Negation aus. Anleihen einer Negativen Theologie zeichnen sich ab. Die Rezitation der Silbe in der invocatio übersetzt die Unruhe (inquietum), die durch die Erwartung auf eine Antwort entstehen. Die barocken Epigramme von Angelus Silesius gehen noch einen Schritt weiter. Wie in der Antike steht im 17. Jahrhundert die Anwendung rhetorischer Figuren im Vordergrund. Silesius hat die Lektion eines sich zurückziehenden Gottes (deus absconditus) durch seine religiösen Vorgänger gelernt. Die mystische Schrift besinnt sich nun zusehends auf sich selbst. Sie appelliert an den Rückzug in die Stille. Im Barock sind rhetorische Regeln (die ars dictandi) einer natürlichen Begabung (ingenium) übergeordnet. Die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks (aptum) fordert die Berücksichtigung 76 Vgl. B. Menke, Prosopopoiia, S. 8: „Prosopopoiia ist die rhetorische Figur, durch die dem Text ein sprechendes Gesicht gegeben, vor und hinter den Buchstaben ein Gesicht voraus–gesetzt wird, durch das dieser (sich transparent machend) gesprochen werde.”
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des Publikums und der jeweiligen Redesituation. Im Cherubinischen Wandersmann (1675) zielen die Epigramme auf eine Leserschaft, die sich einer missionarischen Bewegung der Schrift nicht verschließt, sondern anschließt. „So geh und werde selbst die Schrifft”77 lautet die Aufforderung zur Nachfolge. Schon in Augustinus’ tolle, lege Szene befahl der göttliche Ruf nichts anderes als die Bibel aufzuschlagen und zu lesen. In der barocken Imitiatio literarischer Vorbilder und Muster ist diese invocatio in Anlehnung an die Heilige Schrift überholt, weil vorausgesetzt. Paradoxerweise fordern mystische Texte dazu auf, es ihrem Schweigen über sich selbst gleichzutun. Keine emphatischen Momente einer sich selbst befragenden, ‚laut’ mit sich selbst redenden conversio sind mehr zu hören. Stattdessen übertreffen sich nun scharfsinnige Spekulationen in antithetischen Behauptungen wie „Das ueberunmoeglichste ist moeglich.” (W VI,263). Silesius’ barocke Spätmystik ist ein Paradebeispiel für mystische „Gelassenheit” und „pure Performanz”78. Das mag erklären, warum Augustinus und Silesius zu Referenzen für moderne Denker wie Heidegger und Derrida geworden sind. Das Schweigen der Mystik antwortet auf rhetorische und theologische Herausforderungen, denen sich auch die Philosophie stellt. Wie kommt es zu dieser sich im Laufe der Jahrhunderte immer schärfer konturierenden „Verwerfung des Rezitativs”, die Walter Benjamin noch in Nietzsches Kritik an Wagners Gesamtkunstwerk konstatiert?79 Findet in der spätbarocken Mystik ein Wandel statt? Bereitet dieser Wandel eine Verwerfung des Anrufs vor, wie das Beispiel Hölderlin später nahelegen wird? Wie lassen sich die Struktur des individuellen Begehrens und das Diktat einer allegorischen Schriftauslegung miteinander verbinden? Ist der Appell an die Stille auch eine Reaktion auf ein verändertes, in sich zurückgezogenes Leseverhalten? Von der „christlichen Begegnungsmystik” wird behauptet, sie bestünde „immer im Bezug, im Angesprochensein, im Von-sich-Wegblicken”80. Damit ist eine erste Antwort auf die Frage gegeben, warum die Figur der Anrufung hier trotz allem noch von Bedeutung ist. Die verschwiegene Intimität des stumm gewordenen Rufes verspricht sich ein „admirabile commer-
77 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann (Erstausgabe 1657, Zweitauflage mit erweitertem Titel 1675), Stuttgart 1995, Sechstes Buch, Epigramm 263, künftig im laufenden Text zitiert als W VI,263. 78 Vgl. Niklaus Largier: „Jenseits des Begehrens – Diesseits der Schrift. Zur Topologie mystischer Erfahrung”, in: Paragrana, 7, 1998, S. 107–121. 79 Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels”, in: W. Benjamin Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.) Frankfurt a. M. 1972–1986, Bd. I,1, S. 386. 80 Josef Sudbrack: „Christliche Begegnungsmystik. Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, Ignatius von Loyola und Martin Luther”, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrung von Meister Eckhart bis Paul Celan (1987), Frankfurt a. M. 1989, S. 141–159, hier S. 145.
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cium”81 mit Gott: „Der gute Tausch. Mensch! gibstu GOtt dein Hertz/ Er gibt dir seines wider:/ Ach welch ein wehrter Tausch! du steigest auf, Er nieder.” (W II,41) Von seinem Gipfel steigt der Mystiker dank der Sprache herab. Der Weg ins Übernatürliche nimmt in der Deutung von Sprachfiguren seinen Ausgang. Wie George Steiner bemerkt, sprechen noch auffallend viele Titel des Heideggerschen Werkes von der einsamen Gipfelwanderung der Sprachmystik: Holzwege, Wegmarken, Unterwegs zur Sprache, Der Feldweg.82 „Alles liegt am Weg. Dies meint zweierlei. Einmal, daß alles auf den Weg ankommt, darauf, ihn zu finden und auf ihm zu bleiben. Dies besagt, das ‚unterwegs’ auszuhalten. […] Alles liegt am Weg sagt zum anderen: Alles, was zu erblicken ist, zeigt sich je nur unterwegs am Weg. Das zu Erblickende liegt am Weg.”
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Die unermüdliche Beschreibung des beschwerlichen Weges mahnt an Kontemplation, Askese, Verzicht und Innerlichkeit. Eine affektiv aufgeladene Sprache wartet auf ein Signal, um sich als Botschaft, Enthüllung oder Appell adressieren zu können.84 Am Ort der Schrift selbst korrespondiert mystische Sprache mit ihrer Passion, ihrem sie antreibenden Begehren. Silesius’ Geist-reichen Sinn- und Schluß-Reime zur göttlichen Beschaulichkeit anleitend, wie es im Untertitel heißt, stellen alles andere als eine Predigt oder Hymne dar. Poetische Übersetzung aus lateinischer Hymnik, Versatzstücke evangelischer Kirchenlieder, Kontrafakturen und Parodien weltlicher Schäferpoesie, aber auch traditionsbeladene Bildmetaphorik erbaulicher Literatur sind in der zumindest teilweise zur gleichen Zeit entstandenen Liedersammlung Heilige Seelen-Lust Oder Geistreiche Hirten-Lieder Der jhren JESUM verliebten Psyche (Erstausgabe 1657) verarbeitet. Parallel zu den „stark cherubinischen, vorwiegend den Verstand beanspruchenden Sinn- und Schlußreimen” des Cherubinischen Wandersmannes legt der Dichter und Arzt Johann Scheffler unter dem Pseudonym Angelus Silesius auch die Heilige Seelen-Lust vor, „ein gefühlsintensives seraphisches Gegenstück”85. Zu-
81 Alois Haas: „Jesus Christus – Inbegriff des Heils und verwirklichte Transzendenz im Geist der deutschen Mystik”, in: G. Oberhammer (Hg.), Epiphanie des Heils. Zur Heilsgegenwart in indischer und christlicher Religion, Wien 1982, S. 193–216. 82 George Steiner: Martin Heidegger. Eine Einführung, München/Wien 1989, S. 171. 83 Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Stuttgart 1997, S. 106. Zur „Mystik ohne Gott” vgl. John D. Caputo: The Mystical Element in Heidegger’s Thought, Ohio 1978 und Jacques Colette: „Mystique et philosophie”. In: Revue des Sciences philosophiques et théologiques, 70, 1986, S. 329–348. 84 Vgl. Michael Hulin: La mystique sauvage, Paris 1993. 85 Louise Gnädinger: „Rosenwunden”. In: M. Bircher/A. M. Haas (Hg.), Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller, Bern 1973,
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sammen mit dem Cherubinischen Wandersmann will er so beiden Facetten – der seraphinisch-hitzigen und der cherubinisch-lichtmetaphysischen – gerecht werden.86 „Gluekselig magstu dich schaetzen/ wann du dich beyde laessest einnehmen/ und noch bey Leibes Leben bald wie ein Seraphin von himmlischer Liebe brennest/ bald wie ein Cherubin mit unverwandten augen Gott anschawest” (W, 13)
So die ErinnerungsVorrede an den Leser im Cherubinischen Wandersmann. Im Unterschied zu vorausgehenden mystischen Schriften steht der Wandersmann schon im Zeichen einer Vergeblichkeit und an der Schwelle zur Moderne. Der Ruf, der sich an Gott richtet, verhallt ins Leere, ist auf sich selbst zurückgeworfen.87 Noch inspiriert von Gebet und Gesang (die affektive Jesusminne), zeichnet sich doch schon eine neue Form des „stillschweigenden Gebets” ab: „Das stillschweigende Gebeth. Gott ist so ueberalls daß man nichts sprechen kan: Drumb bettestu Jhn auch mit schweigen besser an.” (W I,240)
Dieses Gebet hat zu schweigen und sich aller zweckgerichteten Bitten zu entledigen: „Die gaben sind nicht GOtt. Wer GOtt umb gaben Bitt/ der ist gar uebel dran: Er bettet das Geschoepff/ und nicht den Schoepffer an.” (W I, 174)
Damit verspricht es nicht nur Die geheimste Gelassenheit (W II,240), sondern auch
S. 97–133, hier S. 100. Vgl. auch Bernard Gorceix: Flambée et agonie: mystiques du XVII siècle allemand, Sisteron 1977, S. 233–275, hier S. 244. 86 Cherub – aus dem Alten Testament: Engel, Paradieswächter [hebr. ‚geflügeltes Wundertier mit menschlichem Anlitz’. Seraph – Gott anbetend umschwebender, sechsflügeliger Engel [zu grch. serapheim und hebr. seraphim ‚Läuternde’; zu saraph ‚verbrennen’]. Vgl. Pseudo Aeropagita–Dionysius, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie, Günther Heil (Hg.), Stuttgart 1986, VII, 205,8: „Denn die Benennung Seraphim gibt uns Aufschluß über ihre nie unterbrochene, ewige Bewegung um alles göttliche Wesen, die hitzige, rasche, überkochende Natur der unverwandten, nie erlahmenden, nie abgelenkten Bewegung… Der Name Cherubim bezeichnet die Fähigkeit, Gott zu schauen, die Lichtausstrahlung höchster Art aufzunehmen und in erstmals wirksam gewordener Kraft die Harmonie des Gottesprinzips zu schauen, die Erfülltheit mit der wissend machenden Mitteilung und die Bereitschaft, im Überfließen des geschenkten Wissens vorbehaltlos den Nachstehenden davon abzugeben.” 87 Vgl. B. Gorceix, Flambée, S. 274.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „dem Leser eine auffmunterung seyn/ den in sich verborgenen GOtt/ und dessen heilige Weißheit selbst zusuchen/ und sein Angesichte mit eignen Augen zubeschawen.” (W, S. 23).
Weil sich das stillschweigende Gebet jede direkte Adressierung verbittet, äußert es sich „im zugespitzten, uneinholbaren Sinn eröffnenden Paradox”88. Es entwickelt keine vokativen invocatio-Figuren mehr, die das göttliche Du dem Ich vorausgehen lassen. Stattdessen spricht die entpersonalisierte Sentenz wie im psychoanalytischen Diskurs über das, „was seine Wahrheit, ihre Integration, ihre Geschichte ist. Aber es gibt Löcher in dieser Geschichte, da, wo sich das hergestellt hat, was verworfen* oder verdrängt* worden ist.”89 Das Mysterium des Mystikers beginnt mit einer ostentativen Auslassung der Anrufung. Ein Realitätsschock hat stattgefunden. Er konfrontiert damit, daß Sprache dem Existierenden vorausgeht und daß ein Text nicht mehr an eine (vorlesende) Stimme gebunden ist. Schrift wird zitiert und adressiert, sie wirft sich das Gewand des Wandersmannes über: Unterwegs zur Sprache. Indem mystische Schrift die Frage ihres eigenen Sprechakts aufwirft, gibt sie sich „als Ort purer Performanz” zu erkennen. Wie andere ‚gläubige’ Texte auch muß sie jedoch imperativ zur Allegorese auffordern. Auf dieses Paradox gibt die Negative Theologie folgende Antwort: „Der Gedanke, daß bildhafte Darstellung von höherem Wesen einer Allegorese bedarf, d.h. einer Darstellung, die etwas anderes meint, als sie sagt, und deren wahrer Sinn aus einer nichtwörtlichen, sondern symbolischen Auffassung des Textes zu erheben ist, beginnt mit der Homerallegorese und geht über Philon von Alexandrien in die christliche Bibelinterpretation ein.”90
In einer heilsgeschichtlichen Spannung, die von Erwartung geprägt ist, mahnt der Ruf Gottes eine „nichtwörtliche Auffassung” an. Die theologische Deutung der Mystik muß daher betonen, daß eine „volle Zustimmung des Glaubens” benötigt wird. Denn der Glaube geht nun nicht mehr „aus der Schau des Glaubens hervor […], sondern aus der Schau dessen, dem geglaubt wird”.91 Der Mystiker ist das Medium, das sich aus nichts anderem begründet als aus sich selbst. Aus einem Jenseits spricht er ‚direkt’ ins Ohr seines Lesers. Und so richtet sich die Vorrede des Cherubinischen Wandersmanns
88 L. Gnädinger, „Rosenwunden”, S. 118. 89 Jacques Lacan: Freuds technische Schriften. Das Seminar Buch I, Jacques–Alain Miller (Hg.), Weinheim/Berlin 1990, S. 355. Die Sternchen* markieren deutsche Wörter im französischen Text. 90 Pseudo–Dionysius, Himmlische Hierarchie, Anm. H.II,6. 91 Haas, „Jesus Christus – Inbegriff des Heils und verwirklichte Transzendenz im Geist der deutschen Mystik”, S. 34.
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zwar an die Leser, „aux frères lecteurs”,92 „Derohalben soltu GOttes Sohn oder Tochter seyn/ […]”, aber sie fügt auch wieder einschränkend hinzu: „[…] so mustu auch eben das Wesen haben/ welches der Sohn GOttes hat / sonsten kanstu GOTTES Sohn nicht seyn.” (W, 17) Verneinungspartikel verhindern eine Identifizierung mit der göttlichen Adresse: „Der unerkandte GOtt. Was GOtt ist weiß man nicht: Er ist nicht Licht/ nicht Geist/ Nicht Wonnigkeit/ nicht Eins/ nicht was man Gottheit heist: Nicht Weißheit/ nicht Verstand/ nicht Liebe/ Wille/ Guette: Kein Ding/ kein Unding auch/ kein Wesen/ keine Gemuette: Er ist was ich/ und du/ und keine Creatur/ Eh wir geworden sind was Er ist/ nie erfuhr.” (W IV,21)
Daß der Wandersmann Ergebnis eines göttlichen Diktats ist, bezeugt das Engel-Thema, Imitatio und Überstieg in einem: „Fragstu was Menschheit sey? Jch sage dir bereit: Es ist/ mit einem Wort/ die ueber Engelheit.” (W II,44)
Nichts fügt sich in dieser hyperbolischen Engel-Imitatio ‚glatt’ ineinander. Im Gegenteil geht es gerade darum, „die disparatesten Geisteshaltungen” zusammenzutragen.93 Die negierte Gottes-Adresse trägt die apophatischen Züge von Schriften wie Über die Mystische Theologie und Über die himmlische Hierarchie aus. Sie wurden einem unbekannten syrischen Autor aus dem 5. Jahrhundert zugeschrieben,94 welcher sie wahrscheinlich unter dem Namen Pseudo-Dionysius Aeropagita herausgegeben hatte.95 Dank der Übersetzung durch Johannes Scotus im 9. Jahrhundert waren sie nicht nur in Schefflers Umkreis wohlbekannt. Die Verschränkung von neuplatonischer Lichtmetaphysik und christlicher Negativer Theologie geben hier das Paradox auf, sich zwischen intimer Leser-Adresse und universaler Heilsökonomie einen Parcours zu bahnen und die Rhetorik nicht zum Risikofaktor der
92 Jacques Derrida: Sauf le nom, Paris 1993, S. 25. Vgl. auch J. Derrida: Über den Namen. Drei Essays, übers. v. Hans–Dieter Gondek, Markus Sedlacezek, Wien 2000, S. 70. 93 Vgl. Louise Gnädinger: „Die spekulative Mystik im Cherubinischen Wandersmann I u.II, in: Studi Germanici, 4, 1966, S. 29–39, 145–190, S. 145ff. und S. 155f.. 94 Vgl. M. de Certeau, Fable, S. 140. 95 Vgl. Pseudo–Dionysius Aeropagita: Über die Mystische Theologie und Briefe, übers. v. Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994. Und Pseudo–Dionysius, himmlische Hierarchie.
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Theologie werden zu lassen. Seit dem Mittelalter definiert sich der „kontemplative Diskurs” ganz neu, so Michel de Certeau: „A cet égard, la mystique, c’est le cheval de Troie de la rhétorique dans la cité de la science théologique.”96 Scheffler begegnet dieser rhetorischen Herausforderung, indem er Buch und Autorennamen mit neuen, engelsgleichen Titel versieht: ein Anruf im Namen. Johann Scheffler ist in Schlesien geboren, er nennt seinen Wandersmann cherubinisch, engelsgleich oder engelshaft. Als Pseudonym für sein Konversionsbuch wählt er den Namen Angelus Silesius, „schlesischer Engelsbote”. Er stellt sich damit in die Tradition von Ps.-Dionysius, für den Engel Aussprecher des göttlichen Schweigens sind.97 Mit der Widmung an den Paulus-Jünger – pros Timotheus – erinnert Ps.-Dionysius ausdrücklich an die biblische Initiation des Aeropags, in der biblischen Bekehrungsszene exemplarisch aus der Schar der Auserwählten herausgegriffen.98 Auch das Pseudonym Silesius und die Rolle des cherubinischen Wandersmannes sind zugleich Ergebnis und Botschaft einer Bekehrung. Bei seiner öffentlichen Abwendung vom Protestantismus und Konversion zur katholischen Kirche, die 1653 viel Staub aufwirbelte, nimmt Scheffler den Firmnamen Angelus wie zur eigenen Ermahnung an. Gründe für die Umbenennung könnte die Angst vor Zensur oder der Schutz der eigenen Person sein. Mit Angelus bezieht sich Scheffler auf seinen biblischen Vornamen, denn dem Täufer Johannes wurde eine vita angelica nachgesagt.99 Auch der heimatgebundene Beiname Schlesier ist programmatisch gemeint. In Schlesien beginnt ein Jahr später die Gegenreformation, an deren Spitze Silesius steht. Mit seinem
96 Michel de Certeau: La fable mystique, 1. XVIe – XVIIe siècle, Bd. 1, Paris 1987, S. 158: „Die Mystik ist in dieser Hinsicht für den Stadtstaat der Theologie das Trojanische Pferd der Rhetorik.” 97 Vgl. Pseudo–Dionysius, himmlische Hierarchie, SXV,340,1: „…weil wir dem Geheimnis, das zu hoch für uns ist, durch Schweigen die Ehre lassen wollen.” und W II,32: „Schweigen uebertrifft der Engel gethoene. Die Engel singen schoen: Jch weiß daß dein Gesinge/ So du nur gaentzlich Schwiegst/ dem hoechsten besser klinge.” Vgl. auch H. Böhme/G. Böhme, Das Andere der Vernunft, „Kant und Swedenborg oder der Ursprung der kritischen Philosophie” und „Die Sprache der Engel”. Entpuppt sich hier ein verheimlichter Zwillingsbruder des Rationalismus (Kants), eine Nostalgie gegenüber der idealen Auslegung der heiligen Schrift, wie auch im Falle des „Geistersehers” Emmanuel Swedenborg (1688–1772)? 98 Neben den o.g. Schriften findet sich die Timotheus–Widmung auch in Pseudo–Dionysius Aeropagita, Die Namen Gottes, Bettina Suchla (Hg.), Stuttgart 1994. 99 Vgl. L. Gnädinger, „spekulative Mystik”, S.146. Und Mk.1, 2–4: Johannes der Täufer […]: „Es begann, wie es bei dem Propheten Jesaja steht: ‚Ich sende meinen Boten vor dir her, er soll den Weg für dich bahnen. Eine Stimme ruft in der Wüste:/ Bereitet dem Herrn den Weg!/ Ebnet ihm die Straßen!” Zur politischen Botschaft des Messianismus, die der Name Johannes der Täufer ausgelöst hat, vgl. auch Otto Wimmer: Lexikon der Namen und Heiligen, Innsbruck et al. 1982, S. 445–448.
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Pseudonym ist Scheffler offenbar so stark identifiziert worden, daß ein Zeitgenosse seine Grabrede mit dem Titel Engel-Art versieht. Als unerschrockener „Engel und Gottesboth” erfüllt Silesius posthum seinen realprophetischen Auftrag: „In der ersten Wallfahrt gen Trebnitz ist er vorgegangen nicht als Privatclericus und minderer Priester, auch nicht wie ein schwacher Mensch, der sich eines Unglücks in der Kühnheit hette zu befahren, sondern als ein Engel und Gottesboth, mit einer brennenden Fackel in der Lincken, mit einem Crucifix in der Rechten, mit einer dörnern Cron auff dem Haupt, mit einem seraphischen Eyfer und resolution im Hertzen.”.
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Wie verbindet sich diese Stilisierung zur Botenfigur („schlesischer Engelsbote”) mit der Aufforderung zur Nach-Schrift? Mit einer ungewöhnlichen Widmung, einer „Zueschrifft” an den göttlichen Verfasser, beginnt der Cherubinische Wandersmann. Statt wie sonst im 17. Jahrhundert üblich Titularien mit namhaften, übergeordneten Persönlichkeiten aus Adelsstand oder Klerus, die jeweiligen ‚Gönner’ der Drucklegung, zu nennen,101 wendet sich die „Zueschrifft” direkt „Der ewigen Weißheit GOtte” zu. Unter dem Namen des angelischen Täufers (Johannes Angelus) signiert hier ein „allzeit sterbender” Autor die „Geist-reichen Sinn- und Schlußreime”, welche auch Grabschriften102 und Heiligenporträts103 enthalten. In Berufung auf bekannte Themen wie unio mystica, Gottesgeburt in der Seele, und deificatio, Vergottung, stehen die Sprüche als „aus dem großen Meere gnädiglich hergeronnenen Tröpflein” für eine contemplatio aus „dem unerschöpflichen Brunn und ursprünglichen Quelle aller Weisheit” ein. An Epitheta als Hinweis auf die verborgene Lichtmetaphysik fehlt es nicht: „Der Ewigen Weißheit […] Dem Spiegel ohne makel […] Dem Lichte welches alle Menschen erleuchtet […] Dem unerschoepfflichen Brunn […] Qualle aller Weißheit”.
100 Zitiert in Carl Seltmann: Angelus Silesius und seine Mystik, Breslau 1896, S. 24. 101 Vgl. den Hinweis von Gnädinger, „Anmerkungen”, W, S. 317. 102 Über die Distanzierung Schefflers vom barocken Trauerpomp und die Transposition von ‚Grab und Grabschrift’ in einen metaphysischen, religiösen Bereich, vgl. L. Gnädinger, Nachwort, S. 382. 103 Vgl. vor allem W III,189 Johannes an der Brust, W IV, 43 Der Jünger, den Gott liebt und W V,161 Niemand liegt an der Brust Christi als Johannes. Vgl. weiter W III,62 Von S.Laurentius, 63 An die Hl.Clara, 64 A n S.Augustin, 65 Von Maria Magdalena, 67 An Sanct Bernard, 73 Von S.Bartholomé, 154 Vom S. Ignatius und IV,15 Uberschrifft der Heyligen Agatha, 22 An S.Augustin, 86 S.Paulus, 93 Von Johannes dem Taeffer, 99 Von S.Alexio, 112 Von den Hertzen der heiligen Clara de Montefalco, 123 Von der H.Martha an den Polypragmon.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Sich in Verneinungen überbietend, kehrt die „Zueschrifft” zum Rahmen der einleitenden Apostrophe zurück. „Weißheit” (Cherubim gilt als ‚Ergießer der Weisheit’) öffnet und schließt den Kreis der „Zueschrifft”. Die ErinnerungsVorrede an den Leser setzt daraufhin mit einer „Antragung” des Cherubinischen Wandersmannes ein, die in Gebeten und Ausrufen seraphinische Verzückung zum Ausdruck bringen.104 Im merkwürdigen Gegensatz zu den ausgeklügelten Spitzfindigkeiten der kühlen Epigramme stehend, wird hier im Vorfeld Ewigkeit vor dem Tod versprochen, allerdings unter der Bedingung einer Annahme der Berufung, denn sonst könne man „wegen der kurtzen Verfassung” den „folgende[n] Reimen”, die „vil seltsame paradoxa oder widersinnische Reden […] in sich halten […] leicht einen Verdamlichen Sinn oder boese Meinung […] andichten” (W, S.13). Die Wanderung der Namen wird auf kleinstem Schrift-Raum eines jeden Epigramms inszeniert. Eine Ausfaltung des Minimalen beherrscht das „Spiel mit Größenordnungen” und mit dem Wunder der Einbildungskraft (imaginatio). In der Tradition einer rhetorischen Figur, die im Barock neben Scharfsinn, Erinnerung und Gemüt groß geschrieben ist, zieht sich eine „mystische Linie von den neuplatonischen Denkern zu Paracelsus und [Jakob] Böhme”105, in der auch Scheffler steht, wenn er als höchste Stufe der kontemplativen Wahrheitsfindung ein paradoxes, in der Negation unbestimmt bleibendes Ins-Licht-Sehen nennt: „Gott ausser Creatur. Geh hin / wo du nicht kanst: sih/ wo du sihest nicht: Hoer wo nichts schallt und klingt/ so bistu wo Gott spricht.” (W I,199)
Während der Ruf ins lautmalerische Schrift-Bild eingegangen ist, erscheint die Vision in der Blendung eines Nicht-Sehens und in einer merkwürdig doppeldeutigen Negation. Ein Abgrund ruft den anderen. Die Perspektive des Wahnsinns ist eröffnet. Augustinus’ Ruf ins Innerste des Inneren geht über in ein Entsetzen über den unaufhaltsamen Sturz und die Bodenlosigkeit einer Selbstermächtigung, die in sich selbst keinen Mittelpunkt findet.106 „Ein Abgrund rufft dem anderen. Der Abgrund meines Geistes rufft immer mit Geschrey/
104 Vgl. W, S. 21: „O mein Gott: Wann ich nicht glaubte, daß du wahrhafftig waerest/ so koente ich nicht glauben, daß zwischen mir und dir/ als der unvergleichlichen Majestaet solche Gemeinschaft jemahls moeglich waere…” 105 Günther C. Rimbach: „Das Epigramm und die Barockpoetik”, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 14, 1970, S. 100–131, hier S. 122f.. 106 Vgl. Hendrik Birus: „‚Ich bin, der ich bin’. Über die Echos eines Namens (Ex.3,13–15)”, in: Stéphane Mosès/Albrecht Schöne (Hg.), Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch–israelisches Symposion, Frankfurt a. M. 1986, S. 25–53, hier S. 27.
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SAKRALE ANRUFUNGEN Den Abgrund GOttes an: Sag welcher tieffer sey?” (W I,68).
Im Cherubinischen Wandersmann wird dem Leser imperativisch und ein eigenes, sich selbst befragendes Bekenntnis abverlangt: „Sag welcher tieffer sey?” Im Nachvollzug der Apophase107 soll er das „ueberunmoeglichste […] moeglich” (W VI,153) werden lassen. In einem der ersten Epigramme Schefflers heißt es: „Man weiß nicht was man ist. Ich weiß nicht was ich bin/ Jch bin nicht was ich weiß: Ein Ding und nit ein ding: Ein stuepffchin und ein kreiß.” (W I,5)
„Ich bin nicht was ich weiß” - indem sich ein schreibendes ‚Ich’ zugleich im Nichtsein und Nichtwissen, als Ding und Nicht-Ding, Stüpfchen (das ist der Einstichpunkt der Zirkelspitze) und Kreis verortet, verleiht es dem Gedanken einer unio mystica, der Auswechselbarkeit von Mitte und Umkreis, rhetorische Gestalt.108 Das Bekenntnis kann sich nicht als kriminologisch ausweisbares Wissen über sich selbst konfirmieren, sondern es bewegt sich zwischen seinen affirmativen und negativen Aussagen. Will man in den „sich bewegenden Bilder[n]” des Wandersmannes, in ihrem „beständigen, ruhelosen Vorwärtsschreiten” eine „anfängliche Intention” erkennen, so läßt sich zwar feststellen, „daß der cherubinische Wandersmann nirgends in häretisches Fahrwasser gerät”109. Doch die Schefflersche „Spiegelmystik” wird damit unterschätzt. Der „Trugspiegelakt” ähnelt vielmehr dem Ende einer Analyse und das heißt der „Erfahrung an der Grenze zur Depersonalisierung. So fällt der Zufall weg”.110 Aus psychoanalytischer Sicht erscheinen die imperativ auffordernden Epigramme wie vereinzelte Postskripta.111 Sie sind 107 Zum Begriff der Apophase im Gegensatz zur Kataphase, vgl. die Anmerkungen von Heil in: Pseudo–Dionysius, himmlische Hierarchie, S. 75: „Dies entspricht den drei Methoden der Theologie: kataphatisch, apophatisch und symbolisch… Die beiden ersteren Methoden sind Reflexe der dialektischen Beziehung von Teilhabe […] und Trennung […], die zwischen ontologisch Höherrangigem und Tieferstehendem, besonders zwischen Gott und der Welt besteht, Gott aufgefaßt als das ‚Eine’, das die Welt im Innersten zusammenhält.” Vgl. auch Josef Hochstaffl: Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffes, München 1976, S. 122f.: „Aus der Gesamtschrift Über die mystische Theologie ist dann zu entnehmen, daß apophatische Theologie auch mystagogischen Sinn hat.” Der ‚Mystagoge’ ist der antike Weihepriester, der in die Mysterien einführt. 108 Vgl. Horst Althaus: Johann Schefflers „Cherubinischer Wandersmann”. Mystik und Dichtung, Gießen 1965, S. 28. 109 L. Gnädinger, „Spekulative Mystik”, S. 156f.. 110 Vgl. J. Lacan, Freuds technische Schriften, S. 293–294. Lacan war durch Michael Balint auf Silesius aufmerksam gemacht worden. Vgl. auch Jutta Prasse: „Angelus Silesius oder die Löcher in der Geschichte”, in: J. Prasse/C.–D, Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche, Freiburg/Breisgau 1994, S. 57–60. 111 Vgl. J. Derrida, Sauf le nom, S. 51; J. Derrida, Über den Namen, S. 83: „Angelus Silesius besaß ein eigenes Genie, doch er wiederholte bereits: er
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
sich selbst engelhaft – in der Figur des Boten, aber auch des Überbotenen, Wandernden der Schrift – auf den Weg gegeben.112 Sie wollen bezeugen, daß sie von fremder Hand geschrieben sind und daß sie auf das Zeugnis ihres still lesenden Nachfolgers warten. In der letzten Schrift Schefflers Köstliche Perlene zue vollkommener ausschmückung der Brautt Christi heißt es in der Vorrede: „das lebendige Buch, in welchem das innere wahre geistliche Leben mit Gott, durch dessen Finger den h.Geist eingeschrieben steht, […] abgebildet und wesentlich zugegen sey”113. Die Aufforderung, „Schrifft […] und Wesen [zu] werden”, ist als eine literale ins Buch eingebunden, dem „Lebens-Buch” (W II,20), „Buch des Gewissens” (W II,36), „Schöpfer im Geschöpfe” (W V,86), als letztes, „beste[s] Buch” (W V,87), „Buch des Lebens”, was „dir selbst eingeschrieben seyn [muß]” (W V,106). Sie ist nicht bloß „Buchmetapher”114, sondern führt die Schrift als Vollzug ihrer selbst, „als Ort purer Performanz”, vor. Ein solch abgründiger Ort, an dem es kein Halten gibt, sendet zum Wort selbst. „Der Ort ist das Wort. Der ort und’s Wort ist Eins/und waere nicht der ort/ (Bey Ewger Ewigkeit!) es waere nicht das Wort.” (W I,205)
Der Parechese, Zusammenstellung von lautlich fast identisch klingenden Vokabeln gebührt Aufmerksamkeit.115 Die über das Ohr ein- bzw. zufallende Redefigur führt die sprachliche Lautverwandtschaft einer neuen teleologischen Bedeutung zu. Augustinus’ Anrufung des interior intimo meo löst hier der buchstäbliche Anruf des (W)Ortes ab. Keine memoria reicht mehr aus, um an die Krypta eines inneren Gerichtshofes vorzudringen. Der „Ort” ist nun im „Wort” aufgehoben. In diesem doppelten Sinne des Bewahrens und Negierens zeigt es sich verbergend als „ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen”116. Silesius erinnert an die hebräische Bedeutung des Ortes als einer der Namen Gottes, und daran, daß das Buch nichts anderes als der Ort des Wortes ist: „waere nicht der ort […] es waere nicht das führte fort, importierte, transportierte. Er übertrug oder übersetzte in jeglichem Sinne dieses Wortes, weil er bereits nach–schrieb (post–écrivait).” 112 Vgl. auch M. de Certeau, fable, S. 410. 113 Joh.Angeli Silesij Köstliche Perlen zue vollkommener ausschmückung der Brautt (1676), Schefflers letzte Arbeit, zitiert in: L. Gnädinger, spekulative Mystik, S. 57. 114 Gnädinger, spekulative Mystik, S. 57. 115 Vgl. dagegen Jean Baruzi: Création religieuse et pensée contemplative, Paris 1951 und Paul Mahn: Mystik des Angelus Silesius, Paderborn 1892, die Schefflers Epigramm in die patristische Tradition des Johannesevangeliums stellen. 116 Jacques Derrida: “Fors, Vorwort”. In: Nicolas Abraham/Maria Törok, Le Verbier de l’Homme aux loups, Paris 1987, S. 8–73. Vgl. auch J. Derrida: ‚Fors’. Die Winkelwörter”. In: Nicolas Abraham/Maria Torok, Kryptonomie. Das Verbarium des Wolfsmannes, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979, S. 10.
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Wort”.117 Der mit dem Satz „Im Anfang war das Wort” (Joh.1,1) einsetzende Prolog wird im Epigramm Der Ort ist das Wort noch einmal zitiert und übersetzt als Ant-wort, Wort vor dem Wort.118 Scheffler, über Jakob Böhme hebräische Etymologien aufnehmend, verbindet barocke Trauerrede mit kabbalistischen Wortauslegungen. Die ErinnerungsVorrede betont, daß „deß Buecherschreibens ohne diß keine maß” sei und „anjetzo fast mehr geschrieben als gelesen” werde. Die eingegebene Engelsprache des Cherubinischen Wandersmannes, von dem das erste Buch allein in vier Tagen entstanden sein soll, appelliert an die Nachwelt: „Der leser aber daenke weiter nach […]” (W, 23). Woher aber schöpft Scheffler seine dichterische Idee der engelhaften Eingebung? Anstelle einer Kunst zu reden (ars dicendi) tritt im 17. Jahrhundert eine Kunst zu schreiben. Die ars dictandi, auch Kunst der Komposition oder Briefkunst genannt, definiert verschiedene Modi wie Empfänger, Umstand und behandeltes Thema zum idealen Korpus.119 Das Wort „Diktat” kommt aus dem lateinischen dictare, dictitare (legere) und scribere. Dictare bezieht sich auf das, was man als Ursprung des Textes wahrnimmt, das Substantiv dictamen bezeichnet die Kunst der Komposition und hat den Dictator hervorgebracht.120 Der Arzt und Naturforscher Paracelsus kann im 16. Jahrhundert noch von einer der „friedvollsten Metaphern Gottes: der Schöpfer als Autor”121 ausgehen, wenn er sich darauf beruft, daß „Gott in allen Dingen der oberste Skribent [bleibt], der erste, der höchste, und unser aller Text.”122 Die Kunst der Schrift zu reden, drängt „das ins Sein rufende Wort […] dem Seienden auf”123. Schefflers Appell an die Stille trägt sich dem Freund als „gefehrten” (W, 13) auf: „Nur GOtt sey dein warumb. Nicht du/ noch Freund/ noch Feind” (W III,174).
117 Vgl. auch Jabès, Die Schrift in der Wüste, S. 106. 118 Vgl. Eveline Goodman–Thau: „‚Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr’. Edmond Jabès im Schiffbruch des Buches”. In: Eveline Goodman–Thau/Michael Daxner (Hg.), Bruch und Kontinuität, Berlin 1995, S. 177–204, hier S. 194: „Die Frage wird immer wieder mit einer Antwort befragt, die die Frage als Ant–wort (Wort vor dem Wort) in sich trägt. In der Kontinuität des Textes zerstören sich Satz und Gegensatz.” 119 Vgl. de Certeau, fable, S. 166ff.. 120 Vgl. Paul Zumthor: La lettre et la voix. De la „littérature” médiévale, Paris 1987, S. 112. 121 H. Böhme, Natur, S. 53. 122 Theophrastus Paracelsus: Werke in 5 Bänden, W.–E. Peuckert (Hg.), Bd.II, Darmstadt 1965, S. 479, zitiert in: H. Böhme, Natur, S. 53. 123 H. Böhme, Natur, S. 24. Die paracelsische Tradition geht vom Anfang des Johannes–Evangelium aus, in der die Dinge wortförmig sind und als Engramme, Gravuren und Chiffre Gottes gelesen werden wollen.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Beschluß. Freund es ist auch genug. Jm fall du mehr wilt lesen/ So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen.” (W VI,263)
Der „Beschluß” entläßt nach sage und schreibe 1676 cherubinischen Sprüchen abrupt mit einem Auftrag an die Nachwelt. Wollte man hier von Performativität sprechen, dann deshalb, weil Anfang und Ende der mystischen Rede durch einen Willen (volo) bestimmt werden. Dieser reine Wille läßt sich weder auf Umstände und Konvention (Performativ) noch auf ein Bezugssystem (Konstativ) zurückführen. Er vollzieht (performs) schlicht und einfach nur das, was er sagt,124 und gibt sich so als unaufgelöster Rest auf den Weg: „nicht […] die Schrift als Ort der Konstitution von Bedeutung, sondern als Ort purer Performanz.”125. In einer unabgeschlossen bleibenden Kreisbewegung fordert der „Beschluß” zum Pilgertum einer Schrift- und Wesenswerdung auf, die kein (theologisches) Wissen preisgibt, sondern auf ihren Zitatcharakter, das heißt auf eine Kluft zwischen der einen und der anderen Rede, aufmerksam macht. „Schrifft ohne Geist ist nichts. Die Schrifft ist Schrifft sonst nichts. Mein Trost ist Wesenheit/ Und daß GOtt in mir spricht das Wort der Ewigkeit.” (W II,137)
Ohne das Einhauchen des göttlichen Atems wird die Schrift als Überbleibsel („sonst nichts”) verworfen. „Wesenheit” und ewige Rede versprechend, vertröstet sie auf den Moment der gläubigen Lektüre. Während Augustins Figur der invocatio von der Tatsache eines Wissens ausgeht, abgesichert durch den Akt des Gebets und die Berufung auf die heilige Schrift, nähert sich die Reflexion im mystischen Diskurs einem Abgrund, der sich in der Sprache als Verhältnis von Affektfigur und Figuration auftut.126 Das Nichtwissen, (ignoratio) – exemplarisch auf antiken Grabinschriften wie „NESCIO: NON AD ME PERTINENT” verewigt – gehört zusammen mit dem Wissen zu den Affektfiguren, die in der barocken Rhetorik die Szene des Sprechaktes bereiten.127 Sie geben keinen Aufschluß über die Erfüllung des Sprechakts, 124 Vgl. M. de Certeau, fable, S. 237. 125 N. Largier, „Jenseits”, S. 111. 126 Vgl. Rüdiger Campe: „Pathos cum Figura – Frage: Sprechakt”, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, S. 289–S. 311. 127 Vgl. Emanuele Tesauro: Il Cannochiale Aristotelico (1670), zitiert in: R. Campe, „Pathos cum Figura”, S. 296f.. Tesauro unterscheidet drei Figurationsarten (Figure Harmoniche, Patetiche, Ingeniose), die dem sinnlichen Vermögen (senso), dem Begehren (Affeto) und der Vernunft (Intelligenza) entsprechen. Mit den Figure Patetiche tritt eine dritte, mittlere Dimension ein, „indem der Blick von der linguistischen Kategorie der Figuration auf ihren Anlaß oder ihre ‚Stelle’ im Text umgekehrt wird. Damit ist die Szene aufbereitet, auf der die affektive Figur als Frage: Sprechakt auftritt.”
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sondern zitieren zunächst nur die Funktion einer kommunikativen Verbindlichkeit. „Die Ansprache (allocution) ist für das Wissen Bedingung und Beginn. Sie verschafft ihm die Formalität einer ‚Zusage’ (parler à), das auch ein ‚Glauben an’ (credere in) ist. Die mystische Wissenschaft befragt also gleichzeitig die Natur der Rede (die von einer Stimme kommt), des Glaubens (Aufmerksamkeit eines Ohres, fides ex auditu) und des Wissens. Dort, auf der Schwelle, wo die Möglichkeit zu sprechen eine Möglichkeit zu erkennen ausmißt, macht sie halt”128.
Nicht mehr fokalisiert im Gottesnamen, im Ruf oder Schrei eines Namens, der aus der Ferne lockt und droht, nicht begrenzt in der Silhouette des zugleich gefürchteten und begehrten Gesetzes (Althusser), ist das Wissen als Vorbedingung für den Ruf in der Schrift selbst zum Problem geworden, so Michel de Certeau: „Von diesem Beginn hängt ‚der ganze Rest’ ab.” Die Parallele zu Arthur Schopenhauers blindem, unbewußtem, vernunftlosem und unzerstörbarem Willen drängt sich auf. Betrachtet man Schopenhauer als einen der ersten bedeutenden atheistischen Philosophen, so wird die Vorbereitung durch den mystischen volo-Begriff deutlich. Von Angelus Silesius findet der (triebhafte) volo über Leibniz zu Heidegger und Derrida.129 In Sauf le Nom widerspricht Derridas Re-Lektüre der These, die dem Cherubinischen Wandersmann einen missionarischen Appell unterstellt. Das Nichtsagbare, das den Text organisiert, sei ihm nicht als Anderes äußerlich, sondern wirke als Grenzfigur an der Schriftwerdung mit. Wittgensteins berühmtes Diktum fällt ein: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.”130 Die dem mystischen Diskurs zugrundeliegende Haltung des Gehenlassens, der gelâzenheit (Meister Eckhart), wiederholt die wandernde Bewegung der Schrift. Sie wird in Derridas Sauf le Nom über die Inszenierung zweier Stimmen, die eingestreute Epigramme aus dem Wandersmann diskutieren, szenisch abgebildet. Ein Dialog hebt mit einer in der typographischen Auslassung markierten schweigenden Stimme an, auf die eine zweite antwortet. In einer dritten Replik bricht dann die erste Stimme ihr Schweigen mit einem ‚Ja’ – dem (tele-fonischen) Wort der Eröffnung, das, wie noch zu zeigen ist, für die mystische Sprache des Begehrens von besonderer Bedeutung ist.
128 M. de Certeau, fable, S. 220. 129 Vgl. John Schulitz: Jakob Böhme und die Kabbalah. Eine vergleichende Werkanalyse, Frankfurt a. M./Berlin 1993, S. 52f.. 130 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico–philosophicus, Leipzig 1990, Satz 6.522, S. 87.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „— […] — Plus d’un, je vous demande pardon, il faut toujours être plus qu’un pour parler, il y faut plusieurs voix… — Oui, je vous l’accorde, et par excellence, disons exemplairement, quand il s’agit de Dieu… — Plus encore, si c’est possible, quand on prétend en parler selon ce qu’ils appellent l’apophase, autrement dit selon la voix blanche, la voie de la théologie dite ou soi-disant négative. Cette voix se démultiplie en elle-même: elle dit une chose et son contraire. Dire qui est sans être ou Dieu qui (est) au-delà de l’être.”
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Der Einsatz des apostrophierenden „nicht mehr einer” nimmt die erste Stimme aus ihrem Schweigen heraus, spricht sie an. Die Bitte um Verzeihung erklärt sich aus der folgenden Behauptung „man muß immer mehr als einer sein, um zu sprechen, dazu braucht es mehrere Stimmen”. Sie weist auf die Unmöglichkeit einer „Vergebung” und einer Äquivalenz des Tausches hin. Das admirabile commercium wird verweigert, der göttliche Atem als Auslassung in den Text selbst hineingeholt. Gleich zu Beginn von Sauf le nom werden die Topoi der mystischen Sprache in Szene gesetzt: Schweigen, unbestimmte Verneinungen, verworfene Anrufung, Gabe und Heilsökonomie, Gebet und Bitte, Dialog mit einem Anderen der Schrift, Bekenntnis, Konversion, Umwendung der Apostrophe, geheimes Nicht-Wissen. Die Auseinandersetzungen, die Derrida an anderer Stelle mit Pseudo-Dionysius und Augustinus führt, finden in Sauf le nom mit Angelus Silesius zu einer Fortsetzung. Da der Text in einem Sammelband mit dem Titel Derrida and negative Theology132 erschien, war mit einem Fachpublikum zu rechnen. Das erklärt den scheinbar unmittelbaren und höchst berechneten Einsatz eines Dialoges, der sich philosophisch und rhetorisch einer apophatischen Schreibweise nähert, das heißt einer „tonlosen Stimme”, die „etwas und dessen Gegenteil” sagt. In „exemplarischer Weise” führt die mystische Rede Fi-
131 Vgl. J. Derrida, Sauf le nom, S. 15; Vgl. auch J. Derrida, Über den Namen, S. 65: „– […] „Nicht mehr einer, verzeihen Sie, man muß immer mehr als einer sein, um zu sprechen, dazu braucht es mehrere Stimmen […] Ja, da stimme ich ihnen zu, und das gilt in ganz besonderer, sagen wir exemplarischer Weise dann, wenn es um Gott geht […] In noch stärkerem Maße – so dies überhaupt möglich ist – aber dann, wenn man vorhat, von ihm in der Weise zu sprechen, die man als Apophasis bezeichnet, anders ausgedrückt der tonlosen Stimme (voix blanche), dem Weg (voie) der sogenannten oder angeblich negativen Theologie entsprechend. Diese Stimme vervielfacht sich in sich selbst: Sie sagt etwas und sie sagt dessen Gegenteil, sie spricht von Gott, der ohne Sein ist/ der ist, ohne zu sein (Dieu qui est sans être), oder von Gott, der jenseits des Seins [ist].” 132 Vgl. die erste Fassung von J. Derrida: Post–Scriptum: Aporias, Ways and Voices. In: Harold Coward/Toby Foshay (Hg.), Derrida and negative Theology, New York 1992, S. 283–323.
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guren einer stumm gewordenen invocatio vor. Sie ist nicht mehr in einer hörbaren Stimme auszumachen, sondern als Ort purer Performanz noch zu bestimmen. Sprache gibt sich hier in der ausgelassenen Replik eines zu lesenden Schweigens hin, sie befragt ihren eigenen Abgrund, als Ant-Wort in der Frage. Sie richtet sich auffordernd an einen Dritten, Jünger oder Epigonen, Zeugen. Rezitierbarkeit und Vervielfältigung der Adresse führen aus der dyadischen Enge zweier Stimmen heraus, die tropisch miteinander verschränkt sind: „Une apostrophe, celle qui se tourne, sans se détourner, vers une autre apostrophe en direction de celui … […] L’autre apostrophe, donc, s’adresse à celui qui justement ne sait pas encore ce qu’il sait ou qu’il devrait savoir, mais savoir d’un non-savoir, selon un certain non-savoir.”
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Sauf le nom spielt mit einem Nicht-Wissen, das noch in der Negation der Negativen Theologie mit einem bestimmten Wissen bzw. Glauben rechnet. Mystische Texte setzen das zum Ziel, womit sie einsetzen: die Wanderung der Schrift. Die Kontamination, von der die Ab- und Umwendung der Figur der Apostrophe im Gebet rhetorisch gezeichnet ist, macht vor dem Anruf des göttlichen Namens nicht halt, den der Titel Sauf le nom in doppelter Bedeutung aufzuheben versucht: übersetzbar mit ‚außer dem Namen’, oder auch mit ‚rette den Namen!’134. Jene Möglichkeiten der doppelten Wendungen, Übertragungen und Verneinungen (außer) leiten den Dialog mit einer das Schweigen befragenden Apostrophe und einem in der Antwort verschobenen Ja ein. Derrida kehrt die Opposition von Glaube und Atheismus in seiner sich an Heidegger und Leibniz orientierenden Relektüre um. Leibniz hatte zu Silesius’ Epigrammen angemerkt, daß sie „die außerordentlich kühn sind, voll von schwierigen Metaphern und beinahe zur Gottlosigkeit hinneigend”135. Derrida schließt sich diesem Konstat an, indem er selbst die extremsten und konsequentesten Formen eines erklärten Atheismus noch mit genau dem Be-
133 Derrida, Sauf le nom, S. 21; vgl. auch J. Derrida, Über den Namen, S. 68: „Eine Apostrophe, die an Gott appelliert, wendet sich so – doch ohne sich abzuwenden – einer anderen Apostrophe zu, und zwar an denjenigen (celui)… […] Die andere Apostrophe also wendet sich an den, der noch gar nicht weiß, was er weiß oder wissen sollte, wissen sollte jedoch von einem Nicht–Wissen, einem bestimmten Wissen gemäß.” 134 Vgl. J. Derrida, Sauf le nom, S. 61: „Comme s’il fallait à la fois sauver le nom et tout sauver fors le nom, sauf le nom, comme s’il fallait perdre le nom pour sauver ce qui porte le nom, ou ce vers quoi l’on se porte au travers du nom.”; J. Derrida, Über den Namen, S. 88: „Als ob man zugleich den Namen und alles außer (fors) dem Namen, sauf le nom, retten (sauver) müßte, als ob man den Namen verlieren müßte, um zu retten, was den Namen trägt (porte), oder das, dem man sich durch den Namen hindurch zuwendet (se porter).” 135 Zitiert bei M. Heidegger, Satz vom Grund, S. 68.
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gehren zusammenfallen sieht, das geleugnet werden sollte. Das Begehren Gottes (désir de Dieu) ist in der Schrift selbst aufgehoben.136 Wie aber lassen sich individuelles Begehren und diktierte Allegorie miteinander verbinden? Bahnt sich im Barock eine Trennung von Rhetorik und Theologie an, welche sich dann in der Moderne durchsetzen wird? Wie vermag das „stillschweigende Gebet” den Risiken der tropisch wandernden Schrift zuvorzukommen, wie antwortet es auf sie? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das mystische Schweigen performativ wird? Womit begründet sich der abgründige Diskurs? Wie kann sich überhaupt ein Wissen über das Nicht-Wissen herstellen? Der Rhetoriker Emanuele Tesauro – der für die deutsche Rezeption wichtigste Theoretiker des Marinismo – zählt neben Wissen und Nichtwissen noch die bejahende oder verneinende Äußerung, den Eid, das Bezeugen und die Frage zur ersten Gruppe der Affektfiguren.137 Sie alle bekräftigen die Funktion eines Sprechaktes, indem sie entweder zugleich auch etwas ausführen („Ich schwöre es”) oder indem sie Funktionen der kommunikativen Verbindlichkeit nennen oder aufschieben („ich frage dich”). Die affirmatio nimmt im theologischen Zirkel der causa sui eine Sonderstellung ein. Wie Wissen und Nichtwissen kann das „Ja” die Rede eröffnen. Als prä-performative Kraft setzt es (mit) sich selbst ein. Es ist ebenso vorsprachlich wie der mystische volo.138 Während das „Nein” eine Arbeit der Differenzierung vornimmt, weil es Grenzen zieht, schafft das „Ja” die Voraussetzung für unbegrenzte Hingabe. Es überführt Glaubenszugehörigkeit in Affirmierung, Willen in Urteil. So heißt es bei Paulus: „Denn Gottes Sohn Jesus Christus, […] ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum rufen wir durch ihn zu Gottes Lobpreis auch das Amen.” (II.Kor.1,19)
Im bedingungslosen Jasagen, das sich einer paternalen Genealogie unterstellt, beginnt die widersprüchliche atopische Theorie des (christlichen) Subjekts. Sie schwankt in ihrem Diskurs zwischen Selbstermächtigungs- und Unter136 Vgl. François Nault: Derrida et la théologie. Dire Dieu après la déconstruction, Montréal, Paris 2000, S. 235. 137 R. Campe, „Pathos cum Figura”, S.294ff.. 138 Vgl. Hent de Vries: „Anti–Babel. The ‚Mystical Postulate’ in Benjamin, de Certeau and Derrida”, in: MLN, German Issue: Walter Benjamin, 107, 1992, S. 441–474, hier S. 446: „Mysticism in this sense should thus no longer be explained in terms of an apologetics that seeks to bring its addressees to reorient their will and to accept certain assertions or predicates with respect to the divine being, the literal and figural meaning of Scriptures, etc. Instead of being its mere effect, the mystic volo would, rather, be in the silent ground of any such discourse, its secret point of departure, the force which would make it function at all.”
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werfungsbemühungen. Das „Ja” unterläuft sämtliche Versuche der Trennung und Unterscheidung. Es wiederholt sich in der Selbstbestätigung. Im Cherubinischen Wandersmann erscheint das unbegrenzte „Ja” geradewegs im Graph des Getrennten wieder (Jah oder Jahvé).139 „Das Ewge Ja und Nein. Gott spricht nur Jmmer Ja;* der Teufel saget nein: Drumb kan er auch mit GOtt nicht Ja und eines seyn.” (W II,4)
Die Anmerkung zum Epigramm weist darauf hin, daß das Ja „*allusio ad Nomen Dei Ebraicum I A H” sei. Der hebräische Gottesname wirft die Frage nach seiner Übersetzung auf. In Sefer Jezira oder „Das Buch der Schöpfung”, in dem „die Stichworte der kabbalistischen Sprachmystik geliefert werden”, tauchen die Buchstaben des Gottesnamens als „Pfade der Schöpfung” auf. Sie bestehen aus 10 Urzahlen, den Sefiroth, und 22 Konsonanten. In die Urzahl oder Sefira sind 22 „Grundbuchstaben” eingegraben und ausgemeißelt. Die sechs Permutationen der drei Konsonanten J, H und W versiegeln die Urzahlen 5 bis 10. Sie entsprechen den sechs Richtungen des von Gott ausgemessenen Raumes. Drei Zeichen stehen für die drei Vokale I, A und O: „die magische Silbe jao und zugleich den Namen Jaho, die beide in aller jüdisch beeinflußten Magie der Spätantike eine außerordentliche Rolle spielen” und das Tetragramm bilden.140 Das so ausdrücklich göttlich eingefaßte „Ja” hebt den unausgesprochenen Namen buchstäblich auf. Es erspart den Vokativ und begründet damit die mystische Rede: „Sprache - die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O”, schrieb der Philosoph Johann Georg Hamann noch 1758.141 Der Name Gottes gehört aus dieser Sicht keiner kommunikativen Sprache mehr an: „Als sprachmetaphysische Qualität ist er nicht Repräsentation, sondern vielmehr Konstitution des Seins.”142 Daß dies auch buchstäblich nachzuvollziehen ist, zeigt die Entwicklung des ausgelassenen „Urnamens” in der Thora. In den beiden bedeutendsten Gottesnamen „Jahwe” und „Ehjeh” kommen die vier Konsonanten Alef, He, Waw, Jod vor. Im Hebräischen werden sie zugleich als Vokalbuchstaben (matres lectionis) verwandt: „Sie stellen sozusagen eine Verbindung von Konsonanten und Vokalen dar, und man konnte sie als die geistigsten Ele-
139 M. de Certeau, fable, S. 239. 140 Gershom Scholem: „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala”, in: G. Scholem, Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt a. M . 1973, S. 7–70, hier S. 23. 141 Brief an Jacobi von Ende 1758: „Sprache – die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O.” zitiert in: Andreas B. Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1998, S. 265ff.: „Hamann: Stylus cabbalisticus und mania cabbalistica”. 142 A. Kilcher, Sprachtheorie, S. 70.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
mente unter den Konsonanten ansehen.”143 Aus Buchstaben zusammengesetzt, „die [bei den Grammatikern] die ‚Verbergungsbuchstaben’ heißen”144, bewahrt der verborgene Gottesname sein geheimes Wissen über sich selbst auf. Damit aber wird die „mediale Materialität der Sprache” nicht als „tot” zu überwinden gesucht, sondern in immer neuen Konstellationen inszeniert und zum Sprechen gebracht:145 „Ihr habt keinerlei Bild gesehen – nur eine Stimme” (Deut. 4,12) so das Bildnisverbot.146 Sowohl die Offenbarung des Namens am Dornbusch als auch die vielen anderen Stellen, „wo von der Anrufung des Namens Gottes die Rede ist”, entbehren in der Thora noch jeden magischen Aspekt. Erst in der nachfolgenden Entwicklung zieht sich der Name Gottes aus der akustischen Sphäre zurück und wird unaussprechbar: zwar noch ansprechbar, aber nicht mehr aussprechbar.147 Silesius’ Verbindung von Gottesname und affirmativem Ja kann also auf jüdisch-christliche Traditionen der Mystik zurückblicken, in der Theologie und Sprachphilosophie zusammengehören. Und doch zeigt der missionarische Zug des Cherubinischen Wandersmannes, daß der mystische Ruf, der in die Stille der Schrift hineinruft, ein ausschließlicher ist. Er schließt all diejenigen aus, die ihrem Aufruf zur Nachfolge nicht folgen möchten. Auch Meister Eckharts Expositio libri Exodi liefert ein Beispiel für einen solch direktiv ansprechenden Gottesnamen. Denn Eckhart zufolge bezeichnet das sum in Ego sum das „lautere Sein”. Die Wiederholung des sum in Ego sum qui sum erscheint als „Lauterkeit der Bejahung unter Ausschluß jeder Verneinung von Gott”.148 Diese onto-theologische, sich auf die lateinische Vulgata beziehende Deutung bestätigt auch die griechische Fassung der Septuaginta: „Ich bin der Seiende”. Die Betonung eines präsentischen Sein aber läßt die prophetische Ferne des hebräischen „ehyeh asher ehyeh” („Ich werde dasein, als der ich dasein werde”) in Vergessenheit geraten. Die Repression der Anrufungsfigur, die noch im Alten Testament auf die nahe Stimme eines fernen Gegenübers bezogen war, ist von langer Hand vorbereitet. Daran erinnert der Philosoph Franz Rosenzweig mit einem Angelus Silesius-Zitat: „Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn/ Und nicht in dir; du bleibest noch Ewiglich verlohrn.” (W I,61) Rosenzweig zufolge wird das Paradox der singulären und potentiell doch immer wiederholbaren Wiedergeburt 143 G. Scholem, „Der Name Gottes”, S. 40f.. 144 Ebd. 145 Vgl. B. Menke, Sprachfiguren, S. 92. 146 G. Scholem, „Der Name Gottes”, S. 7. 147 G. Scholem, „Der Name Gottes”, S. 15: „Der wichtigste Moment in dieser Entwicklung und zugleich das paradoxeste ist, daß der Name Gottes, in dem Gott sich selber benennt und unter dem er anrufbar ist, sich aus der akustischen Sphäre zurückzieht und unaussprechbar wird. […] Gerade diese Unaussprechbarkeit, in der der Name Gottes zwar angesprochen, aber nicht mehr ausgesprochen werden kann, hat ihn für das Gefühl der Juden mit jener unerschöpflichen Tiefe ausgestattet”. 148 Vgl. Meister Eckhart: Expositio libri Exodi, zitiert in: Birus, Echos, S. 35.
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(„Wär’ Christus […] geboren”) zum Schweigen gebracht, weil das Christentum den Augenblick „zur epochemachenden Epoche macht, gewaltig über die Zeit.”149 Am Ende des Gesprächs am Berg Horeb hatte der Auftrag einer Überlieferung gestanden: „Dies ist für immer mein Name, und dies ist meine Anrufung von Geschlecht zu Geschlecht”150. Franz Rosenzweig und Martin Buber halten dagegen ihre Übersetzung: „das ist mein Gedenken, Geschlecht für Geschlecht.”151 Bubers und Rosenzweigs Version wollte sich so eng wie möglich an die Vielschichtigkeit des hebräischen Originals halten. Was aber macht das Gedenken zur Anrufung? Ist die andere Zeit des Gedenkens durch die Repression einer akustischen Anrufungsfigur im Christentum in Vergessenheit geraten? Ist Rosenzweigs Beschwörung von längst verdrängten Anrufungsritualen eine Antwort auf die Krise der Moderne?
Bejahung der Anrufung: „Urwort Ja” (Franz R osenzweig) Anfang des 20. Jahrhunderts zählt Franz Rosenzweig mit Gershom Sholem und Walter Benjamin zu den wichtigsten jüdischen Denkern. Wie andere Zeitgenossen auch werden sie Zeugen des Ersten Weltkrieges. 1914 markiert das Ende einer Epoche, in der sich europäische Geschichte ihres unaufhaltsamen Fortschritts rühmt. Sie fand mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, über dessen Staatsphilosophie Rosenzweig bei Friedrich Meinecke promovierte, zu einem geschichtsphilosophischen Höhepunkt. Hegel hatte mit dem Zeitalter der „germanischen Völker” eine Versöhnung der Gegensätze anbrechen sehen. Das Christentum erscheint in Hegels fortschreitender Geistesgeschichte als Endpunkt einer Entwicklung zum „Leben der Innerlichkeit, wo absoluter Wille und Wille des Subjekts einig sind”152. Weltgeschichte verläuft aus dieser Sicht nach dem Gesetz des dialektischen Dreischrittes. Dabei ist der Krieg der Vater aller Dinge. Er sorgt dafür, daß die antagonistischen Kräfte der Völker überwunden werden und sich so der Wille des Weltgeistes durchsetzt. 1920, als Rosenzweigs Dissertation „Hegel und der Staat” in Berlin erschien, betrachtet sein Verfasser sie bereits als anachronistisch. Der Glaube an eine über sich selbst aufgeklärte Geschichte, die sich zur Theodi149 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1996, III, Abschnitt 367. Künftig im Text zitiert als (Stern, III, 367). 150 Übersetzung in H. Birus, Echos, S. 30 u. 37. 151 Martin Buber/Franz Rosenzweig: Die Schrift. Die fünf Bücher der Weisung, Stuttgart 1992, S. 159. 152 J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, S. 431.
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zee erhebt, ist für Rosenzweig nach 1914 genauso unmöglich geworden wie der Historismus des vergangenen Jahrhunderts. Dieser hatte sich auf die Haltung eines unbeteiligten Zuschauers zurückgezogen und alle Standpunkte als geschichtlich bedingt relativiert. Für Rosenzweig aber stellt sich in den zwanziger Jahren folgende Ausgangssituation dar: Da sich das Geschichtswissen vom Menschen emanzipiert hat, muß sich der Mensch nun von der Geschichte emanzipieren. Doch wie läßt sich von diesem individuellen Standpunkt aus überhaupt noch philosophieren? Wie können singuläre Wahrheiten miteinander kommunizieren? Die durch den Krieg ausgelöste Todesangst stellt jedem Einzelnen Fragen, fordert ihn zu Erkenntnis und Verantwortung auf. Rosenzweigs Stern der Erlösung beginnt denn auch ohne Umschweife mit einer Attacke gegen den Idealismus: „Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.” (Stern I,1) Weder die religiöse Form der christlichen Theodizee noch die säkularisierte der dialektischen, geschichtsimmanenten Vernunft geben eine Antwort auf die Krise der abendländischen Zivilisation. Rosenzweig setzt daher wie Walter Benjamin und Gershom Scholem auf den jüdischen Messianismus. Auf die Mission des Christentums, das sich als Heilsgeschichte in der Welt verbreitet, reagiert Rosenzweig mit einer umgekehrten Berufung eines Judentums, das sich auf sich selbst besinnt: „Das christliche Leben führt den Christen ins Außen. […] Genau umgekehrt das jüdische Leben.” (Stern III, 426) Im Bemühen, die Erfahrung der historischen Katastrophe zu relativieren, betont das Judentum die utopische Dimension der Geschichte. Eine virtuelle, heimliche Geschichte legt den Akzent auf eine andere Temporalität.153 Sie wird in Der Stern der Erlösung dazu aufgerufen, der christlichen Vorherrschaft über die Zeit die Stirn zu bieten: „Die Zeitlichkeit selber verlernt ihr Zutrauen zu sich selber und läßt sich in der christlichen Zeitrechnung diese Gestalt aufzwingen.” (Stern III, 367) Von diesem Gedanken an eine historische Kontinuität setzt sich die religiöse Zeit durch eine monotone Wiederkehr ihrer Feste und Rituale ab. Sie entzieht sich der Veränderung, der Abnutzung und dem Tod.154 Das Gedenken an die Toten ruft die Zeit der Generationen wach und hebt geschichtliche Kausalität aus den Angeln. Die Anrufung der Vorfahren überwindet zeitliche Ferne, verbindet Ahnen und Nachkommen. Sie schafft eine diskontinuierliche und umkehrbare Zeit. Im kollektiven, ritualisierten Gedenken verkürzt und verdichtet sich die geschichtliche Zeit. Wie nun stellt Rosenzweig sich eine Wiederbelebung der rituellen Anrufung vor? Wie versöhnt er die religiöse mit der geschichtlichen Zeit?
153 Stéphane Mosès: L’ange de l’histoire, Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris 1992, S. 25. 154 S. Mosès, L’ange de l’histoire, S. 64 und 86.
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„Am Anfang war das Wort” – Rosenzweigs Buch Der Stern der Erlösung steht in einer der Stimme und dem Ohr verbundenen jüdischen Tradition.155 Es wollte der Theologie neue Denkanstöße geben. Einen großen Teil des Manuskripts hatte der Soldat Rosenzweig zwischen Juli 1918 und Februar 1919 auf Postkarten geschrieben, die er von der Balkanfront an seine Mutter gesandt hatte.156 Rosenzweig dienen die Postkarten als „Leinwand”, auf dem sich das in Schutt und Asche liegende Europa reflektiert.157 Die hegelianische Dreiteilung des Buches, das vom physischen Ende (Tod) ausgeht, um zu einem heilsgeschichtlichen Horizont (Erlösung) aufzubrechen, geht in drei Schritten vor: Geheimnis-Wunder-Erleuchtung, Schöpfung-Offenbarung-Erlösung, Gott-Welt-Mensch, Theologie-Kosmologie-Anthropologie, schließlich Mathematik-Grammatik-Liturgik (Stern III,311). Drei graphische Zeichen stehen jeweils den drei Teilen als graphische Bilder voran: Δ ∇ und der vollständige Davidstern. „Worte und Zeichen” sind „wie in einem Kaleidoskop zu immer neuen Mustern geordnet, die doch nur das eine Bild wiedergeben, den Stern der Erlösung.”158 Das „Wort” geht bei Rosenzweig aus „unhörbaren unter sich beziehungslos nebeneinander stehenden Elementarworten” hervor, eine „Vor-welt, die Sprache, die im lautlosen Bereich der Mütter verstanden wird” (Stern II,98). Es sind sogenannte „‚Urworte’”, die am Ort des Anfangs sprechen: „nicht wirkliche Worte, sondern Verheißungen des wirklichen Worts” (Stern II,98), nämlich Ja, Nein, und. Während Ja und Nein „geheime Begleiter des einzelnen Worts” sind, setzt das und diese beiden voraus. Und ist „der Schlußstein des Kellergewölbes” (Stern I,25) oder auch „die Brücke der beiden Urworte” (Stern II,216), das zu „lebendiger Wirklichkeit” verhilft. Ein dialektischer Bauplan liegt vor: „Die Welt ist da, in dem königlichen Schatz der unendlich empfänglichen, unendlich ‚anwendungs’-bedürftigen Gefäße und Geräte ihres Logos. Und in diese Gefäße stürzen die Inhalte aus dem unaufhörlich schießenden Quell.” (Stern I,38)
Im Stern der Erlösung ist das „Hören ohne Widerrede” Voraussetzung für den Empfang der göttlichen Frage: „Wo bist du?” (Gen. 3,9) Das gleiche gilt für das Hören („das ‚andächtige’ Zuhören aller”) der jüdischen Gemeinde, die ein gemeinsames und zustimmendes Schweigen auszeichnet. Erst nach einem solchen Schweigen könne die Antwort „ganz ausgebreitet, ganz bereit, 155 Vgl. Ulrich Sonnemann: „Das sedierte Sensorium. Über Hindernisse in der Wiederkehr des Gehörs”, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, 35/36, 1991, S. 15–22, hier S. 16. 156 Vgl. Emmanuel Lévinas: „Préface”, in: S. Mosès, Système et Révélation. La Philosophie de Franz Rosenzweig, Paris 1982, S. 7. 157 S. Mosès, Système et révélation, S. 17. 158 Annemarie Mayer–de Pay: „Rosenzweigs Stellung zur Kunst”, in: Wolfdietrich Schmied–Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig, Bd. 2, Freiburg 1988, S. 951–965, hier S. 951.
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ganz – Seele” lauten: „Hier bin ich”. Am Anfang steht die Anrufung eines zu füllenden „Gefäßes”159. „Hier ist das Ich. Das einzelne menschliche Ich. Noch ganz empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne Wesen, reine Bereitschaft, reiner Gehorsam, ganz Ohr. In dieses ge-horsame Hören fällt als erster Inhalt das Gebot. Die Aufforderung zu hören, der Anruf beim Eigennamen und das Siegel des redenden göttlichen Mundes — das alles ist nur Einleitung, vorklingend jedem Gebot […].” (Stern II,160)
Das Gebot, das bei Rosenzweig der „Aufforderung zu hören” folgt, ist das Liebesgebot. Durch den „Anruf beim Eigennamen” empfängt der Mensch als erschlossene Seele den göttlichen Imperatif „Liebe mich”. Aus dem „Munde des Liebenden” spricht das Liebesgebot in der ersten Person: „indem er den Mund auftut, spricht schon Gott.” (Stern II,163) In deutlichem Kontrast zum mystischen Denken, das im Stern der Erlösung aufgrund seiner Weltverschlossenheit nicht in Betracht kommt und dessen Brautmystik sogar entschieden als „mystische Brunst” (Stern II,198) verworfen wird, weist Rosenzweig einen „dunklen Grund” ebenso vehement zurück wie „noch sonst ein irgend mit Ekharts, Böhmes oder Schellings Worten Benennbares. Es ist nicht im Anfang.” (Stern I,19) Im „Werk des Anfangs” (Stern II,99) bestimmt dagegen ein wortloses, rätselhaftes, stilles und stummes „Ja” das setzende ‚Nein’. In einer Figur der Inversion leitet sich das Nein aus dem Ja ab. Das „Urwort Ja” rückt ins Zentrum der oralen Kulthandlung des Gebets. „Das ist die Kraft des Ja, daß es überall haftet, daß unbegrenzte Möglichkeiten von Wirklichkeit in ihm liegen. Es ist das Urwort der Sprache, eins von denen, durch die — nicht etwa Sätze, sondern erst einmal überhaupt satzbildende Worte, die Worte als Satzteile, möglich werden. Ja ist kein Satzteil, aber ebensowenig das kurzschriftliche Sigel eines Satzes, obwohl es als solches verwendet werden kann, sondern es ist der stille Begleiter aller Satzteile, die Bestätigung des ‚Sic’, das ‚Amen’ hinter jedem Wort. Es gibt jedem Wort im Satz sein Recht auf Dasein, es stellt ihm den Sitz hin, auf dem es sich niederlassen mag, es ‚setzt’. Das erste Ja in Gott begründet in alle Unendlichkeit das göttliche Wesen. Und dies erste Ja ist ‚im Anfang’.” (Stern I,20)
Rosenzweigs „Urwort Ja” „setzt”, „begründet” und begleitet als Wort des Anfangs, als „‚Amen’ hinter jedem Wort […] überhaupt satzbildende Worte”. Das „Ja” ist hier „nur Ausgangspunkt, also schlechthin unfähig, selber bejaht zu werden (Stern I,19) Darin gleicht es Heideggers vorausgehender 159 Vgl. Gershom Scholem: „Nachwort”, in: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1996, S. 525–549, hier S. 531.
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Zusage an die Sprache: „muß sich die Sprache zuvor uns zusagen oder gar schon uns zugesagt haben”160. Für Derrida dagegen macht die Vision eines einmaligen, ursprünglichen „Ja” gerade auf die „Fatalität” der Verdoppelung oder Wiederholung aufmerksam, das die unvermeidbare und notwendige Möglichkeit des Betrugs und der Perversion impliziert.161 Der virtuelle Ort für den Anfang des Wissens und des Sprechens bezieht sich in der abgetrennten Figur eines einmaligen „Ja” paradoxerweise gleichzeitig auf „ein Unendliches”. Berichtet das Jasagen dennoch „über die Schwierigkeit nein zu sagen”,162 so drängt es in Form des Gebets darauf, den unwiderruflichen Status einer „fast jungfräulichen, minimalen und unbestimmten Adresse” zu erhalten: „Oui marque qu’il y a de l’adresse à l’autre”163. Rosenzweigs einmalige, ursprüngliche Bejahung ereignet sich in der mündlichen Anrufung des rezitierenden und kollektiven Gebetes. Die ritualisierte Anrufung appelliert an die Offenbarung im Schöpfungsakt, der den Anfang von Wissen und Sprechen setzt. Dem „Urwort Ja” kommt die Rolle einer Initiation zu und gibt den Auftakt zur Rezitation der Gemeinde. Das „Ja” trägt die andere, rituelle und zugleich singuläre Zeit in sich. Den Widerspruch einer vielstimmigen Gemeinschaft gilt es durch die Zusage der Sprache zu überwinden („ist nicht, noch nicht”). Indem das Gebet „aus dem Mund der Gemeinde” in Ichform spricht, überwindet es die Gleichzeitigkeit eines „Ihr” und mündet in einer kühnen Figur vorgegebener Singularität: „als Ich, das es ist” (Stern II,252). Rosenzweig antwortet damit auf Martin Bubers zeitgleichen Versuch, der in Ich und Du eine ausschließende Mitte konstruiert. Sie verortet all das im Außen, was außerhalb des dyadischen Verhältnisses bleibt: die Welt, das Es. Für Buber sind „Ich sein und Ich sprechen […] eins”164. In dieser Ausschließlichkeit wird das Wort „Ich” zum „Schibboleth der Menschheit” (IuD, 68/72). Die einst mütterliche und jetzt beziehungsgebende „geisthafte” Du-Welt (IuD, 28f.) sieht sich in Bubers Vision einer instrumentalisierten Es-Welt der „Verfremdung” und „Versonderung” (IuD, 61) gegenübergestellt, Zeichen für die „Zersetzung des Worts”, (IuD, 120). Bubers dialogisches Prinzip räumt nur demjenigen einen Platz ein, der sich nicht „in das Abgetrenntsein verlaufen hat” (IuD, 79): „Der Mensch wird am Du zum Ich.” (IuD, 32) Zwischen den „zwei Trägern der Urbeziehung” (IuD, 86) vermittelt „der Geist”, der nichts anderes als „das
160 Martin Heidegger: „Das Wesen der Sprache”, in: M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, S. 180. 161 Vgl. Jacques Derrida: „Nombre de oui”, in: J. Derrida, Psyché, Paris 1987, S. 639–650, hier S. 649. Vgl. auch H. de Vries, „Anti–Babel”, S. 452. 162 Vgl. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu, Frankfurt a. M . 1985. 163 Derrida, Ulysse, S. 127. 164 Vgl. Martin Buber: Die Schriften über das dialogische Prinzip. Ich und Du, Heidelberg 1954, S. 8. Künftig im laufenden Text in Klammern zitiert als (IuD, 8).
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Wort” ist (IuD, 41). Und so regelt sich denn auch die sprachliche Übertragung als „Sendung und Befehl” auf der einen und als „Schauen und Vernehmen” auf der anderen Seite, „zwischen beiden Erkenntnis und Liebe” (IuD, 87). In Berufung auf die biblische Offenbarungsszene „Ich bin da als der ich da bin” (IuD, 113) richtet sich der Dauerton einer „ewig tönenden” Stimme ein, der dem weißen Rauschen des Daseins („Das Seiende ist da, nichts weiter.”) nicht Botschaft, sondern Präsenz abzuringen sucht: „Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen ‚Inhalt’, sondern eine Gegenwart” (IuD, 111). In Rosenzweigs Stern der Erlösung stellt sich die Übertragung von Ich und Du anders als bei Buber dar. Hier ist die Figur des Anrufs nicht allein an den Offenbarungsakt gekoppelt, sondern sie vermittelt auch die Schöpfungsgeschichte.165 Bubers Versuch einer Ausscheidung der Es-Welt aus der ansprechenden Du-Welt trifft bei Rosenzweig auf Kritik, da sie a priori die Verwandlung des Es in ein Du verhindert und die geschaffene Tat der Schöpfung ignoriert.166 Diese kann aber erst im nachhinein aus der offenbarenden Ansprache heraus, als Ansprache der zweiten an die erste Person und schließlich auch unter Einbeziehung eines Dritten (die geschaffene Welt) verstanden werden.167 In der Affirmation seiner Abhängigkeit zu Gott verneint sich der Mensch selbst. Subjektivität begründet sich nicht in einem idealisierten Gegenüber, was den Dialog annulieren würde, sondern in der Frage, der sich gestellt werden muß, im Aufruf zur Verantwortung. „Ce qui fonde la subjectivité, c’est la question où es-tu? c’est-à-dire un appel à la responsabilité.”168 Die Frage nach der Verantwortung liegt dem Stern der Erlösung voraus. Das erklärt schon der Anfang des Buches, das mit der Anrufung des Todes beginnt: „Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.” (Stern I,1) Aus dieser Perspektive der vom Tod sich 165 Vgl. Dániel Bíro: „Franz Rosenzweigs Kritik an Martin Bubers Ich und Du, in: W. Schmied–Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig, S. 689–696. 166 Vgl. Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 1918–1938, Heidelberg 1973, Bd. 2, S. 126. Franz Rosenzweig an Martin Buber, Undatiert (wahrscheinlich nach dem 4.9.1922): „Sie geben dem Ich–Du im Ich–Es einen Krüppel zum Gegner. […] Von dieser Verengung auf das Ich–Du […] ergibt sich glaube ich alles andre. Sie […] werfen im Rausch der Entdeckerfreude alles andere (ganz wörtlich:) zu den Toten. Es ist aber nicht tot, obwohl der Tod ihm zugehört; Es ist geschaffen.” 167 Vgl. Anna Bauer: „Rosenzweigs Sprachdenken”, in: W. Schmied–Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig, S. 903–912, hier S. 911: „Die zweite Person steht an erster Stelle. Dadurch, daß ich den anderen anspreche, wird er für mich zum Ich. Diese Reihe der Personalpronomina, zweite, erste, dritte Person, ist wieder ein Ausdruck dafür, daß die Offenbarung, Ich und Du, für Rosenzweig die primäre Zeitlichkeit ist. Auf ihr baut die Schöpfung auf, das Sprechen über die Dinge in der dritten Person. Erst vom Offenbarungsereignis her wird mir die Welt als Schöpfung bewußt, kann ich Welt und Mensch überhaupt als Schöpfung Gottes wahrnehmen.” 168 S. Mosès, Système et révélation, S. 110; vgl. auch S. Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985, S. 93: „Das Ich ist die Antwort, die auf die Frage: ‚Wo bist du?’ geschuldet ist.”
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abhebenden, auffordernden Frage zur Verantwortung erhalten schließlich auch die „Urworte” Ja und Nein eine Funktion: „Wie die Schöpfung im Zeichen des Ja, so steht die Offenbarung im Zeichen des Nein. Nein ist ihr Urwort. Ihr erstes lautes aber, ihr ‚Stammwort’, heißt Ich. Ich ist stets ein laut gewordenes Nein. Mit ‚Ich’ ist immer ein Gegensatz aufgestellt, es ist stets unterstrichen, stets betont; es ist immer ein ‚Ich aber’.” (Stern II,153)
Der Schöpfungsakt findet als „Selbstgespräch Gottes” statt, der Du (das Ja) zu sich selber sagt (Stern II,157). Um zum „echten Dialog” (das und) überzugehen, hat Gott den Menschen (das Nein) geschaffen: „Gott mußte ihn beim Namen rufen, damit der Mensch als erschlossene Seele den Mund auftat. Hier allein sind die beiden Pole von vornherein aufeinander verwiesen” (Stern II,216). Rosenzweig leitet die primäre Zeitlichkeit von Du und Ich aus der Genesis her, als Übergang vom stumm-trotzigen zum sprechend-gehorsamen Menschen. In der Leugnung seiner Schuld, die Adam erst auf Eva abwälzt, um sie dann an die Schlange weiterzugeben (Gen.3,12-13), weicht der Mensch auf die bloß hinweisende Frage „Wo bist du?” aus. Erst der Anruf, der Vokativ schneidet ihm den „Ausweg zur Vergegenständlichung” ab: „das Unfliehbare angerufen […], das […] Entrückte: der Eigenname. Der Eigenname, der doch kein Eigen-name ist, nicht ein Name, den sich der Mensch willkürlich gegeben hat, sondern der Name, den ihm Gott selber geschöpft hat.” (Stern II,159)
Der Appellatif des Eigennamens macht den Menschen zum unverwechselbaren Individuum und bindet ihn zugleich als kleinste identifizierbare Einheit an die gesamte Menschheit. Der Eigenname bezeichnet sowohl Zugehörigkeit als auch Singularität. Aus diesem Grund antwortet Adam auf die Frage „Wo bist du?” nicht mit seinem Namen, sondern mit der Affirmation „Hier bin ich.” In dem Moment, in dem der Mensch „Ich” sagt, wird er zu einem „Du” für Gott, der nun seinerseits wieder „Ich” sagen kann. Das sich ständig aktualisierende Bekenntnis im Gebet wiederholt und bestätigt jenen ersten Namens-Anruf, in dem „allein […] die beiden Pole aufeinander angewiesen sind”. Die „vielberufene Rückbeziehung der Offenbarung auf die Schöpfung” (Stern II,168) verdeutlicht für Rosenzweig, daß das Liebesgebot nicht auf taube Ohren stößt. Ein sich so abzeichnendes „dialogisches Prinzip” findet seine Grenze in einer unendlichen Schleife der Antwortlosigkeit: „Die Offenbarung gipfelt in einem unerfüllten Wunsch, in dem Schrei einer offenen Frage.” (Stern II,171) Das doppelte Nein der Offenbarung (Gott negiert sich selbst, indem er seine Existenz von der des Menschen abhängig macht, der Mensch bestätigt Gottes Existenz durch die
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Verneinung seiner Autonomie) ist mit einem bedingungslosen und affektiven Ja im Dialog verschränkt. Bleibt der dritte Teil des dialektischen Plans, das Und. Im dritten Teil des Stern der Erlösung wird der Figur des „Wir” im täglichen Ritual des „Höre, Israel” Gestalt verliehen: „So wird alltäglich zweimal, abends und morgens, im Wort des Bekenntnisses, nachdem vorerst in der Aufforderung zum ‚Hören’ die Gemeinschaft Israels geschaffen, in der Anrufung Gottes als ‚unsres Gottes’ seine unmittelbare Gegenwart bezeugt ist, Gottes ‚Einheit’ ausgerufen als sein ewiger Namen jenseits alles Namens, jenseits aller Gegenwärtigkeit;” (Stern III,336)
Rosenzweigs Konzeption der Auserwähltheit des jüdischen Volkes und dessen universeller Berufung hat zu regen politischen Debatten geführt. Sie rükken den Philosophen nicht nur in gefährliche Nähe zum Zeitgenossen und Nachfolger Heidegger.169 Die Idee der Auserwähltheit stützt sich auf einen antizipierenden Volksbegriff, der sich einem Determinismus der Geschichte zu entziehen sucht und so der Vergangenheit Treue versprechen will, zu ihrem Gedenken aufruft. Religiös setzt er auf eine in Vergessenheit geratene jüdische Anrufung, um biblische Gründungsmythen und utopisches Erlösungsdenken genealogisch miteinander zu verbinden. Gestaltet sich eine solche Wiederkehr, die platonische Seinsbegriffe hinter sich lassen will, als fataler Versöhnungsversuch eines deutsch-jüdischen Denkers?170 Oder radikalisiert sich hier nicht auch eine politische Position, die gegen eine Repression
169 Vgl. Karl Löwith: „M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu Sein und Zeit”, in: K. Löwith: Gesammelte Abhandlungen: zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 68ff.. Heidegger war Nachfolger auf Hermann Cohens Lehrstuhl in Marbach und vertrat gegen dessen Schüler Ernst Cassirer das „neue Denken”, das an Rosenzweig anknüpfte. Vgl. auch Steven S. Schwarzschild: „Franz Rosenzweig and Martin Heidegger”. In: W. Schmied–Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig, S. 887–889. Schwarzschild weist auf Ähnlichkeiten hin: Volk (Heidegger) und „Ethnos mit Gott” (Rosenzweig), durch „Blut” und „Sprache” definiert. Vgl. dagegen Emmanuel Lévinas: „‚Entre deux mondes’ (Biographie spirituelle de Franz Rosenzweig)”, in: Eliane Amado Lévy–Valensi/Jean Halperin (Hg.), La conscience juive. Donnés et débats, Paris 1963, S. 121–137, hier S. 131. Lévinas zufolge vertritt der Gedanke einer ewigen Blutverwandtschaft der Juden kein naturalistisches Konzept, sondern er bezeichnet die „Fremdheit” und die „Verwurzelung in sich selbst”. 170 Vgl. Jacques Derrida: Force de loi. Le „fondement mystique de l’autorité”, Paris 1990; vgl. auch J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität”, übers. v. Alexander Garcia Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, S. 65. Und Jacques Derrida: „Zeugnis, Gabe”, in: Elisabeth Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche mit Pierre Vidal–Naquet et al., Frankfurt a. M. 1994, S. 72: „Der Deutsche fasziniert den deutschen Juden, und der Jude fasziniert den Deutschen, das ist ein furchterregendes Paar; und gleichzeitig ist keinerlei Identifikation möglich. Der Jude bleibt dem Deutschen absolut fremd, unendlich fremd. Für diese doppelte Faszination gibt es viele Anzeichen, die ich hier nicht aufzählen werde, etwa bei Scheler, bei Cohen, bei Rosenzweig und Buber, bei Scholem, Benjamin, Adorno usw.”
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der alttestamentarischen Anrufungsfigur Protest erhebt? Indem Rosenzweig betont, daß es um das „verlesene Wort” (Stern III,330) geht, läßt er keinen Zweifel daran, daß es der Beschwörung eines „Hören[s] ohne Widerrede” nicht um den Demagogen und „das zuhörende Volk, dieses vielköpfige Ungeheuer” zu tun ist. „Das gemeinsame Hören, das nichts als Hören wäre, das Hören, wo eine Menge ‚ganz Ohr’ wird, entsteht nicht durch den Sprecher, sondern nur durch das Zurücktreten des lebendig sprechenden Menschen hinter den bloßen Vorleser, ja noch nicht einmal hinter den vorlesenden Menschen, sondern hinter das verlesene Wort.” (Stern III,331)
Wenn in diesem gemeinsamen Hören die laute Volksverführung des Demagogen auszuschließen ist, welche Gründe mag es dann für die Wiederherstellung der religiösen Anrufung geben? Die Idee des versammelten Hörens und der Auserwähltheit erweist sich als riskantes Projekt. Birgt es nicht die Gefahr in sich, die geschichtliche Zeit der Katastrophe zu unterschätzen?171 Rosenzweig selbst hatte doch Hegels Vernachlässigung der Geschichte kritisiert. Die Rückbesinnung auf die biblische Idee der Auserwähltheit unterstreicht die Singularität des jüdischen Volkes, seinen metahistorischen Status.172 Warum? Ist dies eine Reaktion gegen den dialektischen – und ausschließlich christlichen – Weltgeist, der sich selbst zu einem universellen ausgerufen hat? Hegel hatte die religiöse Idee der Auserwähltheit säkularisiert, indem er sie auf den modernen Nationalismus angewandt hatte. Der ‚nationale Geist’ führt dann aus dieser Perspektive nur das aus, was der Weltgeist für ihn vorsieht. Hegel zufolge kennt jedes Volk genau den Moment, in dem es vom Schicksal gerufen wird. Ausgerechnet die religiöse Idee der Auserwählung dient der Aufklärung als zentrales – von da an für sich selbst in Beschlag genommenes – Argument für ihre antijüdische Polemik. Rosenzweigs Wiederbelebung der rituellen Anrufung erinnert somit nicht nur an die verdrängte und heimliche Geschichte des Judentums, sie wendet sich gegen eine hegelianische Geschichtsauffassung, die christliche Völker zu den auserwählten macht. Die Rehabilitation einer exklusiv jüdischen Anrufungsfigur reagiert auf ein missionarisches Christentum, das den Augenblick „zur epochemachenden Epoche macht, gewaltig über die Zeit.” (Stern III,367). Warum aber gründet sich diese Rehabilitation gerade auf der Anrufungsfigur und auf dem, vom doppelten Nein ausgelösten, gläubigen „ Ja”? Wie steht es um die Zeitlichkeit der Anrufung selbst?
171 Vgl. Susan A. Handelman: Fragments of redemption: Jewish thought and literary theory in Benjamin, Scholem, and Lévinas, Bloomington 1991, S. 99. 172 S. Mosès, L’ange de l’histoire, S. 71.
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Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich weist auf die Flüchtigkeit und Nichtigkeit im gegenseitigen Du-Sagen, wenn er von übergangenen „Momente(n) der geschenkten Identität” spricht, welche im „Wir-Sagen” nicht „das Problem der Identifizierung” lösen. Statt von einer „Verschmelzung” eines Ich und eines Du im gemeinsamen Wir sollte man eher von einer schwierig zu haltenden „Balance” sprechen”.173 Es bleibt nicht bei einem einzigen Ja oder Nein. Ja und Nein drehen und wenden sich so oft wie die sich ansprechenden Subjekte, die sich ineinander in einer komplizierten Innen/Außen-Wendung wiederholen, verschränken, verschieben, entstellen und umkehren: eine Figur der Wider-Spiegelung oder der mise en abyme, die mit ihrer Asymmetrie noch die Abgründe des scheinbar engsten Kontakts von Ohr zu Ohr versinnbildlicht.174 Die Flüchtigkeit des Anrufs ermöglicht zugleich Ritualität (die andere, religiöse Zeit der Wiederkehr) und Singularität (die Markierung der nahen Fremdheit). Genau das aber wollte Rosenzweig mit seinem Wiederbelebungsversuch in Zeiten des Krieges politisch bezwecken: Indem die historisch datierte Berufungsidee gegen diejenigen gewandt wird, die sie selbst denunziert hatten, wird christlicher Heilsgeschichte ein Strich durch die Rechnung gemacht. Rosenzweigs zugleich metaphysischer und pragmatischer Appell an eine liturgisch-rituelle, die Kontinuität der geschichtlichen Katastrophen unterbrechende „heilige Zeit” ist nicht ohne Kritik geblieben. Und so erhob Gershom Scholem, der den Stern der Erlösung nichtsdestotrotz für ein Hauptwerk der jüdischen Philosophie im 20. Jahrhundert hielt, den Vorwurf einer „merkwürdigen Ähnlichkeit mit der Kirche, die das Judentum auf unerwartete Weise in seinem Werk annimmt”175. Sowohl Assimiliation als auch Zionismus aber geben für Rosenzweig keine Antwort auf die zu stellende Frage nach der Verantwortung. Denn Säkularisierung und „Volksgeist” (Hegel) waren ja gerade als Ursachen der abendländischen Zivilisationskrise erkannt worden. Rosenzweigs Stern der Erlösung appelliert daher auf offenen Postkarten gegen den kriegerischen Fortschrittsglauben und für einen rehabilitierten, d.h. rein theologisch gefaßten Offenbarungsbegriff.
173 K. Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, S. 68 und S. 71. 174 Zur unübersetzbaren Figur der mise en abyme, welche sich im Begriff der ‚Spiegelung’ nicht wiederfindet, weil die symmetrische Umkehrung des Motivs dabei verlorengehen würde, vgl. Lucien Dällenbach: „Réflexivité et lecture”. In: Revue des sciences humaines, 177, 1980, S. 23–37. 175 Gershom Scholem: „Sur l’édition de 1930 de l’Étoile de rédemption de Rosenzweig”, in: G. Scholem, Le messianisme juif. Essai sur la spiritualité du judaïsme, Paris 1974, S. 453.
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Anruf der Sprache (W alt er Benjamin) Für Adorno sucht Rosenzweig zwischen Judentum und Christentum Versöhnung, während Benjamin ein säkularisiertes, radikal neues Denken vertritt. Walter Benjamin eigne sich Tradition nur an, um sie in eine Figur der Inversion zu überführen.176 Benjamin war dem schwerkranken Rosenzweig 1922 in Frankfurt am Main noch persönlich begegnet. Den Stern der Erlösung kannte er offensichtlich.177 Schon Benjamins Barockbuch Ursprung des deutschen Trauerspiels (entstanden 1923 bis 1925) geht auf eine Gegenüberstellung von antiker Tragödie und barockem Trauerspiel zurück, die im Stern der Erlösung vorgenommen wird. Abschnitte über China (Stern, I) fließen unmittelbar in den Kafka-Aufsatz über den Charakter des Gestischen von 1934 ein. Außerdem verknüpft Benjamin in einer ersten Fassung seines Aufsatzes über das epische Theater Brechts (1931) materialistisch-gesellschaftskritische und metaphysisch-theologische Deutungsversuche, indem er gleichzeitig Überlegungen von Georg Lukács und von Franz Rosenzweig zu Rate zieht. Benjamin folgt Rosenzweig darin, dass die moderne, philosophische Tragödie erst in einer Welt der jüdisch-christlichen Offenbarung denkbar ist, „weil erst hier der Held zur wirklichen Sprache durchbricht, welche eine dialogische ist, also zu einer Form der Sprache, in der es auf jede Frage – und insbesondere auf jede an Gott gerichtete – jedenfalls die Möglichkeit einer Antwort gibt.”178 Die Vorstellung von einer Sprache der Offenbarung unterscheidet sich jedoch bei Benjamin und Rosenzweig. Das verdeutlicht besonders Benjamins frühe Sprachphilosophie. In dem zwei Jahre vor dem Entstehen des Stern der Erlösung geschriebenen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916) entwickelt Benjamin eine mystische, von den Ideen Hamanns und den deutschen Romantikern beeinflußte Sprachtheorie,
176 In einem unveröffentlichten Brief vom 8. März 1955 an Dr. Achim von Borries schreibt Adorno: „Zwischen dem Klima seines Buches und dem Benjamins liegt eben doch der Abgrund, der den Konformismus von einem wirklich radikalen Denken trennt, und das ist keineswegs eine Sache der blossen politischen Gesinnung, sondern bezieht sich auf das Innerste der Metaphysik selber.” zitiert in H. de Vries, „Anti-Babel”, S. 454, Anm. 36. 177 Vgl. Gershom Scholem: „Walter Benjamin”, in: G. Scholem, Judaica II, Frankfurt a. M. 1970, S. 193-227, hier S. 219: „Benjamin, wie viele seiner Schriften beweisen, ein passionierter Leser von Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung, dem originellsten Werke jüdischer Theologie unserer Generation, hatte dort ebenso wie bei den Kabbalisten die tiefe Bindung des echten theologischen Denkens der Juden an die Sprache erfahren, wie sie immer wieder bei ihm zum Vorschein kommt.” 178 Stéphane Mosès: „Walter Benjamin und Franz Rosenzweig”, in: DVJS, 56, 1982, S. 622-640, hier S. 630.
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die um den Namen als dem „eigentlichen Anruf der Sprache” kreist.179 Benjamin orientiert sich dabei wie Rosenzweig an der Schöpfungsgeschichte. Im Unterschied zum Stern der Erlösung ist der Offenbarungscharakter der Sprache aber weit in eine mythische Vergangenheit zurückversetzt. Die religiösen Begriffe Schöpfung, Offenbarung und Erlösung spielen auch hier eine Rolle, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen. Wie Rosenzweig geht Benjamin davon aus, daß „alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache” hat.180 Sprache ist nicht nur Medium der Erkenntnis, sie teilt nicht „nur das sprachliche Wesen der Dinge mit”, sondern sich selbst: „Jede Sprache teilt sich selbst mit.” (Sprache, 142). Benjamin fragt wie Heidegger nach dem „Anruf der Sprache”, das heißt nach dem Namen „als des Inbegriffs magischer Mitteilung”181. Eigennamen rufen das Benannte überhaupt erst hervor und transzendieren damit zugleich das Benannte. In der „Menschensprache” verlieren sie diese Eigenschaft und sind „überbenannt”: „Überbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens.” (Sprache, 155). Weil sich in den Eigennamen eine „magische Sprache” kristallisiert, kann man „den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen (wenn der Genitiv nicht das Verhältnis des Mittels, sondern des Mediums bezeichnet)” (Sprache, 144/145). Die „Sprache der Sprache” gilt es durch den „Anruf der Sprache” wiederzufinden: im „Geheimnis” einer magischen Un-mittel-barkeit.182 Die profane Illumination der mystischen Sprachtheorie Benjamins übertrifft die religiöse auch dann noch, wenn sie in die späten geschichtsphilosophischen Thesen eingeht und so die Kontinuität der theologischen Inspiration betont.183 Der frühe Aufsatz Über die Sprache ist daher eine „Schaltstelle in Benjamins gesamten Werk”184. Er wirft die Fragestellungen späterer Schriften auf. Über Entstehung und Verfall der Sprache berichtet die Genesis. Sprache durchläuft drei Stadien: als schöpferische (göttliche) Sprache, paradiesische 179 Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II,1: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt a. M. 1977, S. 140-157. Künftig im laufenden Text in Klammern zitiert als (Sprache, S.) 180 Walter Benjamin: „Über das Programm der kommenden Philosophie”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II,1, S. 157-171, hier S. 168. 181 Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. M. 1980, S. 20. 182 Vgl. Buber, Briefwechsel, Bd. 1, S. 449. Benjamin an Buber, München, Juli 1916: „Schrifttum überhaupt kann ich mit dichterisch, prophetisch, sachlich, was die Wirkung angeht, aber jedenfalls nur magisch, das heißt un-mittel-bar verstehen. Jedes heilsame, ja jedes nicht im innersten verheerende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis.” 183 Vgl. Gérard Raulet: Le caractère destructeur. Esthétique, théologie et politique chez Walter Benjamin, Paris 1997, hier S. 14. 184 W. Menninghaus, Walter Benjamin, S. 49.
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(adamitische) Paradiessprache und als „Abgrund der Mitteilbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes, in den Abgrund des Geschwätzes.” (Sprache, 154) Der Dreischritt korrespondiert mit dem Aufbau des Stern der Erlösung: Schöpfung (göttliche Sprache, in der die Welt durch Sprache geschaffen wird), Offenbarung (Adam benennt die Dinge selbst, er übersetzt die stumme Sprache der Dinge in den Laut) und Erlösung (nach der die verfallene menschliche Sprache ruft, die das Wort ausschließlich als Mittel einsetzt). Im Augenblick des Sündenfalls, der „Geburtsstunde des menschlichen Wortes” tritt die Sprache „aus der Namenssprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraus” (Sprache, 153). In Berufung auf Kierkegaard sieht Benjamin eine Identität zwischen der Erkenntnis des Guten und Bösen und dem „Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das unmittelbare, das schaffende Gotteswort”: „Dieses richtende Wort verstößt die Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es exzitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft — und erwartet.” (Sprache, 153)
Mit der Erkenntnis von Gut und Böse verläßt der Mensch zugleich die transzendierende, magische Namenssprache. Die Sprache der Natur gehört zwar der akustischen Sphäre an, ihr ist aber „das reine sprachliche Formprinzip – der Laut – versagt” (Sprache, 147). Und so demarkiert sich die Sprache der Menschen gerade durch die ihr allein vorbehaltene Lautlichkeit. Sie übersetzt die in Stummheit gebannte Sprache der Dinge in den „beseelten Laut”. Das unhintergehbare Medium der Sprache, die Stimme, teilt sich wie die Sprache selbst in ihrem Anruf, d.h. als reine, selbst nicht mitteilbare Präsenz mit. Benjamin, dessen Berliner Kindheit um neunzehnhundert mit Marcel Prousts Jean Santeuil und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Franz Kafkas Das Schloß zu den Klassikern einer (Literatur)Geschichte des Telefons zählt,185 führt wie Rosenzweig die Figur des Anrufs zur Theologie zurück. Die Frage nach dem „Anruf der Sprache” ist mit der Frage nach dem Anfang des Sprechens verbunden. „Der Name ist aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache.” (Sprache, 145) Der Name existiert schon vor dem Menschen, der ihn bezeichnet. Als bloß formale Struktur enthält er eine unendliche Anzahl möglicher Bedeutungen,
185 Vgl. z.B. Bettina Bannasch: „Anrufungen oder Was macht das Telefon im Buch?”, in: S. Münker/A. Roesler (Hg.), Telefonbuch, S. 83-100.
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die sein Namensträger als eigenes Schicksal deuten kann.186 In dem frühen sprachphilosophischen Aufsatz stellt sich dieser Anfang als „das Mediale” geradezu als das „Grundproblem der Sprache” dar. Dadurch, daß sich das der Sprache „entsprechende geistige Wesen… in der Sprache” mitteile, und nicht „durch sie” ist kein Sprecher der Sprache zu ermitteln, „wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt.” (Sprache, 142) In der Schöpfungsgeschichte erscheint die Namensgebung des Menschen als „Gabe” und Auftrag, die Sprache der Dinge in die menschliche Sprache zu übersetzen. Die Bibel kommt dieser übersetzenden „Natur der Sprache” am nächsten, weil „sie sich selbst als Offenbarung betrachtet” und insofern „notwendig die sprachlichen Grundtatsachen entwickeln” muß (Sprache, 147). Nach der Übersetzung von Rosenzweig und Buber heißt es im Genesiskapitel: „ER, Gott, bildete aus dem Acker alles Lebendige des Feldes und allen Vogel des Himmels und brachte sie zum Menschen, zu sehn wie er ihnen rufe, und wie alles der Mensch einem rufe, als einem lebenden Wesen, das sei sein Name. Der Mensch rief mit Namen allem Herdentier und dem Vogel des Himmels und allem Wildlebenden des Feldes.” (Gen. 2,19)
Die Schöpfungsgeschichte beginnt mit dem göttlichen Anruf des Menschen, der den Auftrag erhält, nun seinerseits alle anderen Lebewesen anzurufen. Buber und Rosenzweig entscheiden sich für „rufen” statt „benennen” und betonen so die Akustik des paradiesischen Namensanrufes, der „Wort-Individuen, diskontinuierliche Wort-Monaden, eine pure Namensprache” ins ‚Leben’ ruft:187 „[…] daß Gott dem Menschen den Odem einblies: das ist zugleich Leben und Geist der Sprache” heißt es auch in Über Sprache überhaupt. Lautlichkeit setzt eine Differenz zwischen der menschlichen Sprache und der stummen, sprachlosen Natur. Der Anruf alles Lebendigen durch den Menschen will jedoch kein Beweis für einen „Anthropomorphismus” sein, auch wenn sich den Dingen das sprachliche Formprinzip, „der Laut” versagt, der zum Symbol für die rein immaterielle und geistige „magische Gemeinschaft mit den Dingen” wird (Sprache, 147). Vielmehr gibt der Namensanruf zunächst Anlaß zur Frage, wem der Mensch sich mitteile. „Teilt der Mensch sein geistiges Wesen durch die Namen mit, die er den Dingen gibt? Oder in ihnen?” (Sprache, 143) Die erste Annahme, in der Sprache zum Mittel wird, welches eine Sache durch das Wort mitteilt, „besagt: Das Mittel der Mittei186 Vgl. auch Stéphane Moses: „Ideen, Namen, Stern. Walter Benjamins Metaphorik des Ursprungs”, in: Ingrid Scheurmann/Konrad Scheurmann (Hg.), Für Walter Benjamin: Dokumente, Essays und ein Entwurf, Frankfurt a. M . 1992, S. 183-192, hier S. 189. 187 G. Raulet, Le caractère destructeur, S. 17.
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lung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch.” (Sprache, 144) Schon Hamann hatte den Namen Gottes keiner kommunikativen Sprache mehr angehören lassen. Und der Übersetzungstext von Buber und Rosenzweig erinnert daran, daß Anrufungen nichts anderes als Gedenken, „Geschlecht für Geschlecht”, sind.188 Die Beschwörung von längst verdrängten sakralen Anrufungen reagiert auf die Krise einer Moderne, die zum Gedenken aufgerufen wird. Wie Rosenzweig plädiert Benjamin für eine „Rückgewinnung der Sprachbewegung” und eine Erlösung der fremden Sprache in der eigenen.189 Bubers und Rosenzweigs Übersetzung lehnt Benjamin allerdings entschieden ab.190 In einem Brief an Scholem heißt es: „Gerade jetzt — da die Gehalte des Hebräischen neu aktualisiert werden, das Deutsche seinerseits in einem höchst problematischen Stadium und vor allem fruchtbare Beziehungen zwischen beiden, wenn überhaupt, so nur latent mir scheinen möglich zu sein, kommt da nicht diese Übersetzung auf ein fragwürdiges Zur-Schau-Stellen von Dingen hinaus, welche zur Schau gestellt sich augenblicks im Lichte dieses Deutsch desavouieren?”191
Auch wenn Benjamin Rosenzweigs Hauptwerk Der Stern der Erlösung zu würdigen wußte, so schien doch der Zeitpunkt für die „Reinigung des Deutschen” und den „Rückgriff auf frühere Stufen, die für ‚echter’ und ‚wahrer’ galten”192, schlecht gewählt gewesen zu sein. Die Diskussion um Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Restaurierung mußte sich damit auseinandersetzen, daß sie dem Antisemitismus Vorschub leisten konnte (Adorno: „Fremdwörter sind die Juden der Sprache.”193). Der Restitutions-Versuch einer unmittelbaren Anrufungsfigur im „Gedenken” birgt die Gefahr in sich,
188 Vgl. Kap.I.3 über Angelus Silesius. 189 Vgl. Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV,1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, Frankfurt a. M. 1972, S. 7-21, S. 18f.: „Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.” 190 Walter Benjamin: Brief an Kracauer, Marbach 1987, S. 15: „[…] die Sache ist für uns definitiv ‚klassiert’, man braucht sich nicht mit ihr zu beschäftigen; nicht mehr – nachdem sie es in wirklich allgemeingültiger Weise getan haben. Vom theoretischen Unterbau Ihrer Abfertigung über den Vergleich mit der lutherischen Verdeutschung der Vulgata bis zum schonungslosen und sachgemäßen Nachweise der sprachlichen Deszendenz in Wagner erscheint mir alles im höchsten Grade stichhaltig und geprägt.” 191 Walter Benjamin: Briefe, Frankfurt a. M. 1966, Bd. 1, S. 432. 192 Vgl. Klaus Reichert: „‚Zeit ist’s’. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext”, in: Sitzungsberichte der Wiss. Gesell. an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Band XXX1, 1, 1993, S. 5-33. 193 Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Zweiter Teil 1945, Frankfurt a. M. 1994, S. 141.
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die Vermitteltheit (Sprachlichkeit) der Mitteilung zu übersehen. Rosenzweig hatte mit seinen Überlegungen zum Seinsbegriff („Ich werde dasein, als der ich dasein werde”) sehr wohl erkannt, daß es nicht nur um ein hoffnungslos platonisiertes Verb ging, sondern auch um eine ganze Tradition, in der die göttliche Selbstexplikation in den Dienst einer abendländischen Metaphysik gestellt wird. Das „Ich bin, der ich bin” erschien als Antwort auf die Frage nach dem höchsten Sein.194 Über die Annahme einer göttlichen Präsenz konsolidiert sich das Subjekt nicht nur linguistisch im Anruf. „Hier bin ich” ist die Standardformel einer gehorsamen Antwort, die sich von der Zustimmung zum Gesetz Identität verspricht. In Die Aufgabe des Übersetzers grenzt Benjamin daher die Ausrichtung auf einen Empfänger von der eines sich nicht adressierenden Kunstwerks ab: „Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft. […] Was ‚sagt’ denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht.”.195
Die andere, nicht mit einem Adressaten verbundene Auffassung der Sprache kenne „kein Mittel, keinen Gegenstand und keinen Adressaten der Mitteilung.” (Sprache, 144) Im Namen, dessen Eigenes im Stern der Erlösung als das „Unfliehbare angerufen, das Entrückte” (Stern II, 159) erschienen war, teilt sich diese andere „Sprache „absolut” mit: „Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen”. Was aber läßt den Namen nicht allein zum letzten „Ausruf” aber auch zum eigentlichen „Anruf der Sprache” werden? Eine Medialität ist angesprochen, „die nicht mehr Mediatisierung ist”, sondern unendlich von sich selbst spricht. Bedeutet das nun zugleich den Boykott einer „Instrumentalisierung von Sprache”, die Streichung jeglicher „Referenz an sich”? 196 Stößt das Von-sich-selbst-Sprechen der Sprache, ihre in ihr selbst eröffnete ‚Unendlichkeit’ und „Absolutheit der Medialität”, nicht zugleich auch auf „die Grenze der Sprache und ihrer unmittelbaren ‚Mitteilung’ in ihr/ von ihr”? Als Modus einer ‚absoluten Medialität’ kommt Benjamin auf den Moment der „Offenbarung” zurück und zwar als Aussprechen dessen, was der Name anruft: „das Ansprechen Alles anderen im/des Namen(s). Sein Ansprechen vollzieht sich als die und in der ‚Selbstmitteilung’ der Sprache – in ihm kümmert sich Sprache nur um sich selbst”.197 Daß Sprache in den Dingen nicht vollkommen ausgesprochen ist, zeigt die zweite Schöpfungsgeschichte der Genesis, indem die „Erschaffung des Menschen 194 H. Birus, Echos, S. 33. 195 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers”, S. 9. 196 Bettine Menke: Sprachfiguren. Name, Allegorie, Bild nach Benjamin, München 1991, S. 53. 197 B. Menke, Sprachfiguren, S. 58.
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nicht durch das Wort” geschehe. Vielmehr wird hier dem Menschen die Gabe der Sprache beigelegt („und brachte sie zum Menschen, zu sehn wie er ihnen rufe” Gen.2,19). Der „Zusammenhang zwischen Mensch und Sprache” wird allein in der „dreifachen Rhythmik” der ersten Schöpfungsgeschichte erkennbar, in der es heißt: „Es werde – Er machte (schuf) – Er nannte. – […] In diesem ‚Es werde’ und in dem ‚Er nannte’ am Anfang und Ende der Akte erscheint jedesmal die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache.” (Sprache, 148) Der Schöpfungsakt ist ein sprachlicher, darin erinnert auch Paul de Man in bezug auf Hegels Zitat des fiat lux: „Die Schöpfung ist rein verbaler Natur, sie ist die befehlende, verweisende und setzende Macht des Wortes. Das Wort spricht, und die Welt ist das transitive Objekt seiner Äußerung, aber das impliziert, daß das so Ausgesprochene, zu dem auch wir gehören, nicht das Subjekt des Sprechaktes ist.”
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An ein das Ausgesprochene nicht treffende Sprechen, das ein zweiwertiges repräsentationslogisches Modell des Zeichens hintergeht, schließt sich die Frage nach der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat an. Wer spricht, wenn es heißt: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.” (Gen.1,3)? Das ‚Es werde’ ist ein in der sogenannten „erlebten Rede” verborgenes Zitat. Es steht der Figur des Anrufs und der Apostrophe nur insofern entgegen, als daß letztere die „Illusion der Anrede” (de Man) gestattet. Hier aber, im unpersönlichen Satz, zeigt sich das Problem der losen Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ohne Umschweife. Für de Man ist es verbunden mit der Unvereinbarkeit von Zeichen und Symbol und daher unlösbar: „[…] die willkürliche Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung im Zeichen widerstreitet ihrer fest bestimmten Verknüpfung im Symbol.”199 Die willkürliche Natur des Zeichens steht mit der setzenden Macht der Sprache in Verbindung. Benjamin: „Es bleibt in aller Sprache und ihren Gebilden außer dem Mitteilbaren ein Nicht-Mitteilbares”200. Das Nicht-Mitteilbare bzw. Un-mittel-bare der Sprache aber ist nicht göttlich oder magisch, sondern in einer sekundären Ursprünglichkeit wieder herzustellen: „Die Unterschiede der Sprachen sind solche von Medien, die sich gleichsam in ihrer Dichte, also graduell unterscheiden” (Sprache, 146). Ähnlich wie Rosenzweigs Stern der Erlösung, der vom Schöpfungsprozeß über die Offenbarung zur Erlösung fortschreitet, geht 198 P. de Man, „Hegel und das Erhabene”, S. 69. Dies bedeutet in der Konsequenz, daß „wir nur wie die Puppe eines Bauchredners [sprechen], und zwar auch und gerade dann, wenn wir uns vormachen, freche Antworten zu geben.” 199 Cynthia Chase: „Einem Namen ein Gesicht geben”, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a. M. 1998, S. 414–436, hier S. 425. 200 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers”, S. 19.
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Benjamin in einem Dreischritt vor, die dann als „Dreiheit des Aktes” in der Sprache wiederzufinden ist, „in dem dreifachen: Er schuf des Verses 1,27”. Das dritte Stadium, bei Rosenzweig die „Erlösung”, führt hier jedoch wieder zurück zum sprachlichen Rahmen,201 in den sich das „Er schuf” fügt. Sprache produziert zwar ein mimetisches Verhältnis zwischen (göttlichem) Schaffen und (menschlichem) Erkennen, „aber umso mächtiger bekundet sich eben im Parallelismus der Abstand” (Sprache, 149). Einer Rückkehr zum paradiesischen Zustand stellt sich das negative Potential einer jüdischen Tradition in den Weg.202 Nicht nur für spätere Schriften, sondern auch schon für den – wenn auch die Rückkehr-Idee stets streifenden – Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen ist dies von Bedeutung. Der Offenbarungsbegriff koppelt sich von der Erwartungshaltung einer Erfüllung der Realprophetie (einer zeitlichen ‚Figura’, die den ‚toten Buchstaben’ nur noch zu überbieten hätte) ab und baut auf Interpretation, Kommentar. „Es gibt […] Offenbarung nur als den immer wieder gelesenen und gedeuteten Text, ‚im Umweg’.”203 Auch die Frage nach einem ‚Jenseits’, das dem Text als ursprungsbildend oder anrufend vorausgehen könnte, ist von dieser umwegigen und aufschiebenden Bewegung betroffen: im Text und als Text, als Frage der Darstellung selbst. Ein „mitteilbarer Sinn” wird noch im anagrammatisierten Namen durchkreuzt, in dem andere Kombinationen und Zusammenstellungen der Buchstaben, Tetragramme zur Übersetzung aufrufen und die Schrift zu einem Gewebe verknüpfen. In Die Aufgabe des Übersetzers gewährt Benjamin einzig dem ‚heiligen Text’ diese (Auf)Gabe des Namens, der ein „Halten” gegen das Stürzen von „Abgrund zu Abgrund […] in bodenlose Sprachtiefen” zu versprechen scheint. „Aber es gibt ein Halten. […] Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.”
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Indem sich der heilige Text als sekundäres „Urbild oder Ideal” präsentiert, dessen Re-Präsentation von seiner Übersetzung abhängt, hebt er seine Unmittel-barkeit auf – im Sinne eines Aufbewahrens und Eingedenkens. Denn obwohl der heilige Text gerade der ist, „an dem kein ‚jod’ verändert werden 201 Zum Begriff des Rahmens, vgl. Anselm Haverkamp: „Ein unabwerfbarer Schatten: Gewalt und Trauer in Benjamins Kritik der Gewalt”, in: A. Haverkamp (Hg.), Derrida–Benjamin. Gewalt und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 162–184, hier S. 164. 202 Vgl. Bettine Menke: „Benjamin vor dem Gesetz: Die Kritik der Gewalt in der Lektüre Derridas”, in: A. Haverkamp (Hg.), Derrida–Benjamin, S. 217–275, hier S. 238f.. 203 B. Menke, Sprachfiguren, S. 63. 204 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers”, S. 21.
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darf, um nicht zugleich aller Wahrheit verlustig zu sein”,205 ist er übersetzbar und zwar ohne damit zugleich der Gefahr seiner Zersetzung in die Arme zu laufen. „Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelten Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin. Nicht mehr freilich um seinet-, sondern allein um der Sprachen willen.” (Sprache, 21) Das Un-mittel-bare, das sich der Übersetzung sekundär als ein „Urbild oder Ideal” ableiten läßt, führt zurück zum sprachlichen Rahmen, das seine Voraussetzung war. Der menschlichen Sprache wächst nach Benjamin gerade aus der Differenz zur göttlichen ihre Aufgabe zu: nicht mehr Anruf zu sein als Nachhall von einem gegebenen Namen, sondern „Anruf der Sprache”, d.h. Übersetzung der Mitteilung der Sprache „und insofern reine Sprachlichkeit, weil reine Medialität/ Selbstmitteilung der Sprache”206. Benjamin und Rosenzweig sind sich darin einig, daß die unvollkommene Sprache nach Erlösung ruft. Während Rosenzweig von konkreten Sprech-Instanzen ausgeht (Ich, Du, Wir), betrachtet Benjamin Sprache als System von Zeichen, das sich hinter einer unendlichen Vielfalt von Bedeutungen und Übersetzungen verbirgt.207 Der „Überbenennung” der Sprache als Resultat des Zusammenbruchs einer ursprünglichen Übereinstimmung von Wort und Ding begegnet der Aufruf mit der Rückkehr zu einer universellen „Sprache der Menschheit” (Stern II, 98). Das Prinzip der Vielfältigkeit mag zwar durch die Übersetzung überwunden, nicht aber aufgehoben werden. Die „Sprache der Menschheit” stellt daher einen Grenzwert dar, der sich idealiter nur jenseits der Vielzahl von Sprachen und das heißt nur im Schweigen vollziehen könnte: „und doch gibt es bis auf diesen Tag noch keine Sprache der Menschheit, sondern die wird erst am Ende sein. Die wirkliche Sprache zwischen Anfang und Ende aber ist allen gemein und doch jedem eine besondere; sie verbindet und trennt zugleich.” (Stern II,98)
Die wortlose Verständigung aller im Schweigen stellt ein nicht zu erreichendes Ideal dar, welches die Übersetzung virtuell (als prophetisches „Urbild”) in Aussicht stellt. Dieser Gedanke liegt sowohl Rosenzweigs Stern der Erlösung als auch Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers zugrunde. Mit dem Unterschied, daß Rosenzweig eine versöhnliche Vision mündlicher Sprechsituationen („von Zunge zu Zunge”) entwirft, während Benjamin indirekte Wege einschlägt und zum Hören des Echos der Sprache aufruft:
205 B. Menke, „Sprachfiguren”, S. 416. 206 B. Menke, „Sprachfiguren”, S. 413. 207 Vgl. Stéphane Mosès: „Walter Benjamin und Franz Rosenzweig”, S. 635.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten, ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Ort hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.”
208
1932, kurz bevor er Deutschland verläßt, beginnt Benjamin mit der Redaktion der Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Unter den Texten, die ein subtiles Spiel zwischen Vergessen und Erinnerung inszenieren, befindet sich auch ein „Stück” mit dem Titel „Das Telephon”. Im Passagen-Werk unterstreicht Benjamin, wie wichtig die Kindheit für die Aneignung technischer Innovationen ist: „Das urgeschichtliche Moment im Vergangenen wird – auch dies Folge und Bedingung von Technik zugleich – nicht mehr, wie einst, durch die Tradition der Kirche und Familie verdeckt.”209 Der mythische Aspekt kürzlicher Vergangenheit weist auf den besonderen Mangel einer Gesellschaft hin, die auf den Fortschritt der Technik baut und so dem Mythischen eine „andersartige Merkwelt” entgegensetzt. Das Telefon ist für dieses „beschleunigte Tempo der Technik” offenbar das beste Beispiel.210 Wie in Heideggers Sein und Zeit stellt sich jedoch die Frage, inwiefern sich die sprachphilosophischen Überlegungen zum „Anruf der Sprache” und der Einbruch des Telefons in die bürgerliche Wohnstube um 1900 überhaupt miteinander in Verbindung bringen lassen. „Das Telephon”-Stück, das Benjamin in einer Frühfassung bereits 1933 veröffentlichte, setzt mit einer Unterscheidung zwischen damals und heute ein. „Es mag am Bau der Apparate oder der Erinnerung liegen — gewiß ist, daß im Nachhall die Geräusche der ersten Telephongespräche mir sehr anders in den Ohren liegen als die heutigen. Es waren Nachtgeräusche. Keine Muse vermeldete sie. Die Nacht, aus der sie kamen, war die gleiche, die jeder wahren Neugeburt vorhergeht. Und eine neugeborene war die Stimme, die in den Apparaten schlummerte.”
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Der Vorsatz „Es mag am Bau der Apparate oder der Erinnerung liegen” gibt die Möglichkeit einer Erklärung an die Hand, das Erzählte müsse durch technische und psychische Apparate mit verzerrter Wiedergabe rechnen. Sie geht 208 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers”, S. 16. 209 Walter Benjamin: Das Passagen–Werk, Bd.1, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt a. M. 1982, S. 576, N2a,2. 210 Vgl. Rainer Rochlitz: Le désenchantement de l’art. La philosophie de Walter Benjamin, Paris 1992, S. 213. 211 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, (Vorläufige Fassung 1932/33, erweiterte Fassung 1938, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV,1, Frankfurt a. M. 1991, S. 242.
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„jeder wahren Neugeburt” voraus und erscheint als Zukunft, welche alte Traditionen ablöst: „Keine Muse vermeldete sie.” Waren es in der Antike noch der Musenmund und in der Romantik noch der Muttermund gewesen, die sprachen oder sprechen machten, spricht nun die geisterhafte Membran des Hörmediums, dessen erste Geräusche dem Erzähler „anders in den Ohren liegen als die heutigen”. Diesen ersten Geräuschen und der „neugeborene[n]” Stimme entspricht der erste Ort, an den der Telefonapparat zunächst verbannt wurde: „[…] entstellt und ausgestoßen zwischen der Truhe für schmutzige Wäsche und dem Gasometer in einem Winkel des Hinterkorridors, von wo sein Läuten die Schrecken der Berliner Wohnung nur steigerte”. Das immer wieder zitierte Telefon-Zitat aus der Berliner Kindheit lautet so: „Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, nach langem Tasten durch den finsteren Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, wie sie die Besinnung auf Zeit und Pflicht und Vorsatz mir entwand, die eigene Überlegung nichtig machte, und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigte, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging.”
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Nicht allein die unheimliche, vom anderen Ende der Leitung diktierte Lokalisierung (dazusein, abzunehmen) verschreckt den Angerufenen. Es ist das „Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigte”. Sie läßt duch ihre bedrohlich ferne Nähe keine Wahl, fordert dazu auf, den erstbesten Vorschlag willenlos anzunehmen. Kein Jasagen scheint mehr möglich, bevor es dazu kommen kann, hat die Stimme des Anderen schon überrumpelt. Benjamins Figur des „Anrufs der Sprache” hatte offenbar nicht genügend auf den Angriff der Psyche durch die Technik vorbereitet. Doch die auf den ersten Blick allzu glatte Verurteilung des technischen Fortschritts verunglimpft der Text „Das Telephon” in der Berliner Kindheit auf den zweiten Blick. Denn die Distanz, die das Telefon gerade durch die unmittelbare Nähe einer Stimme zu zerstören drohte, wird durch die Perspektive aus der Erinnerung im Text wieder eingeführt. Im Gegensatz zu den „sehr anders in den Ohren liegenden” ersten Telefongeräuschen und -stimmen, die „Meinungsverschiedenheiten mit den Ämtern” zur Regel machten und den „Vater” mit „Drohungen und Donnerworten” reagieren ließen, kehrt schließlich das zweite, „heutige” Telefon dem „dunklen Korridor
212 W. Benjamin, Kindheit, S. 243.
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im Rücken” und erhält „königlichen Einzug in die gelichteten und helleren, nun von einem jüngeren Geschlecht bewohnten Räume”. An dieser Stelle erhält das Telefon plötzlich ein ganz anderes Gesicht: „Ihm [dem jüngeren Geschlecht] wurde er der Trost der Einsamkeit. Den Hoffnungslosen, die diese schlechte Welt verlassen wollten, blinkte er mit dem Licht der ersten Hoffnung. Mit den Verlassenen teilte er ihr Bett. Auch stand er im Begriff, die schrille Stimme, die er aus dem Exil behalten hatte, zu einem warmen Summen abzudämpfen. Denn was bedurfte es noch mehr an Stätten, wo alles seinem Anruf entgegenträumte oder ihn zitternd wie ein Sünder erwartet.”
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Das Telefon verhindert den „Anruf der Sprache” nicht, es steht nicht in Konkurrenz zum Text. Wie das Medium Sprache, das die Arbitrarität von Zeichen und Bedeutung genauso wie das „Verunglücken” des Sprechaktes als deren eigene Bedingung mitschreibt, läßt das Telefon Möglichkeiten der Verbindung noch als Bedrohung oder auch Chance offen. Noch im Schweigen verspricht es, in die Stille den Laut einbrechen zu lassen. Zwischen Schrekken und Faszination, Exil und königlicher Wohnstube steht die Erwartung, daß ein Anruf eintreffen könnte – oder auch nicht. Der Text aber, der über das Telefon spricht, es inszeniert und beschreibt, ruft dies in der Berliner Kindheit in Erinnerung, indem er verspricht, sich an die „ersten Telephongeräusche” zu erinnern, dies aber nur kann, indem er sie schon vergessen hat, weil sie inzwischen „sehr anders in den Ohren liegen als die heutigen”. Benjamin verbindet wie Hölderlin den „Anruf der Sprache”, die Übersetzung der Mitteilung der Sprache, mit einer radikalen Verwerfung eines dyadischen Sender-Empfänger-Modells. In der Telefon-Szene der Berliner Kindheit um neunzehnhundert kreist die Erinnerung um die unmögliche Rekonstruktion eines ersten, originären Anrufs, der „Nachtgeräusche” und einer in Apparaten schlummernden „neugeborenen” Stimme. Psychoanalytischen Termini zufolge wäre dies nicht nur eine Bestätigung für die Bedeutung des Telefongleichnisses in der Analyse, sondern auch ein Indiz dafür, wie sich Übertragung durch Anwesenheit eines anderen in Widerstand verwandelt und wie sich dadurch das Unbewußte sowohl öffnet als auch schließt.214
213 W. Benjamin, Kindheit, S. 242f.. 214 Sigmund Freud: „Zur Dynamik der Übertragung”, in: S. Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband, Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt a. M . 2000, S. 161ff..
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3. V ER W ER FUNGEN
„W em sonst als Dir” (Friedrich H ölderlin) Das Echo des Nachrufes Der Anruf stellt die Frage nach der Macht des Anrufers. Im Kapitel über sakrale Anrufungen hat sich vom spätantiken Augustinus über den barocken Mystiker Angelus Silesius bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ein immer dringenderer Ruf in die Stille der Schrift abgezeichnet. Wenn im „Anruf der Sprache” Diskurs und Religion zusammenfallen, so bekundet sich doch in diesem „Parallelismus der Abstand”1. Als philosophische, religiöse und rhetorische Figur stellt der Anruf seine eigene Erfüllung in Aussicht. Weil er der Zeitlichkeit der Schrift unterworfen ist, schiebt er das eigene „Urbild oder Ideal”2, den angerufenen, ‚heiligen’ Text, eine zur Übersetzung aufrufende, virtuelle Schrift-Figur, vor sich her. Friedrich Hölderlins Gedichte machen exzessiv Gebrauch von Figuren des Anrufs, der Adresse und des Appells,3 die jedoch immer wieder fremd oder fehl gehen. Bis zu letzten, persönlichen Widmungen und Briefen schreibt sich eine Tendenz fort, heiligen Quellen und geliebten Namen zu mißtrauen. Die Figuren Anruf, Adresse und Appell zeigen sich im Gewand einer Verwerfung. Poetische Korrespondenzen spinnend werfen sie die Frage nach einem Gesetz im Namen – nom – des Vaters auf. Der Bruch mit diesem negierten Vater-Namen (nom – non) erscheint nicht als Resultat einer heroischen Tat, sondern als Voraussetzung für eine Poetologie, die Toten prosopopoïisch eine Stimme leiht und als Epitaph für den Nachruf dient. Anrufe, seien es der Natur, Gottes oder der Geliebten, sind Ausdruck von Trauer. Das betrauerte Objekt aber läßt sich weder verorten noch benennen. Hölderlins namenlose Trauer weiß um ihre Sekundarität. Sie kennt kein Ideal der 1 W. Benjamin, Sprache, S. 149. 2 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzes”, S. 21. Vgl. Kap.II. 3 Vgl. Gerhard Kurz (Hg.), Sammelband Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1996.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Unmittelbarkeit. Der performative, vergegenwärtigende Anruf spricht an, ruft zurück, kann aber nicht über sich selbst sprechen. Eine poetische Arbeit der Introjektion und Inkorporation entsteht. Sie ist kryptisch in verzerrte und umgekehrte Spiegel-Figuren eingelassen. Wenn es nun im folgenden um ein persönliches Widmungsexemplar des Hyperion geht, um diese Thesen zu illustrieren, so mag die Fülle des Materials und der Vorüberlegungen erstaunen. Eine isolierte Analyse der Widmungen, Unterstreichungen und Unterschriften hätte aber, das wird zu zeigen sein, die Bewegung des Verstellens und Verfehlens übersehen. Ein ‚direkter’ Zugang zum auratischen Buch, das einst durch die Hände von Autor und Geliebter wanderte, ist unmöglich. Das umleitende, ja umständliche Verfahren, das gleichzeitig an die Quelle und von ihr wegführt, findet in den Untertiteln dieses Kapitels Ausdruck: von der Qual einer Quelle ist die Rede, von genommenen Namen und versagenden Stimmen, bevor endlich Widmung und Unterschrift die Markierungen und Ränder einer persönlichen Hand-Schrift aufsuchen. Die Umwege folgen den Mäandern der Lektüre. Briefe, Gedichte und Prosaschriften, Gedrucktes und Signiertes gehen Korrespondenzen ein. Hölderlins „Verwerfung des Rezitativs”, die noch Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch konstatieren wird,4 bereitet sich in der barocken Spätmystik vor. Im Unterschied zu Angelus Silesius betrauert Hölderlin aber nicht mehr einen deus absconditus sondern bereits den Mangel an heiligen Namen: „Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Nahmen,/Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?”5 Was sich in diesem Distichon Friedrich Hölderlins als Mangel ausspricht, ein Fehlen „heilige[r] Nahmen”, mündet in einer rhetorischen Frage. Der scheinbare Einwand einer trotz Schweigen zurückbleibenden dichterischen „Rede” erzeugt subtilen Widerstand und hebt sich als Frage auf – im Sinne einer Aufbewahrung und Ant-Wort. Dort wo die „Rede” an ihre Grenze kommt, redet sie vom erhabenen Schweigen.6 Die beredte Schrift steht und fällt mit der autoritären Gesetzesmacht, die nicht unbedingt ‚laut’ werden muß. Das zeigt das Beispiel der Augustinischen confessiones, die Gehör und Gehorsam zur Bedingung einer getreuen (Re)Zitation des „heili-
4 W. Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels”, S. 386, vgl. Kap. II,3. 5 Friedrich Hölderlin: „Heimkunft. An die Verwandten. (Vorläufige Reinschrift)”, in: F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Michael Knaupp (Hg.), München/Wien 1992, 3 Bde, Bd. I, S. 322, künftig zitiert als H I,322. 6 Vgl. Pseudo-Longinus, Vom Erhabenen, übers. v. Reinhard Brandt, Darmstadt 1983. Das Erhabene wird hier als „Höhepunkt und Gipfel der Rede” (S. 29) definiert, das „wie ein Blitz” alle Dinge zersprengt und „sogleich die gedrängte Gewalt des Redners” zeigt (S. 31). Das Schweigen sei „in seiner Größe erhabener als alles, was Rede wird.” (S. 43) Die größte Wirkung hatte die Longinus-Schrift, die einem bekannten Rhetor des dritten nachchristlichen Jahrhunderts zugeschrieben wurde, im 17. und 18. Jahrhundert.
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gen” Textes – des logos – machen, oder auch das der spätmystischen Epigramme im Cherubinischen Wandersmann, die eine Verschriftlichung des Rufes im Übergang vom verinnerlichten Gebet über mystische Kontemplation bis zur epigonalen Rezeption reflektieren. In all diesen poetologischen Entwürfen wird auf unterschiedliche Art „Selbstanalyse” betrieben. Sie zielen ins Innere von ‚Ich’ und Text (Augustinus: „Wort-selbst, das ruft, du solltest heim”, „Ort in mir”; Scheffler: „Ein Abgrund rufft dem anderen”). Jene „Verinnerung” oder Introjektion nennt Freud Trauerarbeit, d.h. „narzißtische Identifizierung mit dem Objekt […] als Ersatz der Liebesbesetzung”7. Mag man, wie Derrida im Anschluß an die Psychoanalytiker Maria Torok und Nicolas Abraham, der Freudschen Unterscheidung zwischen „normaler”, irgendwann überwundener, und „pathologischer”, nicht aufhörender Trauer nicht folgen, dann stellt sich die Frage nach ihrer grundsätzlichen Unabschließbarkeit bzw. nach einem Umschlag der Introjektion (Verinnerung) in Inkorporation (Einverleibung).8 Mit der Inkorporation vollzieht sich eine Trauerarbeit, die unabschließbar ist, weil sie das geliebte Objekt in einer inneren Krypta verschlossen hält, es zu einem „a-topischen” macht: „ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen”9. Der Ohnmacht der Introjektion, die „langsam, mediatisiert, effektiv” vorgeht, entgegnet eine geheime oder kryptische Inkorporation, die sich als „fantasmatische, unmittelbare, augenblickliche, magische, manchmal halluzinatorische” nahezu aufdrängt.10 Anders als die Introjektion läßt sich die Inkorporation nicht in geglückter Trauerarbeit aufheben. Stattdessen fordert sie als eine kryptische, innere Krypta im Innern des Außen, dazu auf, die Verwerfung des Eigennamens nicht rückgängig zu machen. Wie andere Worte auch büßt der Eigenname eine symbolische Dimension ein und wird – als literarisiertes Symbol – im Realen weiterhin zurückgehalten.11 Wenn Schrift ohne Einhauchung des göttlichen Atems auf die Seite eines „Nichts” verworfen wird, dann verordnet sich die „Rede” Schweigen. Hölderlins Fragesatz „doch bleibet die Rede zurük?” enthält neben dem Konstat fehlender „heiliger” Namen zudem eine Aufforderung, die melan-
7 Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie”, in: S. Freud, Studienausgabe, Bd. III, Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 2000, S. 203. 8 Vgl. Anselm Haverkamp: Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie, München 1991, bes. S. 11-29: „Kryptische Subjektivität. Archäologie des LyrischIndividuellen. Mutmaßungen über Trauerarbeit: Freud, Benjamin, Derrida.” 9 J. Derrida, „Fors”, S. 12: „[…] la crypte construit un autre for: clos, donc intérieur à lui-même, intérieur secret à l’intérieur de la grande place, mais du même coup extérieur à elle, extérieur à l’intérieur.” 10 Ebd., S. 17. Vgl. auch Verf.: „Trauern um Medea? Müller via Euripides”, in: Gisela Ecker (Hg.), Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, München 1999, S. 149-167. 11 Vgl. Gregory L. Ulmer: Applied grammatology. Post(e)-Pedagogy from Jacques Derrida to Joseph Beuys, Baltimore 1985, bes. S. 59ff.: „Orality”.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
cholische „Einverleibungsmetaphorik des Lesens”12 beim Wort zu nehmen. Die ausbleibende Antwort ist nicht allein „Abwehrgeste gegen den Umstand […], daß das werdende Subjekt alle Dinge samt seiner selbst schon benannt vorfindet”, sondern angesichts der Tatsache, „um die Lust des adamitischen Namensgebens betrogen” worden zu sein,13 überhaupt erst Hinweis auf zukünftige Trauer: „Biß in dem willkommnen, ruhevollen Grabe/Aller Sturm, und aller Lärm der Thoren schweigt”, heißt es am Ende von Die Stille (1788).14 Trauer ist von ambivalenten Zügen gezeichnet. Sie verbindet den Schmerz über den Verlust mit der Lust zu überleben. Die Radikalität und Modernität von Hölderlins Texten reflektiert sich im dargestellten Widerstreit einer ambivalenten, unabschließbaren Trauer, im und als poetisch-poetologischer Entwurf. Daß dabei die Figur des Anrufs von wesentlicher Bedeutung ist, leuchtet nicht nur aufgrund einer langen odischen Lyrik-Tradition ein, die literaturgeschichtlich gesehen mit Hölderlin und der Romantik zu einem vorläufigen Höhepunkt und Ende findet.15 Wie Jonathan Culler in seinen Überlegungen zur Figur der Apostrophe darlegt, gibt das anerkannte Gattungsmerkmal der Ode, die Anrede, in der Forschungsliteratur Anlaß zur Verlegenheit.16 Apostrophen machen verlegen, weil sie vor grundsätzlich lyrische Probleme wie Personifikation und Verlebendigung stellen und sich gegen eine narrative Auflösung sträuben. Sie werden buchstäblich verlegt bzw. deskriptiv umschrieben mit dem Ziel, Poesie nachträglich eines besseren zu belehren. Die „deskriptive Nähe” annuliert den Versuch eines Gedichts, performative Nähe darzustellen, und reduziert es auf die Überschätzung eigener Möglichkeiten.17 Daß Poesie nicht in die Falle ihrer Überschätzung tappen muß, zeigen Hölderlins elegische und hymnische Gedichte. So spinnen sich beispielsweise in der Elegie Heimkunft/an/die Verwandten, dessen erste Fassung das zu Eingang zitierte Distichon enthält, 12 A. Haverkamp, Laub voll Trauer, S. 21. 13 Vgl. Jochen Hörisch: „Die ‚poetische Logik’ des Hyperion. Versuch über Hölderlins Versuch einer Subversion der Regeln des Diskurses”, n: Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.), Urszenen: Literaturwissenschaft als Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 1977, S. 167-201, hier S. 169. 14 H I,37,91-92. 15 Vgl. z. B. Karl Viëtor: Geschichte der deutschen Ode, München 1923. Reinhard Hoßfeld: Die deutsche horazische Ode von Opitz bis Klopstock, Düsseldorf 1961. Und James von Geldern: „The Ode as a Performative Genre”, in: Slavic Review. American Quarterly of Russian, Eurasian and East European Studies, 50, 1991, S. 927-39. Und François Rouget: „L’esthétique de l’ode et de la chanson de la Pléiade (1550–1560), in: Romanic Review, 87, New York 1996, S. 455–64. 16 Jonathan Culler: The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction, Ithaca 1981. 17 Anselm Haverkamp: „FEST/SCHRIFT. Festschreibung unbeschreiblicher Feste: Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee”, in: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), Das Fest, München 1989, S. 276–298, hier S. 283: „Deskriptive Nähe rückt das in unendliche Ferne, was das Gedicht in seiner performativen Geste darzustellen versuchte […]. Es erläge sozusagen einem performativen Selbstmißverständnis seiner Möglichkeiten.”
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zwischen brieflicher Titel-Anrede und odischen Apostrophen („[…] o säumt nicht,/Kommt, ihr freundlichen, ihr, Götter des Jahres! und ihr//Götter des Haußes, kommt!”18) verwandtschaftliche Bindungen. In Gestalt göttlicher Boten („Gewittervogel” und „Engel”/„Götter” in der späteren Fassung)19 nimmt eine „Grundfigur der Mitteilung” Gestalt an, die ihr eigenes „Erwachen” in Szene setzt.20 Das Jahr 1801, in dem die verschiedenen Fassungen von Heimkunft enstanden sind, leitet eine Phase der frei- und eigenrhythmischen Gesänge Hölderlins ein, die zwei neue Elemente betonen: die Wendung zum „Vaterländischen” und die Auseinandersetzung mit griechischer Chorlyrik.21 Während der regelmäßig gebaute triadische Gesang noch im ersten Entwurf Wie wenn am Feiertage (1800) erprobt wird, faßt dagegen der erste Satz in Der Mutter Erde. Gesang der Brüder Programmatisches und Problematisches dieser traditionellen Gesangsart zusammen: „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang.” (H I,334/1) Im freirhythmischen Poem hat sich der Gesang von seiner kollektiven Funktion innerhalb einer befriedeten Gemeinde gelöst, „einsam” (Vs.32) wechseln sich drei martialisch gestimmte Brüder ab, deren gemeinsamer Schlußgesang zwar in der merkwürdig isoliert bleibenden Zeile „Noch aber” (Vs.21) geahndet werden kann, letztendlich aber ausbleibt. Ein Wechsel der Töne klingt „Im Sehnen und Hoffen” an, um „harmonisch wechselnd fortzuschreiten”, wie eine Forderung für tragische und sentimentalische Stoffe in einem Brief an Neuffer 1799 lautet.22 In Der Mutter Erde stützt sich Hölderlin auf die Lehre der drei Chöre in Platons Nomoi, die den griechischen Doppelsinn des Wortes νοµοζ für ‚Gesetz’ und ‚musikalische Weise’ betont: „Geschaffen ein reines Gesez,/und reine Laute gegründet.”23 Der etymologische Gleichklang von 18 H I, 322,89–91. 19 H I,370f. und 90f.: „O säumt nicht,/Kommt, Bescheidenen ihr! Engel des Alters! und ihr,//Engel des Jünglings. Kommt!” 20 Zu den Varianten von Heimkunft vgl. Wolfram Groddeck: „‚…und die Wolke,/Freudiges dichtend’. Der poetologische Metatext in Hölderlins Elegie Heimkunft/an/die Verwandten”, in: Uwe Beyer (Hg.), Neue Wege zu Hölderlin, Würzburg 1994, S. 153–181, hier S. 165. 21 Vgl. M. Knaupp, Kommentar, H III,187. 22 Vgl. H II,782. An Neuffer, Homburg vor der Höhe, 1799: „So wie nun die tragischen Stoffe gemacht sind, um in lauter großen selbstständigen Tönen harmonisch wechselnd fortzuschreiten, und mit möglichster Ersparniß des Accidentellen ein Ganzes voll kräftiger bedeutender Teile darzustellen, so sind die sentimentalen Stoffe z.B. die Liebe ganz dazu geeignet, zwar nicht in großen und vesten Tönen, und mit entscheidender Verläugnung des Accidentellen aber mit dieser zarten Scheue des Accidentellen, und in tiefen vollen elegisch–bedeutenden, und durch das Sehnen und Hoffen, das sie ausdrüken, vielsagenden Tönen, harmonisch wechselnd fortzuschreiten”. Vgl. auch Meta Corssen: „Der Wechsel der Töne in Hölderlins Lyrik”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 1951, S. 19–49, hier S. 49. Und Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne, Stuttgart 1960. 23 H I,334/29–30. Vgl. auch Platon: Nomoi, übers. v. Hieronymus Müller/Friedrich Schleiermacher, in: Platon, Sämtliche Werke, Reinbek bei Hamburg 1994, Bd. 4, 700b, S. 251: „Damals zerfiel nämlich unsere Tonkunst in gewisse Gattungen und Darstellungsweisen, und eine Gattung des Gesanges ent-
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Gesangsweise und Gesetz zieht sich in die Utopie einer sich selbst aufhaltenden und forttreibenden Rede zurück, mit der sich die hörend Wartenden bisweilen „noch” begnügen müssen: „Wer will auch danken, eh’ er empfängt, Und Antwort geben, eh’ er gehört hat? Ni indeß ein Höherer spricht, Zu fallen in die tönende Rede.”
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Auch in Heimkunft/an/die Verwandten ereignet sich die „Rückführung oder ‚Heimkunft’ der Sprache zum ursprünglich poetischen Doppelsinn der Worte”25 durch Verdoppelungen von Götter- und Engel-Apostrophen oder über geschickte Zitateinsätze des Oden-Vorgängers Pindar. Genau das kommt zur Sprache, wovon geschwiegen wird. Das ‚Rufen’ ‚heiliger’ Namen stößt im Gedicht an Grenzen der Darstellung, macht diese nachvollziehbar. In Gestalt einer Heimkunft teilt sich das poetologische Paradox einer ausgesprochenen Unsagbarkeit mit. Heimkunft/an/die Verwandten zeigt die Ambiguität wiederholender Lese-Akte: „Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne”.26 Eine (un)mögliche Wiederbelesung ist im Zurückbleiben der Rede in ihre Zukunft bzw. „Heimkunft” projiziert, im adressierten Übertrag der Widmung „an die Verwandten”, in der Warnung vor der ‚Unschicklichkeit’ direkter Adressierung: „wen darf ich nennen […]/[…]wie bring ich den Dank?/Nenn ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott nicht,/Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.”27 Wenn Konvention und Ritual des Gebets – für Platon erste Gattung des Gesangs – nicht mehr ausreichen, um eine menschlich-göttliche Verbindung sicherzustellen, präsentiert sich die Anrede des begehrten Objekts im Entzug von Ort, Stimme oder Name. Noch in zurückbleibender „Rede” geht sie fehl: „Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.”28 Mit dem Partikel „fast” macht der Nachsatz die Einschränkung („zu klein”) unmerklich rückgängig, zugleich ruft die lautliche Verwandtschaft das betroffene Verb „fassen” wieder in Erinnerung. Philippe Lacoue-Labarthe schlägt vor, das Hölderlinsche Werk unter das Vorzeichen Il faut zu stellen. Das Verb falloir ist ein Doppelgänger von
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hielt Gebete an die Götter, welche Hymnen genannt wurden; dieser Gattung stand eine andere entgegen, die man hauptsächlich als Klagegesänge bezeichnete, und Siegesgesänge waren wieder eine andere, und eine andere ein Erzeugnis des Dionysos, wie ich glaube, Dithyrambos geheißen. Und sie nannten auch, mit eben diesem Namen, ‚Gesetze’ eine andere Gesangsweise und setzten ‚lautenschlägerische’ hinzu.” H I,336,61–64. Groddeck, „Freudiges”, S. 160. H I,371,103. Erste Fassung, H I,322,99–100. H I,371,100.
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faillir, beide kommen aus dem lateinischen faillire, was soviel heißt wie ‚betrügen’, ‚verfehlen’. Das zum Gehorsam aufrufende, unpersönliche Il faut – ‚man muß’ oder „Es soll!”29 – zeitigt mit dem Verb faillir einen ihm innewohnenden Betrug bzw. Mangel. Dieser artikuliert sich in der imperfekten Zeitform „il a failli venir” (er wäre fast gekommen), die sich einem imperativischen Anruf widersetzt und von einem vergangenen, aber konditionellen und damit merkwürdig futurisch bleibenden Ereignis spricht. Mit Hölderlin hieße dies: „Tausendfach kommet der Gott” (Brod und Wein).30 Als Konstat und Versprechen teilt sich im noch nicht eingetretenen „fast” das nicht mehr zu „fassende” mit: „Freund! ich kenne mich nicht, ich kenne nimmer den Menschen,/Und es schämet der Geist aller Gedanken sich nun./Fassen wollt’ er auch sie, wie er faßt die Dinge der Erde/Fassen/Aber ein Schwindel ergriff ihn süß”31. Die Anrufung steht hier unter dem Zeichen einer défaillance, einem Versagen. Doch gerade die Darstellung dieser ‚Schwäche’ gibt der Sprache ihren prozeßhaften Charakter zurück, indem sie den Zerschlagungsprozeß von Figuren, ihr Verschwinden im „fast” noch dokumentiert: „Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.” Noch oder auch gerade im Prozeß der Defiguration teilt sich nicht mehr Figurierbares mit.32 Die Rücksicht auf Darstellbarkeit ersetzt eine Rücksicht auf Versteckbarkeit. Will man diese als Sprechakt verstehen, so besteht ihr perlokutionärer Effekt in der Aufforderung, die kryptographischen Inschriften des Textes, d.h. die dort verstellten Namen zu lesen, zu entziffern. Die Entzifferung beruht auf der Ziffer, die der Verstellung im Namen zugrundeliegt. Damit führt sie nicht direkt zum Grund einer trauernden Haltung oder zur Rückerstattung eines verlorenen Objektes. Vielmehr akzeptiert eine kryptographische Lektüre „die anagrammatische Latenz der Namen”, indem sie, anders als die Psychoanalyse, nicht vorgibt, sie aus ihrer traumatischen Defiguration entlassen zu können: „‚Vergessen’ ist nicht in Erinnerung zurückzuverwandeln; im Gegenteil führt von der Latenz kein Weg zurück.”33 Am
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Hyperions Jugend, H I,528. H I,377,66. H I,169: An Neuffer. [Hervorhebungen v. Verf.]. Vgl. Philippe Lacoue–Labarthe: „Il faut”, in: Modern Language Notes, 107, 1992, S. 421–440, hier S. 436. Eine solche De–Figuration (Entstaltung) bedeutet Lacoue–Labarthe zufolge nicht zugleich eine Aufhebung. Vielmehr verhalte es sich wie bei einem photographischen Negativ um etwas negativ Sichtbarwerdendes. Als reinste Affirmation von Il faut, im Rückzug eines Geschehens, das fast stattgefunden hätte, zeichne die Figur ihr Abwesendsein, hinterlasse eine unauslöschliche Spur. 33 Anselm Haverkamp: „Anagramm und Trauma”, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske: Konferenz des Konstanzer Graduiertenkolleg Theorie der Literatur veranstaltet im Oktober 1992, Susi Kotzinger (Hg.), Amsterdam 1994, S. 169–174, hier S. 171.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
„Rande der Romantik”34 entsteht eine Trauer, die sich im Vorgriff auf den Akt des Lesens im ver-inner-ten Text verdoppelt und fortschreibt. Versiegende Quellen, genommene „Nahmen”, versagende Stimmen, entschlossene Widmungen und ‚gefälschte’ Unterschriften weisen auf ein Fehlgehen von Konventionen, die in entgleitenden Signifikanten unterlaufen wird. Die langue stellt für die parole ihre Laute und Gesetze zur Verfügung, wahrt auf diese Weise Distanz von Ausdruck und Ausgedrücktem. Sie aktualisiert bzw. individualisiert sich in der parole und überführt sie einer lautlichen Unberechenbarkeit: „Sprache […] getrennt von der Rede, vom Sprechakt (discours, parole), ist eine Abstraktion.”35 Konventionen kommen um die Sprache als „materia prima” nicht herum und unterlaufen die bedeutungsgebende Autorität, welche „unter dem höchsten Signifikanten des Vaters” steht, „den Hölderlin nicht nur im biblischen Gott-Vater fand, sondern auch im Pindarischen Vater-Text.”36 Im Unterschied zur prophezeiten Ankunft des Messias in apostolischen Texten erwägen Hölderlins Verse die Möglichkeit einer conversio nicht mehr.37 Rhetorisch ‚verwandtschaftliche’ Beziehungen zwischen Göttern und Menschen knüpfend stehen sie unter dem Zeichen einer Filiation, die den anderen, gedoppelten Vater-Namen trägt. Und noch dieser gespaltene Ursprung muß beschworen werden, weil er eine sichere Referenz versagt. Im frühen Gedicht Die Meinigen (1786) verbindet Hölderlin die Trauer
34 Anselm Haverkamp: „Kryptische Subjektivität – Archäologie des Lyrisch–Individuellen”, in: A. Haverkamp/M. Frank (Hg.), Individualität. [Poetik und Hermeneutik], Bd. XIII, München 1988, S. 347–383, hier S. 356. 35 Vgl. Jean Starobinski: Les mots sous les mots, Paris 1971. Vgl. auch Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übers. v. Henriette Beese, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, S. 9. 36 Rainer Nägele: „Vatertext und Muttersprache. Pindar und das lyrische Subjekt in Hölderlins später Dichtung”, in: Le pauvre Holterling, Basel 1988, S. 39–52, hier S. 43. 37 Eher verbleiben diese in einer „Zeit der Ungewissenheit”, wie Wolfgang Binder anhand einer vergleichenden Lektüre der Bibel–Szene am Aeropag gezeigt hat. Vgl. W. Binder, „Hölderlins Namenssymbolik”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 12, 1961–62, S. 95–204, hier S. 112f.: „Die nächste Beziehung dürfte sein Motiv mit dem αγνωοιοξ υεοζ der Athener verbinden, den Paulus in der Aeropag–Rede deutet (Apg.17,19ff.). Wie sehr sich Hölderlin diese Rede eingeprägt haben muß, geht aus mehreren Stellen hervor. Die Wendung: ‚Er wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht’ kehrt in zitierten Sätzen über den Einen [aus Hyperions Jugend, fünftes Kapitel, H I,546] wieder: ‚kein Tempel ist ihm angemessen’. An die Stelle: ‚fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns’ klingt der Eingang der ‚Patmos’–Hymne an: ‚Nah und schwer zu fassen der Gott.’ […] Von Hölderlins spekulativer Verbindung zwischen Nähe und Unsichtbarkeit des Gottes ist Paulus weit entfernt. Er meint die geschichtliche Tatsache, daß das Evangelium noch nicht nach Athen gedrungen ist, im Altar des unbekannten Gottes aber schon ein Zeichen des Kommens besitzt. […] Wie in vielen Fällen muß man sich also damit begnügen, Anregungen durch biblische Worte und Szenen festzustellen, die Hölderlin jedoch im Sinne idealistischer Denkformen umdeutet, während sich umgekehrt auch neutestamentliche Denkweisen finden, die nun ganz in die Hölderlinsche Sprache eingegangen sind.”
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um den verstorbenen zweiten Vater Johann Christoph Gock mit dem pietistischen Gebet der Mutter. Zahlreiche Interjektionen („O du”, „Ja!” „O so hilf”) und Anreden bringen die Dringlichkeit einer Bittrede und ihren „‚furchtbare[n]’ Gegenstand der Anrede” zum Ausdruck.38 Angerufen ist mit dem Einen zugleich der Andere, „Herr der Welten” und „Ewigtreuer Vater”. Hinter dem Vaternamen taucht das eigentliche Bild des „Jammers” und des „Verlangens” auf: „Und du geliebte, gute Mutter!” Aus der Perspektive des Sohnes kann der Tod des zweiten Vaters nicht über die unmögliche ‚Echtheit’ einer ‚eigenen’ Trauer hinwegtäuschen. Sie ist gezeichnet von einem sekundären Blick, der die Trauer der Mutter um den „ewigtreuen Vater” mitansieht und stellvertretend an die nächste Instanz weiterleitet: „Vater! liebevoller Vater! hilf, o hilf ihr tragen/Meiner Mutter – jede Lebenslast” (H I,22). Vom Fremd- oder Fehlgehen sind auch Hölderlins Widmungen gekennzeichnet. Sie verschreiben sich dezidiert einer Person. Die bekannteste, Wem sonst als dir, richtet sich an eine namentliche Adresse, die dem elegischen Roman Hyperion im Anagramm der „holden Statue” eingraviert ist. Hölderlin, Holder genannt, tritt in heimliche, poetische Korrespondenz mit der Geliebten Susette Gontard.39 Die Lektüre eines historisch überlieferten Widmungsexemplares fragt jedoch zunächst nach einer Quelle und ihrer (un)möglichen Aufbewahrung in der namentlichen Anschrift. Eine handschriftlich signierte, unterstrichene Fassung produziert neben dem Problem der Entzifferung und Zuordnung Geschichte am Text-Körper.40 Ein auratischer Moment, der sich durch nichts wiederholen läßt.41 Korrekturen, Un-
38 A. Haverkamp, Laub voll Trauer, S.108. 39 H I,705. Auch in den Vorstufen zum Hyperion ist mehrfach von der Statue oder dem holden Knaben die Rede, vgl. H I,512: „Es sas an einer Statue, und ein holder Knabe stand vor ihm.” H, 516 und 524. Auf das Anagramm weisen hin Roman Jakobson/Grete Lübbe–Grothues: „Ein Blick auf Die Aussicht von Hölderlin”, in: R. Jakobson, Hölderlin, Klee, Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, Frankfurt a. M. 1976, S. 32. Zur Stillstellung der Figur Diotima als Bild und Statue, ihre Bannung, vgl. Marlies Janz: „Hölderlins Flamme – Zur Bildwerdung der Frau im Hyperion”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 22, 1980–81, S. 122–142. Janz legt ihrem Aufsatz einen literarischen Figur–Begriff zugrunde, der aus Hyperion und Diotima sprechende und handelnde (biographische) Personen macht, ihr Erzähltwerden aber vollständig ausklammert. Zur Kritik an Janz’ „ausschließlich an der Gegenwart orientierten emanzipatorischen Perspektive”, vgl. Brigitte Haberer: Sprechen, Schweigen, Schauen. Rede und Blick in Hölderlins „Der Tod des Empedokles” und „Hyperion”, Bonn/Berlin 1991, S. 247. 40 Das Exemplar ist in der ständigen Hölderlin–Ausstellung des Deutschen Schiller–Nationalmuseums in Marbach a.Neckar zu sehen. 41 Vgl. Verf.: „An/Ruf: Quelle, Nahme, Stimme. [Zu Friedrich Hölderlins Hyperion]”, in: Weimarer Beiträge, 4, 2001, S. 559–575. Vgl. auch Hamlin Cyrus: „‚Stimmen des Geschiks’. The Hermeneutics of Unreadibility. (Thoughts on Hölderlins Griechenland)”, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.), Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, S. 252–278, hier S. 271: „What a contrast between the intensity of such
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terstreichungen, Widmungen, Unterschriften und kryptische Zeich(nung)en springen über zur Quelle, indem sie weg- und hinführen zu einem verstellten Ursprung, hinweg zu Anruf und Verwerfung.
Quälende Quellen Bei der Lektüre eines handschriftlichen Widmungsexemplars hat sich die Frage nach möglichen Quellen gestellt. Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland greift sowohl auf neuplatonische Vorstellungen des Weltseelenthemas bzw. auf „medizinische Bilder des Ausströmens und Zurückkehrens des Lebens wie im Puls des Blutes und im Atmen” zurück als auch auf „ein modernes, fast möchte man sagen ‚früh-elektrisches’ Modell der Physik, wie es erst in der Naturwissenschaft des späten 18. Jahrhunderts auftaucht”42 vor. Techniken wie Magnetismus und Hypnose, von denen sich die Psychoanalyse hundert Jahre später versprechen wird, Widerständen der Übertragung und inneren Krypten, „Grabstätten im Leben des Ich”,43 zu Leibe zu rücken, sind um 1800 erst im Entstehen begriffen. Hölderlins Arbeiten am Hyperion stehen noch „unter dem Leitgedanken einer Erneuerung der Platonischen Akademie”, so Hölderlin in einem Brief an Neuffer, in dem der Roman 1793 zum ersten Mal erwähnt wird: „aus dem Platanenhaine am Ilissus, wo ich unter den Schülern Platons hingelagert […] schwindelnd ihm folgte in die Tiefe der Tiefen, in die entlegensten Enden des Geisterlands, wo die Seele der Welt ihr Leben versendet in die tausend Pulse der Natur, wohin die ausgeströmten Kräfte zurükkehren nach ihrem unermeßlichen Kreislauf”.44 Bereits in den Tübinger Hymnen klingt in häufigen Ausrufen („Ha! Jubel! Jubel […] O! Ach!”) eine Emphase an, die den Genius der Jugend45 des 20jährigen Stiftlers verrät. Und doch ist die Überblendung von mehreren Topoi und Quellen – Ilissus war der Fluß, an dem Sokrates und Phaidros über die Liebe reden, der hier nicht genannte Cephissus aber tatsächlich der, an dem sich der Hain des Akademus befand, während als Text-Quellen neben Phaidros auch Timaios oder Symposion in Frage kommen – kein Versehen, sondern durchaus geplant. In späteren Fassungen
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visual scrutiny and the delicacy with which I held so precious a document in my hand!” Michael Franz: „‚Platons frommer Garten’. Hölderlins Platonlektüre von Tübingen bis Jena”, in: Hölderlin–Jahrbuch, Bd. 27, Tübingen 1990/91, S. 111–127, hier S. 124. Vgl. auch Ulrich Gaier: Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993. Maria Torok: „Maladie du deuil et fantasme du cadavre exquis”, in: N. Abraham/M. Torok, L’écorce et le noyau, Paris 1978, S.237. Vgl. auch Psyche 37, 1983, S. 497–519, hier S. 505. H II,499. Brief Nr.60, Tübingen, 21./23.Juli 1793, an Neuffer. Vgl. H I,127: Hymne an den Genius der Jugend
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des Jugend-Gedichtes46 sowie im Hyperion schwankt die Namensnennung weiter zwischen den beiden Ortsangaben.47 Platons mündlicher Unterricht vor den „hingelagert[en]” Schülern hinterläßt im Umweg über Aristoteles eine Prinzipienlehre, die dem Hyperion voransteht. Einheit, Trennung und vermittelte Einheit resultieren hier aus einem dynamischen Prozeß, seit Plotin und Proklos bekannt als Hypostasenlehre des Neuplatonismus.48 Mit der Vermischung mündlicher Lehren und schriftlicher Quellen drängt sich in Hölderlins Gedichten, die über das Erscheinen des Hyperion hinaus Quelle und Fluß als topographische Realien ansprechen,49 die Frage nach dem Text und seiner Rezeption auf. Sie scheint zwei Verhaltensweisen anzubieten: „Pflege des vesten Buchstaben und Auslegung des Sagens”50. Im Hyperion („Die reinen Quellen fodr’ ich auf zu Zeugen” [H I, 665]) erscheint der Ort der Quelle als futurischer: „und wir werden sizen am Quell” (H I, 735). Die Verheißung des gemeinsamen Ortes mit Diotima, „Priesterin der Liebe”, „himmlisches Wesen” (H I,539f.), erwägt das Sich-Verlieren in der BriefLektüre, die trotz des Übersprungs zu verschiedenen Namen, Initialen und Gestalten den Rückruf – den Anruf im selbstbezüglichen Sich-Sprechen-Hören – antizipierend mit einschließt. Dies hat, wie die Auslegungsgeschichte zeigt, prophetischen Charakter. Heidegger beispielsweise wird mit der Apostrophierung des „Dichters der Dichter” zum Erhören der ursprünglichsten aller Auslegungen – seiner eigenen – aufrufen. Die Metaphorisierung des Gedichts als Glocke, deren freier Schwung „schon durch einen leichten, über sie kommenden Schneefall verstimmt” werde, warne vor jeglichem Mißklang, vor jedem falschen, durch „undichterischen Lärm” gestörten Empfang.51 Mit dem rhetorisch unterbundenen Fragesatz „wie man [einen 46 Der Gott der Jugend, eine zur gleichen Zeit wie der Neuffer–Brief datierte Umarbeitung der Hymne an den Genius der Jugend. 47 M. Franz, „‚Platons frommer Garten’”, hier S. 117. Die These, daß beide Orte „salva veritate für einander eingesetzt werden können”, vertritt auch der Renaissance–Platoniker Marsilio Ficino (1433–1499) in seinen Kommentaren Platonischer Dialoge, „zu Hölderlins Zeiten das verbreitetste Hilfsmittel zum Studium Platons”. Ficinos allegorische Deutung war in gelehrten Kreisen wie beispielsweise beim Stiftsnachbar Schelling verpönt. 48 Vgl. auch Michael Franz: „Hölderlins Platonismus. Das Weltbild der ‚exzentrischen Bahn’ in den Hyperion–Vorreden”, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 22, 1997, S. 167–187. 49 Vgl. Der gefesselte Strom (1800), Am Quell der Donau (1801) und Der Rhein (1801), Der Ister (1804). 50 R. Nägele, „Vatertext”, S. 47. Vgl. H I,453: Patmos: „Unwissend, der Vater aber liebt,/Der über allem waltet,/Am meisten, daß gepfleget werde/Der veste Buchstab, und bestehendes gut/Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.” 51 Vgl. Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in: M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1996, S. 7. Heidegger zitiert einen Auszug aus Hölderlins unvollendetem Gedicht Kolomb, H I,427: „Von wegen geringer Dinge Verstimmt wie vom Schnee war Die Gloke, womit
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Text] lesen soll u. wann er […] vollständig angeeignet ist”52 streift Heidegger die Möglichkeit eines Lektüre-Imperativs. Das hat wiederum Paul de Man zu dem Verdikt der „Häresie” veranlaßt: „die Tatsache nämlich, daß Hölderlin genau das Gegenteil von dem sagt, was Heidegger ihm in den Mund legt.”53 Die Qual der Quelle rührt von einem narzißtischen Begehren her, welches selbst noch einen sich abzweigenden Ursprung, das lautliche Echo in der Paronomasie Qual/Quelle aufzuheben sucht.54 Wenn Heidegger auf den „Text an sich” zurückzukommen sucht, der womöglich noch „nach den urschriftlichen Entwürfen erneut geprüft” werden muß, so verstrickt er sich in einen paradoxen Chiasmus, der über die Unmöglichkeit einer plausiblen Quellenangabe für eigene Ausführungen und deren „Gewalttätigkeit” gilt. Die Auslegung des Textes gerät zum Text der Auslegung.55 Genau diese Bewegung der Umkehrung, jene Wende oder Trope, die anhand der Auslegungsgeschichte nachvollzogen werden kann, führt in Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland vom Ende an den Anfang. Wie in der Vorrede spielen im letzten Brief „Dissonanzen” und „Auflösung”, Trennung und Vereinigung, eine Rolle. So die vielzitierten „prophetischen Mysterienworte des Schlusses”56 „Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder”57, welche im letzten Satz – mit einer
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Man läutet Zum Abendessen”. In Hölderlins Gedicht aus dem Homburger Folioheft geht es um Aufbruch und Entdeckung der Kolonien, was Heidegger mit seinem Zitat stillschweigend übergeht. Warum wird jener Zusammenhang, der doch gerade für die Heideggersche Figur des Rufes als Rückruf (an die – griechische – Quelle, den etymologischen Ur–Sprung) ganz zentral sein müßte, an dieser Stelle übergangen? Vgl. auch Hans Joachim Kreutzer: „Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik”, in: Hölderlin Jahrbuch, Bd. 22, 1980/81, S. 18–46. M. Heidegger, Erläuterungen, S. 207. Im Anschluß an die Erläuterungen hatte Heideggers Doktorand Detlev Lüders darauf aufmerksam gemacht, daß ein Satz aus der Rede über Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage eine merkwürdige Umkehrung enthalte. Heideggers Satz ist in der Tat verwirrend, vgl. M. Heidegger, Erläuterungen, S. 51: „Der hier zugrunde gelegte Text beruht, nach den urschriftlichen Entwürfen erneut geprüft, auf dem folgenden Versuch einer Auslegung.” Paul De Man: „Hölderlin et Heidegger”, in: Critique, 100/101, 1955, S. 800–819. Vgl. auch Derridas Überlegungen zum Gedächtnis, zu Hölderlins Gedicht, das Paul de Man handschriftlich in Derridas Exemplar von Blindness and Insight eingetragen hatte. J. Derrida: „Mnemosyne”, in: J. Derrida: Mémoires. Pour Paul de Man, Paris 1988, S. 27–57. Vgl. J. Derrida, qual quelle, S. 338f.. Derrida zitiert ein Jakob Böhme–Zitat aus Hegels Vorlesungen über die Geschichtsphilosophie: „Qualität ist die Beweglichkeit, Quallen (Quellen) oder Treiben eines Dinges”. Vgl. Kathleen Wright: „Gewaltsame Lektüre deutungsloser Zeichen. Heidegger liest Hölderlins ‚Andenken’”, in: Aleida Assmann (Hg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 229–246. Vgl. Paul Böckmann: Hölderlin und seine Götter, München 1935. S. 112. H I,760. Vgl. auch H II, Brief an I.v.Sinclair vom 24. Dez. 1798, S. 723: „wie innig jedes Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt und wie sie beede nur Ein lebendiges Ganze ausmachen, das zwar durch und durch individualisirt ist und
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bereits am Ende des ersten Bandes auftauchenden Formel58 – abrupt bis auf weiteres aufgeschoben und abgeschnitten werden. „So dacht’ ich. Nächstens mehr.” Von einer „Auflösung der Dissonanzen” oder von einer Rückkehr an den Anfang, „kehre wieder dahin, wo du aus|giengst” (H I,614/9) ist am Ende kein Wort mehr.59 Dagegen findet ein plötzlicher Aufbruch ins Künftige statt, ins „auf jemanden zukommen[de]”60. Die Zeitstruktur des Hyperion hat zu zahlreichen Spekulationen über eine mögliche Identifizierung eines Genre geführt. Vom philosophischen oder lyrischen Roman, Briefroman, Bildungsroman, Ich-Roman, romantischen Roman, Entwicklungsroman, Compendium ist die Rede.61 Doch selbst als Briefroman katalogisiert, stört die eigenwillige Struktur. Es gibt weder eine Herausgeberfiktion, noch eine genaue Datierung, Anrede oder Schlußformeln und Unterschriften der einzelnen Briefe. Einzig und allein die voranstehenden Überschriften wie „Hyperion an Bellarmin.” stellen Weichen für einen Adressaten, dessen Name allerdings im Gedicht Andenken „niemanden bezeichnet”62. Gerade deshalb aber scheint er alle anderen vertreten zu können, namentlich das Lesepublikum, an das sich Hölderlin ‚ursprünglich’ gewendet haben mag: „in Form einer subtilen captatio benevolentiae”63. „Wo aber sind die Freunde? Bellarmin Mit dem Gefährten? Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen;”
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Bellarmin, stummbleibender Empfänger von Hyperions Briefen, bello Arminius, der „Schöngewaffnete”, vielleicht Pseudonym für den Freund Isaac von Sinclair, der das Vorbild für den deutschen Idealleser abgegeben haben
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aus lauter selbstständigen, aber eben so innig und ewig verbundenen Theilen besteht.” Vgl. U. Gaier, Hölderlin, S. 211. Gaier deutet das Auftauchen des Satzes „So dacht’ ich.” am Ende des ersten Bandes als Umschlag vom Erinnern ins Verstehen und Deuten. Vgl. auch H I,642: „Bestehet ja das Leben der Welt im Wechsel des Entfaltens und Verschließens, im Ausflug und in Rükkehr zu sich selbst”. und H II,77. Poetologischer Entwurf „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig” („Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes”): „daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpunct auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurükkehrt.” Vgl. H III,320, Kommentar: „Zukunft: hier im wörtlichen Sinne von ‚auf jemanden zukommen’.” Vgl. z.B. Lawrence Ryan: „Hölderlins ‚Hyperion’: Ein ‚romantischer’ Roman?”, in: Über Hölderlin. Aufsätze von Th.W.Adorno et al., Jochen Schmidt (Hg.), Frankfurt a. M. 1970, S. 175–212. Und Ulrich Gaier: „Hölderlins Hyperion: Compendium, Roman, Rede”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 21, 1978–79, S. 88–143. Vgl. P. Lacoue–Labarthe, „Il faut”, S. 438. B. Haberer, Sprechen, S. 182f.. H I,474.
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könnte,65 als „schöner Deutscher” identifizierbar,66 – gerade jener ‚nichtssagende’ und einzige Name67 steht in Andenken nicht weit von der „Quelle”. Auch im Hyperion werden weitergehende Fragen68 durch die Abwesenheit eines Herausgebers, der die Briefe archiviert und geordnet haben könnte, im Vorfeld zurückgewiesen. Anders als der Vers, der zu sich selbst umkehrt, strebt Prosa vorwärts, bildet einen fortlaufenden Text.69 Schon die Briefform, zu der Hölderlin über die erste und vorletzte Vorstufe seiner Fassungen schließlich zurückfindet, unterläuft die Vorstellung einer geradlinig erzählten Geschichte. Das, was sich zeitlich im Rückblick der erzählenden und erzählten Figur Hyperion aneinander reiht, kehrt auf der Ebene eines Genres in Spiralform wieder,70 welche die Ereignisse nicht an einer linearen Perspektive orientiert, sondern sie als Ineinander von Adresse und Text, von Brief und Gedicht, an andere Stellen schickt. „Wem aber, wie Rousseau, dir Unüberwindlich die Seele Die starkausdauernde ward Und sicherer Sinn Und süße Gaabe zu hören”71
Der Name des revolutionär-sentimentalen Philosophen schiebt sich vor die Anrede der später handschriftlich wiederholten Widmung Wem sonst 65 Vgl. H III,696. Sinclair hat allerdings die Rolle des Ideallesers eher schlecht zu spielen verstanden. Vgl.H II,672, An den Bruder, H II,25: „Basel, Anfang November 1797. Brief von Sigfried Schmid: „Ich fange an den Hyperion zu lesen, – Bruder! Bruder! – Der Sinclair sah in dem Buch ein personifizirtes Moralsystem. Daß Gott erbarm! was werden die Andern alle drinn erbliken!” 66 Vgl. z.B. W. Binder, „Namenssymbolik”, S. 162: „Bellarmin heißt für Hölderlin: der schöne Deutsche; schön im Sinne der Schönheitslehre des Romans, deutsch im Sinne des Heros der Deutschen, den so viele Arminius–Dichtungen des 18. Jahrhunderts feiern.” Und „Schönheit ist es, was den Deutschen von Grund auf fehlt”, „Deutschheit, welche der Name Arminius meint, ist ein Wesen des Anfangs, der Urzeit, das verloren ging und vielleicht einmal, ‚mit neuem Namen’ gegrüßt, als ‚reifeste Frucht der Zeit’ zurückkehren wird.” 67 Außer den Toponymen Bordeaux, Garonne, Dordogne und der Bezeichnung „Inder” gibt es keinen anderen Eigennamen. Vgl. Lacoue–Labarthe, „Il faut”, S. 438. 68 „Wer spricht in der „Vorrede” („Ich verspräche diesem Buche die Liebe der Deutschen.”)? Was bedeutet der Titel „[…]oder der Eremit in Griechenland”? Will oder kann sich ein Eremit überhaupt noch an ein Publikum richten? 69 Vgl. Dirk de Schutter: „The Parergonality of Reading. Heidegger Reading Hölderlin”, in: Ludo Verbeek/Bart Philipsen (Hg.), Die Aufgabe des Lesers. On the Ethics of Readings, Leuven 1992, S. 115–134, hier S. 132: „Unlike the verse, which turns back upon itself, prose moves on, prose is cursive. Yet, the straightforward movement of prose is also marked by a turn: ‚prorsus’ is the shortening of ‚proversus’, the past participle of ‚pro–vertere’, to turn forward.” 70 Vgl. Michael Knaupp: „Die raum–zeitliche Struktur des Hyperion”, in: Le pauvre Holterling, Basel 1988, S. 13–15. 71 H I,346; Der Rhein. [Hervorhebungen von der Verf.].
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als dir. Das Wort „Quelle” betont das „Fließen”, ist „zeitlicher Ablauf […] somit wesentlich irdisch”, Beginn und „Schnittpunkt des Heiligen mit der Erde”, „Ursprung”, an den „wir uns […] erinnern und ihn daher auch vergessen”.72 Auch wenn Hölderlin die Sinnesempfindung nicht mehr ausschließlich wie Rousseau in den Vordergrund seiner Dichtung stellt, so vergißt er sie doch in der Doppelung von sentiment und sensation nicht. In Rousseaus 5. Rêverie, die Hölderlins Zeilen des Gedichts Der Rhein zitieren, ist von einem „Zustand” die Rede, „wo die Seele einen so festen Sitz findet und sich ganz besinnen und ihr ganzes Wesen zusammennehmen kann, ohne der Erinnerung an die Vergangenheit, noch des Ausblicks auf die Zukunft zu bedürfen”73. Auf der fast menschenleeren Petersinsel, inmitten seiner unausgepackten Bücher, genießt der einsame Spaziergänger den „Genuß der reinen Präsenz der eines Verströmens. Präsenz in statu nascendi. Ursprung des Leben”74. Indem er sich dem Geräusch der murmelnden Wellen hingibt, kann er sich einer existentiellen Selbstgenügsamkeit überlassen. In Der Rhein taucht die Erinnerung an Rousseaus Hör-Szene in Korrespondenz zu einer anderen Zeile in Mnemosyne auf („wenn einer nicht die Seele schonend sich zusammengenommen”75). Kein ‚direkt’ vernommenes Bild also, sondern ein implizit aufgerufenes („einer”). Obwohl der einsame Spaziergänger die „süße Gaabe” besitzt „zu hören”, obwohl Rousseau die „Quelle, die Kraft [ist], die uns die Dinge in ihrer wahren Abhängigkeit vom Sein und in ihrer echten dialektischen Funktion erblicken läßt”, entgehen beide „keineswegs dem Schicksal der Zeitlichkeit, im Gegenteil”. Wie Prometheus macht sich der „Halbgott” Rousseau im Moment der Berührung mit der Flamme/Quelle einer
72 Paul de Man: „Hölderlins Rousseaubild”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 15, 1967/68, S. 180–208, hier S. 194. 73 Jacques Rousseau: Les Rêveries du promeneur solitaire, Silvestre de Sacy (Hg.), Paris 1972, S. 17: „[…] un état où l’âme trouve une assiette assez solide pour s’y reposer tout entière et rassembler là tout son être, sans avoir besoin de rappeler le passé ni d’enjamber sur l’avenir”. Vgl. auch J.–J. Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in: J.–J. Rousseau, Schriften, Henning Ritter (Hg.), Frankfurt a. M., Berlin/Wien 1978. S. 699: „in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz ausruhen und sich darin ganz zu sammeln, ohne in die Vergangenheit zurückblicken oder in die Zukunft vorgreifen zu müssen”. Auf die Stelle macht aufmerksam Bernard Böschenstein: Hölderlins Rheinhymne, Zürich 21968, S. 91, hier zitiert in der Übersetzung von A. Haverkamp, Laub voll Trauer, S. 60. 74 J. Derrida, Grammatologie, S. 438: „[…] la jouissance de la présence pure est celle d’un certain écoulement. Présence naissante.” Vgl. auch J. Derrida, Grammatologie (dt.), S. 532. 75 H I,438. [Hervorhebungen v. Verf.].
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Hybris schuldig.76 Hölderlins Anruf des träumenden Philosophen ist darum selbst von einer „Scheue an die Quelle zu gehen” gezeichnet.77 Bereits zum Ende des Hyperion spricht der einsame Briefeschreiber dies aus, wenn er seinen habituellen Gang ins Gebirge erzählt: „Und wenn ich oft des Morgens, wie die Kranken zum Heilquell, auf den Gipfel des Gebirgs stieg” (H I, 758). Längst ist eine stimmungsabhängige Selbstvergessenheit dahin. Die Rede findet ihren Gipfel und Höhepunkt nicht in Erhabenheit, sondern spendet Trost, Andenken. In der letzten Hyperion-Szene münden die Anrufungen der Natur („nur du lebst”), der alles verzehrenden Flammen, der Götter („deine Götter, die Lebendigen, die Seeligstillen”), der „Quellen der Erd’”, Blumen, Wälder, Adler, des Lichtes und natürlich Diotimas, der Seele und „Schönheit der Welt”, in einen zusammenfassenden Abgesang („glühendes Leben ist Alles”). Er führt, nicht ohne den Hinweis auf weitere Meldungen („Nächstens mehr.”) am Ende zum Anfang zurück. Im „Buch der Abschiede”78 verabschiedet sich die Rede selbst. Eine Bewegung zur gefährlichen Flamme, zur vom Austrocknen bedrohten Quelle („und selbst die Quelle, die sonst hier unter mir rieselte, ist vertrocknet”79) kehrt ein Außen des Textes in sein Innen, verleibt es sich kryptisch ein: „wie jedes zum Text bedeutete Begegnende”80. Auf diese Inkorporation als Verzehr des kannibalistischen Textes wird noch zurückzukommen sein.
Genommener Name In der Vorstufe Hyperions Jugend, die sich in Prosaform und fortlaufenden Kapiteln übt, erfährt Hyperion von Diotima, daß er, ohne es zu wissen, ihren Vater schon vor der Begegnung mit der Geliebten gekannt habe. Die 76 Über die Angst vor der Sexualität spricht Prometheus bei Ovid, vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 69: „So hängen Feuer und Sexualität ambivalent zusammen: im Segen des gemeinschaftlichen Herdes und im Fluch des unlöschbaren Begehrens, das nicht ‚geherdet’, sondern wild flammt.” 77 Vgl. Hans Georg Gadamer: „Anmerkungen zu Hölderlins Andenken, in: Uwe Beyer (Hg.), Neue Wege zu Hölderlin, Schriften der Hölderlin Gesellschaft, Bd. 18, Würzburg 1994, S. 113–142, bes. S. 150f.. 78 Vgl. Ryan, „‚romantischer’ Roman?” 79 Fragment von Hyperion, H I,497. 80 Vgl. Thomas Schestag: Parerga: F. Hölderlin, C. Schmitt, F. Kafka, Platon, F. Schleiermacher, W. Benjamin, J .Derrida, München 1991, S. 15–50, hier S. 23f.: „‚Das Höchste’ gehört weniger der ungefähren Gattung ‚kommentierte Übersetzung’ zu […]. Es läßt sich auch, aus dem selben Grund, wie jedes zum Text bedeutete Begegnende, nicht einem Autor (als dem verfügbaren oder verschollenen Garanten einer im Text verwahrten Intention), sei das ein Mensch oder Gott, ein Unsterbliches oder Sterbliches, in letzter Instanz zuschreiben, so wenig ein Begegnendes zur lesenden – sinnbildenden und -bindenden - Instanz, zur gegebenen, entstehenden, vergehenden oder fehlenden Gestalt des Lesers gerinnt.”
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Identifizierung des älteren Freundes als Vater Diotimas kommt durch einen Diskurs zutage, den Hyperion über Freundschaft und Krieg hält. Seinen emphatischen Ausrufen („ach! […] ihr Griechen seid allzeit Jünglinge!”), der die heroische Tat der „brüderlichen Gestirne” vermißt („Es ist alles so anders geworden. Man lebt bequem”) entnimmt Diotima den Wortlaut ihres Vaters. „So spricht mein Vater auch, versezte Diotima, und ihr Auge verweilte ernster an mir.” (H I,542) Es ist nun wiederum die Mutter Notaras, die den Knoten löst und die Beziehungen entwirrt. Der Tochter teilt sie mit, daß sie die Worte des Vaters soeben zu Recht wiedererkannt hat, während Hyperion erfährt, mit wem sein väterlicher Freund (es handelt sich wahrscheinlich um Adamas) in verwandtschaftlicher Beziehung steht. Aus der martialischen Rede Hyperions und der Identifizierung der väterlichen Worte durch die Tochter sieht die Mutter sogleich den Beweis für genealogische Treue („Wißt ihr auch, ihr guten Kinder, daß ihr aus einer Quelle geschöpft habt?”) und Sympathie des Schülers für seinen Meister: „Nun seh’ ich erst, wie herzlich gut du dem Manne bist” (H I,543). Hyperion reagiert daraufhin „betroffen, denn ich fühlte wohl, daß meine Freude nicht ihm allein galt.” Zwar „außer [sich] vor Freude” ist ihm doch sofort bewußt, daß das Begehren nicht dem Vater, sondern der Geliebten gilt. Verhandelt aber wird diese Problematik nicht direkt mit ihr, sondern mit der Mutter des jüngeren Freundes. Michel Foucault hat in seinem von der deutschen Hölderlin-Forschung lange vernachlässigten Aufsatz „Le ‚non’ du père” Jean Laplanches Hypothese vom fehlenden Vater aufgegriffen.81 Während aber Laplanche als Psychologe und Philosoph aus einem doppelten Erkenntnisinteresse heraus operiert und seiner Studie über die „Suche nach dem Vater” den Hinweis vorausschickt, daß der Verwechslung des Dichters mit seinem Werk ein unwiderruflicher Riegel vorzuschieben sei,82 verdoppelt Foucault die Perspektive, indem er die „Doppelkompetenz” Laplanches83 zum Anlaß von mehr oder weniger versteckten Hinweisen auf methodische Reflexionen (psycho81 Vgl. Michel Foucault: „Le ‚non’ du père. Jean Laplanche, Hölderlin et la question du père, in: Critique, 178, 1962, S. 195–209. Wiederabdruck in M . Foucault, Dits et Ecrits, Bd.I (1954–1969), Paris 1994, S. 198–203. Vgl. auch M. Foucault: „Der Name/Das Nein des Vaters”, übers. v. Rüdiger Campe, in: Le pauvre Holterling, 1988, S. 73–92. und M. Foucault: „Im Namen des Vaters”, übers. v. Klaus Vogel, in: Hölderlin–Jahrbuch, 30, 1996/97, S. 327–344. Zur Rezeptionsgeschichte, vgl. K. Vogel: „Ein ‚verbotenes Wort’? Mußtmaßungen zum Verhältnis von Foucaults Dichtungstheorie und Hölderlins Dichtungspraxis”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 30, 1996/97, S. 345–358, hier S. 346. 82 Vgl. Jean Laplanche: Hölderlin und die Suche nach dem Vater, Stuttgart 1975, S. 14: „Daß Hölderlin kein Kunstwerk, sondern ein authentischer Dichter ist und daß er ohne noch so geringen Zweifel die letzten vierzig Jahre seines Lebens im Wahn zugebracht hat”. 83 Vgl. M. Foucault, „Name/Nein”, S. 85.
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logisch, philosophisch und historisch) nimmt. Foucault findet über die Besprechung von Laplanches Buch zu Hölderlin, um Cours de la methode abzuhalten und das poetologische Verfahren der Überblendung und Assoziation am Corpus zu entwickeln. Die zu Beginn ausgesprochene These „Hölderlins Sprache ist damit aber im Ursprung schon verfehlt”84 wird im Verlauf des Aufsatzes als eine dem eigenen Vorgehen bereits einverleibte vorgeführt. Das Begehren, eine „Figur des Selben” in Hölderlins Anrufungen ausmachen zu wollen, ist von einer nachhaltigen Blindheit der Sprache für ihre eigene Problematik geprägt.85 Mit den verschiedenen Anrufungsfiguren setzt eine Verwerfung ein, die weder nur auf das Gesetz im Namen des Vaters zurückzuführen ist, noch erst als nachträglicher Effekt einsetzt. Anrufungen drängen auf unmittelbare Performanz. In Hölderlins Gedichten tauchen sie als Grenzfiguren auf, die sich einer Identifikation des „Einen” gegenüber widerständig zeigen. Die Annahme nahtloser Ersetzungen wie etwa die vorübergehende Besetzung des leeren Vater-Platzes durch Schiller86 oder die photographisch genaue Widerspiegelung der Geliebten Susette Gontard in Diotima hat in der Rezeptionsgeschichte zur klaren Abgrenzung des Früh- und Spätwerkes, von Kunst und Wahn, beigetragen. Für Foucault ist eine solche Rezeption nur ein weiteres Indiz dafür, wie der überschießenden Körperlichkeit, dem „nicht weiter aufgelöste[n] signifikante[n] Rest” oder einfach dem poetischen Sprechakt, der Performanz als Problem darstellt, ausgewichen wird.87 Stattdessen bewege sich schon in Hölderlins Hyperion, darin Freuds Übertragungsbegriff vom Öffnen und Schließen des Unbewußten durchaus vergleichbar, die Sprache „auf einen Raum zurück, der sie hervorgerufen und ermöglicht hat, indem er sich öffnete. Diesen Raum sucht die Sprache mit der Fülle schöner Bilder des unvermittelt Gegenwärtigen nun zu verschließen.”88 „In Gestalt einer Sprache” erscheine eine „GRENZE, die ihr Ideal in der Annäherung an die Stille sieht.”89 An dieser Grenze aber kippe die Form des Gleichgewichts
84 Hier zitiert nach K. Vogels Übersetzung von M. Foucault, „Im Namen”, S. 327. 85 Ebd., S. 330: „Von woher sollte uns eigentlich die Möglichkeit einer solchen Sprache zuwachsen, einer Sprache, die sich so lange nun schon als ‚natürliche’ begreift, d.h. die so nachhaltig blind ist für ihre eigene Problematik?” 86 Vgl. z.B. Götz–Lothar Darsow: „aber von Ihnen dependier ich unüberwindlich”. Friedrich Hölderlins ferne Leidenschaft, Stuttgart 1995. 87 Vgl. K. Vogel, „‚verbotenes Wort’”, S. 352. K. Vogel zitiert Peter Szondi: Hölderlin–Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, S. 40: „Gelänge es, die Diktion solcher Verse in Worte zu fassen, einen Tonfall, darin die Sicherheit des Wissens und das Gericht über sich selbst, Aufschwung und Verzweiflung sich ineinander verschlungen haben, man wäre dem Geheimnis der Hymnen näher und wüßte zugleich, warum man sie als Spätwerk empfindet.” 88 Ü. Campe, Foucault, „Name/Nein”, S. 338. [Hervorhebungen v. Verf.]. 89 Ü. Vogel, Foucault, „Namen”, S. 338. Vgl. dazu auch Hyperions Jugend, H I,529f.: „Sie [die Verirrungen] sind doch alle Kinder der Natur, und wenn sie oft der Mutter Art verläugnen, so ist es, weil ihr Vater, der Geist, vom Ge-
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von ausgedrücktem Glück und gebanntem Wahn um und stürze in „die eines schroffen Abgrunds”. Was Foucault mit Hölderlins „Rätsel des SELBEN, in dem das Werk dem begegnet, was es nicht ist” zu erläutern sucht, ist freilich nichts anderes als das eigene diskursanalytische Verfahren. Die Blindheit der Sprache gegenüber sich selbst, eine „große leere Figur”, macht vor Literatur als einem Diskurs unter vielen nicht halt, schiebt sich in die duale Beziehung des verzerrenden Spiegelbilds. Die Leere, welche die Todeserfahrung zweier Väter für Hölderlin hinterlassen haben mag, ist zwar als symbolischer Defekt bestimmbar, erscheint aber als Ursprung der Psychose im Nicht/Namen des Vaters, in der „Homonomie von ‚non’ und ‚nom’”, „Überlagerung von Negation und Nomination”90. Diese komplizierte Struktur Hölderlinscher Trauer, die sich à priori einer fremden Melancholie, der „tristesse” der Mutter am Grab des Vaters verpflichtet sieht,91 stellt die Figur des Anrufs als eine verworfene dar und entzieht sich so der ‚direkten’ Annäherung, die sie, als Anrufung, dennoch weiterhin suggeriert. Der poetische Sprechakt benennt sich selbst, weist wiederholt darauf hin, „was mit dem Gesagten gesagt sei”92. Macht Hölderlin – wie Roman Jakobson nahelegt – eine biographische und poetische Entwicklung durch, die vom Dialog zum Monolog, vom (dichterischen) Anruf und Ausruf zur „Verleugnung eines eigenen Namens” und „Aneignung einer entlehnten oder erdachten Benennung”, kurz zur Absage des Zwiegesprächs führt? Tatsächlich vermeidet der späte Hölderlin alle deiktischen Elemente einer direkten Anrede.93 Diese Entwicklung vollzieht sich seit den frühen Gedichten über den Hyperion bis zu den späten Briefen an die Mutter. „Guck’ nicht so viel hinein, es ist kannibalisch” soll Hölderlin nach einer Aufzeichnung von Christoph Theodor Schwab Anfang
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schlechte der Götter ist. Genügsam hält sich ewig in ihrer sichern Gränze die Natur”. K. Vogel, „‚verbotenes Wort’”, S. 354. Vgl. A. Haverkamp, Laub voll Trauer, S. 108. Rüdiger Campe: „Nachbemerkung des Übersetzers”, in: Le pauvre Holterling, Basel 1988, S. 90–92, hier S. 91. Jakobson/Lübbe–Grothues, „Ein Blick auf Die Aussicht von Hölderlin”, S. 66 u. S. 80. Mit der Verbindung Schizophrenie – Aphasie, kranker Dichter – Entfernung alles Eigenen, Persönlichen, „Accidentellen” aus der Spätdichtung antwortet Jakobson auch auf Heideggers Interpretation des Hölderlin–Zitats „Seit ein Gespräch wir sind” aus dem Gedicht Friedensfeier. Während Heidegger darin den wesentlichen Zug der Sprache, das „Miteinandersprechen über etwas” erkennt und damit eine hermeneutisch–zirkulierende Interpretation über einen rein grammatikalischen Befund stellt, geht Jakobson von unbewußten Einschreibungen aus. Vgl. M. Heidegger, Erläuterungen, S. 38: „Was wir sonst mit ‚Sprache’ meinen, nämlich einen Bestand von Wörtern und Regeln der Wortfügung, ist nur ein Vordergrund der Sprache. Aber was heißt nun ‚Gespräch’? Offenbar das Miteinandersprechen über etwas. Dabei vermittelt dann das Sprechen das Zueinanderkommen.” Zum hermeneutischen Zirkelschluß vgl. Jean–Luc Nancy: Le partage des voix, Paris 1982, S. 39ff.. Nancy stellt im Gespräch als „wesentliche Versammlung der Rede” eine dialektische Bewegung fest.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
1841, zwei Jahre vor seinem Tod, über den Hyperion gesagt haben.94 Das, was ein Text zu ‚verschlucken’ droht, tritt plötzlich wieder an die Oberfläche. „Es tagte wieder in mir. Das hohe Wesen hatte meinen Geist aus seinem Grabe gerufen.”95 Diotima ist als sogenannte ‚literarische Figur’ in die Literaturgeschichte als Schweigende eingegangen. Die Diskussion läßt offen, ob Diotima im Hyperion zur Wandlung befähigt werde oder nicht. Sie ergreife ja schließlich doch das Wort, indem sie an Hyperion Briefe schreibe. Hinter einer literarischen Figur, die schon bei Platon bewundernswert freimütig über die Entstehung des Eros mit Sokrates philosophieren durfte,96 taucht ein zweiter Name auf. Im zweistrophigen alkäischen Gedicht-Entwurf Diotima, etwa zeitgleich zum Hyperion entstanden, hatte Jakobson „die Verflechtung des Namens der angesprochenen Heldin mit sieben Pronomina der zweiten Person, sieben Artikeln und homonymen Fürwörtern” interessiert.97 Zusammen mit der lateinischen Dedikationsformel „Dat, Dicat, Dedicat”, üblicherweise mit „D.D.D.” abgekürzt,98 und mit den versteckten Initialen S.G. löst die Alliteration des Gedichts offenbar das Rätsel einer aufgehobenen – zugleich ausgelöschten und doch aufbewahrten – Adresse. Du schweigst und duldest, und sie versteh’n dich nicht, Du heilig Leben! welkest hinweg und schweigst, Denn ach! vergebens bei Barbaren Suchst Du die Deinen im Sonnenlichte, Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind! Doch eilt die Zeit. Noch siehet mein sterblich Lied Den Tag, der, Diotima! nächst den Göttern mit Helden dich nennt, und dir gleicht.” (H I,189)
Bevor Jakobson seinen grammatikalischen Befund für Hölderlins Poesie und Biographie geltend macht, hat es bis in die fünfziger Jahre offensichtlich nur drei Reaktionen auf das persönliche Hyperion-Exemplar des Dichters gege94 H III,668. Zitiert in Michael Franz/Roman Jakobson: „Die Anwesenheit Diotimas. Ein Briefwechsel”, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe, 4/5, Frankfurt a. M., 1980, S. 15–18. 95 Fragment von Hyperion, H I,496. 96 Eine Quelle für den Namen Diotima ist Platon, Symposium, in: Platon, Sämtliche Werke, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1986, Bd. 2, 201d, S. 231ff.. Diotima ist eine Mantineerin (die Mantik ist die Kunst des Orakel–Auslegens). 97 Jakobson/Lübbe–Grothues, Hölderlin, S. 91. Vgl. Franz/Jakobson, „Briefwechsel”, S. 15: „ Das erste und das letzte Wort des letzten Verses der ersten Strophe beginnt mit einem s, das erste und letzte Wort des letzten Verses der (zweiten und) letzten Strophe beginnt mit einem g: 4Suchst – 4Sonnenlichte; 8Göttern – 8gleicht. S.G. sind die Initialen der wirklichen Diotima Susette Gontard.” 98 Vgl. H III, 101, Kommentar.
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VERWERFUNGEN
ben.99 Richard Alewyn fragt nach Ursprüngen der Widmung, die das Zwischenblatt des zweiten Bandes ziert. Schon im Fragment von Hyperion, 1794 in Waltershausen, also vor der Begegnung mit Susette Gontard, entstanden, taucht der gleiche Wortlaut in differenter Zeichensetzung auf, welche zwischen Fragepronomen und pronominaler Adresse trennt und fragend die Emphase betont: „Wem sonst, als dir? rief der Tiniote, indem er seine Loke gegen den Marmor hielt.” (H I,504) Die Szene spielt „im magischen Dämmerlicht einer Grotte” am Meles, dem vermeintlichen Geburtsorts Homers. Im Angesicht der „Marmorbüste des göttlichen Sängers” und zum Klang der „Saitenspiele” des Felsens lauscht eine Gruppe von Freunden dort den gesungenen Rhapsodien der Ilias, um in „stille” Andacht zu fallen und der Marmorbüste ein „Todtenopfer” darzubringen, die erwähnte Locke. Diotima, Priesterin in Platons Symposium, heißt im Fragment von Hyperion noch Melite, die ihren Namen im „Gedenken an die große griechische Vergangenheit von dem Fluß Meles erhalten”100 haben könnte, „möglicherweise von dem im attischen Dialekt ‚melitta’ gesprochenen Wort für ‚Biene’ abgeleitet, das im übertragenen Sinn auch ‚Dichterin’ oder ‚Priesterin’ bedeuten könnte.”101 Zu Anfang des Hyperion wird an diese Ableitung, auf Platons Ion anspielend, erinnert: „wie die Biene unter Blumen, fliegt meine Seele oft hin und her” (H I,613) Im Ion wiederum steht der Dichter Homer zur Diskussion, weil er aufgrund der betörenden Wirkung seiner mousike aus der gesetzgebenden Polis verbannt wurde. Sokrates ist es hier um „eine göttliche Kraft” zu tun, die wie der ansteckende Musenanruf einen zündenden Effekt auslöse.102 Dichtung weiß schließlich selbst nicht, was sie spricht und tut,
99 Paul Spindler: „Ein seltenes Buch”, in: Literarische Beilage des Staatsanzeigers für Württemberg, 1912, S. 334–336. Walther Killy: „Hölderlin an Diotima. Das Widmungsexemplar des ‚Hyperion’”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 1950, S. 98–107. Alewyn, Richard, „‚Wem sonst als dir?’ Eine Mitteilung von R.A.”, in: Hölderlin–Jahrbuch, Bd. 9, 1955/56, S. 219–220. Erwähnt wird „Gontards Exemplar auf Velinpapier” auch in Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Michael Knaupp/Dietrich E. Sattler (Hg.), Frankfurt a.M. 1982, Bd. 10, Hyperion I,14. 100 Vgl. U. Gaier, Hölderlin, S. 125. 101 Michael Knaupp: Erläuterungen und Dokumente. Friedrich Hölderlin: Hyperion, Stuttgart 1997, S. 218, Anm. 87,36. 102 Platon, Ion, in: Platon, Sämtliche Werke, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1988, Bd. 1, 534a, S. 103. Vgl. auch U. Gaier, S. 208: Jean Paul: „‚Bienen besuchen Lindenblüten noch im Mondschein’: Eine solche Stelle zog schon als eine poetische Schönheit, als eine poetische Entzückung in mich ein, ob ich gleich noch nicht wußte, wo sie zu gebrauchen.” [Jean Paul im ‚Vita–Buch’ Nr.366, in: Christian Otto/Ernst Förster (Hg.), Wahrheit aus Jean Paul’s Leben, Bd. 2, Breslau 1927. S. 29.] Dieses Zitat leitet bei Benninghoff–Lühl, Sibylle, „Figuren des Zitats”. Eine Untersuchung zum Funktionieren übertragener Rede, Stuttgart/Weimar, 1998, das Kapitel „Schatzsucher, Steinbrecher, Blütenleser, Quellenforscher” ein, in der von der Figur des ‚Blütenlesers’ und dem Zitatenjäger die Rede ist, wobei gleichzeitig die ökonomische Seite des Unternehmens Wissenschaft (die Blüte, der Geldschein, die Notierung eines Zitats) verhandelt wird. Zum Musenanruf bei Hölderlin,
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sie ist betört bzw. wahn/sinnig.103 Im Namen Diotimas bleibt dieser Zustand der Trance und des Taumels zugegen in den „ungesuchten Töne[n] dieses Geistes, der nicht wußte, was er wußte, was er war” (H I,661). Wenn der Name Melite im Fragment an der Gedenkstätte Homers mit Platon in Korrespondenz tritt und damit in das Herz des Konflikts zwischen Philosophie (als Liebe zum Wissen) und Poesie (als Sprache des Unbewußten) trifft, so deutet er auf eine Überdeterminierung, die der ausschwärmenden „Seele”104 im Anruf entgleitet: „name ist das was man nimmt, zur gabe empfängt”105. Auch Alewyn, der nach möglichen Quellen für den Widmungstext forscht, weiß nicht ein noch aus vor lauter Hinweisen: Ist es Platen, der Pate gestanden haben könnte, ist es Don Karlos, wie Friedrich Beißner meint?106 „KARLOS. Wer kommt? – Was seh’ ich! o ihr guten Geister! Mein Roderich! MARQUIS. Mein Karlos! KARLOS. Ist’s wahr? Ist’s wirklich? Bist du’s? – O du bist’s! Ich drück’ an meine Seele dich, […] In dieser Umarmung heilt mein kranckes Herz. […] MARQUIS. Ihr kranckes Herz? […] KARLOS. […]
vgl. Renate Böschenstein–Schäfer: „Die Stimme der Muse in Hölderlins Gedichten”, in: Hölderlin–Jahrbuch, 1986, S. 87–112. 103 Zur Interpretation des Wahnsinns aus dem althochdeutschen wana im Sinne von ohne, vgl. Martin Heidegger: „Die Sprache im Gedicht”, in: M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, hier S. 53: „'Wahn' gehört zum althochdeutschen wana und bedeutet: ohne. Der Wahnsinnige sinnt, und er sinnt sogar wie keiner sonst. Aber er bleibt dabei ohne den Sinn der Anderen. Er ist anderen Sinnes.” 104 Vgl. auch Hugo Perl: Lexikon der Platonischen Begriffe, Bern/München 1973, S. 307. Abschnitt über die „Seele”: „Sie ist die Quelle, der Anfang, die Ursache und das Prinzip alles Lebens (Phaedr.245 cde), weil sie sich selbst bewegt und, weil ihre Bewegung von nichts als von sich selbst abhängt, ist auch die Idee der Freiheit ohne die Seele nicht denkbar.” 105 J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 322: „[…] wird name von nemen (nehmen) abgeleitet […] vom sprachvergleichenden standpunkt aus ist diese […] ableitung unhaltbar, denn name läszt sich nicht trennen vom lat. nômen, gnômen, […] sa dasz name ursprünglich das (unterscheidende) kennzeichen, merkmal bedeutet”. Zur Teilbarkeit des Namens und zum „Ineinander von Name und Nehmen, onoma und nemein”, das Jacob Grimm „durchs Legen und Beilegen” zu meiden sucht, vgl. T. Schestag, Parerga, S. 148ff.. 106 Vgl. R. Alewyn, „Wem sonst”, S. 220. Alewyn, der für seine Don Karlos–Lektüre entscheidet, daß „der Sinn der Worte […] hier ein ganz anderer” sei, wendet sich weiter an August Hermann Niemeyer, einen Magister und Privatdozenten, der seine Gedichte Klopstock ‚zueignet’ und dessen erste Ode mit „Wem sonst als Dir?” beginnt und endet. Zwar sei Hölderlin nicht unbedingt mit diesen Gedichten in Kontakt gekommen, doch „es wäre nicht kühn, anzunehmen, daß auch dem jungen Hölderlin die einprägsame Wendung ins Ohr geklungen” sei. Noch nicht genug mit diesen Hinweisen, Alewyn erfindet selbst eine vielleicht sogar beiden gemeinsame Ur–Quelle hinzu, indem er ins Lateinische übersetzt: „Cui nisi tibi?”
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VERWERFUNGEN Wem dank ich diese Ueberraschung? Wem? Ich frage noch? […] Wem sonst als dir, Allgütigste? Du wußtest, Daß Karlos ohne Engel war, du sandtest Mir diesen, und ich frage noch?”
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Bereits in Schillers Frühausgabe von 1787 taucht der Text in Form einer Frage auf: „Wem sonst als dir, Allgütigste?” Nur die Rigaer Bühnenfassung des gleichen Jahres erwägt die Möglichkeit des Ausrufs: „Wem sonst als dir, Allgütigster!” Die Ersetzung der Geliebten durch die göttliche Instanz und die Verwandlung der Frage in einen Ausruf wird jedoch wieder verworfen. Don Karlos beantwortet letztendlich all seine Fragen mit einer weiteren rhetorisch. Die Namensnennung besiegelt die Wiedererkennung der Verschworenen Roderich und Karlos, was den Freunden Alabanda und Hyperion in Hölderlins Briefroman nicht fremd ist.108 In beiden Szenen tritt das Erkennen erst zögernd ein, über die direkte Anrede, die schließlich zur Apostrophierung des ‚du’ führt: „Ist es möglich? Ist’s wahr? Ist’s wirklich? Bist du’s? – O du bist’s! […]” Es bedarf erst der Nennung einer Dritten, der die Begegnung der Freunde heimlich gewidmet ist. Im Don Karlos ist es der Engel, im Hyperion die bezeugende Mutter. Ähnlich der irrealen Begegnung von Hyperion und Diotima im „heiligen Wald”, eine Szene, die im Morgenrot beginnt und von der Abendwolke zum Abschied gemahnt wird, also Tag und Nacht ausspart bzw. Übergänge zwischen beiden in einen Augenblick zusammenfallen läßt, sind dort wie hier übernatürliche Kräfte am Werk. Auch die beiden Liebenden rufen sich gegenseitig beim Namen an. Ihre Anrufung geht in einen Zustand wort- und atemloser Ekstase über, den Hyperion nur noch als „Lücke in meinem Daseyn” erinnern kann: „Ach! mein Hyperion! rief mir jetzt die Stimme entgegen; ich stürzt’ hinzu: ‚meine Diotima! o meine Diotima!’ weiter hatt’ ich kein Wort und keinem Othem, kein Bewußtseyn.” (H I,676)
Zeit der Dämmerung, „des namenlosen Nennens”109, des Erwachens und Sterbens („Ich starb, und wie ich erwachte, lag ich am Herzen des himmlischen Mädchens.”), der Apostrophierung („O meine alten freundlichen Bäume! […] Engel des Himmels!”) und Epiphanie, Erinnerung an Verspre-
107 Schiller, Friedrich: Don Karlos, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Paul Böckmann/Gerhard Kluge (Hg.), Bd. I,2, Weimar 1974, S.368. 108 Vgl. H I,713: „[…] wie er nun in aller Herzensanmuth lächelt’ und erröthete, da er wieder mich gewahr ward, und unter den dämmernden Thränen sein Phöbusauge durchstralt’, um zu fragen, bist dus? bist du es wirklich?” auch Entwürfe zur endgültigen Fassung, H I,592. 109 W. Binder, „ Namenssymbolik”, S. 114.
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chungen im Namen, als „Gott in uns”110: „Ja, ja! fiel sie schwärmerisch lächelnd mir ein, dein Namensbruder, der herrliche Hyperion des Himmels ist in dir.” Hyperion, in der Hesiodischen Theogonie Titan und Vater des Helios, bei Homer Beiname des Sonnengottes, wird durch Diotima, Priesterin des Eros und Hüterin des Feuers, zu seinem eigenen Namen als Vorausbestimmung zurückgerufen, ein Rückruf ins Offene. Hyperion ist „der DrüberHingehende, der Transzendierende und darin dem Sonnengott ähnlich”.111 Nach dem Abschied vom Freunde Alabanda („Schweig , erwiedert’ er, und brauche meinen Nahmen nicht zum Dolche gegen mich” (H I,641) überläßt sich der einsame Held Hyperion einer Welt, die an ihm „unverschönert” vorüberläuft „wie ein Strom an dürren Ufern”. Der Anruf trifft auf erstarrte Namen: „Nun sprach ich nimmer zu der Blume, du bist meine Schwester! und zu den Quellen, wir sind Eines Geschlechts! ich gab nun treulich, wie ein Echo, jedem Dinge seinen Nahmen.”112
Nach jenem Zustand der Auf-Gabe und Resignation wird Hyperion im zweiten Buch die „Festzeit” (H I,653) einläuten und über sein Zusammentreffen mit Diotima berichten. Die Richtung, aus der der Ruf kommt, hat gewechselt: „Eine fremde Macht beherrschte mich. Freundlicher Geist, sagt’ ich bei mir selber, wohin rufest du mich? nach Elysium oder wohin?” (H I,655). Die Frage nach dem Anrufer kehrt sich um, der Ruf leitet ans Jenseits der anderen Stimme weiter. Sie ist es schließlich, die die Lücke der symbolischen Ordnung wieder zu schließen verspricht: „Unter den Blumen war ihr Herz zu Hause, als wär’ es eine von ihnen.” (H I,661) Was aber hat es mit der Dedikation des Hyperion-Exemplars auf sich, das Hölderlin seiner Geliebten Suzette Gontard überreichte? Handschriftliche Widmungen eignen das Buch oft ohne finanzielle Hintergedanken einer nahestehenden Person zu. Was macht eine Widmung über die individuelle Zueignung hinaus auch für andere Leser lesbar? Wirft die Lektüre einer Widmung neues Licht auf den Text?
110 H I,623. Adamas’ Segnung beim Abschied von Hyperion: „Es ist ein Gott in uns, sezt’ er ruhig hinzu, der lenkt, wie Wasserbäche, das Schicksaal, und alle Dinge sind sein Element. Der sei vor allem mit dir!” 111 W. Binder, „Namenssymbolik”, über Hyperion, 135ff., hier S. 138. 112 F. Hölderlin, Werke I,647.
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Im Echo versagende Stimme(n) Von einem Dokument und einer persönlichen Anschrift sollte die Rede sein, von der „ehrwürdigen Wirkung, welche ein Schicksal auch den Gegenständen zu verleihen mag”. Walter Killy belegt seine Lektüre der dichterischen Schriftzüge mit einer genauen Beschreibung des bedeutenden Buches, das nicht mehr die Originalfarbe trägt.113 Samuel Thomas von Sömmering, „berühmter Anatom und Freund des Gontardschen Hauses, mit Hölderlin wohlbekannt”, hat nachträglich „unscheinbare Daten” hinzugefügt. Unter der so oft zitierten Widmung Wem sonst als Dir die Notiz: „Frau Susette Gontard, geb. Borkenstein, geb. 1768 in Hamburg, gest. 22. Juni 1802, begraben Donnerstag den 24. Juni, 34 J. alt”. Bis auf den Wochentag exakte Daten kommen den undeutlichen Datierungen im Briefroman Hyperion zuvor. Killy liest sie als Zeichen für Authentizität, die durch Transkription aller Korrekturen und Unterstreichungen an die Nachwelt weiterzuleiten sei. Noch die Hand des Autors liesse sich somit im Korrekturvorschlag erkennen: „Im Druck heißt es: ‚ […] es ist als fühlt’ ich ihn, den Geist der Welt, aber ich erwache und meine, ich habe meinen eigenen Finger gehalten.’ Hölderlin verbessert: ‚ […] es ist als fühlt’ ich ihn, den Geist der Welt, wie eines Freundes warme Hand, aber ich erwache und meine, ich habe meinen eigenen Finger gehalten.’”
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Doch der erste Teil des Satzes aus der Druckfassung des Hyperion ist im Zitat ausgelassen. Er bezieht sich auf die Illusion einer visuellen Wiedererkennung: „Es ist, als säh’ ich, aber dann erschrek’ ich wieder, als wär’ es meine eigene Gestalt” (H I,618) Das deutlich werdende Spiegelbild des ‚Eigenen’ bedroht, es ruft an die „Quelle” zurück. Aus ihr wurde zwar einst geschöpft, sie läßt sich nun aber nicht mehr abrufen. Erinnerungen an den Kinderglauben früherer Tage geben Anlaß, diese Unmäßigkeit des bodenlosen Anrufes zu bedauern: „O du, zu dem ich rief […] Warum ist die Welt nicht dürftig genug, um außer ihr noch Einen zu suchen?” (H I,617) Die „Suche nach dem Vater” (Laplanche) läßt die Anrufungsfigur ganz augustinisch in eine Dialektik von (natürlich-menschlichem) Innen und (göttlichem) Außen ein. Damit versteht sich der Dichtungsprozeß als Schöpfungsbericht, der literarische Figuren mit „Natur” und „Herz” versieht. Doch die Fragen, die das Ich an sich
113 W. Killy, „Hölderlin an Diotima”, S. 98: „Es vereinigt beide Bände durch einen schlichten Deckel aus grüner, gewachster Pappe, vielleicht nicht einmal vom Buchbinder gebunden, denn man hat es versäumt, sie auf eine Größe zu schneiden. Der Rücken trägt ein gelbes Schildchen mit dem Namen des Buches, von Sömmerings später noch zu betrachtender Handschrift darauf vermerkt. Der innere Bezug des Deckels war ursprünglich rot; jetzt ist er verschossen”. 114 W. Killy, „Hölderlin an Diotima”, S. 102f. [Hervorhebungen v. Verf.]. Vgl. auch H I,618.
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selbst richtet, zeigen, daß der Vergleich hinkt. Die Hybris des Textes führt von der „Quelle” weg, welche das Bild zurückwerfen sollte. „O wenn sie eines Vaters Tochter ist, die herrliche Natur, ist das Herz der Tochter nicht sein Herz? Ihr Innerstes, ist’s nicht Er? Aber hab’ ich’s denn? kenn’ ich es denn?” (H I,618)
Elisionen drängen die Rede zusammen und stehen als Auslassungsfiguren für vergangene Affekte und fehlgeschlagene Identifizierungen („hab’ ich’s […] kenn’ ich es […], als säh’ ich, aber dann erschreck’ ich […], als wär’ es […], als fühlt’ ich ihn”). Das beschworene pars pro toto („wie des Freundes warme Hand”) deutet auf die deiktische Macht der Sprache hin, auf Versuche körperorientierter Mnemotechnik und ‚direkter’ Kommunikation.115 Etymologische Quellen des Wortes digitus (Finger) berichten über eine Verwandtschaft mit dico (zeigen), altlateinisch deco und griechisch deixis. Als zentraler Begriff ist deixis in strukturalistische Sprachtheorien eingegangen.116 Das Wort deiktikos bedeutet im griechischen aber nicht nur „auf etwas zeigen”, sondern gleichzeitig „beweisen”. Diese Paradoxie gilt neben Adverbien oder Pronomen der Zeit und des Ortes für Personalpronomen und tritt im ‚Ich’ am deutlichsten zutage.117 Im Hyperion bringt sich der paradoxe Zug zwischen Partikularem und Allgemeinem in Sprechakten, die über sich selbst sprechen, als Verwirrung eigentlicher und übertragener Rede, zur Sprache. Die ‚Stimmen’ der anderen sind Produkte des verschlingenden Textes und entblößen sich als reine Projektion: „‚Guck’ nicht so viel hinein, es ist kannibalisch’”. In diesem Kontext verstellter Nähe erklärt sich auch die handschriftliche Eintragung im ersten Band, die der kurzen Formel Wem sonst als dir eine Moderation hinzufügt:
115 Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 74f.. 116 Vgl. Jakobsons Konzeption der shifter, zu denen alle grammatikalischen Elemente der Deixis gehören. Gegen diese Inanspruchnahme sprachlicher ‚Mittel’, vgl. B. Menke, Prosopopoiia, S. 175, Anm. 4. 117 Vgl. Paul de Man: „Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik”, in: P. de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, S. 39–58, S. 48. P. de Man zufolge ist „kein Wort […] spezifischer deiktisch als das auf sich selbst verweisende Wort ‚Ich’, und doch ist es auch ‚die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit’ [Hegel]”.
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VERWERFUNGEN „Der Einfluß edler Na-/turen ist dem Künstler/so nothwendig, wie das/Tagslicht der Pflanze, und so wie das Tagslicht/in der Pflanze sich wie-/der findet, nicht wie es/selbst ist, sondern nur/im bunten irrdischen Spiele/der Farben, so finden/edle Naturen nicht sich/selbst, aber zerstreute/Spuren ihrer Vortrefflichkeit in den mannigfalti-/gen Gestalten und Spie-/len des Künstlers. Der Verfasser.”
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Die weniger bekannte Widmung warnt vor Sinnestäuschung und anthropomorphisiertem Lesen. Nicht „sich selbst” könnten edle Naturen wiederfinden, sondern – und hier klingt ein Vergleich mit Prozessen der Photosynthese oder Phototaxis an, in denen anorganisches in organisches umgewandelt oder hin und her bewegt wird – „zerstreute Spuren”. Die Zeilen scheinen in einem merkwürdigem Gegensatz zur Anschrift Wem sonst als dir zu stehen. Doch offenbar sollte „gerade der befremdende Ton […] fremd sein”.119 Während es sich bei der ersten „Widmung, die alle Augen lesen dürfen”, um die offizielle Adressierung eines Hauslehrers an seine Patronin handelt, spricht die berühmtere Widmung „in vier Worten alles aus, was Hölderlin der Diotima zu sagen hat: ihr gehört das Buch, wie sonst niemandem, ohne sie wäre es nicht geworden, für sie ist es geschrieben, sie ist darin und sie ist angeredet”. Die kostbare Eintragung macht die Enttäuschung über wahllose und fremdgehende Adressierungen wett. In der Geheimkammer des Literaturwissenschaftlers ertönt plötzlich eine ‚reine’ Stimme, die es der Nachwelt zu übermitteln gilt. Ein solches Unternehmen aber konfrontiert mit dem Problem einer ungestörten Durchstellung, der Komplexität des Phänomens ‚Stimme’. Die Auto-Affektion der Stimme, die Derrida in La voix et le phénomène als Adressierung an sich selbst wie an eine zweite Person darstellt, zeichnet ein besonderes Charakteristikum aus. Der Blick beispielsweise braucht einen Spiegel zur Wiedergabe des zerstückelten Körpers.120 Auch die Berührung muß sich am Anderen ereignen, sich exponieren. Stimmen dagegen beanspruchen, als Medium einer Universalität zu operieren. Ohne Umweg produzieren sie ihren eigenen Signifikanten.121 Der Grund liegt 118 Hölderlins erste Widmung, auf der Innenseite des vorderen Deckels (Bd.1). Abgedruckt in der Frankfurter Ausgabe, Bd. 10, S.14 u. H III,316. Darin auch Abdruck einer Widmung des verschollenen Exemplars von Isaac von Sinclair, die Hölderlin ebenfalls mit „Der Verfasser.” unterzeichnet hatte. 119 Vgl. W. Killy, „Hölderlin an Diotima”, S. 103f.: „Ich gestehe, daß für mich einen Augenblick der Zweifel anwandelte, ob diese Zeilen überhaupt von Hölderlin seien […] die überaus konventionelle Art, der elegante Satz in trockenem Stile, schließlich die dem Verhältnis zwischen Geber und Empfangenden so vollkommen unangemessene Unterschrift schienen mir kaum erklärlich.” 120 Vgl. Jacques Lacan: Ecrits, Paris 1966, S. 93–100. Vgl. auch J. Lacan, Schriften I, Olten/Freiburg 1973, S. 61–70. 121 Jacques Derrida: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1967, S. 88. Vgl. auch J. Derrida, Grammatologie, S. 175: „Der Logos aber kann unendlich und sich selbst gegenwärtig nur sein, kann als Selbstaffektion sich nur ereignen durch
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
in der Ausnahmestellung, den das Ohr unter den Sinnesorganen einnimmt. Rousseau stellt daher die getreue Imitation der Töne der Wiedergabe durch Farben gegenüber.122 Das Privileg der Audition unterstreicht die Zusammenarbeit von Ohr und Stimme, weshalb im Essai sur l’origine des langues das Nennen vom Rufen unterschieden wird.123 Als einer direkt hörbaren trägt Rousseau der Figur des Vokativs die Aufgabe an, die Wiederholbarkeit des Eigennamens und die Unzulänglichkeit der Schrift zu beheben. Er sei dort einzusetzen, wo sich Mitglieder einer Gemeinschaft nicht mehr in Rufweite verständigen. Schrift zeige Verfall an, Rede hingegen erlaube unvermittelte Anrufung. Noch die phonetische Schrift weist eine enge Verwandtschaft mit Rede auf. In den Dienst der politischen Stimme gestellt, darf sie in platonischen Traditionen eine zivilisatorische Mission übernehmen.124 Das uneingeschränkte Lob der Stimme übersieht die Tatsache, daß mündliche Rede im Echo der Auto-Affektion verstellt und aufschiebt: „In der Anrede wird die Präsenz zugleich versprochen und abgewiesen.”125 Anrufungen des Anderen werfen die eigene Stimme zurück. Sie sind auch Selbstanrufung, d.h. Ruf in der parole, deren tropische Wendungen auf die figurative Schriftwerdung vorgreifen.126 Im Hyperion kommt dies zur Sprache, wenn zwar einerseits bewußtloses Hören auf das „Wohlgetöne einer Quelle” (H I,674) in der Erinnerung an Rousseau beschworen, andererseits aber vor einer Berührung mit der „gefährlichen Flamme” gewarnt wird. Wie Paßwörter versprechen Namen Einlaß in bewußtlos-schweigendes Einverständnis, während Anrufungen lineare Zeitabläufe aus den Angeln heben und Halluzinationen ermöglichen. So ein „liebes Räthsel” ist Hyperion noch kurz vor Ende des Romans vergönnt, die Stimme: als Ordnung des Bezeichnens, durch die das Subjekt in sich aus sich heraustritt, in der es den Signifikanten, den es selbst äußert und von dem es gleichzeitig affiziert wird, nicht aus sich heraus setzt.” 122 Jean–Jacques Rousseau: Emile ou de l’éducation, in: J.–J. Rousseau, Œuvres complètes, Paris 1969, Bd. 2, S. 404: „Wir haben ein Organ, welches dem Gehör entspricht, nämlich die Stimme; für das Gesicht haben wir ein solches nicht, denn wir können die Farben nicht so wiedergeben wie die Töne. Dieses ist ein Mittel mehr zur Übung des Gehörs, denn das aktive Organ und das passive üben einander in Wechselwirkung.” 123 Jean–Jacques Rousseau: Essai sur l’origine des langues, in: J.–J. Rousseau, Œuvres complètes, Paris 1865, Bd. 1, S. 380, Anm.: „Mais comment distinguer par écrit un homme qu’on nomme d’un homme qu’on appelle? C’est là vraiment une équivoque qu’eût levée le point vocatif. La même équivoque se trouve dans l’ironie, quand l’accent ne la fait pas sentir.” Zitiert in J. Derrida, Grammatologie, S. 187: „Wie aber soll man mit Hilfe der Schrift einen Menschen, den man nennt, von einem Menschen, den man ruft, unterscheiden? In diesem Fall haben wir etwas äquivokem [équivoque – zu lateinisch ‚vox’, ‚doppeldeutig’] zu tun, was nur durch den Vokativ behoben werden kann.” 124 Vgl. dazu Erich Mayser: „Hölderlins ‚Stimme des Volks’”, in: Hölderlin Jahrbuch, Bd. 25, Tübingen 1986. S. 252–263. 125 J. Derrida, Grammatologie, S. 203, dt. S. 244. 126 Ebd., S. 440, dt. S. 534: „Daher der Buchstabe/Brief. Die Schrift ist das Unheil der repräsentativen Wiederholung, das Doppel, das den Wunsch erschließt und den Genuß be–wahrt.”
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VERWERFUNGEN
wenn er zur panischen Mittagsstunde die Stimme seiner längst verstorbenen Diotima hören darf. „Diotima, rief ich, wo bist du, o wo bist du? Und mir war, als hört’ ich Diotimas Stimme, die Stimme, die mich einst erheitert’ in den Tagen der Freude – Bei den Meinen, rief sie, bin ich, bei den Deinen, die der irre Menschengeist miskennt! Ein sanfter Schrecken ergriff mich und mein Denken entschlummerte in mir. O liebes Wort aus heiligem Munde, rief ich, da ich wieder erwacht war, liebes Räthsel, faß ich dich?” (H I,759)
Dem Halbgott Pan gleich, der plötzlich aus einem Gebüsch hervorspringt und Panik erzeugt,127 unterbricht die Stimme der Toten die arkadische Ruhe des Eremiten. Stimmwahn wird im Gegensatz zu übernatürlicher Vision und Heiligsprechung als eine den ‚Irren’ und ‚Wahnsinnigen’ vorbehaltene Schwäche betrachtet. Diotimas Stimme spricht im Hyperion unter Vorbehalt einer Verkennung: „bei den Deinen, die der irre Menschengeist miskennt!” Anders als im Moment der Vergegenwärtigung („Oft, wenn sie während ihrer Rede meinen Nahmen nannte, war ich plötzlich mit meiner ganzen Seele gegenwärtig”128) zeitigt hier die Anrede Vergangenes. Diotimas Stimme ruft Hyperion nicht mehr wie in anderen Szenen beim Namen, sondern zur Heimkunft: „Bei den Meinen […] bei den Deinen”. Wie in der Grotte und im „heiligen Wald” erscheint die geliebte Gestalt dem gealterten, eremitierten Hyperion mitten im rousseauistischen Zustand des selbstvergessenen Hörens, der Aufgabe und des Traums. Die melancholische Stimmung findet in der Umgebung ihr Spiegelbild wieder. „Einst saß ich fern im Feld’, an einem Brunnen, im Schatten epheugrüner Felsen und überhängender Blüthenbüsche.” (H I,759) Ein in sich ruhendes Außer-sich-sein hat eingesetzt. Der Anruf der „Lieben” und „Todten” ist zum Ritual des hoffenden Rufes geworden. Doch die verwirrende Antwort Diotimas versagt sich dem Ideal eines reinen Vokativs, im kreisförmigen „O!” buchstäblich werdend: „O Sonne, o ihr Lüfte […]! O liebes Wort aus heiligem Mund, […] faß ich dich?”
127 Vgl. Jean–Pierre Dupuy: La panique, Paris 1991. 128 Fragment von Hyperion, H I,551.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Widmung oder/und Poetologie: „O Diotima!” Am 7.November 1799 hat Hölderlin wahrscheinlich Susette Gontard das gewidmete Hyperion-Exemplar überreicht.129 In einem Begleitschreiben bittet er sie darum, den Tod der Diotima zu verzeihen: „Du erinnerst Dich, wir haben uns ehmals nicht ganz darüber vereinigen können.”130 Der Tod der weiblichen Figur, so ihr Verfasser, sei „notwendig” gewesen. Neben der offiziellen und persönlichen Widmung enthält das überreichte Buch Unterstreichungen, die „ebenfalls als Brief gelesen werden” können.131 Zusammengenommen ergeben sie, zitiert im Wortlaut des Widmungsexemplars, folgenden Text: [Band I, Buch 2] „wenn hinfort mich das Schiksaal ergreift und von einem Abgrund in den andern mich wirft, und alle Kräfte ertränkt in mir und alle Gedanken, so soll diß Einzige doch mich selber überleben in mir, und leuchten in mir und herrschen, in ewiger, unzerstörbarer Klarheit! Ich war einst glüklich Bin ich es nicht noch Wär' ich es nicht, wenn auch der heilige Moment, wo ich zum erstenmale sie sah der lezte wäre gewesen. Was ist alles künstliche Wissen in der Welt, was ist die ganze stolze Mündigkeit der menschlichen Gedanken gegen die ungesuchten Töne dieses Geistes, der nicht wußte, was er wußte, was er war? Ich stand vor ihr, und hört' und sah den Frieden des Himmels, und mitten im seufzenden Chaos erschien mir Urania. Wie oft hab' ich meine Klagen vor diesem Bilde gestillt! wie oft hat sich das übermüthige Leben und der strebende Geist besänftigt, wenn ich, in seelige Betrachtungen versunken, ihr in's Herz sah […]. Sie war mein Lethe, diese Seele, mein heiliger Lethe, woraus ich die Vergessenheit des Daseyns trank, daß ich vor ihr stand, wie ein Unsterblicher, und freudig mich schalt, und wie nach schweren Träumen lächeln mußte über alle Ketten, die mich gedrükt. 129 In ihren Briefen äußert Susette Gontard mehrfach den Wunsch, Hölderlin möge ihr seinen „Hipperion” schicken, denn es sei ihr nicht möglich, „ihn für ein paar Geldstücke zu kaufen”, vgl. Brief vom September/Oktober 1798, H II, 702. Wieder erwähnt Ende Februar 1799, vgl. H II,746. Im März 1799 hat sie den ersten Band offensichtlich gelesen, denn sie schreibt: „bey’m durchlesen fällt mir ein daß Du Deinen lieben Hipperion auch einen Roman nennst, ich denke mir aber immer dabey ein schönes Gedicht.” ( H II,754). Im September/Oktober vermutet sie, daß der zweite Band erschienen sein müsse (vgl. H II,826). Der Begleitbrief Hölderlins ist datiert mit Oktober/November 1799. In ihrem Brief vom 2.–7.November schreibt Susette Gontard: „Du hattest ein Buch in der Hand! wie freut es mich schon.” (H II,836) Am 8. Mai 1800 sehen sich Susette Gontard und Hölderlin zum letzten Mal. Vgl. auch Zeittafel in H III,847–849. 130 H II,833. Datiert Oktober/November 1799. 131 Vorschlag von M. Knaupp, in H III,526.
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VERWERFUNGEN O laß dir deine Rose nicht blaichen seelige Götterjugend Laß in den Kümmernissen der Erde deine Schöne nicht altern. Das ist ja meine Freude daß du in dir den sorgenfreien Himmel trägst. Der Mensch ist ein Gewand, das oft ein Gott sich umwirft, ein Kelch, in den der Himmel seinen Nektar gießt, um seinen Kindern vom Besten zu kosten zu geben. [Band II, Buch 1) Du bewahrst die heilige Flamme, du bewahrst im Stillen das Schöne, daß ich es wiederfinde bei dir. Längst, o Natur! ist unser Leben Eines mit dir und himmlisch n deinen Hainen wandelten wir und waren, wie du, an deinen Quellen saßen wir und waren, wie du Da wir uns ferne waren, da, wie Harfengelispel, unser kommend Entzüken uns erste tönte, da wir uns fanden, da kein Schlaf mehr war und alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur! da waren wir immer, wie du, und nun auch da wir scheiden und die Freude stirbt, sind wir, wie du, voll Leidens und doch gut O Diotima! […] edle, ruhiggroße Wesen wie muß ich vollenden, wenn ich nicht fliehn will vor meinem Glüke, vor ? O du mit deiner Elysiumsstille, könnten wir das schaffen, was du bist! O das ist ja meine lezte Freude, daß wir unzertrennlich sind, wenn auch kein Laut von dir zu mir, kein Schatte unsrer holden Jugendtage mehr zurükkehrt! Es ist unmöglich und mein innerstes Leben empört sich wenn ich denken will als verlören wir uns. [Band II, Buch 2] ich bin dir jezt dafür in deinem Eigensten um so ähnlicher geworden, ich hab' es endlich achten gelernt was gut und innig ist auf Erden. Unser Leben, unsers ist noch unverlezt in mir. o Diotima! ihr Bäume wo sie sich erheitert ihr Frühlinge, wo sie gelebt die Holde mit den Blumen, scheidet, scheidet, nicht aus mir! alte feste Schiksaalswort daß eine neue Seeligkeit dem Herzen aufgeht wenn es aushält und die Mitternacht des Grams durchduldet Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima und die Thränen um dich verstehen es nicht.”
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132 Zitiert bei H III,526–528. In der Interpunktion und Schreibweise (die Klammern verweisen auf Stellen, die in der Erstausgabe abweichen) wurde den Herausgebern nach einem Vergleich mit dem Widmungsexemplar im Marbacher Literaturarchiv gefolgt. Zu den Anstreichungen im zweiten Band: Nach einer ersten Unterstreichung mit Tinte alle weiteren mit Bleistift. Dies hat Interpreten wie Weisman und Killy dazu veranlaßt, von Susette Gontards ‚Erwiderungen’ auszugehen, eine Annahme, der weder Knaupp u.Sattler noch die Verf. folgen.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Die aneinandergereihten Unterstreichungen lassen sich als Brief lesen, der eine aktuelle Situation in Worte faßt, Erinnerungen an vergangenes Glück beschwört und in wiederholten Apostrophierungen den Eindruck von Direktheit vermittelt. Dieser Eindruck entpuppt sich jedoch in dem Moment als Illusion, wenn trotz Suggestion einer überwundenden Trennung im „wir” eine unabschließbare Trauer den Brief beschließt: „die Thränen um dich verstehen es nicht.” Stellt man nun jede einzelne Unterstreichung wieder in den Kontext des Romans zurücks, so ergeben sich zahlreiche Verbindungen, die über den persönlichen Trauerbrief hinaus Hölderlins Poetologie des Anrufs noch einmal bündelt und auf den Punkt bringt. Indem Buchstabe und Geist miteinander korrespondieren und konkurrieren, wird Sinn gleichzeitig entstellt und hergestellt.133 Die erste Unterstreichung setzt im zweiten Buch des ersten Bandes an. Dort versucht Hyperion Bellarmin vom Beginn der „Festzeit” (H I,653)134, seinem ersten Treffen mit Diotima, zu berichten: „Hier – ich möchte sprechen können, mein Bellarmin! möchte gern mit Ruhe dir schreiben!/Sprechen? o […] ich will sprechen!” Die Unterstreichungen beginnen mit der Erwähnung von „Schicksaal” und „Abgrund”, denen der Vorsatz begegnet: „ so soll diß Einzige doch mich selber überleben in mir” (H I,655) Springt man von hier zum Begleitbrief an Susette Gontard, so ergibt sich eine Korrespondenz. Während die erste und letzte Unterstreichung des Hyperion auf das „Schiksaal” bzw. das „alte feste Schiksaalswort” hinweist, gibt der Begleitbrief Anweisung zur Lektüre: „alles, was von ihr und uns, vom Leben unseres Lebens hie und da gesagt ist, nimm es wie einen Dank” (H II,833). Der passiven Ergebenheit entgegnet die Aufforderung, vom Buch als „Dank” Besitz zu ergreifen. Dieser „qualitative Sprung” setzt den Dank als Antithesis zum Schicksal. Darin erinnert Adorno in seinem Hölderlin-Essay Parataxis, wenn er aus dem Gedicht Friedensfeier zitiert: „Und trift daran ein Schiksaal, aber Dank”135. Dank sei antimythologisch und genau das Gegenteil zum „immergleichen” Schicksal. Das Wort ‚aber’ setze eine Zäsur.136 Indem auf das festschreibende Schicksal mit Dank erwidert wird, gelingt es paradoxerweise, sich an seine Stelle zu setzen und ihm zu entgehen.
133 Der überschießende Selbstwert der Buchstaben äußert sich vor allem im Anagramm, das verborgene Energien der Sprache zum Vorschein bringt, vgl. Greber, Textile Texte, S. 171. Auch durch die Unterstreichungen entsteht ein neu zu lesender, aus dem Kontext gerissener, entstellter und verdrehter Text. 134 Um die Situierung im gedruckten Text zu erleichtern, werden jeweils die Seiten aus dem gedruckten Hyperion genannt. Im Wortlaut der betroffenen Unterstreichungen aber wird weiterhin aus dem Widmungsexemplar zitiert. 135 H I,363. 136 Theodor W. Adorno: „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins”, in: T. W. Adorno, Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1994, S. 451f., „Lobt der Dichter das Schicksal, so setzt diesem die Dichtung den Dank entgegen, aus dem eigenen Momentum, ohne daß er es gemeint haben muß.”
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VERWERFUNGEN
Die Zeitangabe „einst” verbindet in der nächsten Unterstreichung mit der ersten Erwähnung Diotimas im Hyperion. Bereits vor der eigentlichen Begegnung findet sich eine Anspielung auf die Ankunft einer göttlich-trügerischen Gestalt: „Schon damals kannt’ ich dich, schon damals bliktest du, wie ein Genius, aus Wolken mich an, du, die mir einst” (H I,628)137. Sie antizipiert eine andere Szene, in der Hyperion in den Krieg zieht und sich von Diotima verabschieden muß: „Am Sternenhimmel wollen wir uns erkennen. Er sei das Zeichen zwischen mir und dir, so lang die Lippen verstummen.” (H I,706) Der als ewig beschworene Augenblick zeigt sich in seiner Ambivalenz, denn obwohl er sich linearen Zeitabläufen zu entziehen sucht, trägt er längst Züge des Abgelebten: „du, die mir einst”. Die nächste unterstrichene Frage nimmt die Verbindung zwischen wahnsinniger mousike (Platon) und dem Namen Diotima auf. Kants kategorischer Imperativ erscheint hier als der eigentliche Wahn: „Was ist alles künstliche Wissen in der Welt, was ist die ganze stolze Mündigkeit der menschlichen Gedanken gegen die ungesuchten Töne dieses Geistes, der nicht wußte, was er wußte, was er war?” (Vgl. H I,661) Das Nicht-Wissen des Geistes über sich selbst leitet über zum Ausruf an die Muse Urania: „Wie oft hab' ich meine Klagen vor diesem Bilde gestillt!” (Vgl. H I,663) und springt sogleich, in der nächsten Unterstreichung, zur narzißtischen Verbindung von Quelle und Spiegelbild („wie man in die Quelle siehet”): „Sie war mein Lethe, diese Seele, mein heiliger Lethe, woraus ich die Vergessenheit des Daseyns trank, daß ich vor ihr stand, wie ein Unsterblicher, und freudig mich schalt, und wie nach schweren Träumen lächeln mußte über alle Ketten, die mich gedrükt.” (Vgl. H I,663) Das Wort „Quelle”, „Schnittpunkt des Heiligen mit der Erde” (de Man), ist selbst von der Unterstreichung ausgespart. Es bildet eine unsichtbare Lücke, die im Hyperion zur nächsten Unterstreichung überleitet und so lesbar wird: „wie man in die Quelle siehet, wenn sie still erbebt von den Berührungen des Himmels, der in Silbertropfen auf sie niederträufelt!” Der Hinweis auf die Palingenese des Unterweltflusses Lethe, „der den Seelen der Verstorbenen Vergessen spendet”138, be-
137 Zur topischen Bedeutung der „Wolke” als Metapher für Epiphanie, aber auch für „Trugbild”, Zeichen einer tragischen Verfehlung, in Ableitung des Alten Testaments, der griechischen Mythen der Semele und des Ixion, vgl. Groddeck, „Freudiges”, S. 167 und179. 138 Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 18: „Im einzelnen ist bei den antiken Autoren strittig, durch welche seligen oder unseligen Gefilde Lethes Wasser fließen und wie der Verlauf des Flusses im Verhältnis zu den anderen Strömen der Unterwelt (Acheron, Styx, Phlegeton, Kokytos) genau zu lokalisieren ist. Am genauesten will es in der Antike der Geograph Pausanias wissen, der in Böotien eine Lethe–Quelle identifiziert, neben der zugleich eine Mnemosyne–Quelle sprudelt. Übereinstimmung besteht jedoch bei den antiken Autoren, daß die Seelen von Lethes Wasser trinken, um durch das Vergessen ihrer früheren Existenz frei zu werden für die Wiedergeburt in einem neuen Leib.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
schwört ein weiteres Mal den rousseauistischen Zustand des Träumens – „wie nach schweren Träumen lächeln” – der in erlösendes Aufwachen übergeht: „über alle Ketten, die mich gedrükt.” Über einige Seiten hinwegspringend, kehrt der nächste emphatischaffektive Vokativ „O”, im unterstrichenen Text insgesamt fünfmal wieder. Auf das „O” der Götterjugend folgt das „o Natur!”, zweimal ertönt der Ruf „O Diotima!”, dazwischen das performativ-namenlose „O du”. Nicht von ungefähr spricht der erste Ausruf eine den Göttern vorbehaltene unsterbliche Jugend an. Die Zeitlichkeit unterwirft den Affekt des Ausrufs einer Ambiguität.139 „Freude” wie auch „Leiden” bringen sich zur Sprache – die viermal genannte Freude überwiegt als „Trauer um die Freude”140. Zugleich deutet sich ein kryptisch eingelassener Namensanruf der Geliebten an: „O laß dir deine Rose nicht blaichen seelige Götterjugend Laß in den Kümmernissen der Erde deine Schöne nicht altern. Das ist ja meine Freude daß du in dir den sorgenfreien Himmel trägst. (H I,669) „Das ist ja meine Freude” trägt den nicht ganz vollständigen Namen der Figur in sich, für den Susette Gontard Modell gestanden hat: d i i m a. Die fehlenden Buchstaben in d i o t i m a trägt eine weitere Unterstreichung im zweiten Band nach: „O das ist ja meine lez|te Freude”.141 Die Buchstaben entziehen sich wie der beschworene Name einer Eindeutigkeit: „der Mensch ist ein Gewand, das oft ein Gott sich umwirft, ein Kelch, in den der Himmel seinen Nektar gießt, um seinen Kindern vom Besten zu kosten zu geben” (H I,677). Eine sich selbst gegenüber blinde Sprache kleidet sich im Gewand eines zu füllenden Kelches.142 Das erinnert an die lange Tradition des lateinischen poeta vates, der als Werkzeug des Göttlichen mit phonologischen Analysen der Wörter beschäftigt ist.143 Gerade auf dieser Schwelle aber, die zur Abkehr von einer anthropomorphisierten Lektüre auffordert, taucht die Anrede des „Du”, der „Priesterin des Herdes” auf: „Du bewahrst die heilige Flamme, du bewahrst im Stillen das Schöne, daß ich es wiederfinde bei dir.” (H I,704) Die mythologische Verbindung von Diotima zur römischen Priesterin Vesta ruft deren Aufgabe in Erinnerung, Feuer am Leben zu halten: „Die Priesterin darf aus dem Tempel nicht gehen.” so der vorige Satz. In der Sakralisierung drückt sich Hoffnung auf Rettung aus: „Längst, o Natur! ist unser Leben Eines mit dir und himm-
139 Vgl. dazu auch Groddeck, „Freudiges”, S. 171. 140 Vgl. Jean–Luc Nancy: „La joie d’Hypérion”, in: Jean–François Courtine, Cahiers de l’Herne. Friedrich Hölderlin, Paris 1989, S. 200–216. 141 Jakobson spricht von mehreren eindeutigen Botschaften, vgl. Jakobson/Lübbe–Grothues, Hölderlin, S. 85f.. 142 Vgl. z.B. H I,283: Der blinde Sänger: „O Jugendlicht! o Glük! das alte/Wieder! doch geistiger rinnst du nieder/Du goldner Quell aus heiligem Kelch!” 143 Vgl. J. Starobinski, Wörter, S. 28: „Eine solche Wissenschaft von der klanglichen Form der Wörter war es vielleicht, die seit den ältesten indoeuropäischen Zeiten die Überlegenheit, die besondere Eigenschaft des Kavis bei den Hindus, des Vates bei den Lateinern usw. ausmachte.”
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lisch in deinen Hainen wandelten wir und waren, wie du, an deinen Quellen saßen wir und waren, wie du” (H I,704) Die Prophezeiung „und wir werden sizen am Quell” erfüllt sich in imperfekter Zeitform: „und waren, wie du”. Ausgeschnitten aus einem Dialog zwischen den Liebenden, letzte Replik Hyperions: „Da […] alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur! da waren wir immer, wie du, und nun auch da wir scheiden und die Freude stirbt, sind wir, wie du, voll Leidens und doch gut” (H I,705). Mitten in den Bezeugungsakt von Diotimas Mutter, „ein reiner Mund”, fallen diese Worte: „Ich zeug’ es, sprach die Mutter./Wir zeugen es, riefen die andern.” Am „Tag des Abschieds” läßt Diotima emphatisierend einen Appell lautwerden, der die Macht der Stimme hervorhebt. Natur, Mutter, Augenzeugen, volle Akkorde, das Bild der „holden Statue”, alles versammelt sich, um den Bund der Treue zu schließen. Und doch spricht gerade die Vollkommenheit über die Unfertigkeit des Versprechens: „O Diotima! […] edles, ruhiggroßes Wesen wie muß ich vollenden, wenn ich nicht fliehn will vor meinem Glüke, vor dir?” (H I,712) Diese unbeantwortete Frage – vielleicht ein Schlüssel zum Appell, der sich auf die Stimme und ihr Echo beruft und dabei ohne Antwort bleibt – leitet einen (nicht mehr unterstrichenen) Satz im Hyperion ein, mit dem die Verschiebungen des Briefwechsels angedeutet werden: „Eben, während ich schrieb, erhielt ich deinen Brief, du liebe. Traure nicht, du holdes Wesen, traure nicht!” schreibt Hyperion an Diotima, die doch vor ihm stirbt. Die unterstrichenen Zeilen wenden sich nun direkt an das ‚Du’, indem sie eine gemeinsame, „unsre Welt” beschwören, „auch die deine, Diotima, denn sie ist eine Kopie von dir”. Nun besiegelt das vollständige Anagramm d i o t i m a ein schweigendes Eingeständnis über den kryptisch eingelassenen Widmungsnamen: „O das ist ja meine lezte Freude, daß wir unzertrennlich sind” (H I,724).144 Die Antwort auf den Anruf, der Rückruf, bleibt aus. „aber du schweigst”, schreibt der auf Antwort wartende Hyperion zu Anfang seines Briefes an Diotima. In die Figur der Apostrophe ist ihre Abwendung eingeschrieben, die sich im verstellten Namen als arbiträre, in der Verneinung bezeichnete Bewegung zwischen Buchstaben manifestiert: „kein Laut von dir zu mir”. 144 Zu den verschiedenen Konzeptualisierungen des Anagramms, vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 169ff.. Greber unterscheidet drei Hauptformen des Anagrammierens: „1. Anagramm als bedeutungsgenerierendes Verfahren mit begrenztem Ausgangsmaterial: Buchstabenvertauschung – ohne Rest – zur Gewinnung anderer Buchstabenfolgen und Bedeutungen (‚Wörter im Wort’) […]. 2. Anagramm als kryptographisches Verfahren (Kryptogramm) zum Verbergen eines Worts oder meist eines Namens innerhalb und außerhalb von Texten […]. Kryptonyme, Widmungsnamen… oder Autorenpseudonyme. 3. Anagrammstrukturen als eine latente, dem Text bewußt oder unbewußt eingeschriebene Wortschicht (‚Wörter unter Wörtern’).”
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Die nächste Unterstreichung von „Es ist unmöglich und mein innerstes Leben empört sich wenn ich denken will als verlören wir uns.” (H I,725) spielt im Hyperion auf den „Sternenhimmel” an, von dem beim Abschied noch die Rede war: „Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in alle Formen mich kleiden, in alle Sprachen des Lebens, um dir Einmal wieder zu begegnen. Aber ich denke, was sich gleich ist, findet sich bald.” Die beschworene Symbiose („ich bin dir jezt dafür in deinem Eigensten um so ähnlicher geworden” (H I,734) drängt zum Stichwort „Leben”, das „noch unverlezt” (H I,736) in das Ich hineingeholt wird und das Echo einer letzten unterstrichenen Anrufung „o Diotima! ihr Bäume […] ihr Frühlinge, wo sie gelebt die Holde mit den Blumen, scheidet, scheidet, nicht aus mir!” (H I,754) zurückholt, indem es den Decknamen Hölderlins als Epitheton Diotimas („die Holde”) einsetzt.145 Diotimas Abschiedsbrief an Hyperion wird von den Unterstreichungen ausgelassen. Diotima beschwört darin Hyperions Unsterblichkeit („Dich wird kein Lorbeer trösten und kein Myrthenkranz; der Olymp wirds, der lebendige, gegenwärtige, der ewig jugendlich um alle Sinne dir blüht.”) und verspricht ihm gleichzeitig: „Wir trennen uns nur, um inniger zu seyn, göttlicherfriedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben.//Ich werde seyn” (H I,749). Diese Offenbarung (siehe Ex. 3,14) läßt der Widmungsbrief aus. Er tut dies nicht allein deshalb, weil die Worte Diotimas Feder zuzuschreiben sind. Im Gegensatz zum Abschiedsbrief bezweifelt Hölderlins Widmungsbrief ja gerade die von Diotima mit häufigen Apostrophierungen und Ausrufen vorgebrachten Prophezeiungen: „O seid willkommen, ihr Guten, ihr Treuen! ihr Tiefvermißten, Verkannten! Kinder und Älteste! Sonn’ und Erd’ und Aether”. Dagegen enthalten die Schlußworte des Widmungsbriefes unterstrichene Zeilen, die erst nach der Scheltrede auf die Deutschen im Hyperion einsetzen. Sie beschwören ein letztes Mal die „Trauerbilder” und stellen die Unmöglichkeit des Versuches dar, durch den Anruf am „Leben” zu erhalten. Scheidung, Zwist und Trennung, die Dissonanzen, deren Auflösung bereits die Vorrede anspricht, tauchen am Ende der kryptischen Adressierung in der Verneinung auf: „Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima und die Thränen um dich verstehen es nicht.” (H I,760) Jakobson, dessen Studie sich auf das letzte Hölderlin-Gedicht Die Aussicht konzentriert, stellt jenen Satz in Beziehung zum Gedicht Diotima, das Waiblinger in das Fragment mit der geplanten Fortsetzung des Hyperion aufnahm: Wenn aus der Ferne. Das späte Trauerlied beginnt dort, wo der letzte Satz des Widmungsbriefes aufhört, mit der in aufschlußreicher Vernei-
145 Zum anagrammatischem Decknamen Hyperion, dem gemeinsamen graphischen Stock – H..eri.n – beider Namen, vgl. Jakobson/Lübbe–Grothues, Hölderlin, S. 32.
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nung ausgedrückten Angst, eben doch geschieden zu sein.146 Die Trennung ist Ausgangspunkt. „Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind, Ich dir noch kennbar bin” (H I,911). Nicht nur daß der Name Diotima aus anderen späten Dichtungen verschwindet,147 Jakobson zeigt auch, daß das von ihm auf 1820 datierte Gedicht einen scharfen Kontrast zu den übrigen der Spätdichtung bildet. Fragen, Bejahungen, Anrufe und Ausrufe kämen nirgendwo mehr vor. Während die Mehrzahl der späten Gedichte eher auf ein „hinweisfreies Nennen” und ein Fehlen der ersten beiden Personalpronomen eingestellt seien, falle in Wenn aus der Ferne geradezu ihre hohe Dichte auf. Das Monopol eines gesichtslosen Präsens ist hier zu genau sechsundzwanzig Beispielen eines markierenden Präteritums in Konkurrenz getreten. Auch die modalen Verhältnisse verschieben sich vom Indikativ zu imperativen und konjunktiven Formen. Die Wiederholung des verbum dictionis (‚sagen’, ‚gestehen’, ‚behaupten’) und dessen dictum rückt die Anzeige des Sprechakts in den Vordergrund. Die Vertauschung von Sprecher und Angesprochenem bezieht „das Pronomen der ersten Person […] auf die unbekannte Freundin und das ‚du’ auf den gleichfalls anonymen Geliebten.” Wenn aus der Ferne erscheint so als ausgebliebene Antwort auf den letzten „Ausruf, den der Dichter für seine Freundin im Hyperion unterstrichen hatte”148. Nur wenige andere Beispiele für einen Wechsel der Personalpronomen gibt es nach 1806, wie etwa: „Dieses mußt du gar nicht fragen,/Wenn ich soll antworten dir.”149 Auf die Zäsur des ‚aber’ zwischen Schicksal und Dank erscheint das Zerbrechen des Frage-Antwort-Schemas wie eine Erwiderung. Passen dazu die biographischen Anekdoten von Besuchern im Tübinger Turm, nach denen der Dichter nicht nur Anreden und den eigenen Namen, sondern auch Bejahungen und Verneinungen im Gespräch konsequent zu vermeiden wußte?150 Der herausgestrichene Widmungs‚brief’ erfaßt schließlich synoptisch den Hyperion-Roman und seine Poetologie der Anrufung. Worte wie „Quelle”, „Name” und „Stimme” korrespondieren in ritualisierten Ruf-Szenen, die sich in kryptisch-anagrammatisierten Adressierungen zu v/erkennen 146 Vgl. Sigmund Freud: „Die Verneinung”, in: S. Freud, Studienausgabe, Bd. III, Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 2000, S. 373: „Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten. Man sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang unterscheidet.” 147 Dazu z.B. W. Binder, „Namenssymbolik”, S. 151: „Man hat sich manchmal gefragt, warum Diotima so früh aus Hölderlins Dichtung verschwinde, und Wilhelm Michel [Das Leben Friedrich Hölderlins. 1940] hat das schöne Wort geprägt, nicht aus, sondern in Hölderlins Welt verschwinde sie.” 148 Jakobson/Lübbe–Grothues, Hölderlin, S. 80 u. 85. 149 H I,916. [Hervorhebungen v. Verf.]. 150 Vgl. Waiblingers Tagebucheintragung vom 30.Mai 1822 bis 3.August 1823, vgl. H III,655: „Eure Majestät – hier sprach er wieder französisch, sah einen an, und machte Complimente – Eure königliche Hoheit – das kann, das darf ich ihnen nicht beantworten.”
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geben. Die namentliche Widmung Wem sonst als dir ist parataktische Synopse (Adorno), Dichtung (im Sinne des ‚Dichterischen’ – Heidegger, Benjamin151), dictum (Jakobson) eines Textes, der sich selbst zum Thema macht und herbeiruft, zitiert.152 Wie aber wird die Widmung als adressierte Zueignung erkennbar? Der Name des Autors scheint in Handschrift und Unterschrift besiegelt zu werden: Je signe – Ich (unter)zeichne, Ich/Zeichen. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf Hölderlins fiktive Unterschriften.
Je signe – Hölderlins Unterschriften Was hat es mit der Unterschrift des Autors als Besiegelung einer (letzten) Adresse auf sich? Schon Roman Jakobson hat sich für Hölderlins zunehmende Aphasie der ausgeklügelten Spätdichtung interessiert, die mit fiktiven Unterschriften versehen ist. Der Begriff Aphasie beschreibt sowohl das Phänomen einer Urteilsenthaltung gegenüber Dingen als auch den Verlust des Sprechvermögens. In Freuds früher neurologischer Studie Zur Auffassung der Aphasien wird sie als Zurückweisung der Klang- und Bewegungsbilder in der „Großhirnrinde” definiert. Aphasien wären Assoziations- und Leitungsunterbrechungen, welche die physiologische Übertragung der normalen Sprachfunktion verhindern. „Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang zum Physiologischen.”153 Doch am Vorrang des Psychischen läßt Freud für die Ursachenforschung keinen Zweifel. Aphasische Äußerungen bedeuteten, „aber diese Bedeutung wohnt ihnen – wie einem eingefrorenen Gedanken – nur am Ursprung inne”154. Ähnlich wie beim Hysterie-Konzept geht Freud davon aus, daß die scheinbare Bedeutungslosigkeit eines aphatischen Symptoms mit einem traumatischen Ereignis der Vergangenheit in Verbindung zu bringen ist. Während aber das hysterische Symptom nach einer „zusätzlichen Operation” verlangt, der „Übersetzung in einen verbalen Ausdruck dessen […], was das Symptom ursprünglich auszudrücken versuchte”155, kann die aphatische Störung „Phänomene geteilter Aufmerksamkeit” aufweisen. Dafür steht das Beispiel des Vorlesenden, der selbst nicht mehr versteht, was er liest und „wo das Verständnis des Gelesenen erst auf
151 Vgl. Eliane Escoubas: „Hölderlin et Walter Benjamin: L’Abstraction lyrique”, in: J.–F. Courtine (Hg.), Les cahiers de l’Herne. Friedrich Hölderlin, S. 489–499. 152 Jakobson zitiert bei Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M. 1990, S. 170: „Zitierte Rede ist Rede in der Rede, Rede über Rede”. 153 Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie, Paul Vogel (Hg.), Frankfurt a. M. 1992, S. 98. 154 Wolfgang Leuschner: „Einleitung”, in: S. Freud, Aphasien, S. 21. 155 S. Freud, Aphasien, S. 22.
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einem so weiten Umwege erfolgt.”156 Die Einsicht, daß Sprechen und Klangbilder ein dialektisches Verhältnis eingehen, hat zur Konsequenz, daß eine neue Disposition im Behandlungszimmer der psychoanalytischen Praxis vorgenommen wird. Der Stuhl des Arztes wird nun um neunzig Grad vom Patienten weggedreht, „um ihn einem virtuellen Körper zuzukehren, nämlich der sprachlich verfaßten Vorstellung.” Die Konzentration auf den Sprachapparat soll sich selbst Genüge tun und ohne Anrufung eines Dritten auskommen: „weder ein pathologisch-anatomisches Substrat noch einen Geist.”157 Gerade diese vérité à deux ist es, die in Hölderlins Poesie paradoxerweise zurückgewiesen und, über den Umweg der Nicht-Ansprache, schließlich dennoch forciert wird. In Briefen nach 1837 unterschreibt er sage und schreibe vierundzwanzigmal mit phantasievollen Namen. Auch die Datierungen sind verwirrend und weisen „eine Vorliebe des Autors für gewisse chronologische Bezeichnungen und Verbindungen” auf.158 Einige greifen vor, andere zurück, wieder andere stimmen wahrscheinlich mit der Entstehungszeit überein. Auffallend sind übertrieben höfliche Formeln, die in Briefen an die Mutter schon die ganze Kurzmitteilung ausmachen. „Ich bin so frei, mich auf Erlaubniß des gütigsten Herrn Zimmers gehorsamst zu empfehlen, und nenne mich Ihren Gehorsamsten Sohn Hölderlin.
Ich habe ebenfalls die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen, und bin Ihr gehorsamster Sohn Hölderlin.”
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Für Austin sind solche „rein förmlich-konventionellen Höflichkeitsfloskeln” nicht mehr performativ, weil es sich hier „möglicherweise […] ausschließlich um Ausdrücke [handelt], mit deren Hilfe man Gefühle bezeugt, vielleicht sogar weiter eingeschränkt auf Fälle, in denen es um Gefühle beim Sprechen oder Zuhören geht.”160 Es sind „schlimme” Fälle, denn außer der schwierigen Entscheidung darüber, ob eine Aussage ehrlich gemeint ist oder nicht, ob sie eine Handlung auch tut, die sie sagt, konfrontieren die hyperbolischen Flos156 157 158 159
Vgl. S. Freud, Aphasien, S. 119 Vgl. W. Leuschner, „Einleitung”, S. 26f.. Jakobson/Lübbe–Grothues, Hölderlin, S. 33. Vgl. Briefwechsel 1812–1828, H II,933–961. Nach dem Tod der Mutter wiederholt Hölderlin die gleiche Briefform an Bruder und Schwester. 160 Austin, Sprechakte, Vorl.7, S. 103.
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keln mit einem Außenseitertum der Sprache. Die übertriebene Konventionalität und Ritualität läßt sich nicht individualisieren. Die parole fällt aus der Rolle – sie entschlüpft (schau-spielerisch) ihrer Funktion, in individueller Sache zu sprechen. Geläufigere Formen von konventioneller Höflichkeit (z. B. „Ich bitte um Entschuldigung”) könnten dagegen als explizit performativ angesehen werden. Hier wiederum rückt „der Höflichkeitsmanierismus […] das Benachbarte in größere Ferne.”161 Wenn Hölderlin ausgerechnet den überflüssigen Mehrwert an kommunikativen Formeln verwertet, um sich in Briefen an die Mutter zu wenden, dann werden damit jegliche Performativität und Verbindlichkeit – die Absprache über sprachliche Vorstellungen – zurückgewiesen und das Einschreiten eines Dritten (Vater, Gott, Arzt) zu verhindern gesucht. Ohne ein Krankheitsbild zeichnen zu wollen, das mit Begriffen wie „Aphasie” oder „Psychose” auf eine Ursache rekurrieren würde,162 so berichten doch die Dokumente der Spätzeit über eine Radikalisierung. Eine Verwerfung des Anrufs pervertiert Unterwerfungsgesten und die der väterlich-göttlichen Autorität unterstellte symbolische Ordnung. Sie macht die Identifizierung mit dem „Selben” unmöglich. Die Ansprache „im Namen des Vaters” verliert sich im Gewirr der Namen, um einer Öffnung ins „Draußen” zu weichen.163 Hölderlins letztes überliefertes Gedicht Die Aussicht bewahrt diese Bewegung noch im Titel auf. Wörtlich blickt sie von den Beteuerungen der Besucher über das Aussehen des Dichters hinweg zur Aussicht auf den bevorstehenden Tod: „Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben” (H I,938). Eine „Diesseitigkeit” ist im und am Werk, eine Kontinuität, „die in der durchsichtigen Materialität der Zeichen, in der Abstrakta der Schemata aufscheint”164. Etwas gibt sich als „gehorsamst” oder „unterthänig” aus und widersteht einer Performativität. Es gibt sich servil, ist es aber nicht. Ironisch weist die Mitteilung auf ihr Double der Verabschiedung, doubliert sich im Wegschauen, ist nicht da und schon wieder fort. Ein solches Paradox erscheint nun nicht mehr nur als Quelle für Entsagung und Trauer, sondern sagt sich selbst in der A-Symmetrie einer eilfertigen und doch abwesend bleibenden Adressierung des Anderen zu. Zu den fingierten Unterschriften – in den Stammbucheinträgen kommen neben dem anagrammatischen Decknamen Scardanelli, der auf Molières Rolle des Sganarelle und seine Verbeugungsgestik anspielt, andere wie „unterthänigst Buonarotti” oder „Buarotti” hinzu165 – scheint Hölderlins ve161 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfur a. M . 1976, S. 111. 162 Zu den verschiedenen Krankheits– (Dilthey und Jaspers) oder Verstellungsthesen (Pierre Bertaux) vgl. z.B. Christoph Jamme: „‚Ein kranker oder gesunder Geist’. Berichte über Hölderlins Krankheit in den Jahren 1804–1806”, in: C. Jamme/O. Pöggeler (Hg.), Idealismus. S. 279–289. 163 Vgl. Michel Foucault: La pensée du dehors, Montpellier 1986. 164 A. Haverkamp, Laub voll Trauer, S. 13. 165 Aus den Jahren 1837 und 1840, vgl. H II,974 und 975.
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hemente Ablehnung des ererbten Namens zu passen.166 Anagramm und Pseudonym schaufeln das Grab der besiegelnden Signatur und des besiegelten Spätwerks, das die Verwerfung des Namens und des Anrufs durch unterbundene Identifizierungen auf die Spitze treibt. In schiere Wut wohl muß Hölderlin die Aufforderung versetzen, er solle seine Gedichte mit eigenem Namen unterschreiben.167 Das Tabu der Anreden und Unterschriften wirft die Theatralisierung im Blick des Zuschauers zurück. Daß dieser Spiegel-Effekt seine Wirkung zeigt, haben zeitgenössische Berichterstatter dokumentiert. Danach fallen Anrede und Absender aus dem Rahmen, wiederholen sich in mimetisch affektierten Verhaltensregeln, die nichtssagende Gesten ausführen. Auf seine Figur Diotima angesprochen, setzt Hölderlin bis zuletzt das Schau-Spiel des Rollentausches fort. Diotima, ein anderer Deckname für den Idiot und das närrische, mundartliche Sprechen?168 „Sodann erinnerte ich ihn an seine Diotima. ‚Ach’, sprach er, ‚reden sie mir nicht von Diotima, das war ein Wesen! und wissen Sie: dreizehn Söhne hat sie mir geboren, der eine ist Kaiser von Rußland, der andere König in Spanien, der dritte Sultan, der vierte Pabst usw. Und wissen Sie was dann?’ Nun sprach er folgendes schwäbisch: ‚wisset se, wie d’Schwoba saget: Närret ist se worda, närret, närret, närret.’”
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Einem Delirium der Namen und im Namen, dem schizoiden Fließen und irrenden Adressieren sind poetologisch keine Grenzen gesetzt.170 In verzerr-
166 Nach Johann Georg Fischers Bericht 1888, in H III,672, besteht Hölderlin darauf, daß er nie so geheißen habe, „sondern Scardanelli oder Scarivari oder Salvator Rosa oder so was”. 167 Vgl. aus C.T. Schwabs Tagebuch, 14. Januar bis 25. Februar 1841, H III, 669: „Heute war ich wieder bei ihm, um einige Gedichte, die er gemacht hatte, abzuholen. Es waren zwei, unter denen keine Unterschrift war. Zimmer’s Tochter sagte mir, ich solle ihn bitten, den Namen H. drunter zu schreiben. Ich gieng zu ihm hinein und that es, da wurde er ganz rasend, rannte in der Stube herum, nahm den Sessel und setzte ihn ungestüm bald da, bald dorthin schrie unverständliche Worte, worunter: ‚Ich heiße Skardanelli’ deutlich ausgesprochen war, endlich setzte er sich doch und schrieb in seiner Wuth den Namen Skardanelli darunter. Ich gieng nun gleich wieder und obgleich er mich mit den Händen heftig fortwinkte und dazu fluchte, machte ich, ohne mich aus der Fasssung bringen zu lassen, anständige Verbeugungen.” 168 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Wolfgang Pfeifer (Hg.), München 1995, S. 571: „Die Entlehnung Idiot (16.Jh.) steht zunächst im alten griech.–lat. Sinne für ‚Laie, ungelehrter, ungebildeter Mensch’ (bis ins 19. Jh.), daneben auch für ‚Stümper’ (seit 18. Jh.). Die Bedeutung ‚Narr, Blöd–, Schwachsinniger’ ist zuerst im Engl. (um 1300) nachweisbar; im Dt. setzt sie sich erst im 19. Jh. durch.[…] Idiotismus in der Bedeutung ‚Eigenart, Eigenheit einer Sprache, Mundarteigentümlichkeit’ (Ende 17. Jh.) unmittelbar aus griech. idiotismós ‚die dem gemeinen Mann eigentümliche Art zu handeln, sich zu benehmen, zu sprechen’ entlehnt ist.” 169 Nach Johann Georg Fischers Bericht 1888, in H III,672. 170 Vgl. dazu Gilles Deleuze/Félix Guattari: L’Anti–Œdipe, Paris 1972. Vgl. auch G. Deleuze/F. Guattari: Anti–Ödipus, Frankfurt a. M. 1974.
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ten Spiegel-Figuren vollzieht sich der Ruf als Rück-Ruf am verzehrenden Text-Körper, in der Ziffer. „Der Name (nom) ist nur der Schatten (ombre) der Ziffer (nombre), die genaugenommen das Unnennbare ist.”171 Wo aber hält sich dieses „Unnennbare” im kannibalistischen Text auf? Zwischen gleitenden, sich selbst hervorbringenden Signifikanten: nom, ombre, nombre? In einer Widmung, die auf ihre eigene Buchstäblichkeit im Eigennamen Diotima (zu griech. idios ‚abgesondert, eigen, eigentümlich, privat’) hinweist? „Wem sonst als dir” Gibt die Widmung eine Antwort auf die V/Erinnerung im Buchstäblichen? Läßt sie die Introjektion hinter sich? Schlägt sie schließlich in Inkorporation um: „ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen”? Deutlich ist geworden, daß den Figuren des Anrufs, Appells und der Adresse in Hölderlins Werk eine entscheidende Rolle zukommt. Das Thema ist damit sicher noch lange nicht erschöpft. Hier aber war keine literaturwissenschaftliche und endgültige Klassifikation des Anrufs das Ziel, sondern ein erster Streifzug durch die Wildnis wuchernder Topoi und Figuren: Apostrophen im Gebet (Augustinus), im Epigramm (Angelus Silesius), im Roman und Brief (Hölderlin), im Lobpreis und in der Gemeinde (Rosenzweig), am Telefon (Benjamin, Heidegger), im Verhör (Heidegger, Althusser), in Bibel und Thora (Rosenzweig, Benjamin), in Linguistik (Austin) und Philosophie (Heidegger, Derrida, Nietzsche). Hölderlins Quellen, Namen, Stimmen, Widmungen und Unterschriften führen zur Verwerfung des Anrufs und zur Problematisierung der Adressierung. Angesichts der Erkenntnis, „Schweigen müssen wir oft, es fehlen heilige Nahmen,/Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?”172 entpuppt sich die Adresse zunehmend als teleologische Fata Morgana. Wie haben sich Adressen in Verwaltung und Bürokratie entwickelt? Ab wann werden namentlich adressierte Urkunden durch andere kanonische Formen der Rechtssprechung abgelöst? Und was für ein Anspruch auf Zustellbarkeit ist mit einer Geschichte der Rhetorik der Adresse verbunden?
171 Sylvère Lotringer: „The Game of the Name”, in: Diacritics, Baltimore 1973, S. 2–9, hier S. 5. 172 H I,322. Vgl. S. 2, Anm. 5.
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4. P OST -A DR ESSEN
Verwalt ung und Adresse Mit Friedrich Hölderlins verworfenen Anrufungen wird die Problematik der Adressierung, die sich bereits seit Augustinus abzeichnet, weiter reflektiert. In den nächsten beiden Kapiteln geht es um säkularisierte Figuren der Postund Buch-Adressen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die religiöse Perspektive ausgespart werden könnte. Wenn unter dem Titel „Post-Adressen” zuerst Sören Kierkegaard das Wort erteilt wird, so um deutlich zu machen, daß auch die Figur der Adresse auf die bereits (mit Heidegger, Althusser, Nancy, Derrida, Rosenzweig) besprochene ethische Frage stößt. Gegenrede und Verantwortung folgen einem Anruf und gehen ihm voraus. Auch Kierkegaards sokratische Adressierungen fragen nach einer (dialogischen) Verantwortung des Einzelnen. Seine Gegenüberstellung des Ästhetischen und Ethischen stellt die Komplexität der Mitteilung reflektierend dar. Die Mitteilung spiegelt sich und bezieht sich in dieser Alteration des Selbst auf einen anderen oder ein anderes, von dem es aufgerufen wird. Die „unabhängige Selbsttätigkeit”1 der Rede bringt Subjektivität als und im Prozeß hervor. Doch bevor Kierkegaards autopoietische Adressen in Entweder-oder zur Sprache kommen, gilt es zunächst zu fragen: Was zeichnet eine Adresse aus? Unterscheidet sie sich vom Anruf? Wie kommen Adressen zustande, was macht sie performativ? Welche verschiedenen Modi von Adressen gibt es? Wie arbeiten Adressen und Verwaltung zusammen? Welche Funktionen erhalten Adressen in verschiedenen Medien (Post, Computer)? Lassen sich funktionalisierte Post-Adressen von ‚literarischen’, ‚fiktiven’ Buch- und Leser-Adressen unterscheiden? Teilt sich die Adresse nicht genau wie der Anruf stets auch selbst mit? Ein kurzer historischer Abriß geht dem Einsatz von Adressen in Verwaltung, Rechtssprechung und Rhetorik nach. Wenn es stimmt, daß die universelle Vernetzung eine Zunahme an intimen Adressie1 Raymond E. Anderson: „Kierkegaards Theorie der Mitteilung”, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt a. M. 1979, S. 440.
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rungen mit sich bringt, so spricht dies Bände über die Sehnsucht nach einer ‚direkten’ Kommunikation angesichts einer zunehmend technisierten Sprache. Auch eine postalisch genormte Adresse hält die Möglichkeit ihrer (anderen) Lektüre offen. Daß Post-Adressen durchaus Selbstgespräche führen können, zeigen Kierkegaards, Mallarmés und Kafkas raffinierte Verführungsstrategien, Gelegenheitspoesien und verwickelte Parabeln von kosmisch-industriellen Spindeln. Es sind drei, sich teilweise gegenseitig zitierende Beispiele für einen (post)modernen Umgang mit teleologischen Restbeständen von Adressen. Die Stimme des Einzelnen meldet sich „ex post”, wenn sie „auf irgendeine Weise polyphon” wird. Daran erinnerte bereits Jean-Luc Nancy: „Eine Stimme ist immer mindestens zwei Stimmen […] Die menschliche Stimme tönt immer auf eine andere Stimme zu und von einer solchen her, oder in einer anderen Stimme.”2
Anrufe sind „Beziehungsappelle”3. Sie fordern ihre Leser imperativ zur Reaktion der Wiedererkennung, zu einem unmittelbaren Empfang auf. Dieser performative Aufforderungscharakter bestimmt auch einzelne Adressen. Im Brief geben Adressen den Befehl einer Zustellung, an deren Ende ein abwesender, im besten Fall lokalisierbarer Adressat steht. Darüberhinaus sind Adressen speicherbare Daten. Sie hinterlassen Spuren, die nach dem Akt der Übertragung noch sichtbar sind.4 Weder nur auszuführender Befehl noch ausschließlich sich selbst protokollierender Schreibakt, stehen übertragende und speicherbare Adressen medientechnisch gesehen zwischen allen Stühlen. Ohne sie geht nichts. Und mit ihnen scheint alles zu gehen, denn sie geben das Versprechen einer Erreichbarkeit. Als Sprechakt – ein Brief wurde im römischen Reich verlesen – fordert die Adresse performativ dazu auf, durch Boten oder andere Verteilersysteme ausgehändigt oder verschickt zu werden. Als Schreibakt – Briefwechsel lagern als Zeugnisse stattgefundener Handlungen in Kanzleien und Büros – ist die Adresse konstativ. Sie geht ins Protokoll und damit ins Archiv über, ins abrufbare, nicht immer für alle zugängliche Schrift-Gedächtnis. Eine „sekundäre”, vom Schriftdruck abgeleitete Mündlichkeit, läßt wie die postalische Sendung die Möglichkeit zu Auf-
2 J.L. Nancy, „Verantwortung des Sinns”, S. 17, vgl. Kap. I, 4 (Austin). 3 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Göttingen/Toronto/Seattle 102000, S. 98. 4 Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000, S. 87: „Ein zu den Akten genommenes Protokoll beendet die Handlung zwar, aber sie bleibt noch als Handlung adressierbar und damit quasi aktuell und tatsächlich aktualisierbar, nämlich wiederverlesbar.”
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schub und Umschrift offen.5 Das bringt eine Irritation mit sich: „Nicht daß es keine Kontexte gäbe. Es gibt zu viele, zu viele.”6 Rhetorisch kleiden sich Adressen in das Gewand der Apostrophe. Im Drama der Apostrophe (Derrida) kommt dem „sekundär” oralisierten Anruf als Beginn des Sprechens und als vorsprachliche Bejahung eines adressierten Anderen eine besondere Rolle zu. Die Apostrophe vollzieht „im Anruf eine ‚Umleitung’” und setzt das verdrehte „Phantasma der Adresse” in Szene. Erst nachträglich, „als immer schon gemeinte Adresse (Metalepsis)”, gibt sich die richtungsweisende Apostrophe zu erkennen: „die teleologische Perspektive ensteht ex post.”7 Nimmt man das „ex post” beim Wort, so stellt sich die Frage: War das immer schon so? Welche Rolle spielt die Geschichte der Rhetorik? Denn diese Geschichte erzählt einen Wendepunkt, nach dem die wissenschaftliche Methode der individuellen Adressierung vorgezogen wird.8 Mit dem Cherubinischen Wandersmann des spätbarocken Mystikers Angelus Silesius beginnt sich ein Wandel abzuzeichnen, ausgelöst durch das Mißtrauen gegenüber der Figur eines unmittelbaren Anrufs. Das Ende der höfischen Literatur ruft neue Literatur-Programme auf, für die Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) eines der ersten Beispiele lieferte. Im Bruch mit den formalistischen Regelpoetiken des Barock entstehen seit Ende des 17. Jahrhunderts Versuche, „das Wissen der Neuen Wissenschaft in den Bereich der rhetorischen
5 Zur sekundären Mündlichkeit als eine bereits durch Telefon, Radio, Fernsehen vermittelten, vgl. Walter F. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the World, London/New York 1982; vgl. auch W. F. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 10 u. 136. Über Derrida als “Philosoph des Sekundärsystems”, vgl. auch Rüdiger Campe: „Pronto! Telefonate und Telefonstimmen (57322)”, in: Friedrich Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber, Diskursanalysen, Bd. I: Medien, Opladen 1986, S. 69–93, hier S. 89, Anm. 4: „Sekundäre Mündlichkeit setzt Schrift/Druck voraus und doubliert sie: so wird im Sekundärzustand die Schrift priviligiert. Sie spielt dieselbe Rolle wie die Mündlichkeit im Primärzustand.” 6 Über das von Kratylus über Nietzsche zu Walter Benjamin gewanderte Zitat „’Einmal ist keinmal’”, vgl. Samuel Weber: „‚Einmal ist keinmal’. Das Wiederholbare und das Singuläre”, in: Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, S. 434–448. Es taucht außerdem auch auf bei Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst, übers. v. Gisela Perlet, Stuttgart 1992, S. 36: „Einmal ist keinmal, doch viele Male sind etwas”. 7 Jürgen Fohrmann: „Medien beschreiben/ Medien adressieren: Apostrophe – Bestimmung – Lektüre”, in: S. Andriopoulos/G. Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 97–99, hier S. 97. Zur rhetorischen und damit in der Schrift zeitlich festgehaltenen Disposition von Adressierungsvorgängen als „eine[r] Abwesenheit, die figurativ vergegenwärtigend vorausgesetzt und refigurierend eingesetzt wird”, vgl. Bettine Menke: „Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne”, In: S. Andriopoulos/G. Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 100–120, hier S. 114. 8 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 67: „Die Methode ist nicht–adressiertes Sprechen, die Adresse wird also eigens hinzugefügt.”
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Rede hineinzuarbeiten oder umgekehrt die Rede auf den Stand der Wissenschaft zu bringen.”9 Nachdem die rhetorisch reglementierte Schrift aufhört, der einzig gültige Kanon zu sein, signalisiert der Rückgriff auf die Form der individuellen Adressierung von nun an eine Problematik. Die hier vorgestellten komplexen Reflektionen Kierkegaards, Mallarmés und Kafkas reagieren insofern auf eine seit langem sich abzeichnende (Post-)Krise, in der die Adressierung zu einer wachsenden Herausforderung wird. Die Adresse weist einen Text als Sendung aus. Umgekehrt nehmen aber auch medientechnisch bedingte „Formalien der einzelnen Briefgattungen” auf die Adresse Einfluß. Jedes Briefgenre bedient sich einer eigenen Adressenvorlage, das lehren nicht erst die ars dictandi, die Kunst der Komposition oder Briefkunst. Ob es sich um Privat- oder Geschäftsbriefe, amtliche Schreiben, behördliche Erlasse, Eingaben der verschiedensten Art oder Urkunden in Briefform oder mit Briefeingang handelt, darüber berichtet allein schon die Form der Adresse, ihre Kürze oder Länge, ihr Gebrauch von Namen, Titeln, Herkunft, Wohnort, Patronymika, ihre Unterwerfung unter Konventionen oder ihre Freiheit zur Abweichung. In Mandaten, „dieser feierlichen Form des amtlichen und behördlichen Verkehres”, tritt der Gebrauch des einfachen Namens hinter der Amtsbezeichnung zurück. „Die Superscriptionen der Mandate und Konstitutionen der römischen Kaiser zeichnen sich durch besonders lange Titulaturen aus.”10 Dem Untergebenen gegenüber konnte sich der Gesetzgeber mit einem „einfachen Absendernamen begnügen”. Daß es das erste Anliegen eines Briefes ist, in Beziehung zu setzen, wird durch seine Nähe zur mündlichen Botschaft bestätigt. Auf allen möglichen, oft für die Schreibarbeit unbequemen Materialien wie Papyrus, aber auch Wachs- oder Elfenbeintafeln, Pergament oder sogar Tonscherben (das Briefpapier des Volkes) verfertigte man in der Antike adressierte Nachrichten und Korrespondenzen. Anders als im unter vier Augen geführten und mit dem unverwechselbaren Tonfall einzelner Stimmen verbundenen Dialog, wandert ein Brief durch mehrere Hände. Er ist ein Zeugnis für Arbeitsteilung. Wer es sich im verwaltungstechnisch hoch entwickelten römischen Reich leisten konnte, beschäftigte Schreibsklaven und Briefboten. So beauftragten Cicero oder Augustinus Dritte mit der Abfassung ihrer Botschaften, um sich der Arbeit des Schreibens zu entziehen. „Eigenhändigkeit ist also bei Briefen als Regel sicherlich nicht vorauszusetzen. Sie war es auch im vertrauten Briefverkehre nicht”.11 Den Namen des Absenders erfuhr der Empfänger häufig erst, wenn er die Verschnürungen des mühsam zusammen ge-
9 Ebd., S. 94. 10 Otto Roller: Das Formular der Paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom Antiken Briefe, Stuttgart 1933, S. 83. 11 O. Roller, Formular, S. 14.
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rollten Pergaments aufgeschnitten hatte und zu lesen anfing.12 Sekretären oder Freunden gewährte man freie Hand in der Wahl des Inhalts, „ja sogar ohne jede weitere Angabe als den Namen des Empfängers, ja nicht einmal mit dieser”13. Auch Außenadresse oder Siegel verrieten nicht zwangsläufig etwas über ihre Herkunft. Zu emsigen Sklaven, treuen Sekretären und hilfsbereiten Freunden kamen die Boten. Sie hatten den Brief an seinen Bestimmungsort zu bringen und laut daraus vorzulesen. Die Voraussetzung für eine gelungene Übertragung war die Ausführung eines räumlich und zeitlich auseinandergerissenen Sprechbefehls. Durch den Vortrag der Lektüre war diese Übertragung sichergestellt. Bote und Botschaft waren durch den Übertragungsbefehl aneinander gebunden, bis der verschlossene Umschlag und das Briefgeheimnis sie verschiedene Wege nehmen ließ. Die Verbindlichkeit eines brieflichen Befehls erschöpfte sich im Moment seiner Ausführung. Erst das Zu-den-Akten-Nehmen schaffte neue Rechtszustände. Aktualität und Aktualisierung entscheiden daraufhin beim eigentlichen Vorgang der Adressierung und nicht die Ordnung von Akten, an deren Rändern wiederum Adressen stehen. Adressen dienen als Register, sie geben präzise Informationen wie Datum, Ort und Empfänger weiter und verschaffen Zugang zum Archiv. Die Entwicklung zu einer abstrahierenden, auf allgemein gültige Wirkung abzielende und wiedergebrauchsfähige Texte erzeugenden Rechtssprechung läßt sich historisch als eine „Streichung von konkreten Adressen” nachzeichnen.14 Fälschung eines Briefes gilt als Urkundenfälschung, denn Urkunden sind zunächst nichts anderes als Briefe: „Alle Urkunden der römischen Kaiser benutzten seit dem 4. Jahrhundert die Form eines Briefes.”15 Wie der Brief steht die Urkunde zunächst „dem gesprochenen Wort, der Rede, sehr nahe.”16 Formal richteten sich Kaiser- und Beamtenurkunden nach einem strengen Aufbau. Sie hatten hierarchische Differenzen zu respektieren und festzuhalten. So stand die Intitulatio mit dem Titel des gesetzgebenden Kaisers immer vor dem Namen des Adressaten, und das waren meist „die 12 Zur Prozedur der Brieföffnung, vgl. Georg Steinhausen: Geschichte des Deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Berlin 1889, S. 32: „Um die Unverletzlichkeit des Briefes zu erreichen, zog man bei Pergamentbriefen einen schmalen Pergamentstreifen durch den Brief, indem man auf der Adresse zwei Einschnitte machte, die auch die auf der Rückseite zusammengelegten Briefenden durchschnitten: auf diesen Streifen wurde das Wachssiegel gedrückt. Bei Papierbriefen gebrauchte man Papierstreifen, oder später, namentlich im Briefverkehr, Fäden. […] Ohne Zerschneidung des Streifens oder des Fadens war dann ein Öffnen der Briefe unmöglich.” 13 O. Roller, Formular, S. 19. 14 Vgl. C. Vismann, Akten, S. 80. 15 Peter Classen: „Kaiserreskript und Königsurkunde. Diplomatische Studien zum römisch–germanischen Kontinuitätsproblem”, in: Edmund E. Stengel (Hg.), Archiv für Diplomatik. Schriftgeschichte und Wappenkunde, Bd. 1, Münster/Köln 1955, S. 54. 16 P. Classen, „Kaiserreskript”, Bd. 1, S. 58.
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höchsten Beamten der zentralen Verwaltungen oder die Provinzstatthalter.”17 Zwischen Gruss und Kanzleivermerk, Übertragung und Speicherung, mußten die kaiserlichen Kanzleien Briefe und Aktendepositum zur Deckung bringen. Für die Rechtssprechung war allein der Moment der Vorlage vor eine Behörde entscheidend. Waren die Notizbücher der Magistrate in der frühen Republik bis zu Kaiser Justinian noch „Effekte ungeordneter Aktualisierungen”18, die immerhin schon das bestimmen konnten, was als lex jeweils zu gelten hat, so änderte sich die Funktion der Akten mit der Überstellung ins Aerarium, in das römische Hauptarchiv, grundlegend. Aus dem Zirkulationsprozess herausgenommen und seßhaft geworden, wurden Akten zum „öffentliche[n] Erinnerungszeichen, griechisch archeon.”19 Das forderte neue Ordnungssysteme heraus. Zielgerichtetes Suchen und schnelle Zugriffe auf das Aufbewahrte waren gefragt. Die Immobilisierung der Akten sorgte dafür, daß keine Befehle mehr übertragen, sondern Gesetze erlassen wurden, die bis zu ihrer Abschaffung in Kraft blieben. Diese Entwicklung hin zu einem autorisierten Text, der „Vorrang des Gesetzes vor dem Übersetzen”, setzte sich im 6. Jahrhundert im Codex Justinianus fort. Übertragungs-Bewegungen wie „Verweisen und Tilgen, Benutzen und Vergessen, Aktualisieren und Zerstören” aber auch „alle individuierenden Daten wie Anrede, Grußformel, Orts- und Zeitangabe wurden gestrichen.”20 Nachschlagen und Zitieren traten an die Stelle von Adressieren und Aktualisieren. Während das Formular für kaiserliche Reskripte im alten Rom Kontinuität garantierte, kam im Mittelalter die zeitlose Urkunde in Gebrauch. Im 12. und 13. Jahrhundert schaffte die Kanzleitechnik der Register den „Übergang von der feierlichen Errichtung einzelner Urkunden zur laufenden Aktenführung”21. Register, die nichts anderes als Adressen sind, verschalten räumlich getrennte Schriftstücke. Züge des modernen Staates – der autopoietische Apparat aus Wiederholungen, die registrierende Aktenmaschine – zeichneten sich bereits ab.22 Eine neue Ökonomie des Schreibens und Lesens setzte ein. Informationstechnische Randdaten verschalten Handlung und Zeit, sie systematisieren bzw. adressieren unüberschaubar gewordene Textmengen. Der Buchdruck verallgemeinert die Adressen der Kanzlei-Schreiben, machte sie
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Ebd., Bd.1, S. 15. Vismann, Akten, S. 78. Ebd., S. 91. Ebd., S. 103 u. 105. Karl Kroeschel: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2 (1250–1650), Opladen 1980, S. 173. 22 Zum Begriff der „Autopoiesis” des Rechtes, vgl. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 30: „Dieses Theorieprogramm impliziert, daß das Recht alle Unterscheidungen und Bezeichnungen, die es verwendet, selbst produziert und daß die Einheit des Rechts nichts anderes ist als das Faktum der Selbstproduktion, der ‚Autopoiesis’.”
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zu Massenprodukten.23 Formulare lassen von da an nur noch Lücken für Adressen. Eine Kaskade von Kontrollen hat diese Automatisierung des Schreibens begleitet. Um 1600 wurde aus Registern eine eigenständige Registratur, die Akten, Benutzer und Kanzleipersonal verschaltete. Die postalische An-Schrift hat derweil in jeder Menge Briefe überlebt. Neben der Urkunde steht der Brief schließlich noch „der (schönen) Literatur” nahe. Zuerst in geschlossenen Beförderungssystemen und Botenanstalten zirkulierend, die jeweils nur ihre eigenen Institutionen postierten, erfand der absolutistische Staat mit der Einführung des Portos im Jahre 1600 das Territorium. Die demokratisierte Post erlaubte es jedem Einzelnen, sich privat zu adressieren – unter der Bedingung, daß er sich durch staatliche Kanäle leiten ließ.24 Barocke Briefsteller sorgten für „die Schicklichkeit in jedem Wortsinn der Wörter und Dinge”25. Adressenlisten mit Titeln entstanden. Stand und Geburt, Güter und Herrschaften, Ehrenämter und Dienste, Klasse und Geschlecht – nichts wurde ausgelassen, alles berechnet, um Subjekte miteinander in hierarchisch abgezirkelte Beziehungen zu setzen und sie zu Untertanen des absolutistischen Staates zu machen. Der Briefsteller Christian Fürchtegott Gellert bediente sich rhetorischer Figuren, um affektgeladene Rede auf SchriftInnenräume von sich ausplaudernden und empfindsamen Seelen zu applizieren: „Das erste, was uns bei einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. […] Er ist eine freie Nachahmung des guten Gesprächs.”26 Man träumte schon vom postwendenden Reskript. Weil sie Übertragung und Übermittlung informationstechnischen Zwecken unterstellt, ist die telekommunikative Dynamik eine Herausforderung für die „monomediale Welt des Buchdrucks”. Die Registratoren und Archivare aber sind seitdem dazu angehalten, wie Postboten nur Adressen auszutragen und nicht etwa das zu lesen, was sie verwalten. Schließlich ging die Ausbildung von idealen Staatsbeamten als staatlicher Erziehungsauftrag an preußische Schulen. 1812 legte die preußi-
23 F. Kittler: „Über romantische Datenverarbeitung”, in: Ernst Behler/Jochen Hörisch (Hg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn et al. 1987, S. 127–142, hier S. 130: „Gutenberg hatte Bücher nicht bloß vervielfältigt und damit Privatpersonen zugänglich gemacht, sondern, wesentlicher noch und überlesener, technisch standardisiert. Erst Drucksachen waren in allen Exemplaren identisch und nach Seitenzahlen adressierbar.” 24 B. Siegert, relais, S. 13f.. 25 Bernhard Siegert: „Netzwerke der Regimentalität. Harsdörfers Teutscher Secretarius und die Schicklichkeit der Briefe im 17. Jahrhundert”, in: Modern Language Notes, 105,3, April 1990, S. 536–562, hier S. 347: „Seitdem die Post eine Polizeyanstalt geworden ist, formuliert sich das Wissen, wie man Abwesende adressiert, nicht mehr als dem Schüler gegebene Regel, sondern als in der Registratur ihrer Anwendungen einem Kontrollblick repräsentierte Regel.” 26 Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: C. F. Gellert, Werke, Gottfried Honnefelder (Hg.), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1979, S. 136.
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sche Schulreform fest, was ein allgemeines Individuum ausmachen sollte: Es muß lesen und schreiben können. Veröffentlichungen traten an die Stelle von Geheimniskrämerei, die universelle Vernetzung provozierte paradoxerweise intime Geständnisse. Eine Flut autobiographischer Bekenntnisschriften und Selbstbeobachtungen setzte ein. Man schrieb „gegen die Generalanklage des Jüngsten Gerichts”27 an. Die Quellenlage wird an den materiellen Rändern der Zustellung lesbar: an „Adressen, Siegeln, Marken”28. Sie dokumentieren den Gegenstand der Schickung. Wie funktionieren Adressen in neuen Medien wie Personalcomputern? Elektronische Post operiert virtuell, ohne Umschläge und Briefträger. Sie wird immer schon zugestellt sein, noch bevor man sie abgerufen und gelesen hat. Virtuelle Adressen sind angetreten, um den Ansprüchen einer Anwesenheit des abwesenden Anderen zuvorzukommen. Ohne Normen und Konventionen könnte aber auch die virtuelle Adressierung nicht funktionieren. Da ohne sie nicht auszukommen ist, muß man jederzeit mit ihnen rechnen.29 Schon der Informationswert von Angaben wie Stadt, Land, Straße, Hausnummer, Arbeitsplatz, Telefonnummmer, E-Mail-Adresse oder Homepage ergibt sich aus einer „rekursiven Operation”. Der „Benutzer einer Anwendung” ist „in ihr (offenes) System” mit eingeschlossen. Zwei Phänomene treffen in der Adresse zusammen: „einerseits die Adressierung im Sinne der Zurechnung, Apostrophe oder Beschreibung, andererseits die Adresse als fixierbarer Ort.”30 Statt aber neue Formen des Lesens zu schaffen, greift das elektronische Spiel mit Identitäten, Decknamen oder visuellen Masken im Netz auf ein altbekanntes Post-Modell zurück. Hypertexte versprechen zwar mit der Loslösung von Körper und Stimme noch mehr als das Telephon. Eine Unruhe des lesenden Auges entsteht, die sich im Überfliegen niederschlägt. Sprache und Zeichen werden immer schneller konsumiert. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, daß der performative Akt des Lesens der gleiche bleibt.31 Der Akt des Lesens ist es, der entscheidet und auswählt. Nichts also, was nicht auch für postalische Medien – und Literatur – gelten würde. Die Schlüsselstelle der Adressen in Verwaltung, Rechtsprechung und Rhetorik ist nicht zu übersehen. Adressen erschließen Übertragungswege,
27 C. Vismann, Akten, S. 236. 28 B. Siegert, relais, S. 22 u.17. 29 Vgl. Christoph Neubert: „Elektronische Adressenordnung”, in: S. Andriopoulos/G. Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 34–63, hier S. 35. 30 Gabriele Schabacher: „Adressenordnungen: Lokalisierbarkeit – Materialität – Technik”, in: S. Andriopoulos/G. Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 19–24, hier S. 20 und 23. 31 Eckhard Schumacher: „Hyper/Text/Theorie: Die Bestimmung der Lesbarkeit”, in: S. Andriopoulos/G. Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, S. 121–135, hier S. 132.
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Verteilersysteme und Machtformationen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die Vermittlung des Verkehrs zwischen Herrscher und Untertanen zu regeln.32 Sie gehen in Übertragungs-, Rechen- und Speichermaschinen ein, funktionieren „als Relais für in und out.”33 Ohne Adressen geht nichts. Was bedeutet das? Und was passiert auf der anderen Seite, wenn Anrufe, Namen, Widmungen, Signaturen fehlgehen – siehe Hölderlins verrücktes Idiom? Sprache adressiert, indem sie sich mit-teilt (Benjamin). Ihre Performativität gewinnt sie durch ihren präsentischen Bezug auf eine Situation, ihre Abhängigkeit von unterschiedlichen Kontexten, ihre nicht reglementierbare Abrufbarkeit (Derrida). Seit dem 18. Jahrhundert sind der Rede vom sogenannten „Literarischen” Verweise und Adressierungen als „eine semantische Bedingung ihres Aufretens” mitgegeben.34 Am „Schauplatz der Schrift” imitiert Literatur „die Performativität staatlicher bzw. göttlicher Autorität” und macht sie nun gerade, von einem anderen Ort aus und „in diesem Akt der Imitation […] lesbar”35. Die Institutionalisierung der privaten Adresse, markiert durch verschlossene Umschläge oder staatliche (Brief-)Träger, hat mittlerweile jeden Text als einen adressierten ausgezeichnet. Zwischen Zensur und Kryptographie fordert dieser zur doppelt bleibenden Entzifferung auf: „die Briefe sind immer Postkarten: weder lesbar noch unlesbar, offen und radikal unverständlich”36. Einer letter, Buchstabe und Brief (lettre), ist das Verfallsdatum gleich mit eingeschrieben (Joyce: „The letter! The litter!”37). Der historisch feststellbaren Aktenlage über die Post und ihr Wesen fehlt eine „philosophische Technologie des Kuriers”, die versprechen würde, sich dem prekären Zusammenspiel von öffentlicher Zirkulation und intimer Adressierung zu widmen.38 Seit der Renaissance stellt das Zusammenwirken von Salonkommunikation und Buchdruck die Orientierung an rhetorische Regeln in Frage.39 Die Krise der Rhetorik findet ihren Ausdruck in der Unterscheidung zwischen einem Sprechen, das sich adressiert und einem anderen – wissenschaftlichen – das dies nicht (mehr) tut. Der (cartesianische) Discours de la méthode löst das philosophische Genre des Dialogs ab: „und die Methode ist gerade die natürliche Ordnung des Denkens in seiner Folge,
32 Vgl. auch Heinrich Fichtenau: Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformen, Graz/Köln 1957, S. 17 u. 19. 33 Sigrid Weigel: „Spuren der Abwesenheit an der Schwelle zwischen ‚postalischer Epoche’ und post–postalischen Medien”, in: Sigrid Schade (Hg.), Konfigurationen [Medienkombinationen]: zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 80–93, hier S. 83. 34 Vgl. R. Campe, Affekt und Ausdruck, S. IX. 35 U. Haselstein, „Poetik der Gabe”, S. 288. 36 J. Derrida, Postkarte, Bd. 1, S. 100. 37 Vgl. James Joyce: Finnegans Wake, London/Boston 1960, S. 93. 38 Vgl. S. Weigel, „Spuren der Abwesenheit”, in: S. Schade (Hg.), Konfigurationen, S. 86. 39 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982, S. 61.
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die von den Wendungen des Dialogs gestört wird, sie ist das unadressierte Sprechen, dem das gesprächsweise An-reden entgegensteht.”40 Rhetorik und Dialektik geraten ins Hintertreffen.41 Francis Bacons Satz „Wissen ist Macht” zieht Zeichenoperationen in sich selbst zurück und stellt sie in den „Dienst der technischen Utilität”42. An dieser erkenntnistheoretischen Begründung nimmt die „Dialektik der Aufklärung” ihren, von Adorno und Horkheimer geschilderten (An-)Lauf zur „Entzauberung der Welt”. Bacons „utilitaristisches Credo”, das Macht und Erkenntnis zum Synonym verschmelzt, verdammt mit der Lust auf theologische Offenbarung zugleich die versprechende Sprache, in angewandter Rhetorik noch in Aussicht gestellt: „[…] nicht in ‚plausiblen, ergötzlichen, ehrwürdigen oder effektvollen Reden, oder irgendwelchen einleuchtenden Argumenten, sondern im Wirken und Arbeiten und der Entdeckung vorher unbekannter Einzelheiten zur besseren Ausstattung und Hilfe im Leben’ liege ‚das wahre Ziel und Amt der Wissenschaft’. Es soll kein Geheimnis geben, aber auch nicht den Wunsch seiner Offenbarung.”
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Die Weichen für neue systematische Grammatiken und Adressierungen sind gestellt.44 Lange nach diesem Einsatz der „Rhetorikreform des späten 16.Jahrhunderts”, die „etwas mit der neuen Rolle des Buchs im wissenschaftlichen Lehrbetrieb zu tun” hat, betreibt Georg Wilhelm Hegel „Kulturwissenschaft als allgemeine Ontologie” und erhebt die Philosophie zur Wissenschaft:45 „Die verständige Form der Wissenschaft ist der allen dargebotene und für alle gleichgemachte Weg zu ihr”46. – Hegels Aufruf zur Generalisierung schließt das Ich und das Wir im „Geist als Sprache” zusammen. Das Ich ist „Ansteckung”, d.h. „allgemeines Selbstbewußtsein”47. Indem Hegel „Subjekte der Frage” unterwirft, „wieweit ihr Wissen anderer Subjekte
40 R. Campe, Affekt und Ausdruck, S. 50. 41 Vgl. Wolfram Groddeck: „Platon gegen die Sophisten”, in: W. Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel 1995, S. 35ff.. 42 J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, S. 49. 43 Thedor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1995, S. 11. Die Autoren zitieren Bacon, Valerius Terminus, of the Interpretation of Nature. Miscellaneous Tracts, Bd. I, S. 281. 44 R. Campe, „Pronto”, S. 81: „Es gab von nun an ein nichtadressiertes Sprechen der Wissenschaft (das man später als Gebiet der Ausssage erkannte) und viele Arten adressierten Sprechens (in dem man später eine unmittelbare Analogie zur körpergebundenen Affektexpression vermutete): in dieser Disposition kann man das Grundanliegen der Allgemeinen Grammatik alter Art skizzieren.” 45 Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), Frankfurt a. M. 11986, S. 14: „Daß die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit ist”. Vgl. auch Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 96f.. 46 G. W. F. Hegel, Phänomenologie, S. 20. 47 Ebd., S. 376.
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reicht”, stellt er sich aber auch als einer der ersten Philosophen dem Problem der Intersubjektivität – und das „ohne moralische Begrenzungen”48. Hegels „Empirismus”, der theoretische und spekulative Seiten zeigt, wendet sich pädagodisch an einen zu initiierenden Leser-Schüler. Erziehung ist aber Beobachtung und Spekulation, also nichts anderes als Ästhetik, eine Ableitung vom griechischen „beobachten”. Erziehung ist insofern mit Theorie sowie mit Theater verbunden.49 Hegels Gegenspieler Kierkegaard plädiert daher für eine indirekte Instruktion. Statt zur Selbstentdeckung und bejahenden Er-innerung zu befähigen, heißt es hier sokratisch: werde was du nicht bist.50 Zweifel werden laut an einer sich im preußischen Beamtenstaat schließlich als konform erweisenden Verordnung, sub specie aeterni zu denken. Statt bei einer „abstrakten logischen Bewegung, d.h. bei der ‚Vermittlung’, stehenzubleiben”, ist „die Repräsentation bereits Vermittlung. Es handelt sich im Gegenteil darum, im Werk eine Bewegung zu erzeugen […]. Diese Bewegung […] ist die Wiederholung, nicht der Gegensatz, nicht die Vermittlung.”51 Damit unternimmt Kierkegaard als einer der ersten den Versuch, die Theatralik des wiederholenden, sich auf der Bühne des Erinnerns jedesmal neu abspielenden Textes und seiner Inszenierung des Anderen ernstzunehmen.52 Die Adresse Hegel ist dabei der negative – ironischerweise recht hegelianische – Gegenpol, von dem aus sich Spannung und Diskussion entwickeln können. In seinen Tagebüchern hält Kierkegaard am 17. Januar 1838 seine Aversionen gegen Hegel fest: „Es geht mit denen, die über Hegel hinausgekommen sind, ebenso wie mit Leuten, die auf dem Lande wohnen, die stets ihre Briefe ‚über’ eine größere Stadt adressieren müssen, genauso lauten die Adressen hier: an N.N. über Hegel.”53
48 F. Kittler, Kulturgeschichte, S. 97 und S. 99: „Indem Philosophie sich dem Medium Sprache wahrhaft anvertraut, gewinnt sie auf der einen Seite Hegels bewundernswerte Fähigkeit, alles, was an sich schon Sprache ist, in einer präziseren Sprache auszulegen und zusammenzuführen; auf der anderen Seite aber zahlt sie den Preis, die fundamentale Kopplung zwischen Philosophie und neuzeitlicher Physik, wie sie von Descartes bis zu Kant geführt hat, auftrennen zu müssen.” 49 Vgl. Mark C. Taylor: Journeys to Selfhood. Hegel and Kierkegaard, New York 2000, S. 84f.. 50 Vgl. M. C. Taylor, Journeys to Selfhood, S. 104. 51 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 24. 52 Zur Aktualität Kierkegaards, vgl. auch Weber, „Einmal ist keinmal”, in: Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, S. 348: „Die Dekonstruktion und der Poststrukturalismus führen hier [gemeint ist „die eingehende Auseinandersetzung mit dieser Theatralik” als Inszenierung des Anderen] eine Tradition fort, die erst im 19. Jahrhundert Konturen gewinnt, die aber sehr viel weiter zurückreicht und mit einer veränderten Bewertung der Wiederholung zusammenhängt, wie sie als erster Kierkegaard unternommen hat.” 53 Sören Kierkegaard: Die Tagebücher, Bd. 1, Hayo Gerdes (Hg.), Düsseldorf/Köln 1962, S. 106, II A 697.
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Gibt Philosophie ihre Verantwortung ab, wenn sie ihre Adressierung leugnet oder ‚vergißt’?54 Kierkegaard wirft Hegel vor, allgemeine Vor-Schriften auszugeben statt nach individuellen Ant-Worten zu suchen. Das „Ich” ist in seiner Dubezogenheit aber gerade das performative Pronomen, das auf das Dilemma der Übertragung aufmerksam macht. Weil es sich nicht ohne einen Seitenblick auf ein Drittes (Konvention, Repertoire oder Gesetz) adressieren kann, entdeckt es die „Illusion der Anrede”. Es fordert zur Übersetzung von der einen zur anderen Person, vom ‚Eigenen’ ins ‚Fremde’ auf.55 Ein generelles Problem der „Transposition in eine andere Sprache” ist angesprochen.56 Wenn sich ein Diskurs zum zentralen Relais erhebt, löscht er mit den Spuren und Differenzen der transpositorischen Bewegung zugleich die singulären Erscheinungen von Ich und Du aus. Die „komische” Ablenkung eines Denkers, der sich in die Universalgeschichte vertieft und sich dabei selbst vergißt, erntet den Spott seines Zuschauers. „Man sollte meinen, daß ein Denker das reichste menschliche Leben führe […]. Mit dem abstrakten Denker ist es eine andere Sache, wenn er, ohne sich selbst und das Verhältnis des abstrakten Denkens zur Existenz verstanden zu haben, entweder dem Antrieb eines Talents folgt oder dazu dressiert wird, etwas Derartiges zu werden. […] man doziert, das Denken stehe höher als Ironie und Humor, und das doziert ein Denker, dem ganz und gar der Sinn für das Komische abgeht. Wie komisch!”
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Schlägt die Warnung vor Hegels Zustellung des Allgemeinen in eine „beengte Privatexistenz” um, welche sich am „platonisierten Gastmahl der Pseudonyme” selbst verköstigte? So jedenfalls lautete die Diagnose des jungen Adorno zu Kierkegaard.58 Selbst Reflektion des Interieurs – „Reflexionsspiegel”– stellt Kierkegaards Entweder-oder das Fremdgehen der übertragenden Schrift in geschickter Inszenierung von ineinandergeschobenen Figuren des autoritären Anrufs und der administrativen Adresse dar. Adorno über Kierkegaard:
54 Vgl. Sylvaine Agacinski: „La philosophie s’adresse–t–elle?”, in: S. Agacinski, Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre, Paris 1996, S. 47–72, hier S. 71. 55 Vgl. P. de Man, „Hegel über das Erhabene”, in: P. de Man, Ideologie des Ä s thetischen. 56 Vgl. J. Derrida, Ulysse, S. 40–41, dt. S. 29–30. 57 Sören Kierkegaard: Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Teil II, in: Gesammelte Werke, 16. Abt., übers. v. Hans Martin Junghans, Düsseldorf/Köln 1958, S. 3f.. 58 Vgl. Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1979, S. 18.
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POST–ADRESSEN „Der Verführer beginnt eine Notiz: ‚Ob ihr nun Ruhe halten wollt!? Was habt ihr den ganzen Morgen lang getrieben? An meiner Markise gezerrt, an meinem Reflexionsspiegel gerüttelt, mit dem Glockenzug vom dritten Stock gespielt, an die Fensterscheiben geklopft, kurz durch allerlei Allotria euch bemerklich gemacht.’ Der ‚Reflexionsspiegel’ mag als ‚Symbol’ für den reflektierten Verführer von Kierkegaard noch in absichtlicher Zufälligkeit eingeführt sein. Aber mit ihm ist ein Bild gesetzt, in welchem gegen Kierkegaards Willen Soziales und Geschichtliches sich niederschlug.”
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„Soziales und Geschichtliches” liefern den „Anlaß” für Schrift und Lektüre, geben scheinbar zufällig den notwendigen Einsatz für ihr Schau-Spiel. Der Rückzug in „Burg” und „Fuchsbau” oder die „listige Wahl der Worte”, darin ist Adorno rechtzugeben, schützen allerdings den ‚eigenen’ Text nicht davor, plötzlich „als Geheimpolizist und dialektischer Verführer denunziert” zu werden.60 Sich als fiktiv-ironisch ausgebende Schachzüge privatisieren das Denken und adressieren sich an den Einzelnen in der Wiederholung.61 Kierkegaard arbeitet mit und gegen eine „Hegelsche Totalvermittlung der gegenwärtigen Wahrheit”. Das Vertrauen auf eine „universale Geschichtskonzeption”, die im Sinne von Gadamers Hermeneutik auf die „Sagkraft des Werkes” und das rechte „Hören” des Rezipienten vertraut, um „Werk” und „Leser” zu einem kontrollierten Horizont verschmelzen zu lassen, ist erschüttert.62 Rhetorik und Literatur – und damit auch der literaturwissenschaftliche Diskurs – nehmen in Theorie und Praxis eine Doppelfunktion ein, einmal „zur Herstellung der Rede”, zum anderen „zur Beurteilung der fertigen Rede”63. Zur „Herstellung der Rede” markiert auch die Aufschrift einer (postalischen) Adresse einen Rand, an dem der Aufschub der Übertragung (die „Beurteilung der fertigen Rede”) lesbar wird. Dies läßt die Adresse zur Metapher ihrer selbst werden. Das Wort ‚Metapher’ kommt aus dem griechischen metaphorein, bedeutet „Transport” und Umsteigen von „einer Linie in die andere”64. Dieses metaphorische „Privileg” des Umsteigens, dem außer Fahrgästen auch Zeichen unterstellt sind, bringt Paul de Man zufolge nicht ganz unproblematische Konsequenzen mit sich: „Das Problem liegt dabei
59 T. W. Adorno, Kierkegaard, S. 62. 60 Ebd., S.20f.. 61 Vgl. Elisabeth Strowick: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart/Weimar 1999, S. 118. 62 Vgl. Hans Georg Gadamer: „Wirkungsgeschichte und Applikation” u. Rainer Warning: „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik”, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik: Theorie und Praxis, München 41993, S. 113–125 u. S. 9–41. 63 W. Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 85. 64 Vgl. Paul de Man: „Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik”, in: P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 179–204, hier S. 191.
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nicht so sehr im phorein als im meta (trans…); bedeutet ‚über’ denn hier eine Bewegung ‚über’ einen bestimmten Ort hinaus oder bedeutet es einen Zustand, der ‚über’ und jenseits jeder Bewegung zu finden ist?” Die Adressierung trägt durch ihre Bindung an den Text ein metaphorisches Potential weiter, das trotz informationstechnischer Kontrolle und noch „jenseits jeder Bewegung zu finden ist”. Eine geographische Entfernung zwischen zwei Orten verbildlicht diese Doppelung zwar, macht sie aber nicht gänzlich begreifbar. Differenzierungen zwischen sogenanntem Eigenen und Fremden helfen einer Erklärung nur bedingt auf die Sprünge.65 Sie verschieben eher das Problem bis auf weiteres: Denn von welchem Standpunkt aus sollte entschieden werden, was zur einen oder anderen Kategorie gehört?66 Und zielt eine Unterscheidung darüber, was die „Fremderfahrung des Textes” ausmacht, nicht schon a priori auf Einverleibung bzw. Ausschluß dessen, was sie eben jedesmal anders ausmacht?67 Von Interesse ist also vielmehr, wie der Text seine Figuren wie Adressant und Adressat auf seiner eigenen Bühne inszeniert, wie er sie zugleich figuriert und defiguriert, in einer sich selbst reflektierenden Bewegung, die subsumtive Verwaltungen, die Archivierung des Aufgezeichneten, nicht ignoriert aber unterläuft. Der aufgezeichnete Text wird seinerseits durch „Soziales und Geschichtliches” adressiert. So bleibt er beweglich, setzt fort und über, läßt nicht locker: „An meiner Markise gezerrt, an meinem Reflexionsspiegel gerüttelt, mit dem Glockenzug vom dritten Stock gespielt, an die Fensterscheiben geklopft, kurz durch allerlei Allotria euch bemerklich gemacht.” Etwas ruft zum Hinhören oder Aufhören auf, nach Draußen, in ein Anderes. Wie bei sogenannten „indirekten Sprechakten” ergeben sich auch im Akt der Lektüre immer wieder neue „Inzitamente”, so Kierkegaards Begriff für den „Anlaß” oder das Zeichen zum Aufbruch.
65 Vgl. Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1992, Bd. 1, S. 120 u. 122: „Adressant/Adressat”. 66 Vgl. Volker Langeheine: „Textpragmatische Analyse schriftlicher Kommunikation am Beispiel des Briefes”, in: Siegfred Grosse (Hg.), Schriftsprachlichkeit, Düsseldorf 1983, S. 190–211, hier S. 199: „wer (Selbsteinschätzung, Rollenzuweisung) wem (Fremdeinschätzung, Rollenerwartung) worüber (Thema) warum (Anlaß) wozu (Ziel) wann und wo einen Brief schreibt.” Da es nicht beim Einzelbrief bleibt, müsse die „Stellung eines Briefes im Kommunikationsprozeß (als Vorgängerbrief, als Nachfolgebrief usw.), also die Kommunikationsgeschichte” beachtet werden. Vgl. auch Reinhard M.G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S. 237. Aus dieser kommunikationsgeschichtlichen Perspektive relativieren sich dann auch Begriffe wie „Selbst” und „Fremd”. 67 Vgl. Wolfgang Iser: „Die Appellstruktur der Texte”, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik, S. 228–252, hier S. 249: „Privatisierung von Fremderfahrung heißt, daß es die Textbeschaffenheit erlaubt, bisher Unbekanntes an die eigene ‚Erfahrungsgeschichte’ […] anzuschließen. Dies geschieht durch das Generieren von Bedeutung im Leseakt. […] Nur im Leseakt ist die Offenheit der fiktionalen Texte festzumachen.” [Hervorhebungen v. Verf.].
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Trifft die Indirektheit nicht auch auf das Sprechen eines Anderen mit sich selbst zu, so wie es in Ironie, Witz und Metaphorik zu finden ist?68 In pragmatischen Schriftformen wie der Rechtssprechung69 zielen Adressierungen auf polizeiliche Kontrolle und bevölkerungspolitische Effektivität (Einwohnemeldepflicht). Die staatliche Adressierung nimmt das Individuum in Wohnhaft, schreibt es erkennungsdienstlich fest. Diese „Interpellation” (Althusser) geht mit einer Verallgemeinerung einher. Denn sie verleugnet den Prozeß einer kommunikativen Subjektivität und setzt an deren Anfang die Ermächtigungsszene des Verwaltungsaktes. Institutionen adressieren sich zwar dezidiert herausrufend an den Einzelnen, lassen sich aber ihrerseits nicht ‚persönlich’ adressieren – eine Asymmetrie, die Kafkas Figur Odradek unterläuft: „‚Wie heißt du denn?’ fragt man ihn. ‚Odradek’, sagt er. ‚Und wo wohnst du?’ ‚Unbestimmter Wohnsitz’, sagt er und lacht”70. Durch eine ins Unbestimmte verweisende, witzige Antwort Odradeks wird der Schnitt zwischen Autorität und Administration artikuliert. Als Nahtstelle hätte dieser Schnitt beide Momente, Kontrolle und Verwaltung, miteinander verbinden können. Daß Kommunikation jedoch verwickelt ist, daß sie sich in der jeweils immer wieder neu einsetzenden Aktualisierung der Adresse neu vollzieht und anders entwickelt, zeigt Kafkas Arbeit an Platons Er-Mythos. Indem beide Texte, Politeia und Odradek – metaphorisch gedoppelt durch schon überholte (vor)industrielle Produktionsformen der (weiblichen) „Spindel” oder „Zwirnspule” – ineinander verwickelt werden, eröffnen sich neue, unerwartete Horizonte und teleologisch rückwärtige Adressierungen. Die Sorge des Hausvaters, so Kafkas Überschrift zum Fabelwesen Odradek, einer sich selbst bewegenden Maschine, stellt bis zu virtuellen Räumen der Seelenwanderung in Platons Republik durch. Dies führt endlich auch zu Dante Alighieris Divina Commedia und seiner LeserAdresse der spola. Die Auseinandersetzung mit Post- und Buch-Adressen legt das teleologische Moment der Adresse „ex post” offen. Wird die literalisierte Adresse dadurch nicht wieder idealisiert? Daß dies nicht der Fall ist, zeigt das Spiel mit der postalischen Adresse, indem es seine eigene – profane – Materialität in Erinnerung ruft. Stéphane Mallarmés Gelegenheitspoesie wird scheinbar zufällig am Ort materialisierter Schreib-Bühnen, auf Visitenkarten, Postfächern und Umschlägen, aufgeführt. Als materielle Träger bezeugen sie die Spur eines abgeschickten und weiterhin zirkulierenden Textes. Auch Odradeks „unbestimmter Wohnsitz” senden mit einem abgründigen Lachen das herausrufende und nicht adressierbare – kaiserliche – Gesetz an sich selbst zurück. Kierke68 Brigitte Schlieben–Lange: Linguistische Pragmatik, Stuttgart et al. 1975, S. 92. 69 Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 248. 70 Franz Kafka: „Die Sorge des Hausvaters”, in: F. Kafka, Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 223.
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gaards Versteckspiele und „Inzitamente”, Mallarmés Gelegenheitspoesien sowie Kafkas in sich verwickelte Spindelmaschinen arbeiten mit Ironie und Witz. Die Unmöglichkeit einer getroffenen Wahl und der brüchige Faden, der die Sendung zusammenhält, liefern den Anlaß für philosophische Spekulationen, die sich selbst immer wieder verwerfen und von neuem in Bewegung setzen: Adressen werden zu unendlichen Reflektionsspiegeln. Das Spektakel der an Rituale gebundenen Übertragung zu Ehren der Post führt vor, wie teleologisch rückwirkend Beziehungen hergestellt oder unterbunden werden. Die mühsam verknoteten Verbindungen rechnen mit der Möglichkeit, den Faden jederzeit wieder verlieren zu können. Spätestens nach diesen verwickelten und spekulativen Postvergnügen stellt sich erneut die alte Gretchenfrage ‚Wer spricht hier eigentlich’? Eine Einzelstudie wendet sich den Anfängen einer Buchkultur zu, in der das Lesen „als ein Akt der ruminatio, als körperlicher, motorisch gestützter Prozeß des Wiederkäuens” und als Reaktivierung von Empfindungen erscheint.71 Dante Alighieris Divina Commedia gehört noch zur Manuskriptkultur an der Schwelle zum Buchdruck. Die alten „Memorialtechniken” lassen in Vergessen geraten, daß Schrift von Physis und ihren Affekten abkoppelt. Anders bei Dante. Denn die Darstellung der drei imaginären SchriftRäume Hölle, Purgatorium und Paradies hängt am seidenen Faden einer symmetrisch verteilten Leser-Adressierung, die durch das Dickicht eines metaphysischen Spektakels führt und ans Imaginäre appelliert. Hier wird offenbar zum ersten Mal eine antizipierte, widersprüchliche Figur des Lesens, der letzten aller Adressen, ins Spiel gebracht.
Die Ironie der Adresse (Sören Kierkegaard) Kierkegaards Erstlingsschrift Entweder…oder diskutiert mit Hilfe zweier literarischer Figuren, dem Ästhetiker A und dem briefeschreibenden Gerichtsrat B, das Verhältnis zwischen Ästhetischem und Ethischem. Wie bestimmen Ästhetisches und Ethisches eine individuelle Existenz? Schließen sich diese beiden Denkweisen aus oder bedingen sie sich gegenseitig? Ist das Entstehen von Individualität nicht sowohl an Ästhetisches als auch an Ethisches gebunden? Wie lassen sich beide Standpunkte miteinander versöhnen? Auf den ersten Blick leuchtet nicht sofort ein, warum diese Fragen mit der PostAdresse in Verbindung stehen sollten. Geht es doch eher um einen „ethischen Akt der Selbstwahl” als um Medientechnik. Dieser Akt der Selbstwahl erscheint in einer doppelten Bewegung: einerseits aus Verzweiflung 71 Horst Wenzel: „Mündlichkeit und Schriftkultur. Zur medialen Transformation körperlicher Wahrnehmung im Mittelalter”, in: Paragrana, 9/2, 2000, S. 275–190, hier S. 180.
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eine Ablösung von der (menschlichen) Endlichkeit, andererseits eine Bejahung gerade dieser Endlichkeit und deren Überführung in die unendliche Freiheit.72 Was aber hat das mit der Lektüre von profanen Post-Adressen zu tun? Berücksichtigt man das ästhetische Moment von Entweder…oder nicht nur als Thema, über das gesprochen wird und das Stoff zur Diskussion bietet, sondern als mitsprechendes Mittel (Mit-teil-barkeit) der Darstellung, so fällt als erstes das ausgeklügelte Spiel des Textes mit sich selbst auf. In Kierkegaards Herausgeberfiktionen, Vorworten, Inszenierungen und Adressierungen wird der Leser offensichtlich zum Narren gehalten. Wiederholt wird er an seine eigene Adresse zurückgeschickt. Wo mag sich das ‚Selbst’ des Lesers aufhalten? Mit Ironie, Witz und Metaphorik, in „seriöser Tragik”73, wird in Entweder…oder die Möglichkeit ausgespielt, Kontexte zu delokalisieren, Pseudonyme und Masken zu entwerfen, kurz Fiktionen mit ihrer „Situationslosigkeit”74 zu konfrontieren. Das verstellte Schild aus den Diapsalmata liefert dafür eine erste Erklärung: „Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Wäschemangel. Würde man mit seiner Wäsche kommen, um sie mangeln zu lassen, so wäre man angeführt; denn das Schild steht dort nur zum Verkauf.”
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Philosophie neigt für Kierkegaard dazu, das Medium, in dem sie sich bewegt, die Schrift und ihre partikulare Adressierung ad infinitum, zu vergessen. Sie suggeriert Realität, indem sie sich an deren Stelle setzt und das
72 Michael Theunissen/Wilfried Greve: „Kierkegaards Leben und Wirkung”, in: M. Theunissen/W. Greve, Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt a. M. 1979, S. 27: „Erst löst sich der Mensch von seiner eigenen Endlichkeit, indem er über sie gänzlich verzweifelt und sich darin als Freiheit oder in seiner ‚ewigen Gültigkeit’ konstituiert; aber dieses neu gewonnene unendliche Selbst wendet sich sofort zurück zur eigenen Endlichkeit und ergreift sie, indem es sie in ihrer ganzen Faktizität übernimmt und so in die Freiheit überführt. […] In der Wahl ergibt sich also eine Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit”. 73 Silviane Agacinski, „La philosophie s’adresse-t-elle? Réception et déception de Kierkegaard à Derrida”, in: S. Agacinski, Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre, Paris 1996, S. 73-104, hier S.68. 74 Wolfgang Iser: „Die Wirklichkeit der Fiktion – Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells”, in: R. Warning, Rezeptionsästhetik, S. 277-324, hier S. 288ff.. 5 75 Sören Kierkegaard: Entweder…oder, Hermann Diem (Hg.), München, 1998, S. 42, künftig im Text zitiert als (Entweder…oder, 42). Zum Vergleich die Übersetzung von Emmanuel Hirsch in Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke, 1.Abt., Düsseldorf/Köln 1964, S. 34: „Was die Philosophen über Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Hier wird gerollt. Würde man mit seinem Zeug kommen, um es rollen zu lassen, so wäre man genasführt; denn das Schild steht bloß zum Verkaufe aus.”
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Symptom für die Ursache hält. Das dänische „Her rulles”, französisch „ici on roule” oder zu deutsch „hier mangelt man” weist auf die mechanische Funktion einer ‚Glättrolle’ für Wäsche zurück. ‚Mangeln’ bedeutet ‚mit beschwerten Rollen glätten’, aber auch ‚verstümmeln, zum Krüppel machen, fehlen’. Von dort aus ist der etymologische Weg zum französischen rouler nicht mehr weit, das wiederum im lateinischen rotulus auf ‚Walze, Rolle’ hinweist und die ‚Schriftrolle’ miteinbezieht.76 Im Deutschen ist das Wort Mangel Hinweis auf etwas, das fehlt. Faßt man all diese Bedeutungen zusammen, so fällt die Nähe von Betrug und Schrift auf. Genau in diesem Sinne kommt das griechische Verb kylíndo (rollen) auch in Platons Phaidros vor, in dem es um das ziellose Herumtreiben der Schrift geht, die nicht weiß, „zu wem sie reden soll und zu wem nicht”: „Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede (lógos) gleichermaßen unter denen umher (kylindeitai), die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.”77
In Sokrates’ Mund gelegt kann sich Platons Schrift-Kritik „wirkungsvoll auf das Buch in Rollenform” beziehen, „welches sich auf seinem Weg zu den Lesern metaphorisch in alle Richtungen ‚rollt’, während sein ‚Reden’ (légein) sich nur auf die mündliche, laute Lektüre beziehen kann”78. Rede, die Wahrheit auf ihre Fahnen schreibt, kann ihre Dialogpartner dezidiert ansprechen, Reaktionen beobachten oder Angriffe parieren. Schrift dagegen geht eigene, unkontrollierbare Wege, wie ein Bild bleibt sie ohne Antwort, stellt sich zur Wahl ihres Lesers. Kierkegaard ‚rollt’ den Bezug eines Wortes zu seinem Medium wortwörtlich ‚auf’. Der Mangel einer (Auf)Schrift kann im Schaufenster irreführend Allgemeingültigkeit beanspruchen. Wenn man es beim Wort nehmen würde, funktioniert das Hinweisschild den Trödelladen zur Wäschemangel um. Eine wahllos sich hin- und herrollende Schrift verhält sich wie eine Ware aus zweiter Hand.79 Der Trödler kann Bücher oder Sek-
76 Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 1995, S. 1136. Das deutsche ‘rollen’ kommt aus dem mittelfranzösischen ‘rouler’ – ‘(sich) drehend bewegen, kopfüber zu Boden stürzen, niederwerfen’ und ‘zusammenwickeln, zu einer Rolle formen’, was aus dem lateinischen rotulus, ‘Walze, Rolle’ herrührt und die ‘Schriftrolle’ miteinbezieht. 77 Platon: Phaidros, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd 4, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1988, S. 56, 275e. 78 R. Cavallo/G. Chartier, Die Welt des Lesens: von der Schriftrolle zum Bildschirm, S. 17. 79 Zum Trödel als „Ab-ort, a-topos” und zum „Tüttelchen”, dem Anführungszeichen von Nebenbemerkungen vgl. auch E. Strowick, Passagen der Wiederholung, S. 335 u. 344f.. Strowick weist auf die etymologische Beziehung von ‚Mangel’ und „lat. manganum ‚Wurfmaschine/ Steinschleudermaschine’, der Name des wesentlich aus Walzen und Brettern bestehenden Kriegsgeräts wird
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retäre an- und verkaufen, seine Auktionen in jede Richtung fortsetzen. Die Praxis der „indirekten Mitteilung”80 wiederholt das der Schrift inhärente Risiko der Wiederverwertung, nutzt es als Chance. Sie fordert dazu auf, an der monetären „Wechselwirtschaft”, wie ein Kapitel aus den „Papieren” des Ästhetikers heißt, teilzunehmen. Weil Schrift sich selbst autorisieren muß, ‚lebt’ sie von Unterscheidungen in Geben und Nehmen: „Daß es ein Betrug ist, ist auch ein Ausdruck für die Reduplikation, in der der Lehrer und der Lernende sich voneinander scheiden, um darin zu existieren.”81 Kierkegaards witzige Inszenierungen, die das Spiel mit dem Interpreten auf die Spitze treiben, sind ernstgemeint.82 Der Zusatz zum Titel ad se ipsum, eine Übersetzung des griechischen Titels der Selbstbetrachtungen Marc Aurels, zu deutsch ‚an sich selbst’, wiederholt die Umkehrung in der rückbezüglichen Widmung eines Schreibenden, der ‚mit sich selbst’ als einem anderen Kontakt aufnimmt, ja sogar oft des Wahnsinns verdächtigte Selbstgespräche führt. Ironisch inkorporiert der Text sowohl den mit sich selbst ins Gericht gehenden Erzähler als auch den sich selbstbefragenden Leser.83 Einerseits Rückzug ins Selbst, andererseits Öffnung zum Anderen. Entweder…oder, das Werk, aus dem das Schild beim Trödler stammt, durfte offenbar nur unter Entfaltung größter Heimlichkeit erscheinen. Das bezeugen die zahlreichen berühmten Pseudonyme Kierkegaards und die unentscheidbare Dialogform, die in einer ungleichen, unbeantwortet bleibenden Korrespondenz zweier Figuren zur Wahl steht: die „Papiere” des Ästheten A, gegen die ein zweiter Teil mit den Briefen des Ethikers B Einspruch erhebt. Als Herausgeber des Gesamtwerkes meldet sich ein gewisser „Victor Eremita”, ein „siegreicher Einsiedler”. Sein Name, so Kierkegaard in einem Postskriptum zu seinem Werk Entweder…oder, gebe kein „proprium” zu erkennen, sondern spreche als „appelativum” den Leser und die Einsam-
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im alten Nürnberg auf eine Appreturmaschine übertragen, die eine glatte und glänzende Oberfläche erzeugt.” Sören Kierkegaard: Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung, übers. v. Tim Hagemann, Bodenheim 1997, S. 27: „Alle indirekte Mitteilung ist darin von der direkten unterschieden, daß die indirekte als ihr Erstes einen Betrug hat, gerade weil dies ein Betrug wäre, das Ethische unmittelbar mitteilen zu wollen.” Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 58: „In den von mir herausgegebenen Büchern ist der Ernst strenger, und das gerade an den Stellen, wo die Darstellung wie den meisten wie lauter Spaß vorkommen wird. Dies ist, soweit mir bekannt, bis jetzt gar nicht verstanden worden”. Vgl. R. Campe, Affekt und Ausdruck, S. 49: „Der Dialog ist… zum einen der gesellschaftliche Normalfall, dessen Grenzbestimmung im Umgang des Einzelnen mit sich selbst das Soliloquium ist. Zum andern ist er poetische Darstellung sowohl jenes Selbstgesprächs, das der Autor zur Einübung in die Strenge des Schreibens mit sich hält, als auch jener Selbstbefragung, die bei der Lektüre der Leser mit sich führt.”
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keit der Selbstreflexion an.84 Victor ist, wie sich herausstellen wird, der erste (einsame) Leser, er liest sich selbst – und das sowohl als literarische als auch autobiographische Figur.85 Die Ersetzung des Eigennamens durch ein bedeutendes Wort ist der Rhetorik als erste Operation der Trope Antonomasie bekannt.86 Sie zeigt sich von zwei Seiten („ein Wort für einen Eigennamen, ein Eigenname für ein Wort”87) und erinnert an die Bedingung des Paktes, in dem der Name eines Autors mit seiner Autobiographie zur Deckung gebracht werden soll.88 Wie Johannes de Silentio und Frater Taciturnus steht er in der Reihe der „Antonomasien des Schweigens”89. Nicht nur als literarische Figur schweigt sich Victor über den Lebensweg seines Verfassers aus, sondern auch als rhetorische Figur, als Antonomasie. Die Grabesstille, zu der Victor sich als Einsamer namentlich verpflichtet, scheint den Namen getreu wiederzugeben – „Kierkegaard” bedeutet im Dänischen sowohl Kirchhof (Friedhof) als auch Gut der Kirche. Durch seine Stellvertretung wird der Eigenname zum „priviligierte[n] Träger der tropologischen Operationen des Unbewußten”90. Mit dem Namen des Autors verhält es sich wie mit dem „Skriptor”, dem Roland Barthes zwei Aufgaben zuschreibt: zum einen ist er Totengräber des Autors und zum anderen ein – im Akt des Lesens wiedergeborener – Schreiber. Barthes wirft dabei einen kurzen Blick auf Rituale, die sich auf die rituelle Handlung – die performance – und nicht auf den Handelnden, den Genius des Schamanen oder Erzählers, konzentrieren.91 Die Ansprache des Vorwortes fällt gleich mit der Tür ins Haus:
84 Vgl. Sören Kierkegaard: „Postskriptum zu Entweder/Oder”, in: M. Theunissen/W. Greve, Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, S. 119. 85 Vgl. Susanne Craemer-Schroeder: Deklination des Autobiographischen. Goethe, Stendhal, Kierkegaard, Berlin 1993, S. 97. In einer unveröffentlichten Nachschrift erklärt Victor, er sei vermutlich ihr einziger Leser. Kierkegaard hatte sich 1849 in der autobiographischen Rechenschaft als „Leser meiner Bücher” bezeichnet, während er noch drei Jahre zuvor eingeräumt hatte: „Daß ich von Anfang an weit mehr als bloß einen Leser gehabt habe, weiß ich natürlich nur ganz gut.” (S. Kierkegaard, Schriften über sich selbst, S. 110.) In Joseph Eichendorffs Ahnung und Gegenwart ist der Einsiedler Viktor, „dessen kleines Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen umgeben, hart am Friedhof lag”, Pendant der unglücklichen autobiographischen Figur ihres Verfassers. 86 Quintilian, Institutionis oratoriae, Buch II, S. 228: „Antonomasia quae aliquid pro nomine parit” – ersetzt einen Namen durch einen Begriff (eine Beschreibung) und ersetzt einen Begriff (eine Beschreibung) durch einen Namen. 87 T. Schestag, Parerga, S. 118. 88 Vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique, Paris 1975. 89 S. Craemer-Schroeder, Deklination des Autobiographischen, S. 20. 90 Vgl. Sylviane Agacinski: Aparté. Morts et conceptions de Sören Kierkegaard, Paris 1977. 91 Vgl. Vgl. Roland Barthes: „The death of the author”, in: R. Barthes, Image – Music – Text, übers. v. Stephan Health, New York 1977, S. 146-150.
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POST–ADRESSEN „Es ist dir vielleicht doch schon zuweilen eingefallen, lieber Leser, an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes, daß das Äußere das Innen, das Innere das Äußere sei, ein bißchen zu zweifeln.” (Entweder…oder, 11)
Die Umkehrbarkeit von Äußerem und Inneren kehrt in der Geschichte der Herausgeberfiktion wieder. Victor Eremita erzählt, wie er ganz zufällig auf einen Sekretär gestoßen sei. Im Dänischen bedeutet „sekretairen” sowohl Schreibschrank als auch Schreibhilfe. Kierkegaard hatte das gesamte Manuskript tatsächlich von seinem Sekretär, einem Kandidaten der Theologie, ins reine schreiben lassen. Das Möbelstück weckt nun eigenartigerweise bei Victor eine unbezähmbare Lust, es zu besitzen: „Es war fürwahr nicht um des Geldes willen, daß ich es so anstellte, sondern um meines Gewissens willen.”92 Nachdem er so gut wie möglich um den Preis gefeilscht hat, entwikkelt der stolze Besitzer eine regelrechte Leidenschaft zu seinem Sekretär, bis zu dem Tag „im Sommer 1836”, an dem er beschließt, eine Reise aufs Land zu wagen. Den Moment der Abreise leitet ein dezisives Signal ein, das den Reisenden zum Aufbruch drängt. Es ist das Ertönen des Posthorns, neben der Sekretärsanekdote ein weiterer „Anlaß”, den Kierkegaard definiert als „eigentliche Kategorie des Übergangs von der Sphäre der Idee zur Wirklichkeit” (Entweder…oder, 277). Mit ihm käme „nichts Neues hinzu, sondern durch den Anlaß kommt alles zur Erscheinung.” (Entweder…oder, 275) Der Zufall eines Anlasses liefert das Grundmotiv für das ästhetische Werden: „das Zufällige im Sinne eines Fetischismus, und doch in dieser Zufälligkeit das Notwendige.” (Entweder…oder, 272) Im Gegensatz zu Hegel, der den Fetisch mit eurozentristischem Vokabular als Wahl „des erste(n) beste(n) Gegenstand(s)” beschrieb, „den sie [die Neger] zum Genius erheben”93, unterstreicht Kierkegaard aber die Notwendigkeit des Zufälligen. Das Posthorn gibt Anlaß, über seinen „Signalwert” als Hinweis auf „Umcodierung” des Bekannten nachzudenken.94 Als „mono-tones Instrument” bringt es „mit seinem stets in sich differentem Ton das differentielle Moment der Wiederholung auf skandalöseste Weise hervor”95. Wiederholt taucht es auch an an92 Das französische Wort conscience schließt das deutsche ‚Bewußtsein’ mit ein. Die Äußerung, den Sekretär um des Gewissens/Bewußtseins willen gekauft zu haben – und nicht um des Geldes willen – ist interessant, denn alle weiteren Handlungen (die Schubladen, die nicht mehr aufgehen wollen und geheime Papiere enthalten, die wütende Zerstörungstat) versprechen Einblick ins Abgelegte, Verdrängte. 93 Vgl. G. F. W. Hegel: Theorie, in: G. W. F. Hegel: Werkausgabe, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), Frankfurt a.M. 1970, S. 123. 94 Vgl. W. Iser: „Wirklichkeit”, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik, S. 306: „Die in den Text eingekapselten außertextualen Normen und Werte erfahren in diesem Vorgang eine Umcodierung ihrer Geltung. (…) Darin gründet sich der Signalwert des Repertoires. Denn in der gelöschten Gattung des Bekannten bringt sich die Reaktion des Textes auf seine Umwelt zum Ausdruck.” 95 E. Strowick, Passagen der Wiederholung, S. 16.
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deren Stellen auf. In Die Wiederholung beispielsweise wird mit der dreifachen Anrufung sogar ein Loblied auf das Posthorn gesungen: „Es lebe das Posthorn! […] Gepriesen sei das Posthorn! […] Es lebe das Posthorn!”96 Mit seinen jedesmal anders ausfallenden Tönen zeigt das Instrument, daß Reisen „nicht der Mühe wert” sei, „denn man braucht sich nicht von der Stelle zu rühren”, wenn nur der Diener „Postlivree” trägt und die „Extrapost zu einer Mittagsgesellschaft” fährt.97 Daß im Buch Die Wiederholung der „Postillion blies”, gibt wie in Entweder…oder das Zeichen zum wiederholten Auf- oder Ausbruch-Versuch. Das Posthorn ist der Fetisch, der wiederholt oder wieder her holt, was nicht da, nicht wirklich gewesen ist. Es ruft in die äußere Fremde und provoziert Spannungszustände im Innern.98 In der Epoche der Post verlaufen Reisen von Subjekten und Zeichen in geregelten Bahnen, was nicht heißt, daß diese sich nicht trotzdem verirren können. Die Figur des „Postillions” liefert die „poetischen Motive”, aus denen der Stoff der Träume gemacht ist. „Der Postillion bläst bereits, und wiewohl ich sonst nicht geneigt bin, den Befehlen anderer Leute zu gehorchen, so habe ich mit einem Postillion und seinen poetischen Motiven doch stets eine Ausnahme gemacht.” (Entweder…oder, 14)
Unlogische Zeitangaben führen im Vorwort zum „Lebensfragment” in Entweder…oder Momente der Verzögerung ein. Der „bereits” blasende Postillion war ursprünglich auf „5 Uhr bestellt” worden. Obwohl der Reisende schon eine Stunde vorher wach ist, fällt er wieder „in Schlaf oder Träume”, bevor ihn sein Diener schließlich „um 61 /2 Uhr” weckt. Mit ironischem Seitenblick auf den längst zu spät kommenden und doch zur Pünktlichkeit mahnenden Ruf werden die gerade noch als poetisch gelobten Motive des Aufbruchs oder Auftakts dem Spott ausgesetzt – ohne damit das philosophische Programm der Wiederholung als Verzögerung und Ansichhalten aufzugeben.99 Die „lockenden Töne des Postillions” hallen offenbar im „Ohr”
96 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, übers. v. Liselotte Richter, Hamburg 1991, S. 45 (Künftig zitiert als S. Kierkegaard, Wiederholung). Und Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke, 5. und 6.Abt., übers. v. Emmanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1955, S. 49. Künftig zitiert als GW 5/6. 97 S. Kierkegaard, Wiederholung, S. 49. 98 Vgl. S. Kierkegaard, Die Wiederholung, S. 24/25: „Der Postillion blies, ich schloß meine Augen, gab mich der Verzweiflung anheim und dachte, wie ich bei solcher Gelegenheit zu tun pflegte: Gott weiß, ob du das aushältst…” u. GW 5/6, S. 24. 99 Vgl. E. Strowick, Passagen der Wiederholung, S. 28: „In der Verspätung der Bewegung liegt die Freiheit des Handelns, die Leidenschaft des Subjekts. Das ‚auf ewig nicht erreichte Erwachen’ läßt nicht etwa weiterschlafen, sondern weckt auf. Die Wirklichkeit der Wiederholung ist eine verfehlte, in der ‚sich etwas […] vermittels der Realität wiederholt’.” Zitate aus S. Kierkegaard, Die Wiederholung, S. 64.
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des Erzählers wider, dessen Erzählung im Echo eines jedesmal anders ausfallenden Tons die Logik der Zeitangaben durcheinanderbringt. Eine postalisch-philosophische Sendung wartet stets darauf, herausgegeben bzw. ausgetragen zu werden. Es drängt sich die Frage nach der Frankierung und Freimachung, der Taxierung auf. Im Moment des Aufbruchs fällt Victor Eremita ein: „hast du auch genug Geld in deiner Brieftasche?” Doch die Geldschublade des Sekretärs bleibt verschlossen, zur Flucht aufs Land fehlen die Mittel.100 Wutentbrannt bleibt Victor nichts anderes übrig, als mit einem Handbeil auf das begehrte Möbel einzudreschen. Da springt eine andere Tür auf: „Hier fand ich zu meiner großen Überraschung eine Menge von Papieren, jene Papiere, die den Inhalt der vorliegenden Schrift ausmachen.” (Entweder…oder, 14) Von der Kostenfrage ablenkend, entpuppt sich das entdeckte Manuskript als streng geheim gehaltenes Dokument, das einem Sekretär entfallen ist. Damit steht das einst beim Trödler erstandene Objekt in der Tradition der Staats-Sekretäre, die „das secretum ausgerechnet seit der Zeit in ihrem Namen [tragen], seit sie ein Geheimnis gebrochen haben.”101 Mit der Herausgabe der Papiere hat der Sekretär ausgedient. Victor deponiert das Manuskript wie einen wertvollen Schatz in einem Mahagonikasten, „in dem sonst ein paar Pistolen liegen”, bis er schließlich auf einer seiner Exkursionen, „die nunmehr einen ganz anderen Charakter annahmen”, mitten an einem versteckten „romantische[n] Plätzchen im Wald” seine Beute sichtet. Die Öffentlichkeit beläßt er indes in ihrem Glauben, daß er sich „wohl im Pistolenschießen übe.” Bietet Kierkegaard hier versteckt Hegel die Stirn, für den „’die Buchdruckerkunst’ ganz ‚wie das Mittel des Schießpulvers dem modernen Charakter entspricht’”?102 Oder spielt die örtliche Nähe von Waffen und Manuskript auf das ordentliche Amt des Herausgebers an, der einer chaotischen Papierflut Einhalt gebieten muß, indem er zur Archivierung und Editierung übergeht: der Sichtung folgt die Sortierung, Zuordnung, Adressierung? Denn allein bei der Zuordnung ergeben sich Schwierigkeiten: „[…] indem nämlich A [im Falle der Erzählung Das Tagebuch des Verführers] sich nicht als Verfasser, sondern lediglich als Herausgeber erklärt. Das ist ein alter No-
100 Zur Angst des Erben Kierkegaards vor der „Erschöpfung des väterlichen Erbes”, dem „‚fühlbaren Geldverlust’”, vgl. Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1996, S. 596: „Hat man kein Vermögen mehr, muß man all das selbst werden, was man zuvor nur den anderen überlassen hat. Es ist eine simulierte eschatologische Situation, dargestellt am erhofften wie gefürchteten Ende dessen, was sich vor die Realität als Gehäuse gestellt hat.” 101 C. Vismann, Akten, S. 165: „Die Schreiber der päpstlichen Kanzlei hatten den Inhalt eines geheimen, geschlossenen Briefs, littera secreta, verraten und damit 1338 eine Friedensmission Papst Benedikts zwischen Frankreich und England hintertrieben.” 102 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 490.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL vellistenkniff, gegen den ich weiter nichts einzuwenden hätte, wenn er nicht dazu beitrüge, meine Stellung so verwickelt zu machen, indem der eine Verfasser schließlich in dem andern drinsteckt wie die Schachteln in einem chinesischen Schachtelspiel.” (Entweder…oder, 18)
Die Lage ist verzwickt. Wie die kleinste Schachtel im Innersten des „chinesischen Schachtelspiel[s]” von den größeren verborgen wird, so scheint sich hier eine ganze Verfasser-Artillerie vor dem Ansturm ihrer Leser-Feinde in den Fuchsbau zurückziehen zu müssen. Hat man es bei Kierkegaard mit einem verwöhnten Erben zu tun, den die Angst vor der Verausgabung des väterlichen Vermögens und vor der Nacktheit – im materiellen, aber auch übertragenen Sinne vor einer nackten Wahrheit – umtreibt?103 Der Solipsismus, den Hans Blumenberg in Höhlenausgänge nicht nur für den Phänomenologen Edmund Husserl in einem solchen „Schachtelraumkonstrukt” zu wittern meint, führt bei Kierkegaard zu einer „Fuchsbauparabel der unendlichen Reflexion”104. Diese Parabel findet sich im Tagebuch des Verführers. Der Ästhetiker A, der das Tagebuch wieder nur herausgegeben haben will, schreibt dort im Vorwort über den Verführer: „Wie aber mag es wohl in seinem eigenen Kopf aussehen? Wie er andere irregeführt hat, so, denke ich, wird er sich am Ende auch selbst verlaufen. […] Ich kann mir nichts Qualvolleres denken als einen intriganten Kopf, der den Faden verliert und nun seinen ganzen Scharfsinn gegen sich selbst richtet, indem das Gewissen erwacht und es gilt, sich aus dieser Verwirrung herauszuziehen. Vergebens hat er viele Ausgänge aus seinem Fuchsbau, in dem Augenblick, da seine geängstete Seele schon glaubt, sie sehe das Tageslicht einfallen, zeigt es sich, daß es ein neuer Eingang ist, und so sucht er wie ein aufgescheuchtes Wild, von der Verzweiflung verfolgt, immerfort einen Ausgang und findet immerfort einen Eingang, durch den er in sich selbst zurückkehrt.” (Entweder…oder, 357f.)
Mit der Architektur eines immer wieder nach Innen zurückführenden Fuchsbaus korrespondiert im Tagebuch des Verführers eine genaue szenische Ausgestaltung der Innen-Räume. Wie vom Herausgeber angekündigt, 103 Vgl. S. Kierkegaard, Tagebücher III, S. 238, X A 424: „Wofern ich Vermögen hätte, würde ich mich weiter hinauswagen […]. Jetzt kann ich nicht. Sollte ich plötzlich […] einen sehr fühlbaren Geldverlust haben – und dann vielleicht totgeschlagen werden, und dann die ganze Sache und mich selbst verpfuscht haben: nein, das kann ich nicht.” und Adorno, Kierkegaard, S. 71: „Unter der modernen Antithese des Groß- und Kleinbürgers ist der Privatier ebensowenig wie sein Widerpart, der von Kierkegaards stets befehdete ‚Spießbürger’ zu denken. Nicht angewiesen auf fremdes Kapital, nicht genötigt, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, wahrt sich der Privatier den ‚offenen Blick’.” 104 Vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 595. Dort wird die zitierte Fuchsbauparabel irrtümlicherweise mit dem Text Der Begriff Angst in Verbindung gebracht.
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macht Johannes’ Tagebuch seine Leser zum Mitwisser einer scheinbar dialogischen – das weibliche Verführungsobjekt Cordelia kommt selbst nicht zu Wort – und unheimlichen, weil aus dem Echo zurückhallenden causerie intime. Es ist, als ob man den Moment eines laut gewordenen Monologs belauscht, der immer weiter ins Innere ruft und sich damit ins Unendliche zu verlieren droht. Der poetisch-religiösen Sogwirkung des intim-bekennenden Tagebuches entspricht auch die räumliche Entwicklung im Text: Johannes begegnet Cordelia auf der Straße, er läßt sie aus der Kutsche und von ihrem hohen Roß des Stolzes steigen. Als Elternlose lebt sie zurückgezogen bei ihrer Tante, der Schwester ihres Vaters: eine „isolierte Figur” (Entweder…oder, 394). Der Verführer muß sich erst Zutritt zu ihr und ihrer Umgebung verschaffen, er muß von außen nach innen, von der Straße in ihre „Häuslichkeit”, ihr Wohnzimmer, ihr „Intérieur” eindringen. Die ganze Handlung spielt sich im Innern ab, im Zimmer, in der Wohnung. Johannes, der auf der Straße gelauert hatte, schleicht sich langsam bei Cordelia ein. Er steigert ihr Verlangen nach ihm so, daß sie auch nach Entlobung und Trennung sich nur noch stärker an ihn gebunden weiß. Das belegen ihre Briefe, die der Herausgeber dem Tagebuch vorangestellt hat. Mit den geheimnisvollen Orten verhält es sich im übrigen wie mit dem Verführer selbst: Das Haus hinter dem Wall und das Fenster zum Hof entziehen sich einem Durch-Blick von Draußen. So wecken sie erst recht die Neugierde des Zuschauers. Dichter und Sekretär, Polizei-Spion und Räuber in einem, stiehlt sich der Verführer in das Innere, in das Herz von Cordelia. Er selbst bewegt sich dabei in einem Zwischenraum, den er das „Interessante” nennt: Nur das Interessante interessiere ihn, so der Verführer, der das Wort inter-esse wörtlich nimmt als ein „Dabei-, Dazwischensein, In-der-Mitte-sein”105. Indem er das Entweder-oder mit einem sowohl-als-auch übersetzt, spielt der Verführer immer mehrere Rollen zugleich. Als Verführer und Mönch, Verschwender und Asket, Zuschauer und Akteur bleibt er ständig in Bewegung, stößt an die Grenze des Möglichen. Der Herausgeber hatte ja bereits davor gewarnt, daß sich alles Versteckspielen rächen wird, weil es zur Verirrung in den labyrinthischen Fuchsbau führt. So spielt der Verführer mit der Idee einer Liebe, die sich „ihre Wege am liebsten selbst” sucht. Er muß jedoch sogleich darauf feststellen: „Man strebt tiefer in den Wald […] hinein.” (Entweder…oder, 473) Er vermag es nicht, sich in der Liebe selbst zu vergessen. So kennt er auch keine ethische Pflicht, ist allein ästhetisch an sich selbst gebunden. Um seine Gier nach Interessantem zu befriedigen, muß er unverbindlich bleiben. Kein teil-nehmendes, weitergehendes Interesse am Anderen will sich hier zeigen, sondern ein punktuell verglühendes Interesse an Spiel und Aben-
105 Walter Rehm: Kierkegaard und der Verführer, München 1949, S. 122.
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teuer, an der Genialität des plötzlichen „Inzitaments”106 (incitamentum: Reizmittel, Anreiz, Antrieb, Triebfeder, Sporn). Das zeigt auch die merkantilistische und kriegerische Haltung: „[…] der erste Krieg mit Cordelia, in dem ich fliehe und sie damit siegen lerne, indem sie mich verfolgt […] der zweite Kampf beginnt dennoch, und in diesem zweiten Kampf siege ich, so gewiß, wie es eine Täuschung war, daß sie in dem ersten siegte. […] Der erste Krieg ist ein Befreiungskrieg; der ist ein Spiel; der zweite ist ein Eroberungskrieg, in ihm geht es auf Leben und Tod.” (Entweder…oder, 449)
Der Verführerfigur haftet etwas eigentümlich gespenstisches und idealtypisches an, was schon der Titel betont: nicht das Tagebuch eines Verführers sondern des Verführers heißt es, ein Unterschied, den Kierkegaard ausdrücklich betont. Es geht um die Herausarbeitung einer Methode, eines typischen Romantikers. Denn das letzte Objekt der ästhetischen Vermittlung ist in Entweder…oder der reflektierte Verführer Johannes, Analog und Antipode zu Don Juan. Wie alle Namen und Pseudonyme Kierkegaards trägt der Name Johannes ein ganzes Programm in sich. Bevor das Tagebuch selbst zu Wort kommt, schaltet sich ein – nach Kierkegaard und Victor Eremita – dritter Verfasser ein, um über die romantische und das heißt occasionalistisch wuchernde Editionsgeschichte eines Manuskripts zu berichten. Der Ästhetiker A hat es zufällig in einer der Schubladen eines Sekretärs gefunden, der dem Verführer gehört. Die Art und Weise, wie das ästhetische und geheime – secretäre – Buch im Buch in die Hände seines ersten Lesers gerät, verrät, daß die Methode der Verführung nicht nur den Inhalt des Tagebuchs ausmacht, sondern daß sie selbst am dichterischen Projekt teilhat. „Sein Leben ist ein Versuch gewesen, die Aufgabe eines poetischen Lebens zu realisieren. […] Sein Tagebuch ist darum nicht historisch genau oder einfach erzählend, nicht indikativisch, sondern konjunktivisch. (Entweder…oder, 353)
Aus der Erinnerung des Herausgebers erscheint der Moment einer ersten und heimlichen Lektüre des konjunktivischen Manuskripts als lustvoll und „interessant”, weil verboten. Er signalisiert eine Gesetzesübertretung, von der das böse Gewissen zeugt. Was den Herausgeber besonders reizt, ja sogar in „Versuchung” führt zu lesen, ist die Angst davor, vom Lesen überwältigt und bei seiner verbotenen Lektüre überrascht zu werden. Diese doppelte
106 Vgl. Entweder…oder, 355: „Sobald die Wirklichkeit ihre Bedeutung als Inzitament verloren hatte, war er entwaffnet, darin lag das Böse bei ihm. Dessen war er sich selbst im Augenblick des Inzitaments bewußt, und in diesem Bewußtsein lag das Böse.”
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Angst ist zugleich abstoßend und „süß”, so Kierkegaard in seinem berühmten Traktat Der Begriff Angst. Die Angst um die verbotene Mitwisserschaft antizipiert nicht nur mögliche Reaktionen des Verführers sondern auch die Anziehungskraft, die der Text in Zukunft auf unschuldige Leser-Objekte ausüben wird. Der „dichterische Versuch” ruft zur Entzifferung aus: „Es gibt doch nichts, worauf so viel Verführung und so viel Fluch liegt wie auf einem Geheimnis.” (Entweder…oder, 360) beschwört der Ästhetiker. Was besagen die zahlreichen Pseudonyme, Aphorismen, Lebensfragmente, Nachlässe, Vorworte, Versuche, Schriftproben, Studien, Pièces, Brocken, Sammelsuria, Tagebücher Kierkegaards? Wie findet man sich in diesem unvollständigen Labyrinth der zahlreichen Verweise und möglichen Bezüge zurecht? Kierkegaard hat sich mehrfach gegen das „glänzende Elend” einer romantischen Sehnsucht nach Unendlichkeit gewendet. In der Suche nach Unendlichkeit sieht er die Gefahr eines Selbstverlustes. Was dies bedeutet, spielt Kierkegaard immer wieder durch. Immer wieder wird der uneinholbare Anfang einer bodenlosen Reflexion wiederholt, werden die unendlichen Möglichkeiten bis zur Verzweiflung weitergetrieben. Der reflektierte Verführer ist das beste Beispiel für diesen Selbstverlust, der zugleich den ästhetischen Gewinn ausmacht. Im labyrinthischen Bereich des Kalküls unendlicher Möglichkeiten und antizipierter Schachzüge geht der Verführer das Risiko einer poetischen Selbstreflexivität ein, Merkmal der Codierung von Intimität um 1800.107 Diese Selbstreflexivität wirft das Ich „wie ein aufgescheuchtes Wild” auf sich selbst zurück. Und was hat es mit Schachtelspiel und Fuchsbau auf sich, so möchte man maulwurfartig eine weitere Frage aufwerfen. Einer materialisierten Vorstellung von Kommunikationsvorgängen gilt die „Schachtel” als „Geist” oder „Informationseinheit”, die zwischen zwei Orten zirkuliert.108 In Kierkegaards Fuchsbau wird das Versprechen laut, auf Um- oder gar Irrwege zu (ver-)führen, und auf diese Weise Intimität im kodierten Text-Labyrinth aufzubewahren. Für Blumenberg zeigt sich in dieser Parabel der Abgrund einer modernen Philosophie, die sich nach Sokrates und vor allem „nach Christus” nicht mehr erlauben kann, für die Wahrheit zu sterben. Kierkegaard faßt in seinen Tagebüchern das Rätsel eines in sich selbst abstürzenden und ertrinkenden Selbst so zusammen: „Es kommt mir vor, als hätte ich den Becher der Weisheit nicht getrunken, sondern wäre in ihn hineingefallen.”109 Das Becherparadox verhöhne die Reflexion als epochemachendes Kunstmittel der 107 N. Luhmann, Liebe als Passion, S. 51. 108 Zur Vorstellung von Medien als „Röhren”, in denen kodierte Schachteln hinund her geschickt werden, vgl. W. Ong, Oralität und Literalität, S. 173. 109 S. Kierkegaard, Tagebücher, 1. August 1835, zitiert in H. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 594.
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Neuzeit, so Blumenberg: „In die Reflexion als unendliche immer wieder zurückgestoßen zu werden, liegt an der Nichtigkeit alles dessen, was ‚außerhalb’ der Höhle wäre und wovon zu reden sich nicht lohnt.”110 Einerseits ist der Rückzug in den Fuchsbau ein Versuch des Rückzugs vor der Allgemeinheit. Aber andererseits ermöglichen die technischen Errungenschaften der Post-Epoche, daß jeder Staatsbürger sich individuell adressieren kann. Die Frage nach dem Einzelnen stellt sich also umso dringender. Anstoß oder „Inzitament” für das Tagebuch liefert denn auch folgerichtig eine Szene aus dem Transportwesen, in der erneut von einem, diesmal fahrenden Gehäuse die Rede ist: „Vorsicht, meine schöne Unbekannte! Vorsicht aus einer Kutsche zu treten, ist keine so leichte Sache, zuweilen ein entscheidender Schritt. Ich könnte Ihnen eine Novelle von Tieck leihen, aus der Sie ersehen würden, wie eine Dame dadurch, daß sie von einem Pferd stieg, sich derart in eine Verwicklung verstrickte, daß dieser Schritt für ihr ganzes Leben definitiv wurde.” (Entweder…oder, 364)
Das sind die ersten beiden Sätze, die der romantisch belesene Verführer in sein Tagebuch notiert. Auch die Papiere des Ästhetikers hängen von den postalischen Bedingungen des Buchmarktes ab. Das Tönen des Posthorns von der Straße her, die merkantilistischen Invasionen der Geldwirtschaft in die häusliche Stube,111 die Herleitung der Verführung aus dem Kriegsgeschehen,112 die Strategien, mit denen das Objekt des Verführers in ein Netz eingesponnen wird,113 aber auch die literarischen Anspielungen auf romantische Liebesmodelle – das Zitieren von Ludwig Tiecks Novelle Die wilde Engländerin oder auch die späteren Hinweise auf Tiecks Roman William Lovell und Friedrich Schlegels Lucinde114 –, all das deutet eher auf die Auseinanderset-
110 H. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 594. 111 Vgl. Entweder…oder, 412: „Bei meiner intimen Beziehung zur Tante ist es leicht für mich, Cordelia als ein Kind zu behandeln, das nichts von der Welt versteht. Dadurch ist ihre Weiblichkeit nicht beleidigt, sondern nur neutralisiert; denn es kann ihre Weiblichkeit nicht beleidigen, daß sie nicht über Marktpreise Bescheid weiß, wohl aber kann es sie empören, daß dies das Höchste im Leben sein soll.” 112 Vgl. Entweder…oder, 416: „Nicht wahr, ein bißchen Widerstand ist angenehm, man kämpft gern, um in den Besitz dessen zu kommen, was man liebt”. Und ebd., 419: „Allmählich fange ich an, ihr mit meinem Angriff näher zu rücken, zu mehr direkten Angriffen überzugehen. Soll ich diese Veränderung auf meiner militärischen Karte über die Familie bezeichnen, so möchte ich sagen: ich habe meinen Stuhl so gedreht, daß ich ihr jetzt die Seite zukehre. Ich lasse mich mehr mit ihr ein, rede sie an, entlocke ihr Antworten.” 113 Vgl. ebd., S. 397: „Das ist das erste Netz, in das sie eingesponnen werden muß. Auf der Straße halte ich sie nicht an, oder ich tausche einen Gruß mit ihr, aber nähere mich ihr nie, sondern halte immer auf Abstand.” 114 Ausführlich dazu Rehm, Kierkegaard und der Verführer. Und Birgit Haustedt: Die Kunst der Verführung. Zur Reflexion der Kunst im Motiv der Verführung bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Kierkegaard und Brentano, Stuttgart 1992.
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zung mit einer literalisierten Post-Epoche als auf den Rückzug vor ihr hin. Ironisch antizipieren die verschachtelten Herausgeberfiktionen detektivische Lektüren, die auf autobiographischen Informationswert lauern und Anspruch auf direkte Zustellung erheben. So wird im Vorwort zum Tagebuch des Verführers die Szene mit dem Sekretär wiederholt, um die Frage nach dem Autor des Manuskripts zu stellen, der „gegen seine Gewohnheit seinen Sekretär nicht abgeschlossen” hat. Die herausgezogene Schublade fordert A nachdrücklich dazu auf, ein „geschmackvoll” eingebundenes Buch „in Großquart” herauszunehmen. Von der Verantwortung befreit, den zu veröffentlichenden Text mit eigenem Namen unterschreiben zu müssen, schlüpft A daraufhin in die Rolle eines „Polizeibeamten”, der auf der richtigen Fährte ist, um endlich die „Hinterlist” eines „verderbten Menschen” durchschauen zu können. Die labyrinthische Fuchsbauparabel hat nicht nur Eingang in Blumenbergs Höhlenausgänge gefunden. Auch in Franz Kafkas Parabel Der Bau wird die Verschachtelung von Innerem und Äußerem thematisiert. In Kafkas Der Bau erzählt ein Tier-Ich den Bauplan seines Werkes, eine unterirdische Höhle. Dieses allmächtige, sich selbst zum Sprechen bringende Tier„Ich” doubliert sich am Ende selbst, indem es sich im eigenen Text-Bau verliert und sowohl Architekt des Baus als auch Autor des Textes mit ins Grab nimmt. Wie im Tagebuch des Verführers ist das „Eingangslabyrinth” als Innenraum „‚von Anfang an’ durch seine Ambivalenz” und vom „Ausschluß des Außen” bestimmt.115 Dies geht soweit, daß das Tier seinem eigenen Eingang auflauert, um seine Abwehrkraft gegenüber Eindringlingen von außen zu beobachten: „Der Eingang kann täuschen, ablenken, den Angreifer quälen, das tut auch dieser zur Not.”116 Die komplizierte Spiegelung von Innen und Außen, Über-Stülpen und Aus-Höhlen reflektiert sich in einer unheimlichen und widerständigen Doppelgänger-Thematik, in der „Unmöglichkeit des Doppelgängers: Entweder ist er Ich oder er ist ein Anderer, er wäre aber beides, wird abgelöst und aufgefangen von der Idee einer Doppelung des Eingangs in ein Einstiegsloch und ein Ausgucksloch”117. Kafkas Beschäftigung mit Kierkegaard beginnt 1913. Er liest zuerst das Buch des Richters, dann später, in der kritischen Verlobungszeit mit Felice Bauer, Furcht und Zittern und Entweder…oder.118 Aus Kafkas Tagebüchern: 115 Bettine Menke: „Aufgegebene Lektüre: Kafkas Der Bau”, in: Die Aufgabe des Lesers, S. 147-176, hier S. 149 u. 154. 116 Franz Kafka: „Ich habe den Bau eingerichtet…”, in: Kafka, Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1994, S. 167. 117 B. Menke, „Aufgegebene Lektüre”, S. 156. 118 Zur Kierkegaard-Rezeption Kafkas, vgl. z.B. Wilbrecht Ries: Transzendenz als Terror. Eine religionsphilosophische Studie über Franz Kafka, Heidelberg 1977. Leena Eilittä: Approaches to Personal Identity in Kafka’s Short Fiction. Freud, Darwin, Kierkegaard, Helsinki 1999, S. 149ff..
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Ich habe heute Kierkegaards Buch des Richters bekommen. Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich, zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie einen Freund.”
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Die doppelgängerischen Spiegelungen zwischen Autor und Leser, Freund und Feind, Innen und Außen führen zum Öffnen vieler Schachteln und Archive, zum Aufbrechen von Schubladen und zum Fund weiterer Dokumente. Die einzelnen Schachteln aber offenbaren nicht etwa ein (autobiographisch zu entschlüsselndes) Inneres, sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit aus, „die Seele ‚an der Arbeit’ zu sehen”. Die kleinste Schachtel, das Innerste der Aufzeichnung, verspricht wie die black box letztes Residuum zu sein und Auskunft über die Ursache eines Absturzes zu geben. Der Begriff black box wird auch für elektronische Systeme verwendet, „deren Komplexität es nahelegt, ihre Beschaffenheit praktisch außer acht zu lassen und sich auf die Messungen ihrer Ein- und Ausgaberelationen (input-output relations) zu beschränken.”120 „Ce bruit, est-ce identiquement le collectif, la rumeur qui sort de sa boîte noire?” fragt Michel Serres.121 Deutlich wird das unmögliche Unterfangen, einen Text-Apparat in seiner Endlichkeit erschließen zu wollen. Kierkegaards und Kafkas Höhlen-Bauten lassen Ausgänge zu Eingängen werden und umgekehrt. Sie allegorisieren eine im Hinterhalt sich befindende, unauffindbar bleibende Adresse, „Zirkelstruktur eines Selbstbewußtseins […] Moment von ‚Blindheit’”122. Keinen Hinweis habe er ausgelassen, um „den Verfassern auf die Spur zu kommen”, versichert der Herausgeber Victor Eremita und führt dafür die Wahllosigkeit eines Trödlers als Beweis ins Feld: „Der Trödler führte nicht Buch, bekanntlich ist das bei Trödlern selten der Fall; er wußte nicht, von wem er jenes Möbel gekauft hatte” (Entweder…oder, 22). Gerade die Tatsache, daß eine Ware aus zweiter Hand keine bestimmte Herkunft aufweist, macht sie zur Metapher wiederholter Adressierungen, einer unmöglich erscheinenden, weil zeitbedingten und allein vom Einzelnen Anlaß abhängigen Wahl. Es sei müßig, die fruchtlose Fährtensuche nach den rechtlichen Urhebern der Papiere zu erzählen, die viel Zeit gekostet hätte. Allein sein Scheitern könne er zugeben, „denn das Ergebnis ist gleich Null.” Und selbst wenn sich die Verfasser noch vor der Veröffentlichung melden würden, wäre nichts gewonnen, „denn von diesen Papieren gilt im strengsten Sinne, was man sonst von allem Gedrucktem zu sagen pflegt, – sie schwei-
119 Franz Kafka: Tagebücher, Bd. 2: 1912-1914, Frankfurt a. M. 1994, S. 191. Eintragung am 21. August 1913. 120 P.Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 45. 121 Michel Serres: Le Parasite, Paris 1980, S. 20. 122 W. Ries, Transzendenz als Terror, S. 47.
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gen.” (Entweder…oder, 22) Insofern könne sich ihr Herausgeber vom Verdacht der Indiskretion freisprechen. Nur ein Problem scheint immer noch nicht gelöst zu sein: die Kostenfrage. Einem Herausgeber, räsoniert Victor, steht zwar ein Honorar für seine Tätigkeit zu. Ein Verfasserhonorar würde er jedoch „für viel zu groß erachten”. Denn wie der Leser sicher schon aus seiner „Unbeholfenheit” entnommen habe, er sei schließlich kein „Schriftsteller, auch kein Literatus, der eine Profession daraus macht, Herausgeber zu sein”. In Anbetracht der gering einzuschätzenden Beträge, um die es in Wirklichkeit gehen würde, beschließt Victor, das Honorar anzulegen, damit es im Falle einer Rückmeldung als verzinstes Kapital zurückgezahlt werden könnte. Die Transaktion der Ware Text ist nicht umsonst, auch literarische Dokumente wollen frankiert werden. Und so legen die ökonomischen Bedenken des Herausgebers eine Farce offen, die ihren Leser gründlich an der Nase herumführt und ihn an seinen ‚Erwartungshorizont’ zurücksendet. Wieviel ist ihm eine philosophische Sendung ohne Wahrheitspostulat wert?123 Wie das Pseudonym – pseudos-onoma –, das den Autornamen nicht im Unbekannten versinken läßt, sondern die Aufmerksamkeit auf sein verborgenes Wesen lenkt, sein pseudos, welches zugleich verkleidet und enthüllt,124 gibt eine black box zwar ihre Ein- und Ausgaberelationen, nicht aber ihren Inhalt preis. Kierkegaard habe, wie Scheherazade, die Wahl zu erzählen getroffen, so Jacques Colette in Kierkegaard et la non-philosophie. Keine introspektive Manie, sondern die Überführung des Exhibitionismus in Parodie.125 Hegels Anspruch auf postalische Zustellung einer allgemein sich adressierenden Philosophie wird umgemünzt zur indirekten Mitteilung, deren Kosten noch zu übernehmen sind. Kierkegaards Texte enthalten deshalb zunächst nichts weiter als eine performative Einladung, ein Angebot, die Notwendigkeit des Anlasses, den wiederholenden Moment der Lektüre, in seiner Zufälligkeit zuzulassen. Aus den Schubladen des Sekretärs fallen nicht nur Manuskripte, sondern auch
123 Vgl. Roger Poole: Kierkegaard: the indirect communication, Virginia 1993, S. 12: „Are you strong enough to come to terms with this torso? Can you give it […] a ‚strong misreading’, or are you going to add to the archive a weak misreading? Are you prepared to be interrogated, interpellated, buttonholed, misused, questioned? Or did you come to this torso only for objective information and doctrine?” 124 Martin Heidegger: Parmenides, Frankfurt a. M. 1982, S. 53: „Das echte Pseudonym soll den Verfasser nicht einfach unkenntlich, es soll vielmehr auf sein verborgenes Wesen aufmerksam machen. Durch sein Pseudonym sagt der Verfasser sogar mehr von sich, als wenn er seinen ‚richtigen’ Namen gebraucht. An den Pseudonymen Kierkegaards (‚Johannes de Silentio’, Johannes Climacus’ und ‚Anticlimacus’) läßt sich dieses Wesen des Pseudonyms und damit das Wesen des ψευδοζ erkennen.” Im ψευδοζ waltet ein Verdecken, das zugleich enthüllt.” 125 Jacques Colette: Kierkegaard et la non-philosophie, Paris 1994, S. 36. Weder Philosoph noch Theologe oder Priester sei Kierkegaard ein Schriftsteller, der seinen Ideen zumute, daß sie ihren Weg schon von selbst gingen.
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Figuren und Geheimagenten. Wer ‚A’ sagt, muß auch ‚B’ sagen: „A würde gegen die Herausgabe der Papiere wohl nichts einzuwenden haben, dem Leser würde er zurufen: ‚Lies sie oder lies sie nicht, du wirst beides bereuen.’ Was B sagen würde, ist schwerer zu bestimmen.” Das Vorwort entläßt in Entweder…oder seine ‚„angeführten”’ Adressaten mit einem Zitat von B. Es enthält eine Prosopopoiie des Buches, dem es die Aufgabe der Übertragung an den „einzelnen Leser” anvertraut: „So gehe hinaus in die Welt, vermeide tunlichst die Aufmerksamkeit der Kritik, besuche einen einzelnen Leser in einer wohlwollenden Stunde”. Das läßt die verführerische Idee zu, sich endlich in direkter Rede an eine „Leserin” wenden zu dürfen: „Meine liebenswürdige Leserin, du wirst in diesem Buch einiges finden, was du vielleicht nicht wissen dürftest, anderes, das zu erfahren dir wohl heilsam sein könnte: so lies denn das eine so, daß du, die du gelesen hast, seiest wie die, welche nicht gelesen, und das andere so, daß du, die du gelesen hast, seiest wie die, welche das Gelesene nicht vergessen hat.” (Entweder…oder, 25)
Die Verführung, der Krieg der Geschlechter, beginnt bereits im „modischen” Vorwort, dessen „rein zeremoniell[en] Charakter” Kierkegaard an anderer Stelle betont und zu rehabilitieren sucht. Denn die „Sache mit dem Buch”, so heißt es in einer Ausführung, die zu insgesamt acht satirischen Essays aus der Reihe der Vorworte nicht existierender Werke gehört, sei durchaus ernstzunehmen. Das Vorwort müsse sich vom Buch „emanzipieren”, damit es zu seiner eigentlichen Aufgabe, vom Nichts zu handeln und bloße Gelegenheitspoesie zu sein, zurückfinden könne: „Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Türglocke eines Manns ziehen um ihn zu foppen […] das Blasen des Posthorns und das Winken und Rufen des Echos [zu] vernehmen des Kutschers mächtigen Peitschenknall hören und des Waldes bestürzten Widerhall und der Reisenden munter Geplauder”
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Wenn nun das Vorwort von Entweder…oder die Lektüre des Buches empfiehlt, dem es vorausgeschickt ist, dann geschieht dies nicht ohne Ironie. Schicksal und Wunsch eines jeden Buches ist es ja, durch viele Hände zu wandern. Der Lektion zur dialektischen Wiedergabe und Bewahrung durch 126 Sören Kierkegaard: „Vorwort”, in: S. Kierkegaard, Gesammelte Werke, 11. und 12.Abt.: Der Begriff Angst. Vorworte, übers. v. Emmanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1965, S. 173ff.: „Vorreden tragen das Gepräge des Zufälligen ebenso wie Dialekte, Idiome, Provinzialismen; sie sind, in ganz andrem Sinne als die Schriften, der Herrschaft der Mode unterworfen, sie wechseln gleich den Kleidertrachten. Bald sind sie lang, bald kurz; bald dreist, bald verschämt; bald steif, bald nachlässig; bald ängstlich nahezu reuig, bald zuversichtlich nahezu unverschämt”.
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den „einzelnen Leser” fügt der Herausgeber nur noch einen letzten Wunsch hinzu: „daß es der liebenswürdigen Leserin gelingen möge, Bs wohlgemeinten Rat genau zu befolgen”. Süffisant verabschiedet sich damit das Vorwort Victor Eremitas, um den Papieren von A und B das Wort zu übergeben. Diese werden erneut von Vorwörtern eingeleitet, in denen der Funke von einer Figur zur anderen überspringt. Dem Ästhetiker A erscheint schließlich die vom Verführer „angewandte Raffiniertheit des ästhetischen Genusses offenbar selbst unheimlich”.127 Die Verführung der Adresse ist eine Verführung zum Lesen. Auch die Wahl der Namen gibt der Lektüre zu denken auf. Die Kutscherszene weckt als Inzitament in Johannes die Idee zur Verführung. Der Zufall liefert den Anlaß für eine Intrigengeschichte. Das Kalkül der Verführung aber verbietet von da an den Zufall. Nichts soll ihm überlassen werden. Das zeigt allein die Wahl der Namen. Der Herausgeber A bemerkt in seinem Vorwort: „Cordelia, sie hieß wirklich Cordelia, jedoch nicht Wahl.” (Entweder…oder, 354) Was bedeutet dieser Hinweis? Der Kosename von Cordula (zu lat. cor, ‚Herz’) heißt Kordel. Die Heilige Cordula verbarg sich der Legende zufolge auf einem Schiff, um dem Martyrium zu entrinnen, bot sich dann aber freiwillig dem Märtyrertod dar. Ihre Gebeine wurden in der Johanniterkirche zu Köln geborgen. Der Auftritt von Johannes dem Täufer ist aufgrund seines ausgesprochen messianischen Gepräges als hochpolitische Affäre zu betrachten, kommt seiner Botenfigur doch die Aufgabe der Verkündigung Gottes zu.128 Im Tagebuch steht dem Verführer Johannes kraft seines Namens nicht nur das Heiligenamt der Namensgebung und Verkündigung zu, er sorgt auch dafür, daß Cordelia im Laufe des Tagebuchs ihrem Namen als bestrickende Fessel alle Ehre macht: „Sie wird selbst die Verlockende, die mich verführt” (Entweder…oder, 497). Die romantische Wiederbelebung der Sirene erinnert mit ihrer metapoetischen Metaphorik des Webens, Flechtens, Verschlingens an die Etymologie, die die Sirene als Bindende, Fesselnde und Bestrickende benennt.129 Das textural Bestrickende des mächtigen oder magischen Gesangs der Sirene Cordelia ruft sich der Verführer Johannes wie ein Schauspiel in Erinnerung. „Cordelia heißt sie also, Cordelia! Es ist ein schöner Name, auch das ist von Wichtigkeit […]. Ich stand an der Straßenecke und las den Theaterzettel, während ich meine Unbekannte ständig im Auge behielt. […] Cordelia! Cordelia! […] Cordelia! Es ist doch ein vortrefflicher Name, so hieß ja auch Lears dritte Tochter, jenes 127 Hermann Diem, Einführung in Entweder…oder, S. 7. 128 Vgl. Otto Wimmer: Lexikon der Namen und Heiligen, Innsbruck et al. 41982, S. 199 und 445f.. „Johannes de silentio” heißt im übrigen auch der Verfasser von Furcht und Zittern: „Furcht und Zittern. / Dialektische Lyrik. / von / Johannes de Silentio / einer poetischen Person, die nur bei Dichtern vorkommt”. 129 Vgl. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1927, S. 287: „zu […] ‚Seil’ gehörig, die ‚Feßlerin’, ‚Umstrickerin’ bedeutet (ähnlich …’Räuberin’, […] ‚Packende’ usw.).
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ANRUF, ADRESSE, APPELL ausgezeichnete Mädchen, dessen Herz nicht auf den Lippen wohnte, dessen Lippen stumm waren, wenn das Herz sich geweitet hatte.” (Entweder…oder, 391)
Und wieder schafft der Name den Anlaß zu einem Zitat aus einer literarischen Vorlage, Shakespeares König Lear, ein Schauspiel, in dem Cordelia zu ihrem Vater sagt: „Ich Unglücksel’ge, ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben”130. Auch der Verführer Johannes bringt den maritimen Vergleich, sein Gemüt gleiche „einem aufgewühlten Meer unter den Stürmen der Leidenschaft” (Entweder…oder, 377). Wenn er über Zeit und Ewigkeit nachdenkt, beschwört er die Gefahr, „betören zu wollen”. Sein Plan ist es, „sie ästhetisch zu betäuben” (Entweder…oder, 516). Um den Über- und Weitblick für dieses Unternehmen zu behalten, will er wie ein Matrose „oben im Mast […] auf dem Ausguck” sitzen. Ziel ist, sich nicht binden und fesseln zu lassen. Deshalb muß die ästhetische Betäubung geschickt eingefädelt und sensibel inszeniert werden. Nachdem der Verführer Cordelia zuerst mit ihrem Hausfreund Eduard zusammenbringt und dabei als Nebenfigur mit Cordelias Tante im Hintergrund bleibt, lenkt er auf langsame und indirekte Weise die Aufmerksamkeit auf sich selbst. Schließlich bittet er zu aller Erstaunen bei der Tante um Verlobung mit der Nichte. Sein eigentliches, auf den ersten Blick paradoxes Ziel wird es sein, die Verlobte dazu zu bringen, das Band der Verlobung von sich aus wieder zu lösen. Daß Cordelia die geheime Botschaft ihres Verlobten verstanden hat, wird ein harmloses Ringspiel zeigen. Nachdem Johannes kurz zuvor eine Anspielung auf den Wechsel der Eheringe gemacht hat, wirft Cordelia zwei Ringe gleichzeitig in die Luft, sodaß Johannes sie nicht fangen kann. Wie der Soldat, der nach einer Amputation sein kriegsversehrtes Bein in die Höhe wirft und Vive l’empereur ruft, gibt Cordelia „schöner denn je zuvor” beide Ringe frei, während sie vor sich hin sagt „Es lebe die Liebe!” (Entweder…oder, 507) Johannes schreibt ihr vor der letzten Nacht emphatisch: „Nun nenne ich dich in Wahrheit mein, kein äußeres Zeichen erinnert mich an meinen Besitz. […] wenn du mich in Deine Arme einflichst, dann bedürfen wir keines Ringes, der uns daran erinnert, daß wir einander gehören” (Entweder…oder, 515).
Der Verführer bringt also sein Objekt dazu zu handeln und zwar in seinem Sinne. Die Lenkung der Gefühle und Bewegungen erreicht er über gemeinsame Lektüren – ein beliebter Topos des empfindsamen Liebesdiskurses. Mit dem Unterschied, daß der Verführer Kierkegaards sich nicht einbinden 130 William Shakespeare: König Lear, in: Shakespeare, Dramatische Werke, übers. v. August Wilhelm Schlegel/Ludwig Tieck, Stuttgart et al. 1891, I,1,482.
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läßt und aus der Position des Zuschauers die Fäden in der Hand behält: „ich bestimme die Wahl der Bücher und stehe immer außerhalb.” (Entweder…oder, 424) So berechnet er genau, welche Bücher er zu welchem Zeitpunkt für Cordelia auswählt, sorgt erst indirekt über den von ihm bestimmten Rivalen Eduard und dann direkt dafür, daß sie das liest, was er für sie bestimmt hat. Zum Schluß reicht er ihr „was ich für die beste Nahrung halte: Mythologie und Märchen”. Indem er kurz vor dem letzten Akt der geschlechtlichen Vereinigung das aufgeschlagene Buch wie zufällig auf dem Tisch liegen und seinen Diener bestätigen läßt, daß er selbst zuvor darin gelesen hätte, antizipiert der Verführer die sinnliche – und nicht mehr ästhetische – Nähe über das Buch. Sie wird das Ende der Beziehung markieren. Was hat nun der Nachname Cordelias zu bedeuten? Warum betont der Herausgeber, sie heiße zwar Cordelia, nicht aber Wahl? Indem die Wahl auf Cordelia gefallen ist, aus einem zunächst flüchtigen und dann genießerisch in die Länge gezogenen Augenblick, weist der vom Verführer verliehene, fiktive Nachname darauf hin, daß er sie dazu bringen wird, ihre Wahl zu treffen. Der Verführer hält auch dafür eine ganze Theorie parat: „der Mann freit, das Weib wählt. Das Weib ist seinem Begriffe nach die Überwundene, der Mann seinem Begriff nach der Sieger” (Entweder…oder, 505). Im Tagebuch ist alles darauf angelegt, die Frau, die Cordelia heißt, im Schauspiel des Geschlechterkampfes auf die Folter zu spannen. Und so ist die Spannung des Tagebuchs selbst Bestandteil der Verführungsstrategien: „Mein Verhältnis zu Cordelia fängt langsam an dramatisch zu werden.” (Entweder…oder, 426) Ausgelöst durch die Langeweile seiner endlosen Monologe versucht sich der Verführer des Tagebuches darin, ein möglichst hohes Potential vielfältigster und aufmerksamster Kommentare hervorzulocken. Provozierend zweideutig – das weibliche Personalpronomen läßt sich an verschiedenen Stellen sowohl auf Cordelia oder auf die Rede selbst zurückführen – zieht er Bilanz über die Effekte seiner druckreifen Reden: „Ein Mensch, der wie ein Buch redet, ist äußerst langweilig anzuhören; bisweilen ist es jedoch recht zweckmäßig, so zu reden. Ein Buch hat nämlich die bemerkenswerte Eigenschaft, daß man es nach Belieben auslegen kann. Diese Eigenschaft bekommt die Rede auch, wenn man redet wie ein Buch. Ich hielt mich ganz nüchtern an die üblichen Formeln. Sie war überrascht, wie ich es erwartet hatte, es ist unleugbar. Mir Rechenschaft davon zu geben, wie sie aussah, ist schwierig. Sie sah vielfältig aus, ja, ungefähr wie der noch nicht erschienene, aber angekündigte Kommentar zu meinem Buch, ein Kommentar, der die Möglichkeit jeder Auslegung enthält.” (Entweder…oder, 436f.)
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Dem Jawort, das sich der ehelichen Allianz verpflichtet, widerspricht hier eine permanente Untreue, die auch einer der ineinandergeschachtelten Texte, Vorworte (frz. prétexte meint auch den Vorwand) Namen und (Leser-) Adressen ist. Trotz oder gerade aufgrund einer strikten Orientierung an „üblichen Formeln”, womit sich Verführungskunst als konventionelle Rede zu erkennen gibt, ringt die Angesprochene mit einer Interpretation der bestrikkenden Ansprache, die nun ihrerseits so vielfältig ausfällt „wie der noch nicht erschienene, aber angekündigte Kommentar zu meinem Buch”. Damit hat der Verführer sein schriftstellerisches Ziel erreicht, nichts über seine Absichten zu verraten: „kein Wort kam über meine Lippen, ich blieb feierlichdumm und hielt mich streng an das Ritual.” Indem das rednerisch gewandt erzählte, sich selbst erzählende ‚Ich’ des Tagebuchs neue Auftritte eines immer gleichen, anders gewendeten Bühnenstücks probt, kann es seine performance am weiblichen Objekt exerzieren. Die Inszenierungen der kunstvoll verschlungenen Genre „emanzipierter” Vorworte, Tagebücher und Briefe verwandeln den „Höhlenausgang” zum Eingang ins Textlabyrinth. Als geschickter Zug (frz. adroit – geschickt, Eigenschaftswort der adresse) der Redekunst wird die Adresse eingesetzt, um im erotischen Gewand des Entzugs zu erscheinen. Jenseits der Zustellbarkeit kommt sie ihrem eigentlich poetischen ‚Charakter’ nahe. Als Redefigur läßt sie sich nicht feststellen. Sie ist verstellt, indem sie rhetorisch verführt, umgarnt und bestrickt. Auf eine allgemeine, sich auf eine Methode berufende Adressierung der philosophischen Sendung darf man bei Kierkegaard nicht hoffen. Während Hegel „die Weltgeschichte als Gottes fortschreitende Arbeit” erzählt und „empirisch im preußischen Staat” endet,131 konfrontiert Kierkegaard indirekt mit postalischen Verführungs- und Lesetechniken, indem er den Moment der Ironie ins Spiel bringt. Ironie ent-täuscht: Unverkennbar durch ein Signal (Posthorn, Sekretär) eingeleitet, bleibt sie als „nuancenreichste aller Tropen” unverzichtbar. Sie fordert dazu auf, „ersetztes und ersetzendes Wort zusammen auf[zu]fassen”132. Selbst der Polizist, dem die Gabe des offenen Sekretärs die Spurensuche erspart, gibt eine lächerliche Figur ab, wenn er immer noch auf einen festnehmbaren Täter hofft. Ein Ende seiner detektivischen Text-Analyse ist nicht abzusehen. Dies zeigt auch die Korrespondenz zwischen dem Ästheten A und dem Ethiker B. Die ethischen Einwände von B stellen sich als „schöne Rettungsphantasie” dar, in der A’s Schwierigkeiten, aus seinem konstruierten Fuchs-
131 F. Kittler, Kulturgeschichte, S. 110, Anm. 31. Zum Widerstand gegen den philosophischen Imperialismus Hegels sowie gegen die „hegelo-germanophile Truppe, die Dänemark kolonisieren wollte, vgl. auch Roger Laporte: „Kierkegaard écrivain”, in: R. Laporte, Études, Paris 1990, S. 227f.. 132 Vgl. Groddeck, Rhetorik, S. 270.
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bau herauszukommen, nur scheinbar überwunden werden können.133 Weder die „Zeitmodi des Augenblicks (der Lust)” noch der „Vergänglichkeit (Lustbedingungen)” lassen sich gegeneinander aufrechnen. Sie verhalten sich in einem unaufhebbaren Widerspruch zueinander, produzieren eine „ausweglose erscheinende Zerissenheit”.134 Ohne feste Adresse schreiben zu müssen, stellt sich daher weniger als Freiheit denn als Notwendigkeit dar. Denn die Möglichkeit einer freien Selbstwahl, wie sie für den Ethiker entscheidend ist, wird nun im zweiten Teil der „Korrespondenz” von Entweder…oder entwickelt und in Frage gestellt. Die Selbstwahl entsteht nicht allein aus einem Vermögen zur Freiheit sondern auch aus dem Affekt der unbestimmten Angst. Angst ist abstoßend und „süß”135. Sie enthält eine Möglichkeit der Freiheit – eben, weil sie unbestimmt ist und zum Sprung in den „Schwindel der Freiheit” ansetzt. „Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat noch erklären kann.”136 Die Angst, die das Mögliche nicht ausschließt, sondern aushält, führt zum Akt der Freiheit. Sobald diese Verbindung ernstgenommen wird, findet Kommunikation statt: im Sprung.137 Das aber gleicht der Link-Struktur eines Hypertextes, die den Leser dazu auffordert, beweglich zu bleiben und sich zu entscheiden, ob er dabeibleiben oder umschalten will.138 Eine Fährtensuche nach ausgelegten und hin- oder wegführenden Spuren macht sich darauf gefaßt, daß es möglicherweise in die Irre gehen kann. Mißtrauisches Nachschnüffeln schließt das Raten mit ein, fordert nicht nur Spürsinn, sondern appelliert auch an eine kreative Bereitschaft sich verführen zu lassen. Vergleicht man Kierkegaards „indirekte Mitteilung” mit Heideggers unheimlichem Gewissensruf, der „zu seinem eigensten Seinkönnen” aufruft, so zeichnet sich ein deutlicher Unterschied ab. Denn trotz der Erinnerung an die Erbsünde als ursprüngliches Schuldigsein und trotz einer nicht einholba-
133 Vgl. Hinrich Fink-Eitel: „Der ‚wilde’ Ursprung der Existenzphilosophie von Kierkegaard und Heidegger”, in: H. Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden: Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 11994, S. 351. 134 Ebd., S. 307. 135 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 51: „Angst ist eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie. […] Der Sprachgebrauch bestätigt das vollkommen, man sagt: die süße Angst”. 136 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 72. 137 Vgl. Jacques Caron: Angoisse et Communication chez Kierkegaard, Odense 1992, S. 214. 138 Vgl. auch Uwe Wirth: „Wen kümmert’s, wer spinnt? Gedanken zum Schreiben und Lesen im Hypertext”, in: diss.sense, Konstanz 1999, Online-edition: „Der Sprung ist kein Kann, sondern ein Muß. Als permanenter Mitarbeiter am Text pendelt der Hypertext-Leser zwischen seiner Freiheit, sich selbständig zusammenzulesen, was er will, und seiner Funktion als diskursiver Kohärenzstifter, die ihn für seine Lektüre verantwortlich macht. Diese Rolle entspricht auch der des Herausgebers, der als erster Leser und zweiter Autor Geschriebenes sammelt, bearbeitet und herausgibt, wobei es ihm Überlassen bleibt, ob er als akribischer oder als leichtsinniger Herausgeber agiert.”
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ren Ereignishaftigkeit des ins Sein-Gerufen-Werdens durch die Wahl, die Kierkegaard wie Heidegger betonen, so widmen sich doch Kierkegaards Texte ausdrücklich den risiko- und chancenreichen Mäandern der Adressierung, während Heideggers appellative Hauptsätze dazu aufrufen, sich zum autoritären Ruf zu versammeln. Heidegger folgt Kierkegaard zwar insoweit, daß sich die Selbstwahl zwischen den beiden Augenblicken von Angst und Freiheit ereignet. Kierkegaard macht jedoch das Moment der „weiblichen” Ohnmacht – des Objektes der Verführung – geltend,139 weshalb der Begriff der Selbst-Wahl schließlich vom „Selbstseinwollen” in ein „Selbst-Werden” überführt wird: „das Ich wählt sich selbst, oder richtiger: es empfängt sich selbst.” (Entweder…oder, 728) Daß ein Sich-selbst-empfangen aber anders als bei Heidegger nicht auf die Halluzination eines unmittelbar einbrechenden, terrorisierenden Anrufs zurückgreifen muß, sondern die Unberechenbarkeit der Adresse nicht zurückdrängt, dokumentieren außerdem die „Papiere von B” als „Briefe an A”. B versteckt sich hier nicht mehr hinter der Maske eines Herausgebers, der in Sekretären auf geheimnisvolle Dokumente eines Anderen stößt. Seine Überlegungen beginnen ohne Umschweife mit der direkten An-Sprache eines Empfängers: „Mein Freund!” Die Abhängigkeit des Tons vom gewählten Genre steht außer Frage: „Dich ermahnender und eindringlicher anzusprechen, wie es die Briefform mit sich bringt. […] So habe ich Dich immer wieder daran zu erinnern gedacht, daß Du es bist, von dem gesprochen wird, und Du, zu dem gesprochen wird.” (Entweder…oder, 525) B gibt zu, daß er als Beamter eher „die Gepflogenheit [habe] auf ganzen Bogen zu schreiben”, was die „Offizialität” des Schreibens erklären würde. Außerdem unterstreicht er den hohen Preis seiner umfangreichen Sendung, der in keinem Falle aufgewogen werden dürfe, denn das umfangreiche Paket sei „nicht zur Weiterbeförderung, sondern als Depositum” gedacht. Auch einer „Kritik” müsse im Vorfeld entgegengetreten werden, „da ich es ungern sähe, wenn Du Dich eines so groben und unsympathischen Mißverständnisses schuldig machtest.” (Entweder…oder, 526) Ethische Anliegen sind an mahnende Töne gebunden. Sie nehmen gefangen. Das Amt des Priesters und die Heirat sind dafür nur zwei Beispiele.140 Trotz aller Beteuerungen steht hier keine Möglichkeit mehr zur Wahl. Dies aber widerspricht dem Betrug (Mangel) der Schrift, deren Indirektheit umso stärker weggeredet wird: „Dich anzusprechen, Dich auf jede Weise fühlen zu lassen, daß Du der Angesprochene bist.” (Entweder…oder, 722) Die vermeintliche Direktheit der An-Sprache gipfelt in einer Hymne, dem Lobgesang Gottes, die den „Augenblick der Wahl” vom Himmel auf die Erde zurückholt:
139 Vgl. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 72. 140 Vgl. J. Caron, Angoisse et Communication chez Kierkegaard, S. 216.
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POST–ADRESSEN „Wenn da um einen her alles still geworden, feierlich zugleich in einer sternklaren Nacht, wenn die Seele allein ist in der ganzen Welt, da zeigt sich vor ihr nicht ein ausgezeichneter Mensch, sondern die ewige Macht selbst, da tut gleichsam der Himmel sich auf, und das Ich wählt sich selbst, oder richtiger, es empfängt sich selbst.” (Entweder…oder, 728)
Die himmlische Vision des Selbst-Werdens überführt sich am Ende mit der Einschränkung: „Zwar wird der Mensch damit kein anderer als er zuvor gewesen, aber er wird er selbst”. B wird dies im Verlauf seiner Argumentation noch deutlicher ausdrücken, wenn es um das inhaltsleere Gebet des Mystikers geht: „Je mehr er kontempliert, desto deutlicher spiegelt dieses Bild [das verlorene Gottesbild] sich in ihm, desto mehr ähnelt er schließlich selbst dem Bild.” (Entweder…oder, 806) Je „erotischer” und „entflammter” sich die Adressierung in Liebesbrief und Gebet ihrem Objekt verschreibt, desto deutlicher konturiert sich das Phantasmatische der Rede. B’s Ausführungen spinnen weder die naive Aufforderung zum „unterhaltenden” Dialog noch die bestrickende Verführungskunst des Tagebuchs weiter. Die persönliche An-Schrift des Freundes steht im offenen Widerspruch zum Befehl, als „Depositum” empfangen werden zu wollen: „Ich möchte Dich daher bitten, keine dieser Waagen zu benutzen, die der Post nicht, denn Du empfängst ihn nicht zur Weiterbeförderung, sondern als Depositum” (Entweder…oder, 526). B’s Tätigkeit als Geheimrat bewahrt vor der Illusion, daß die massenhafte Verbreitung eines streng vertraulichen Schriftstücks, die Gewichtung seines materiellen Wertes an staatlich zensierter Beförderung vorbeikommen könnte.141 Im nüchternen Licht der Amtsstuben besehen präsentiert sich die briefliche Beschwörung, betitelt als „Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit”, wie ein gesetzeskräftiges Mandat, das „auf dem Weg [der] Boten-Übertragung verschiedene Stadien” durchläuft. Eingebunden in einen Befehlsfluss, berichtet das Mandat über das ihm zu Eigene gemachte Genre, d.h. über seine performative Funktion „als konsekutive Befehlskette”. Im eigentlichen Vorgang der Übertragung entscheidet allein Aktualität und Aktualisierung, die Entgegennahme durch den zeitlich bedingten Empfänger, den „Freund”, dessen fiktionaler Charakter gewahrt werden muß. Erst das Zu-den-Akten-Nehmen, die Herausnahme aus der Adressierung, schafft historisch den „Fundus des Rechts in Dekreten und Edikten”142. B’s Hinweis auf die „Offizialität” seines Schreibens erklärt sich aus seiner pragmatischen Beamten-Perspektive, die Ethik als Norm in den Dienst der Rechtsprechung stellt. So erhält die di141 Zur Ersatzfunktion des bürgerlichen Selbst durch den Assessor Wilhelm, vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, in: K. Löwith, Sämtliche Schriften, Stuttgart 1988, S. 316. 142 C. Vismann, Akten, S. 80.
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rekte Adressierung – wie auch die abstrakte Verneinung – einen imperativen Zug. Der freundschaftliche Ton widerspricht der Ablage-Geste. Die Figur des angesprochenen Anderen wird virtuell in der Schwebe gehalten und teilt sich indirekt mit, um nicht polizeilicher Indiskretion anheim zu fallen. Der Virtualisierung wird gleichzeitig Vorschub geleistet und Einhalt geboten: Pseudonymie ja, Anonymität nein.143 Während Heideggers Figur des Anrufs hörige Nähe und ein riskantes, weil totalitäres „Sich-Sammeln” zur unheimlich-apersonalen Rede des Innern verordnet, ist für Kierkegaard das Problem der Adresse als eines der Selbstwahl aufgeworfen, die zum Sprung zwischen Angst und Freiheit ansetzt. Nicht nur daß die autobiographische Figur hinter Masken und Pseudonymen förmlich ansteckt, sie profiliert sich erst in der Entlarvung des angeführten Spuren-Lesers als dessen Objekt des Begehrens, für das er sich letztendlich ‚selbst’ – d.h. ohne den Segen geltender Moral – entscheiden muß. Das Dispositiv der brieflichen Adresse bietet dafür den fiktiv bleibenden Platz des „Freundes” an. Durch die De/Figurierung des Anderen, seine Virtualisierung, spricht sich der Text seine eigene Existenz zu, autorisiert sich. In der „Epoche der Post” wird der autoritäre Gewissensruf des Einzelnen der administrativen Adressierung des Allgemeinen überführt. Dagegen hält Kierkegaard den Versuch eines „ethischen Aktes der Selbstwahl”. Die Rede „an jenen Einzelnen” wendet sich tropisch ab und um, da der Ort, von dem aus gesprochen wird, den Volten einer kommunikativen, stets auch anders möglichen Selbstreferenz unterliegt. Stéphane Mallarmés materialisierte Schrift-Stücke, die sich schon in der Überschrift als sogenannte Gelegenheitsverse, Vers de circonstances, ausgeben, abstrahieren und theatralisieren den Akt einer individuellen Adressierung. Was geben persönliche Adressen der Öffentlichkeit preis? Wie reagiert Literatur auf Post? Was zeichnet das symbolische Dispositiv der Adresse als Gabe des Gedichts aus?
Virt uelles Post vergnügen (St éphane Mallarmé) Stéphane Mallarmés Vers de Circonstances (Gelegenheitspoesie) ruft in Erinnerung, daß Schrift an ihren materiellen Träger gebunden ist, von dem sie jedoch auch wieder abgelöst werden kann. Geschriebenes oder Gedrucktes findet seinen Ort in gebundenen Heften und Büchern, auf flüchtigen Zei-
143 Historisch liegen die Wurzeln der Pseudonymität in der Anonymität, wobei sich aus der Pseudonymität des Schriftwerks das Pseudonym des Autors erst allmählich mit der Identifizierung von Autor und Werk herausgeschält hat, vgl. Gerhart Söhn: Literaten hinter Masken. Eine Betrachtung über das Pseudonym in der Literatur, Berlin 1974, S. 17ff..
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tungs- oder Album-Blättern, abgesandten Briefumschlägen, von Hand zu Hand gehenden Visitenkarten oder auch als Schmuck koketter Accessoires wie Seiden- oder Plüschfächern,144 Taschentüchern, auf Papierrollen spiralförmiger Rohrpfeifen (mirlitons),145 Bonbonpapier oder vor Ort gefundenen Kieselsteinen und Gefäßen.146 Sie verraten einen merkwürdig hartnäckigen Fetischismus. Verbirgt sich hinter dieser „Obsession des materiellen Trägers die Suche nach einer soliden Grundlage für die Arbeit des Imaginären”147? Mallarmés oft zitierter Satz, daß alles in der Welt nur existiere, um in ein Buch einzugehen,148 würde dann sogar für die benutzten Schreibunterlagen zutreffen. Geht man wie Jacques Scherer davon aus, daß Mallarmés berühmtes Buch (le Livre) Ausdruck eines realen und nur angesichts biographischer Umstände unvollendeten Vorhabens ist,149 so disqualifizieren sich die Vers de circonstances als andere, beiläufige Seite des eigentlichen Werkes, als Neben- oder gar Abfallprodukt.150 Demnach hätten sich die gefälligen Vers de Circonstances im Gegensatz zum erträumten Livre nicht von ihrem spielerischen Gegenstand, ihrem Zufall oder Umstand befreien können. Eine Bewertung, welche offensichtlich auch von Herausgebern deutschsprachiger Mallarmé-Ausgaben geteilt wird. Die Vers de Circonstances warten immer noch auf Übersetzung und Aufnahme.151 Gegen diese Aufrechnung von großer, 144 Vgl. Stéphane Mallarmé: Eventails, in: S. Mallarmé, Œuvres complètes, Henri Mondor (Hg.), Paris 1945, S. 107ff.. Künftig im laufenden Text zitiert als (M,107ff). 145 Vgl. M,170-175: Autour d’un mirliton. 146 Vgl. M,172: Sur des galets d’Honfleur und M,175-176: Sur des cruches de Calvados. 147 Jean-Pierre Richard: L’Univers imaginaire de Mallarmé, Paris 1961, S. 345. 148 Stéphane Mallarmé: „Le Livre. Instrument spirituel”, in: M,378: „[…] que tout, au monde, existe pour aboutir à un livre.” Dt. Übersetzungen: „Das Buch, geistiges Instrument”, in: Stéphane Mallarmé, Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, übers. v. Gerhard Goebel, Gerlingen 1998, S. 255. Und „Das Buch, Instrument des Geistes”, in: Stéphane Mallarmé: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Aussprache, übers. v. Carl Fischer, München 2 2000, S. 299. Aus den in Anm. 151 genannten Gründen wird im folgenden die Übersetzung von Goebel zitiert. 149 Vgl. Jacques Scherer: Le „Livre” de Mallarmé, Paris 1977, S. 17. 150 Vgl. Jacques-B. Bouchard: „L’enveloppe et le quatrain”, in: Jean-Pierre Vidal (Hg.), Mallarmé. Inscription, Marges, Foisonnement, 22/1, 1989, S. 37-44. Dagegen Jean Royère: Mallarmé, Paris 1927, S. 98: „A vrai dire tout ce que Mallarmé a écrit mérite le qualificatif d’œuvres de circonstances.” 151 Vgl. Hans Therre: Stéphane Mallarmé, München 1998, S. 7: „Der editorische Stand seiner Werke ist trostlos. Es gibt eine einzige Übersetzung der Sämtlichen Dichtungen in einer dürftig kommentierten zweisprachigen Ausgabe, die nicht mehr als eine Auswahl der Werke Mallarmés ist und deren Übersetzung durch Carl Fischer zwischen ornamentösen Jugenstil und einem in schauerliche lyrische Höhen hochgeschraubten Stefan-George-Ton schwankt. Daneben gibt es einige Übersetzer, die sich offenbar je nach Erfordernissen des Augenblicks einige Werkbrocken herausgeklaubt haben und mit dieser eklektischen Manier den Zugang zu dem selbst in Frankreich als äußerst schwierig, dunkel und hermetisch geltenden Dichter, zu deren Sprachmagie und seinem geistigen Raffinement nicht bahnen, sondern verbauen. Die Briefe des
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bedeutender und kleiner, zufälliger Dichtung spricht aber eine nicht zu übersehende Theatralisierung, in der Mallarmés Buch selbst, le Livre, eine figurative Rolle spielt. Kierkegaards ironische Adressierungen konfrontieren mit einem „Akt der Selbstwahl”. Die sich wiederholenden Herausgeberfiktionen und Vorworte in Entweder…oder spornen zur detektivischen Suche nach autobiographischen Spuren an, sie sind das „Inzitatement” des Lesers im Tagebuch, das sich im selben Moment als Verführung und Illusion entpuppt. In Mallarmés Sammlung Loisirs de la Poste (Postvergnügen), die zu den Vers de Circonstances gehört, verhält es sich genau umgekehrt. „Der Text setzt ein im Unbestimmten und Allgemeinen”, schreibt Hugo Friedrich über Mallarmé, „sofern es sich um Dinge handelt. Präzis aber sind die Bewegungsarten, die zudem das Ding selbst in sich einbeziehen, indem sie eine statische Linie in einen ‚Absprung’ verwandeln.”152 Das „Ding selbst”, das sich in einen Absprung verwandelt, ist in Loisirs de la Poste der Briefumschlag. Er stellt die Fläche für Abschriften von Adressen-Vierzeilern zur Verfügung. Namen und Anschriften künstlerischer Zeitgenossen sind auf einzelnen Umschlägen verewigt. Mallarmés theatralisierte Post-Sendungen benötigen keine Pseudonyme. Sie spielen vielmehr bekannte Namen von Zeitgenossen einschließlich ihres Autors aus, deren persönliche Adressen der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Da mit einer solchen Transparenz jedoch nichts gewonnen ist – man erfährt wenig über die Namensträger, außer daß sie tatsächlich eine Post-Adresse besitzen, an die sich die Briefumschläge richten –, stellt das Postvergnügen den Akt der Adressierung selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Barthes scriptor, der das Grab des Autors schaufelt, findet in diesen „lessons of rhetoric” zu einer Bestätigung.153 Die Konvention einer postalischen Adresse ist mit dem Moment einer Zustellung erfüllt. Als literarische, ins Buch eingegangene Fiktion spielt sie sich zum zweiten Mal auf einer anderen Textbühne ab, deren Reinszenierungen das Publikum gekonnt auf die Probe stellen: „Très tôt Mallarmé avait d’ailleurs découvert que toute littérature est adressée: les années passant, il changera seulement cette adresse, l’élargissant d’un petit groupe d’initiés à la dimension d’une foule anonyme, et s’il se peut aussi, unanime. C’est bien pourquoi le théâtre ne cessera de le tenter: le public y est présent,
Dichters, die am ehesten den Zugang zur poetischen Gedankenwelt Mallarmés bieten und in Frankreich in zehn Bänden erschienen sind, gibt es in Deutschland nicht einmal in einer Auswahl.” 152 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956, S. 79. 153 Vgl. R. Barthes, „The death of the author”, S. 147. Barthes nennt Mallarmé einen der ersten Schriftsteller in Frankreich, der die Performativität von Sprache beim Wort genommen habe: „language acts, ‚performs’ and not ‚me’.”
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POST–ADRESSEN vérifiable, concrètement éprouvé chaque soir par l’auteur qui lui confie son texte.”
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Diesen Wechsel von der Adressierung an eine kleine Gruppe Initiierter zu einem anonym bleibenden und doch präsenten Theaterpublikum vollzieht Mallarmé erstaunlich bündig in Loisirs de la Poste. Bereits in dem kurzen Text Autobiographie, an den Dichterfreund Verlaine adressiert, wird über den Informationswert einer privaten Adresse nachgedacht. Angaben wie Geburtsdatum und Post-Adresse sind eine Identitätsbezeugung, sie besagen aber nicht viel: „Oui, né à Paris, le 18 Mars 1842, dans la rue appelée aujourd’hui passage Laferrière.” (M,661)155 Das Genre der Autobiographie – Verlaine hatte den Kollegen um einige biographische Details gebeten – wird hier offensichtlich mit einer amtlichen Mitteilung verwechselt, die in einem Akt der Travestie der literarischen Szene und ihren öffentlichen Bühnen übergeben wird. Statt für die Fiktion durch die ‚Authentizität‘ eines Bekenntnisses einzustehen, antwortet Mallarmé mit einer förmlichen Visitenkarte, die einer Einladung gleichkommt.156 Äußert sich hier eine Geste der Selbstironie, die sich über das eigene Begehren, am literarischen Leben teilzunehmen, lustig macht? Schon Kierkegaards Figur des selbstvergessenen Weltaufklärers agiert „wie jener Hofrat, der in einem solchen Grade damit beschäftigt war, seine Visitenkarte bei Krethi und Plethi abzulegen, daß er darüber am Ende seinen eigenen Namen vergaß”157. Dieses Vergessen des eigenen Namens steht bei Mallarmé auf dem Programm. Über das ganze Werk verteilt rufen Gestalten der Onomastik und Anonymität zur Entzifferung auf.158
154 J.-P. Richard, L’Univers imaginaire de Mallarmé, S. 350. [Übers. v. Verf.]: „Sehr früh hatte Mallarmé entdeckt, daß sich alle Literatur adressiert: mit den Jahren wird er nur diese Adresse ändern, indem er sie von einer kleinen Gruppe Initiierter ausweitet auf die Dimension einer anonymen und wenn möglich auch einstimmigen Menge. Aus diesem Grund wird er sch mmer wieder am Theater versuchen: das Publikum ist dort immer präsent, verifizierbar, jeden Abend konkret auf die Probe gestellt vom Autor, der ihm seinen Text anvertraut.” 155 Autobiographie ist ebenso wie Loisirs de la Poste nicht in den beiden zitierten Ausgaben enthalten. [Übers. v. Verf.]: „Ja, in Paris geboren, am 18. März 1842, in der Straße, die heute Passage Laferrière heißt.” 156 Vincent Kaufmann: Le livre et ses adresses. Mallarmé, Ponge, Valéry, Blanchot, Paris 1986, S. 27: „[…] c’est en effet Verlaine qui lui avait demandé quelques détails biographiques en vue d’une notice qu’il voulait lui consacrer dans le cadre d’une série d’études sur ses contemporains. La réponse qui lui est faite consiste, si l’on veut, à décliner cette demande de biographie tout en honorant symboliquement la commande; en laissant ses coordonnées, comme on le fait avec une carte de visite.” Vgl. auch Vincent Kaufmann: „De l’interlocution à l’adresse”, in: Poétique, 46/4, 1981, S. 171-182. 157 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 61. 158 Vgl. Michael Temple: The Name of the Poet. Onomastics and Anonymity in the Works of Stéphane Mallarmé, Exeter 1995.
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Die Vision einer spektakulären Ausstellung des virtuelles Buches und seiner „Fragmente des Ausgeführten” faßt jedoch nicht etwa die Vollendung eines berühmten Werkes ins Auge, sondern sie reflektiert überhaupt erst einmal die Möglichkeit seiner Ausführung – und zwar in der Inszenierung des Buches oder des beschriebenen „Dinges selbst”. Im Traum erscheint seine Inszenierung als „glorreiche Authentizität”, die sich auf einem öffentlichen Platz zum Glitzern bringt. Das fragmentarisch existierende, veröffentlichte Werk macht auf seinen nicht geschriebenen Rest aufmerksam. „Voilà l’aveu de mon vice, mis à nu, cher ami, que mille fois j’ai rejeté, l’esprit meurtri ou las, mais cela me possède et je réussirai peut-être; non pas à faire cet ouvrage dans son ensemble (il faudrait être je ne sais qui pour cela!) mais à en montrer un fragment d’exécuté, à en faire scintiller par une place l’authenticité glorieuse, en indiquant le reste tout entier auquel ne suffit pas une vie. Prouver par les portions faites que ce livre existe, et que j’ai connu ce que je n’aurai pu accomplir.” (M,663)
159
Der Horizont des „Buches” zeichnet sich in einem offen-beendeten, öffentlich-privaten Begriff von einem Werk ab, das, weil es sich über den Tod des poetischen Subjekts hinwegsetzen muß, seine zeitliche Konditionierung miteingedenkt: „L’œuvre pure implique la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité mobilisés” (M,366)160. Der Werkbegriff ist an das „kunstvoll beredte Verschwinden des Poeten” gebunden. Der Poet tritt die Initiative an die Wörter ab.161 Sie sind „durch Schock ihrer Ungleichheit in Bewegung versetzt”. In wiederholten Aufführungen stellt sich das Werk immer wieder neu seinem Publikum, es adressiert sich durch seine Möglichkeit zur „Re-Performanz”162. Statt Reali-
159 [Übers. v. Verf.]: „Hier also das Geständnis meines Lasters, entblößt, lieber Freund, das ich tausendmal verwundeten oder überdrüssigen Geistes wiederholt habe, aber es läßt mich nicht los und es wird mir vielleicht gelingen; nicht das Werk in seiner Gesamtheit zu vollenden (dazu müßte man ich-weiß-nichtwer sein!) aber daraus ein Fragment des Ausgeführten zu zeigen, die glorreiche Authentizität auf einem Platz zum Glitzern zu bringen, indem man auf den Rest des Ganzen hinweist, für das ein Leben nicht ausreicht. Durch fertiggestellte Portionen beweisen, daß dieses Buch existiert und daß ich das gekannt habe, was ich nicht zu vollenden vermochte.” 160 Vgl. S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 225: „Das reine Werk impliziert das kunstvoll beredte Verschwinden des Poeten, der die Initiative an die Wörter abtritt, die durch Schock ihrer Ungleichheit in Bewegung versetzt sind”. 161 Dies weist auf die Verbindung Mallarmés zum russischen Symbolismus, auf dessen Buchstabenligaturen und Arabeskenskripturen hier nicht näher eingeangen werden kann, vgl. dazu E. Greber, Textile Texte, S. 366. 162 Kevin Newmark: „Beneath the Lace: Mallarmé, the State, and the Foundation of Letters”, in: Yale French Studies, 77, 1990, S. 243-275, hier S. 262. Mallarmé betont die Zerstreuung des leeren Schreib-Aktes (M,481: „comme pour disperser l’acte vide”) und die gleichzeitige Hervorbringung und Verschleie-
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sierung einzuklagen erscheint die Virtualisierung des Livre nun vielmehr als notwendige und unwiderrufliche Bedingung für seine ‚Existenz’.163 Die neuere Mallarmé-Forschung hat darum nicht nur das traditionelle Bild vom weltabgewandten Symbolisten widerrufen, sondern auch den performativen Aspekt der Vers de Circonstances betont.164 Das virtuelle Buch wartet nicht auf die „Praxis einer genuin kollektiven Veranstaltung”165, sondern antizipiert und re-präsentiert diese Veranstaltung in der Theatralität des Textes selbst. Das Wort ‚virtuell’ tritt häufig als Beiwort einer anderen, noch einzulösenden Realität auf. ‚Virtuell’ meint aber zunächst nichts anderes als die Existenz einer Kraft (Macht, Vermögen, Möglichkeit). Virtualität und Aktualität schließen sich nicht aus sondern sind zwei verschiedene Modi ein- und derselben „Realität”166. Gegenwärtigkeit ist virtuelle Präsenz, die „Vorgängigkeit einer Vergangenheit”167. Mallarmés virtuelles Livre exponiert sich daher nicht als eine zuende-, sondern als eine vorgedachte Möglichkeit. Das Livre existiert bereits dank einer virtuellen Zuschauermenge. Das Spektakel „von SICH SELBST” setzt sich auf einer virtuellen Bühne „den Augen aller” aus: „Quant au Livre. […] Écrire – en l’ordre réel […] un Lieu se présente, scène, majoration devant tous du spectacle de Soi” (M,369f.).168 Wie Kierkegaard wendet auch Mallarmé sich gegen die Ungeschicklichkeit (Mal-Adresse), allgemeine und individuelle Adresse zu verwechseln. Indem sowohl Kierkegaard und Mallarmé die Verwechslung zum Thema machen, entlarven sie die Blindheit der Sprache gegenüber sich selbst. Die Aufforderung zur „Steigerung vor Allen des Schauspiels von SICH SELBST” zielt nicht etwa auf eine rung von Schrift (M,481: „Un à un, chacun de nos orgueils, les susciter, dans leur antériorité et voir.”). 163 Kaufmann, livre, hier S. 22f.. Vgl. auch Richard, L’univers imaginaire, S. 320: „Mallarmé fut, on le sait, un grand artiste du virtuel.” 164 Vgl. Barbara Johnson: „Poetry and Performative Language”, in: Yale French Studies, 54, 1977, S. 140-158. Evelyn Gould: Virtual theater from Diderot to Mallarmé, Baltimore 1989. Marian Zwerling Sugano: The Poetics of the Occasion. Mallarmé and the Poetry of Circumstance, Stanford 1992. Mary Lewis Shaw: Performance in the Texts of Mallarmé. The Passage from Art to Ritual, Pennsylvania 1993. Ferner Liliane Welch/Cyril Welch: Address: Rimbaud – Mallarmé – Butor, Columbia 1979. 165 Gerald Wildgruber: „Von der Vorstellung des Theaters zur Theorie des Textes. Zur Reflexion von Theater und Text zwischen Mallarmé und Derrida”, in: Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.), Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg 2000, S. 113144. Für Wildgruber ist Mallarmés Virtualität Zeichen einer Utopie, die sich erst in den Notizen zum Livre „in streng ritualisierter Form” und „im Wechsel genau aufeinander bezogener, halböffentlicher Séancen mitgeteilt hätte”. 166 Vgl. Pierre Lévy: Cyberculture, Paris 1997, S. 55. 167 Mike Sandbothe: „Zeit und Medien. Postmoderne Medientheorien im Spannungsfeld von Heideggers Sein und Zeit”, in: Medien & Zeit, 2/1993, S. 1420, hier S. 18. 168 Vgl. S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 233f.: „Das Buch betreffend […] Schreiben – […] in der Wirklichkeit […] bietet ein Ort sich dar, Bühne, Steigerung vor Allen des Spektakels von SICH SELBST.”
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autobiographische Komplizenschaft eines einzelnen Autors mit seinem Leser, das Buch legt im Gegenteil seine „Entpersönlichung” bloß und legt dadurch seine Autonomie offen. Es befreit sich von Instanzen wie Autor und Leser: „Impersonnifié, le volume, autant qu’on s’en sépare comme auteur, ne réclame approche de son lecteur.” ( M,372)169 Mallarmé erhebt Anklage gegen „den notorisch gelehrsamkeitsversessenen Geschmack einer Epoche”, die ihre philosophischen Erkenntnisse – den cartesianischen discours de la méthode und die damit verbundene allgemeine Adressierung – nicht für die bildenden Künste wie das Theater zu nutzen versteht. Trotz „ihres dazu bereiten, disputierwütigen und unparteiischen Charakters” vermag es der gebildete „Geschmack einer Epoche” nicht, „dem abstrakten Typus Leben zu verleihen”170. Mallarmés Devise könnte im Kontrast zu Kierkegaard lauten: Pseudonymität nein, Anonymität ja und zwar paradoxerweise durch die Offenlegung von Eigenname und Adresse. Mallarmé schreibt seine „Adressen”, wie er die numerierten Vierzeiler der Loisirs de la Poste zuerst betitelt hatte, auf leere Briefumschläge. Abschriften der kurzen Vierzeiler trägt er in ein namentlich unterschriebenes Heft „aus rotem Leder” ein. Übrig bleibt der lesbare Rest einer Sendung im Buch, dessen Absender keine Mühen und Kosten für eine ‚wirkliche’ Verschickung gescheut hatte. Einmal ausgetragen, verliert der adressierte Umschlag seine eigentliche Bedeutung. Als überholtes Accessoire landet er in den meisten Fällen im Papierkorb. Seine Anschrift entspricht der performativen Gruß-Geste, dem stummen Händedruck, mit der auch der bereits erwähnte Text Autobiographie den Abschied vom Freund einreicht: „Au revoir, cher Verlaine. Votre main.” (M,665) Oder auch einem von Hand zu Hand gereichten Geldstück: „Narrer, enseigner, même décrire, cela va et encore qu’à chacun suffirait peutêtre, pour échanger la pensée humaine, de prendre ou de mettre dans la main d’autrui en silence une pièce de monnaie, l’emploi élémentaire du discours dessert
169 Vgl. S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 239f.: „Entpersönlicht fordert der Band, ebenso wie man sich von ihm als Autor trennt, keine Leserannäherung.” 170 Vgl. M,319: „Statuaire égale à l’interne opération par exemple de Descartes et si le treteau significatif d’alors avec l’unité de personnage, n’en profita, joignant les planches et la philosophie, il faut accuser le goût notoirement érudit d’une époque retenue d’inventer malgré sa nature prête, dissertatrice et neutre, à vivifier le type abstrait.” Vgl. S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 204 [veränderte Übers.]: „Bildhauerei, die dem innerseelischen Verfahren zum Beispiel von Descartes gleicht. Und wenn die zeichenmächtige Bühne von damals, mit der Einheit der Person, davon nicht profitierte, indem sie Bühne und Philosophie verbunden hätte, muß man hierfür den notorisch gelehrsamkeitsversessenen Geschmack einer Epoche verantwortlich machen, die trotz ihres dazu bereiten, disputierwütigen und unparteiischen Charakters sich vor der Erfindung scheute, dem abstrakten Typus Leben zu verleihen.”
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POST–ADRESSEN l’universel reportage dont, la Littérature exceptée, participe tout entre les genres d’écrits contemporains.” (M,857)
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Die Gegenwartsbezogenheit der „universelle[n] Übertragung/reportage”, ein informationstechnischer Bereich der Presse, welcher von Mallarmé ausdrücklich als „Anleitung zu einer neuen unpersönlichen Dichtung der Andeutung und Implikation” verstanden wird,172 gleicht der Szene eines Devisentausches. Die bare Münze kann in einer stillschweigenden Übereinkunft getauscht werden, weil ihr Gebrauch auf einer „gegenseitigen Erkennung der Initiierten” beruht:173 Auch für Jacques Lacan dient „das Sprechen in seiner extremsten Abnutzung” als Beweis dafür, daß in der psychoanalytischen Kur Übertragung stattfindet, unter der Bedingung, daß der Analytiker seine Rolle des großen Anderen spielt. Jacques Derrida geht mit seiner Figur der „Gabe ohne Gegenwart” noch weiter. Für Derrida ist die Gabe Differenz einer rein symbolischen Zirkulation, die nicht in der Rückgabe einer Mitteilung aufgeht. Der Moment der Gabe ist selbst undarstellbar. Er differiert zeitlich, gibt nichts außer Zeit und kann nach Derrida deshalb auch nicht ankommen. Aus „literarischer Perspektive” stellt sich die alte Frage, ob ein Brief tatsächlich seinen Absender antrifft oder nicht, schließlich nur noch bedingt.174 Literatur bewegt sich in einem Zwischenraum. Als „Gabe ohne Gegenwart” weist sie in Mallarmés „Freisetzung des inneren Lebens der Dinge”175 eine Bestätigung durch den Leser weit von sich. Sie verbleibt im inter-esse, im „Dabei-, Dazwischensein, In-der-Mitte-sein”176, ein Zustand, der auch Kierkegaards romantischen Verführertyp auszeichnet. Die Szene des Devisentausches weckt die Erwartung, den „wesentlichen Gebrauch des Diskurses […] die Literatur ausgenommen” zu erklären. Daß aber selbst der Devisentausch, das „Sprechen in seiner extremsten Abnutzung”, keine Garantie für Eindeutigkeit bietet, gibt Kierkegaard zu bedenken: „Das Wort Alteration drückt recht gut die Zweideutigkeit aus. Man sagt nämlich alterieren in der Bedeutung von verändern, verdrehen, aus einem ursprünglichen
171 [Übers. v. Verf.]: „Erzählen, lehren, sogar beschreiben, das geht und würde vielleicht sogar für jeden ausreichen, um einen menschlichen Gedanken auszutauschen, aus der Hand des anderen stillschweigend ein Geldstück zu nehmen oder es in sie zu legen, der wesentliche Gebrauch des Diskurses dient der universellen Übertragung (reportage), an der alles, die Literatur ausgenommen, zwischen den Genres der zeitgenössischen Schriften teilnimmt.” 172 Herbert Marshall McLuhan: „Joyce, Mallarmé und die Presse”, in: H. M. McLuhan, Die innere Landschaft. Literarische Essays, Eugene McNamara (Hg.), Düsseldorf 1974, S. 21-39, hier S. 29. 173 Vgl. J. Lacan, Ecrits, S. 251; vgl. auch J. Lacan, Schriften I, S. 89. 174 J. Derrida, Falschgeld, S. 195. 175 H. M. McLuhan, „Joyce, Mallarmé”, S. 28f.. 176 W. Rehm, Kierkegaard und der Verführer, S. 122.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL Zustand bringen (das Ding wird ein Anderes), […]. Der Franzose sagt altérer les Monnaies”
177
.
In Kierkegaards Tagebuch des Verführers ist der Moment der Alteration, der Veränderung und Verdrehung der Bedeutung, im Eigennamen Cordelias aufgehoben: Das Wort ‚Kordel’ ruft die metapoetische Sirenen-Metaphorik des Webens, Flechtens, Verschlingens in Erinnerung. Die Zeitlichkeit des Tausches trifft auch auf die metaphorische Kraft der Wörter zu. Sie schiebt den Empfang bis ins Unabgeschlossene auf. Literatur markiert den Wartezustand einer (theatralischen) Re-Inszenierung, die ein zum wiederholten Male gespieltes Stück immer wieder an Bedeutung überholt.178 Mallarmés stille Post der leeren Umschläge setzt Eigennamen und Absender in ein postalisches Schickungsverhältnis, das in der Literatur übertroffen wird. Die ins Buch aufgenommenen Adressen-Vierzeiler warten immer noch darauf, (auf-) gelesen zu werden. Die individuelle Adressierung aber wird der Post überlassen. Ihre Verschickung hinter sich lassend, bewahren die Vers de Circonstances die Ränder und Spuren einer Adressierung auf. Wie die Visitenkarte schafft ein adressierter Umschlag zugleich Nähe und Distanz. Indem er das abwesende Subjekt vertritt, re-präsentiert, dokumentiert er mögliche Verbindungen: „Exzeß eines Signifikanten, der, in seinem Innern, den Raum supplementiert und die Ouvertüre wiederholt.”179 Die Begegnung des Textes mit seinem Anderen kann sich dank Konvention jederzeit mit anderen Adressaten wiederholen. Ein Ende der Sendung ist weder postalisch noch literarisch abzusehen. Die umwegige, nicht mehr ökonomische Zirkulation, die durch die Adresse über die Lokalisierung eines Empfängers hinaus scheinbar zufällig und doch notwendigerweise (Kierkegaards „Anlaß”) veranlaßt wird, impliziert die Anwesenheit einer Öffentlichkeit: „Steigerung vor Allen des Spektakels von SICH SELBST”. Eine stillschweigende Übereinkunft steht für ein Geheimnis ein, das nicht weitergesagt werden darf. Als Geheimnis kann es jedoch nur existieren, wenn es dafür einen Dritten, einen Zeugen gibt. 1894 erschien in der Revue The Chap Book zum ersten Mal ein Teil der Adressen-Vierzeiler mit einem Vorwort. Fiktive Herausgeber (unterzeichnet „les Editeurs”) erklären dort das ganze Vorhaben.
177 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 71. 178 Vgl. J. Derrida, Falschgeld, S. 58: „Angetrieben von einer mysteriösen Kraft, verlangt das Ding nach der Gabe und der Rückgabe, es erfordert folglich die ‚Zeit’, den ‚Termin’, den ‚Aufschub’ oder das ‚Intervall’ des Temporierens […], kurz das Ding fordert die Belebung [animation] einer neutralen und homogenen Zeit durch das Begehren der Gabe und der Rückgabe.” 179 J. Derrida, „La double séance”, S. 265: „c’est l’excès d’un signifiant, qui, en son dedans, supplée l’espace et répète l’ouverture. Le livre alors n’est plus la réparation mais la répétition de l’espacement, de ce qui s’y joue, s’y perd, s’y gagne.”
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POST–ADRESSEN „Cette petite publication, tout à l’honneur de la Poste. Aucune des adresses en vers collationnées ici n’a manqué son destinataire. Puis elle aidera à l’initiative de personnes qui pour leur compte voudraient s’adonner au même jeu. Avec zèle nous avons remis la main peu à peu sur l’ensemble de ces poèmes spéciaux et brefs que l’auteur espéra perdus. M. Stéphane Mallarmé en autorise l’impression, mentionnant que l’idée lui vint à cause d’un rapport évident entre le format ordinaire des enveloppes et la disposition d’un quatrain et qu’il fit cela par pur sentiment esthétique. Aussi rien n’a été épargné pour la présentation de ces riens précieux. On y trouve, avec l’amusement propre à un poète, le joyau typographique parisien du goût le plus rare.” (M,1503)
180
Die „Veröffentlichung ganz zu Ehren der Post” soll eine Garantie dafür bieten, daß keiner der Verse ihren destinateur verfehlt hat. Ein adressierter Umschlag ist ein Befehl zur Zustellung. Was für eine Bedeutung erhält er in der Literatur? Die Charakterisierung der Verse als „kollationierte” unterstreicht den ironischen Tonfall. „Kollation” kommt aus dem lateinischen und heißt ‚zusammentragen’. Dies kann sich auf den Bogen eines Buches beziehen, den Vergleich zwischen Ab- und Urschrift meinen, eine leichte Abendmahlzeit an Fastentagen, leichte Zwischenmahlzeit oder auch den Ausgleich zwischen Erben, wenn einer (oder mehrere) von ihnen schon vor dem Tod des Erblassers Zuwendungen erhalten hat. Die im Buch aufgefangene, spielerische Drucksendung scheint also nicht ganz so verdaulich zu sein, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Emile Benveniste bezeichnet eine Äußerung dann als performativen Akt, wenn sie den Vollzug benennt, den sie tut.181 Hier stellt die suggestive Aufforderung, sich dem Postvergnügen anzuschließen, die Spielregeln der re-performance auf. Wie sehen diese genau aus?
180 [Übers. v. Verf.]: „Diese kleine Veröffentlichung ganz zu Ehren der Post. Keine der Adressen der kollationierten Verse hier hat ihren Empfänger verfehlt. Zudem wird sie der Initiative der Personen helfen, die sich nun ihrerseits dem gleichen Spiel hingeben wollen. Mit Eifer haben wir nach und nach wieder Hand angelegt an das Ensemble der besonderen und kurzen Gedichte, die der Autor verloren glaubte. Monsieur Stéphane Mallarmé gestattet es, davon eine Druckfassung anzufertigen, während er angibt [mentionner meint auch eine Adresse auf einem Brief angeben], daß er aufgrund einer eindeutigen Beziehung zwischen dem gewöhnlichen Format der Umschläge und der Anordnung eines Vierzeilers auf die Idee gekommen sei und aus einem rein ästhetischen Gefühl gehandelt habe. Im übrigen wurde nichts für die Repräsentation dieser wertvollen Nichtigkeiten ausgelassen. Man findet dort, mit dem für einen Dichter typischen Amusement, das pariserische typographische Kleinod seltensten Geschmacks.” 181 Vgl. Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 274.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
„Nommer un object, c’est supprimer les trois quarts de la jouissance du poëme qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve.”(M,869)182 Im Gedicht wie im Traum ist die Suggestion eines Dinges mit einer Sorgfalt gegenüber den Details verbunden. Im Aufsatz Ballets (1891) nennt Mallarmé diese imaginäre Suggestion „Körperschrift”. Sie findet in der Tänzerin zu einer Figur, weil diese sich idealerweise „von allem Rüstzeug des Schreibers” losgelöst hat.183 Die Tänzerin erinnert an ihre andere, vergessene Bedeutung: „Über einen schottischen Dialekt ist das Wort als ‚glamour’ (zaubrisch) ins Neuenglische gekommen. ‚Glamour-girls’ sind, genau genommen, Grammatik-Mädchen.”184 Wie die Tänzerin und das Glamour-girl bedarf die Körperschrift des „virtuellen Buches” einer aktualisierten, zum Glitzern gebrachten Aufführung.185 Als reine Gabe befreit sie sich davon, etwas sein zu müssen. Die tänzerische Metamorphose sagt sich von allen Repräsentationszwängen los. Und so greifen die fiktiven Herausgeber dem Vorwurf einer Ästhetisierung, den eine solch ‚abstrakte’ Auffassung von Literatur auslösen könnte, bereits im Vorwort vor, wenn sie behaupten, daß „M. Stéphane Mallarmé” allein durch die „eindeutige Beziehung zwischen dem gewöhnlichen Format der Umschläge und der Anordnung eines Vierzeilers” auf die Idee zu den Loisirs de la Poste gekommen sei. Eine rein formale Nähe habe den eigentlichen „Anlaß” für die „aus einem rein ästhetischen Gefühl” entstandenen Vers de Circonstances gegeben. Anders als der Herausgeber in Entweder…oder, der fürchten muß, bei seiner heimlichen Lektüre überrascht zu werden, soll der Verfasser hier sogar namentlich die Drucklegung seiner Adressen autorisiert haben. Es gibt ja auch nichts zu vertuschen: Die privaten Namen und Adressen sind durch die Verschickung der Briefumschläge längst an die Öffentlichkeit weitergegeben.
182 [Übers. v. Verf.]: „Ein Ding benennen heißt dreiviertel des Genusses an einer Dichtung streichen; das Geniessen ist aus dem allmählichen Erraten gemacht: es zu suggerieren ist der ganze Traum.” 183 Vgl. M,304: „A savoir que la danseuse n’est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu’elle n’est pas une femme, mais une métaphore résumant un des aspects élémentaires de notre forme, glaive, coupe, fleur, etc., et qu’elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d’élans, avec une écriture corporelle ce qu’il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descriptive, pour exprimer, dans la rédaction: poëme dégagé de tout appareil du scribe.” S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 171: „Nämlich: daß die Tänzerin keine Frau ist, die tanzt, aus den miteinander verbundenen Gründen, daß sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, die einen der elementaren Aspekte unserer Gestalt, Schwert, Kelch, Blume, etc., in sich faßt, und daß sie nicht tanzt, sie suggeriert vielmehr, durch das Wunder von Raffungen und Schwüngen, mit einer Körperschrift etwas, wozu es ganzer Abschnitte dialoghafter wie auch beschreibender Prosa zu seinem schriftstellerischen Ausdruck bedürfte: Poem, losgelöst von allem Rüstzeug des Schreibers.” 184 W. Ong, Oralität und Literalität, S. 95. 185 Vgl. dazu auch E. Gould: Virtual theater from Diderot to Mallarmé, S. 7f..
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POST–ADRESSEN
Nach diesen Versicherungen fügen die Herausgeber noch weitere Informationen hinzu: Der plötzliche Tod des Poeten habe dieses Projekt abrupt beendet, das erst 20 Jahre später, durch seine Erben, fortgeführt werden konnte. Im Bemühen um mehr „Klarheit” habe man dem Risiko einer Ermüdung vorbeugen und den allzu schnellen Lauf der Lektüre durch einige Relais verhindern wollen. Die 81 Adressen treten in Formationen auf, in Berufsgruppen sortiert: Schriftsteller, Maler, Musiker, Ärzte, Freunde, Freundinnen und Verleger. Während die auf den Buchmarkt drängenden Schriftsteller mit 36 Vierzeilern zur größten Gruppe gehören, muß sich die letzte Gruppe mit nur fünf Beispielen begnügen. Die knapp gehaltenen Verleger-Adressen enden ironischerweise mit keiner anderen Adresse als „Monsieur Mallarmé” höchstpersönlich. Der Dichter hat sich offenbar aus dem mondänen städtischen Geschehen in die ländliche Einsamkeit zurückgezogen. „Monsieur Mallarmé. Le pervers A nous fuir pour les bois s’acharne Ma lettre, suis sa trace vers Valvins, par Avon, Seine-et-Marne.” (M,106)186
Da der Name des Autors gleich zu Anfang kurz und bündig auf den Punkt gebracht wird, erscheint die Wegstrecke der Übertragung schon zurückgelegt, bevor sich der Spuren-Leser an seine Verse heften kann. Die per/verse (per Vers, verdrehte) Rücksendung des Absenders an sich selbst („vers”) präsentiert sich im Zeilensprung nach der Spur („suis sa trace”) und vor der Ortsangabe („Valvins”). Sie zeichnet die Bewegung des über den genannten Ort hinaus eines sich wieder zurück zur ausgelegten Spur richtenden Verses als unabgeschlossen nach und betont zugleich die buchstäbliche Drehung und Windung des perversen (lat. pervertere – umdrehen) Verses.187 Kein autobiographischer Pakt ist in Aussicht gestellt. Wie Visitenkarte und Briefumschlag gibt sich das Gedicht als uneinholbare Gabe, Don du poëme – so ein
186 [Übers. v. Verf.]: „Herr Mallarmé. Der Perverse/ uns durch den Wald Flüchtende ist/ hinter meinem Brief her/ folge seiner Spur bis nach/ Valvins, an Avon vorbei, Seine-et-Marne.” In Valvins hatte Mallarmé ab 1876 eine Mietwohnung in einem kleinen Bauernhaus. 187 Zur Kombinatorik des Wortflechtens und Liedwebens, vgl. E. Greber, Textile Texte. Im Altslavischen/Russischen ist der Begriff ‚Wortflechten’ „eine echte Trope, eine rhetorische Drehung. Buchstäblich dem Winden entwunden.” (111). Diese autoreflexive Flechtmetaphorik erklärt sich in der russischen Literatur seit dem 13./14. Jahrhundert aus der Rezeption provenzalischer Trobadordichtung. Die höfische Minnekonzeption der ritterlich-weiblichen Textilarbeit wird dort in eine der Orthodoxie unterstellte „Textkultur” (S. 106) übersetzt. Zur Metaphorik des Webens und Flechtens, vgl. auch Kap. 4 (Kafka/Platon) und Kapitel 5 (Dante) dieser Arbeit. Dante Alighieri nimmt neben Petrarca die provenzalische Tradition des Wortflechtens wieder auf.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
anderer Titel. Die gemeinsame Sache der beschriebenen Dinge ist es, die Regel eines Systems reversibler Beziehungen explizit zu machen.188 Es gehört zur Konvention, daß zirkulierende Visitenkarten und abgesandte Briefumschläge einen Besuch oder ein Gespräch ersetzen. Seinen Schreibunterlagen täuschend ähnlich sehend übernimmt das Gedicht deren kybernetische (regelnd-direktive) Verbindung, nimmt sie als symbolische Geste zurück und in sich hinein. Zunächst nur als Kommentar anläßlich der Loisirs de la Poste entworfen, kommentiert der Vers sich bald in eigener Sache.189 Dadurch wird die Sendung nicht rückgängig gemacht, die der beschriebene Briefumschlag dokumentiert hatte. Doch seine (symbolische) Stelle besetzt jetzt das Gedicht. Es wiederholt nicht nur die Zirkulation der Gabe, sondern weist auf die Leer-Stelle, den Ersatz eines Gespräches oder einer Begegnung mit einer anonymen Leser-Adresse. Der durch den Wald flüchtende „Monsieur Mallarmé.” fordert ganz anders als Kierkegaards Vorworte und Tagebücher zu einer wiederholenden Spuren-Lese auf. Eine Wiederholung, so Kierkegaard, bringt in sich Differentes hervor. Sie trifft nicht an die gleiche Stelle, von der sie ausgegangen war. Das Lob „Es lebe das Posthorn!” heißt nach Mallarmé: „J’ai, sur ce mirliton rêveur/ Ma devise ‚Evans for ever’” (M,170).190 Was bei Kierkegaard nach Innen ruft und den Konflikt einer verzögerten Ausfahrt offenlegt, tritt in Mallarmés depersonalisiertem Schrift-Theater als „Not des Pfeifsignals” auf, die vom Reisenden „ähnlich, wie der Schrei der Weite” vernommen wird. Das Pfeifsignal ruft zur Durchquerung des Tunnels auf, mit der die Epoche lediglich als Übergangszeit ausgewiesen wird. Nur der Moment eines unterirdischen, „stillen Gedenkens” bleibt zurück: „Le souterrain durera, ô impatient, ton recueillement à préparer l’édifice de haut verre essuyé d’un vol de la Justice.” (M,372)191
188 Vgl. auch M. Z. Sugano, The Poetics of the Occasion. Mallarmé and the Poetry of Circumstance, S. 158. Dort zahlreiche Abbildungen von abgesandten Umschlägen der Sammlung Loisirs de la Poste oder von beschriebenen Visitenkarten und den spiralförmigen mirlitons, die in der Bibliothèque Littéraire Jacques Doucet aufbewahrt sind. Sugano sieht eine gewisse Ironie darin, daß Mallarmé ausgerechnet mit der Visitenkarte, die doch vor allem das Emblem des Dekors und der sozialen Gunstbezeugung ist, seine Entfremdung von der Gesellschaft markiert. Sie zitiert das ethnozentristische Vokabular eines zeitgenössischen Handbuchs, Sherwood, John: Manners and Social Usages (1884): „The card may well be noted as belonging only to a high order of developement. No monkey, no ‚missing link’, no Zulu, no savage, carries a card. It is the tool of civilization, its ‚fieldmark and device’ […] it cannot be dispensed with under our present environnement.” 189 V. Kaufmann, livre, S. 35. 190 [Übers. v. Verf.]: „Ich habe, auf diesem Träumer-Mirliton/ meine Devise ‚Evans for ever’.” 191 S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S.239: „Das Souterrain wird dauern, oh Ungeduldiger, so lange wie deine andächtige Vorbereitung auf das Bauwerk aus hohem, vom Flug der JUSTITIA reingewischtem Glas.”
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POST–ADRESSEN
Die Wahl des Umschlags, auf den die rückwendenden Verse geschrieben sind, regelt das Zirkulieren des Buchstaben/Briefes (lettre) nur einen Moment lang. Aufgehoben sind die Adressen in der Gabe des Gedichts. Auch wenn, wie die Herausgeber der Œuvres complètes betonen, einige Streichungen der Hand-Abschriften aus Mallarmés Nachlaß attestieren, daß über den Rahmen der Verschickung hinaus modifizierende Eingriffe durch den Verfasser vorgenommen wurden, so könnte doch eine eingehende Untersuchung der Differenzen zwischen Ur- und Abschrift (Kollation) dem Geheimnis einer ritualisierten Botschaft nicht näherrücken. Das Ende des Tunnels läßt zwar hoffen, dem klaustrophoben Bild der Selbstreferenz zu entkommen,192 aber eben ‚nur’ in der virtuellen Realität. Über die ‚Zufälligkeit’ der in Vers und Adresse gepreßten Mini-Porträts, jenseits einer epochalen, historischen Lokalisierung ihrer namentlichen Empfänger, zielt das Gedicht auf Bestätigung seines Ortes, eines öffentlichen Platzes, den es sich selbst als einem Anderen zuweist. Wenn die Wirksamkeit des Geschriebenen den Rahmen des Theaters nicht überschreiten kann,193 dann sind Stück, Autor, Epoche und Leser Phänomene des Übergangs, der (musikalischen) Transposition: „Le Livre […] ne réclame approche de son lecteur […] il a lieu tout seul: fait, étant.” (M,372)194 Mallarmés Distanznahme ist keine manieristische Ziererei, sie zieht sich vielmehr als notwendige Bedingung auf den ornamentalen Status der Verzierung zurück, der dem Genre Buch, Briefumschlag, Visitenkarte äußerlich ist und ihn bestimmt – verdrehte Bewegung einer postalisch-literarischen Bestimmung (destination), einer rückbezüglichen Bewegung, des sich umdrehenden Verses. Wer könnte für diese verdrehte, alterierende Randfigur besser Pate stehen als der postalische Bote, der sich um das Lesen verdient macht, weil er als Träger der Schrift handelt? Die Adressen-Vierzeiler singen ein ausdrückliches Loblied auf die Post und ihre Brief-Träger. Boten tragen Adressen aus. Erste Zeugen der Übertragung, rettende Engel, Vehikel (metaphorein) werden sie genauso apostrophiert wie die gute alte Post. Der namentliche Empfänger rückt dagegen demonstrativ in die stumme Kulisse zurück. Auszüge aus den Vierzeilern:
192 Vgl. Leo Bersani: The death of Stéphane Mallarmé, Cambridge 1982, S. 13. 193 Vgl. M,371: „Ainsi l’action, en le mode convenu, littéraire, ne transgresse pas le théâtre; s’y limite, à la représentation – immédiat évanouissement de l’écrit.” Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 237: „So überschreitet die HANDLUNG, im herkömmlichen, literarischen Modus, nicht das THEATER; begrenzt sich auf es, auf die Aufführung – unmittelbares Vergehen des Geschriebenen.” 194 S. Mallarmé, Kritische Schriften, übers. v. Goebel, S. 239f.: „”Das Buch […] fordert […] keine Leserannäherung… Als solche[s], […], findet […] [es] ganz allein statt.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Courez, les facteurs, […] […] hue! Poste et j’ajouterai: dia!” (M,81)
195
„Facteur, si tu vas où c’est Que rêve mon ami Verlaine
196
Va poste, tout crinière et bave Lui jetant un joyeux hi-han
197
Facteur, ralentis la marche Et jette ceci dedans.” (M,82)
198
„Va-t-en, messager, il n’importe Par le tram, le coche ou le bac” (M,83)199 „Tiens, Facteur, ce mot en la main” (M,97)200 „Facteur qui de l’État émanes Facteur, tends ce mot honorant” (M,99)201 „Poste, dont le soin diminue l’espace202 Lettre vole jusqu’où Brille le numéro cinquante” (M,100)203 „Ma lettre, ne t’arrête qu’à La main petite et familière” (M,101)204 „Vite facteur debout” (M,103)205
195 [Anm. 195-207: Übers. v. Verf.]: Eilt, Briefträger, […] hott! Post und ich möchte ergänzen hü! 196 Briefträger, wenn du hingehst wo mein Freund Verlaine träumt. 197 Geh schon Post, ganz Mähne und geifere/ wirf ihm ein fröhliches iah! Hin. 198 Briefträger, verlangsame deinen Lauf und wirf ihm dies hinein. 199 Geh fort, Bote, gleichviel ob per Tram, Kutsche oder Fähre. 200 Nimm, Briefträger, dieses Wort aus der Hand. 201 Briefträger, der vom Staat ausgeht Briefträger, halte dieses ehrende Wort. 202 Post, deren Sorgfalt den Raum kleiner werden läßt. 203 Brief flieg dorthin/ wo die Nummer fünfzig leuchtet. 204 Mein Brief, halte nur an in der kleinen und vertrauten Hand.
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POST–ADRESSEN „Cette adresse si mal écrite Porte ou je te mène au collet” (M,104)
206
„A toutes jambes, Facteur, chez l’ 207
Éditeur de la décadence” M,106)
Die „gute alte Postkutschenzeit, die es nie gab”208 gehört wie der Briefträger, der hier im Mittelpunkt steht und gegen den „dekadenten Verleger” antreten darf, zum Dekor eines Theaters, das die Realität seiner Figuren zum Glitzern bringt. Indem der Postbote Anfang und Ende einer virtuell bleibenden, selbst nicht mehr darstellbaren Übertragung markiert, kommt ihm die figurative Rolle zu, die ‚Garantie’ für das symbolische Dispositiv der Adresse zu übernehmen. Daß dies eine heikle Aufgabe ist, wird beispielsweise beim Übersetzen des merkwürdigen Verses „Tiens, Facteur, ce mot en la main” deutlich. Das ‚Halten des Wortes’ ist durch die unübliche Verwendung des Verbums tenir subtil in Frage gestellt und ironisiert.209 Eine wortwörtliche Übersetzung ist nicht möglich. Der Briefträger ist ein relais und damit eine Schwachstelle im Diskurs. Er könnte sein Wort brechen, also nicht halten und den Brief nicht austragen. Wie in Entweder…oder redet die beschwörende Anrede den Betrug der metaphorischen, übertragenden Schrift weg. Die Zeile ließe sich daher auch anders übersetzen mit „Nimm, Briefträger, dieses Wort aus der Hand.” Schon im 14. Jahrhundert schrieb man auf einen zusammgefalteten Brief die lateinische Formel detur, dandum, dari, debet, debet, gefolgt von der adressierten Person im Dativ, den Hinweisen „komme dieser Brief, gehört oder soll dieser Brief” oder „dem N.N. oder an N.N. freundlich geschrieben”, und der Angabe eines Titels oder Standes („durchlauchtig und hochgeboren”, „ehrbar und bescheiden”). Zum Schluß mahnte man noch den Boten zur Eile: „tag und nacht ane alles sumen, went große sunderliche macht hir an lieth”210. Der Übergabeakt des Boten bekräftigt die Gesetzeskraft eines Dokuments. Auch in Loisirs de la Poste erscheinen die Apostrophierungen des facteurs (Briefträger, Faktor) in einer liebevollen Reihung verschiedener Postvehikel, die als Überläufer dazu aufgerufen sind, eine Ver-
205 Schnell, Briefträger, steh auf. 206 Diese Adresse, so unlesbar geschrieben/ trag aus oder ich pack dich am Schlaffitchen. 207 An alle Beine, Briefträger, zum Verleger der Dekadenz. 208 Übers. v. H. Therre: Stéphane Mallarmé, S. 14. 209 Der Gebrauch des Verbs tenir ist in dieser Zusammenstellung unüblich. Tenir steht für ‚etwas in der Hand halten’, tenir qc. entre ses mains für ‚etw. in’ oder ‚mit beiden Händen halten’. Mit der Präposition en wird tenir sonst nur selbstreflexiv benutzt: s’en tenir à qc. – ‚sich an etwas halten’. 210 Codex expistolaris Vitoldi ed Prochaska S. 155, zitiert in G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, S. 31f..
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
bindung zu garantieren bzw. aus- und aufzuführen. Die Beschwörung der Träger von Buchstaben und Briefen konstatiert den Stand einer Post-Epoche, deren Materialität das Funktionieren eines Vers de circonstances zwar darstellt, jedoch nicht bedingt. Auch wenn der facteur als Figur aus alten Zeiten nostalgische Szenen heraufbeschwört, auch wenn der Bote seinem professionellen Gewissen nicht nachkommen und die Briefe (letter) statt sie auszuliefern dem Mülleimer (litter) übergeben würde, auch wenn der Brief als dead letter in den Archiven der Postbehörde landen würde oder an der Zensurstelle hängenbliebe, so wird ein Autor trotz des Wissens um die Möglichkeit einer Interzeption doch nicht darauf verzichten weiter zu schreiben. Daran erinnern die Vers de Circonstances, in denen Vincent Kaufmann Einspruch gegen alle tragischen Schriftkonzeptionen von Mallarmés angeblich ‚dunklem’ und hermetischen Werk erhebt.211 Denn das Vergnügen besteht ja gerade darin, den Augenblick einer Verschickung zu nutzen und ihn als konstitutives Moment der Bedeutung zu würdigen. Der Briefträger erscheint als nostalgische Figur eines begnadeten Erzählers. Indem er selbst nichts empfangen darf, verbindet, vermittelt und überbringt er.212 Im Kapitel zur Performanz des Anrufs ist mit Derridas La carte postale die vorherrschende Rolle eines faszinierten und sich gleichzeitig vor dem anderen fürchtenden Begehren durch die Adressierung an ein weibliches Du in den Vordergrund gerückt. Im Unterschied zur Visitenkarte richten sich Postkarte und Briefumschlag an einen namentlichen Adressaten. Während die zum Umdrehen zwischen Text und Bild auffordernde Postkarte Derridas die Anrede „Toi, mon amour” zur Obsession werden läßt, bezeugen die ‚stummen’ Visitenkarten und Briefumschläge Mallarmés zunächst nichts anderes, als daß sie als Ersatz für eine verfehlte Begegnung dienen: „Stéphane Mallarmé.”. Sie inszenieren jedoch keine tragische Verfehlung, kein „Drama der Apostrophe”, sondern eine, ihre Kritik bereits antizipierende Komödie, ein „Postvergnügen”. Der faszinierte Horror unmittelbarer Apostrophierungen, die in Derridas La carte postale an hypnotische Beschwörung reichen, liegt Mallarmés Post-Spiel ganz fern. Effekte des Transit und der Transitivität weisen dem Lesenden keinen festen Platz zu, sie stellen ihm einen Blankoscheck aus. Daß ein leerer Umschlag aber auch Angst
211 Kaufmann, livre, S. 31. 212 Vgl. auch J. Derrida, La carte postale, S. 12: „Je ressemble à un messager de l’antiquité, un coursier, le courrier de ce que nous nous sommes donnés, à peine un héritier, un héritier infirme, incapable de recevoir même, de se mesurer à ce dont il a la garde, et je cours, je cours pour leur porter une nouvelle qui doit rester secrète, et je tombe tout le temps.” Derrida, Postkarte, S. 13: „Ich gleiche einem Boten der Antike, einem Laufburschen, dem Kurier dessen, was wir uns gegeben haben, kaum einem Erben, einem gebrechlichen Erben, unfähig zu empfangen sogar, sich zu messen an dem, was er in Verwahrung hat, und ich laufe, ich laufe, um ihnen eine Nachricht zu bringen, die geheim bleiben soll, und ich falle fortwährend.”
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POST–ADRESSEN
hervorrufen kann, betont Kierkegaards Hinweis auf die Alteration. Während ‚Alteration’ einerseits „verändern, verdrehen, aus einem ursprünglichen Zustand bringen (das Ding wird ein Anderes)” meint, sagt man andererseits auch „’alteriert werden’ […] im Sinne von ‚erschrecken’, eben weil das im Grunde die erste unausbleibliche Folge ist.”213 Mallarmé ironisiert – wie Kierkegaard – die Idee einer sich ‚direkt’ bekennenden Schrift. Aber auch das Gegenteil, Intransitivität oder Adressenlosigkeit, ist nicht zum Vorbild erkoren. Mit dem Hinweis auf die bürokratische Laufbahn seiner familiären Vorfahren betont Mallarmé in Autobiographie, wie sehr er Schreiben als Protest gegen administrative Ablage-Gesten versteht: „Je retrouve trace du goût de tenir une plume, pour autre chose qu’enregistrer des actes” (M,661)214. Durch die direkte Adressierung berühmter Zeitgenossen, Schriftsteller, Verleger werden Autoritäten auf scheinbar harmlose Weise ins Spiel gebracht und zufrieden gestellt. Ist ihr Anspruch auf Zustellung erst einmal erfüllt, so können sich neue, singuläruniverselle Beziehungen entwickeln. Sich dem Zufall überlassen, der durch die Gelegenheit gestiftet wird, erscheint notwendig, um die „Gabe des Gedichts” vor verstaubten Aktenschränken zu bewahren.215 Diese Gefahr, in Archiven vergessen zu werden, spricht auch Mallarmés Gedicht vom Würfelwurf an. Kurt Wais hat die Einbeziehung des Zufalls „das tätige Ja” genannt: „Er sagt und wiederholt ou… ou, und beinahe ist er so weit, oui auszusprechen, doch nie gelingt es ihm, den Schlußvokal zu bilden.”216 „Un coup de dés jamais quand bien même lancé dans des circonstances éternelles DU FOND D’UN NAUFRAGE” (M,457/458)217
213 S. Kierkegaard, Begriff Angst, S. 71. 214 Übers. v. H. Therre, Stéphane Mallarmé, S. 15f.: „Ich finde Spuren vom Geschmack an der Feder, nicht bloß um Akten zu registrieren”. 215 Zur Rolle der Registratur, vgl. C. Vismann, Akten, S. 176: „Sie verschaltet Akten und ihre Benutzer, das Kanzleipersonal. Die Registratur ist Zwischenstation, in der aus laufenden reponierte Akten werden. In dieser, wie die Archivwissenschaft sie nennt, ‚Registraturzone’ wird das Akten-Material geordnet. Aus Möbeln werden darin Adressen, Signaturen zum Wiederauffinden der realen Akten, die nach Kästen gezählt werden. […] Solange sie nicht mehr gebraucht werden, fallen sie an die grenzenlose Unordnung zurück.” 216 Kurt Wais: Mallarmé. Dichtung – Weisheit – Haltung, München 1952, S. 572ff.. 217 Zwischen der ersten und der zweiten Zeile läßt Mallarmé eine Seite leer. Vgl. Stéphane Mallarmé: Gedichte. Französisch und Deutsch, übers. v. Gerhard Goebel, Gerlingen 1993, S. 243: „EIN WÜRFELWURF// BRINGT NIE/ SELBST WENN GEWORFEN UNTER/ EWIGEN UMSTÄNDEN/ VOM GRUNDE EINES SCHIFFBRUCHS”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Der W it z der Adresse (Franz Kafka) Daß Kafkas Geschichten voller Rufe sind, ist in der Rezeptionsgeschichte mittlerweile vielfach angeklungen. Sie können mündlich oder schriftlich eintreffen, vertrauliche Botschaften oder amtliche Mitteilungen enthalten, „angekündigt werden sie oft durch das Läuten eines Telephons, eines Weckers oder einer Türklingel, kurz durch alle möglichen Arten des Läutens, Schlagens oder Anklopfens.”218 Sie fordern zu etwas auf: Abrechnungen, Vorladungen oder Verurteilungen. Der Begriff „Appell” taucht selbst nirgendwo explizit auf: „K. war telephonisch verständigt worden” heißt es lapidar über die Vorladung zum Gericht.219 Und der Landvermesser erfährt im Schloß über die abgehörten Fetzen eines Telephongesprächs, daß er plötzlich zu einem Beruf „ernannt” worden ist, zu dessen Amtsausübung es nie kommen wird. Kafkas appellierendes Gesetz gibt weder Aufschluß über den Grund für die Anklage noch räumt es die Möglichkeit zum Widerspruch ein. Der Zeitpunkt der Berufung bleibt dem Gericht vorbehalten. Und so verfügen die Angeklagten offenbar nur über einen vorübergehenden Wohnsitz, um von dort aus den Ruf des Gerichtes abzuwarten. In Der Prozeß wird der Untermieter plötzlich aus dem Bett heraus verhaftet, in Das Schloß hat K. nicht einmal mehr ein festes Domizil. Er kommt irgendwo unter oder schläft direkt am Dienstort. Das Gesetz dagegen residiert im Schloß und bleibt unerreichbar. Die Logik, „daß der Name des Gerichtes bloß die trügerische Konkretion einer (im Sinne Kants) leeren, weil nicht vorstellbaren Instanz bezeichnet”220, bleibt K’s Blicken verborgen. In Kafkas Briefen an Felice Bauer liefert das Telephon den Anlaß zum „Pontus”-Traum.221 Analog zum „Summen zahlloser kindlicher Stimmen”, das K. aus der Hörmuschel vernimmt, wenn er mit dem Schloß telephoniert,222 läßt das Telephon im Pontus-Traum nichts anderes hören als „einen traurigen, mächtigen, wortlosen Gesang und das Rauschen des Meeres”(BF, 264). Von der Hörigkeit am Apparat scheint sich das Versprechen 218 Vgl. Malcom Pasley: „Kafka und das Thema der ‚Berufung’”, in: M. Pasley, „Die Schrift ist unveränderlich”. Essays zu Kafka, Frankfurt a.M. 1995, S. 85. 219 Franz Kafka: Der Prozeß, Frankfurt a. M. 1994, S. 41. 220 Ludo Verbeek: „Der verhinderte Text. Strukturen der Unabschließbarkeit im Werk Kafkas”, in: Jürgen Söring (Hg.), Die Kunst zu enden, Frankfurt a. M . et al. 1990, S. 145-162, hier S. 152. 221 Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Erich Heller/Jürgen Born (Hg.), Frankfurt a. M. 1995, S. 264: „Wie gestern z.B., wo ich im Traum zu einer Brücke oder einem Quaigeländer hinlief, zwei Telephonhörmuscheln, die dort zufällig auf der Brüstung lagen, ergriff und an die Ohren hielt und nun immerfort nichts anderes verlangte, als Nachrichten vom ‚Pontus’ zu hören, aber aus dem Telephon nicht und nichts zu hören bekam, als einen traurigen, mächtigen, wortlosen Gesang und das Rauschen des Meeres.” Im folgenden zitiert als BF,264. 222 Franz Kafka: Das Schloß, Frankfurt a. M. 1994, S. 30.
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der Zugehörigkeit abzusetzen, „daß […] ich auf den leisesten aber wahren Anruf Dir gehöre” (BF, 391). Gegen diese Trennung von Telephon- und Liebesanruf erheben Kafkas Sirenen schweigend Einspruch. Sie stehen für die Reste eines Mythos, in dem gerade die uneingelösten Versprechen in Erinnerung gerufen werden. Mit ihrem Schweigen verfügen sie über „eine noch schrecklichere Waffe”223. Odysseus’ „unzulängliche, ja kindische Mittel” entpuppen sich als hilflose Gesten gegen eine unhörbare und daher nicht mehr zu überhörende Macht. Die „honigtönende”224 Stimme entlarvt sich als Figur der Prosopopoiia, „durch die Toten und Abwesenden im Text in deren fiktiver Rede eine Stimme und ein sprechendes Gesicht verliehen wird.”225 Abrufbarkeit kennzeichnet den Herausruf des in seiner Erwartungshaltung gefangenen Einzelnen: „Diese Botschaft ist nur für Dich gedacht, aber sie wird Dich nie erreichen”226. Die Macht des Gesetzes ruft ein Subjekt als immer schon schuldig auf (siehe Althusser). Parabeln wie Das Schweigen der Sirenen und Der Bau enthüllen jedoch zugleich eine meta-narrative Dimension. Sie erzählen nicht nur etwas, sondern sie reflektierten zugleich die Unzulänglichkeit zu erzählen („unzulängliche, ja kindische Mittel”). Indem sie „die Form einer geschlossenen (parabolischen) Metaerzählung” annehmen, gehen sie noch über die „These der Selbst-Reflexivität oder Autoreferentialität” hinaus. So fordert die im Kapitel über „Die Ironie der Adresse” schon zitierte Geschichte Der Bau zu einem Lesen auf, „das seinen eigenen, ‚negativen Prozeß’ in einer (theoretischen) ‚Erzählung’ zum Gegenstand einer Rede zu machen suchte”.227 Wie Der Bau macht auch Die Sorge des Hausvaters den „eigenen ‚negativen Prozeß’” zum Gegenstand. Der Wohnsitz ist „unbestimmt”, wie Kafkas „erstaunlichstes Fabelwesen”, „das kleine Odradek”228, listig antwortet. Odradek übertrifft alle anderen Gestalten der „Vorwelt bei Kafka”.229 Das winzig-witzige Ding ohne „irgendeine zweckmäßige Form”, ein „Wesen”, das weder „Ziel” noch „Tätigkeit” kennt, setzt sich selbst in Bewe-
223 Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1994, S. 169: „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehn, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesange gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht.” 224 Homer: Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Hamburg, 302001, S. 214, Gesang XII. 225 Vgl. B. Menke, Prosopopoiia, S. 7. 226 Gerhard Neumann: „Franz Kafkas Schloß-Roman. Das parasitäre Spiel der Zeichen”, in: Wolf Kittler/Gerhard Neumann (Hg.), Franz Kafka. Schriftverkehr, Freiburg i.Br. 1990, S. 199-221, hier S. 219. 227 B. Menke, Prosopopoiia, S.43. 228 Harold Bloom: „Kafka. Unbestimmter Wohnsitz”, in: H. Bloom, Kafka-FreudScholem, Frankfurt a. M. 1990, S. 18. 229 Walter Benjamin: „Franz Kafka”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Bd. II,2: Aufsätze, Essays, 1 Vorträge, Frankfurt a. M. 1991, S. 431.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
gung, ist zu nichts nütze und produziert vor allem komische Effekte: „das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.”230 Seine Fertigkeit und seine Perfektion machen aus Odradek ein Ding an sich,231 eine dämonisch-demiurgisch kleine Größe. Weil das Ding Odradek sich nicht an irgendeiner Tätigkeit „zerrieben” hat, pfeift es auf einen roten Faden. Stattdessen „nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe”. Odradek schickt wie alle intermittierenden Maschinen und Adressen auf verschiedene Fährten. Die verworrenen und abgerissenen Fäden verweisen auf verschiedene, auch mythische und kosmologische Adressen. Odradek, „eine flache sternartige Zwirnspule”, „wie auf zwei Beinen aufrecht stehen[d]”, spielt auf den Er-Mythos aus Platons Politeia an. Was aber verknüpft die irdische Maschine mit diesem alten Mythos vom Jenseits? Geben diese Verbindungen Auskunft darüber, warum Odradeks Wohnsitz unbestimmt ist? Hat man es hier mit einem „Witz der Adressierung”232 zu tun? Die Frage nach der Post-Adresse und die zeitliche Nähe der Entstehung von Die Sorge des Hausvaters und der Korrespondenz mit der Schreibmaschinistin Felice Bauer legen jedoch zunächst eine kurze Pause in der Großstadt Berlin nahe.233 Denn Kafkas Briefe sprechen mehrfach über irritierende „Adressensorgen”234. Postadressen sorgen dafür, daß ein Brief der „Volkspost” ankommt. Dies hat, wie Heidegger im Satz vom Grund de-
230 Franz Kafka: „Die Sorge des Hausvaters”, in: F. Kafka, Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 223. 231 Zu Odradek als einem „perfekten Kantischen ästhetischen Objekt” vgl. Samuel Weber: „Theory and Theatre: Reframing the scene”, in: Ludo Verbeek/Bart Philipsen (Hg.): Die Aufgabe des Lesers. On the Ethics of Readings, Leuven 1992, S. 81-97. 232 Bettine Menke: „Aufgegebene Lektüre: Kafkas Der Bau”, in: ebd., S. 151. 233 Die Sorge des Hausvaters entsteht im Anschluß an elf von insgesamt vierzehn Erzählungen im Erzählband Ein Landarzt Ende April 1917. Sie gehört zu den letzten Seiten, die Kafka noch „in dem zeltigen Haus der Alchimistengasse 22” geschrieben hat (T. Schestag, Parerga, S.109). Die Korrespondenz mit Felice Bauer beginnt am 20.9.1912 und endet am 16.10.1917. Im Dezember 1917 wird die zweite Verlobung endgültig gelöst. 234 Franz Kafka: Briefe an Felice, S. 45, 28.9.1912: „Aber abgesehen von diesen Adressensorgen (man weiß ja in Prag gar nicht bestimmt, ob Sie in Nr. 20 oder 30 wohnen), was hat mein Jammerbrief alles leiden müssen, ehe er geschrieben wurde.” S. 77, 6.11.1912: „Meine Wohnungsadresse ist Niklasstraße 36. Wie ist aber bitte die Ihre? Ich habe auf der Rückseite Ihrer Briefe schon drei verschiedene Adressen gelesen, ist es also Nr.29? Ist es Ihnen nicht lästig, eingeschriebene Briefe zu bekommen?” S. 436, 6.8.1913: „Auf der heutigen Karte steht z.B. Niklasstr.Nr.6 und so ein Fehler kann mir unter Umständen großes Leid machen.” Vgl. auch Franz Kafka: Briefe an Milena, Frankfurt a. M. 1986, S. 27, 30.5.1920: „Bitte schreiben Sie die Adresse ein wenig deutlicher, ist Ihr Brief schon im Umschlag dann ist er schon fast mein Eigentum und Sie sollen Eigentum sorgfältiger, mit mehr Verantwortungsgefühl behandeln.” S. 55, 11.6.1920: „dann aber kam ich nach Prag und hatte Ihre Adresse vergessen, nicht nur die Gasse, auch die Stadt, alles, nur der Name Schreiber tauchte mir noch irgendwie auf, aber ich wußte nicht, was ich damit machen sollte.”
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monstriert, „Anspruch auf Zustellung” erzeugt. Ohne den Befehl des Königs, adressiert sich ein Brief gefährlich beliebig an alle: „er beschreibt die Kartographie eines zerstreuten Sprechens.”235 Die standardisierte postalische Beförderung macht die Lesbarkeit der Adressen zur Bedingung: „Hätte die Post meine Augen, sie könnte fast nur Deine Adressen lesen und keine sonst. Aber da es die Post ist –” schreibt Kafka auch an Milena nach Prag.236 Was sagen Post-Adressen aus, wie lassen sie sich entziffern? Mit dem Auftrag, Felices Wohnhaus im Osten Berlins genau zu beschreiben, schickt Kafka den befreundeten ost-jüdischen Schauspieler Jizchak Löwy in die Immanuel-Kirchstraße. Doch Löwy irrt sich offenbar in der Hausnummer: „Allerdings wollte ich von dem Haus Nr 30 hören (nun wohnen Sie aber gar 29, wenn ich nicht irre) ich weiß nicht, warum er das Haus 37 für mich ausgesucht hat.”
Die Zahl will richtig „ausgesucht”, d.h. gelesen werden. Daran erinnert schon das römische Recht: „lex ist der Name für die Handlung des Verbs legere im Sinne von ‚lesen’.” Unter Lesen fällt das Vorlesen (mit lauter Stimme) und die Verteilung (das Zählen).237 Tatsächlich spielt die Genauigkeit der Ziffernangabe kaum eine Rolle, denn Löwys Bericht endet mit einer ganz anderen Frage: „‚Wenn ich dort bin, ist immer ruhig, still und ich frage, ist das noch Berlin?’”, worauf im Brief geantwortet wird: „Die letzte Frage ist dichterisch, finde ich, und das Ganze eine treue Beschreibung.”238 Löwys „treue” Beschreibung veruntreut Adressen-Standards und vollbringt damit genau die Übersetzungsleistung, welche die Post verweigert. Sie liest an einem ganz anderen Ort, jenseits von Grammatik, Ziffern und Hausnummern: „ist immer ruhig, still und ich frage, ist das noch Berlin?” Ruft nicht auch der Schauspieler Löwy bei seinen jiddischen Rezitationen ähnlich verfremdende und theatralische Effekte hervor? Dann fände hier die Konfrontation mit der Unheimlichkeit einer deterritorialisierenden Sprache statt.239 Die Lektüre fährt an der richtigen Hausnummer vorbei und läßt den Blick auf etwas anderes, nicht mehr Bezifferbares fallen. „Mit Ziffern und Statistiken werde ich mich im Folgenden nicht abgeben; die überlasse ich den Geschichtsschreibern des
235 Bernhard Siegert: „Kartographien der Zerstreuung. Jargon und die Schrift der jüdischen Tradierungsbewegung”, in: Schriftverkehr, S. 222-247, hier S. 247. 236 F. Kafka, Briefe an Milena, S. 67. 237 Vgl. J. Svenbro, Phrasiklea, S. 123 und das Kapitel „Nómos, ‚exégèse’, lecture. La voix lectrice de la loi”. 238 Franz Kafka, Briefe an Felice, S. 75. 239 Vgl. B. Siegert, „Kartographien”, in: Schriftverkehr, S. 225: „Jiddisch bringt vielmehr das Eigene als das Andere des Anderen zu Gehör.”
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jüdischen Theaters.”240 schreibt Kafka an anderer Stelle über seinen Schauspielerfreund. Auf dem offiziellen Briefpapier der Arbeiter-Unfall-Versicherung richtet sich Kafka an die Verlobte, um ihr seine „Adressensorgen (man weiß ja in Prag gar nicht bestimmt, ob Sie in Nr. 20 oder 30 wohnen)” mitzuteilen: „Wie ich zu ihrer Adresse komme? Danach fragen Sie ja nicht, wenn Sie danach fragen. Ich habe mir eben Ihre Adresse ausgebettelt. Zuerst bekam ich irgend eine Aktiengesellschaft genannt, aber das hat mir nicht gefallen. Dann bekam ich Ihre Wohnungsadresse ohne Nr. und dann die Nr. dazu. Jetzt war ich zufrieden und schrieb erst recht nicht, denn ich hielt die Adresse schon immerhin für etwas, außerdem fürchtete ich, daß die Adresse falsch wäre, denn wer war Immanuel Kirch? Und nichts ist trauriger, als ein Brief an eine unsichere Adresse zu schikken, das ist ja dann kein Brief, das ist mehr ein Seufzer.”
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Der Briefauszug spricht über den Weg, den er zu hinterlegen hat, zwischen Büro- und Privatadresse. Die Zweifel über die „unsichere Adresse” ziehen den Wunsch nach einer direkten Überbringung nach sich: „Wäre ich doch der Briefträger der Immanuelkirchstraße, der diesen Brief in Ihre Wohnung brächte”242. Er verspricht, eine Trennung zwischen zwei Welten aufzuheben: „Die moderne Behördenorganisation trennt grundsätzlich das Büro von der Privatbehausung”243. Doch obwohl die Häusernumerierung „bald das ganze Land bis auf die kleinste Parzelle […] in ihren Katastern wird stehen haben”244, obwohl auch „in Berlin […] hochkomplizierte Gebilde” von Adressen abgelöst werden, „die ganze Weg- oder Ortsbeschreibungen enthielten”245, obwohl die Effizienz des postalischen Zustellungsaktes dem Strom von maschinengeschriebenen Liebes-Briefen zuarbeitet, will sich das Schreiben an die private Hausnummer nicht so recht einstellen. Denn „der eigentliche Ort des Briefeschreibens [ist] das Bureau […], wo die anonyme
240 F. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, S. 137. 241 F. Kafka, Franz, Briefe an Felice, S. 44. 242 Ebd., S. 47. 243 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 552. 244 Walter Benjamin: „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire”, in: W. Benjamin, Schriften I,2, S. 549, Zitat aus Balzac, Modeste Mignon, Paris 1850, S. 99. Benjamin schreibt weiter: „Ein ausgedehntes Kontrollsystem hatte seit der Französischen Revolution das bürgerliche Leben immer fester in seine Maschinen eingeschnürt. Für das Fortschreiten der Normierung gibt in der Großstadt die Häuserzählung einen brauchbaren Anhalt ab. Die Verwaltung hatte sie 1805 für Paris verbindlich gemacht. In proletarischen Vierteln war diese einfache Polizeimaßnahme allerdings auf Widerstände gestoßen; von dem Quartier der Schreiner, Saint-Antoine, heißt es noch 1864: ‚Wenn man einen der Bewohner dieser Vorstadt nach seiner Adresse fragt, wird er stets den Namen geben, den sein Haus trägt, und nicht die kalte, offizielle Nummer.’” 245 B. Siegert, relais, S. 106.
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Verbreitung von Texten zu Durchschriften zum professionellen Diskursalltag gehört.”246 Am Arbeitsplatz unermüdlicher Kopisten kann aber auch der familiären Zensur ein Schnippchen geschlagen werden. Der „Seufzer” richtet sich daher an eine der „sonderbarsten Gestalten Kafkas” (und Mallarmés), „die als einzige dem Schoße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht eine Hoffnung gibt”. Es ist der „Briefträger”, auch „Gehilfe” oder „Bote” genannt. „Für sie und ihresgleichen, die Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da.”247 Kuriere müssen kaiserliche Befehle weiterleiten, Briefträger adressierte Briefumschläge austragen. Boten entziehen sich dem Zugriff eines Seßhaften und Sedimentierten. Nur die kleinen Dinge des Büroalltags können ansonsten noch der Vertraulichkeit der privaten Adresse entkommen. Mehrmals beschwört der Briefeschreiber seine Adressatin: „Jede Kleinigkeit aus dem Bureau interessiert mich”248 und „Von Deinem Bureau kann ich nicht genug hören.”249 oder sogar „Liebste, ich möchte so gerne Einzelheiten Deiner Bureauarbeit wissen.” (BF, 258f.). Frauen sind wie Boten „Verbindungselemente”250. Sie nehmen Diktat auf und leiten weiter – wie die Schwester Ottla, die sich vom Schriftsteller Platon vorlesen und Adressen diktieren läßt.251 Auch das Büro folgt wie seine Vorgängerin, die Kanzlei, „den intermittierenden Bewegungen einer Maschine”252. Hier wird zu weiteren „Konnexionen”253 durchgestellt. An die Journalistin und Übersetzerin Milena: „mir aber ist das Bureau […] ein Mensch, mit dem ich auf irgendeine mir unbekannte Weise verbunden worden bin”254. Das Büro wirft sich das Gewand eines erotischen Telephonfräuleins über: „Indeed, there was something sexy about operators”255. Büro und Telefonfräulein halten sich am selbst nicht mehr beschreibbaren und daher begehrten Ort der Übertragung auf. Sie suggerieren eine direkte Verbindung von Stimmen und Körpern. Der Ort des
246 Ebd., S. 237, vgl. auch Erich Heller: „Einleitung”, in: Franz Kafka: Briefe an Felice, S. 32. 247 W. Benjamin, „Franz Kafka”, S. 414. Vgl. auch Wolf Kittler: Der Turmbau zu Babel und das Schweigen der Sirenen. Über das Reden, das Schweigen, die Stimme und die Schrift in vier Texten von Franz Kafka, Erlangen 1985, S. 52. 248 F. Kafka, Briefe an Milena, S. 123. 249 BF,188. 250 Vgl. F. Guattari/G. Deleuze: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 87. 251 Vgl. BF,693: „Ich las zur Störung der Ruhe Ottla Plato vor, sie lehrt mich Singen.” und BF,588: „Die Adresse wollte ich selbst schreiben. Aber meine jüngste Schwester Ottla (sie arbeitet fast den ganzen Tag im Geschäft) machte, weil sie kindisch ist (sie ist 20 Jahre, aber ein liebes und gutes Kind) Anspruch darauf, selbst die Adresse zu schreiben. Sie schrieb sie also nach meinem Diktat”. 252 C. Vismann, Akten, S. 48 und 36. 253 Theodor W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka”, in: T. W. Adorno, Prismen, Frankfurt a. M. 1976, S. 330. 254 Kafka, Briefe an Milena, S. 169. 255 John Durham Peters; Speaking into the Air. A History of the idea of Communication, Chicago 1999, S. 196.
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Kanzleibüros verhindert die verführerische Sprache nicht etwa, sondern die „inhaltslose, absolute Referenz” des Gesetzes, das aus „nichts anderem als dieser Verweisungskette” besteht und „fälschlicherweise Zugang verspricht”256, schafft im Gegenteil eine ideale Voraussetzung für die unter dem offiziellen Briefkopf stehende private Adressierung. Die appellierende Sprache der Sehnsucht äußert sich in einer Reihung von Seufzern. Sie beklagen eine Abwesenheit, ohne die sich der Brief womöglich gar nicht ‚ins Leben’ rufen könnte: „Diese Adresse mit ihren kurzen Worten, eines unter dem andern, klingt wie eine Litanei, wie eine Anbetung, nicht?”257 Korrespondenzen spinnen sich zwischen Büro- und Privatadressen, zwischen epistolarischem und erzählerischem Nachlaß.258 Briefe, nichts als Briefe. An der untersten Stufe der Übertragungs-Hierarchie tauchen neben eilfertigen Boten junge Frauen auf. Als „Schrankenbediener des Romans”259 weisen sie den Weg zum Gesetz. Sie verfügen – wie die Sirene Leni in Der Prozeß260 – über den Schlüssel zu geheimen Schreib-Zimmern und Amtsstuben, gleichen den key and data, welche eine ähnliche Doppelfunktion zur Erschließung und Aufbewahrung elektronischer Daten übernehmen. Ihr Musen- oder Sirenen-Gesang verlockt, verführt, versetzt, verruft – und er vermittelt, stellt durch: Über die von Rechts wegen als unerreichbar definierte Domina im klassischen Minnegesang hinaus stehen sie entweder für die Unübersetzbarkeit der ‚reinen Stimme’ ein (die Frau am Telephon) oder sie markieren als Schreibmaschinistinnen die Differenz zwischen abgelegten Akten-Archiven und adressierten Liebesbriefen, „zwischen dem Schreib- und dem sexuellen Akt”261. Doch die Parabeln sperren sich gegen eine feste Adresse: „Es ist eine Parabolik, zu der der Schüssel entwendet ward […] Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.”262 In Gesetzestexten ist die persönliche Adresse durch die allgemeingültige Präambel abgelöst worden. Die Präambel übernimmt die Funktion eines Rahmens: als Parergon oder „hors d’œuvre”
256 C. Vismann, Akten, S. 33. 257 F. Kafka, Briefe an Milena, S. 340. 258 Vgl. Wolf Kittler: „Brief oder Blick. Die Schreibsituation der frühen Texte von Franz Kafka”, in: Gerhard Kurz (Hg.), Der junge Kafka, Frankfurt a. M . 1984, S. 40-67. 259 C. Vismann, Akten, S. 35. 260 Vgl. Walter H. Sokel: Franz Kafka – Tragik und Ironie, München/Wien 1964, S. 192. 261 Wolf Kittler: „Die Klauen der Sirenen”, in: MLN, German Issue, 108/3, 1993, S. 500-516, hier S. 512. 262 T. W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka”, S. 304. Zur Kritik an Adornos Lektüren, die Parabeln zweiter Ordnung ‚erzählen’, vgl. B. Menke, Prosopopoiia, S. 39. Vgl. auch Heinz Politzer: Franz Kafka. Der Künstler (1965), Frankfurt a. M. 1978, S. 42f.: „Die Offenheit ihrer Form erlaubt dem Leser eine totale Projektion seines eigenen Dilemmas auf die Seiten Franz Kafkas. Diese Parabeln sind ‚Rohrschachtests’ der Literatur, und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers.”
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erhält sie einen parasitären Status.263 Die Adresse steht an einer ähnlich offen-versteckten Stelle. Wie die unfertigen Gestalten der Boten agiert sie als Schwellenhüterin zwischen Innen und Außen, Öffnung und Verschluß.264 Sie vermittelt im transformatorischen Prozess, mit dem der Text die ihm eingeschriebene ‚Stimme’, ihre „extra-textuelle Intention”265, ad acta legt. Zwischen einem Sprechakt und seinem Bericht klafft ein Abgrund, den die Miniatur-Parabel Kafkas allegorisiert.266 „Ein Kommentar Es war früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich daß es schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst Du den Weg erfahren?’ ‚Ja’, sagte ich, ‚da ich ihn selbst nicht finden kann.’ ‚Gibs auf, gibs auf’, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie die Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.”
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Die Dialog-Szene macht das Aufsuchen einer Adresse zum Thema. Allein adjektivisch kommt der Modus der ansonsten indirekt bleibenden, in der Antwort wiederholten Frage zum Ausdruck: „fragte ihn atemlos nach dem Weg”. Unter dem Druck der zur Eile drängenden Turmuhr gestellt, lautet die Antwort: „Gibs auf”. Verbindet man diese Replik mit der Adresse, die das Tier im komplizierten Schalt-Plan seines Baus zu entwerfen sucht, indem es Gänge und Plätze als Rückzugsmöglichkeiten vor dem Feind in Betracht zieht, wird das „gleitende Paradox”268 zwischen Ein- und Ausgangsadresse sichtbar. Während das Tier zuerst vom „Vorteil” spricht, „in meinem Haus zu sein, alle Wege und Richtungen genau zu kennen”, bekennt es kurz darauf, daß es „nicht nur die äußeren Feinde [sind], die mich bedrohen, es gibt auch solche im Innern der Erde.” Dort aber gelten andere Bestimmungen: „nicht daß man in seinem Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus. Vor ihnen rettet mich auch jener Ausweg nicht”269.
263 Vgl. Jacques Derrida: La vérité en peinture, Paris 1978. 264 Vgl. Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Passage des Mythos, Frankfurt a. M. 1986, S. 31. 265 Paul De Man: Allegories of Reading, New Haven/London 1979, S. 10. 266 Vgl. Clayton Koelb: Kafka’s Rhetoric. The Passion of Reading, Ithaca/London 1989, S. 8. 267 Franz Kafka: „Ein Kommentar”, in: F. Kafka, Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1994, S. 130. 268 Vgl. Gerhard Neumann: „Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas ‚Gleitendes Paradox’”, in: DVJs, 42, 1968, S. 702-744. 269 Franz Kafka: „Ich habe den Bau eingerichtet”, S. 167.
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Unsichere Post-Adressen und zurückgewiesene Kommentare, komplizierte Baupläne und Konfusionen über die Besitzverhältnisse („meinem […] seinem […] ihrem Haus”) erschüttern das Vertrauen, von einem identifizierbaren Ort aus sprechen zu können. Auch Odradeks kurze Repliken sind eingerahmt durch die Erzählung des Hausvaters. Sie tastet sich über die eventuell deutsch-slawische Herkunft des Wortes „Odradek” zu seiner Figur vor, um schließlich festzustellen, daß keine Annahme „zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.” Schon der Name entmutigt, nach einer festen Adresse zu fragen. Will man „den Namen Odradek auf das tschechische Wort udraditi” zurückführen, so erhält man die Auskunft, daß die Unbestimmtheit auch in seiner Bedeutung zuhause ist: Udraditi heißt „jemand davon abbringen, etwas zu tun.”270 Erst im letzten Abschnitt der Parabel sagt der Hausvater „ich”. Seine „Sorge” hängt mit der Unsterblichkeit der von ihm beschriebenen Maschine zusammen. Das winzige und ungebundene Odradek ohne „irgendeine zweckmäßige Form”, ein „Wesen”, das weder „Ziel” noch „Tätigkeit” kennt, droht damit, alle anderen zu überleben: „aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.” Odradek gehört zur Serie der Kunstfiguren bzw. der abstrakten Maschinen: „sie funktionieren nicht oder nicht mehr”271. Wie kann man sich das Gebilde Odradek eigentlich vorstellen? Die „flache sternartige Zwirnspule” ist aus dem Nähkästchen bekannt, aus dem das Seemannsgarn stammt. Was aber hat das mit den Näh- und Spinnmaschinen zu tun, die Natur in Kultur verwandeln und Zivilisationsarbeit leisten? Mit der Übertragung des Spinnvorgangs an Maschinen setzt der Prozeß der Industrialisierung ein. 100 Jahre danach legte Friedrich Engels 1845 seinen Bericht über die Lage der Arbeiter in England vor. In der Erfindung der „Spinning Jenny” sieht Engels den Anfang alles Übels. Bis zu ihrer Einführung hatten Frauen und Töchter das Garn per Hand gesponnen. Die Spindel symbolisiert eine Explosion, die so gut wie alle Bereiche erfaßt. Maschinenund Tauschwertproduktion revolutionieren das Leben jedes Einzelnen. Weder vor Institutionen wie Familie, Schule, Massenmedien, Kunst, Öffentlichkeit, Verwaltungen noch vor politischen Herrschaftsformen macht die explosive Entwicklung halt. Die Erschütterung trifft kulturelle Lebensweisen wie Wohnen, Beziehungsformen, Genußformen, Emotionen, Klassen- und Schichtzugehörigkeiten und nicht zuletzt das Geschlechter-Verhältnis.
270 H. Bloom, „Unbestimmter Wohnsitz”, S.19: 271 G. Deleuze/F. Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 66.
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POST–ADRESSEN „Gab die Frau nicht mit dem Spinnen ein über Jahrhunderte gehaltenes gleichwohl mühevolles Privileg ab? Wurde nicht die Spindel der Notwendigkeit in der industriellen Revolution aus den Händen der Frau genommen?”
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Dank ihrer simplen und effektiven Technik kann „Spinning Jenny” mehrere Fäden auf einmal aufnehmen, verschiedene Arbeitsabläufe zusammenfassen und rationalisieren. Sie kommt einem Verlangen nach höherer Produktivität entgegen. Das Diktat der Zeit entsteht. Strategien der Disziplinierung und arbeitsförderliche Moral sind gefragt. Zuchthäuser und Arbeitshäuser dienen als Industrieschulen. Stillstehende Maschinen kommen einer Katastrophe gleich, immer höher geschraubte Zeitansprüche wollen erfüllt werden. 1851 besucht Prinz Albert die säkularisierte Kathedrale von Fleiß und Askese, einen Zwirnsaal (The Doublin Room) in der Nähe von Bolton. Ein Chronist hält die „leise und süße Musik” zur Untermalung einer idyllischen Inszenierung fest.273 Ein halbes Jahrhundert später ist der Versicherungsvertreter Franz Kafka mit Dienstreisen beauftragt, die ihn zu Kontrollvisiten in die „Wollwaaren-Fabrik Johann Liebig” im nordböhmischen Reichenberg, die Teppichfabrik Ginzkey in Maffersdorf, die „Wollwaaren-Fabrik Ignaz Klinger” in Neustadt an der Tafelfichte und die „Kammgarn-Spinnerei Anton Richter’s Söhne” in Raspenau-Mildenau führen.274 Haben diese Besuche zu Odradek inspiriert? Denn auch das kleine Odradek ist „nicht nur eine Spule”, es weist auch erste Züge einer komplizierteren Maschine auf: „aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines.” Warum „das Ganze” mit Hilfe dieser rechtwinkligen Anordnung ohne fremde Hilfe „wie auf zwei Beinen aufrecht stehen” kann, bleibt allerdings ein physikalisches Rätsel. Odradek gibt nicht immer Antworten auf die Fragen, die man unwillkürlich an ihn richtet wie an ein Kind, „– schon seine Winzigkeit verführte dazu –”. Wenn er es doch tut, dann begleitet von einem Lachen, das zutiefst fremd ist. Es destabilisiert, irritiert. In seinem ver-rückten Auftreten steht das Fabelwesen den „Unfertigen und Ungeschickten”, Gehilfen und Boten, „als einzige dem Schoße der Familie entronnen”, in nichts nach. Sie sind wie Kinder, „wie Wahnsinnige: schon von Rechts wegen unfähig, Absender von Briefen zu werden oder Eigentum an Briefen zu erlangen, die an sie adressiert sind.”275 Odradeks obdachloses Dasein läßt den virtuellen Text-Raum aus den Fugen
272 Werner Siebel: „Industrialisierung des Spinnens”, in: Gerburg Treusch-Dieter (Hg.), Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit, Berlin 1983, S. 109. 273 Vgl. ebd., S. 154. 274 Vgl. Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Berlin 1983, S. 106ff.. 275 B. Siegert, relais, S. 209.
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geraten. Eine zweckbefreite Konstruktion räumt sowohl mit teleologischen Idealen als auch mit industrieller Rationalität auf. Zu nichts nutze, benötigt die sich selbst hervorbringende, parthogene Maschine keine menschliche Arbeitskraft mehr. Odradek ist in der Lage, sich selbst in Bewegung zu setzen, er ist „außerordentlich beweglich und nicht zu fangen”, hält sich „abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf.” Auf dem Dachboden sind bei Kafka das Gesetz und der Name zuhause.276 In den Fragmenten zum Jäger Grachus wird diese Geschichte erzählt: „Die Kinder hatten ein Geheimnis. Auf dem Dachboden in einem tiefen Winkel inmitten des Gerümpels eines ganzes Jahrhunderts, wohin kein Erwachsener mehr sich tasten konnte, hatte Hans, Sohn des Advokaten, einen fremden Mann entdeckt.”
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Die Fragmente stammen aus der Zeit, in der Kafka in der Alchimistengasse 22 wohnt. Es entsteht Mitte Dezember 1916, etwa fünf Monate vor Die Sorge des Hausvaters, den letzten dort geschriebenen Seiten. „In einem tiefen Winkel”, am Ort des Gerümpels und der vergessenen Dinge kommt es zur Entdeckung eines Fremden. Daß Kafka den „korrelativen Begriffen des Suchens und Findens” mißtraut, ist nicht neu.278 Was aber hat das mit dem Ort des Fundes auf sich? „Die Böden sind der Ort der ausrangierten, vergessenen Effekten.”279 Dachböden konfrontieren mit gewünschten und gefürchteten (Spiegel)Blicken. Gerümpel steht im Weg, es überrumpelt mit einer Befremden hervorrufenden Situation. Ein Moment doppelgängerischer, „im Freudschen Sinne unheimliche[r] Selbstbegegnung”280. Der Mann „auf dem Dachboden”, der den gleichen Vornamen trägt wie sein kindlicher Entdecker Hans, ruft schlagartig das Wilde auf, von dem sein Beruf als Jäger abhängt: „‚ich bin auch ein Hans, heiße Hans Schlag, bin badischer Jäger und stamme vom Koßgarten am Neckar. Alte Geschichten.’”281. Welche Dinge aber wer276 Vgl. Sibylle Benninghoff-Lühl: „Das Theater im Namen: Franz Kafkas ‚Teater von Oklahama’”, in: Journal of The Kafka Society of America, 1, 1994, S. 220. 277 Franz Kafka: „Auf dem Dachboden”, in: F. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, S. 13. 278 G. Neumann, „Gleitendes Paradox”, S. 705. 279 W. Benjamin, „Franz Kafka”, S. 431: „Vielleicht ruft der Zwang, vor dem Gericht sich einzufinden, ein ähnliches Gefühl hervor wie der, an jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heranzugehen.” Vgl. auch Viktor Klemperer: 18 LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1999, S. 9: „Fenster mußten vor der Fliegergefahr entdunkelt werden, und so ergab sich die tägliche Arbeit des Entdunkelns. Hausböden durften bei Dachbränden den Löschenden kein Gerümpel in den Weg stellen, sie wurden entrümpelt.” 280 Irving Wohlfarth: „Märchen für Dialektiker. Walter Benjamin und sein bucklicht Männlein, in: Klaus Doderer (Hg.), Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Aspekte der Kinderliteratur in den zwanziger Jahren, Weinheim/München 1988, S. 120-176, hier S. 135. 281 F. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, S. 14.
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den in den (W)Orten entdeckt? „Dach” ist über das althochdeutsche tâha mit „Dohle” verwandt. Übersetzt man ins Tschechische, wird daraus kavka.282 Hat man es mit einem schwer zu knackenden Paßwort, einem adressierten Anagramm (Hölderlin) zu tun? Im Bau wird die Verwirrung der Besitzverhältnisse und die Unberechenbarkeit eines Verstecks („meinem […] seinem […] ihrem Haus”) zur Sprache gebracht. Für die kleine Spinn-Maschine Odradek sind sogar noch Possessivpronomen und Eigentumsrechte Fremdwörter. Eine Zwirnspule dreht sich und trifft nach einer Umdrehung wieder auf die gleiche, unmerklich versetzte, andere Stelle. Orson Welles Film Der Prozeß (1963) spielt analog zum Dekor des Textes in aufgegebenen Fabrikhallen. Zwischen den einzelnen Film-Szenen gibt es weder zeitliche noch räumliche Übergänge. Trotz der langen Korridore und endlosen Treppen erscheinen Büro, Theater, Gerichtssaal oder Maleratelier wie die abgerissenen Zwirnfäden der (Film)Rolle Odradek. Ein (näh)maschineller Einsatz erzeugt leise Summ- oder Pfeiftöne: „Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch noch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle”, heißt es in Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse.283 Die Spule nimmt den ambivalenten Gesang Josefines auf, der durch die „Abwesenheit des Tönens, der musikalischen Wirkung” eine „leer bleibende Stelle (anstelle) der Musik markiert.”284 Als „referenzlose Kunst” erinnern kaum hörbare Geräusche an verstellte und latent anwesende Dinge. Sie sind das Pendant einer unaufhörlichen Text-Produktion, Zeit und Effizienz entzogen. Sprache spielt mit Hausnummern und Adressen Versteck: „als (andere) Ana-Grammatik (der Texte).”285 Doch damit des „Sturm[es], der aus dem Vergessen herweht” nicht genug.286 Am 15.7.1912 notiert Kafka lakonisch: „Plato ‚Der Staat’”287. Und am 10.9.1916, nicht weit von Entstehungsdatum und -ort 282 T. Schestag, Parerga, S. 109f.: „Die Zeilen deklinieren, unter der Hand, das Homonym – Dach, tectum – des Kryptonyms Dach – Dohle, kavka, graculus –, das Kafka dekliniert: das Geheimnis, das die Kinder hatten, nistet in dem Wort Geheimnis und in dem Wort entdeckt, den letzten Wörtern – tiefen Winkeln – der beiden ersten Sätze.” 283 Franz Kafka: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, in: F. Kafka, Ein Landarzt, S. 275. 284 B. Menke, Prosopopoiia, S. 735. 285 Ebd., S.736. 286 W. Benjamin, „Franz Kafka”, S. 436. 287 Franz Kafka: Reisetagebücher, Frankfurt a. M. 1994, S. 101. Zu mehr Informationen ist das Reisetagebuch Weimar-Jungborn nicht bereit. Eingekeilt zwischen anderen Hinweisen auf gelesene Bücher – Eugen Kühnemanns Schiller (München 1905) und Gustave Flauberts Briefe über seine Werke – plötzlich der Hinweis auf den staatstragenden Mythos. Vgl. auch Jürgen Born: Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis, Frankfurt a. M. 1990, S. 119f.: Platonis Euthydemus Protagoras. (1898); Platons Ion, Lysis, Charmides. (1920); Platons Phaidros. (1904). Vgl. auch Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt a. M. 1974, S. 53f.: „Wir lasen gemeinsam Platons Protagoras, mit Hilfe von Übersetzung und unserem Schulwörterbuch, oft recht mühevoll. Zu der eigentlichen Bedeutung, die Platon erst viel später (lange nach Kafkas Tod) für
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der Jäger-Grachus-Fragmente entfernt, an Felice: „Ich las zur Störung der Ruhe Ottla Plato vor, sie lehrt mich Singen.” (BF, 693) Abgesehen davon, daß die nachbarliche Nennung der zwei Namen Ottla und Plato das nicht restlos aufgehende, optisch-pikturale Anagramm wiederholt und so ein kulturelles Gedächtnis heraufbeschwört,288 führt die schmale Spur der Anamnesis, hier der Wiedererinnerung an platonische und pythagoreische Traditionen, zurück zur verschmähten, sich als Text eingebenden Musik. In den Paralipomena zu ‚Er’ notiert Kafka: „Alles was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend.”
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Liest man hinter diesen Sätzen den versteckten Wunsch „historisch zu werden” und sich seinen Ruf für die Nachwelt zu sichern,290 so ergibt sich zwangsläufig der Zusammenhang zu altüberlieferten Metaphern des Webens und Spinnens. Stammen sie doch aus Mythen, die nicht nur Zeit und Lebenszeit sondern auch ihr eigenes Gestricktsein, ihre Textualität thematisieren.291 Und so ruft das Pronomen ‚er’ den Namen des Soldaten Er in Erinnerung. Etymologisch blickt Er schon bei Platon auf ein reiches Erbe von etymologischen Genealogien zurück. Er (griech. èr, zusammengezogene Form von ear, ‚Frühling’, engl. ‚Ohr’) kann als männliche Travestie von Hera, Frau des Zeus, verstanden werden. Hera ist im Kratylos wiederum eine As-
mich erhielt, bin ich damals nicht vorgedrungen, wir erfreuten uns vornehmlich wohl nur der bunten und skurrilen Darstellung des Sophistentreibens, der platonisch-sokratischen Ironie.” 288 Zur Vorschriftlichkeit des Anagramms, vgl. E. Greber, Textile Texte, S. 185: „In antiken Technopaignien, barocken Figurengedichten, avantgardistischen Kalligrammen und modernistischen lettristischen Texturen manifestiert sich die Verwandtschaft von Buchstabenartistik und visueller Poesie. Andererseits kann Anagrammatismus für vorschriftliche Kulturen und nicht-schriftliche Kontexte (Kindersprache, Volkskultur) geltend gemacht werden. In schriftlosen Kulturen könnten anagrammatische Wiederholungen als mnemotechnisches Mittel gedient haben.” Zum Anagramm als chambre d’echos, vgl. ebd., S. 194. Durch die Kombination und Rekombination schließt das Anagramm vorherige Reden mit ein, was man auch als Konzeption einer morphischen Resonanz bezeichnen könnte. 289 Franz Kafka: Tagebücher 1914-1923, Frankfurt a. M. 1994, S.175, 13. Januar 1920. 290 Vgl. Gerhard Neumann: „Nachrichten vom ‚Pontus’. Das Problem der Kunst im Werk Franz Kafkas”, in: Wilhelm Emrich/Bernd Goldmann: Franz Kafka Symposium 1983, Mainz 1985, S. 101-157, S. 154. 291 Vgl. dagegen E. Greber, Textile Texte, S. 229. Greber schließt den Mythos von den Schicksalsgöttinnen aus den textilen Texten aus, weil sie „nichts mit Text oder Rede zu tun haben”. Das sich diese kategorische Trennung jedoch nicht aufrechterhalten läßt, zeigt das vorliegende Kapitel.
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soziation des Eros. Schließlich wird Er als Pamphylier bezeichnet, was soviel heißt wie „vom Stamm eines Jedermann”292. In Kafkas Paralipomena ist „er” als versteckt bündelnde Chiffre eingetragen, „hinter der sich ein Ich-Bezug verbirgt”.293 Die dritte Person erlaubt in einer Maske zu sprechen. Bei Platon ist dem Sohn des Armenios Er im Gegensatz zu den anderen Seelen kein Los, also auch kein Schicksal oder „Ich” vorbehalten. Auch Kafkas „er” ist in eine „Kette der Geschlechter” eingebunden, die er gerne sprengen würde: „die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend”. Die „Musik der Welt” führt zum Mythos der Schicksalsgöttinnen. In Politeia geben sie einen sphärenharmonischen Grundton von sich, in dem sich zeitlich differierende Standpunkte zu einer Voraussage vereinigen: „die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos, sängen zu der Harmonie der Sirenen, und zwar Lachesis das Geschehene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Bevorstehende.”294 Diese drei Moiren, „Töchter der Notwendigkeit” bewegen eine „Spindel der Notwendigkeit”, aus deren Schoss sie hervorgehen. Das Gesponnene ist sowohl Faden als auch Licht. Die Moiren bilden eine „platonische weibliche Dreiheit”, sie vertreten eine „Vielheit von Frauen, die tagaus, tagein, hinter welchen Schlössern und Riegeln auch immer, jede ihnen neben der sonstigen Arbeit verbleibende Sekunde spinnend zu nützen haben.”295 Was soll diese „seltsame Mischung aus Mathematik und Mystizismus, deren Ursprung sich bis ins 6. Jahrhundert vor Christus und zu dem geheimnisvollen, griechischen Philosophen Pythagoras von Samos zurückverfolgen läßt”296? Platon zweifelt bei seiner Aufnahme der pythagoreischen Seelenwanderungslehre nicht daran, daß es ein demiurgisches Prinzip gibt, das eine direkte Verbindung zwischen Himmel und Erde garantiert. Bei Kafka dagegen führen abgerissene Fäden nicht mehr in den Himmel. Ein Riß trennt auch Produktions- und Geschlechterverhältnisse. Für Kafkas Maschinen könnte das gelten, was Michel Foucault über Raymond Roussels Maschinen in Impressions d’Afrique (1910) schreibt.
292 Vgl. Übers. v. Bernard Suzanne, „L’anneau de Gygès,” 1999, in: http://phd.evansville.edu/fr/tetra4/republic/er.htm. 293 Vgl. G. Neumann, „Gleitendes Paradox”, S. 707. 294 Platon: Politeia, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 3, Phaidon, Politeia, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Walter F. Otto et al. (Hg.), Hamburg 1990, S. 307, 617c. 295 Gerburg Treusch-Dieter: Die Spindel der Notwendigkeit. Zur Geschichte eines Paradigmas weiblicher Produktivität, Hannover 1985, S. 129. 296 Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet, Zürich 2000, S. 297.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Von der Sprache ausgehend konstruiert, sind diese Maschinen die Konstruktion in actu; sie sind ihre eigene Geburt, wiederholt in sich selbst; zwischen ihren Röhren, ihren Armen, ihren Zahnrädern, ihren Metallsystemen, dem Durcheinander ihrer Fäden binden sie das Verfahren ein, in das sie selbst eingebunden sind.”
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Sowohl das „Durcheinander ihrer Fäden” der „Konstruktion in actu” als auch die Einbindung in „das Verfahren” trifft für die „sternartige Zwirnspule” Odradek zu. Aber wie stellt sich die Idee einer mythischen Wiederkehr, der Präexistenz oder Unsterblichkeit der Seelen in Platons Politeia dar? Kurz vor Schluß wird im letzten Buch (X) zu einer standesunabhängigen Entscheidung aufgerufen, die der homo aequalis in der Polis für sich treffen muß.298 An exponierter Stelle würde die Entscheidung, das Leben noch einmal zu leben, die ganze bisherige Argumentation umwerfen, wenn nicht gegen den Strich, von hinten nach vorne gelesen würde. Der Mythos des auf dem Schlachtfeld erschlagenen Soldaten Er spielt in einem merkwürdigen Zwischenraum, der weder als Hölle noch als Himmel identifiziert werden kann.299 Sokrates bedient sich dieses Mythos, um seinem Gesprächspartner Glaukon eine Lektion zur klaren Unterscheidung von Gut und Böse zu geben. Die scharfe Kritik, die im dritten Buch und zu Anfang von Buch X an Homer und seiner musischen Dichtung geübt wird, hört sich am Ende der Politeia ganz anders an. Dichter wie Homer spielen in Politea die Rolle des Ungeschickten, die auch Kafkas fremder Mann „auf dem Dachboden” übernimmt.300 Die postulierte Einheit, „das größte Gut des Staates”301, steht im Widerspruch zur narrativen Zerstreuung des X. Buches. Durch einen anderen, nicht abbildungsgetreuen Mimesisbegriff wird der Politeia ein festiver Aufführungscharakter verliehen. Während auf der einen Seite der „Teil der Musik, der es mit den Reden und Fabeln zu tun hat” als gefährlicher Fremdkörper aus der idealen Polis ausgeschlossen ist,302 theatralisieren mimetische Elemente auf der 297 Michel Foucault: Raymond Roussel, übers. v. Renate Hörisch-Helligrath, Frankfurt a. M. 1989, S. 77. 298 Vgl. Jean-Pierre Vernant: „L’individu dans la cité”, in: J.-P. Vernant, L’individu, la mort, l’amour, Paris 1989, S. 211-232, hier S. 214. 299 In der Übersetzung von Schleiermacher, Platon, Politeia, S. 304, 614b: „berichtete sodann, was er dort gesehen”. Suzanne macht auf die Uneindeutigkeit von ekei (dort) hin. Während ekei im griechischen oft mit „Hades” in eins gesetzt würde, werde es im Höhlengleichnis auch zur Bezeichnung der „Höhle” oder in Buch VI für „Ideenwelt” eingesetzt. Eine topographische Ambiguität. 300 Ebd., S. 130, 397e: „Vielleicht aber, sprach ich, meinst du, er schicke sich nicht in unsere Verfassung, weil es keinen zweigestaltigen oder gar vielgestaltigen Mann bei uns gibt, da jeder nur eins verrichtet. – Freilich schickt er sich nicht.” 301 Platon, Politeia, S. 183, 462a. 302 Vgl. Platon, Politeia, S. 130, 398b und S. 183, 462c: „Entsteht nun dergleichen nicht daraus, wenn die im Staat nicht zusammen aussprechen solche Worte wie ‚mein’ und ‚nicht mein’? Und mit dem Fremden ist es wohl ebenso? – Offenbar freilich.”
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anderen Seite die Rede des philosophischen Pädagogen. Allein das dialogisierende Verfahren betont „Stimme und Gestus”.303 Dazu kommt der szenische Charakter der Rahmenerzählungen,304 ein „Schachtelspiel” (Kierkegaard). Die Erzählung (des Tyrannen Ardiaios des Großen, 615c-616a) steckt in der Erzählung (Er-Mythos), die am Ende einer Erzählung (Platons Politeai) erzählt wird (Sokrates). Diese Verschachtelung wiederholt sich im Bild der „Spindel der Notwendigkeit”, die ähnlich wie Odradek eine merkwürdige Spannung produziert, indem sie einen Faden spinnt. Mit dem Unterschied, daß hier drei Frauen am Werk sind, die zugleich tun was sie sind: Sie bedienen eine Spindel, aus deren Schoß sie hervorgehen. Die „Spindel der Notwendigkeit” tritt an einem „Band des Himmels” auf, „welches wie Streben an den großen Schiffen den ganzen Umfang zusammenhält”: „Die Gestalt […] sie sei so, als wenn in einer großen und durchweg ausgehöhlten Wulst eine andere ebensolche kleinere eingepaßt wäre, wie man Schachteln hat, die so ineinander passen, und ebenso eine andere dritte und eine vierte und noch vier andere.”305
Auf den ineinanderliegenden Rändern sitzen, sich „in einem ganzen entgegengesetzten Schwung” drehend, die drei Moiren. Sie geben jeweils „eine Stimme von sich […], jede immer den nämlichen Ton, aus allen achten aber insgesamt klänge dann ein Wohllaut zusammen.”306 Obwohl Sokrates noch zu Anfang beteuert hatte, er wolle keine „Alkinoos-Erzählung mitteilen”, referiert er die homerische Szene am Hof des Phäaken (Odyssee, XII, 37-200). Doch während Homers Sirenen singen, um Vorüberfahrende vom Weg abzulenken, rufen sie in Politeia zu harmonischen und beispielhaften Lebensweisen auf. Wo Sirenen auftauchen, darf ihr Held Odysseus nicht fehlen.307 Der wiederauferstandene Soldat Er sieht, wie die toten Seelen ein zweites Mal ihr Schicksal wählen können. Seine Geschichte erzählt die Wahl des Einzelnen und entlastet die Götter vom Vorwurf, allein nach dem Zufallsprinzip vorzugehen. Das Orakel legt nur die Reihenfolge fest, in der gewählt werden darf. Tote Seelen sind noch nicht oder nicht mehr in einen Körper gezwängt und ihre Psyche ist noch nicht zur Ideenschau befähigt. Für sie
303 Vgl. Samuel Weber: „Theory and Theatre”, in: L. Verbeek/ B. Philipsen (Hg.): Die Aufgabe des Lesers, S. 84. 304 Zur nicht zu Ende geführten Rahmenerzählung in Platons Timaios, vgl. Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Tübingen 1907, S. 265f., Anm. 2. 305 Platon, Politeia, S. 306, 616d. 306 Ebd., S. 307, 617b. 307 Ebd., S. 309, 620c.
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spielt es keine Rolle, ob der Mythos von hinten oder von vorne gelesen wird.308 Warum wie gewählt wurde, ist bei Wiedergeburt dem Vergessen anheimgestellt. Wie man es dreht und wendet, die berühmte Nacherzählung entbehrt nicht „sokratischer Ironie, als er die ganze mühsam errichtete und in ihrem unerbittlichen Verlauf beschriebene Politeia überflüssig macht.” Entgegen aller Beteuerungen über den Zufall der Chance und die Gleichheit des Loses ist in dem Moment, in dem die „Verwalter der Stadt” herauszubekommen beginnen, für welches Schicksal und für welches Amt im Staate der einzelne bestimmt sein könnte”, alles entschieden: „Jeder hat gewählt, ob er gewählt wird oder nicht.”309 Die „Spindel der Notwendigkeit” arbeitet wie eine Kanzlei zwischen Archiv und Depot. Die Befehle des Kaisers abrufen aber müssen die Untertanen selbst. Auch gründet Platon wie Engels den „selbstverständlich jeweils unter verschiedenen Ausgangsbedingungen ins Auge gefaßten geschichtlichen ‚Anfang’, auf die Funktion der Spindel.”310 Platons in der Politeia nicht verwendeter Begriff der machina geht „auf ein komplexes, zweckgerichtetes, aber in seiner Zweckmäßigkeit nicht ohne weiteres durchsichtiges Gebilde, auch eine Veranstaltung dieser Art [zurück]: ein listiges Manöver, ein betrügerischer Trick, eine verblüffende Wirkung”. Maschinen, so Blumenberg, bringen „eine für den unkundigen Zuschauer verblüffende Wirkung zustande”311. Die Maschine richtet die Welt als Theater ein und gibt sie ihren Zuschauern als Wirklichkeit zu verstehen. Der Akt der Übersetzung und die Arbeit der Kanzlei gehören insofern ebenfalls zur – folgenreichen – Welt des Theaters. Sie entpuppen sich gar als rhetorischer Dreh- und Angelpunkt des Textes, der sich um sich selbst dreht. Nimmt man von Platons Ort zwischen Hölle und Himmel den Faden der Spindel wieder auf zu den „ineinander verfitzten Zwirnstücken” der Spule Odradek, so erstaunt es nun nicht mehr, warum auch diese moderne SeelenMaschine alle anderen überleben wird. Odradek repräsentiert keine Macht, er dreht sich um sich selbst. Er gibt keine Adressen aus, verbindet nicht mit einem Aktendepot. Und auch dem erzählenden, garnspinnenden Hausvater ist jeder Grad an Geschicklichkeit abgesprochen. Locker abgerissene Fäden, die einst die Spinnerin am Handspinnrad noch kunstvoll nebeneinander zu legen wußte, haben sich ineinander gewickelt und sind zu Filz geworden. Die techne, die Kunstfertigkeit einer flinken Hand(-Schrift), löst eine (Schreib-)
308 Zur „Seele”, die „der Idee unter den Dingen der Welt am ‚ähnlichsten’” ist, vgl. E. Rohde, Psyche, S. 269. 309 H. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 180. 310 Gerburg Treusch-Dieter: Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit, Berlin 1983, S. 12. 311 Hans Blumenberg: Paradigmen einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 40.
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Maschine ab, an der das Garn der theatralen machina gesponnen wird. Kreisbewegungen von Spindel und Spule verweigern den Ablauf eines final orientierten Herstellungsprozesses. Die unhörbare ‚Stimme’ Odradeks mündet im Lachen, „stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint”. Lachen ist die „rettende, gegen sich selbst gerichtete Waffe, gegen die Ohnmacht, aus sich selbst auszubrechen.”312 Was die Maschine Odradek zum mythischen Verwandten des Seelenwanderungsmythos macht, sind seine mathematisch ausgeklügelten und doch „sinnlosen” Umdrehungen. Von pythagoreischen und orphischen Traditionen nährt sich die nicht erst von Platon erfundene Erzählung des Pamphyliers Er. Wenn Philosophie sich mit dem Kosmos befaßt, liefert die Mathematik dazu die Zahlen. Und deren Proportionalität: Zahlenverhältnisse sind die Basis von Sternenkonstellationen, Intervallen, Konsonanten, Musik. Indem Pythagoras rationale Prozesse in Gang setzt, entdeckt er die irrationalen Zahlen. Der Philosoph ist zugleich ein religiöser Fanatiker, „dem es gelang, Mathematik und Mystik zu einer der faszinierendsten Synthesen der Geistesgeschichte zu verschmelzen.” Zahlen steigen bei Pythagoras zum Rang der Götter auf, die mit immaterieller Magie dazu angetreten sind, „die Seele von den Ketten des Fleisches zu befreien, damit sie so oft wie möglich in das göttliche mathematische Reich jenseits der materiellen Ebene aufsteigen konnte.” Sind diese „pythagoreischen Untertöne” der Anfang vom Ende heutiger kybernautischer Träume? Wird hier der „Geist” digital heruntergeladen, um sich in einer mathematischen, körperlosen „Cyber-Seele” niederzulassen?313 Die Sorge des Hausvaters nimmt „abgerissene, alte, aneinander geknotete […] Zwirnstücke” bis zum „Band des Himmels” der Politeia wieder auf, um ironisch auf seine Risse aufmerksam zu machen. Die mythische Idee der wandernden „Seele” und die Wahl des Einzelnen sind als Pole in die Arbeit am Mythos eingeschrieben.314 Die Aufnahme von Seelenmythos und Staatsideal kritisiert das Diktat der Zeit und der festen Adresse, deren „Witz” (Geist) auf Zerstreuung zielt. Schon Platons Schicksalsgöttinnen tragen irritierende Züge, weil zwei ihrer Namen genau das Gegenteil von dem bedeuten, was sie (zeitlich) darstellen sollen: die Spindel der Notwendigkeit (Anagkè) kreist um die drei Moiren (moirai bedeutet ‚Teil’ oder ‚Los’, ‚vom Schicksal zugewiesenes Teil’) Lachesis, Klotho und Atropos. Während aber 312 Michel Vanoosthuyse: „Le rire de Kafka”, in: Maurice Godé/Michel Vanoosthuyse (Hg.), Entre critique et rire. Le Disparu de Franz Kafka. Kafkas Roman Der Verschollene, Montpellier 1997, S. 193-205, hier S. 197. 313 Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet, Zürich 2000, S. 298. 314 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 13: „‚Horizont’ ist nicht nur der Inbegriff der Richtungen, aus denen Unbestimmtes zu gegenwärtigen ist. Es ist auch der Inbegriff der Richtungen, in denen Vorgriffe und Ausgriffe auf Möglichkeiten orientiert sind.”
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Lachesis (‚Schicksal’, ‚vom Los erhalten’) von der Vergangenheit spricht und Atropos (‚das was man nicht wenden kann’, das ‚Unwandelbare’) die Zukunft voraussieht, ist einzig Klotho (vom Verb ‚spinnen’ ist die Form als ‚ich spinne’ übersetzbar) an ihrem Platz, wenn sie von der Gegenwart redet.315 Diese Umdrehung um die Achse der Gegenwart entspricht der Struktur einer Erzählung, die, wenn sie umgekehrt gelesen wird, statt von gestorbenen von geborenen Seelen berichtet, die sich trotz kosmologischer und göttlicher Vorbestimmung für ihr Schicksal entscheiden. Die verschachtelte Konstruktion der „Spindel der Notwendigkeit” antizipiert weitere „Erzählungen”, die zwischen Kosmologie (Timaios) und Gesetzgebung (Nomoi) vermitteln. Wenn sich Inversion und sokratische Ironie im Rahmen der Politeia als „notwendig” erweisen, so wird damit doch die tragische Komik eines wiederholten, zum zweiten Mal ‚gewählten’ Schicksals nicht revidiert. Die „Sorglosigkeit des Komischen”316 reißt am Ende auch noch die „schmerzliche Vorstellung” des „Hausvaters” mit, der sich vor ernsthafte Existenzfragen gestellt sieht. Odradek läßt sowohl apokalyptische als auch utopische Töne vermissen. Über alle (religiösen) Differenzen und Vorbehalte hinaus317 – führen die Spuren des Komischen zuletzt vom „Stern” zum „Zimmernachbarn” und „Freund” Kierkegaard zurück: „Zum Ernste des Todes gehört eben das eigentümlich Aufweckende, dieser tiefsinnig spottende Oberton”318 Spott erntet „der Philosoph”, wenn er glaubt, „die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also z.B. auch eines sich drehenden Kreisels genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen.” Anders als Jäger Gracchus, der bei einer seiner Verfolgungsjagden gestorben ist und sich nun als Toter „bald oben, bald unten, bald rechts, bald links” herumtreibt, „immer in Bewegung”319, lauert „der Philosoph” den Kindern auf, um ihr Spielzeug einzufangen und es stillzustellen: „[…] hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich
315 Vgl. Übers. v. Bernard Suzanne: „ L’anneau de Gygès”,„Le mythe d’Er le Pamphylien”, in: http://plato-dialogues.org/fr/tetra_4/republic/er.htm vom 16. Mai 2004. 316 Bernd Müller: „Denn es ist noch nichts geschehen”. Walter Benjamins Kafka-Deutung, Köln et al. 1996, S. 39. 317 Vgl. Max Brod/Franz Kafka: Eine Freundschaft: Briefwechsel, Malcom Pasley (Hg.), Frankfurt a. M. 1989, S. 237f.: „[…] das Grundmotiv des Bruches ist bei ihm [Kierkegaard], wenn er sich recht erkennt, etwas Negatives, nämlich seine Schwermut. Du dagegen berufst dich auf positive Möglichkeiten. Sollte das auf den Gegensatz christlich: jüdisch hinauslaufen? ” 318 Sören Kierkegaard: Leben und Walten der Liebe, übers. v. Albert Dorner/Christoph Schrempf, Jena 1924, [Erbauliche Reden 3], S. 361. 319 F. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, S. 43.
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POST–ADRESSEN in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.”
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Der Kreis hat sich geschlossen. So wie Adressen allmählich in Register eingehen, um ein schnelles Wiederauffinden der Daten zu ermöglichen oder Lese- und Sucharbeiten zu rationalisieren, geht „der Philosoph” zu den Akten über, wenn er sich in den Dienst von Verwaltungssystemen zu stellen und Kanzleitätigkeiten zu verrichten beginnt. Odradeks ausbleibende Botschaft adressiert sich nicht umsonst an das Einheit postulierende Staatsideal von Platons Politeia. Schon dort spinnt der Faden Reproduktion und Produktion mit ein. Er „dauert, während er verbraucht wird. Sein Verbrauch ist wiederholbar.”321 Kafkas Kreisel und Spule aber stellen noch radikalere Konstruktionen aus. Denn seit Platon haben Register damit angefangen, Adressen zu systematisieren, Handlungen zu datieren und festzustellen: actum et datum. Was die Erkenntnis mit sich bringt, daß sich Adressen nicht mehr auf ein demiurgisches Prinzip berufen können. Welche Unabschließbarkeiten das mit sich bringt, zeigt das folgende Kapitel. Es wendet sich einer Schwelle zu, die eine historische Wende in der Geschichte des Lesens markiert. Mit Dantes Divina Commedia setzt der Beginn einer über sich selbst sprechenden Moderne ein, in der einem Imaginären unüberhörbar Mitspracherecht eingeräumt wird. Zwar besteht die theologische Fassung der Jenseitsräume nach wie vor, aber Autor wie Leser können von nun an nicht mehr mit dem Schutz von religiösen oder staatlichen Autoritäten rechnen, die das Gesagte einer festen Adresse unterstellen. Diese Arbitrarität hinterläßt ihre Spuren im Text. Indem die Divina Commedia ihrem Leser die allegorische Entschleierungsarbeit wie eine köstliche Speise vorsetzt, konfrontiert sie ihn zugleich mit ihren unverdaulichen Resten. Die Leser-Adresse erhält nun nicht mehr nur einen ornamentalen, sondern einen ontologischen Status. Am Firmament eines ins Jenseits entführenden Textes, spricht es imperativ und doch zögernd: Pensa lettore. Wer spricht hier eigentlich?
320 Franz Kafka: „Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielen. Der Kreisel”, in: F. Kafka, Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1994, S. 176-177. 321 Gerburg Treusch-Dieter, Die Spindel der Notwendigkeit, S. 40.
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„Pensa Let t or” (Dant e Alighieri) „Die Komposition seiner Gesänge erinnert an den Fahrplan des Flughafenverkehrsnetzes oder an das unermüdliche Hin und Her der Brieftaubenpost.”1
Anrufung des Lesers Angesichts von Maschinen in Form von Spulen und Spindeln, abgerissenen und verknoteten Fäden stellt sich die bekannte Frage: Wer spricht? Natur, Gott, Schicksal, Bürokratie – oder ein ominöses ‚Ich’, dem alles Botschaft wird? Wer ist die Spinne im Netz?2 Zu Dante Alighieris Zeiten glaubte man noch an einen deus absconditus, der im Hintergrund die Fäden knüpft und die entferntesten Kontinente miteinander verbindet. Zugleich markiert der Zeitraum vom ausgehenden 11. bis zum 14. Jahrhundert eine „Wende in der Geschichte des Lesens”. Mit den Städten wachsen die Schulen, verbreiten sich Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben, die als Praktiken ineinandergreifen: „Man liest, um zu schreiben: für die compilatio, die besondere Methode der Scholastik, Werke zu verfassen. Und man schreibt mit Blick auf die Lektüre.”3 Wie im Frühmittelalter existieren laute und stille Lektüren nach wie vor nebeneinander.4 Über alles zusammen waltet die ratio, die bei Dante ebensowenig vernachlässigt wird wie die spirituelle Fixierung des Geschrie-
1 Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante, Leipzig/Weimar 1984, S. 57. 2 Aktuelle Textilmetaphoriken sind natürlich verführerisch (das WorldWideWeb heißt auf russisch „allüberall ausgespanntes Spinnennetz”), verwischen allerdings den Gegensatz zwischen den verschiedenen, tier– oder handgemachten Textilien. Vgl. E. Greber, Textile Texte, S. 465f.. 3 R. Cavallo/G. Chartier, Die Welt des Lesens, S. 34. 4 Zum Verstummen des Lesens im Mittelalter, vgl. Josef Balogh: „Voces paginarum”. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, Leipzig 1927, S. 89. Dies hat sowohl technische (die großen Lesesäle der Klöster) als auch ideelle Gründe (Einkehr und Meditation als Ideal des silentium). Vgl. auch Barbara Tuchmann: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, Hildesheim 1997.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
benen auf den Leser. Die Divina Commedia leistet die schwierige und zugleich aufregende Arbeit, zur virtuellen Reise durch drei Schrift-Räume des Jenseits einzuladen: Inferno, Purgatorio und Paradiso. Dem beschwerlichen Abstieg in innere, unterste Erdschichten hineinragende Höllentrichter, eine vorfreudianische, innere Reise ins Unbewußte,5 winkt die erlösende Leichtigkeit himmlischer Sphären. Nach einem mühsamen Aufstieg auf die sieben aufeinanderfolgenden Terrassen des Läuterungsberges öffnet sich schließlich der Ausblick auf ein lichtdurchflutetes Paradies. Bei dieser letzten Expedition scheinen physische Beschwerlichkeiten überflüssig geworden zu sein. Im pfeilschnellen Sphärenflug vollzieht sich die Aufwärtsbewegung wie von selbst. Indem das immaterielle Paradies in einen transzendenten, rein geistigen Bereich führt, den das Purgatorio bereits vorbereitet, lockt es zugleich mit der Utopie, sich von Übertragungs-Problemen und körperlichem Widerstand ein für allemal lossagen zu können. Doch gerade die Darstellung eines schwerelosen Raums erweist sich als problematisch, wenn nicht gar als unmöglich.6 Wenn Dantes Lösung des Rätsels „eine ekstatische Auflösung in Geometrie” ist, erübrigt sich damit noch nicht die Frage, wie diese reine Geistigkeit rhetorisch bewältigt wird. Wie die Vorstellung vom Cyberspace entzieht sich die Vorstellung vom Himmel (nur im englischen wird zwischen heaven und sky unterschieden) logischer Meßbarkeit. Cyberspace wie Himmelsraum nähren die Illusion einer „Gesamtheit von Zeit und Raum”7. Diese absolute Immanenz hat zur Behauptung geführt, mit der Aufhebung physischer Widerstände würden nationale Grenzen oder kulturelle, soziale und sexuelle Differenzen keine Rolle mehr spielen. Gesellschaftliche Utopien, die sich auf die Erlösung durch Religion und Technologie berufen, begleitet ein eschatologischer Diskurs, in dem sich auch koloniale Kategorien als außerordentlich resistent erweisen. Der Florentiner Dante nutzt daher die Divina Commedia zur Abrechnung mit einem „überaus gefährlichen, verworrenen und räuberischen Zeitalter”8. Lange vor den elektri-
5 Vgl. John Freccero: „Introduction to Inferno”, in: Rachel Jacoff (Hg.), The Cambridge Companion to Dante, Cambridge 1993, S. 175. Das Inferno steht „sozusagen für die innere Distanz eines Abstieg ins Ich”. Dante folgt eher Augustinus’ Ruf nach Innen und weniger Homers Odyssee. Zu Freuds Höhleneinschätzung als innerer Hölle, vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 568f. u. 699: „Freud selbst hat gern von der ‚unterirdischen’ Arbeit gesprochen […]. Damals [bei einer Höhlenbesichtigung 1898] hatte Freud aus der Höhlenunermüdlichkeit heraus über die Unterwelt von St.Cangian vermerkt, Dante hätte für sein Inferno nicht mehr viel Phantasie gebraucht, wäre ihm dieser reine Tartarus bekannt gewesen.” 6 Die Darstellung des Paradiso stelle vermutlich vor das größte Paradox in der Geschichte der Poesie, so Marguerite Chiarenza: „The Imageless Vision and Dante’s Paradiso”, in: Morton W. Bloomfield (Hg.), Allegory, Myth and Symbol, London 1981, S. 103–119. 7 M. Wertheim, Himmelstür, S. 72. 8 O. Mandelstam, Gespräch, S. 59.
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schen Visionen im 19. Jahrhundert drückt sich der Traum von einer unendlichen Gerechtigkeit in der Poetik einer „mesmerisierenden Adresse”9 aus. Dantes Raumfahrt durch einen mittelalterlichen Kosmos erzählt sowohl Anstrengung als Vergnügen eines „in-die-Luft-Sprechens”10. Auch tote, körperlose Seelen sind in den Schrift-Räumen auf Archivierung, Übertragung und Aktualisierung angewiesen. Erst im Anruf eines reisenden Dichter-Boten lösen sich einzelne Gestalten und Schicksale aus der Menge der Geister heraus. Deren Erzählungen liefern die Fäden, aus denen sich der Traum der Reise spinnen läßt. Je nachdem, ob bestraft oder geläutert werden soll, läuft die Spule der Erinnerung vorwärts oder rückwärts ab. La spola, im Purgatorio im Sinne von Schifflein gedacht, bedeutet „im Toskanischen ebenso das Weberschifflein”.11 Sie kommt in allen drei cantica vor: im Inferno als abschreckendes Beispiel für „ l’ago, La spola e il fuso, e fecersi„ – „Nadel, Webstuhl und Spindel für den Zauber”12, im Purgatorio als Bild für die Wassertäuferin Matelda (Purg.XXXI,96). Im Paradiso hält sie sich schließlich im „Saum” des Tuches auf, aus dem der Erzählstoff gewebt wird (Par.III, 96).13 La spola taucht zwischen Schiffahrt und Webstuhl auf- und ab. Wie viele andere Metaphern vernetzt sie die drei cantica miteinander. Handwerkliche Vorgänge liefern metaphorisches Material für eine Berufung auf göttliche Vorsehung, die in der gesamten Divina Commedia die Feder führt.14 Zeitgenössische wissenschaftliche Vorgaben für die mittelalterliche Totenwelt mögen erklären, warum aus einer bis dahin wohl quantitativ wie qualitativ beispiellosen Fülle von Adressierungen, Anrufungen und Appellen geschöpft wird. Virgil und andere tote Dichterkollegen oder die vergeistigte Geliebte Beatrice nehmen den Reisenden beiseite, um ihm überirdische Zusammenhänge zu erklären. Verdammte und erlöste Seelen rufen den schattenwerfenden Passanten an, um ihn zur Nachrichtenübermittlung für sich in Anspruch zu nehmen. Er soll noch lebende Verwandte für sie bitten, sich im Gebet an sie zu erinnern. Sirenen, Teufel und andere Dämonen oder Engel 9 Rachel Jacoff: „‚Shadowy prefaces’: an introduction to Paradiso”, in: R. Jacoff (Hg.), The Cambridge Companion to Dante, S. 209. 10 Vgl. John Durham Peters: Speaking into the Air. A History of the idea of Communication, Chicago 1999. 11 Hermann Gmelin: „Kommentar Zweiter Teil: Der Läuterungsberg. Vierter Gesang”, in: Alighieri Dante: Die Göttliche Komödie, Italienisch und Deutsch, Hermann Gmelin (Hg.), 6 Bde, Bd.V, München 1988, S. 85ff.. Künftig zitiert als Gmelin, Kommentar V,85ff.. 12 Dante, Die Göttliche Komödie, künftig zitiert mit Buch– und Versangabe, deutsche Übersetzung in den Anmerkungen, Inf.XX,121–122. 13 Zur Tradition des provenzalischen Wortflechtens, die vom Minnesang bis zu Dante und Petrarca wandert, wo sie vervollkommnet wird, vgl. E. Greber, Textile Texte, S. 55, 86. 14 Par.XXXII,140–141: „Will ich hier schließen wie ein guter Schneider,/Der seinen Rock nach seinem Tuche richtet.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
tragen Drohungen und Heilsbotschaften von göttlicher Seite aus. Was sofort ins Auge fällt, ist der konsequente Einsatz der Leser-Adressierungen. Als Scharnierstelle zwischen der einen und der anderen Welt bilden sie die Voraussetzung für alle anderen Verbindungen. Insgesamt 21mal, siebenmal in jedem der drei Räume, richtet sich das erzählende Ich direkt an seinen Leser, um ihn um Aufmerksamkeit, Beistand oder Kredit für die Konstruktion phantastischer Welten zu bitten. Der Rezeptionsgeschichte der Divina Commedia ist dies natürlich nicht entgangen. Seit den fünfziger Jahren sind es Hermann Gmelin und Erich Auerbach, Leo Spitzer, in neuerer Zeit Guiseppe Mazzotta, John Freccero und zuletzt William Franke,15 die ausdrücklich auf das Phänomen einer emphatischen „ultra-rhetorischen Geste” (Franke) und einer Geschichte des „self-reading” (Mazzotta) hinweisen. Zu Zeiten der Divina Commedia stand die Dualität von Körper- und SeelenRaum, von Leben und Tod noch nicht unter dem Zeichen des Ausschlußes sondern der Spiegelung. Der Tod ist nur die andere Seite des Lebens, nicht sein Exil. Daß die Spiegelung von Körper und Geist physikalische Präzision erfordert, die rhetorisch Anforderungen stellt, macht die genau kalkulierte Verteilung der Leser-Adressen deutlich. Mit der Divina Commedia, das bestätigt die Dante-Forschung einhellig, wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Rhetorik aufgeschlagen. Während sich Augustinus’ Confessiones – trotz aller Zweifel im Modus des Suchens – zur Stabilisierung kirchenväterlicher Autorität noch auf ein „inneres Wort” beruft, erhält die auctoritas in Dantes Leser-Anrufung plötzlich merkliche Risse. Der dunkle Stoff des Text-Gewebes lockt mit der Aussicht, sich einen Spalt zu öffnen und einen kurzen Blick hinter die versteckten Kulissen zu gewähren. „Betrachtet doch die Lehre, die im Schleier/Der dunklen Verse mag verborgen liegen”, heißt es zur Unterstreichung schrecklicher Begegnungen, wie im Inferno im Augen-Blick der versteinernden Medusa.16 Obwohl der poeta vates als „Werkzeug Gottes” zum Boten himmlischer Nachrichtensysteme berufen sein will, muß er sich doch um eine irdische Bestätigung des Empfangs seiner Sendung bemühen. Hier zeigt sich die Ambiguität eines patristischen Unter-
15 Vgl. Hermann Gmelin: „Die Anrede an den Leser in Dantes Göttlicher Komödie”, in: Deutsches Dante–Jahrbuch, 20/21, 1951, S. 130–140. Erich Auerbach: „Dante’s Adresses to the Reader”, in: Romance Philology, Vol. VII, 4, 1954, S. 268–278. Leo Spitzer: „The Addresses to the Reader in the Commedia”, in: L.A. Forcione et al. (Hg.), Representative Essays, Stanford 1988, S. 178. John Freccero: Dante. The poetics of conversion, London 1986 et al. John Freccero: „Introduction to Inferno”, in: R. Jacoff (Hg.), The Cambridge Companion to Dante. Guiseppe Mazzotta: Dante, poet of the desert. History and Allegory in the Divine Comedy, Princeton 1979. William Franke: „Dante’s Address to the Reader and its Ontological Significance”, in: MLN, 109, 1994, S. 117–127. Weitere Hinweise in den nächsten Anmerkungen. 16 Inf.IX,62–63: „Betrachtet doch die Lehre, die im Schleier Der dunklen Verse mag verborgen liegen!”
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nehmens, das sich nicht allein auf seine realprophetische Wartestellung zurückziehen kann, um eine Erfüllung der figurae in Aussicht zu stellen.17 „Man hört, sieht, riecht die Welt, die Dante schildert.”18 Auf welche rhetorischen Momente greift dieses physikalische Realitätsprinzip zurück? Warum kommt der gezielt eingesetzten Leser-Adresse bei Dante nicht mehr nur ein rein ornamentaler, sondern ein ontologischer Status zu? „Pensa, lettor” – „denk nach Leser, besinn dich”19, ruft es eindringlich: „Pensa oramai per te, s’hai fior d’ingegno”20. Um nicht angesichts wunderbarer Erscheinungen zu versagen, setzt eine Taktik des Aufschubs ein. Die Mitteilung ist auf Teilnahme angewiesen. Sie appelliert an einen Vertrauensvorschuß der bestätigenden ratio, beschwört die entschleiernde Arbeit an allegorischen Bildern. Gleichzeitig aber – und hier zeigt sich das Paradox – untersteht die Entzifferungsarbeit den unerklärlichen Eingriffen des Himmels. Außergewöhnlich visuelle Momente wie etwa der verbotene Anblick der Medusa, das Auftauchen des Drachen Geryon, Metamorphosen vom Dieb in eine Schlange oder gar die Erscheinung Luzifers im Inferno, aber auch unglaubliche Ortswechsel und bedrohliche Stimmungsschwankungen im Purgatorio erreichen in der Sternenkonstellation des Paradiso ihren Höhepunkt, die schlicht ins astronomisch Unsichtbare verlagert wird. Am Ort des Lichtes und der blendenden Halluzination versucht eine magistrale Geste, das visuell nicht mehr Darstellbare rhetorisch auszubalancieren. Die Zuschauer werden zum guten Schluß auf die Schulbank ihres Lebens zurückgewiesen.21 Intonationen wechseln je nach Topos oder Schwierigkeitsgrad in andere Tonarten. Doch der beschwörende Orgelpunkt der Adressierung bleibt gleich. Als Gegenmittel, das über ein ängstliches Warten auf Erfüllung von Prophezeiungen hinwegtröstet, wird er gegen Ambiguitäten aufgeboten. Das Hineinholen der Adresse vom (impliziten) Rand in die (explizite) Mitte des Textes, vom Ornament zum Firmament der Lektüre, rückt den Moment des Empfangs ins Zentrum. Die Divina Commedia wirft einen Schatten (umbra)
17 Vgl. E. Auerbach, „Figura”, in: Dantestudien, S. 25f.: „Die Kunst der uneigentlichen, umschreibenden, andeutenden, insinuierenden und verbergenden Redeweisen, durch die der Gegenstand sei es geschmückt sei es wirksamer oder perfider herausgearbeitet werden sollte, war in der spätantiken Beredsamkeit zu einer uns fast unbegreiflichen und seltsam, ja oft albern erscheinenden Vollendung und Elastizität gediehen und jene Redeweisen hiessen figurae. Die Lehre von den Figuren der Rede hat, wie bekannt, noch im Mittelalter und in der Renaissance grosse Bedeutung gehabt…”. 18 M. Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace, S. 45. 19 Inf.VIII,94–96 angesichts der verschlossenen Tore zur inneren Hölle; Purg.XXXI,124–126 bei der Verwandlung des Greifen in eine Christus–Figur, die sich in Beatrices Augen spiegelt; Par.V,109–114 bei der Ankunft im Merkurhimmel, über die wechselseitige Steigerung der Seeligkeit und den Glanz der Gestalten. 20 Inf.XXXIV,22–27: „Denk nun bei dir, wenn dir Verstand gegeben”, beim Anblick Luzifers im Innersten der Hölle, im Moment höchster Erregung. 21 Par.X,22: „Nun bleib, o Leser, auf der Bank nur sitzen”.
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auf das, was sich als figura modernen Lesens herausstellt, nämlich eine wiederholte oder zweite Lektüre, ein Wi(e)derlesen. Durch die Einbeziehung anderer Texte wird die Illusion und die vanitas zerstört, als Leser oder Autor einzigartig zu sein.22 Indem der Text seine performativen (ansprechenden) Mittel offenlegt, spricht er erstaunlich modern über sich selbst. Lesen ist instrumental, weil es an eine (vor)lesende Stimme gebunden ist. Im Gegensatz zum lauten Lesen aber erscheint das stille Lesen eher wie ein passives Zuhören. Es gleicht der Situation des Zuschauers im Theater: „Das visuell ‚(wieder-)erkannte’ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie eine Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich – oder vielmehr: sagen sich – von selbst. Der ‚stille’ Leser braucht nicht auf der Bühne der Schrift einzugreifen…”23 Die Erkenntnis, daß die Buchstaben selbst eine Stimme besitzen, zieht eine Trennung zwischen Bühnenraum und Zuschauer. Dantes Divina Commedia versucht diese Trennung durch direkte Leser-Ansprachen aufzuheben. Der Appell an den Empfänger und sein aktives Lesen steht, wie zu zeigen sein wird, merkwürdigerweise nicht im Widerspruch zu sprechenden Objekten wie etwa der Inschrift des ersten Höllentores im Inferno. Das sprechende Objekt entspricht einer „im Kopf gehörten Stimme”. Theater im Buch, imaginärer Schriftraum. Auch die Leser-Anrufung wendet sich an eine unbekannte Größe in der zweiten Person. William Franke belegt dies mit der partizipatorischen Zeitform des Neologismus voicing.24 In Platons Phaidros ist die „lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden” deutlich von der geschriebenen unterschieden. Der Schrift wird vorgeworfen, nur ein „Schattenbild” der Rede zu sein und „immer daßelbe zu bedeuten”25. Gegen eine passiv erscheinende Rezitation fordert die Explizitheit der Leser-Adresse zur Partizipation auf: pensa lettor. Aus dieser Sicht erscheint Schrift nicht mehr als Verräterin der Rede. Im Gegenteil dient sie gerade als Bühne für die „Vokalschrift”. Allegorische Bilder werden zu schillernden Figuren mit Eigenleben, sie kippen von der conversio in die inversio.26 Wie verhält es sich mit dieser allegorischen Kippbewegung in den Leser-Anrufungen der drei Bücher Inferno, Purgatorio und Paradiso? Schel22 Vgl. Barbara Vinken: „Encore: Francesca da Rimini. Rhetoric of Seduction – Seduction of Rhetoric”, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 62/3,1988, S. 395–415. 23 Jesper Svenbro: „Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens”, in: R. Chartier/G. Cavallo: Die Welt des Lesens, S. 84. 24 Vgl. W. Franke, „Dante’s Address”, S. 119: „This exclusion of the voicing of the relation to the reader from the categories of rhetoric can be understood as stemming from ist ontological character. The address to the reader is assumed as constitutive of poetic discourse per se, rather than being viewed as a technique or device that can be chosen ad hoc to produce a particular effect.” 25 Platon, Phaidros, S. 56, 276a. 26 Vgl. Jon Whitman: „From the Cosmographica to the Divine Comedy: An Allegorical Dilemma”, in: M. W. Bloomfield (Hg.), Allegory, Myth and Symbol, S. 63–86, hier S. 64.
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ling sah in der Dreiteilung der göttlichen Komödie eine Darstellung der verschiedenen Künste. Demnach wäre die Hölle das Reich der Plastik, das Purgatorio das Reich der Malerei und das Paradiso das Reich der Musik.27 Was hat das für die Beziehung von Stimme und Schrift, Halluzination und Vision zu bedeuten?
Inferno: Infernale Apostrophe Die kunstvolle Anwendung des Musenanrufs und anderer Formen der invocatio in der Divina Commedia findet bereits bei Ernst Robert Curtius lobende Erwähnung, der die große Bedeutung zeitgenössischer Rhetorik unterstreicht.28 In der antiken Rhetorik ist die Adresse erst dann ein bemerkenswertes Problem, wenn sich ein Orator an eine andere Person als die der zentralen Richterinstanz zu wenden sucht: aversus… a iudici heißt es bei Quintilian.29 Die rhetorische Figur, die eine Zuwendung als Abwendung, eine oratorische Adressierung als Umweg erscheinen läßt, heißt Apostrophe. Sie kehrt bei Dante im Vokativ der Invektive, in der Schimpf-, Schand-, Klagerede oder auch als in der exclamatio der Lobrede wieder. „it was in his mind and in his ears”, so Auerbach, der den beschwörenden Ton der Apostrophe „Dantes liebstes Kunstmittel” nennt.30 Mittelalterliche Theoretiker verwerfen antike Definitionen von Redefiguren keineswegs, sie passen sie vielmehr ihren jeweiligen Bedürfnissen und Horizonten an. Das zeigen die Handbücher der ars dictaminis mit ihrer Empfehlung eines Standardformats für Briefe. Begriffe wie „scriptor” oder „Leser” und Figuren wie die salutatio oder die captatio benevolentia rücken mit der Verschriftlichung in den Mittelpunkt des Interesses.31 Auerbach macht geltend, daß die Apostrophe erst 27 Vgl. Friedrich W.J. Schelling: „Über Dante in philosophischer Beziehung”, in: Manfred Schröter (Hg.), Schellings Werke, Bd. III: Schriften zur Identitätsphilosophie, München 1927, S. 572–583. 28 Ernst Robert Curtius: „Dante und das lateinische Mittelalter”, in: Romanische Forschungen, 57, 1943, S. 153–185. Wiederabdruck in: Hugo Friedrich: Dante Alighieri. Aufsätze zur Divina Commedia, Darmstadt 1968, S. 409–444, hier S. 432. E. R. Curtius gestaltet die Überlegungen zur Rhetorik selbst als exclamatio: „Man muß schon einen hohen Begriff von der Rhetorik haben, um auf einem Fluge durch das Paradies einen ihrer Kunstgriffe zu erwähnen!” 29 Quintilian, Institutionis oratoriae, IX,38, S. 285. Zur Rezeption Quintilians bei Dante, vgl. Ernst Robert Curtius: „Neue Dantestudien”, in: E. R. Curtius, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1960, S. 332. 30 E. Auerbach, „Dante’s Addresses”, S. 271 u. Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin/Leipzig 1929, S. 46ff.: „Zwingender Befehl und sanfte Bitte, Flehen aus tiefster Qual und hochgemutes Verlangen, pathetischer Anruf, lehrhafte Aufforderung, freundlicher Gruß, süßes Wiederfinden spiegeln sich in dieser langen Reihe”. 31 Zur ars dictaminis, die vom 11. bis zum 14. Jahrhundert im Anschluß an Cicero eine stilistische Doktrin des Briefeschreibens entwirft, deren cursus auch Dante studiert hatte, vgl. James J. Murphy: Rhetoric in the Middle
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dann der Adressierung des Lesers ähnlich werde, wenn sie sich direkt, nämlich in der zweiten Person an ein Gegenüber richte. Daß jedoch der Versuch eines direkten Adressierens schon von einer infernalischen, d.h. nicht mehr reziproken, sondern umwegig abwendenden Geste bestimmt ist, zeigen schon die ersten sieben Leser-Anrufungen im Inferno. Erst der zweite Gesang leitet den Abstieg in die Hölle ein, während der erste in das gesamte Opus einführt und als 34. aus der Zahlensymmetrie der jeweils nur 33 Gesänge enthaltenden Cantiche Purgatorio und Paradiso herausspringt. Die unterirdische Traum-Reise beginnt mit einer Verirrung.32 In der surrealen Waldlandschaft gibt diese Verirrung den Anlaß dafür, die Fäden der Erzählung aufzunehmen und in eine strenge Ordnung einzubinden. Damit sind zugleich Gefahr und Vergnügen des poetischen Vorhabens umrissen. Die Verbindung vom Jenseits ins Diesseits könnte angesichts eines verlorenen „rechten” Weges leicht zusammenbrechen. Mit der allegorisch aufgeladenen Bedeutung der Verirrungsszene im Wald macht der erste Satz auf ein klar geordnetes Bauprinzip der Divina Commedia aufmerksam. Die Konstruktion des Danteschen Infernos läßt das Maß der Sünde mit dem räumlichen Abstieg zu Satan korrespondieren, während im Purgatorio der Aufstieg in umgekehrter Hierarchie erfolgt. Im Paradiso aber ist die noch in Inferno und Purgatorio nachempfundene, wenn auch dort schon durchbrochene Symmetrie gothischer Kathedralen in eine abstrakte „Licht-Architektur” eingegangen, die um den „Heilsinn im litteralen Sinn der Worte” bemüht ist.33 Diese aristotelische Dreiteilung des (ethischen) Raumes spiegelt sich im „schon perfekten Leben der Trinität”34, die überall patriarchale Verbindungen aufbaut – so auch zwischen maestro, autore und lettore. Die Auftritte der beiden Figuren maestro und lettore ereignen sich an wichtigen Stellen des Übergangs, die ähnliche Handlungsbezüge umgeben.35 In der oberen oder äußeren Hölle (1. bis 5. Kreis) bewegen sich die Verdammten der incontinentia, die ihrer Triebe nicht Herr werden konnten: Wollüstige, Schlemmer, Geizige und Verschwender, Zornige und Verdrossene. Angesichts der verschlossenen Tore zur unteren oder inneren Hölle stellt sich das Problem des Anfangs und der Überwindung von Hindernissen zum zweiten Mal. In der von Mauern umgebenen inneren Hölle (6. bis 9.Kreis), der eigentlichen Teufelsstadt, geht es um die nächste Sündenstufe
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Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley et al. 1974. Inf.I,1–3: „Grad in der Mitte unsrer Lebensreise/Befand ich mich in einem dunklen Walde,/Weil ich den rechten Weg verloren hatte.” H. Böhme/G. Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 157. Zur gothischen Symmetrie der Divina Commedia vgl. C. Grandgent, La Divina Commedia, Boston, 1933, S. XXXIV. Christopher Ryan: „The theology of Dante”, in: R. Jacoff (Hg.), The Cambridge Companion to Dante, S. 151. Vgl. H. Gmelin, Kommentar IV, S. 153.
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der malitia. Hier werden Sünden nicht mehr aus Leidenschaft, aber aus Bosheit begangen: Ketzerei, Gewalttat, Betrug und Verrat. Der Übergang von der oberen zur unteren Hölle (Inf.VIII-IX) ähnelt dem vom dunklen Wald in die Vorhölle (Inf.I-II), wo laue, gleichgültige und ungetaufte Seelen büßen müssen. Am Eingang zur Vorhölle ruft die Begegnung mit Virgil den Gewährsmann, Meister und Ahnherren (autore) zum Vorbild (maestro) auf.36 Die poetische Inspiration durch das Vorbild findet im Musenanruf, dem fünf weitere, auf die drei Cantiche verteilte folgen, zu einer weiteren Quelle der Motivation. Der weniger bescheidene als rebellische Dichter bittet seine Götter um Beistand.37 Im zweiten Gesang erscheint neben den stummen Musen auch Beatrice in einer doppelten Allegorie mittelalterlicher Minne und christlicher Theologie. Vor dem zweiten Tor zur unteren Hölle (Inf.VIII) tritt dann endlich die dritte Figur der Konstellation, der lettore, auf. „Pensa, lettor, se io mi sconfortai All suon delle parole maledette, Ch’io non credetti ritornarci mai.”38
Dem apostrophierten lettore kommt die Aufgabe zu, die unglaubliche Reise, über die nur ein Rückkehrer (wie Platons Er) berichten kann, zu bezeugen. Die Möglichkeit einer ausbleibenden Heimkehr steht dabei als Drohung weiterhin im Raum. Bei ausschließlichem Einsatz der ratio droht der Widerstand der Teufel vor der brennenden Höllenstadt Früchte zu tragen. Nur ein Wunder scheint die dramatische Szene in Gesang VIII, in der die beiden Pilger sogar zeitweilig getrennt werden, beschließen zu können. Um „den Durchlaß zu erzwingen”, bedarf es über das Wort Virgils und über die Sendung Dantes hinaus eines „unmittelbaren himmlischen Sendboten”39. Während Virgil den Moment des Wunderbaren in Worte faßt, erinnert er zugleich an die „tote Inschrift” des offenen Höllentores am Eingang zur oberen Hölle. Sie schickt zurück zum Anfang des dritten Gesangs, in der sich das Tor in erster Person an Vorübergehende wendet. Mit einer dreimal wiederholten, das Modell der Trinität widerspiegelnden Anapher, stellt das Tor sich dem Eintretenden wie eine stammelnd-stotternde Stimme entgegen: „PER ME SI VA”:
36 Inf.I,79: „So bist du Virgil, bist jene Quelle,/Die einen solchen Strom der Sprache spendet?” u. Inf. I,85: „Du bist mein Vorbild und du bist mein Meister”. 37 Zum Musenanruf als poetischer Selbst–Definition vgl. John Kleiner: Mismapping the Underworld. Daring and Error in Dantes ‚Comedy’, Stanford 1994, S. 128ff.. 38 Inf.VIII,94–96: „Bedenk, o Leser, wie sehr ich verzweifelt,/Als ich vernommen die verruchten Worte/Und niemals wieder heimzukehren glaubte.” 39 H. Gmelin, Kommentar IV,161. Inf.VIII,130: „Steigt einer, dem sich diese Stadt wird öffnen.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Per me si va nella citta dolente, per me si va nell’eterno dolore per me si va tra la perduta gente, giustizia mosse il mio alto fattore: fecemi la divina potestate, la somma sapienza e il primo amore. dinanzi a me non fur cose create se non eterne, ed io eterna duro. lasciate ogni speranza, voi ch’entrate.”
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Erst die Reaktion des entziffernden Pilgers wirft nachträglich Licht auf die Befremdung, die von den Worten „in dunkler Farbe” ausgeht. Mit dem Satz „Mein Meister, hart ist die Bedeutung.” ruft Dante Sätze der AbendmahlSzene in Erinnerung: „Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?” (Joh.VI,60). Eine offenbar unlesbare Inschrift bespricht die Durchlässigkeit des Tores, das auf der Schwelle zwischen Leben und Tod steht. Dante stellt sich den Eingang der Hölle wie Tore etruskischer Städte oder Gräber vor, „breit und weitgeöffnet im Gegensatz zu der schmalen Pforte des Purgatorio mit den drei Stufen, bei der ihm eine gotische Kirchentür vorschwebt […]. Und wie Stadt- und Palasttore oder auch Glocken manchmal mit einer Inschrift den Besucher ansprechen, so geschieht es auch in Dantes Höllentor.”41 Doch gleich zu Beginn des Abenteuers enttäuscht die Inschrift die „Fiktion der Unmittelbarkeit”42, die eine direkte Anrede oft hervorrufen soll. Die Worte sind zu gemalten Ikonen „in dunkler Farbe” geworden.43 Gerade 40 Inf.III,1–9: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,/durch mich geht man hinein zu dem ewigen Schmerze,/durch mich geht man zu dem verlornen Volke./Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,/geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,/die höchste Weisheit und die erste Liebe./Nur ewiges, und ich muss ewig dauern./Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten.” 41 H. Gmelin, Kommentar IV,62. Der Vergleich Inschrift–Glocken mag darin begründet liegen, daß sich antike Dichter scheinbar „nur einen Leser vorstellen” können, „der die Inschrift laut lesen, folglich auch hören muß.” Vgl. Balogh, „Voces paginarum”. S. 31. Vgl. auch R. Chartier/G. Cavallo, Die Welt des Lesens, S. 18f.: „Wenn die Schrift, wie Jesper Svenbro schreibt, in den Dienst der mündlichen Kultur gestellt wird, um zur Produktion von Klang, von wirkungsvollen Worten und hallendem Ruhm beizutragen, betrifft diese Funktion die Schriftproduktion in der Phase der ‚Auralität’ (mündlichen Veröffentlichung) der griechischen Literatur: Es handelt sich vor allem um Epik oder im weiteren Sinn um Werke in Versen; und zu dieser Kategorie dürfen auch Inschriften oder auf Gegenstände geschriebene Kleinsttexte gezählt werden.” 42 J. Freccero, Dante, S. 98. 43 Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, übers. v. Jürgen Trabant, München 1972, S. 213: „Das ikonische Zeichen konstruiert also ein Modell von Beziehungen (unter graphischen Phänomenen), das dem Modell der Wahrnehmungsbeziehungen homolog ist, das wir beim Erkennen und Erinnern des Gegenstandes konstruieren. Wenn das ikonische Zeichen mit irgendetwas Eigenschaften gemeinsam hat, dann nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes.”
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DIE LETZTE ADRESSE
in Verkündigungsszenen spielen ikonische Zeichen auf Sprechbändern von Engeln eine nicht zu übersehende Rolle. In Dantes Purgatorio tritt der Engel Gabriel als Demutsbild aus Marmor auf, auf dem das Anfangswort Ave der Marienverkündigung „mit solcher Milde” zu sehen ist, „Daß es nicht schien, es sei ein Bild, das schweiget./Man konnte schwören, daß er Ave spreche”44. Den prophetischen Charakter enthüllt das Sprechband jedoch erst, wenn man die Buchstaben Ave rückwärts liest. Durch das Palindrom Eva spricht das Relief des Engels als figura, indem es den Sündenfall Evas durch die Verkündigung Marias – sowohl bewahrend als auch überwindend – aufhebt. Im Inferno kommt der Inschrift eine dem Sprechband des Engels vergleichbar doppelte figurative Bedeutung zu. Indem sie zunächst als eine zu lesende und erst nachträglich als eine zu sehende erscheint, spricht die Inschrift in der Maske eines offenstehenden Tores über die Unmöglichkeit, sich für ein Medium zu entscheiden. Bild und Schrift verlangen sich nicht nur gegenseitig zur Ergänzung, sie bilden das jeweils andere Medium ab bzw. beschreiben es: „zwei Weisen der Repräsentation, die einander eng verbunden sind.”45 Die steinernen Reliefbilder bilden sichtbares Sprechen ab. Während sich in einem ersten Lese-Schritt der Übergang von einer Sinneswahrnehmung (sehen) zur Konzeptualisierung (sprechen) vollzieht, kehrt ein zweiter jenen Prozeß wieder um, indem er das Zeichen auf seine Visualisierung in eingemeißelten Buchstaben-Spuren zurückführt. Durch diese Wiederholung sieht sich der sehend Lesende mit der Differenz eines schriftbildenden Textes konfrontiert. Die Inschrift appelliert an ihre eigene Überwindung, sie streicht sich selbst durch („DURCH MICH GEHT MAN HINEIN”) und setzt sich zugleich als Anfang allen Sprechens („VOR MIR IST KEIN DING GEWESEN”). Indem das Tor in der personifizierten Maske eines transitiven ‚Ich’ spricht, fordert es eine andere Person („man”) zum Tun heraus. Das transitiv sprechende Tor bewahrt den Leser, der beim (Vor)Lesen dem Ich des Textes seine Stimme leiht, vor einer sklavischen Unterwerfung unter das Geschriebene.46 Das personifizierte Tor spricht aus einer Maske heraus. Es ruft, indem es seine Inschrift als versteckte Prosopopoiia, die in den Munde
44 Purg.X,39–40. 45 Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 300. 46 Daß die zweideutige Situation der „Verwirrung zwischen gelesener Äußerung und einer Äußerung, die vom Leser stammt” mit den ersten Inschriften aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. auftaucht, zeigt Svenbro, „Erfindung des stillen Lesens”. Da Lesen heißt, „seine eigene Stimme dem Geschriebenen […] zur Verfügung zu stellen”, übt die Schrift „auf große räumliche und zeitliche Entfernung hin eine Macht aus. Der Schreiber, dem es gelingt, daß er gelesen wird, wirkt auf den Stimmapparat des anderen, dessen er sich, auch nach seinem eigenen Tod, als eines Stimminstrumentes bedient, das heißt als eines Menschen oder einer Sache, die ihm zu Diensten ist, ja, eines Sklaven.” (S. 72)
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einer anderen Person gelegt wird, zitiert.47 Das lateinische Wort persona leitet sich von dem Verb per-sonare (‚verkleiden’) ab und meint ‚die Maske, Larve des Schauspielers’. Persona ist mit per-sono ‚durch und durch ertönen, laut erschallen, widerhallen’, ‚durchschallen, durchtönen’, ‚rufen, schreien’ verwandt48 und macht die Sekundarität und Fiktionalität der Gesichtsverleihung deutlich.49 Der Imperativ, „Lasst jede Hoffnung, wenn Ihr eingetreten”, muß daher offenbar die Macht wieder einholen, die sich im durchtönenden Ruf des personifizierten, allegorisierten Tores zu zerstreuen drohte. Die zu Ikonen gewordenen Schriftzeichen weisen in ein Inferno, in dem verdammte Seelen nicht mehr hoffen dürfen. Analog zur toten Schrift der Inschrift könnte man von einer „Poesie des Todes” sprechen.50 Konsequent wird hier das Rechtsprinzip der Vergeltung (lex talionis) durchexerziert. So müssen beispielsweise die Zwietrachtstifter zur Strafe „hier in der Hölle von teuflischer Hand in alle Ewigkeit aufs neue selbst körperlich zerspalten und verstümmelt” werden.51 Das Inferno ist im wörtlichen und übertragenen Sinne der Schauplatz der Wendungen, eines permanenten „Gegenschritts” (contrappasso).52 Und nicht umsonst erinnert die Figur der Medusa ausgerechnet im Inferno an die Gefahr des Gorgonenhauptes und an das Tabu des Sich-Umdrehens. Das Risiko eines Kippens der conversio in die inversio kulminiert in der infernalisch zurückholenden Apostrophe, im Buchstaben
47 Zur prosopographischen Auslegung des Bibeltextes als verdeckte Prosopopoiia, vgl. B. Menke, Prosopopoiia, S. 139f.: „Der Personbegriff manifestiert sich in der Schriftexegese mit der ‚Zitationsformel’: ex persona (alicuius loqui, ‚aus der Maske sprechen’. Sie ist (in ihren verschiedenen Ausprägungen) ‚ausschließlich als Termini der Exegese erhalten’ und sagt, ‚daß in einem Vers oder Satz der Literatur nicht das grammatische Subjekt des Satzes Träger der Aussage ist, sondern sich dahinter eine andere Person verbirgt. Aus dieser Person spricht ein anderer.’” 48 Vgl. Karl Ernst Georges: Handwörterbuch Lateinisch–Deutsch, Bd. 2, Hannover 1959, S. 1641ff. u. Camille Paglia: Der Krieg der Geschlechter, Berlin 1993, S. 109: „Personare ist das lateinische Wort für Maske aus Ton oder Holz, die von den Schauspielern im griechischen und römischen Theater getragen wurde. Das Wort kommt vermutlich vom Verb ‚personare’ – hindurchtönen oder widertönen: Die Maske war eine Art von Megaphon, das die Stimme bis zu den hintersten Zuschauerreihen hinauftrug.” 49 Vgl. Bettine Menke: „Die Stimme des Textes – die Figur des ‚sprechenden Gesichts’”, in: G. Neumann (Hg.), Poststrukturalismus, S. 226–251, hier S. 229: „Aber mit dem prosopon–Begriff als Terminus grundierender Herkunft aus Dramatik, Grammatik und Rhetorik stellt sich das Problem der Fiktionalität, der ‚Künstlichkeit’, der Sekundarität der ‚bloß’ aufgelegten prosopa, durch die der Text spreche (per–sonare) und die diesen figurieren, lesbar machen.” 50 Vgl. J. Freccero, Dante, S. 101. 51 Vgl. Inf.XXVIII, dazu Kom.IV,410. 52 Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 53: „Man zitiert dieses Rechtsprinzip häufig nach der alttestamentlichen Gesetzesmaxime ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ (Leviticus 24,20), doch ist dieses Prinzip auch in vielen anderen Rechtssystemen, sogar der Gegenwart, anzutreffen. Bei Dante ist die Vergeltung ins Transzendentale gewendet und mit seiner Memoria–Theologie aufs engste verbunden.”
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O, der außerdem noch Laut, Zahl und Kreis abbildet und typographisch versinnbildlicht. Allein die Figur des Anrufs kann dies auch lautlich vermitteln. Eingeleitet durch eine Interjektion, die die antike Rhetorik nur mit Mühe überhaupt der Sprache zurechnet, markiert das lange Oh im Unterschied zum kurzen O den Affekt. Als Buchstabe und Klang bringt der mit O eingeleitete Ausruf die fließende Rede ins Stocken. Der isolierte Vokal ist „der poetischen Nachahmung der tönenden Dinge entgegengesetzt” und der Buchstabe O stößt als „Zeichen des zeichenlosen Affekts” auf zwei entgegengesetzte Bedeutungen, nämlich einerseits „Poetik des nachahmenden Lautes” und andererseits „Rhetorik des wiederholten Lautes” zu sein. Erst im 18. Jahrhundert werden diese gegensätzlichen Momente „zur hermeneutischen Simultaneität” verbunden.53 Der Vokativ „O, mein Leser” holt in der Divina Commedia zunächst die rhetorische Wendung des gestischen Textes nach, der sich plötzlich in der innehaltenden Ansprache und im apostrophischen Beiseitesprechen zu erkennen gibt. Im italienischen Text taucht der vokative Buchstabe allerdings nur in Fällen auf, in denen der Leser nicht beim Namen gerufen, sondern direkt in der zweiten Person adressiert wird: „O voi, O tu”54. Hermeneutische Anstrengungen vorwegnehmend gehen Dantes LeserApostrophierungen noch einen Schritt weiter, wenn sie mitunter durchaus in das „Oh” des Ausrufs übergehen, ohne den repetitiven Hör-Aspekt zu vernachlässigen. So klingt im folgenden Beispiel das „Oh” langsam aus, wenn es sich lautlich in den Endungen nachfolgender Worte wiederholt: „Oh settentrïonal vedovo sito”55. Die zweite Leser-Anrede beginnt beim Anblick Medusas mit einem unterbrechenden O voi: „O voi ch’avete l’intelletti sani Mirate la dottrina che s’asconde Sotto il velame de li versi strani.”
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53 R. Campe, Affekt und Ausdruck, S. 234f.. 54 Die vokative Apostrophierung „O, mein Leser” nimmt allein die Übersetzung Gmelins vor, für die hier rhythmische Gründe den Ausschlag gegeben haben mögen. Das dreimal auftauchende pensa, lettor erscheint als „Bedenk, o Leser”, in der zweiten Anrede (Lettor, tu vedi ben) des Purgatorio heißt es sogar „Mein Leser, du siehst wohl” (Purg.IX,70). Vgl. dagegen Alighieri Dante: Die göttliche Komödie, übers. v. Wilhelm Hertz, Frankfurt a. M. 1955: „Denk, Leser” und „Du siehst nun, Leser”. 55 In Gmelins Übersetzung zu „O du verlaßnes, nördliches Gefilde” geschrumpft (Purg.I,26), vgl. dagegen die Übersetzung von Hertz: „Wie bist du doch verwitwet, nordisch Land”. 56 Inf.IX,61–63: „O ihr mit unverdorbenem Verstande,/Betrachtet doch die Lehre, die im Schleier/Der dunklen Verse mag verborgen liegen!”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Welche Schwierigkeiten wirft die Medusa-Szene auf? Die Lektüre wird zum Blindgänger, wenn sie die Leser-Adressierung als äußerliches, ornamentales Text-Element versteht. In diesem Fall übersieht der angesprochene Leser die Dialektik zwischen dem wandernden und erzählenden Text.57 Dramatische und narrative Momente greifen als Handlungsmomente ineinander. Weil Sehen eine andere Art und Weise ist, den Text zu verstehen – das zeigt die Inschrift – , ist Medusa an dieser Stelle weniger eine Figur, die zur moralischen Warnung dient, als ein Hinweis auf die zu erfüllende Lektüre. Freccero erinnert über die Wahrheitsmetapher hinaus an Paulus’ Überblendung von Jeremias und Ezekiel.58 Die figura der Realprophetie stützt sich auf ihre Medusen, um zwischen Treuen und Untreuen zu unterscheiden: „Wenn unser Evangelium dennoch verhüllt ist, ist es nur denen verhüllt, die verlorengehen; denn der Gott dieser Weltzeit hat das Denken der Ungläubigen verblendet.” (Cor. II,4,3-4). Verblendung und Vision determinieren als sukzessive Momente die Bekehrungsszene. Durch den Schrecken der Medusa und dem Einsetzen einer autoritären Stimme wird die visionäre Szene gleichermaßen für Pilger und Leser wiederholt.59 Einer aversio, die gegen sich selbst und die Welt gerichtet ist, geht die conversio voraus. Diese Doppelung wiederholt die Infernalität der Apostrophe. Apostrophieren heißt jemanden brüsk ansprechen, ihn unterbrechen, anpfeifen. Im Zeichen der Elision, der Auslassung, wiederholt sich das unterbrechende Von-sich-wegrufen, die Unbestimmtheit von Personen, die vorwiegend der Prosopopoiia zu eigen ist, typographisch noch einmal (’): „ausgelassen ist nämlich, wer spricht.”60 Die Zuwendung zum Publikum „von Gott und den Engeln über die Menschen bis zu den Dingen der Welt” vernachlässigt vordergründig ihren (gerichtlichen) Gegenstand, Angeklagte und Richter, von denen sie sich abwendet „(apostrophé: der Redende wendet sich vom Richter ab, einem anderen zu”): „sie lenkt die Aufmerksamkeit auf jemanden oder auf etwas, sie kann speziell eine Ungunst der Richter abwenden, des weiteren stellt sie die Affekte 57 Freccero, Dante, S. 120: „The progress of the pilgrim and the addresses to the reader are dramatic representations of the dialectic that is the process of the poem. Journey’s end, the vision of the Incarnation, is at the same time the incarnation of the story, when pilgrim and author, being and knowing, become one.” 58 2 Cor.III,3–6: „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch”. 59 J. Freccero, Dante, S. 123: „[…] blindness, hardness of heart, darkening of the mind, senselessness; while vision (presumably accomplished by the pilgrim/author and now profered by the reader) corresponds to the eternity of ‚things that are not seen’.” 60 Vgl. Quintilian, Institutionis Oratoriae, S. 285: „Aber auch Gestalten erfinden wir oft, wie Vergil die Fama (das Gerede), […]. Es findet sich auch Rede, die unbestimmten Personen in den Mund gelegt wird […]. Es findet sich auch eingestreute Rede ohne Angabe der Person […]. Diese Form kommt durch eine Mischung von Figuren zustande, wenn zu der Prosopopoiie die Redefigur der Auslassung (Ellipse) hinzukommt; ausgelassen ist nämlich, wer spricht.”
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der Verwunderung, der Empörung, des Schmerzes, der Freude, des Wunsches, der Für- und der Abbitte dar.”61 Unter den Augen eines göttlichen Richters kann die Bekehrungsszene nicht ohne Seitenblick auf Zuschauer stattfinden. Sie sind nun ihrerseits dazu aufgefordert, den Schleier zu nehmen und sich unter die Autorität eines inspirierten, in heiligen Zungen sprechenden Vater-Textes zu stellen.62 Über die Einbeziehung eines Publikums schreibt sich die autoritative Rede als ein ‚ewiges’ Text-Gedächtnis fort. Paradoxerweise ist sie deshalb auch von ihrer eigenen Vergänglichkeit und Zeitlichkeit bedroht. Sie zeigt sich im Spiegelblick der verführerischen Medusa, die auf einen Schlag Liebe, Sexualität und Frau zum Thema macht. Sie läßt die auctoritas versteinern und auf diese Weise sichtbar werden. Um den Schrecken der Nostalgie an erotische Faszination zu binden, fallen in der Divina Commedia so widersprüchliche Figuren wie Medusa, Persephone, Matelda, Pygmalion, Venus und Sirene zusammen, die sich gegenseitig überblenden.63 Weibliche Fabelgestalten locken mit einem Rückruf zum geliebten Anderen. In mittelalterlichen Auffassungen muß die Frage nach einem Selbst im Spiegel des geliebten Anderen (Narziß) als entfremdende Vergötterung und Verfehlung verworfen werden. Es sind schließlich die Worte der Minne selbst, die zu gefallenen Engeln werden. Wie Joseph Kleiner anhand des fliegenden Drachen Geryon gezeigt hat, lassen sich die beschriebenen ikonographischen Korrespondenzen außerdem noch zwischen schweigenden Monstern des Infernos bis in kleinste Details nachvollziehen.64 Der Gesang, in dem der Drache Geryon auftaucht (XVI), steht genau in der Mitte des Buches. Er wird am Anfang und am Ende von zwei anderen schweigenden Trug-Symbolen eingerahmt: von lonza, dem panther- oder lynxähnlichen Raubtier im dunklen Wald, und von Satan Luzifer, der zentralen Höllenfigur, die zum Purgatorio überleitet. Da der Drache durch die Lüfte nach oben schwimmt, ist rein physikalisch gesehen die Begegnung mit ihm so unwahrscheinlich, daß der Leser zum drittenmal angerufen werden muß: 61 R. Campe, Affekt und Ausdruck, S. 242. 62 Vgl. H. Wenzel, Hören und Sehen, S. 476: „Bedeutende Dichter des höfischen Mittelalters […] verstehen sich deshalb als ‚Zungen’, die ohne die Inspiration des heiligen Geistes zur Verkündigung des Wortes gar nicht fähig wären. Im Mittelalter wird die Konsequenz der Schriftlichkeit, das zunehmend komplexere Konzept der voces paginarum, derart immer noch zurückgeführt auf eine authentische Stimme, auf die Autorität eines Vaters. In der Vorstellung des himmlischen Vaters, der das Buch des Lebens in der Rechten trägt, aber zugleich hört und sieht, was in der Welt geschieht, findet der hier untersuchte Sachverhalt, daß die Kommunikation im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung konstitutiv bleibt für die schriftgebundene Literatur des Mittelalters, ihre eindringlichste Symbolisierung.” 63 J. Freccero, Dante, S. 130: „The subject matter of love poetry is poetry, as much as it is love, and the reification of love is at the same time a reification of the words that celebrate it.” 64 Vgl. J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 117ff..
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „Ma qui tacer nol posso; e per le note Di questa commedia, lettor, ti giuro, S’elle non sien di lunga grazia vote, Ch’io vidi per quell’aere grosso e scuro Venir notando una figura in suso, 65
Maravigliosa ad ogni cuor sicuro” .
Durch das Versprechen der Anrufung rückt die Erscheinung des Monsters in den Hintergrund der Bühne. Als romanhaftes, phantastisches Element gehört Geryon nicht mehr dem streng durchrationalisierten Genre der Bekehrungsliteratur an. Doch die phantastische und romanhafte Flug-Szene auf dem Rükken des Drachen, über die der ganze nächste Gesang XVII berichtet, ist aufgrund ihres Charakters dazu prädestiniert, den Terror der Hölle in aller Genauigkeit auszumalen und zugleich über die Mitte des ersten Buches hinwegzutragen. Die aufschiebende Taktik, die in der Leser-Adressierung über ausbleibende physikalische Erklärungen hinwegtröstet, betont die Fiktionalität der literarischen Szene. Der Drache Geryon ist nicht nur ein Transportmittel, das zwischen verschiedenen Buch-Teilen vermittelt, sondern auch ein Vehikel, um die Nähe der Fiktion zum Betrug, ihre gefährliche Anziehungskraft und Anfälligkeit für Perversion vorzuführen. In wenigen Passagen, so Kleiner, sei Dantes Lust an der Übertreibung so deutlich sichtbar geworden. Das Bild eines stummwerdenden Poeten, der vor einem direkten Kontakt mit dem Monster ebensowenig zurückscheut wie vor der Surrealität seiner Szene, reflektiert eher imaginäre Überschwenglichkeit denn Bescheidenheit.66 So spricht dann auch die nächste Leser-Anrufung als Kommentar in eigener Sache. „Von einer neuen Strafe muß ich dichten;/Sie gibt den Stoff zum zwanzigsten Gesange” (Inf.XX,1-2): „Se Dio ti lasci, lettor, prender frutto Di tua lezione, or pensa per te stesso Com’io potea tener lo viso asciutto, Quando la nostra imagine di presso Vidi sì torta, che il pianto degli occhi Le natiche bagnava per lo fesso.”67
65 Inf.XVI,127–128: „Doch hier kann ich nicht schweigen; bei den Tönen/Von dieser Commedia, Leser, schwör ich,/Wenn sie nicht lange Gunst entbehren möge,/Daß ich durch jene dicken, finstern Lüfte/Dort einen Körper sah nach oben schwimmen,/Verwunderlich für alle sichern Herzen” 66 J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 136. 67 Inf.XX,19–24: „So wahr dir Gott, o Leser, fruchten lasse/Das hier Gelesne, magst du selber denken,/Ob mir das Auge trocken bleiben konnte,/Als ich dort unser Bild so sehr verschroben/Gesehn, daß aus den Augen ihre Tränen/Herunterfielen auf die Hinterbacken.”
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Wahrsager müssen im Inferno für ihre Hybris, zu weit in die Zukunft schauen zu wollen, „mit einer die Epilepsie übersteigernden Verrenkung”68 büßen. Der Pilger Dante reagiert auf ihren Anblick mit teilnahmsvoller Mitleidsregung („Da weint ich wahrlich”), die von Virgil scharf verurteilt wird. Zur Ehrenrettung des antiken Dichterfreundes, der im Mittelalter selbst „als eine Art Magier galt”, findet im vierten Graben des Betrügerkreises ein Perspektivwechsel statt. Virgils rationalisierender Bericht dominiert Gesang XX, in dem der Pilger Dante zum Zuhörer seines mahnenden Begleiters wird. Das macht ihn zum Komplizen des angesprochenen Lesers, dem nun ähnliche Mitleidsregungen und Identifikationen unterschoben werden („Als ich dort unser Bild so sehr verschroben/Gesehn”). Da sich Mitleid über Ähnlichkeitsbeziehungen herstellt, läßt die Leseranrufung auch hier wieder das Geschehen in ein Bild eingehen, über das sie spricht. Die fünfte LeserAnrufung: „O tu che leggi, udirai nouovo ludo” – „Nun hörst, o Leser, du ein neues Schauspiel” (Inf.XXII,118) unterstreicht noch einmal, daß im Inferno die beiden theatralen Momente des Komisch-Tragischen eng ineinandergreifen. Durch die doppelnde Bezeichnung nuovo ludo überbietet sich der Moment des Neuen, Merkwürdigen, Sonderbaren und Komischen.69 Das Pathos des paradiesischen Schauspiels liegt der Komik der scharfzüngigen Hölle noch ganz fern. Sie lebt von der Spannung ihrer Inversionen, Verrenkungen und Perversionen. Die sieben Anrufungen erscheinen so besehen als Farce, deren sich der Autor in der Darstellung von Teufeln zu rühmen weiß.70 Durch den rhetorischen Kniff des Infernos wird der Boden der Tatsachen entzogen und die Unglaubwürdigkeit des Irrealen transparent gemacht. Dadurch geschieht genau das Gegenteil von dem, was vordergründig in der blendenden MedusaSzene gefordert wird: Die ratio umhüllt sich mit einem Schleier, der es erlaubt, den Irrtum zum ironischen Prinzip der Hölle werden zu lassen.71 Noch im Moment der scheinbar höchsten inneren Erregung vergißt der Dichter nicht, seinen Leser anzusprechen. Im Innersten der inneren Hölle, im Eissee Cocytus, ist die teuflische Kippgestalt des gefallenen Engels Luzifer eingefroren. „Com’io divenni allor gelato e fioco, Nol domandar, lettor, ch’io non lo scrivo,
68 H. Gmelin, Kommentar IV, S. 308. 69 Vgl. auch H. Gmelin, Kommentar IV, S. 340: „Der Latinismus ludo unterstreicht hier in der Hölle die komische Erfindung Dantes, während er im Par.XXVIII, 126 als feierliche Erhebung dient: angelici ludi.” 70 Inf.XXV,46–48: „Und wenn du jetzt, o Leser, mir zu glauben,/Was ich dir sage, zögerst, nimmts nicht wunder,/Denn ich, der es gesehn, kanns selbst kaum glauben.” 71 Zum spielerischen Zug des error, vgl. J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 56.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL Però che ogni parlar sarebbe poco. Io non mori’, e non rimasi vivo; Pensa oramai per te, s’hai fior d’ingegno, Qual io divenni, d’uno e d’altro privo.”
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Die Hölle gewährt keinen Ablaß und gestattet weder Vergessen noch Erinnerung: „keine Güte schmückt sein Angedenken” (Inf.VIII, 47) heißt es beim Anblick der Teufel vor der Höllenstadt. Die Sehnsucht nach einem guten Ruf,73 deckt sich mit dem beschriebenen ambivalenten Seelenzustand („Ich war nicht tot und war auch nicht lebendig”). Insofern beweist schon das Inferno und nicht erst das Paradiso, daß es die rhetorische Herausforderung annimmt, die offenbar nur ein autore-maestro in der verlockend rufenden Zwiesprache mit seinem lettore bewältigen kann. Da die infernale Apostrophe eine zurückrufende ist, stellt sie sich einer Rückkehr zur Oberwelt nicht in den Weg. „Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne.” lautet der letzte Satz des Inferno, bevor zu Anfang des Purgatorio erneut die heiligen Musen beschworen werden.
Purgatorio: Den Schleier nehmen74 Vor Dantes geographischer Ausgestaltung fristete das Purgatorium sein unbedeutsames Dasein als flüchtiger Zwischenraum. Altes und neues Testament erwähnen zwar eine mögliche Vergebung der Sünde, weichen aber näheren Angaben aus.75 Jacques Le Goff erinnert daran, daß bis zum 12. Jahrhundert noch nicht einmal das Substantiv Purgatorium existiert hat.76 Erst durch eine große kartographische Umstrukturierung zwischen 72 Inf.XXXIV,22–27: „Wie ich nun stumm und eisig dort geworden,/Darfst du nicht fragen, Leser, und ich schreibe/Es nicht, weil jedes Wort vergeblich wäre./Ich war nicht tot und war auch nicht lebendig;/Denk nur bei dir, wenn dir Verstand gegeben,/Wie ich geworden, weder dies noch jenes.” 73 Inf.XXXII,92–93: „wenn der Ruhm dir teuer/Daß ich mit andern deinen Namen nenne”. 74 Vgl. Eva Meier: „Den Schleier nehmen”, in: Gisela Ecker (Hg.), Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, München 1999, S. 169–179. 75 Makk.II,12, 45: „Darum ließ er die Toten entsühnen, damit sie von der Sünde befreit werden.” Matth. 12, 32: „Auch dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden.” und Cor.I,3,13: „das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt.” vgl. auch H. Gmelin, Kommentar V,7. 76 Jacques Le Goff: La naissance du purgatoire, Paris 1981, S. 12: „Les textes qui jusqu’alors évoquent les situations qui conduiront à la création du Purgatoire n’emploient que l’adjectif purgatorius, purgatoria, qui purge, et uniquement dans les expressions devenues consacrées: ignis purgatorius, le feu purgatoire, poena purgatoria, la peine (le châtiment) purgatoire ou, au plu-
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1150 und 1300 geraten die Vorstellungen von Erde und Himmel in Bewegung. Um aus dem Schatten der beiden anderen attraktiven Pole zu treten, um in der Reformationszeit gar von Luther als „dritter Ort” verschmäht und von der Kirche als irdisches Machtinstrument erkannt zu werden, mußte sich das Purgatorium von der Hölle lösen und zum Paradies hinauf blicken. Während die Hölle das Territorium par excellence darstellt, weil sie als verinnerlichter Raum einer strengen gedanklichen Ordnung unterworfen ist, kommt dem purgatorischen Ort die Aufgabe zu, vom höllischen Diesseits zum paradiesischen Jenseits durchzustellen. Die Geburt des Fegefeuers geht im Mittelalter mit gesellschaftlichen Veränderungen einher, die es erlauben, „die Vermittlung zu denken”.77 Dante nimmt die verschiedenen Traditionsstränge auf und fügt sie zu einer „Symphonie” zusammen.78 Dem unterirdischen Höllentrichter setzt er einen Vulkankegel – den Läuterungsberg – unter dem Sternenhimmel entgegen. Als Insel, die in den südlichen Ozean verlegt ist, entzieht sich das Purgatorium prüfenden Blicken. Atlantis oder andere phantastische Erzählungen mögen Vorbild gestanden haben. Im verjüngenden und unsterblich machenden Fegefeuer geht es um eine andere Form der Buße als die Pein strafender Höllenflammen. Durch Meditation, in liturgischen Gebeten, Psalmen oder Hymnen reinigen sich tote Seelen von den christlichen sieben Todsünden. Wen wundert es, daß hier die Figur des Anrufs allein quantitativ zu ihrer Hochform aufläuft?79 In eiligem Lauf, ohne anzuhalten, müssen die Büßer ihre Sünden ausrufen. Das heißt aber (noch) nicht, daß die ständig in Bewegung bleibenden Seelen sich ihres lästigen Körpers entledigen könnten. Das Purgatorio kommt dem poetischen Prozeß als vermittelndem am nächsten, da es Bilder in imaginative Visionen übersetzt und durch Ansprache in Bewegung hält. Im Inferno bleibt das Ausmaß an Qual notwendigerweise hinter jeder Imagination zurück, weshalb die physische Welt so realistisch wie möglich dargestellt werden muß. Im Paradiso, Raum des reinen Begehrens, verhält es sich genau umgekehrt. Die zurückgelassene Erinnerung läßt den Zwang zur Repräsentation in den Hintergrund treten.80 Das
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riel, poena purgatoriae, les peines purgatoires et, plus rarement, flamma, forna, locus, flumen (flamme, four, lieu, fleuve).” J. Le Goff, purgatoire, S. 16. Vgl. ebd., S. 451. Ausführlich dazu vgl. Reinhold Hammerstein: „Klang und Musik in Dantes Jenseits”, in: R. Hammerstein, Die Musik der Engel: Untersuchungen zur M u sikanschauung des Mittelalters, Bern 1990, S. 145–191, hier S. 160: „Im Bereich der menschlichen Klangäußerungen begegnen in großer Zahl solche des Leides, des Schmerzes, auch Schreien, Seufzen und Weheklagen, […] Mienen klagen so deutlich, als ob sie sprächen, Stimmen äußern sich als Tuscheln oder gebrochen. Die Stimme kann ganz wegbleiben, in hastiger Folge tönen Stimmen durcheinander und verhallen. Eine Seele wird erst akustisch wahrgenommen, bevor sie optisch erscheint.” Vgl. J. Freccero, Dante, S. 95.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Purgatorio aber kennt weder das eine noch das andere Extrem. Gerade in dieser Zwischenstation erreicht die Häufigkeit der Anrufe ihren Gipfel. Sind in der Hölle die „lauen” Sünden am obersten Rand zu finden, so warten im Purgatorium die schwersten am unteren Rand auf Einlaß. Diese Umkehrung gilt auch für die purgatorische Figur des Anrufs. Im Inferno treten die Wanderer den armen Teufeln teils mitleidig, teils schadenfroh gegenüber. Im Purgatorio sind es vorwiegend die Vorübergehenden, welche die Geister anrufen, damit sie Vergangenheit und Namen preisgeben. Statt für immer in die Hölle verdammt zu sein, dürfen sich die Seelen jetzt schon zu den Auserwählten zählen. Der Ton der Anreden gibt sich feierlich, Zeichen der cortesia, für die zahlreiche Beispiele angeführt werden.81 In Anreden Virgils zu beobachten („Lo dolce padre mio”82) kündigt eine zunehmende Emotionalität die bevorstehende Trennung vom maestro an. Zu Beginn des Buches ertönt einstimmiger Chorgesang. Er wiederholt sich auf allen weiteren Stufen des spiralförmigen Aufstiegs. Liedanfänge zitieren Elemente aus Gregorianik, Psalmgesängen und Hymnen.83 Das Unisuno bekannter Weisen zielt auf Wiedererkennungseffekte, aus denen sich ein dichtes Netz spinnt, das so unterschiedliche (musikalische) Zustände wie Ekstase und Angst einfängt. Die Einbettung der Gesangstexte stilisiert den „dritten” Ort als einen unmittelbar akustischen. 81 Vgl. „O schon vollendete, erwählte Geister” (III,73); „ihr wohlgeborenen Geister” (V,60); „Die ihr sicher” (XIII,85); „Du Geist, […] der sich zum Steigen zwinget” (XIII,103); „O Seele, noch gebunden/Im Erdenleib, die du zum Himmel steigst” (XIV,10–11); „O Wesen, das sich läutert/Um schön vor dem zu stehen, der dich geschaffen” (XVI,76–77); „Erwählte Gottes” (XIX,76); „O Geist, in dem durch Weinen reifet” (XIX,91); „O ihr Seelen, die gewißlich,/Wann immer auch sei, den Frieden findet” (XXVI,53–54). Courtoisie und höfisches Leben hängen im XII. Jahrhundert mit der Unordnung einer unzusammenhängenden Welt zusammen, auf die mit Festen und Spielen geantwortet wird, vgl. Paul Zumthor: La lettre et la voix. De la „littérature” médiévale, Paris 1987, S. 81. 82 Purg.XXV,17: „Mein lieber Vater”. 83 Vgl. „‚In exitu Israël de Aegypto’,/So sangen allesamt mit einer Stimme” (II,46) – Psalm 113; „Ein wenig vor uns andre Leute kommen,/Die wechselseitig ‚Miserere’ sangen.” (V,24–25) – Psalm 50; „‚Salve Regina’, auf dem bunten Rasen/Sah ich die Seelen im Gesange sitzen” (VII,82–83); „‚Te lucis ante’ kam so fromm und milde/Aus ihrem Mund” (VIII,13–14); „Und glaubte ‚Te Deum laudamus’ singen/Zu Hören” (IX,140–141); „O Vater unser in dem Himmel droben” (XI,1ff.) – hier bleibt offen, ob es sich um Gesang oder Rezitativ handelt; „Da hört ich rufen: ‚Bitte für uns, Maria!’/Und ‚Petrus’, ‚Michael’ und ‚Alle Heiligen’.”(XIII,50ff.) – Heiligenlitaneien; „Nur ‚Agnus Dei’ waren ihre Rufe,/Ein Wort und eine Stimme kam von allen,/So daß bei ihnen volle Eintracht herrschte” (XVI,19) – Meßgesang; „Und vorne waren zwei, die riefen:/‚Maria lief in Eile nach dem Berge.’” (XVIII,99–100) – Luc. I,39; „Dem Boden war verhaftet meine Seele’,/Hört ich sie rufen” (XIX,73–74) – Psalm 118; „‚Gloria in excelsis Deo’ riefen/Sie alle, die ich aus der Nähe hörte,” (VV,136–137) – Luc. II; „Da hörte man sie auf einmal weinend singen:/‚Labio mea Domine’, so klingend/Daß es Genuß und Schmerz zugleich erzeugte” (XXIII,10–12) – Psalm 50; „‚Summae Deus clementiae’, hört’ ich singen” (XXV,121) – Hymnus; „Und nach dem Ende jenes Lobgesanges/Klang laut ihr Rufen: ‚Virum non cognosco’” (XXV,127–128) – Luc. I,34.
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DIE LETZTE ADRESSE
In was für Widersprüche diese schriftliche Interaktion von Ohr und Auge verstrickt, führt eine Traumszene im Purgatorio vor. Träume stehen, wie zu Anfang der Divina Commedia im dunklen Wald, an Stellen des Übergangs und der Schwelle. Am Eingang zu den drei oberen Stufen des Läuterungsberges erscheint dem Wanderer eine Sirene. Der Blick des Träumenden löst die Trug-Gestalt „Mit schiefen Augen und gekrümmten Füßen,/mit Krüppelhänden und mit fahler Farbe” aus ihrer Totenstarre. „Così lo sguardo mio le facea scorta La lingua, e poscia tutta la drizzava In poco d’ora, e lo smarrito volto, Come amor vuol, così le colorava. Poi ch’ella avea il parlar così disciolto, Cominciava a cantar sì, che con pena Da lei avrei mio intento rivolto.”
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Das Sinnbild des zum Leben erwachten Eros führt in riskante Gebiete der voluptas: „‚Ich bin die liebliche Sirene’, sang sie, ‚Die alle Schiffer auf dem Meer bezaubert, Daß gerne sie mich immer hören möchten.’” In Erinnerung an die Homersche Odysseus-Szene verspricht auch Dantes einzelne Sirenenfigur Selbstvergessenheit. Sie wird über die betäubende Wirkung der Musik ausgelöst, die im ganzen Purgatorio erklingt.85 In der Sirenenszene aber kippt der seelige Zustand in einen bedrohlichen um. Die Bedrohung wird erst durch das Erscheinen einer Jungfrau, diesmal „donna […] santa et presta” – „hilfreich und heilig”, sichtbar. Eine Gegenüberstellung der beiden Frauenfiguren entreißt der sirenischen Trug-Gestalt ihre Fiktionalität. Sinnfigur des Leibes (il ventre) verwandelt sie sich unter dem Blick der Jungfrau in einen „Ort der Verderbnis und der Fäulnis”, „verkehrtes implentum jenes Leibes […], der Christus, den Referenten aller christlichen Texte enthält.”86 Interessant ist die Szene durch die Art und Weise ihrer Inszenierung. Die beiden Frauen allegorisieren zwei Seiten eines Leibes (virtus und voluptas). Als Allegorie der virtus wendet sich die „heilige” Frau zuerst an den Reisebegleiter: „O Virgilio, o Virgilio, chi è questa?” – „O mein Virgil, Virgil, wer ist denn diese?” (Purg.XIX,28) Virgil bestätigt den Anruf mit Blicken.87 Erst nach dem Vorspiel der Wiedererkennung, in dem Hören und Sehen zum Zeichen gelungener Übertragung werden, zeigt sich die Allegorie der voluptas 84 Purg.XIX,12–19: „So hat mein Blick ihr die erstarrte Zunge/Gelöst, und hat sie völlig aufgerichtet/In kurzer Zeit und ihre wirren Mienen/Mit einem Rot der Liebe überzogen./Nachdem ihr nun gelöst war ihre Stimme,/Begann sie so zu singen, daß ich kaum noch/Von ihrem Lied mein Sinnen wenden konnte.” 85 Purg.VIII,13–15: „‚Te lucis ante’ kam so fromm und milde/Aus ihrem Mund, und mit so süßen Tönen,/Daß sie mich selber mich vergessen machte.” 86 B. Menke, Prosopopoiia, S. 610. 87 Purg.XIX,30: „Die Augen auf die gute Frau gerichtet”.
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als „Figur der mißratenen, der verdorbenen und verderbenden Figuralität”88. Der Gestank des falschen Fabelwesens rüttelt den träumenden Wanderer wach. Sirene und Engel sind verschwunden.89 Virgil mahnt zum Aufbruch: „‚Almen tre Voci t’ho messe!’ dicea ‚Surgi, e vieni” – „‚Ich habe dreimal gerufen, steh nun auf und folge. Hier ist das Tor für dich, um einzutreten.’” (Purg.XIX,34-35) Wie im Inferno besetzen Teufel und Dämonen, später auch Engel die Toreingänge. Auf jeder Schwelle zur nächsten Ebene bilden sie Krisensituationen von Wanderung und Lektüre ab. Als andere Seite bleibt das Risiko der Täuschung und Maskierung stets präsent, weshalb Beatrice auf der Schwelle zum Paradiso die Szene zwischen Sirene und Engel ein zweites Mal in Erinnerung ruft.90 Und ein drittes und letztes Mal spielen im Paradiso Sirenen „aus den süßen Tuben” auf. Hier dienen nun „unsre Sirenen” als Reflektor, als „Abglanz” und Negativ paradiesischer Sphärenharmonie. „E moto a moto e canto a canto colse; Canto che tanto vince nostre muse, Nostre sirene in quelle dolci tube, Quanto primo splendor quel ch’ei refuse.”
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Sirenen dürfen weder im Purgatorio noch im Paradiso fehlen. Sie spielen die Rolle des Entstellenden und Defigurierenden, die andere, ins Unsichtbare verdrängte Seite der figurae. Wie hier im Sonnenhimmel treten sie noch im Paradiso hervor, um dem tänzerischen „Reigen” der singenden „Weisheitslehrer” das nötige Relief zu verleihen. Die Vollkommenheit der „konzentrischen Kreise”, paradiesisches „Symbol des sine fine”,92 benötigt den „Abglanz” als verzerrendes Spiegelbild. Ihren Vorgängerinnen bei Homer und Platon stehen Dantes Sirenen in nichts nach. Während Homers zeitlich entgrenzender Sirenengesang bei seinem Zuhörer Odysseus nichts mehr ausrichten kann, sind die platonischen Sirenen der Politeia in sphärenharmonische Spindelrotation eingespannt und zu stummen Maschinen reduziert (dazu das Kafka-Kapitel). Die Divina Commedia schließt diese beiden musika-
88 B. Menke, Prosopopoiia, S. 611. 89 Zur Gegenüberstellung von Engel und Sirene, vgl. R. Hammerstein, „Klang…”, S. 161 u. S. 81–99. 90 Purg.XXXI,43–48: „Jedoch, damit du nunmehr Scham empfindest/Für deinen Fehltritt und dich stärker zeigest,/Wenn dir noch einmal die Sirenen singen,/Laß ab vom Grund des Weinens jetzt und horche;/Dann hörst du, wie nach einer anderen Seite/Mein toter Leib dich hätte führen sollen.” 91 Par.XII,6–10: „Und sich Bewegung und Gesang vereinten;/Gesang, der so sehr unsre Kunst besiegte,/Unsre Sirenen, aus den süßen Tuben,/Wie erster Glanz den Abglanz überwindet.” 92 Vgl. R. Hammerstein, Die Musik der Engel, S. 178: „Unaufhörliches Kreisen ist Symbol des sine fine. Dante wird schließlich in die vollkommene Kreisbewegung hereingenommen und erlebt so den höchsten Grad der visionären unio.”
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lisch-mechanischen Momente aneinander und fängt sie – nicht ohne Seitenblick auf die weltliche Minne –93 in ihrem purgatorischen Netz von „Bewegung und Gesang” auf. Der Text entpuppt sich nun selbst als bestrickende Sirene, deren Fäden ein dichtes Gewebe spinnen.94 Ein Prophet mag seinen Visionen noch nachhängen, den Dichter aber treibt es schon auf Erden ins Paradies, das er zum Parnaß, zur Quelle einer federführenden Inspiration erkoren hat. Dantes mechanische Sirenen konkurrieren nicht mehr wie ihre Homerischen Schwestern mit göttlichen Musen. Stattdessen sind Musen und Sirenen gemeinsam als Dienerinnen im Einsatz, um die Bewegung des webenden Textes im hybriden Wechselspiel figurierender und defigurierender Momente aufzudecken. Die sieben Leser-Anrufungen des Purgatorio wiederholen den Aufruf zur vorsichtigen Entschleierung, die schon im Medusenblick des Infernos gefordert war: „Aguzza qui, lettor, ben gli occhi al vero; Chè il velo è ora ben tanto sottile, Certo che il trapassar dentro è leggero.”95
Ein subtiles Spiel der Sequentialität und der phonetischen Ähnlichkeit zwischen vero (schärfen) und velo (Schleier) suggeriert, wie Wahrheitsfindung und Geheimhaltung verflochten sind.96 Während die narrative Fiktion die textuelle Webkunst als eine verschleiernde vorführt, schafft die Leser-Adressierung ein Ereignis, eine performance.97 Sie spielt mit der metonymischen Ersetzungsfunktion der Metapher (vero/velo), die wie ein Kleid „weg- oder
93 Zur Medusa als Sirene, vgl. J. Freccero, Dante, S. 128: „In ancient mythology she was said to be a kind of siren, and in this temporal aspect she resembles Dante’s siren, the stinking hag of the Purgatorio whom the pilgrim, under the influence of song, takes to be a ravishing beauty. (…) The traditional glance that evades the imperative to accept an authentically temporal destiny.” 94 Vgl. auch H. Gmelin, Kommentar IV,232: „So entsteht in dem ganzen Gesang eine dem Ideengang folgende gleichsam musikalische Harmonie der Motive und Bilder, die das Auge und das Ohr des Hörers in die abstrakte Ordnung des Dichters hineinzulocken vermag.” 95 Purg.VIII,19–21: „Hier mußt du, Leser, deine Augen schärfen (vero),/Weil jetzt der Schleier (velo) schon so fein geworden,/Daß man gewiß ihn leicht durchdringen könnte.” 96 Vgl. auch E. Greber, Textile Texte, S. 306 über den Symbolisten Aleksandr Blok: „wie soll man diese Trope reformulieren: ‘den Schleier vom Anlitz des Gedankens heben’? Besagt dies, seine Wortkunst dringe hinter/unter das Denken – und wenn ja, was heißt das eigentlich? Indem das Concetto selbst so schwierig ist, daß man seinen eigentlichen Gedanken kaum fassen, entschleiern kann, führt es performativ vor, daß das poetische Heben des Schleiers mitnichten Klartext bedeutet. Aber es ist der einzige Klartext, der im mystischen und im wortflechtenden Diskurs zu haben ist: das ornamental–tropische Wortflechten ist die Erscheinungsform des ineffabile.” 97 Vgl. W. Franke, „Dante’s Address…”, S. 120ff..
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
abgenommen werden kann”98. Im Purgatorio ist unablässig davon die Rede, den Schleier zu nehmen, von der gleichen Geste also, die der Traum-Sirene ihre Verführungskraft nehmen soll. Wieder nach einem Morgentraum und am Eingang des Purgatoriums heißt es: „Lettor, tu vedi ben com’io innalzo La mia materia; e però con più arte Non ti maravigliar s’io la rincalzo.”
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Das miteinbeziehende Präsens der Ansprache – „du siehst wohl” fordert dazu auf mitanzusehen, wie die poetischen Anforderungen wachsen und nach metaphorischer „Bekleidung” rufen. Der Text appelliert an seine eigene, fiktionale Macht (die „größere Sache”), spricht dieser aber im gleichen Zug das Wort ab, wenn er befiehlt: „du sollst dich nicht wundern”. Prophetie und Poesie stehen offenbar einander im Weg. Der intermediäre Status des Purgatoriums spendet Trost durch Aufschub. Trotz der strengen Straf- und Erziehungsordnung auf den sieben Sünden-Terrassen des Berges winkt der Gang der Läuterung mit Hoffnung: „Non vo’ però, lettor, che tu ti smaghi Non attender la forma del martire: Pensa la succession; pensa che al peggio Oltre la gran sentenza non può ire.”
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Maximale Aufenthalte am „dritten” Ort beginnen zum Zeitpunkt des Todes und reichen bis zum jüngsten Gericht.101 Dieser zeitlichen Intermediarität entsprechen vorübergehende Nebelschwaden, die in zwei Gesängen einen Vorhang vor die phantastischen Gebilde ziehen.: „Ricorditi, lettor, se mai nell’alpe Ti colse nebbia, per la qual vedessi
98 Patricia Parker: „Metapher und Katachrese”, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, S. 312–331, hier S. 325. Das unterscheidet die Metapher vom abusio der Katachrese, der ein ursprünglicher Ausdruck fehlt, „weil sie nichts ersetzt, vermutlich festklebt. Doch ein übertragener Ausdruck, der nicht oder nicht mehr von einem ‚eigentlichen’ unterschieden werden kann, wird, wie Paul de Man in einem anderen Zusammenhang gezeigt hat, zu einer Art Nessusgewand, zu einem Kleid, das nicht mehr entfernt werden kann.” 99 Purg.IX,70–72: „Mein Leser, du siehst wohl, wie meine Sache/Jetzt größer wird, drum sollst du dich nicht wundern,/Wenn ich sie nun mit größrer Kunst bekleide.” 100 Purg.X,106–111: „Doch will ich nicht, o Leser, daß du zögerst/Bedenke nicht die Formen ihrer Qualen,/Bedenk das Ende;/denk, im schlimmsten Falle/Kann es nur bis zum Jüngsten Tage dauern.” 101 Zur Zeit im Purgatorio, vgl. Le Goff, purgatoire, S. 475f..
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DIE LETZTE ADRESSE Non altrimenti che per pelle talpe; Come, quando i vapori umidi e spessi A diradar cominciansi, la spera Del sol debilemente entra per essi; E fia la tua imagine leggiera In giugnere a veder com’io rividi Lo sole in pria, che già nel corcare era.”
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In Gesang XVII treten die beiden Wanderer aus Rauchwolken hervor, in denen zornige Seelen büßen. Auch die vierte Leser-Anrufung des Purgatorio stellt den Versuch dar, den schauspielerischen Akt des Lesens mit dem Lernziel der Wanderung in Übereinstimmung zu bringen. Den sirenenhaften akustischen Reizen des Purgatorio („Wenn rings um uns auch tausend Tuben tönten”) kommt eine kontemplative Reflexion zuvor: „O Kraft des Schauens, die uns entführet”. Sie wird angetrieben von lichtmetaphysischen Gebilden: „Licht, das sich im Himmel bildet”. Fiat lux – zur Metapher des Kleides, zum Kleid als Metapher tritt der versteckte Hinweis auf die Lichtwerdung als Anfang allen Sprechens. Ein Text kommentiert seine eigene Entstehung in Worten der Genesis und ruft imperativ zum Zeugen auf („Gedenk, o Leser”). „Licht ist ein Kleid, das du anhast” zitiert Hegel aus den Psalmen, zitiert von Paul de Man, der darin eine Sichtbarmachung des schwierigen Teils einer Lektüre ausmacht. Im „Es werde Licht” lese man nicht nur den Sprechakt, sondern das „Dekret, in dem das Wort sich selbst als Licht setzt.”103 Der hegelsche Geist, so de Man, „setzt sich selbst als dasjenige, was des Setzens unfähig ist”. Denn wenn beide Aussagen „Es werde Licht” und „Licht ist dein Kleid” zusammen gelesen werden, wird es „unmöglich, einen Grund zu finden, der für beide Zitate gleichermaßen gilt”104. Von diesem Konflikt, zwischen blendender Lichtmetaphysik und entblößender Entzifferungsarbeit vermitteln zu wollen, handeln schon die Leser-Adressierungen der Divina Commedia. Mit der visuellen Einkleidung der metaphorisch-nebulösen Sprache konkurriert die Verführungskraft akustischer Effekte. Spannung stellt sich im Purgatorio in Augenblicken monumentaler Hörkulissen wie Gewitter, Donnerschlag oder orakelndes Blätterrauschen her. Der übermächtigen
102 Purg.XVII,1–9: „Gedenk, o Leser, wenn dich in den Alpen/Ein Nebel überkam, durch den du sahest/Nichts anders als durch seine Haut ein Maulwurf;/Wie wenn die dichten, feuchten Nebelschwaden/Sich zu zerstreuen beginnen und die Scheibe/Der Sonne dann allmählich durchdringet;/Dann wird es deinem Geiste leicht gelingen,/Dir vorzustellen, wie ich dort erblickte/Die Sonne wieder, schon im Untergehen.” 103 Cynthia Chase: „Einem Namen ein Gesicht geben”, in: A Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, S. 414–436, hier S. 431. 104 Paul de Man: „Hegel über das Erhabene”, in: P. de Man, Die Ideologie des Ä s thetischen, S. 69.
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Stimme, die vom Himmel kommt,105 entspricht eine ständige Aufmerksamkeit, die den Einsatz von Stimmen genau verzeichnet.106 Zu den Visionen gesellt sich eine nicht nur wunderbare, aber gefährliche Stimmvermehrung. Die Eingangsszene in Gesang XVI verdeckt ein „dichter Schleier” von Wolken, aus denen die Wanderer erst im nächsten Gesang herauskommen. Dante tastet hier noch „wie ein Blinder hinter seinem Führer Einher” und muß sich allein auf sein Ohr verlassen. Die Situation schaukelt sich bis zur Halluzination hoch: „Ich hörte Stimmen” (Purg.XVI,16). Auch wenn nachstehend versucht wird, den Eindruck einer „vollen Eintracht” wieder herzustellen,107 tönen die vielen Stimmen noch im nächsten Gesang in „tausend Tuben” weiter. Das polyphonisch widerhallende Schrift-Echo läßt sich nicht ausradieren. Es wirft Schatten (umbra) auf das Versprechen der figura und hallt im Ruf zum wieder-holenden Lesen, zum Wi(e)derlesen nach. Bleiben die übrigen drei Leser-Anrufungen des Purgatorio, in denen die Mühen eines Schriftbildners betont werden: „A descriver lor forme più non spargo Rime, lettor; ch’altra spesa mi strigne, Tanto che a questa non posso esser largo”108
so klagt es angesichts des großen allegorischen Dramas der prozessierenden Kirche, die zwar noch im Purgatorio erzählt wird, aber schon im Garten des Paradieses spielt. Die Erstarrung eines dialektischen Bildes, das sich weiter bewegt, gilt es in einem nächsten Schritt zu erläutern: „Pensa, lettor, s’io mi maravigliava, Quando vedea la cosa in sè star queta, E nell’idolo suo si trasmutava.”109
Und schließlich erinnert die siebte Leser-Anrede kurz vor Ende noch einmal an die purgatorische Arbeit des Entschleierns, die sich in der „Hölle auf
105 Vgl. Purg.XXXII,128: „So kam vom Himmel eine Stimme, rufend”. 106 Vgl. z.B. Purg.XXXI,13ff.: „Furcht und Verwirrung miteinander trieben/Mir dann ein solches ‚Ja’ aus meinem Munde,/Daß man das Auge braucht’, es zu vernehmen. […] Indes die Stimme mir erstarb im Munde, […] Fand ich zur Not die Stimme für die Antwort/Kaum vermocht’ der Mund, sie auszusprechen.” 107 Purg.XVI,16–21: „Ich hörte Stimmen, und sie schienen alle/Um Mitleid und um Frieden anzuflehen/Das Gotteslamm, das unsre Sünden tilget./Nur ‚Agnus Dei’ waren ihre Rufe,/So daß bei ihnen volle Eintracht herrschte.” Vgl. auch R. Hammerstein, „Klang…”, S. 167. 108 Purg.XXIX,97–99: „Um dir, o Leser, ihre Form zu zeichnen/Hab ich mehr Reime nicht, denn andre Bilder/Bedrängen mich, daß ich mit diesen spare.” 109 Purg.XXXI,124–126: „Bedenk, o Leser, ob ich mich verwundert,/Da ich den Gegenstand sah stille stehen/Und doch in einem Bilde sich verwandeln.”
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Zeit” (Le Goff) als performative Aufforderung und Versprechung zugleich ausnimmt: „S’io avessi, lettor, più lungo spazio Da scrivere, io pur canterei in parte Lo dolce ber che mai non m’avria sazio”
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Der Eunoëtrank ruft nur die guten Taten ins Gedächtnis und spendet Kraft für den Himmelsflug.111 Die verführerischen „süßen Tuben” sind damit nicht entschärft, die Selbstvergessenheit im Versprechen des Gesangs nicht überwunden: „So könnt’ ich nur singen”. In einen mnemotechnisch eroberten Raum zurückgedrängt, schiebt die einseitig wiedergefundene Erinnerung weiter (auf) zur nächsten Etappe. Auf dieser eschatologischen Schwelle des Gedächtnisses enden die Gesänge des Purgatorio, um vom selbstreflektiven Begehren des Paradiso abgelöst zu werden.
Paradiso: O Höhenflug des Rufes (fama) Mit dem Paradiso setzt die Divina Commedia zum pfeilschnellen Höhenflug an, begleitet von Beatrice, die Virgil ablöst. Der Himmel ist wie die Hölle eine „Sackgasse”112, in der sich die jetzt körperlosen Seelen nicht mehr fortbewegen, sondern festgelegt sind auf Sphären, die ihrer spirituellen Natur entgegenkommen und mit christlichen Haupttugenden korrespondieren. Die Geste der Entschleierung, die im Purgatorio poetisch um Vermittlungsarbeit bemüht ist, erhält in der nebulös bleibenden Himmelslandschaft einen betont didaktischen Anstrich und gibt eine „dichte (überbelichtete) Lektion in geozentrischer Astronomie”113. Dies verändert zwangsläufig auch die Beziehung zum Leser, der aufgefordert ist, die Schulbank zu drücken und abzuwarten.114 Der komplexe Versuch, Unsichtbares zu visualisieren, suggeriert 110 Purg.XXXIII,136–138: „Hätt ich, o Leser, noch mehr Raum zu schreiben,/So könnt’ ich doch zum kleinsten Teil nur singen/Vom süßen Trank, nach dem mich immer dürstet.” 111 Vgl. H. Weinrich, Lethe, S. 45: „[…] denn aus derselben Quelle, aus der Lethe fließt, entspringt in der Divina Commedia ein weiterer Fluß, Eunoë, was soviel wie ‚guter Sinn’ oder ‚gutes Gedächtnis’ bedeutet. Dieser Zwillingsfluß hat die Kraft, durch sein heilendes Wasser in den seligen Geistern, die vom irdischen zum himmlischen Paradies aufsteigen, dem Vergessen Lethes entgegenzuwirken und in ihnen die Erinnerung an die guten Taten, die sie im Erdenleben vollbracht haben, zu verstärken, so daß sie mit einem in jeder Hinsicht guten Gedächtnis in den Himmel einziehen können.” 112 M. Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace, S. 59. 113 J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 87: „the dense lesson in geocentric astronomy”. 114 Par.X,22–21: „Nun bleib, o Leser auf der Bank nur sitzen/Und überdenke, was Dir dargeboten”.
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nicht etwa Nähe und Zugang zur himmlischen Adresse, sondern entdeckt die Grenzen des Sichtbaren und legt sie als Stadium der Verblendung bloß. Das Verschwinden des Sichtbaren wird im vanishing act115 sichtbar gemacht und in sukzessiven und schonenden Schritten als theologische und kosmologische Lehre verabreicht. Wortwörtlich fordert nun das Buch dazu auf, über sich hinaus zu sehen. Es überredet durch Unsichtbarkeit, redet über sie hinweg.116 Mit diesem visuellen Blendungs-Akt korrespondiert das auditive Ruf-Moment der fama (Gerede, Ruhm, Kunde, Erwähnung, Preis, Lob und Widerhall, Echo).117 Da Poesie von ihrem Nachhall zehrt, begrüßt sie sich selbst im und als Musenanruf. Eine paradoxe Bewegung ist am Werk: Auf der einen Seite wird Nichtsichtbares, Unveräußerliches wie eine Speise vorgesetzt.118 Der Text erscheint als etwas Einzuverleibendes, Einzuspeisendes und fordert zum Stimme-Geben auf. Als Gefäß oder Bote dient die vortragende Rezeption zur Er-inner-ung an die ihr vorgelegten Worte. Auf der anderen Seite drückt sich der Wunsch aus, die Lektüre möge im (musischen) Widerhall akustisch das wieder holen bzw. rehabilitieren, was das geblendete Auge als Grenze des Sichtbaren erfährt. Die Nichtsichtbarkeit charakterisiert das Objekt des Begehrens als Entzogenes und Zugestelltes, als ein zu Übertragendes – Aufgegebenes: „Die Metapher ist nur die Übertragung einer Übertragung.”119 Selbst-Reflexivität von (blendender und zungenredender) Schrift äußert sich im Paradiso im theatralen Moment eines sich widerspiegelnden und akustischen Schau-Spiels. Während sich überbelichtete Himmelskreise in Beatrices Augen reflektieren – die weibliche Figur als Verbindung zwischen Liebe und Wissen, die „der Ökonomie des sexuellen Besitzes” entzogen ist120 –, inszeniert die tänzerische Kreisfigur des Reigens ein 115 Kleiners Begriff umfaßt den vanishing act eines Zaubertricks, der Dinge zum Verschwinden bringt. To vanish meint neben ‚verschwinden, entschwinden’, auch ‚sich verlieren’, ‚sich legen’, ‚schwinden’, ‚untergehen’ und schließt weite metaphorische Möglichkeiten ein: Ängste, die sich legen; Sinne, die schwinden; ein Schiff, das untergeht etc. 116 Par.X,7–8: „Drum heb, o Leser, zu den hohen Kreisen/Mit mir das Auge”. 117 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1145: „mhd. rüefen, ruofen, (md.) rufen, rofen, anord. hropa, hrœpa ‚verleumden, rufen’, schwed. ropa, got. hropjan ‚rufen’ vermutlich lautnachahmenden Ursprungs und gehört zu einer b–Erweiterung der Schallwurzel ie. *kar – ‚laut preisen, rühmen’, wozu auch Ruhm (s.d.) und außergerm. aind. carkarti ‚erwähnt rühmend’, karkarih, karkari ‚eine Art Laute’, kirtih ‚Ruhm, Kunde, Erwähnung, Preis, Lob’, griech. karkairein ‚erdröhnen, erbeben, zittern’, keryx, (dor.) karyx ‚Herold, Bote’, lit. kardas ‚Widerhall, Echo’, kardintis ‚sich bemerkbar machen, von sich hören lassen’, ablautend alit. apkerdziu ‚ich verkünde’ gestellt werden können.” 118 Par.X,25: „Ich hab dir vorgelegt, nun mußt du speisen”. 119 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a. M. 1997, S. 51. 120 R. Jacoff, „An introduction to Paradiso”, S. 219. Vgl. auch Brandstetter, Gabriele, „‚Eines Weibes Träumen…’ Brentanos Autorschaftsphantasien”, in: Ina Schabert/Barbara Schaff (Hg.), Autorschaft. Genus und Genis in der Zeit um 1800, München 1994, S. 212–231, hier S. 219f.: „Die in weiblichen Namen, ‚im Namen der Mutter’ entfesselte ‚wilde’ Rede (des Godwi) erklingt […] nicht als Naturlaut, nicht als Stimme vor oder jenseits der immer schon
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choreographisches Pendant für die Sphärenharmonie. Der Blick Beatrices spiegelt das zu Sehende wieder (sehen – videre) und greift modernen TeleVisionen vor. Erster und zweiter canto des Paradiso rufen parallel zu Inferno und Purgatorio eingestreute Musenanrufe in Erinnerung. Bitten um künstlerischen Beistand richten sich nun nicht mehr nur an klassische Musen, sondern an neue (kosmische) Erfindungen, die neun sorgfältig gezählten Himmelssphären.121 Der Erfindungsgeist aber ist zwei gegensätzlichen Polen verpflichtet. Ein „Bewußtsein der Beschränkung” korrespondiert mit einem erhöhten Sendungsbewußtsein.122 Als Poeta vates oder „Auserwählter Gottes” (Vas d’elezïone) sieht sich der Verfasser des Paradiso als direkter Nachfolge des berufenen Apostels.123 Schon der biblische Quellentext muß sich seine Vollmacht selbst ausstellen, in dem er auf die rhetorischen Momente von Anfang (Anschrift) und Ende (Gruß) hinweist: „Anschrift und Gruss: Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkünden, das er durch seine Propheten im voraus verheiss e n hat in den heiligen Schriften” (Röm.I,1). Auserwähltheit bedeutet Ausschluß der Nichterwählten und so findet die Trennung von Streu und Weizen gleich zu Beginn des Paradiso statt. Fünf Terzinen lang bereitet dort die erste der Leser-Anrufungen das Tableau der Schiffahrt aus. Von einer „navicella del mio ingegno” – „das Schifflein meines Geistes” ist bereits zu Anfang des Purgatorio die Rede, wo es der Hölle „kaum entflohen solchem grausamen Meere” (Purg.I,2f.). Und überhaupt beginnt die ganze Reise an genau der Stelle, mit der die Odyssee schließt, mit einem Schiffbruch:124 Im Paradiso sorgt das Schiffahrtsgleichnis für Auslese. La navicella, über la spola mit handwerklicher Webkunst verbunden, macht auf die Dichte des schwierigen Text-Stoffes aufmerksam. Wer sich allein vom Lese-Vernügen treiben lasse, den erwarte das Los „verlorenzugehen”, prophezeit das Gleichnis. In diesem Fall werde zur Umkehr geraten. Die „andern wenigen” aber sollten die Gunst der Stunde nutzen und „zum hohen Meer” hinausfahren, um den „Spuren” ihres Vor-
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männlich – ‚im Namen des Vaters’ – codierten Kultur, sondern sie erscheint als ‚Widerhall’ und als Äußerung des Unveräußerlichen: nämlich jenes Objekts des Begehrens, das […] der Ökonomie des sexuellen Besitzes […] entzogen sei.” Vgl. Robert Hollander: „Dante and his commentators”, in: R. Jacoff (Hg.), The Cambridge Companion to Dante, S. 227. H. Gmelin, Kommentar VI, S. 48. Par.I,13–14: „Apollo, gütiger, zum letzten Werke/Laß mich solch Werkzeug deiner Künste werden/Wie du’s für den geliebten Lorbeer forderst.” Vgl. Apg. IX,15: „Der Herr aber sprach zu ihm: Geh nur! Denn dieser Mann ist mein auserwähltes Werkzeug: Er soll meinen Namen vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen.” Und Inf.II,28: „Dann stieg hinab der Auserwählte Gottes (Vas d’elezïone),/Von dort die Kraft zu holen für den Glauben.” Inf.I,22–24: „Und wie ein Mensch noch mit gepreßtem Atem,/Der sich vom Meere an den Strand gerettet/Zurückschaut nach den aufgeregten Wassern”.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
gängers zu folgen („Bevor die Wasser wiederum sich schließen”). Im „kleinen Kahne” dürften nur noch Auserwählte sitzenbleiben, die vom Wunderbrot des Mana, der Gnade Gottes, gekostet haben. „O voi che siete in piccioletta barca, Desiderosi d’ascoltar, seguiti Dietro al mio legno che cantando varca, Tornate a riveder li vostri liti: Non vi mettete in pelago, ché forse, Perdendo me, rimarreste smarriti. L’acqua ch’io prendo giammai non si corse: Minerva spira, e conducemi Apollo, E nove Muse mi dimostran l’Orse. Voi altri pochi che drizzaste il collo Per tempo al pan degli angeli, del quale Vivesi qui, ma non sen vien satollo, Metter potete ben per l’alto sale Vostro navigio, servando mio solco Dinanzi all’acqua, che ritorna eguale.”
125
Der Ruf des weiten Meeres verbindet sich im allgemeinen mit Vorstellungen von Abenteuerlust und Gefahr. Für diese Laster war Odysseus in Gestalt einer gespaltenen Flammenzunge im Inferno noch bestraft worden.126 In Korrespondenz mit dem unendlichen Horizont endet die Odysseus-Erzählung des Inferno offen127 wie übrigens auch die Liebesklagen Francescas oder die Selbstanklage des Grafen Ugolino.128 Mehrdeutige Erzählschlüsse konfrontieren im Inferno mit Ambivalenz. Sie handeln von der Unmöglichkeit, ein endgültiges Urteil zu fällen. Unentschieden mitleidig schwanken die Gespräche und Nach-Erzählungen zwischen einem Verdikt der Verdammung oder Erlösung hin und her. Durch das Bild der Schiffahrt findet diese Hal125 Par.II,1–15: „O ihr, die ihr in einem kleinen Kahne/Voll Sehnsucht, zuzuhören, auf den Spuren/Mein Boot verfolgt, das hinzieht im Gesange,/Kehrt heim zu eurem eigenen Gestade,/Treibt nicht aufs Meer hinaus, ihr könntet draussen,/Indem ihr mich verliert, verlorengehen./Das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren./Minerva bläst, Apollo ist der Führer,/Neun Musen zeigen mir das Bild des Bären./Ihr andern wenigen, die ihre Häupter/Beizeiten nach dem Brot der Engel kehrten,/Von dem man hier, doch ohne Sattheit, lebet,/Ihr möget gerne eure Segel wenden/Zum hohen Meer und meinen Spuren folgen,/Bevor die Wasser wiederum sich schließen.” 126 Inf.XXVI,97–98: „In mir die heiße Glut besiegen können,/Die mich hinaustrieb, nach der Welt zu forschen”. 127 Inf.XXVI,142: „Bis über uns die Wogen sich geschlossen”. 128 Francesca und Paolo, vgl. Inf.V,142: „Und ich fiel nieder wie ein toter Körper”. Zur ungeklärten Frage, ob Graf Ugolino sich im Kerker an seinen eigenen Kindern vergriffen hat, vgl. Inf.XXXIII,74–75: „Zwei Tage rief ich sie, als sie gestorben;/Dann war der Hunger stärker als die Trauer.”
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DIE LETZTE ADRESSE
tung im Paradiso zu einer wenn auch ganz anderen Fortsetzung. Die letzte Zeile der Szene spricht den Preis der Auserwähltheit an, die einen poeta vates zum Berufenen kürt. Der zu belehrende Zuhörer müßte sich von seiner „Sehnsucht, zuzuhören” lossagen. Das erscheint umso anspruchsvoller, da das wegweisende Boot wie eine Sirene lockt und ruft: „mein Boot, das hinzieht im Gesange”. Die Aufforderung des Purgatorio, die Augen zu schärfen, schreibt sich im Paradiso in nautische Metaphorik ein (Kahn, Boot, Meer, Segel, Wasser), deren Untiefen der Schreibende als bereits Geretteter nicht mehr ausgesetzt ist: „Das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren.” Im Schiffskontext enthüllt sich die paradiesische Leser-Adressierung als imperative Herausforderung und nicht als eine harmlose, bloß geschickt angebrachte captatio benevolentiae. Sie zielt auf Unbeirrtheit, die schon Homers Odysseus an den Sirenen vorbeifahren läßt. Niemand kann zwar tatsächlich bezeugen, was der Held dort gehört hat und was nicht. Entscheidend ist allein das Ergebnis der Bekehrungsliteratur, die zum Zeitpunkt des Textanfangs – nach überstandendem Schiffbruch – vorausgesetzt ist. In aller menschlichen Seefahrt liege „ein frivoles, wenn nicht blasphemisches Moment”, so Blumenberg. „Der Schiffbruch, als überstandener betrachtet, ist die Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung.”129 Entscheidend ist beim Schiffbruch der Zuschauer. Bleibt er im Hafen, ist er um Abenteuer und Lebensglück betrogen. Erst wer der Anziehung von Untergang und Sensation nachgibt, kann seine brennende Neugier stillen und „sich am Schauspiel eines vom Sturm bedrängten Schiffes” weiden.130 Indem Dante die Möglichkeit des „Verlorengehens” streift, weiß er die Chance der curiositas zu nutzen. Wie der entblößte Sirenenleib im Purgatorio stellt der Schiffbruch des Sterblichen die andere, verdrängte Seite des Paradiso in Aussicht. Eine Lektion, die zeigen soll, was es heißt, als Ungehorsamer von Bord zu gehen. Der angedeutete Untergang wird zum „Lehrstück, das von der Vorsehung gespielt wird. Die Sicherheit des Zuschauers ist durch die Gestalt des bösen Genius bedroht, der ihn ins Meer stürzen könnte”131. Der von Bord gegangene Zuschauer müßte auf die große Chance eines teilnehmenden Mitlesens verzichten. Das betont die zweite Adressierung: „Pensa, lettor, se quel che qui s’inizia Non procedesse, come tu avresti Di più sapere angosciosa carizia;”132
129 H. Blumenberg, Schiffbruch, S. 13. 130 Ebd., S. 40. 131 Ebd., S. 51. 132 Par.V,109–111: „Bedenk, o Leser, wenn, was hier begonnen,/Nicht weiter führte, welches bange Sehnen/Dir bleiben würde, noch viel mehr zu wissen!”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Sie kehrt die Strategie der Schiffbruchszene um, indem sie das verlockende Mehr an Wissen in Aussicht stellt. „Die große Widersprüchlichkeit der beiden Adressen zeigt gleichzeitig Schwierigkeit und Appell des Paradiso.”133 Wenn es sich hier um ein ganz neues Unternehmen handelt, dessen Aufgabe allein Wahrheitsfindung und nicht mehr Fiktionsbildung ist,134 so muß auch der Lese-Lernprozeß auf diese nächste Reiseetappe vorbereitet werden. Anders als ihre beiden Vorgänger erlaubt die Endstation Paradiso keine Kompensation durch Abwendung in infernalischen, mitleiderregenden Apostrophen oder erotischen Gesten der Entschleierung. Sie spart deshalb nicht an wissenschaftlicher Detailbesessenheit, wenn es beispielsweise um die theologische Deutung von Mondflecken geht. Doch wie Kleiner gezeigt hat, sind selbst noch diese rein technischen Abhandlungen erratisch und vom Irrtum gezeichnet. Trotz des Reifeprozesses, der vom Leser-Schüler verlangt wird, trotz der Aufforderung, die Augen vom Buch zu lösen und sie auf den Sternenhimmel zu richten,135 verspricht der Text nichts anderes, als daß es nichts zu sehen gibt.136 Durch die physikalische Lehre, sich mit Nichtsichtbarem (dem „Innern”) zufrieden zu geben, es sogar „liebevoll anzustarren” (wie das Verb vagheggiar nahelegt)137, schickt das letzte Buch der Divina Commedia im realistischen Modus zur eingeschriebenen imaginären, spirituellen Dimension zurück. Der „Moment der Ungewissenheit” spielt den wissentlich geplanten Irrtum aus, er ist integraler Bestandteil einer blendenden Vision, die gerade deshalb dreimal imperativ in Erinnerung ruft, daß Lesen abhebendes, kontemplatives Sehen zu sein hat (Leva […] lì comincia a vagheggiar […] Vedi).138 Wenn die dritte Adressierung nicht so eindeutig wie die übrigen einen emphatischen Ausruf an „verirrte Seelen, sündige Wesen” (Par.IX,10) richtet, so sind doch alle anderen sechs Adressierungen des Paradiso ausdrücklich dem lettore und seiner Arbeit gewidmet. Besonders im Sonnenhimmel bereitet die didaktische Geste der Anrede an drei Stellen darauf vor, daß nun „theologische Bedeutungen und kosmologische Fakten miteinander verknüpft”139 werden. In „einer der dunkelsten Termini”140, die im Paradiso gebraucht werden, richtet Dante den Leserblick auf zwei Schnittpunkte der sich überschneidenden Himmelkreise, den ekliptischen und himmlischen Äquator:
133 Jacoff, „An introduction to the Paradiso”, S. 209. 134 Vgl. J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 86. 135 Par.X,7–9: „Drum heb, o Leser, zu den hohen Kreisen/Mit mir das Auge, grad zu jenem Orte,/Wo beide Drehungen zusammentreffen.” 136 Par.X,10–12: „Dort sollst du dich in jene Kunst versenken/Des Meisters, der sie selber liebt im Innern,/So daß er nie sein Auge davon wendet.” 138 Vgl. R. Jacoff, „An introduction to Paradiso, S. 223. 138 Vgl. J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 95. 139 M. Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace, S. 58. 140 J. Kleiner, Mismapping the Underworld, S. 90.
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DIE LETZTE ADRESSE „Leva dunque, lettore, all’alte ruote Meco la vista, dritto a quella parte, Dove l’un moto e l’altro si percuote”
141
In den Schnittpunkten laufen die gegensätzlichen Bewegungen zweier Sphären, die Umlaufbahnen der Sterne und der Sonne, zusammen.142 Dank zeitgenössischer Platon-Kommentare folgt Dante nicht nur kosmologischen Erklärungen des Timaios, er verschreibt sich auch einer Tradition, die platonische Mythen christlicher Philosophie assimiliert. Platons Demiurg bringt seine Weltseelen in eine Schattenform, die dem Buchstaben Chi – X ähnelt. Seit dem 12. Jahrhundert, vermittelt durch die Schule von Chartres, hat das griechische Zeichen für Chi ein Sinnbild des Kreuzes zu sein.143 All diese Elemente werden in einer „dichten (überbelichteten) Lektion in geozentrischer Astronomie” zusammengefaßt, nicht ohne sie ausgerechnet in Gesang X (Chi) des Paradiso zu plazieren. Die zwei dicht aufeinanderfolgenden Leser-Adressierungen falten den Text auf sich selbst zurück, so wie die beiden zurückgefalteten Enden des chiastischen Buchstaben Chi/X, die vereinigt die beiden gegenläufigen Zirkelbahnen abbilden: „E se dal dritto più o men lontano Fosse il partire, assai sarebbe manco E giù e su dell’ordine mondano.”
144
Nicht nur daß imperativ dazu aufgefordert wird, das zentrierende Standardsymbol für Christus, die Sonne, wiederzuerkennen. Es wird außerdem dokumentiert, welche allegorischen Anstrengungen aufzuwenden sind, um die kommunikative Kluft zwischen göttlicher und irdischer Adresse zu überbrükken. Wie Gott würde sich der Leser „Vagheggiar nell’arte Di quel maestro, che dentro a sè l’ama, Tanto che mai da lei l’occhio non parte.”145
141 Par.X,7–9: „Drum heb, o Leser, zu den hohen Kreisen/Mit mir das Auge zu jenem Orte,/wo beide Drehungen zusammentreffen”. 142 Vgl. J. Kleiner, Mismapping the World, S. 92: „One circle (the circle of the same, that is, the celestial equator) eventually carries the sun and stars in their diurnal motion from east to west. The other circle (the circle of the different, that is, the ecliptic) will carry the sun in a much slower zodiacal motion from west to east.” 143Vgl. J. Freccero, Dante, S. 225 u. 240. 144 Par.X,19–21: „Und wenn sie von der rechten Bahn sich trennte/Mehr oder weniger, würde hier und dorten/Gar vieles in der Weltordnung fehlen.” 145 Par.X,10–12: “in jene Kunst versenken/Des Meisters, der sie selber liebt im Innern,/So daß er nie sein Auge davon wendet.”
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Doch während letzterer die Schulbank drücken muß, um den hohen Anforderungen zu genügen, hat der vermittelnde Himmelsbote Dante alle Hände voll zu tun, damit der Faden nicht reißt: „Ich hab dir vorgelegt, nun mußt du speisen,/Denn ich muß meine ganze Sorge wenden/Auf jenen Stoff, den ich beschreiben möchte.” (Par.X,25f.) Wie die Schiffbruch-Metapher reicht übrigens auch die mit dem Akt der ruminatio verbundene Speisemetaphorik über Mittelalter und Renaissance hinaus, beide bleiben „bis in die Gegenwart in erstaunlicher Vielfalt lebendig”146. Auch wenn der zeitgenössische Leser der Divina Commedia „mit der Anschauung des freien nächtlichen Sternenhimmels vertraut war”147, so zeigt doch die dritte Adressierung im Sonnenhimmel, was für ein rhetorischer Aufwand im Paradiso betrieben werden muß. Eine dreifache Anapher imagini chi, imagini quel carro, imagini la bocca hält die Serie von vorgeschriebenen Lernstadien am astronomischen Phantasiebild fest. „Imagini chi bene intender cupe Quel ch’io or vidi e ritegna l’image, Mentre ch’io dico, come ferma rupe, Quindici stelle che in diverse plage Lo cielo avvivan di tanto sereno, Che soperchia dell’aere ogni compage; Imagini quel carro, a cui il seno Basta del nostro cielo e notte e giorno, Sì ch’al volger del temo non vien meno; Imagini la bocca di quel corno Che si comincia in punta dello stelo A cui la prima ruota va dintorno, Aver fatto di sè due segni in cielo, Qual fece la figliuola di Minoi Allora che sentì di morte il gelo; E l’un nell’altro aver li raggi suoi, Ed ambedue girarsi per maniera Che l’uno andasse al prima e l’altro al poi Ad avrà quasi l’ombra della vera
146 Wenzel, „Mündlichkeit und Schriftkultur”, S. 181. Wenzels Hinweis auf Günther Butzer: „Pac–man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie”, in: DVJs, 72/1998, S. 228–244 und den weiterführenden Band Annette Keck/Inka Kording/Anja Prochaska (Hg.), Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaft, Tübingen 1999. 147 H. Gmelin, Kommentar VI,255.
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DIE LETZTE ADRESSE Costellazione e della doppia danza Che circulava il punto dov’ io era”
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Sieben Terzinen lang reihen sich die Stadien der Anschauung aneinander, um als Ergebnis ein ungefähres Schattenbild zu präsentieren. Bei Einhaltung des imaginären Dreierschritts würden sich einzelne Sternbilder herausbilden: nach dem ptolemäischen Fixsternekatalog zuerst die 15 Sterne der nördlichen Hemisphäre, dann die sieben Sterne des Großen Wagens und schließlich die beiden Sterne der zweiten Größenklasse in der Mündung des Kleinen Wagens. Alle 24 Sterne würden endlich zusammen eine „glänzende Version der zirkulären Konstellation” ergeben, „Astronomen als ‚Ariadnes Kreuz’ bekannt.”149 Sammeln und neues Zusammensetzen der Sterne ist eine imaginative Übung, zu welcher der Text einlädt, der buchstäblich nach den Sternen greift, um seine lichterfüllten theologischen Visionen an den Mann zu bringen. Die Adresse vollzieht diesen Griff nach den Sternen rhetorisch nach, indem sie dazu auffordert, die poetische Vision zu wiederholen. Doch trotz naturwissenschaftlicher Erklärungen täuscht (sich) der Text nicht über sein eigenes Schattenbild hinweg, das Sterne und Leser in eine ferne Nähe rückt, sie zusammen auf ein Tableau stellt. Die „spielerische Pyrotechnik” findet im Paradiso auf den Lippen Beatrices zu einem Heimat-Hafen. Angesichts absurder und irreführender Szenen wie nach oben fallendem Schnee oder anderer physikalisch unmöglicher Vorgänge antwortet Beatrice anstelle von Pathos oder korrosiver Ironie mit einem entrückten Lächeln. „Doch hier wird nicht bereut, hier wird gelächelt” (Par.IX,103) faßt die Erklärung des Troubadors Folquet von Marseille zusammen. Und so wird kurz vor Aufstieg in den Fixsternhimmel noch einmal lächelnd zur Versöhnungsfeier von Kosmologie und Theologie eingeladen:
148 Par.XIII,1–12. Leider berücksichtigt Gmelins Übersetzung die anaphorische Struktur nicht: „Wer recht verstehen will, was ich dort oben/Nunmehr gesehn, muß sich vor Augen stellen/Und während meiner Rede fest behalten,/Es sein am Himmel droben fünfzehn Sterne,/Die leuchten an verschiednem Ort so helle,/Daß sie den Dunst der Lüfte stets durchdringen./Stell dir den Wagen vor, dem schon der Busen/An unsrem Himmel Tag und Nacht genüget,/So daß er bei der Deichsel Drehn nicht schwindet,/Und nimm dazu die Mündung jenes Hornes,/Das anfängt am Beginne jener Achse,/Um die der erste Himmelskreis bewegt wird;/Laß sie am Himmel nun zwei Zeichen bilden,/Wie es mit Minos’ Tochter einst geschehen,/Als sie des Todes Kälte fühlen mußte,/Und laß sie beide ihre Strahlen mischen/Und beide dann auf solche Weise kreisen,/Daß einer vorwärts, einer rückwärts wandelt;/Dann wirst du ungefähr den Schatten haben/Des wahren Sternbilds und des Doppelreigens,/Der dort an jener Stelle um mich kreiste.” 149 J. Kleiner, Mismapping the World, S. 109.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „S’io torni mai, lettore, a quel devoto Trionfo per lo quale io piango spesso Le mie peccata e il petto mi percuoto
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“
Feierliche Töne mischen sich mit einem se deprecativo, einer Selbstanklage, die sogleich für einen hyperbolischen Vergleich mit der Schnelligkeit genutzt wird: „Tu non avresti in tanto tratto e messo Nel fuoco il dito, in quanto io vidi il segno Che segue il Tauro e fui dentro da esso.”
151
Noch die feierlichste Variante des blitzschnellen Höhenflugs vergißt nicht, daß ihre Hauptaufgabe die Eilzustellung ist. Wie in Inferno und Purgatorio ist es allein die Figur des Anrufs, die eine Rück-Verbindung vom Jenseits ins Diesseits herzustellen vermag.152 Der Ruf – la fama – gleicht der ritterlichen virtu, die zwar aus der Ferne rühmt,153 als windiges Wort aber auch mit verblichener Farbe auszeichnet.154 Zeitliche und räumliche Strukturen von fama und Echo ähneln sich. In beiden Fällen handelt es sich um nachträgliche Vorgänge, die den Akt des Urteilens nachvollziehen bzw. aufbewahren: „vom nachfolgenden guten oder bösen andenken, rufe oder urtheile: ein guter nachklang, bona fama” heißt es im Grimmschen Wörterbuch, und: „echo und fama sind sich ähnliche wesen, nur ist das echo aus der natur gegriffen, fama mehr abstract gefaszt”.155 Ruf und Urteil rufen ins Nach-Leben, setzen
150 Par.XXII,106–108: „So wahr ich Leser, wiederkehren möchte/Zum frommen Fest, weshalb ich meine Sünde/Gar oft beweine und die Brust mir schlage”. 151 Par.XXII,109–111: „Du hättest nicht so schnell die Hand ins Feuer/Gesteckt und weggetan, wie ich das Zeichen/Gesehn, das hinterm Stier, und drin gewesen.” 152 Vgl. z.B. Inf.XXXII,91–93: „‚Ich bin noch lebend, und es kann dich freuen’,/War meine Antwort, ‚wenn der Ruhm dir teuer,/Daß ich mit andern deinen Namen nenne.” Und Purg.III,114–117: „Drum bitt’ ich dich, kehrst du zur Heimat wieder,/Such meine schöne Tochter/Und sag die Wahrheit, wenn man anders redet.” 153 Vgl. Purg.VIII,124–126: „Der Ruf, der eurem Haus zur Ehre dienet,/Rühmet die Herrn und rühmt die ganzen Lande,/So daß sie kennt, wer noch nicht dort gewesen.” 154 Vgl. Purg.XI,91–115, gloria, fama, romore und nominanza: „O leerer Ruhm des menschlichen Vermögens […]. Es ist der Ruf der Menschen nur ein Blasen/Des Windes […] Der Menschen Ruf ist wie des Grases Farbe,/Die kommt und geht”. 155 J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, S. 78f. und Jacob Grimm: ‘Über das Echo’, Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 25. Juni 1863”, in: Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Bd. 7, Recensionen und vermischte Aufsätze, 4. Teil, Berlin 1884, S. 499–512, hier S. 502. Vgl. auch B. Menke, Prosopopoiia, S. 193: „Wovon sie [die Echos] sprechen, das ist der Ruhm, in dem der wörtliche Ruf der Fama ‚hörbar’ bleibt. Fama ist im und als Echo, das von ihr – nach–hallend – spricht, ein anderer Nachhall, ein anderer ‚Ruf’ des Dahingegangenen, Abgeschiedenen.” Und S. 335: „Die Fama, der
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DIE LETZTE ADRESSE
diesem ein (versteinertes) Denkmal, das nur rhetorisch, in der prosopopoiischen Wiederbelesung zum Sprechen gebracht werden kann. Ruhm erscheint bei Dante zwar als gottgewollter Trieb der menschlichen Seele („So daß die Ehre und der Ruhm sie schmücken”, Par.VI,115), setzt aber auch Erinnerungsarbeit in Gang.156 Der erinnernde Widerhall des Echos verblaßt wie die Legende, die mit einem Namen verbunden ist und langsam ins Vergessen rutscht. Widersprüchliche Facetten des Ruhms kennen schon die Bibel, Augustinus und Boëthius. Boëthius Idee, daß Sprache das Schlagen mit (dem Plektron) der Zunge sei, brachte mittelalterliche Sprachauffassungen ins Rollen.157 Die schlagende Zungensprache metaphorisiert sich im Schaubild der Schallwellen. Indem Boëthius De institutione musica (um 500) die Lehre der Sphärenharmonie an Hören und Sehen bindet, wird sie zur Grundlage einer spekulativ-theologischen Musiktheorie, die in der Divina Commedia aufbewahrt ist. „Vom Mittelpunkt zum Rand, vom Rand zur Mitte/Bewegt im runden Topfe sich das Wasser,/Wenn man es mitten oder außen anrührt.” (Par.XIV,1-3) Das optische Bild setzt Worte in räumlich verstandenen Schall um. Obwohl im Mittelalter der antike „Widerhall der lauten Rede”158 eine große Rolle spielt, sind noch keine empirischen Versuche bekannt. Erst mit Namen wie Galilei oder Mersenne (16. Jahrhundert), später mit Athanasius Kircher (1601-1680) und dessen Flüsterhallen oder E.F. Chladnis (1756-1854) Klangfiguren kommt es zu neuen Untersuchungen der Tonund Hallkunst.159 Dantes (In)Schriften, die (Nicht)Sichtbares in Hörbares transkribieren, antizipieren die späteren Messungen von Differenzen zwischen Hall und Widerhall (Echo/fama).160 Um Getöse und Dröhnen aus der
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metaphorische Ruf des Ruhms, ist der (eigentliche) ‚Gegenstand’ des Denkmals. […] Das Nach– der Nachklänge” Par.XI,135: „Und wenn du, was ich sagte, dir zurückrufst”. Vgl. Manfred Schneider: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, Wien 1992, S. 117. J. Balogh, „Voces paginarum”, S. 57. Vgl. Werner Lottermoser, in: F. Blume (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Kassel/Basel 1949–1951, Bd. I, S. 211–224. Vgl. Ernst Florens Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klangs, Leipzig 1787, S. 1f.: „Die elastischen Schwingungen der Saiten und Stäbe, bey welchen man nur auf einzelne krumme Linien Rücksicht zu nehmen hat, sind von verschiedenen so genau und scharfsinnig berechnet, daß sich wohl sehr wenig neues darüber möchte sagen lassen; da hingegen die wahre Beschaffenheit des Klanges solcher Körper, bey denen elastische Krümmungen ganzer Flächen nach mehreren Dimensionen zugleich in Betrachtung kommen, noch in die tiefste Dunkelheit eingehüllt ist; indem weder Berechnungen, die mit der Erfahrung übereinstimmen, noch richtige Beobachtungen vorhanden sind. Da es mir gelungen ist, ein Mittel zu entdecken, um jede mögliche Art des Klangs solcher Körper ohne Beymischung anderer nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar darzustellen; so hoffe ich, durch Bekanntmachung meiner Beobachtungen wenigstens einige richtige Voraussetzungen zu genauerer Untersuchung dieses noch sehr unbearbeiteten Theiles der Mechanik liefern zu können”.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL
Wiedergabe der Echos auszuschließen, stellt die Akustik ihre Meßgeräte auf. Schrift dagegen läßt den Ruf im Namen ausklingen und trägt sie in ihr metaphorisches, bekleidetes Bild ein: „Wenn uns die heiligen, verklärten Leiber/Einst wieder kleiden, werden die Gestalten/Noch viel genehmer, weil sie dann vollkommen.” (Par.XIV,43–45) Wie die Inschrift auf einem Denkmal schiebt die widerhallende fama ins Zukünftige auf. „O süße Liebe, eingehüllt in Lächeln,/Wie warst du glühend doch in jenen Tönen,/Die nur erfüllt von heiligen Gedanken!” (Par.XX,13ff.) Die Apostrophierung O dolce amor beschwört gewaltige Geräuschkulissen. Rufe, Gesänge, Hymne und Geräusche sind im Paradiso einer gesteigerten, aus der Scholastik Thomas von Aquinos’ hergeleiteten Aufmerksamkeit vorbehalten. Die schon seit Aristoteles häufig diskutierte Frage nach dem Verhältnis der „Seelenkräfte” untermauert die Behauptung von der Einheit der Seele, indem verschiedene Wahrnehmungsregister zugleich gezogen werden. Hören und Sehen erzeugen eine so leidenschaftliche Hingabe an eine Sache, daß alle anderen Sinne in den Hintergrund treten und sogar Zeit und Ort unwichtig werden. Dante zieht im Paradiso gleich alle Register der gloria, fama, romore und nominanza: glühende Töne, himmlisch-funkelnd-geschmückte Rede, engelhaftes Glockengeläute (angelici siquilli), von oben fließendes, schallüberbringendes Wasser, lautnachahmende Zupf- und Blas-Instrumente (cetra, die Laute bzw. das Zupfinstrument; sampogna, Schalmei oder Dudelsack), ein hohler Hals161 als Gefäß für göttliche Worte. Die Sphärenharmonie übertrifft zwar die irdische, zungenschlagende fama bei weitem, aber auch sie muß am Ende noch verstummen – und hier lächelt der Text über sich selbst: „‚Und sage mir, warum in diesem Kreise/Die süße Paradiesmusik verstummte,/Die in den andern dort so fromm erklungen.’ ‚Dein Ohr ist sterblich, so wie auch dein Auge’” (Par.XXI,58-60). Der halluzinatorische Widerhall der invocatio schickt ans Medium Buch zurück. „Io era come quei che si risente Di visione oblita e che s’ingegna Indarno di ridurlasi alla mente, Quand’ io udi’ questa proferta, degna Di tanto grado, che mai non si stingue Del libro che il preterito rassegna. Se mo sonasser tutte quelle lingue
161 Vgl. H. Gmelin, Kommentar VI,367: „Gerade weil Dante den Adler sich noch heraldisch flach vorstellte, wirkt der Ton als Wunder und gibt der Gestalt Leben, macht sie plastisch; daher das Staunen über die Stimmbildung, come fosse bugio.”
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DIE LETZTE ADRESSE Per aiutarmi, al millesmo del vero Non si verria”
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Schon im Purgatorio ist von einem „Band”, „mit Liebe eingebunden” (Purg.XXXIII,82-87), die Rede. „Der Sibylle Spruch” habe sich in alle Winde zerstreut, heißt es im Paradiso, das die blendende Vision des gesamten Schöpfungsprozeß in einem göttlichen Buch zusammenfassen will.163 Die Lektüre ist am Ende dazu aufgerufen, Übertragung in Archivierung zu übersetzen. Während der Pilger in einer schwer faßbaren Geschwindigkeit durch die zehn Himmel rast, hat sich die Erzählzeit der drei cantica nicht geändert – bis auf den einleitenden Höllengesang sind alle Teile gleich lang. Im Inferno und im Purgatorio treten dichterische Probleme hinter die Kulissen, die permanente Gefährdung des Pilgers beherrscht die Szene. Im Paradiso kehrt sich dieses Verhältnis um. Hier ist es nun der Verfasser, der um seine Existenz als autore-maestro bangen muß.164 Der letzte Teil der Divina Commedia erscheint insofern als der modernste. Angesichts seiner unmöglichen Aufgabe, Unsichtbares in Vision zu übersetzen, spricht er durch die windige fama über eigene Abgründe, die sich im doppelten Sinne als eine unerhörte – unhörbare und unglaubliche – zu erkennen gibt. „Von jetzt ab war mein Schauen noch viel größer/Als unsre Sprache, die ihm nicht gewachsen,/Und das Gedächtnis weicht dem Unerhörten.” (Par.XXXIII,55-57) Welche Höllen mit dieser Erinnerungsleistung verbunden sein müssen, führen die Windungen der infernalischen Apostrophe vor Augen: „So wahr dir Gott, o Leser, fruchten lasse,/Das hier Gelesne, magst du selber denken” (Inf.XX,19f.). Geometrisches und narratives Paradox antworten aufeinander und schicken vom Ende an den Anfang, vom Paradies ins Inferno, zurück: „Schließung des narrativen Zirkels und lineare Zeitlichkeit der Reise sind quitt.”165
162 Par.XXIII,49–59: „Ich war wie einer, der vergeßne Träume/Noch in sich fühlt und sich vergeblich mühet,/Sie sich in seinen Geist zurückzurufen;/Als ich den Anruf hörte, welcher würdig/So großen Dankes, daß er nie im Buche/Erlöschen kann, das das Vergangene schildert./Wenn mir auch alle Zungen helfen würden, /So würde doch ein Tausendstel der Wahrheit/Noch nicht erreicht…”. 163 Par.XXXIII,65–67: „So hat im Winde auf den leichten Blättern/Sich der Sibylle Spruch dereinst verloren.” Zur Imitation der göttlichen Schrift, vgl. auch J. Freccero, Dante, S. 215: „The aspiration of the pilgrim is to pick up the scattered leaves of God’s book, but as he achieves that in the last canto of the Paradiso with his vision, the vision escapes him…” 164 Vgl. M. Chiarenza, „The Imageless Vision…”, in: M. W. Bloomfield (Hg.), Allegory, Myth and Symbol, S. 104ff.. 165 J. Freccero, „Introduction to Inferno”, S. 189.
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6. P O L I T I K
DES
APPELLS
Zeugnis Alte und neue Konstellationen sind entstanden, die gezeigt haben, daß Anruf und Adresse ein Wissen über sich selbst produzieren. Die Frage ‚Wer spricht hier eigentlich?’ wirft neue Fragen auf, führt zu labyrinthischen Verschachtelungen und zu Monologen, die ein Text mit sich selbst und anderen führt. Ironie, Witz und Metaphorik sind Formen einer Auseinandersetzung mit der indirekten und indiskreten, im Umweg ‚unmittelbar’ ansprechenden Sprache. Sören Kierkegaards Figur des hedonistischen Ästhetikers verliert sich solange in endlosen Reflektionsspiegeln, bis in Entweder… oder ein Gerichtsrat ethisch Einhalt gebietet. Doch die angebliche Erfüllung des ethischen Daseins mündet in einer Sackgasse, wenn sie sich ausschließlich an Regeln und Normen orientiert, ohne deren Begründung zu hinterfragen. Aus diesem Grund schreitet Kierkegaards spätere Stadienlehre weiter fort zum Glauben an einen persönlich adressierten Gott. Der Abstraktion einer administrativen Adresse wird mit dem Messianismus einer sakralen Anrufung entgegnet. Was aber bleibt übrig nach Hölderlins Frage, die das Ausbleiben souveräner Autorität auf den Mangel an Transzendenz zurückführt: „Es fehlen heilige Nahmen,/Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?”1 Im 20. Jahrhundert widerlegt Auschwitz radikal das Prinzip einer obligatorischen Kommunikation.2 Literatur und Zeugnis sehen sich vor die Schwierigkeit gestellt, das Unmögliche bezeugen zu müssen. In Auschwitz gibt es nur eine Gleichheit und das ist „die vor dem Tod”3. Wie über diesen Tod sprechen? Wie nicht darüber sprechen? Und was ist das für eine Gleichheit? Der konzentrationäre4 Appell tut genau das, was
1 Friedrich Hölderlin: „Heimkunft. An die Verwandten”, in: H I, 322, vgl. Kap. 3. 2 Giorgio Agamben: Ce qui reste d’Auschwitz, übers. v. Pierre Alferi, Paris 1999, S. 81: „Auschwitz est la réfutation radicale de tout principe de communication obligatoire.” 3 Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993, S. 76. 4 Vgl. David Rousset: L’univers concentrationnaire, Paris 1965.
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ein differenzierender, in Beziehung zum anderen setzender Anruf zu vermeiden sucht: Er ruft und versammelt.5 Der Einzelne geht in ein befehlsempfangendes „Ganzes”, die formierte Masse ein. Im Lager kommt der Herausruf aus der Menge nicht selten einem Todesurteil gleich. In jedem Fall ist damit eine tödliche Drohung ausgesprochen. Das nationalsozialistische Regime nahm die performative, „absolute Macht”, die „Etikettierungsmacht”6 der Anrufung für sich in Anspruch. Läßt sich diese Politik des Appells auf die bereits besprochene rückwärtig befestigte Struktur von Anruf und Adresse zurückführen? Mit der Behauptung, daß Sprache verletzen kann, weil der Modus der Anrede ein Subjekt anruft und konstituiert, haben die Überlegungen zum Anruf eingesetzt (Kap.I,1). Die inaugurative Macht der Anrufung konstituiert – und destruiert – ein angesprochenes Subjekt. Im Lager wird die Sprache einer rationalisierten und technologisch ausgefeilten Politik des paranoiden Appells nicht von allen gesprochen. Idyllisch klingende Begriffe wie „Morgen-” oder „Abendappell” stehen für Überwachung, Kontrolle, Zwangsarbeit, Selektion und Exekution. Was sagt der Extremfall des totalitären Appells über die Beziehung zwischen Macht und Sprache, Politik und Körper aus? Giorgio Agamben hat in Homo sacer das Paradigma des Lagers in den Mittelpunkt seiner Kritik an einer Politik gestellt, die sich Michel Foucault zufolge in eine Biopolitik verwandelt hat. Mit dem Übergang vom „Territorialstaat” zum „Bevölkerungsstaat” setzt „eine gewisse Animalisierung des Menschen” ein, „die durch die ausgeklügelsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird.”7 Die Verwandlung von Politik in Biopolitik ist für Agamben keineswegs ein verbrecherischer Exzeß in der Geschichte, sondern steht in einer weitreichenden Linie der Kontinu-
5 Vgl. Dokument vom 27. Juli 1943 des „Zentralamtes”, in: Johannes Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager. Das System des Terrors 19381945, Ausstellungskatalog Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Schriftenreihe Nr.1, Berlin 1994, S. 99. In einem fiktiven Dialog mit dem Titel „Unterricht über Aufgaben und Pflichten der Wachposten” heißt es dort: „F.: Sie sind zum Wachdienst in einem Konzentrationslager eingezogen. Was heißt eigentlich ‚Konzentrationslager’? (Konzentrieren ist Sammeln, um einen Mittelpunkt herum zusammenhalten). A.: Konzentrationslager bedeutet soviel wie ‚Sammellager’. F.: Welche Elemente werden in diesem Lager gesammelt? A.: Verbrecher, Asoziale, sexuell Anormale, Staatsfeinde, Faulenzer, Diebe, Sicherheitsverwahrte, politisch Unzuverlässige, Volksschädlinge u.a.m.” 6 Vgl. W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 29: „Absolute Macht ist absolute Etikettierungsmacht. Sie kehrt das Verhältnis von Klasse und sozialer Klassifikation um. Durch die Definition einer Taxonomie von Kategorien, in die jeder Häftling einsortiert wurde, errichtete sie eine Sozialstruktur, die die Verteilung von Gütern, Privilegien und Prestige regulierte.” 7 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002, S. 13.
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ität, die sich vom römischen Recht und dessen Begriff des Homo sacer bis zu den gegenwärtigen Entwicklungen der Biologie fortsetzt. Von Walter Benjamin und Carl Schmitt übernimmt Agamben den Gedanken, daß sich die Staatsmacht das Recht vorbehält, die Ausnahme zur Regel zu machen. Der Rechtstheoretiker Carl Schmitt beruft sich für seine Definition der Ausnahme auf die Worte des Theologen Sören Kierkegaard: „Die Ausnahme erklärt das Allgemeine und sich selbst. Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will, braucht man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen.”8 Foucaults Biopolitik und Schmitts souveräner Ausnahmezustand fallen für Agamben historisch zusammen: „Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschließung der zoe in die polis noch einfach die Tatsache, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird; entscheidend ist vielmehr, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird; entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, zoe und bios, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.”
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Aufgrund der festgestellten Ununterscheidbarkeit von zoe und bios, Politik und Leben, macht Agamben sich das zur Aufgabe, was in Foucaults Analyse noch aussteht, nämlich die Einbeziehung „der modernen Biopolitik […] das Konzentrationslager und die Struktur der großen totalitären Staaten des 20.Jahrhunderts.”10 Nazismus und Faschismus haben die Entscheidung über das nackte Leben zum höchsten Kriterium erhoben. Nach Agamben ist dies weder der Anfang noch das Ende einer kontinuierlichen Politik des Ausnahmezustands. Das Lager als „verborgene Matrix, als nómos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben”11, geht aus dem Kriegsrecht hervor: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.”12 Durch 8 Carl Schmitt zitiert Kierkegaard als protestantischen Theologen, „der bewiesen hat, welcher vitalen Interessen die theologische Reflexion auch im 19.Jahrhundert fähig sein kann”. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität, Berlin 61993, S. 19-21, zitiert bei G. Agamben, Homo sacer, S. 26. 9 G. Agamben, Homo sacer, S. 19. 10 Ebd., S. 14. 11 Ebd., S. 175. 12 Ebd., S. 177.
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das Lager wird der Ausnahmezustand in die Ordnung hineingenommen. „Die Geburt des Lagers in unserer Zeit erscheint aus dieser Sicht wie ein Ereignis, das den politischen Raum der Moderne als solchen in entscheidender Weise prägt.”13 Auf ihr nacktes Leben sind Menschen reduziert, die aus allen Bestimmungen und Zugehörigkeiten herausgelöst wurden und dadurch zum unmittelbaren Objekt politischer Herrschaft werden. Die Denaturalisierungen und Denationalisierungen ganzer Teile der Bevölkerung, begonnen im Ersten Weltkrieg und konsequent umgesetzt in den Nürnberger Rassegesetzen, schufen die ‚rechtliche’ Voraussetzung für die Endlösung. Agambens Provokation, die sowohl in Deutschland als auch in Frankreich rege Debatten ausgelöst hat,14 wird auch durch die Annahme ausgelöst, daß selbst noch biologische Techniken von heute die sektiererische Doktrin über lebensunwertes Leben fortsetzen. Denn nicht alles Leben erhält das Privileg, mit biologischer Technik verbessert zu werden. Es muß diese Bemühung „wert” sein. Ungeachtet der Tatsache, ob über Nichtigkeit oder Qualität eines Lebens verhandelt wird, bleibt die selektive Entscheidung über den Lebenswert die gleiche. Die Überlegungen zur Biopolitik und zum Paradigma des Lagers in der Moderne werfen ein neues Licht auf die Implikationen von Sprache und Macht. Mit und auch gegen Agamben, dessen Theorie aufgrund seiner ontologischen Implikationen nicht ohne Einspruch geblieben ist, drängt sich eine weitere Frage auf: Wenn der „entartete” Appell am Ende einer kontinuierlichen politischen Entwicklung steht, kommt dann darin eine verborgene Teleologie zum Vorschein, die der Trilogie Anruf, Adresse, Appell zugrunde liegt? Die Politik des Appells treibt die Ästhetisierung der Politik auf ihren Höhepunkt. Nach Auschwitz zu schreiben, wäre demnach eine nachträgliche Bestätigung von Hölderlins Dichtung als „Qual Quelle”. In Quel che resta di Auschwitz („Was bleibt von Auschwitz”) bezieht sich Agamben indirekt gegen den von Heidegger beanspruchten Dichterspruch. Vor die Zeilen aus Hölderlins Gedicht Patmos „Wo aber Gefahr ist, wächst/das Rettende auch” schiebt sich bei Agamben eine andere, abgebrochene Zeile aus Andenken: „Was bleibet”
13 Ebd., S. 184. 14 Vgl. z.B. Anselm Haverkamp: „Das Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie”, in: Literaturen, 1, 2001. Thomas Assheuer: „Vor dem Gesetz”, in: Die Zeit, Literatur, Oktober 2002; Henning Ritter: „Hat Giorgio Agamben recht? Supersingularität”, in: FAZ, 7. August 2002; in Frankreich gibt es aufgrund der früheren Übersetzungen eine längere Rezeptionsgeschichte, vgl. z.B. Muriel Combes/Bernard Aspe: „Retour sur le ‚camp’ comme paradigme politique: Homo sacer, de Giorgio Agamben”, in: http://www.ecn.org/ cqs/Biopol/Agamben.htm vom 11. November 2004; Philippe Mesnard/ Claudine Kahan: Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, Paris, 2001.
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(aber, stiften die Dichter). Hölderlin wird als Zeuge für das Scheitern von Heideggers metaphysischer Ethik aufgerufen.15 Agambens Was bleibt von Auschwitz reagiert aber auch auf Primo Levis Fragesatz Se questo è un huomo, Titel seines ersten autobiographischen Berichtes über Auschwitz. Agamben liest in Levis Titel eine rhetorische Figur, die ironisch Stellung bezieht zur Frage nach dem „ethischen Material, das Auschwitz ihm enthüllt hatte”. Die Existenz von Auschwitz konfrontiere vor allem mit dem Mangel an Menschenwürde und mache die Ununterscheidbarkeit von Mensch und „Nichtmensch” sichtbar.16 Die Nicht-Menschen, lebende Kadaver, werden im Lager „Muselmänner” genannt. Agamben macht den „Muselmann” zur emblematischen Figur des „integralen Zeugen”. Levi widmet ihm in Se questo è un uomo das Kapitel „Die Verlorenen und die Geretteten”: „Alle Muselmänner, die im Gas enden, haben die gleiche Geschichte, besser gesagt, sie haben gar keine Geschichte […]. Ihr Leben ist kurz, doch ihre Zahl ist unendlich. Die, die Muselmänner, die Verlorenen, sind der Nerv des Lagers; sie, die anonyme Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist, und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie müde sind, ihn zu fassen. Sie bevölkern meine Erinnerung mit ihrer Gegenwart ohne Antlitz; und könnte ich in einem einzigen Bild das ganze Leid unserer Zeit einschließen, würde ich dieses nehmen, das mir vertraut ist: Ein verhärmter Mann mit gebeugter Stirn und gekrümmten Schultern, von dessen Gesicht und Augen man nicht die Spur eines Gedankens zu lesen vermag.”
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Die spekulativen Erklärungen für den Namen „Muselmann” sind zahlreich: Ist es die Haltung während des islamischen Gebets, die typischen Bewegungen des Hin- und Herschaukelns des Oberkörpers, die Anlehnung an das Wort „Muschelmann” aus dem jiddischen Mozl-mener?18 Vierzig Jahre nach Auschwitz weist Levi außerdem auf die Bezeichnung für das weibliche Pendant des „Muselmanns” hin. In Ravensbrück brachte man zwei gegensätzliche Homophone zusammen: Schmutzstück 15 G. Agamben, Ce qui reste d’Auschwitz, S. 96. Hölderlins Hoffnung auf Rettung würde auf die extreme Situation der Lager bezogen bedeuten, daß es eine mögliche Aneignung und einen Rückkauf von Auschwitz geben könnte. Das aber stellt für Agamben Heideggers Ethik gerade in Frage. 16 Ebd., S. 56. 17 Primo Levi: Ist das ein Mensch?, übers. v. Heinz Riedt, München 102001, S. 107f.. 18 Vgl. G. Agamben, Ce qui reste d’Auschwitz, S. 52; P. Mesnard/C. Kahan, Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, S. 42f..
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und Schmuckstück.19 Damit sind zwei wesentliche Momente der konstituierenden und destruierenden Anrufung angesprochen. Warum insistiert Agamben auf dem „Muselmann” als „integralem Zeugen”? Läuft er damit Gefahr, den überlebenden Zeugen jegliches Recht auf Zeugenschaft abzusprechen und einem Negationismus Vorschub zu leisten, so der Vorwurf einer Kritik?20 Was für eine Rolle spielt der „Muselmann” für den überlebenden Zeugen und Schriftsteller Levi? Die Figur des „Muselmanns” verkörpert die Unmöglichkeit zu sehen und zu erfahren. Agamben erinnert an das Gorgonenhaupt, das eines Gesichtes beraubt ist „im Sinne des griechischen prosopon, das etymologisch ‚das was man sich vor Augen hält, was zu sehen gibt’ bedeutet. Das verbotene Gesicht, das man nicht anzusehen versteht, weil es den Tod provoziert, ist für die Griechen ein Nicht-Gesicht und als solches wird es niemals durch den Begriff prosopon bezeichnet.”21 In der griechischen Kunst entbehrt das Gorgonenhaupt ein Profil. Es wird immer nur als Fläche dargestellt, „wie ein absolutes Bild”. Die frontale Darstellung korrespondiert mit der Unmöglichkeit der Vision. Künstlerisch bricht sie mit der Konvention der Vasenmalerei. Dieser Bruch mit der Konvention findet außerdem an einer anderen Stelle statt. Das Gorgonenhaupt wendet sich nämlich an eine andere Person und damit direkt an das Publikum. Die Unmöglichkeit der Vision enthält also etwas „wie eine Apostrophe, einen Appell, dem man sich nicht entziehen kann.”22 Sie „appelliert und interpelliert an das Menschliche”. Agambens Theorie zielt auf den Schock, den das Bild des „Muselmanns” auslöst. Doch die plakative Visualisierung wirft Probleme auf. Das Bild des „Muselmanns”, zum „integralen Zeugen” aufgerufen, erstarrt zum „Leinwand-Opfer”23, ein nur allzu bekannter Bestandteil der doch an den Pranger gestellten „MedienSpektakel-Macht”24 und ihrer humanitären Operationen. Interne Zeitlichkeit und Organisation des Lagers, die „Grauzone” (Levi), könnten darüber in Vergessenheit geraten. Das Lager wird ein zweites Mal isoliert und in ein exklusives Draußen verbannt.25 Außerdem droht das Bild des „Muselmanns” die Tatsache zu verdecken, daß es noch eine andere 19 Primo Levi: Les naufragés et les rescapés. Quarante ans après Auschwitz, übers. v. Andreá Maugé, Paris 1989, S. 97: „Dans le camp de Ravensbrück, le seul exclusivement féminin, le même concept, me dit Lidia Rolfi, était exprimé par les deux substantifs symétriques Schmutzstück et Schmuckstück, respectivement ‚ordure’ et ‚joyau’, presque homophones, l’un étant la parodie de l’autre. Les Italiennes n’en comprenaient pas le sens cynique et, réunissant les deux mots, prononçaient ‚smistig’.” 20 Vgl. P. Mesnard/C. Kahan, Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz. 21 G. Agamben, Ce qui reste d’Auschwitz, S. 65. 22 Ebd., S. 66. 23 P. Mesnard/C. Kahan, Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, S. 50. 24 G. Agamben, Homo sacer, S. 16. 25 Vgl. P. Mesnard/C. Kahan, Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, S. 53.
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Gruppe von Opfern gibt, deren Tod nicht mehr visuell darstellbar ist, weil sie bei ihrer Ankunft im Lager gleich an der Rampe selektiert wurden. Dokumente, die kurz vor ihrem Tod aufgenommen wurden, strafen die Situation der Vergasten mit Normalität: „Das was „’von Auschwitz bleibt’ hat die Abwesenheit der Körperreste derer, die direkt in die Gaskammer gingen, verdeckt.”26 Levis Erinnerung an die „Muselmänner” als „Nerv des Lagers” denkt über die Beziehung des Zeugen zu den Toten nach. Als Überlebender spricht der Zeuge für die Toten. Das Zeugnis ist den Toten gewidmet, es ist ein „Kaddisch auf [die] Toten”27. Ruft das Zeugnis zum einen die Toten an, an deren Stelle gesprochen wird, fordert es zum anderen aber auch den Leser auf, nun seinerseits in den Zeugen- bzw. Richterstand zu treten. Das Zeugnis hofft auf juristischen Beistand: die Bestätigung und Abnahme durch einen Dritten. Wenn der Zeuge ‚bloß’ vor Augen stellt und sich damit eines Urteils zu enthalten scheint, so deshalb weil er den Richterspruch seinen Zuhörern oder Lesern überläßt. Sie sind es nun, die zur Akkreditierung aufgerufen werden: „Ich habe Ist das ein Mensch? vor vierzig Jahren geschrieben, und damals interessierte mich ausschließlich der rechtliche Tatbestand, wenn ich es einmal so nennen darf: Zeugnis abzulegen. In der Tat ist das Buch so geschrieben, wie ein Zeuge sprechen würde. Ich trete nie als Richter auf, Richter sollen meine Leser sein. […] Wenn also dieses inzwischen vierzig Jahre alte Buch weiterlebt, dann deshalb, weil seine Leser – und das sind viele, es ist in neun Sprachen übersetzt – sich Rechenschaft ablegen darüber, daß diese Zeugenschaft zeitlich und räumlich universeller ist, als das damals, als ich es 28
schrieb, in meiner Absicht lag.”
Was für jeden Text gilt, gilt für das Zeugnis umso mehr: seine Iterierbarkeit. Daß der Zuhörer oder Leser eines Zeugnisses zum Richter wird, revidiert Levi später. Wenn ein singuläres Zeugnis den Anspruch erhebt, universelle Bedeutung zu tragen, dann deshalb, weil es an seine Zuhörer oder Leser appelliert, bisherige Gewißheiten und Urteile in Frage zu stellen. Zuhörer und Leser werden dazu aufgefordert, ihrerseits Rechenschaft, also Zeugnis abzulegen. Indem sie dem Zeugen Glauben schenken, ihm zuhören, zeugen sie für den Zeugen: „Zeugen verlangen von ihrem Publikum eine Antwort, und diese Forderung verhallt ungehört, 26 Ebd., S. 58. 27 Mona Körte: „Der Krieg der Wörter. Der autobiographische Text als künstliches Gedächtnis”, in: Nicolas Berg (Hg.), Shoah – Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, München 1996, S. 201-124. 28 Primo Levi: Gespräche und Interviews, Marco Belpoliti (Hg.), Wien 1999, S. 66f..
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wenn niemand zuhören will oder kann. […] Es geht um die Verpflichtung und um die Möglichkeit, ‚für den Zeugen zu zeugen’”29. Die Adresse des Zeugnisses ist eine doppelt verschränkte: „Sie ist den Toten gewidmet, aber die Lebenden sind die Dritten; oder den Lebenden (den Deutschen beispielsweise), aber dann sind die Toten die Dritten.”30 Zeuge zu sein hat oft einen hohen Preis. Das Zeugnis kann die Tötung oder den Selbstmord zur Folge haben – das läßt den Zeugen selbst zum Opfer werden.31 Die Zeugenschaft liefert „die Bedeutung schon immer der Wirkung des Todes aus […], d.h. daß ihr Sinn selbst schon immer jede Möglichkeit der Bedeutung überschreitet.”32 Aufgrund der Unmöglichkeit, sich selbst auf keinen lebenden Zeugen mehr berufen zu können, sondern auf Tote, wird der Überlebende selbst zu einer halluzinierten Figur, „wie die Schatten, die träumen und an die er sich richtet.”33 Während Agamben allein die Figur des „Muselmanns” als „integralen Zeugen” gelten lassen will, werden für Levis bezeugenden Überlebenden die Übergänge zu den Toten fließend. Wenn niemand dem Zeugen Gehör schenkt, dann hört auch der überlebende Zeuge auf zu existieren. Und indem der Zeuge für die Toten spricht, spricht er als Sterbender, als letzter vor dem am Horizont sich abzeichnenden Tode. Als Sterbender rückt er in die ferne Nähe des „Muselmanns”, den niemand anzusehen versteht. Der Alptraum von Zuhörern, die sich desinteressiert abwenden, geistert als Urszene durch die Lagerliteratur. Internierte sind von „Menschen von vorher, von draußen” abgeschnitten. Dies gilt sowohl räumlich als auch zeitlich: Der Blick von außen bleibt am Stacheldraht der Umzäunung hängen. Neben dem Hungertraum ist es der Angsttraum, als ‚Rückkehrer’ ins vorige Leben auf Indifferenz zu stoßen, der immer wiederkehrt.34 Ruth Klüger, deren Autobiographie weiter le 29 Ulrich Baer: „Einleitung”, in: U. Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen”. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Schoah, Frankfurt a. M. 2000, S. 7. 30 Zu einzelnen Figuren, die den Auftrag der Zeugenschaft erteilen, vgl. François Rastier: „Interpréter Primo Levi”, in: Champs du signe, Sémantique, Rhétorique, Poétique, 13/14, 2002, S. 163-183, hier S. 177. 31 Vgl. F. Rastier, „Interpréter Primo Levi”, S. 178. Mit einem Zitat von Pascal: „Je crois les témoins qui se font égorger.” und dem Hinweis auf François Martin: Pour une théologie de la lettre, Paris 1966. 32 Gianluca Solla: „‚Sprich als letzter’”, in: M. Schuller/E. Strowick Singularitäten, S. 96. 33 François Rastier: „Le survivant ou l’Ulysse juif”, in: Littérature, 126, 2002, S. 81-105, hier S. 84. 34 P. Levi, Ist das ein Mensch?, S. 69f.: „mir ist, als läge ich auf Eisenbahnschienen. Die Eisenbahn kommt gleich, […]. Meine Schwester, einige nicht genau erkennbare Freunde von mir und viele andere Menschen sind da. Sie hören mir alle zu, und eben das erzähle ich: von dem Pfeifen auf drei Tönen, von dem harten Bett, von meinem Nachbarn, den ich wegschieben möchte und den zu wecken ich Angst habe, weil er kräftiger ist als ich […]. Ein intensives, körperliches, unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und
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ben gleichzeitig ein Versuch und eine Aufforderung ist, möglichen Lesereaktionen im Text vorzugreifen und somit einen möglichst umfangreichen Katalog von Antworten, Fragen und Widersprüchen aufzublättern, sieht in der „Sammelwut” der oral histories ein Zeichen dafür, die Geschichte des Einzelnen übersehen zu wollen. Durch das Nichtzuhören der Sammelwütigen werde der Zeuge zum lebenden Dokument: mehr Rohmaterial als denkender Mensch.35 Da es offenbar „immer die gleichen” sind, „die es wiedererzählen”, bleibt als letzte Adresse das „Wiederkäuen” der Ehemaligen.36 Ensteht diese zirkuläre und hermetische Struktur der Nichtkommunikation nicht schon im Lager? Denn im Lager gibt es keine gemeinsame Sprache zwischen der SS, den Kapos und vielen anderen Mittlern, zwischen den „‚Ich-Mördern’, die sich als Götter ausgeben wollten”, und den Häftlingen, „zu Wesen ohne Gesicht, ohne ‚Ich’ reduziert”37. Da die Beherrscher ihre willkürlichen ‚Entscheidungen’ treffen, deren Konsequenzen allein die Häftlinge zu tragen haben, ist eine Kommunikation von vornherein ausgeschlossen. Die Machtverhältnisse im Lager spiegeln sich in der Nicht-Adressierbarkeit der Schwächsten, im Ausschluß der Eingeschlossenen, wider: „An die Muselmänner hingegen, die Menschen in Auflösung, verlohnt sich nicht, ein Wort zu richten”38. Sprache, Gesten, Handlungen dienen ausschließlich zur Beschimpfung, Erniedrigung, Drohung, Entwürdigung. Tod und Leben hat man jeden individuellen Zug genommen. Was nun sind die Voraussetzungen für eine Literatur, die sich in erster Linie als Zeugnis versteht? Erfährt Dantes immer wieder zitierte Hölle39 in der Appellstruktur von Zeugnissen, die über das Lager berichten, ihre historische Abgründigkeit? Zeigt sich die Infernalität der Apostrophe auch in den Zeugnissen über Auschwitz? Die ersten Verse aus Dantes Inferno, die in Se questo è un huomo zitiert werden, eilen zur Erklärung einer Antwort herbei, die den Fragenden auf sich selbst zurückwerfen:
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mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so vieles berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden.” Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur, Bonn 1996, S. 36. Jorge Semprun: Quel beau dimanche! Paris 1980, S. 98, Was für ein schöner Sonntag!, übers. v. Johannes Piron, Frankfurt a. M. 1981, S. 97: „’Du könntest es verstehen’, sagte Gérard. Barizon zuckte offensichtlich resigniert mit den Achseln. ‚Natürlich’, sagte er, ‚aber wozu? Wenn du es mir wiedererzählst, ist es keine Geschichte, sondern ein Wiederkäuen. Und umgekehrt!’” Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris 1987, S. 49. P. Levi, Ist das ein Mensch?, S. 106. Zahlreiche Belege bei Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur, Berlin 1999.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL „‚Warum’? frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ‚Hier ist kein Warum’, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück. Die Erklärung hierfür ist grauenhaft und doch so einfach: An diesem Ort ist alles verboten; nicht aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen, sondern weil das Lager zu diesem Zweck geschaffen wurde. Wenn wir darin leben wollen, müssen wir das rasch und gut lernen: ‚[…] Hier ist das heil’ge Antlitz keine Hilfe! Ein anderes Schwimmen ist’s hier als im Serchio!’” (Dante, Göttliche Komödie, Inf.XXI,48-49)
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Die Unmöglichkeit, auf Antworten hoffen zu dürfen, markiert das Ende der Hoffnungen und der Gewißheiten: Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate. Hinter den offiziellen Tor-Inschriften – „Arbeit macht frei” (Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen, Ravensbrück, Auschwitz), „Jedem das Seine” (Buchenwald) – treten danteske, infernalische Schriftzüge hervor: „Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten.” (Inf.III,1-9). Das Höllen/Lagertor wird zum Symbol der „Initiation” ins Lager. Es ist „Wahrzeichen des Lagers”, weil an diesem Ort die Gegensätze zwischen Häftlingen und SS aufeinandertreffen – „hier das Sprechverbot der Wartenden, dort die metallische Stimme aus dem Lautsprecher, hier das Bewegungsverbot und der geordnete Marsch, dort die herumlungernden Wärter, hier der sture Blick zur Wand, dort das Panorama, hier Demütigung und kollektive Unterwerfung, dort Macht und Triumph”41. Einzelne Häftlinge werden durch Lautsprecher ans Tor gerufen: „sie wußten nicht, warum sie gerufen wurden und was ihnen bevorstand. Manche Anrufe waren harmlos, bedeuteten Postempfang oder Rücksprachen, andere eine gefahrvolle Einvernahme durch die politische Abteilung. […] Viele, die dorthin bestellt wurden, kamen nicht mehr zurück, wurden verhört, gequält und umgebracht.”42 Für Neuankömmlinge und Arbeitskolonnen war das Torstehen „eine statische Folter ohne technische Hilfsmittel, eine Marter des Schweigens, ein öffentliches Standbild an einem Ort, wo ein Kommen und Gehen herrschte.”43 Ihm folgte das Aufnahmeritual des Appells mit einer Ansprache des Lagerkommandanten oder eines anderen Mitglieds der Lagerführung. „Den Kern dieser Ansprache bildete dabei fast immer eine unmißverständliche Todesdrohung.”44
40 P. Levi, Ist das ein Mensch?, S. 31. 41 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 79. 42 Franz H. Schrage: Weimar – Buchenwald: Spuren nationalsozialistischer Vernichtungsgewalt in Werken von Ernst Wiechert, Eugen Kogon, Jorge Semprun, Düsseldorf 1999, S. 60. 43 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 78. 44 Wolfgang Kirstein: Das Konzentrationslager als Institution totalen Terrors. Das Beispiel des KL Natzweiler, Pfaffenweiler 1992, S. 83. Zur Ansprache als
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Die literarische Anrufung der Divina Commedia überwindet den Zustand des öffentlichen Standbildes, indem sie sie als kollektive Adresse apostrophiert. Wie sollten Erinnerungen ohne Vor-Bilder auskommen können? Doch verstellen diese Bilder die Erinnerung nicht auch? Die von Agamben ironisch wieder aufgenommene Frage des Titels Se questo è un uomo ist ein Appell, Dantes Inferno noch einmal zu lesen: „aber nicht als Hölle, die es erlauben würde, Auschwitz zu verstehen, denn Auschwitz nimmt der Hölle ihren Sinn.”45 Die umgekehrte Allegorese des Mythos, der zur Geschichte geworden ist, schafft nicht etwa einen neuen, historischen Sinn, sondern bleibt im unsinnigen Modus eines gespenstischen Aufgesuchtwerdens behaftet. Geschichte, die nur Fragen aufgibt und keine Antworten zur Verfügung stellt, wird zum Trauma.
Akten und Zuschauer Kann sich Geschichte von ihren Geschichten und deren Teleologie freimachen? Eine narrative Spannung schafft Sinn und prägt sich dem Verständnis leichter ein. Aber geht es einem kritischen Verständnis von Geschichte nicht gerade darum, Legenden zu verjagen? Statt Urteile zu fällen und Erklärungsmuster anzubieten, bittet das Zeugnis um Zuhörerschaft. Wodurch aber verschafft es sich Gehör? Das vorliegende Kapitel, das die Politik des Appells innerhalb des Lagers anhand von Dokumenten untersucht, stand vor dem Dilemma: Wie über den Appell – „die unmenschlichste Programmnummer des KZ”46 – sprechen? Aber auch: Was heißt es, das Sprechen darüber zu unterlassen? Welche Dokumente befragen? Wie auswählen? Mit der „Grauzone” des Lagers, seiner komplexen Machtstruktur, Zeitlichkeit und Organisation, setzt sich Agamben, der „offensichtlich keine historiographische These”47 präsentieren will, nicht im einzelnen auseinander. Im folgenden wird daher der Versuch unternommen, die „unmöglich notwendige”48 Repräsentation einer Politik des Appells innerhalb des Lagers nachzuvollziehen. Was sagen die Dokumente über Lagerordnungen, Appellszenen und Sterbelisten aus? Wie spricht Bürokratie über den Tod eines Einzelnen? Reproduziert
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„Kernstück auch der offiziellen Kommunikation der militärischen oder militärähnlich organisierten Männergesellschaft”. F. Rastier, „Interpréter Primo Levi”, S. 180. Miklós Nyiszli: Im Jenseits der Menschlichkeit. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz, Berlin 1992, S. 17. G. Agamben, Homo sacer, S. 20f.. Zum Tod als „unmöglich notwendige” Bedingung des Textes, vgl. Jacques Derrida: „Demeure”, in: J. Derrida, Passions de la littérature, Paris 1996, S. 35.
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Sprache die Gewalt des Ereignisses oder verdeckt sie diese nicht vielmehr? Es lag nahe, Zeugnisse von Opfern und Tätern zu befragen. Die Opfer bezeugen, daß sie das überlebt haben, was andere getötet hat. Die Täter ziehen sich auf ihre Behauptung zurück, sie hätten aufgrund eines Befehlsnotstandes handeln müssen. Neben der Tatsache, daß die SS den „Muselmann” nicht wahrnehmen wollte oder konnte, geschweige denn, daß sie für ihn hätte sprechen können, machen seine Aussagen die „Kontamination durch die Sprache, die Komplizenschaft in der Sprache” deutlich: „Der Nazi spricht die gleiche Sprache wie wir”49. Nicht veröffentlichte Papiere, Protokolle, amtliche Rundschreiben und Befehle, Akten aus einzelnen Konzentrationslagern und der zentralen „Inspektion” in Oranienburg, die wenigen SS-Tagebücher und Aufzeichnungen geben Auskunft über die Zusammenarbeit von beflissener Unterwürfigkeit, übersteigertem Ordnungswahn, offensichtlicher Gesetzeslosigkeit und fahriger Camouflage. Die Praxis in den Lagern fiel – wie übrigens auch die Praxis der Verhaftungen und Razzien – unter keine juristische Klausel. Wirkliche Todesursachen verschweigend, Tatsachen verstellend, dienten die Dokumente zur Deckung und Tarnung der Tat. Für das Verbrechen Mord gab es zwischen 1933 und 1945 zwar nach wie vor Paragraphen und ein bürgerliches Strafgesetzbuch. In den Lagern jedoch herrschten andere Gesetze. Für das Erschießen eines Häftlings gab es Sonderurlaub und Prämien. Strafe diente nicht – wie die Vorschriften glauben machen wollten – der Erziehung, das Wort „Strafe” war eine Aufforderung zur Gewalt: zu sorgfältig geplanten oder launisch motivierten Schikanen, Appellen, Exekutionen, Selektionen von Männern, Frauen, Kindern.50 Das Lager – ein „Dschungel von Strafanlässen” (Eugen Kogon): „Vor kurzem war beim Appell verkündet worden, was alles von nun an als Sabotage angesehen werde und demgemäß sofort mit Erhängen bestraft würde”51. Jederzeit konnten einzuhaltende Regeln oder Fristen und Zeiten geändert und neue Anlässe geschaffen werden: „Eine der gefürchtesten Institutionen in Auschwitz war der Appell, der früh am Morgen und am späten Nachmittag durchgeführt wurde […]. Die Insassen mußten bewegungslos in Habachtstellung verharren, gewöhnlich kaum be-
49 J. Derrida, „Demeure”, S. 43. 50 Einen Überblick über Zahlen und Theorien zu Auschwitz gibt Gunnar Heinsohn: Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, Hamburg 1995. 51 Victor E. Frankl: …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 1977, S. 130.
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POLITIK DES APPELLS kleidet, viele Stunden lang in Hitze, Kälte, Regen und Schnee, und wer stol52
perte oder fiel, wurde ins Gas geschickt.”
Im Zentralverlag der NSDAP erscheint ab 1938 die SA-Zeitschrift Der Appell. Darin wird der Begriff „Appell” „seitens der Obersten SA-Führung” so definiert: „Appell ist eine SA-mäßige Feier, Appell ist immer Aufruf und Weckruf seelisch-kämpferischer und glaubensmäßiger Kräfte, Appell ist die gemeinsame Erhebung, gemeinsame Verpflichtung zur neuen Arbeit, gemeinsames Geden53
ken.”
Auf den zwanghaften Charakter verordneter Zeremonien, die den „‚Anruf des Blutes’”54 als religiöse Mission in Szene setzen, ist immer wieder hingewiesen worden. „Der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen”, schreibt Victor Klemperer. Worte würden wie „winzige Arsendosen […] unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.”55 Die sich in Kürzeln verschleiernde und keinen Widerspruch duldende, imperativ anrufende LTI (Lingua Tertii Imperii) kenne keinen Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache: „Vielmehr: alles in ihr war Rede, mußte Anrede, Anruf, Aufpeitschung sein. […] Deklamieren heißt wörtlich: mit lauter Stimme, tönend daherreden, noch wörtlicher: herausschreien. Der für alle Welt verbindliche Stil war also der des marktschreierischen Agitators.”56 Die zeremonielle, ritualisierte Inszenierung der Propaganda, ihr laut versammelnder Ruf zwingt einer sogenannten „Volksgemeinschaft” einen erzwungenen Konsens auf, der alles Nichtimmanente ausschließt. Dieser Konsens führt – in einem religiös inszenierten Rahmen – zu tödlichen Opferungen. Die Masse ist in zwei Lager geteilt: „Die gefeierte Masse ist immer eine formierte, in Dammsysteme gegossen. Ein Führer ragt aus ihr heraus. Die verachtete erscheint dagegen immer unter den Attributen des
52 Israel Gutman (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, Berlin 1993, S. 115. 53 Zentralverlag der NSDAP: „Der Appell.” Zeitschrift „im Auftrag der Obersten SA-Führung”, Abt. Weltanschauung und kulturelle Dienstgestaltung, München 1938-1939, Heft 5: „Die Musik im Dienstgebrauch der SA”, o.J., S. 9. Vgl. auch das Horst-Wessel-Lied: „Zum letzten Mal wird zum Appell geblasen,/Zum Kampfe stehen wir alle schon bereit”. 54 Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leibzig 181999, S. 253 u. S. 305: „Ein wahrhafter Germane reagierte spontan, wenn sein Instinkt angerufen wurde.” 55 Ebd., S. 26f.. 56 Ebd., S. 35.
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Flüssigen, Schleimigen, Wimmelnden.”57 An dumpfe Gefühle appellierend erlaubt der versammelnde Ruf einer fanatisch aufgepeitschten, sich feiernden Menge, jahrhundertealten Vorurteilen freien Lauf zu lassen und das zu artikulieren, was in säkularen Beziehungen womöglich nicht zum Ausdruck kommen durfte.58 Der Aufruf zur Gewalt korrespondiert mit einem reaktivierten Gründungsmythos, der sich zum absoluten Ereignis macht: le mythe nazi.59 „An die Stelle von Debatte traten Akklamation, Schauspiel, Reglementierung und vor allem der Appell ans Gefühl.”60 Seine eigentliche Schlagkraft erhält der paranoide Appell durch den staatlich ausgeführten Gewaltakt – passage à l’acte – der Judenverfolgung. Antisemitismus und Rassenlehre bildeten die „ideologische Klammer”, aus der schließlich alle „Nichtgemeinschaftsfähigen” herausfallen.61 Die Verhaftungspolitik zielt von Anfang an auf Abschreckung und Einschüchterung der gesamten Bevölkerung.62 Nach der Gründung der ersten großen Lager wie Oranienburg, Sonnenburg und Lichtenburg, die sowohl der Polizei, der SA oder der Politischen Polizei unterstanden, begann bereits Anfang März 1933 die Einrichtung eines ersten GroßKonzentrationslagers der SS. In einer ehemaligen Pulverfabrik wird Dachau zu einer unauffälligen, durch ordentliche Bürokratie getarnte „Schule des Terrors”63. Die erste Lagerordnung am 31. Oktober 1933 dient als Vorbild für alle weiteren Lager.64 Im Sommer 1934 „reorganisiert” der Dachauer KZ-Kommandant mit einer fast wortwörtlich übernommenen Lagerordnung die Lager Esterwegen und Sachsenburg.65 Sich 57 Klaus Theweleit: Männerphanatasien, Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Frankfurt a. M. 1980, S. 8. 58 Vgl. Max Gluckman: „Les rites de passage”, in: M. Gluckmann (Hg.), Essays on the Ritual of Social Relations, Manchester 1962. 59 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy: Le mythe nazi, Paris 1991. 60 Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. Frankfurt a. M. 2000, S. 249. 61 Falk Pingel: „Das System der Konzentrationslager”, in: Ludwig Eiber (Hg.), Verfolgung – Ausbeutung – Vernichtung: die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern 1933-1945, Hannover 1985, S. 20. 62 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 42: „Insgesamt wurden zwischen Februar 1933 und August 1934 in beiden Ländern etwa 50 000 Menschen für kürzere oder längere Zeit in Schutzhaft genommen, etwa 3000 wurden nicht wieder entlassen.” 63 M. Burleigh, Nationalsozialismus, S. 238. 64 Vgl. J. Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 100: „Die Lagerordnung wird 1940/41 nur geringfügig gegenüber von ihrem Vorbild von 1934 geändert. Sie bleibt das Instrument, das den Häftling der Willkür seiner Bewacher und der Kommandaturangehörigen ausliefert.” 65 Wie Dachau wird Esterwegen im Emsland als Ausbildunsgzentrale dienen. Über die KZ-Verhältnisse der frühen KZs bes. des Moorlagers Nr.3 (Esterwegen), wo der Zählappell bereits zum Tagesablauf gehörte, vgl. z.B. den Roman von Karl August Wittvogel: Staatliches Konzentrationslager VII. Eine „Er-
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zunächst an ein noch ungeschultes Wachpersonal adressierend schaffen die „Dienstvorschriften” einen uneingeschränkten Spielraum für absolute Machtausübung. Jede Nichtigkeit wird zum Vorwand für die Verhängung schwerster Strafen.66 Paragraph 18 der Dienstvorschriften widmet sich dem Verhalten beim Appell: „Den Befehl zum Appell erteilt der Führer des Schutzhaftlagers, oder sein Rapportführer. Der Befehl kann durch Pfeifensignal oder mündlich erteilt werden. Die Gefangenen treten in Kompagniefront am befohlenen Platze an, der beautragte Kompaniefeldwebel meldet unter ‚Stillgestanden! Augen rechts! (links)’ die Stärke der angetretenen Gefangenenkompagnie. Solange die Gefangenen in Reih und Glied stehen, darf weder geraucht, noch gesprochen werden. Jede Disziplinlosigkeit wird mit Arrest bestraft.”
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Die „Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager” legt dagegen die Regeln für die Häftlinge fest. Der Appell taucht hier nur als ein weiterer Anlaß zur Bestrafung auf. „Wer sich wiederholt von der Arbeit drückt, trotz vorhergehender Verwarnung den Appellen zur Arbeitseinteilung oder den Zählappellen fernbleibt, […] wird wegen Unverbesserlichkeit mit dauernder Strafarbeit, mit Arrest, mit Strafexerzieren, oder mit Prügel bestraft.”
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Mit diesen Paragraphen waren die administrativen Weichen für eine sich jeden Tag zwei- bis dreimal wiederholende Szene gestellt, die alle Häftlinge am meisten fürchten lernen mußten. „Tatsächlich sterben beim Appell die allermeisten.” so der spätere Bericht der französischen Armee.69 Trotz Vorschrift war nichts eindeutig verboten, „zweifellos weil alles verboten war. Etwas, das an einem Tage erlaubt war, bedeutete am
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ziehungsanstalt” im Dritten Reich, Bremen 1991; u. Dokumentation bei Klaus Drobisch: System der NS-Konzentrationslager: 1933-1939, Berlin 1993. J. Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 34: „Die Häftlinge werden in der Lagerordnung mit schweren Strafen bedroht. Dazu gehören nicht nur Arresthaft, Prügelstrafen, Pfahlbinden und Nahrungsentzug, sondern auch die Erhängung ‚kraft revolutionären Rechts’ und die Erschießung als ‚Meuterer’.” Zitiert bei Erich Kosthorst/Walter Bernd: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland, Zusatzteil, Kriegsgefangenenlager, Bd. 1, Düsseldorf 1983, S. 198, Dokument B/1.71. E. Kosthorst, Konzentrations- und Strafgefangenenlager, S. 210, Dokument B/1.72a. (E.M.A.), Nr. 015.285, zitiert in: Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen (Hg.), Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Frankfurt a. M. 21988, S. 77.
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nächsten Tag stundenlange Mißhandlungen durch die SS.”70 Noch dazu wußten die meisten Häftlingen nichts von der Existenz einer Lagerordnung. Denn sie war nirgendwo öffentlich angeschlagen oder bekanntgegeben. „Dem nach Dachau unter dem Schock der Einlieferung stehenden Häftling wurden nur die wichtigsten Passagen der Lagerordnung von einem SS-Mann, später auch von einem Häftling bekanntgegegeben.”71 Die Vorschrift sorgte nicht etwa für eine juristische Grundlage, mit der man „Disziplinlosigkeit” bestrafen wollte, sondern sie ließ Dachau und im Anschluß daran alle anderen deutschen Konzentrationslager zur „terra incognita für die Justiz” werden. Unter dem Deckmantel eines strengen Regelsystems wandte sich die Lagerordnung im gleichen martialischen Ton an SS und Häftlinge. Die SS bekam alle Mittel an die Hand, die Häftlinge wurden einer unwiderruflichen Abhängigkeit ausgeliefert. Die Paragraphen waren nichts anderes als ein Freibrief für willkürliche Gewaltausübung. Mit Pfiffen oder Sirenen konnten die Häftlinge zu jeder Tagesund Nachtzeit auf den Appellplatz getrieben werden: „Den Appell dürfen wir nicht verpassen, zumal die Sirene dort [an der Baustelle] nicht zu hören ist. Wir sind immer unruhig und voller Angst, zu spät zu kommen.”72 Regelmäßige Morgen- und Abendappelle dienten dazu, die Zeit des Lagers zu institutionalisieren: „Absolute Macht […] zerstört die Kontinuität der inneren Zeit, kappt die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, sperrt die Menschen in eine ewige Gegenwart ein.”73 Handlungsabläufe und Ereignisse werden im Lager zu standardisierten Momenten eines monotonen Tagesablaufs. Sie lassen den Häftlingen keinen Raum für Hoffnung oder Erwartung (es sei denn für Erwartungsangst):74 Obwohl die geregelte Zeitnutzung den Tätern eine effiziente Technologie der Vernichtung an die Hand gab, hätte eine zu präzise Einhaltung der Vorschriften doch der launischen Gewalt widersprochen, mit der sich die SS ihre absolute Vorherrschaft im Lager sicherte. Eine zu planmäßige Ausführung hätte tägliche Disziplinarmaßnahmen absehbar und damit pervertierbar gemacht. Sie hätte zuletzt aktiven Widerstand hervorrufen können. Die Regeln waren nicht etwa dazu da, die Wachleute zu einer für beide Seiten geltenden Ordnung anzuhalten. Im Gegenteil vergrößerten die immer zahlreicher und minutiöser werdenden Verbote und Einschränkungen für die Häftlinge die Handlungsfreiheit 70 zitiert in Konzentrationslager Dokument F 321, S. 53. 71 Vgl. Johannes Tuchel: Konzentrationslager: Organisationsgeschichte und Funktion der ‚Inspektion der Konzentrationslager’ 1934 – 1938, Boppard/ Rhein 1991, S. 145. 72 Jean Heinemann: Auschwitz. Mein Bericht, Berlin 1995, S. 88. 73 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 88. 74 Les Françaises de Ravensbrück, S. 95. [Hervorhebungen im Text]
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der SS. Der Terror arbeitete mit Überregulierung, die „nicht Ordnung, sondern Unordnung” produzierte.75 Für die Zeit des Lagers bedeutete das einen ständigen Wechsel von Moment und Dauer. Gewalt konnte jederzeit unreguliert, plötzlich und unmittelbar hereinbrechen. Zwar sind Raum und Zeit im Lager als homogene Größen „organisiert” (Klemperer zählt dieses Verb zur LTI, in der Lagersprache hieß ‚organisieren’ vor allem ‚stehlen’). Sie werden aber auch für die Unberechenbarkeit des Ereignisses benutzt. Doch trotz der strengen militärischen Rangordnung, die sich in der Aufteilung in verschiedene Blöcke für Parias, Mittelklasse und prominentes Blockpersonal (Kapos, Schreiber) niederschlug, gab es keine feste, ein für allemal geregelte Kompetenzverteilung. Auf der anderen Seite war auch der Personalapparat des Lagers „keinesfalls als ein in sich geschlossenes, rein bürokratisch funktionierendes Hierarchiegebilde organisiert”76. Für eine interne Konkurrenzsituation waren auf allen Ebenen der Lagerhierarchie die Voraussetzungen geschaffen. So setzte beispielsweise für Neulinge in der SS ein Abhärtungs- und Brutalisierungsprozess ein, der mit einer unmenschlichen und demütigenden Behandlung einherging.77 Sie unterschied „sich qualitativ nicht mehr von der eines KZ-Häftlings”: „Die Grundlage bildete eine pervertierte soldatische Erziehung zur Härte, in deren Zentrum ein scharfer Drill stand”78. Auch Frauen wurde anfängliches Mitleid oder Gewissensbisse schnellstens ausgetrieben. In allen Lagern gab es wöchentlich einstündige „Aufseherinnenappelle”, die während der gesamten Dienstzeit weltanschauliche Indoktrination und militärische Schulung in Erinnerung hielten.79 Doch mit diesen kasernenüblichen Parallelen, die für alle galten, hören die Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Häftlingen und dem Wachpersonal auch schon auf. Auch wenn militärisch erfahrene Gefangene einen „Anpassungsvorteil” im Konzentrationslager hatten, so „ging es der Lagermacht nur in zweiter Linie um Dressur, Drill und Disziplin.”80 Keine folgsamen Soldaten oder Arbeiter sollten hier erzogen werden. Die Erniedrigung der Gefangenen war Selbstzweck. Sie gehörte zum System, dem sich das geschulte Personal bedingungslos verschrieben hatte. Fol-
75 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 133. 76 W. Kirstein, Konzentrationslager, S. 51. 77 Zum Verhältnis von Ohnmacht und Drill, zum Kampf des soldatischen Mannes gegen sich selbst, vgl. K. Theweleit, Männerphantasien 2, S. 176ff.. 78 W. Kirstein, Konzentrationslager, S.52. 79 Vgl. Gudrun Schwarz: „‚möchte ich sie nochmals um meine Einberufung als SS-Aufseherin bitten.’ Wärterinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern”, in: Barbara Distel/Wolfgang Benz (Hg.), Frauen im Holocaust, Gerlingen 2001, S. 331-352. 80 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 85.
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termethoden, geistige und körperliche Erniedrigungen und Mißhandlungen, glichen sich von Lager zu Lager.81 Neben einer systematisch erzeugten Unordnung des überfüllten und hierarchisierten Raumes dient die Auflösung eines teleologischen Zeitbegriffs – „du temps en dehors du temps”82 – dem einzigen Ziel, welches das Lager in Aussicht stellte: der Vernichtung. Die SS hatte Zeit.83 Es war nicht ihr Problem, wenn das meist zwangsweise von den Häftlingen selbst vorgenommene Abzählen von bis zu 20 000 Menschen schwierig war oder es Stunden um Stunden dauerte, bis ein Flüchtiger irgendwo schlafend in einer Ecke aufgetrieben werden mußte: „Beim Abendappell des 14. Dezember 1938 fehlten in Buchenwald zwei BVer. Trotz der Kälte von minus 15 Grad und der ungenügenden Kleidung standen die Häftlinge 19 Stunden hindurch auf dem Appellplatz. Noch in der Nacht erfroren 25, bis zum folgenden Mittag erhöhte sich die Zahl auf über 70. Im Herbst 1939 stand das Lager ebenfalls einmal 18 Stunden hintereinander, weil sich zwei BVer im Schweinestall verborgen hielten. Nach der Arbeit den ganzen Tag stehen, die ganze Nacht hindurch und den nächsten Tag bis mittags, ohne Essen – das schreibt sich so leicht nieder, auch die Zahl der To84
ten” .
Wie die Zäsuren der institutionalisierten und doch unberechenbar verkürzten oder ausgedehnten Zeitabläufe entbehrt auch die Zwangsarbeit im Lager jegliches Ziel: „Das Handeln dehnte sich zur kontinuierlichen Aktivität ohne sinnhaftes Ende.”85 Zur permanenten Einkerkerung „in einer Zelle aus menschlichen Körpern” kommt die „freie Variation des Tempos, der Wechsel von Dauer und Plötzlichkeit, von Hetze und War 81 Vgl. W. Kirstein, Konzentrationslager, S. 54. Kirstein betont, daß der Konditionierungsprozeß zum Drill und zur Brutalität mit einer gezielten Indoktrination der Lager-SS einherging. Beides ermöglichte Identifizierungsmechanismen und Orientierungsmuster mit einem „SS-gemäßen” Verhalten. Individuell sadistische Handlungen wurden zugunsten von „rationaler” Brutalität zurückgedrängt. 82 Charlotte Delbo: Auschwitz et Après I, Aucun de nous ne reviendra, Paris 1970, S. 53; vgl. auch C. Delbo: Keine von uns wird zurückkehren, in: C. Delbo, Trilogie, übers. v. Eva Groepler/Elisabeth Thielicke, Basel 1990, S. 48: „die Zeit außerhalb der Zeit”. Künftig zitiert als Trilogie I. 83 Vgl. auch W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 96: „Während die Häftlinge ausharren mußten, konnten die Aufseher einander abwechseln und zwischendurch die Kantine aufsuchen. Für die Opfer hingegen bedeutete jede Minute, die der Appell andauerte, Hunger, Erschöpfung, Krankheit, Tod.” 84 Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Hamburg 1974, S. 83f.. BVer sind „befristete Vorbeugehäftlinge”, die im Lagerjargon zur Klasse der „Berufsverbrecher” gerechnet wurden. Sie standen dem Lagerregime am nächsten und dienten der SS als Handlanger für brutales Vorgehen gegen ihre Mithäftlinge. 85 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 93.
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ten, Ruhe und Schock.”86 „Die Zeit raste oder schlich.”87 Determiniert von zyklischen Abfolgen, die das Lagerpersonal jederzeit überfallartig unterbrechen konnte, orientiert sich die Zeit des Lagers an Intervallen, Fristen und Dauer. Befehle zur Zeiteinteilung sind oft nicht einzuhalten. Die zu knapp bemessene Frist zwischen Weckruf und Morgenappell ist dafür nur ein Beispiel, die von der Arbeitspause abgezogenen An- und Abmarschzeiten und der Mittagsappell ein anderes. In einem auf 1942 datierbaren Dokument mit dem Titel „Aufgabengebiete in einem Konzentrationslager” sind die mit dem Appell verbundenen Vorschriften für das Wachpersonal bis ins kleinste Detail festgelegt: „Der Rapportführer ist für die Ruhe und Disziplin innerhalb des Lagers verantwortlich und erstellt monatlich den Blockführerdienstplan, den er dem Schutzhaftlagerführer zur Unterschrift vorlegt. Ihm müssen die Veränderungen der Häftlingsstärke (Neuzugänge, Entlassungen, Todesfälle usw.) laufend bekanntgegeben werden. Er erstellt täglich eine Veränderungsmeldung, die Zugänge, Entlassungen usw. in der Zeit nach dem Abendappell des vorhergehenden Tages bis zum Abendappell des laufenden Tages, mit Angabe der Häftlingsnummern, Namen, Vornamen und Haftarten, enthält. Diese Veränderungsmeldung wird dem Schutzhaftlagerführer zur Kenntnisnahme vorgelegt und verbleibt bei der Abteilung III. Je ein Durchschlag wird der Abteilung III, Abteilung V (Krankenbau) und der Poststelle übergeben. Der Rapportführer führt täglich 3 Zählappelle unter Mitarbeit der Blockführer durch. 1. Appell morgens vor Ausrücken der Häftlinge zu den Arbeitsstellen, 2. Appell mittags nach Einrücken der Häftlinge zum Mittagessen, 3. Appell abends nach Einrücken der Häftlinge von den Arbeitsstellen.”
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Mit peinlichem Ordnungswahn ist hier genau jeder einzelne administrative Schritt aufgeführt, mit denen die als „Neuzugänge, Entlassung, Todesfälle usw.” etikettierten Ziffern der numerierten Häftlinge amtlich festgehalten werden sollten. Das Dokument führt exemplarisch vor, was für ein Aufwand und Umfang für die Papierarbeit betrieben wurde.89 Of-
86 Ebd., S. 89. 87 Renate Laqueur: Schreiben im KZ. Tagebücher 1940-1945, Hannover, 1991, S. 89. 88 Faksimiliertes Dokument „Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes, Historische Abteilung, Ordner Allgemeines ‚Aufgabengebiete in einem Konzentrationslager’, undatiert, aus den Anlagen auf 1942 datierbar, von SS-Hauptscharführer Jung.” Gedenkstätte Deutscher Widerstand. 89 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 131: „Die Lagerkommandanten verbrachten den größten Teil ihrer Arbeitszeit am Schreibtisch, wo sie Rundschreiben, Briefe, Berichte und zahllose Formulare zu sichten und zu unterschreiben hatten. Dutzende von SS-Leuten waren allein mit Schriftverkehr und dem Erstellen von Meldungen und Statistiken befaßt. Hunderte von Häftlingen wa-
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fiziell war den Akten zu entnehmen, daß alles seinen geregelten Gang ging. Akten sorgen bis ins Konzentrationslager für Übersicht, Möglichkeit zur Kontrolle, beschwichtigende Routine und Effektivität der „Organisation”. Der mit Worten wie „Ruhe und Disziplin” einsetzende Paragraph täuscht über die Tatsache hinweg, daß der Schreibakt oft der Praxis folgte und nicht – wie es hier suggeriert wird – umgekehrt. Keine getreue Repräsentation der Fakten als vielmehr eine gezielte Tarnung dessen, was tatsächlich vorgefallen war. Tod war häufig erst die Folge des meist unnötig wegen einer Nichtigkeit in die Länge gezogenen Zählappells. Unter den Augen der anderen ausgehungerten und erschöpften Häftlinge wurden je nach Laune der SS Exekutionen an Halbtoten vollstreckt, im nachhinein von der „Selbstverwaltung” in der Schreibstube als Krankheitsfälle getarnt.90 Der auf den ersten Blick sich militärisch vorschriftsmäßig und diszipliniert gebende Drill korrespondiert mit sorgfältigen Ablagegesten. Formulare, Registraturen, Kartei- und Lochkarten bezeugen das Verschwinden dokumentarisch, schaffen eine historische Quellenlage. Wie bei allen anderen Vorgängen im Lager handelt es sich aber auch hier nicht allein um Dokumente sondern um weitere Bestandteile der Vernichtung. Sind es zu Beginn der Deportationen noch vierseitige Din-A4Fragebögen, auf denen Einlieferungsgründe und „Personalangaben des Häftlings” festgehalten wurden, so beschränkt die SS im Laufe der Zeit „die Fragebögen auf ‚arische’ Häftlinge, später verzichtet sie überhaupt darauf.”91 Administrative Gesten konnten zur Not immer umgangen werden.92 Zur Identifizierung werden numerische Karteikarten angelegt, das sogenannte „Totenbuch” hält die „Abgangslisten”, d.h. Nummern und Namen der Verstorbenen fest. Der tägliche Zählappell macht den Unterren als Schreiber beschäftigt, in den Büros der SS, im Krankenbau, in der Schreibstube und Arbeitsstatistik, den Blocks und Kommandos.” 90 Kommuniqué der polnisch-russischen Sonderkommission Maidanek zitiert in: Konzentrationslager Dokument F 321, S. 77: „Wenn einer bewußtlos wurde und beim Appell nicht antwortete, setzte man ihn auf die Liste der Toten und brachte ihn dann mit Stockschlägen um.” 91 Tadeusz Paczula: „Schreibstuben im KL Auschwitz”, in: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hg.), Sterbebücher von Auschwitz: Fragmente, München et al. 1995, S. 51. 92 Vgl. W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 52f.: „Auf diese Weise kamen seit dem Frühjahr 1943 monatlich zehntausende russische und polnische Fremdarbeiter in die Lager, wo man sie nicht mehr in Einzelkarten führte, sondern der Einlieferungsbehörde die Zahlen nur noch summarisch meldete. Als auch dieses Reservoir erschöpft war, genehmigte Hitler im April 1944, beim Programm des Völkermords eine Ausnahme zu machen und etwa 100 000 Juden zur Rüstungsfertigung und zum Bunkerbau ins Reichsgebiet zu bringen. So wurden in Auschwitz von den 458 000 ungarischen Juden etwa 108 000 ausgewählt und in Kontingenten von jeweils 500 Personen zum Arbeitseinsatz verschleppt. Unter dem Sachzwang des Arbeitskräftemangels rückt das Regime kurzzeitig von der Politik der Massenvernichtung ab.”
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schied zwischen Tod und Leben zur mehr oder weniger simplen Rechenaufgabe: „Wenn Lebende und Tote abzählbar sind […] ist der Appell zu Ende.”93 Vorgegebene Formulare mit dem Titel „Stärkemeldung” halten die „Verluste” fest: zwischen „Ist” (tatsächlicher Bestand) und „Soll” (erwarteter Bestand) bzw. „Kommandiert” (aktueller Stand der Abkommandierten) und „Arrest” (aktuell in den Bunker eingewiesenen): „Bei Unstimmigkeiten in den ‚Stärkemeldungen’ mußten die betreffenden Häftlinge außerdem solange auf dem Appellplatz stehen, bis der Fehler gefunden und der Rapport korrigiert worden war. Dadurch erhöhte sich wiederum die Sterblichkeitsrate, besonders natürlich im Winter. […] Der Appell und die Häftlingsnummer waren im KL Auschwitz gewissermaßen ‚heilig’, sie waren nicht in Frage zu stellende, unumstößliche Einrichtungen.”
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Appell und Nummer verschlucken den Einzelnen in der ununterscheidbar gewordenen, abgezählten Masse: „Ich besaß keinen Namen, keine Adresse mehr. Ich war Häftling Nr. 55 908. Und in demselben Augenblick fiel mit jedem Einstich ein Lebensabschnitt von mir ab.”
erinnert sich Krystyna Zywulska an den Moment der Registrierung und Tätowierung.95 Die Nummer, zuerst auf die Brust, dann zwecks leichterer Überprüfung in den wachsenden Leichenbergen auf den Unterarm tätowiert, spricht gleich zu Eintritt in das Lager das Recht auf einen Namen ab, schneidet von Biographie und Genealogie ab, macht zum verwalteten, seriellen Objekt. Der Herausruf aus der Menge bedeutet oft Tod. „Les cinq cents types qui attendent, à l’appel, il est visible qu’ils ont peur de mourir, tous.” so Robert Antelme in L’espèce humaine.96 Starb ein Häftling, so wurde seine Nummer einfach wiederverwendet. 1942/43 wird die Vernichtungspolitik intensiver denn je betrieben. Die deutsche Führung muß sich eingestehen, daß ein längerer Krieg bevorsteht. Zur Sicherung der Rüstungsindustrie sollen Zwangsarbeiter 93 J. Semprun, Quel beau dimanche!, S. 88. 94 T. Paczula, „Schreibstuben”, S. 55. 95 Krystyna Zywulska: Tanz, Mädchen… Vom Warschauer Getto nach Auschwitz, München 1988, S. 180f.. 96 Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris 1957, S. 105; vgl. auch R. Antelme, Das Menschengeschlecht, übers. v. Eugen Helmlé, Frankfurt a. M. 2001, S. 131. u. ebd., S. 19/S. 17. „Demain, ils seraient encore à l’appel pendant plusieurs heures, et nous ne serions plus là. […] l’appel avant le départ pour le travail, chaque matin sous les phares de la Tour, dirigés sur les milliers de têtes grises qu’il était impossible de songer à distinguer par un nom, par une nationalité, ni même par une expression.”
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verstärkt eingesetzt werden. In den Konzentrationslagern, die wie Auschwitz und Maidanek nicht unter lokaler SS-Führung, sondern zum zentralen Verwaltungsbereich der KZ-Inspektion gehörten, „überkreuzte sich die Politik des Völkermordes mit dem Programm des Arbeitseinsatzes. Ihr historischer Brennpunkt war die ‚Rampe’ von Birkenau, wo die meisten Transporte einer Selektion unterworfen wurden und die SS je nach Bedarfslage und Aufnahmekapazität jüdische Arbeitskräfte aussortierte, in den Lagerbestand aufnahm und anschließend durch Arbeit tötete.”97 Am 3. März 1942 begründet Himmler die Eingliederung der KZInspektion in das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt mit den Worten: „Die größte Bedeutung hat neben der Wehrkraft heute die Arbeitskraft. Wenn wir uns mit voller Verantwortung bewusst sind, was es bedeutet, daß Deutschland diesen Krieg führt, dann haben wir konsequent jede Möglichkeit zu ergreifen, um auch die letzte Arbeitsstunde irgendeines Menschen für den Sieg nutzbar zu machen.”
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Am 24. und 25. April versammelt Oswald Pohl, Chef des Hauptamtes Verwaltung und Wirtschaft SS, alle Lagerkommandanten und Werksdirektoren der SS-Firmen. Pohls Versuch, den „Häftlingseinsatz” zu zentralisieren, zieht eine Verschlechterung der Lebensbedingungen im Lager nach sich. Aus dem Protokoll der SS-Konferenz: „Die Arbeitszeit ist an keine Grenzen gebunden. […] Alle Umstände, welche die Arbeitszeit verkürzen können (Mahlzeiten, Appelle u.a.) sind daher auf ein nicht mehr zu verdichtendes Mindestmaß zu beschränken. Zeitraubende Anmärsche und Mittagspausen nur zu Essenszwecken sind verboten.”
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Zwangsarbeit und Völkermord laufen parallel. Lapidar werden die Zeit des Überlebens (Mahlzeiten) und des Gehorchenmüssens (Appelle) zusammen verrechnet. Zwischen den auszuführenden Befehlen, zwischen Ein- und Ausrücken der Kolonnen von der Arbeitsstelle zum Lager blieb oft sowieso keine Zeit zum Essen übrig. Das Regime der Zahl stellt die Praxis des Genozids über die Rationalität ökonomischer Zwänge, läßt beide Hand in Hand gehen. Doch mit den Todesraten steigt der Verwaltungsaufwand, mit dem die Zahlen erfasst werden sollen. Auch wenn das Reichswirtschaftministerium bereits im Mai 1934 die wichtige Rolle der
97 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 53. 98 Am 3. März 1942. Dokument BAK, NS 3/1090, in: J. Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 88, Dokument 16.3. 99 Dokument des Bundesarchives, Bestand NS3/1078a, in: J. Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 93, Dokument 16.6.
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Papierproduktion erkennt und die Kontrolle der Fabriken an sich zieht,100 so kommt es aufgrund der rapiden Zunahme der „Stärkemeldungen” aus den Lagern zu technischen Engpässen in der Oranienburger Zentrale. Am 1. August 1942 wird in einem Runderlass der „Amtsgruppe D” zur „Überstellung” sowjetischer Kriegsgefangenen „aus Gründen der Papierund Arbeitsersparnis” angeordnet, daß „weder das Eintreffen eines derartigen Häftlings oder dessen Verlegung in ein anderes Lager im einzelnen anzuzeigen” ist.101 Im Januar 1944 fallen schließlich „sowohl Todesmeldungen als auch tägliche Stärkemeldungen weg”. Die „Registratur des Todes “ erstickt offensichtlich „in einem riesigen Wust von Fernschreiben”102. Eine distanzierte, vom eigenen Täter-Ich abstrahierende Haltung spricht denn auch aus den wenigen persönlichen Dokumenten, die überliefert sind. Dazu gehören die drei Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen der SS-Männer Kremer, Broad und Höß.103 Johann Paul Kremer, als Doktor der Philosophie und Professor für Anatomie an der Universität Münster zur intellektuellen Elite (oder was von ihr übriggeblieben war) Deutschlands gehörend, wird 1942 zum Dienst ins KL Auschwitz geschickt, wo er unter der Eile des geschäftigen Tagesablaufs die Ereignisse notiert. In nur zwei Eintragungen äußert er sich über das „Schrecklichste der Schrecken”, welche die „Sonderaktion” in ihm ausgelöst habe – eine davon läßt bezeichnenderweise den Vergleich mit Dantes Inferno nicht aus. „Dies sind jedoch nur einzelne Spuren einer persönlichen Beurteilung. Weit öfter grenzt die trockene Notiz […] an eine ausführliche Beschreibung des Menüs in der SS-Kantine.”104 Perry Broad, der außer Hitlerjugend und SS keine anderen Beschäftigungen kennt, kommt 1941 nach Auschwitz, wo er vom Wachposten in den Dienst der Politischen Abteilung aufsteigt. Broads Metapher „anus mundi”, After der Welt, zitiert der polnische Schriftsteller Wieslaw Kielar als Überschrift von Anus Mundi. Fünf Jahre Auschwitz.105 Im Gegensatz zum ungeschickt versteckten Tagebuch Kremers sind die beiden anderen Dokumente von Broad und Höß erst nach 1945 in Kriegsgefängnissen, also unter Aufsicht, entstanden. Dementsprechend scheinheilig – oder waren es Verdrängungskünste, wie Prozeß-Beobachter später nahelegen? – schlüpfen ihre Autoren in die Rolle eines moralisch entrüsteten, 100 Vgl. Edwin Black: IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München 2001, S. 127. 101 J. Tuchel (Hg.), Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 113, Dokument 20.1. 102 Vgl. ebd., S. 112. 103 Jadwiga Bezwinska/Danuta Czech (Hg.): KL Auschwitz in den Augen der SS. Höss, Broad, Kremer, Katowice 1981. 104 Ebd., S. 29. 105 Wieslaw Kielar: Anus Mundi. Fünf Jahre Auschwitz, Frankfurt a. M. 1997.
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am Geschehen unbeteiligten und sich dennoch rüstenden, sich selbst zur Härte erziehenden Zuschauers. Die eigene Mittäterschaft wird vollends ausgeklammert. „Zur Strafe mußten dann alle Häftlinge eine Nacht im Freien stehen.” schreibt Kremer über die langen Stehappelle in Auschwitz: „Am Morgen nach einer solchen qualvollen Nacht begann dann gleich die Arbeit.”106 Der katholisch streng erzogene Lagerkommandant Rudolf Höß nimmt bereits ab 1934 an den „Schulungen” im Konzentrationslager Dachau teil. Über Sachsenhausen kommt er nach Auschwitz, wo er bis 1943 bleibt, bevor er als Chef in die KZ-Inspektion nach Berlin versetzt wird. Über die Abberufung nach Auschwitz wird Höß im nachhinein sagen, sie sei als „Losreißung schmerzlich, gerade weil ich durch die Schwierigkeiten, durch die Mißstände, durch die vielen schweren Aufgaben mit Auschwitz verwachsen war.”107 Für die sogenannte „Aktion Höß”, die “gründlichste und in ihrer Planmäßigkeit und Schnelligkeit drastischste aller Judenvernichtungsaktionen”108, bei der innerhalb von zwei Monaten ca. 400000 ungarische Juden ermordet werden, kehrt Höß im Mai 1944 noch einmal nach Auschwitz zurück. Nach seiner Auslieferung nach Polen hat er 1946 Gelegenheit, „mit unterwürfiger Gewissenhaftigkeit seinen Lebensbericht” niederzuschreiben.109 Das autobiographische Dokument hält die planmäßige Vernichtung mit „buchhalterisch knapper und exakter Sachlichkeit” fest. Auch wenn die Konzentrationslager ein „Sammelpunkt verkommener und gefühlsloser Figuren aus den Reihen der SS” waren, bei dem der „ideologische Appell an niedrigste Haßinstinkte entscheidend mitwirkte”, so kann das typische Profil eines Aufsehers doch nicht auf „eine besondere teutonische Grausamkeit” zurückgeführt werden. Höß’ Aufzeichnungen berichten detailliert über die technologischen Voraussetzungen (das Giftgas Zyklon B), die dafür sorgten, daß „das Gefühl von Mord” gar nicht erst aufkommen konnte. Der ordnungsliebende und pflichtbewußte Höß spricht von „‚aufopfern-
106 Perry Broad: „Erinnerungen”, in: J. Bezwinska/D. Czech (Hg.), Auschwitz in den Augen der SS, S. 136. [Hervorhebungen v. Verf.] 107 Martin Broszat (Hg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, München 172000, S. 203. 108 M. Broszat (Hg.), Kommandant in Auschwitz, S. 249, Anmerkung des Herausgebers. 109 Vgl. K. Theweleit, Männerphantasien 2, S. 230: „Ich halte es für wahrscheinlich, daß das Schreiben, insbesondere das Tagebuchschreiben insgesamt diese Funktion für die soldatischen Männer hat – weshalb wir denn auch so reich mit Biografien von ihrer Hand gesegnet sind. Am Abend, nach dem Dienst, erhalten sie sich damit aufrecht, in die geraden Linien der gestochenen Handschriften und in eine derbe Grammatik zu fügen, was sonst den Körper zerreißen würde. Füllfederhalter und Papier bilden eine Zusammenfügungsmaschine, die die Ganzheitsblöcke der Buchstabenreihen und gebundenen Blätter der Selbsterhaltung des Körperpanzers widmet.”
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der Hingabe’” und setzt das System der Konzentrationslager mit einer „Einrichtung der Ordnung und Erziehung” gleich.110 Seine Notizen reproduzieren die Camouflage der Lagerordnung. Der Zählappell erscheint aus dieser Sicht als zielorientierte Erziehungsmaßnahme und preußische Drill-Übung, die für „Ruhe und Ordnung” zu sorgen hatte.111 Höß gibt weder bei seinem Bericht über die Teilnahme an AppellSzenen „Ziemlich befangen stand ich abends beim Appell vor den mir anvertrauten Arbeitszwangshäftlingen, die neugierig ihren neuen Kompagnieführer, so wurden damals die Blockführer genannt, beäugten. Welche Fragen in ihren Mienen standen, lernte ich erst später begreifen.”
noch bei der Erinnerung an den Anblick von Leichen „Da sah ich zum ersten Male die Gasleichen in der Menge. Mich befiel doch ein Unbehagen, so ein Erschauern, obwohl ich mir den Gastod schlimmer vorgestellt hatte.”
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seine Position des unbeteiligten, sich in Katharsis übenden Zuschauers auf. In diesen Sätzen kündigt sich bereits das Risiko einer „zentralen, sinngebenden und erlösenden Metapher” namens Auschwitz an.113 Höß’ falsche Betroffenheit demonstriert die Grenzen einer Gedächtniskultur, in der Auschwitz zum konsumierbaren Ereignis wird.114 Sie antizipiert den passiven Habitus des Fernsehzuschauers, der sich an Bildern von Kriegsschauplätzen weidet. Da es keinen „Code des Sterbens” gibt, tragen Schrift und Bild in gewissenhafter Bürokratie über den Tod hinweg.115
110 Alle Zitate bei M. Broszat, „Einleitung”, in: M. Broszat, Kommandant in Ausschwitz, S. 19ff.. 111 Daß dies bei den Opfern auch so ankam, berichtet E. Kogon, Der SS-Staat, S. 83: „Nicht wenige ausländische Häftlinge empfanden den Zählappell einfach als preußischen Drill, vor dem man sich drücken mußte.” 112 M. Broszat, Kommandant in Auschwitz, S. 86 und 189. [Hervorhebungen v. Verf.]. 113 Klaus Scherpe: „Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur ‚nach Auschwitz’”, in: Hartmut Böhme/Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Hamburg 1996, S. 254-282, hier S. 257. 114 Zur Kritik an der Gedächtniskultur vor allem James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a. M. 11997. 115 Vgl. Hartmut Böhme: „Gewalt im 20. Jahrhundert. Demozide in der Sicht von Erinnerungsliteratur, Statistik und qualitativer Sozialanalyse”, in: Barbara Naumann (Hg.), figurationen, [Gender, Literatur, Kultur], Hamburg, Jg.0, 1999, S. 139-157, hier S. 141: „Das ist die Ohnmacht der Toten, ihr Unrecht,
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Wie aber wird der Appell auf seiten der Opfer wahrgenommen? Die vermutlich schon 1945/6 entstandenen Erzählungen des polnischen Schriftstellers Tadeusz Borowski berichten über das Ritual des Zählappells aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters. „‚Vorbei. Der Appell ist vorbei, der Tag ist um. Zwei Mann weniger. Wieder ein Tag mehr. Der nächste.’ […] ‚Appell! Antreten!’ Rufe und Pfiffe. […] Der Schreiber zählt und zählt, immer wieder.”
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In Primo Levis Ist das ein Mensch? setzt die erste Appellszene mit dem Abtransport ein. Das „wir” des Erzählers unterbricht den administrativen Ablauf der Zählung. „Mit der absurden Präzision, an die wir uns später gewöhnen sollten, nahmen die Deutschen den Appell vor. ‚Wieviel Stück?’ fragte der Oberscharführer zum Schluß; und der Rottenführer stand stramm und meldete, es seien 117
sechshundertfünfzig ‚Stück’, und alles stimmte.”
Auf dem Appellplatz fand keine Kommunikation zwischen Tätern und Opfern statt. Der stummen Masse sollte das ‚Ich’-Sagen abgewöhnt werden. Das zeigen die Imperative und die neutrale Haltung des Passivs in Jorge Sempruns Appellszene aus Le grand voyage: „Der Lautsprecher brüllte: ‚Das Ganze, stillgestanden!’ und man hörte dreißigtausend Absätze zackig zusammenklappen. Der Lautsprecher brüllte ‚Mützen ab!’ und dreißigtausend Sträflingskappen wurden von dreißigtausend rechten Händen gefaßt und gegen dreißigtausend strammstehende rechte 118
Beine geknallt, das ging ruckzuck, wie ein Mann.”
Das „Stillgestanden!” mußte auch der deutsche Soldat bis zum Umfallen lernen:
das durch das Unheimliche unserer Medien und Codierungsmacht erst entsteht.” 116 Tadeusz Borowski: „Ein Tag in Harmence”, in: T. Borowski, Bei uns in Auschwitz. Erzählungen, München/Zürich 1999, S. 64 u. 100. 117 P. Levi, Ist das ein Mensch? S. 15. Zitierte Frage auf deutsch. 118 Jorge Semprun: Le grand voyage, Paris 1963, S. 62, J. Semprun, Die große Reise, übers. v. Abelle Christaller, Frankfurt a. M. 1981, S. 52.
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POLITIK DES APPELLS „Und ich lernte: ‚Stillgestanden!’. Die Beine zitterten und die Hände überzogen sich mit leichtem Schweiß, nichts als ‚Stillgestanden!’ und die Bauchwand zerrte, die Schultern schmerzten, langsam kam eine rote Welle vor die Augen, kreiste schwer nach dem Herzen, in die Augen, und erstickten, weich fegten eilige Gedanken, verwirrten sich, kugelten im schweren Hirn und roll119
ten ab in hüpfenden Knäueln, ich lernte ‚Stillgestanden!’”
Der Vernichtungsbefehl der SS aber stellt negativ dar, daß es kein „wir” mehr gibt, das sich auf ein gemeinsames Gesetz verpflichten könnte. Die Einseitigkeit des gesetzgebenden „wir” zeigt, so Jean-François Lyotard, „daß ich und er sich ohne Unterschied an die Stelle einunddesselben Namens setzen: was für einen selbst ich ist, ist er für den anderen, aber die Eigennamen, die SS, die Deportierten, bleiben unverändert und unveränderbar. Die Singularität bleibt im eigenen Pol befangen.”120 Beim Appell antworten heißt, die eigene Häftlingsnummer auf Deutsch auswendig lernen, sie (sich in ihr) in der langen Auflistung anderer Zahlen wiedererkennen und sie vor der SS wiederholen, sich als Nummer rückmelden und ins „Ganze” einfügen zu müssen. Beim Appell antworten heißt, der Degradierung als Nicht-Mensch zuzustimmen, das einseitige Wir mit einem nicht-existierenden Ich zu bejahen. Die Rückmeldung dient zur Bestätigung von Unterwerfung und Erniedrigung, zur Annahme des Todesurteils. Auch außerhalb des Lagers gehört dies zu den polizeilichen Verhörmethoden: „‚Du warst wohl noch nie hier oben? Wirklich nicht? Dein Glück – hast noch viel zu lernen […]. Auf zwei Schritten an den Tisch heran, Hände an die Hosennaht und stramm gemeldet: ‚Hier ist der Jude Paul Israel Dreckvieh oder so.’ Also zurück und hinaus, marsch, und wehe dir, wenn die Meldung nicht zackig ausfällt!”
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Im Lager hetzt sich der SS-Mann durch seine in die Länge gezogenen Zahlworte selbst auf, bis der gefolterte Körper des Gefangenen unter seinen Peitschenhieben bewußtlos zusammenbricht: „– Zählen, crie le SS. – Compte! Gueule Lucien. Le SS prend son élan; ça tombe. –
119 Ernst Salomon: Die Kadetten, Berlin 1933, S. 30. 120 Jean-François Lyotard: Streitgespräche oder Sprechen ‚nach Auschwitz’, übers. v. Andreas Prisbersky, Grafenau 1998, S. 27f.. Vgl. auch J.-F. Lyotard: Les fins de l’homme. A partir du travail de Jacques Derrida, Paris 1981. 121 V. Klemperer, LTI, S. 220.
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ANRUF, ADRESSE, APPELL Un! Crie X… Deueux… Il ne peut pas arrêter son cri. Son cul saute sous les coups. Le SS reprend son élan. – Troââ… Elle retombe. – Quaaatre! Il hurle maintenant. Il ne tiendra pas…”
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Zahl und Reihe treten anstelle von Namen und Anrede: „‚Zu fünf, zu fünf’, fünf, immer fünf Köpfe.” „Danach übten wir stundenlang ‚Aufstellen zu fünft’, ‚Marsch’ und ‚Mützen ab’.”
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„Beim Appell war der Be124
fehl Mützen auf gleichbedeutend mit ‚Rührt euch!’”
„‚Alle antreten!’, lautet die Anweisung. Dieses Geschrei hören wir täglich zweimal, morgens und abends beim Zählappell. Mittags dagegen hat es eine unheilvolle Bedeutung.”125 „Disziplin, Sauberkeit, Fleiß! Wir kennen es schon.”126 Nichtverstehen der Befehle verringerte die Überlebenschance: „Die Befehle wurden auf Deutsch gebrüllt und unter Schlägen wiederholt […]. 127
‚Für das Scheitern im Lager war die Sprache der erste Grund.’”
122 R. Antelme, L’espèce humaine; S. 199; R. Antelme, Das Menschengeschlecht, S. 254. 123 Tibor Wohl: Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz, Frankfurt a. M. 1990, S. 22. Vgl. auch E. Kogon, Der SS-Staat, S. 81: „‚Mützen ab!’ und ‚Mützen auf!’ Das war der Morgengruß, vom Rapportführer durch die Lautsprecher gedonnert, für den diensthabenden Lagerführer. Wurden die Kommandos nicht enstprechend ‚zackig’ genug ausgeführt, mußten sie entsprechend oft wiederholt werden.” Und Leon Weliczker Wells: Ein Sohn Hiobs. München/Wien 1979, S. 75: „Dann bekam Kampf den Befehl, uns zwanzigmal ‚Mützen ab! Mützen auf!’ üben zu lassen. In diesem Fall waren die beiden Scharführer nicht weniger geschickt im Gebrauch ihrer Gummiknüppel. Freilich war dies für sie, wie ich herausfand, mehr oder weniger eine Routinesache beim Appell.” Günther Wackernagel: Zehn Jahre gefangen, Berlin 1987, S. 176: „Nach dem Abendappell, dem üblichen Zählen der Gefangenen und den wiederholten Kommandos ‚Mützen ab!’ und ‚Mützen auf!’ sowie dem Singen eines befohlenen Liedes mußten wir auf dem Platz stehenbleiben.” 124 Myriam Anissimov: Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie, Berlin 1999, S. 174. 125 Nyiszli, Jenseits, S. 135. 126 Max Mannheimer: Spätes Tagebuch. Theresienstadt – Auschwitz – Warschau – Dachau, Zürich/München 2000, S. 94. 127 M. Anissimov, Primo Levi, S. 169.
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„Die Appellplätze aller KL haben viele und schreckliche Tragödien gesehen.”128 So könnte eine Zusammenfassung der Geschichte des Appells lauten. Besonders der abendliche Zählappell geht über eine rein verwaltungstechnische Angelegenheit hinaus. „Er war der Höhepunkt der täglichen Machtzeit.”129 Sterbende und Tote mußten antreten. Der Appellplatz war zentraler Schauplatz eines Terrors, der noch seine Opfer zu Komplizen machte. „Zu viel zu sehen, war lebensgefährlich.”130 Auf dem Exerzierplatz waren die Stehenden zum Zuschauen verdammt, während die SS den Triumph ihrer Macht feierte: „Während der Appelle […] wenn eine Frau zu Boden stürzt, können wir sie nicht aufrichten; sie bleibt bis zum Ende am Boden liegen oder sie wird mit Stiefeltritten oder Stockschlägen aufgesammelt.”131 Da die Sanktionen gegen alle gerichtet waren, hatte keiner der Häftlinge ein Interesse daran, daß jemand ausblieb und sich dem Appell verweigerte. „Wie oft hat einer den Appell in irgendeinem Versteck einfach verschlafen, und Zehntausende standen sich die Füße wund, bis der Missetäter gefunden wurde.” Kogon fügt hinzu: „(Er war um sein Schicksal nicht zu beneiden, und niemand hatte Mitleid mit ihm.)”132 Noch die ununterscheidbare Masse, die für jede individuelle Abweichung wie eine fehlende Mütze, eine abgewinkelte Fußstellung oder einen abschweifenden Blick bestraft werden konnte, spielte man gegen ihre schwächsten Glieder aus. Drohungen, Folter und Tod sichern die Herrschaft über das nackte Leben. In willkürlichen Inszenierungen stellt sie sich zur Schau. Eine Identifikation mit dem herausgerufenen Einzelnen ist der zum Appell stehenden Menge verboten. Mitleid bedeutet Tod. Was haben die Zitate über den Appell dokumentiert? Läuft eine historische Rekonstruktion nicht Gefahr, die Gewalt zu reproduzieren, die sie analysieren will? Was sagen Akten, Protokolle, Dokumente und Zeugnisse über den Appell aus? Stellt das Zitieren nicht gerade den narrativen Kontext her, den es doch angesichts der Gefahr einer Legendenbildung zu vermeiden galt? Das Dilemma bleibt bestehen: Wie über den Appell im Lager sprechen? Aber auch: Wie läßt sich nicht darüber sprechen? Wie läßt sich vermeiden, daß der Terror in Sensation umschlägt und den Reiz des Bösen erhält? Hat der Appell nicht längst den Normalzustand geschaffen, in dem Terror und Staatsphilosophie zusammenfallen? Das Verbrechen erscheint als getarnte Erziehungsmaßnahme, die
128 E. Kogon, Der SS-Staat, S. 83. 129 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 94. 130 Ebd., S. 106. 131 Amicale de Ravensbrück et Association des Déportées et Internées de la Résistance (Hg.), Les françaises à Ravensbrück, Paris 1987, S. 94. 132 E. Kogon, Der SS-Staat, S. 83.
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das Individuum in der Masse verschwinden läßt und unkenntlich macht, formiert. Das Format des Subjekts ist seiner Zerstörung geschuldet.
Délire/Unlesbarkeit (Charlotte Delbo) Ein „véritable délire”133 – ein wirklicher Wahnsinn. Dé-lire, Unlesbarkeit. Vor Augen gestellt mißt sich das Ereignis an seiner eigenen Unmeßbarkeit.134 Die Frage, was es bedeutet, nach Auschwitz zu schreiben, konfrontiert mit einem Scheitern souveränen Sprechens. Wenn sich Sprache als mächtig und souverän gebärdet, verwandelt sie Gewalt und Terror in Idylle. Wie der sich selbst legitimierende, zum Souverän ausrufende Staat, macht die souveräne Sprache die Ausnahme zur Regel. Wer mit intakter, unversehrter Stimme spricht, beansprucht, über das nackte Leben zu verfügen. Wie aber sollte ein anderes, nicht souveränes Sprechen möglich sein, das die ‘erstickten Worte‘ (Sarah Kofman) nicht unterdrückt? Wie vor Augen stellen, ohne auf die Vorstellungskraft zurückzugreifen?135 Es gibt kein Sprechen nach Auschwitz, so Maurice Blanchot. Jede Geschichte werde „von nun an aus der Zeit vor Auschwitz sein.”136 Eine écriture du désastre ist dazu aufgefordert, ihre eigenen Bedingungen zu überprüfen. Ein Sprechen „ohne Macht” macht auf seine eigene Unmöglichkeit aufmerksam.137 Der Zusammenfall von verletzenden und verletzten Worten (Paul Celan: das „Wundgelesene”138) stellt hohe Anforderungen. Die Erfahrung, daß Text und Körper auf komplizierte Weise „unmöglich notwendig” miteinander verwoben sind, führt zu einem brüchigen, fragmentarischen, sich selbst unterbrechenden und auslassenden Sprechen: „A peine commencions-nous à raconter, que nous suffoquions. À nous-mêmes, ce que nous avions à dire commençait
133 R. Antelme, L’espèce humaine, S. 9. 134 J.-F. Lyotard, Streitgespräche, S. 14: „Das Modell ‚Auschwitz’ bezeichnet […] die Erfahrung eines Sprechens, das dem spekulativen Diskurs Halt gebietet.” 135 S. Kofman, Paroles suffoquées, S. 43: „Parler, pour témoigner, mais comment? Comment un témoignage peut-il échapper à la loi idyllique du récit? Comment parler de ‚l’inimaginable’, – inimaginable très vite même pour ceux qui l’avaient vécu – sans avoir recours à l’imaginaire?” 136 Vgl. Blanchots Nachwort zu Vicious Circles: Two Fictions & After the Fact, Barrytown/New York 1985, S. 68. Zitiert in Geoffrey Hartman: Der längste Schatten. Erinnerung und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 234. 137 Maurice Blanchot: L’Ecriture du désastre, Paris 1980. 138 Paul Celan: „Dein vom Wachen”, in: P. Celan, Atemwende, Gesammelte Werke II, Beda Allemann/Stefan Reichert (Hg.), Frankfurt a. M. 11986, S. 24.
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alors à nous paraître inimaginable.”139 Es verschlägt die Sprache, den Atem. Auf der Suche nach Texten, die den Appell in den Mittelpunkt ihres Erzählens rücken, stellte sich die altbekannte Frage wieder ein: „Wieviel Holocaust-Literatur ist ‚genug’? Ein Buch? Zwei? Drei? Welche? Und von wem?”140 Wie im letzten Kapitel deutlich geworden ist, mangelt es nicht an Beispielen vor allem aus der ersten Generation der Zeugen. Primo Levi, Robert Antelme, Jorge Semprun oder auch Paul Celan mögen die bekanntesten Namen sein, die in diesem Zusammenhang fallen. Ist aber die historische und künstlerische Zeugenschaft ausschließlich Männern vorbehalten? Am Ende einer Arbeit, die einen vorwiegend männlichen Kanon abendländischer Texte und Namen zu Anruf, Adresse, Appell befragt hat, stellt sich die Frage nach dem Ort der Frau. Wenn Geschlecht, Körper und Identität durch Diskursivität hervorgebracht werden, wie Judith Butler im Anschluß an Michel Foucault nahelegt,141 was bedeutet es dann, als Frau in den Zeugenstand zu treten? Frauen müssen aufgrund ihrer Geschlechterdifferenz oft die Erfahrung machen, aus den Diskursen souveränen Sprechens ausgeschlossen zu sein. Im Lager waren sie, wenn sie nicht sofort als Mütter erkannt und vergast wurden, noch häufiger als Männer sexuellen Demütigungen ausgesetzt. Nach 1945 wurde Überlebenden sogar unterstellt, sie hätten sich ihr „Ausgespartwerden” mit dem eigenen Körper erkauft.142 Gehen Frauen mehr als Männer das Wagnis einer Schockhaftigkeit ein, das mit dem Trauma der Geschichte und der Erinnerung daran verbunden ist?143 Ohne diese Fragen hier abschließend beantworten zu können, so haben sie doch Neugier geweckt auf Delbos Auschwitz-Trilogie, die wenig Beachtung bei einem größeren Publikum fand und dafür umso mehr von einschlägigen Literaturkritikern gelobt wurde.144 Die französische 139 R. Antelme, L’espèce humaine, S. 10; R. Antelme, Das Menschengeschlecht, S. 7: „Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns die Sprache. Was wir zu sagen hatten, begann uns nun selber unvorstellbar zu werden.” 140 Alvin Rosenfeld: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust, Göttingen 2000, S. 14. 141 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt a. M. 1997. 142 Vgl. Katja Schubert: Notwendige Umwege, Voies de travers obligées. Gedächtnis und Zeugenschaft in Texten jüdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Auschwitz, Hildesheim 2001, S. 44. 143 Vgl. ebd., S. 417: „Immer wieder treffen Vergangenes und Gegenwärtiges in überraschenden Konstellationen blitzhaft aufeinander und rufen hier [in den von Schubert untersuchten Texten von Anna Langfus, Ruth Klüger, Sarah Kofman, Barbara Honigmann, Cécile Wajsbrot] auch ein Staunen hervor.” 144 Vgl. Für Lawrence L. Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory. New Haven/London 1991, S. 38, stellt sich Delbos Trilogie im Modus einer tiefen Erinnerung dar. Geoffrey Hartman, Der längste Schatten. Erinnerung und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, zufolge durchkreuzt Delbos Tri-
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Schriftstellerin und Journalistin Charlotte Delbo, die in der Résistance tätig war und im März 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, kommt in ihrer Trilogie Auschwitz et Après immer wieder auf Appellszenen zurück, deren fragmentarische, szenische Strukturen von poetischen Passagen und Gedichten, aber auch von weißen Flecken, einem Schweigen des Texts über sich selbst, unterbrochen werden. Die Darstellung bricht mit Kohärenz und Linearität, ohne dabei die Qual der Körper auszulassen. Ein Nachdenken über das „Skandalon des Zuhörens, des Lesens”145 setzt ein: „Essayez de regarder. Essayez pour voir.” lautet Delbos Appell an den Leser. Doch wie wäre ein Hinsehen zu realisieren, daß noch über seinen eigenen Voyeurismus zu reflektieren in der Lage ist? Anders als viele Schriftstellerinnen, die durch die Deportation zum Schreiben gedrängt wurden, beginnt Delbo ihre journalistische Karriere schon vor der Verhaftung. 1934 arbeitet sie als Assistentin bei dem Theaterregisseur Louis Jouvet, dem sie im Juni 1941 nach Buenos Aires folgt. Als sie die Guillotinierung eines befreundeten Widerstandskämpfers in Paris erfährt, kehrt Delbo trotz aller Warnungen im November 1941 nach Frankreich zurück. Über ihren Alltag im Untergrund berichtet Charlotte Delbo 1965 in Le Convoi du 24 janvier. Darin beschreibt sie das lange Warten und die stündliche Angst um den Ehemann, ein Leben „dans le brouillard” (‚im Nebel’ – eine Anspielung auf Alain Resnais’ Film Nuit et Brouillard, mit dem das französische Publikum zum ersten Mal mit Bildern aus Konzentrationslagern konfrontiert wurde?).146 Am 2. März 1942 wird das Ehepaar in seiner Wohnung verhaftet, Georges Dudach wird erschossen und Charlotte Delbo am 24. Januar 1943 als einzige der wenigen Nichtjüdinnen in einem Konvoi von 230 Frauen nach Auschwitz deportiert. Sechs Monate später gibt es noch 57 Überle-
logie den unpersönlichen und unbeständigen Charakter von Gedenkstätten. (S. 221). Zur verspäteten Rezeption Delbos in Frankreich, vgl. auch Sylviane Gresh: Les Veilleuses. Le 3 février 1995. 320 comédiennes lisent Charlotte Delbo – Auschwitz N°31 661 à l’initiative de la compagnie Bagages de Sable, Solignac 1997, S. 116-121. Dokumentation der Theatergruppe Bagages de Sable. Am 3. Februar 1995, am gleichen Datum und zur gleichen Uhrzeit, an öffentlichen Orten in 160 Kommunen Frankreichs, Herkunftsorte der Frauen des Konvois vom 24. Januar 1943, lasen 320 Schauspielerinnen, jeweils zwei Frauen unterschiedlicher Generationen, eine Nacht lang aus Trilogie und Le Convoi du 24 janvier vor. 145 Birgit Erdle: „Das Verstummen sprechen: Sprache und Sprachlosigkeit in Texten exilierter und deportierter Schriftstellerinnen”, in: Denny Hirschbach/Sonia Nowoselsky (Hg.), Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre, Bremen 1993, S. 116-131, hier S. 131. 146 Charlotte Delbo: Le convoi du 24 janvier, Paris 1965. S. 101.
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bende.147 Am 23. April 1945 gehört Delbo zu den Überlebenden in Ravensbrück. Bereits im Januar 1946 geschrieben, bleibt der erste Auschwitz-Band Aucun de nous ne reviendra – der deutsche Titel Keine von uns wird zurückkehren ignoriert leider das Neutrum – 15 Jahre lang unveröffentlicht. Erst 1965 erscheint die Sammlung von Gedichten, Dialogen und kleinen Szenen, um schließlich 1970 im Verlag Minuit mit zwei anderen Texten Une connaissance inutile und Mesure de nos jours zusammen als Trilogie veröffentlicht zu werden. Sie habe ein „inaktuelles Werk” schaffen wollen, begründet Delbo ihr langes Schweigen.148 Erst 1990 kommt die erste Übersetzung von Auschwitz et Après in Deutschland auf den Markt. Ist der Holocaust literarisch kein deutsches Thema geworden, wie Ruth Klüger nahelegt?149 Indem sich Delbos Trilogie gegen das gradlinige Erzählen einer Geschichte sträubt, fordert sie dazu auf, diese erst noch herzustellen. Aucun de nous ne reviendra setzt mit der Deportation ein, erst der zweite Band Une connaissance inutile erzählt die Geschichte vom „Initialschock”150 der Verhaftung bis zur „Überstellung” von Auschwitz nach Ravensbrück. Der dritte Band Mesure de nos jours bezieht die Zeit nach der Lagerinternierung mit ein und enthält kurze Porträts der Deportierten. In Aucun de nous ne reviendra hebt ein Klagelied über das Kommen und Gehen der Menschen an: „Il y a des gens qui arrivent […] Il y a des gens qui partent”151. Wiederholte Anrufungen richten sich in einem elegischen Ton und nur durch Zeilensprung und Zeitwechsel getrennt an Tote und Lebende: „O vous qui savez/saviez vous que […]” (I, 21) – O ihr, die es wißt/wußtet ihr daß […]. In den abgerissenen und elegischen Sequenzen 147 Mehr als 76000 Juden und Jüdinnen sind in Frankreich deportiert worden, davon starben allein 3000 in den Internierungslagern von Vichy. Schätzungsweise sind 42000 Personen in Auschwitz vergast worden, 2450 haben überlebt, davon 853 Frauen. 148 Zitiert bei François Bott: „Témoignage. Une si bouleversante douceur”, in: L’express, 715, 1-7 mars 1965. 149 Ruth Klüger: „Dichten über die Schoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord”, in: Gertrud Hardtmann (Hg.), Spuren der Verfolgung: seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder, Gerlingen 1992, S. 203-221, S. 211. 150 Bruno Bettelheim: Erziehung zum Überleben: zur Psychologie der Extremsituation, Stuttgart 1980, S. 60. Vgl. auch W. Kirstein, Konzentrationslager, S. 80: „Das erste Schockerlebnis war die Verhaftung. […] Wie intensiv dieser Schock war, und ob bereits er eine traumatische Wirkung in der Persönlichkeit des Inhaftierten erzeugte, hing entscheidend davon ab, wie sehr der Betreffende auf das, was ihm jetzt widerfuhr, vorbereitet war, insbesondere inwieweit er eine kausale Verbindung zwischen seinem früheren Handeln und seinem jetzigen Schicksal herstellen konnte.” 151 C. Delbo, Aucun de nous ne reviendra, S. 9; künftig zitiert mit Band- und Seitenangabe (I, 9), deutsche (teils veränderte) Übersetzung in den Anmerkungen. C. Delbo, Trilogie I, S. 7: „Es gibt die, die ankommen […]. Es gibt die, die abfahren”.
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folgen Appellszenen auf Zwangsmärsche, Unbeweglichkeit auf Gehetztwerden, Schreie auf Stille. Atem und Satz, Text und Körper, scheinen in einem montonen und doch unberechenbaren Rhythmus aufeinander zu antworten. Text und Körper berühren sich an Stellen, in denen die Sprache über sich selbst spricht: im Rhythmus der Satzfetzen und Wörter, im Echo der aufgeschnappten Befehle („Zell Appell”), in Zeichensetzungen und leergebliebenen Zeilen oder Seiten, in der Auslassung von Anhaltspunkten wie Ort oder Datum. Der Text stellt vor Augen, indem er akustische und visuelle Wahrnehmungen auf kleinstem Raum zusammendrängt. Der Anschein von Authentizität wird jedoch durch durch ein Sprechen dementiert, das aus einem merkwürdig leeren Raum zurückhallt. Hinter einem aufzählenden, beschreibenden Modus verbirgt sich ein Ich hinter unpersönlichen und kollektiven Pronomina: „On entendait les hurlements de la nuit.” (I, 32) „On n’attend pas la mort. On s’y attend./On n’attend rien./On attend ce qui arrive.” (I, 37) Die deutsche Übersetzung zögert zwischen Distanz und Nähe, zwischen einem „man” oder einem „wir”:„Im ganzen Lager hörte man Schreie.” (Trilogie I, 27) „Wir warten nicht auf den Tod. Wir erwarten ihn./Wir warten auf nichts./Wir warten auf das, was kommt.” (I, 32) Was bedeutet dieses Ausstellen von Masken, hinter dem sich das Ich zu verbergen scheint? In der Darstellung der Appellszenen gleicht das erzwungene Schweigen der Gefangenen einem Eingemauertsein „in Eis, in Licht, in Stille”. Dieses eingemauerte Schweigen wird von einer kollektiven Stimme herbeizitiert: „Et nous, nous étions murées dans la glace, dans la lumière, dans le silence.” (I, 57)152 Damit versucht der Text zugleich das zu vollziehen, worüber er spricht. So wird die Zeit des Wartens auf das Ende des Appells, die Zeit der Erwartung des Todes, der noch kommen wird, zum Moment des Textes, der aufschiebt und aufhält, indem er in eine Zeit zurück und vor verweist: „On n’attend pas la mort. On s’y attend./On n’attend rien./On attend ce qui arrive.” Die schwarzen Buchstaben bedecken nur spärlich das Weiß der Seite, Schrift und Leere wechseln sich ab wie Tag und Nacht, die beim Appell die einzige Unterbrechung ausmachen.153 Der Moment des Wartens zieht sich zwar durch die Wiederholung der Worte auch im Text in die Länge, doch schon wird 152 Vgl. C. Delbo, Trilogie I, S. 51: „Und wir, wir waren im Eis, im Licht, im Schweigen eingemauert.” 153 Vgl. I, 37:„On attend ce qui arrive. La nuit parce qu’elle succède au jour. Le jour parce qu’il succède la nuit./On attend la fin de l’appel./La fin de l’appel, c’est un coup de sifflet qui fait tourner chacune sur soi-même vers la porte.” C. Delbo, Trilogie I, S. 32: „Wir warten auf das, was da kommt. Auf die Nacht, weil sie dem Tag folgt. Auf den Tag, weil er der Nacht folgt./Wir erwarten das Ende des Appells./Das Ende des Appells, das ist ein Pfiff, worauf jede sich zum Tor herumdreht.”
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deutlich, daß der Wartezustand durch ein Fortschreiten zwangsläufig zu einem Ende kommen muß. Für die einen bedeutet dieses Ende der Tod, für die anderen das Leben. Aucun de nous reviendra erscheint wie ein einziger Kommentar auf den einen prophetischen Satz des Titels, der am Ende des Buches, unterbrochen von der Stille einer weißen Seite, vom Futur zum Konjunktiv überwechselt: „Aucun de nous ne reviendra. Aucun de nous n’aurait dû revenir.” (I, 183)
Keiner von uns wird zurückkehren./Keiner von uns hätte zurückkehren dürfen. Ein Klagegesang wird laut, der sich an sein eigenes Vergessen erinnert – das Ich erinnert sich an Undine, die nach dreimaligem Anruf in die Tiefen des Meeres zurückkehrt und sich dem Vergessen übergibt.154 Daß die Kontinuität des Weitermachens – Weiterlebens und Weiterlesens – im Sprechen über Auschwitz zu einem Problem wird, thematisiert der Text. Indem das eigentliche Ereignis des Todes aussparend umkreist ist, stellt es sich quasi wie von Geisterhand vor Augen. Die angesprochene Unmöglichkeit, sich während des stundenlangen Appells in die Wartenden hineinzuversetzen, zeigt das Unvorstellbare der Situation: „En vérité, qui peut supporter l’appel? Qui peut rester debout immobile des heures?” (I, 38)155 Deutlich wird, daß das Unvorstellbare keine Doppelung durch einen teilnehmenden Blick erfahren kann. Denn dieser Blick müßte bereit sein, es dem Aus- und Durchhalten der Appellstehenden gleichzutun und selbst standhalten zu können. Das aber würde heißen, nie wieder wegsehen zu dürfen. Der Vernichtungsbefehl der SS ist ohne die Einseitigkeit eines gesetzgebenden „wir” undenkbar. Die Nicht-Adressierbarkeit der Opfer wird hier zum Prinzip erhoben. Diese Nicht-Adressierbarkeit setzt sich im Wegschauen eines außerhalb stehenden Dritten fort. Der zuschauende, passiv bleibende Blick muß sich schließlich doch abwenden, weil er nicht mehr hinsehen kann. Der Moment des bevorstehenden Todes 154 Vgl. II, 156: „Au troisième appel, il a fallu partir, comme Ondine que le roi des Ondins devait appeler trois fois quand elle disait adieu au Chevalier qui allait mourir. Ondine à la troisième fois oublierait et retournerait au fond des eaux, et comme Ondine je savais que j’oublierais puisque c’est oublier que continuer à respirer, puisque c’est oublier que continuer se souvenir”. C. Delbo, Trilogie II, S. 293: „Beim dritten Appell habe ich gehen müssen, wie Undine, die der König der Undiner dreimal rufen mußte, als sie dem Chevalier, der sterben sollte, Adieu sagte. Beim dritten Mal würde Undine vergessen und in die Tiefe des Meeres zurückkehren, und wie Undine wußte ich, daß ich vergessen würde, denn weiteratmen ist vergessen, denn sich weiter erinnern ist vergessen”. 155 Ebd., 33: „Wer kann denn den Appell schon durchhalten? Wer kann regungslos stundenlang stehen?”
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wirft den Blick auf sich selbst zurück. Er zwingt den Betrachter dazu, sich selbst als sehend zu erkennen – und nicht als handelnd. Delbos Bericht stellt die Isoliertheit eines Blickes bloß, der niemals gegenwärtig sein kann, weil er immer schon ein doppelter ist. Diese Doppelung vollzieht sich bereits im Moment des Erlebens. Schon das bezeugende, präsentisch vor Augen stellende Ich sieht sich selbst beim Wegsehen zu. „Je ne la regarde plus. Je ne veux plus la regarder. Je voudrais changer de place, ne plus voir. Ne plus voir ces trous au fond des orbitres, ces trous qui fixent. Que veut-elle faire? Veut-elle atteindre les barbelés électriques? Pourquoi nous fixe-t-elle? N’est-ce pas moi qu’elle désigne? Moi qu’elle implore?” (I, 44)
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Zeugnis abzulegen über den Tod würde bedeuten das Sterben auszuhalten. Das Ich sieht, wie sich eine Frau in Todesgefahr begeben hat, weil sie sich aus dem Block der Appellstehenden herausgelöst hat. Zuschauend sieht es sich der eigenen Endlichkeit ausgesetzt, weil es die Sterbende längst überlebt hat. Wie aber wäre ein aushaltendes Hinsehen möglich? Kann es eine Identifikation mit dem Opfer überhaupt geben? Der endlose, sich rituell vollziehende Appell im Lager geht in den erinnernden, das Ereignis wiederholenden, verdoppelnden Text ein, der daran appelliert, hinzusehen und zuzuhören. Ein Aufruf zur Verantwortung, zu einer Antwort qua Lektüre, die dem Text eine Stimme leiht. Die Identifikation aber bleibt ein ausschließliches Privileg des Lesers. Denn die Identifikation mit einem anderen, das Sich-sehen-im-Anderen, ist eine Anstrengung, die der gefolterte Körper nicht mehr zu bewältigen vermag. Ein kategorisches „Nein” antwortet auf die Frage, ob es während des Appells möglich war, sich an einen anderen Ort oder in einen anderen Körper zu versetzen.157 Das La-
156 Ebd., 39: „Ich sehe nicht mehr zu ihr hin. Ich will nicht mehr zu ihr hinsehen. Ich möchte den Platz wechseln, nicht mehr sehen. Nicht mehr diese Löcher am Grund der Augenhöhlen sehen, diese Löcher, die uns anstarren. Was hat sie vor? Will sie zu dem elektrischen Stacheldraht? Warum starrt sie uns an? Bin nicht ich es, auf die sie deutet?” 157 Charlotte Delbo: La Mémoire et les jours, Paris 1995, S. 12: „Moi aussi, j’ai essayé souvent de m’imaginer que j’étais ailleurs. J’ai essayé de me voir autrement, comme lorsqu’on est transporté hors de soi, au théâtre, par exemple. Non. A Auschwitz, la réalité était si écrasante, la souffrance, la fatigue, le froid si extrêmes, que nous n’avions aucune énergie de reste pour cet effort de dédoublement. […] La réalité était là, mortelle. Impossible de s’en abstraire.”
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ger reduziert den Körper auf das nackte Leben. Das Sich-Hineinversetzen in einen anderen, das im Lager aufgrund physischer Schwäche nicht geleistet werden kann, setzt jedoch in dem Moment wieder ein, in dem Zeugnis abgelegt wird. Schon die Adresse des Zeugnisses ist eine doppelte. Den Toten gewidmet, richtet sich das Zeugnis an die Lebenden. Und auch die Worte nehmen nach der Katastrophe einen doppelten, zweischneidigen Sinn an: „Le mot aussi s’est dédoublé. Soif est redevenu un mot d’usage courant.”158 Wie es zu diesem Verlust von herkömmlichen Bedeutungen gekommen ist, ruft sich der Text in Erinnerung, indem er sich selbst mit einer Bemerkung über seine poetische Wirkung ins Wort fällt: „C’est l’appel du matin – quel titre poétique ce serait –, c’est l’appel du matin. Je ne savais plus si c’était le matin ou le soir.” (I, 107)159 In Spectres, mes compagnons (Gespenster, meine Begleiter) differenziert Delbo zwischen zwei Figuren: auf der einen Seite die Romanfigur und deren Möglichkeit, (Selbst)Analyse zu betreiben, und auf der anderen Seite die in Szene gesetzte, plastische Theaterfigur, die ihr Geheimnis für sich behält: „Le personnage de théâtre survit par son acte, par son attitude dans l’action où il est engagé, où il se déclare.”160 In der Vorführung einer Handlung gibt die Figur auf der Bühne keine Erklärungen über ihr Tun ab. Sie stellt die Tragödie vor Augen, indem sie sie als eine isolierte neben andere stellt. Die „notwendig schiefen Analogien” in den einzelnen Szenen lassen eine „völlige Unvereinbarkeit der Erfahrung aufblitzen”161. Das, „was sich absolut jeder Verknüpfung entzieht”, kann weder erzählt noch dargestellt werden. Ähnlichkeit wird zwar suggeriert, doch im gleichen Moment reißen die Bezüge ab.162 Und gerade deshalb fordern die Szenen paradoxerweise dazu auf, „nicht […] das Un„Auch ich habe versucht, mir vorzustellen, ich sei woanders. Ich habe versucht, mich anders zu sehen, wie wenn man an einen Ort außerhalb seiner selbst gebracht wird, im Theater zum Beispiel. Nein. In Auschwitz war die Realität so erdrückend, der Schmerz, die Müdigkeit, die Kälte so extrem, daß uns keine Energie blieb für die Anstrengung einer Verdoppelung. […] Die Realität war da, tödlich. Unmöglich, davon zu abstrahieren.” 158 C. Delbo, La Mémoire et les jours, S. 14. „Das Wort hat sich verdoppelt. Durst ist wieder ein gewöhnliches Gebrauchswort geworden.” 159 C. Delbo, Trilogie I, S. 95f.: „Das ist der Morgenappell – welch ein poetischer Titel wäre das –, das ist der Morgenappell. Ich wußte nicht mehr, ob es Morgen oder Abend war.” 160 Charlotte Delbo: Spectres, mes compagnons, Lausanne 1977, S. 11. „Die Figur im Theater überlebt durch ihren Akt, durch ihre Haltung in der Handlung, der sie verpflichtet ist und in der sie sich offenbart.” 161 M. Körte, „Epitaphe als Zeugnisse”, S. 408. 162 Vgl. Judith Klein: Literatur und Genozid: Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur, Wien et al. 1992, S. 84ff..
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verknüpfbare zu überwinden, sondern: weil es nicht verknüpfbar ist, befiehlt es uns, zu verknüpfen.”163 Der Blick des Zuschauers, der sich zwischen Mitleid und Schaulust, zwischen Opfer und Täter verdoppelt, wird dabei nicht ausgeschlossen, sondern thematisiert, in die Szene mit hinein gezogen. Delbos Texte bannen daher den Blick, der durch die Abstraktion eines „wir” seiner eigenen Isolation beiwohnt und in sich gefangen bleibt. Die Darstellung kreist um ihre eigene Befangenheit und appelliert an die Lektüre eines Unlesbaren. Im Gegensatz zur Romanfigur wiederholt die Theaterfigur eine Singularität, in der das „wir” nicht als „Addition von ich + ich” aufgeht. Als „Erfahrung der Unmöglichkeit des ‚wir’”, hat Auschwitz keinen Namen, kein Subjekt.164 Das kollektive Pronomen ist als ein befehlsempfangendes („Sterbt”) an die Stelle des Eigennamens getreten. Delbo weist „nachbarliche” Vergleiche zurück. Der Moment der Wiedererkennung würde letztendlich abmildernd wirken und das Ereignis in den Hintergrund treten lassen.165 Romanfigur wie Zuschauer sind von der Theaterfigur durch ihre Fähigkeit getrennt, sich durch Selbstanalyse und Identifikation zu verdoppeln. „Nicht analysiert, der Introspektion fremd” führt dagegen die Theaterfigur nur Handlungen aus: Aufführung und nicht Vollzug oder Urteil. Die gleichzeitige Ähnlichkeit und Differenz von Sprechakt und theatralem Akt, von Text und Bühne läßt das isolierte Ereignis zu einem kollektiven werden. Ein teilnehmendes Sprechen im Namen der Toten hebt an, im Namen eines universellen Bewußtseins.166 Auf der Bühne stellt sich der gemarterte Körper szenisch dar, indem er – ähnlich wie im Moment der Folter selbst – von seinen Empfindungen abgetrennt erscheint. Auch im Theater ist das langsame Sterben aus der Schrift und den Bildern ausgeschlossen. Die Handlung zieht den Zuschauer in die Intimität eines Blickwechsels hinein, „so daß wir alle,
163 Derrida in Lyotard, Streitgespräche, S. 64. 164 Vgl. J.-F. Lyotard, Streitgespräche, S. 43 u. 31. 165 Vgl. C. Delbo, Spectres, mes compagnons, S. 11: „Le personnage de roman survit avec ses traits particuliers, sa manière de se comporter dans telle circonstance que nous connaissons. A l’occasion d’une circonstance voisine, nous faisons entre lui et nous des rapprochements.” [Übers. v. Verf.]: „Die Romanfigur überlebt mit ihren besonderen Eigenschaften, mit ihrer Art, sich in Umständen zu verhalten, die wir kennen. Bei ähnlichen Umständen sehen wir zwischen ihr und uns einen Zusammenhang.” 166 C. Delbo, Spectres, mes compagnons, S. 10: „Personnage de roman, personnage de théâtre, chacun a sa vie propre. Et sa survie. Ils ne vivent pas sur le même plan, ni se survivent. Le personnage de théâtre, il me semble, existe dans tous les hommes”. [Übers. v. Verf.]: „Romanfigur, Theaterfigur, jedem sein Eigenleben. Und sein Überleben. Sie leben nicht auf der gleichen Linie, überleben sich nicht. Die Theaterfigur, so scheint mir, existiert in allen Menschen”.
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selbst die Nachgeborenen, gewissermaßen Überlebende des Holocaust sind.”167 In der Trilogie Auschwitz et Après folgen die erinnerten Appelle und die Undarstellbarkeit des quälenden Wartens und Zuschauens unverknüpft aufeinander, um durch Bewegungen, die der Text auslöst und bespricht, unterbrochen zu werden. Das Warten wird „zum Thema”168 des ganzen Buches. Die Abfolge der Szenen strebt nicht vorwärts, verweigert das Fortschreiten der Lektüre. Die kurzen Sequenzen legen eine Serialität nahe, die zugleich singulär bleibt. Das Standbild schockt, wirft den Blick als Frage auf sich selbst zurück. Drei aufeinanderfolgende Sequenzen enden mit dem Appell, genau hinzusehen, um zu sehen. „Essayez de regarder. Essayez pour voir.” (I, 137, 138, 139)169 „L’appel”, „Le lendemain”, „Le même jour” , „Le jour”, „La nuit”, „Le matin”, „Weiter”, „Le soir”, „Auschwitz”, „Dimanche”, „L’appel”, „Le printemps”, so einige Titel zu den undatierten Fragmenten. Unterbrochen von leerbleibenden Zeilensprüngen wechseln sich Dialoge, Berichte und Gedichte ab, um zwischen zyklisch sich wiederholenden Sätzen und einbrechendem Wort „die Zeit außerhalb der Zeit”, „du temps en dehors du temps” (I, 53), darzustellen. Den Einwand „Aujourd’hui, je ne suis pas sûre que ce que j’ai écrit soit vrai. Je suis sûre que c’est véridique.”170 stellt Delbo ihrer Trilogie voran. Mit dieser „Auffassung eines unerzählbaren Ganzen”171 ruft sich eine brüchige Stimme ihre eigene Bedingung in Erinnerung. Nicht erst das erzählende „Ich” – ein „sprechender Schatten”172 – ist zeitlich von einem „wir” und einem „sie” abgeschnitten, auf die es sich zugleich bezieht. Zweimal unterbricht der Bericht, um einen Schnitt zum gegenwärtigen Schreibmoment vorzunehmen, im Druckbild durch Leerzeilen oder unbedruckte Seitenhälften getrennt. Ein nicht wiederholbares, unlesbares Ereignis, ein Riß wird sichtbar.173 Anders als in der Divina Commedia ist in Auschwitz et Après kein christlicher Läuterungsberg, kein Licht der Sterne zu erwarten: „on
167 R. Klüger, Von hoher und niedriger Literatur, S. 31. 168 R. Klüger, „Dichten über die Schoah”, S. 211, über Aharon Appelfelds Badenheim 1939: „Die einzelnen Gestalten verschwimmen dem Leser, die Gruppe wird zum Kollektivhelden, das Warten zum Thema”. 169 C. Delbo, Trilogie I, S. 124, 125, 126: „Versucht, hinzusehen. Nur um zu sehen.” 170 „Heute bin ich nicht sicher, ob das, was ich geschrieben habe, wahr ist. Sicher bin ich, daß es der Wahrheit entspricht.” 171 M. Körte, „Zeugnisse als Epitaphe”, S. 391. 172 Vgl. G. Hartman, Der längste Schatten, S. 193. 173 Von einem „Riß” oder „Sprung” (fêlure) des nicht wiederholbaren, unlesbaren Ereignisses schreibt Jacques Derrida: „Tympan”, in: J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. XII.
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n’attend plus/en enfer” (II, 34)174. „C’est la lumière d’un astre mort. Et l’immensité glacée, à l’infini éblouissante, est d’une planète morte.” (I, 55)175 Delbos Bücher sind vielmehr ein Beispiel im Sinne von Kafkas Büchern, die „auf uns wirken wie ein Unglück, das uns schmerzt, wie der Tod eines Menschen, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”176 Die Erstarrung der Körper und Blicke erfasst die ganze Szene, gefriert sie in einer nicht zu beantwortenden Frage.177 Die ins Leere verhallenden, wie hingeworfenen Sätze markieren die Grenze der Mitteilbarkeit und des Lesbaren. Sie warnen jedoch auch davor, den Blick abzuwenden, sich zu entziehen, mit dem Lesen aufzuhören. Der Satz „Aucun de nous ne reviendra” schickt am Ende wieder zum Anfang zurück. Er appelliert daran, das Warten auszuhalten und schiebt einen Riegel vor eine Identifikation, die sich am Schicksal der Überlebenden orientiert. In Une connaissance inutile erinnert Delbo an die erste Begegnung am „Morgen der Freiheit”, vor der geöffneten Schranke des Lagertores. Während dort „der Mann, der uns unter die Augen trat” „nur diese Köpfe” sieht, „die größer werden” und „die das Licht fahl macht”, von denen er „fasziniert” ist, „daß er seinen Blick nicht von ihnen lösen kann”, blicken die Frauen, die solange auf den Tag der Befreiung gehofft und gewartet hatten, „des yeux qui ont dû depuis si longtemps ne rien exprimer, ne rien laisser paraître.” (II, 176)178 Das Porträt „Mado” – eine unbekannte Tote, deren Namen niemand mehr erfahren konnte – setzt im dritten Band Mesure de nos jours mit dem Satz ein: „Il me semble que je ne suis pas vivante.” (III, 47)179 Anrufung der Toten, Widmung, unmögliche Trauer.180 Das „wir” hat sich in ein lebendiges Ich und ein totes Du 174 C. Delbo, Trilogie II, S. 190: „in der Hölle/wartet man nicht mehr” 175 Ebd., S. 49: „Es ist das Licht von einem toten Stern. Und die gefrorene, endlos blendende Unendlichkeit ist die eines toten Planeten.” 176 Franz Kafka: Briefe 1902-1924, Frankfurt a. M. 1975, S. 27f.. 177 C. Delbo, La Mémoire et les jours, S. 20: „Même la force de lever les yeux, de regarder s’il y a des étoiles au ciel elle font froid, les étoiles de regarder autour de soi mais cette force, il faut l’économiser et personne ne lève les yeux. Et pour voir quoi dans ce noir?” „Sogar die Kraft, die Augen zu heben, zu sehen, ob Sterne am Himmel stehen sie lassen erkalten, die Sterne um sich herum zu sehen auch diese Kraft muß gespart werden und niemand hebt die Augen. Und um was zu sehen in dieser Dunkelheit?” 178 C. Delbo, Trilogie II, S. 308f.: „mit Augen, die nicht sagen, daß sie sehen, Augen, die so lange nichts mehr ausdrücken, nichts mehr verraten durften.” 179 Ebd., S. 358: „Ich habe den Eindruck, nicht lebendig zu sein.” 180 Vgl. III, 47: „Toi, tu comprends, ce que je veux dire, ce que je sens. Les gens, non. Comment comprendraient-ils? Ils n’ont pas vu ce que nous avons
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verdoppelt, abgetrennt von einem anonymen „sie”. Ein Konflikt „zwischen Abwehr und Anpassung” zeichne die Beziehung der Häftlinge zur Zeit des Lagers aus, so Sofsky.181 Das gilt auch für die Zeit des Zeugnisses, das vom Warten auf einen Zuhörer, einen Dritten, bestimmt ist. Weiter leben, weiter Zeugnis ablegen heißt, sich gegen Vergessen und Schweigen zu wenden.182 Doch die Amnesie des Überlebens („puisque c’est oublier que continuer à respirer” II, 156) ist eine Amnesie des Lagers („„Non/Ici on a désappris de regretter” II, 36)183. Der Text ruft sich dieses Vergessen wiederholend und widerrufend immer wieder in Erinnerung. „Je voulais arriver au jour où je ne dirais plus: Il y a un an, à cette heure-ci. Il y a un an, à cette heure-ci, nous étions à l’appel.” (III, 124)184 Delbos Texte geben den Schock weiter, der sie ausgelöst hat. „Essayez de voir. Essayez pour voir.” lautet der kategorische Imperatif in Aucun de nous reviendra. Von der Unmöglichkeit des Sehens aber zeugt die Apostrophe, der Appell, „dem man sich nicht entziehen kann.”185 Sie „appelliert und interpelliert” und wird zum halluzinatorischen Echo ihrer selbst. „Un véritable délire”186 – ein wirklicher Wahnsinn. Dé-lire, Unlesbarkeit.
vu. Ils n’ont pas compté leurs morts chaque jour à l’aurore, ils n’ont pas compté leurs morts chaque jour au crépuscule. Nous avons passé les jours à compter le temps à compter les morts. Nous aurions eu peur de compter les vivants. Et pour chaque mort que nous comptions, nous n’avions ni regrets ni larmes.” C. Delbo, Trilogie III, S. 358f.: „Du, du verstehst, was ich sagen will, was ich fühle. Die Leute nicht. Wie sollten sie verstehen? Sie haben nicht gesehen, was wir gesehen haben. Sie haben nicht täglich beim Morgengrauen ihre Toten gezählt. Sie haben nicht täglich bei der Dämmerung ihre Toten gezählt. Wir haben die Tage mit Zählen verbracht, wir haben die Zeit mit dem Zählen der Toten verbracht. Wir hätten uns gefürchtet, die Lebenden zu zählen. Und für jede Tote, die wir zählten, gab es weder Trauer noch Tränen.” 181 W. Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 107. 182 Vgl. Nevar Slibar: „Anschreiben gegen das Schweigen. Robert Schindel, Ruth Klüger, die Postmoderne und Vergangenheitsbewältigung”, in: Albrecht Berger/Gerda Elisabeth Moser (Hg.), Jenseits des Diskurses: Literatur und Sprache in der Postmoderne, Wien 1994, S. 337-357. 183 C. Delbo, Trilogie II, S. 193: „Nein/Hier haben wir das Trauern verlernt”. 184 Ebd., S. 422: „Ich wollte den Tag erreichen, an dem ich nicht mehr sagen würde: Vor einem Jahr um diese Zeit. Vor einem Jahr um diese Zeit standen wir zum Appell an.” 185 G. Agamben, Ce qui reste d’Auschwitz, S. 66. 186 R. Antelme, L’espèce humaine, S. 9.
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N AC H W OR T In der vorliegenden Untersuchung sind durch die Vermittlung der befragten rhetorischen Triade ganze Teile des abendländischen Denkens in Dialog getreten. In sechs Kapiteln wurden verschiedene Autoren aus weit auseinanderliegenden Zeiträumen behandelt. Diese Zusammenstellung eines bewußt heterogenen Korpus ist zugleich Ergebnis und Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit der Komplexität und der Tragweite der drei transversalen, interdisziplinären und universellen Figuren Anruf, Adresse, Appell. Ein Ins-Werk-Setzen (mise en acte) beginnt, das dem wiederholbaren und unabgeschlossenen Adressierungsverfahren in der psychoanalytischen Übertragungssituation gleicht.1 In der Übertragung nimmt die auf ein Begehren oder einen Wunsch nach Anerkennung zurückgehende Anrufung eine allegorische Form an. Für Jacques Lacan ist die Übertragung eine Anrufung, bei dem sich das Ich während der Behandlung an ein anderes Subjekt wendet, dem es Wissen unterstellt (le sujet supposé savoir).2 Durch die Übertragung wiederholen sich die unbewussten, auf äußere Objekte gerichteten Wünsche innerhalb des analytischen settings in der Beziehung zum Anderen, der dadurch in die Position früherer Beziehungsobjekte gesetzt wird. Da die Anrufung zugleich initiiert und überträgt, repräsentiert sie das (erinnerte) Ereignis im Modus des Versprechens, was auf eine komplizierte Zeitlichkeit des futur intérieur, der vergangenen Zukunft weist. Die Anrufungsszene bildet insofern die Voraussetzung für die Übertragung und markiert den analytischen Dialog ad infinitum: als immer wieder neu einsetzenden Akt des Sprechens.3 Dies ist die
1 Vgl. Verf.: „Anrufung und Übertragung. Annäherung an das Verhältnis von Psychoanalyse und Musik.” In: Christian Scheib/Sabine Sanio (Hg.), Übertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld 2004, S. 9–30. 2 Jacques Lacan: Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 41996, S. 244. 3 Jacques Lacan: „La direction de la cure et les principes de son pouvoir”, in: J. Lacan, Ecrits, Paris 1966, S. 591: „Position incontestable, sauf que c’est comme venant de l’Autre du transfert que la parole de l’analyste sera encore entendue et que la sortie du sujet hors du transfert est ainsi reculée ad inifinitum.”
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Voraussetzung dafür, dass sich das ganze Spiel der Identifizierungen entfalten und ‚lösen’ kann – nach Lacan ein Begehren des Begehrens des Anderen. Läßt sich dieses „Initialdrama” der Psychoanalyse, dessen dramatischer Konflikt durch „jene Erinnerung an das Feld und die Funktion des Sprechens und der Sprache” nicht ausgetragen werden kann, weil er selbst Übertragungscharakter hat,4 nicht auch auf die Analyse von Texten übertragen? Und welche Konsequenzen zieht diese unabschließbare Übertragungssituation der Textanalyse für die Praktiken der Ideengeschichte nach sich? Das „Drama der Apostrophe”, das Jacques Derrida in seinen Texten immer wieder inszeniert, erzählt von einer permanenten Spannung und Erwartung, von einem Versprechen der Sprache. Wenn die Dimension des Versprechens für die Figur des Rufes entscheidend ist, so weist dies aber auch auf eine furchtbare Antinomie hin. Denn die Dimension des Versprechens, die jedem Erwartung auslösenden Appell zugrundeliegt, hält gleichzeitig auch die Möglichkeit einer Verleugnung des Versprechens offen. Jeder Ruf, der sich auf das Gesetz beruft, unterhält daher immer auch eine enge Beziehung zum politischen Terror, weil er sich anstelle eines göttlichen Gesetzes setzt. Um diese Beziehung ging es in einem letzten Kapitel über den Lager-Appell. Eine Konfrontation der Prämissen einer pragmatischen Sprechakttheorie (Austin, Searle) und einem psychoanalytisch orientierten Anrufungsbegriff (Freud, Lacan, Derrida) konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend, sondern nur ansatzweise geführt werden. Dies wurde an anderer Stelle unternommen.5 Die vorliegende Untersuchung will vor allem auf historisch weitverzweigte Figurationen der Kommunikation hinweisen. Die ersten drei Kapitel versammeln Ruf-Figuren in Philosophie (Heidegger, Althusser, Derrida, Nietzsche) und Sprechakt-Theorien (Austin), in jüdisch-christlichen Religionsphilosophien (Augustinus, Angelus Silesius, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin) bis hin zu Friedrich Hölderlins Verwerfungen des poetischen Anrufes. Diese Kartographierung von disparatem Material zeigt vor allem, daß die Anrufung eine quasi unentwirrbare Verschränkung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hervorbringt, die oft genug übersehen wird. In der Geschichte der Unterdrückung der Stimme, die für die jüdisch-christlichen Kultur determinierend ist, ist eine Rückkehr zu sakralen Figuren – der Ruf in die Innerlichkeit und in einen Gedächtnisraum, der Spuren der Schrift trägt – zu beobachten, deren anthropologische Züge unübersehbar sind. Benjamins „Ruf der Sprache” findet sich deshalb auch in den Thesen zur Geschichts4 J. Lacan, Seminar XI, S. 134. 5 Vgl. Verf.: „Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft”, in: Georg Christoph Tholen/Gerhard Schmitz/Manfred Riepe (Hg.), Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, Bielefeld 2001, S. 369–380.
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philosophie wieder, was jedoch keine Loslösung von politischen Forderungen nach sich zieht. Denn Benjamin betont ja gerade die Notwendigkeit, auf den Ruf, der „eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem” aufdeckt, zu antworten: „Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.”6 Hier liegt sicher auch die Crux einer wissenschaftlichen Arbeit, deren Grenzen weit gesteckt sind. Die Demonstration der drei jahrhundertealten, rhetorischen Figuren im abendländischen Diskurs birgt zwangsläufig das Risiko in sich, letztere zu Gespenstern auf der Bühne der Geschichte werden zu lassen. Denn wenn es der Ritus, das Ritual und die Ritualisierung sind, die den Kern und die Form der Anrufung einer Normativität bilden, so bringt deren Beschwörung notwendigerweise einen gespenstischen Zug von Abwesenheit und Verschwinden mit sich, der durch die Analyse wieder zum Vorschein kommt. Während der an die Stimme und akustische Medien gebundene Ruf sowohl philosophischen als auch sakralen und poetischen Anrufungen zugrundeliegt, läßt die schriftliche Adresse als Inszenierung ihres eigenen Gelesenwerdens eine performative Verschiebung hin zu einem zeitlich unabgeschlossenen Horizont sichtbar werden. Da sie den Leseakt unter Spannung hält, wirft sie Fragen nach der Darstellbarkeit eines ‚Anderen des Textes’ und nach der diskursiven und imaginären Konstruktion einer zukünftigen Lektüre auf. Die zwei Kapitel zur ADRESSE zeigen einschlägige literalisierte Beispiele für Post- (Kierkegaard, Mallarmé, Kafka) und Buch-Adressen (Dante Alighieri). Sie weisen auf eine enge und komplizierte Verbindung zwischen Adresse und Teleologie und legen so auch in sogenannten profanen Texte die Dialektik der Säkularisierung frei. Mit der literarischen Adresse ist zuletzt eine krisengeschüttelte Figur angesprochen, die der kritischen Auseinandersetzung mit der Post-Epoche entspringt. Sie wird von Überlegungen zur Geschichtsphilosophie und deren politischen Implikationen eingerahmt. Sprache adressiert sich. Adressierungen bringen Singularitäten hervor. Das lehrt die Geschichte der Rhetorik, in der die wissenschaftliche Methode die Oberhand gewinnt und das Singuläre, die Adressierung der Sprache, verdrängt. Eine Verdrängung, die schon bei Platon zu einem antagonistischen Verhältnis von Philosophie und Literatur führt. Was für ein Wissen bringt der literaturwissenschaftliche Diskurs hervor? Literaturwissenschaft fordert methodische Prämissen wie Definition, Kategorisierung, Gattung, Typologie. Eine Untersuchung, die sich mit den kommunikativen Strukturen von Texten befaßt, würde jedoch zu kurz greifen, wenn sie sich allein der wissenschaftlichen Methode der Klassifizierung verschreibt. Denn wenn Spra6 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte”, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I,2, Frankfurt a. M. 1974, S. 694.
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che sich adressiert, dann produziert Literatur „den von Platon so gefürchteten singulären Zug des Begehrens/des Nichtwissens des Anderen, der für alles Wissen konstitutiv ist.”7 Literaturwissenschaft untersucht nicht nur das Wissen über die Literatur, sie untersucht auch das Wissen der Literatur. „Die Sprache ist ein Wissen – […]. Sie ist das Wissen dessen, wovon sie Zeugnis trägt. Und sie bezeugt, daß sich der Sinn, weil er Schickung und Verweis, Ruf und Antwort ist, im Entzug oder in der Überschreitung gilt oder auftaucht.”
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Wenn die Sprache ein Wissen ist, wenn sie Schickung, Verweis, Ruf und Antwort ist, so liegt darin auch die Crux des Versuches, über das Phänomen der Adressierung schreiben zu wollen. Singuläre Stimmen zum Thema „Anruf, Adresse, Appell” wurden aufgerufen. Dem im Titel angelegten Dreischritt wurde in einer Engführung vom Anruf (1-3) über die Adresse (4-5) zum Appell (6) gefolgt. Am Anfang und am Ende stellt sich die Frage nach der Macht und der Lesbarkeit des Wissens. Die Macht liegt in der Hand derjenigen, die entscheiden, welche Stimmen zu Wort kommen und welche nicht. Wer spricht im literaturwissenschaftlichen Diskurs? Die Singularität der einzelnen Stimme macht das Phänomen der seriellen Adressierung zu einem spannenden, unmöglichen. Sie hält im jeweiligen Augenblick inne, überträgt in (un)möglich-zukünftige Echos und Widmungen (Hölderlin). Sie ist es, die in die Wüste ruft, „weil sie zunächst diese Wüste ist, die mitten im Körper, diesseits der Wörter, entfaltet ist.”9 Einzelne Stimmen sind Figurationen eingegangen, haben aufeinander Bezug genommen, Fragen aufgeworfen, Antworten gegeben und Widerspruch eingelegt. In sechs Kapiteln, die von der Antike in das Mittelalter über die frühe Neuzeit bis zur Moderne geführt haben, sind Figuren der Polyphonie, der Pluralität und der Spaltung sichtbar geworden. Der in die Schrift eingelassene, auf Schriftlichkeit erst folgende Anruf setzt bei verwikkelten Raum- und Zeitverhältnissen an, er ruft vor und zurück, in einen „zum Hohlraum gewordenen Körper” (Jean-Luc Nancy)10. Er faltet den ineinander ausgehenden Text auf sich selbst zurück. Heideggers Gewissensruf ruft ins Nichts und verschreibt sich damit auch einer absoluten Hörigkeit, Althussers Interpellation rechnet mit einer vorgängigen Schuldigkeit des Angerufenen und Derridas Rückruf verweigert eine direkte Annahme, indem er zur Dissemination des Textes zurücksendet. All diese einzelnen, aufeinander
7 Marianne Schuller/Elisabeth Strowick: „Eröffnung”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 11. 8 J.–L. Nancy, „Verantwortung des Sinns”, in: M. Schuller/E. Strowick (Hg.), Singularitäten, S. 26. 9 Jean–Luc Nancy: „Vox clamans in deserto”, in: J.–L. Nancy, Das Gewicht eines Denkens, Düsseldorf/Bonn 1995, S. 119–134, hier S. 123. 10 Vgl. S. 9 dieser Arbeit.
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bezogenen Ruf-Figuren verbinden sich mit Austins Performanz-Begriff und differenzieren ihn. Angelus Silesius’ spätmystische Schriften, wie viele andere von Augustinus inspiriert, gehen den patristischen Bemühungen seines Vorgängers bis zu den Abgründen einer Negativen Theologie nach, um zur epigonalen Schriftwerdung aufzufordern. Der Ruf ist ein gänzlich literalisierter geworden. Er ruft in die Schrift hinein. Eine Sprache der Passionen, wie sie in mystischen Texten gesprochen wird, bindet die Struktur des Begehrens an die Allegorie ihres Aufzeichnungsmediums und ihrer Typographie. Der Sprechakt gibt sich als Schreibakt zu erkennen. Er führt zu schwindelnden Höhen einer „puren Performanz” (Niklaus Largier)11. Nicht mehr Ruf des Gewissens, sondern Buch des Gewissens ziehen die barocken SilesiusEpigramme Bilanz über automatisierte, von fremder Engel-Hand diktierte Schriftzüge, deren tonlose Stimmen etwas sagen und im gleichen Zug das Gegenteil behaupten. Von der Antike über den Spätbarock bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zeichnet sich ein immer dringenderer Ruf in die Stille der Schrift ab. Als philosophische, religiöse und rhetorische Figur stellt der Anruf seine eigene Erfüllung in Aussicht. Weil er der Zeitlichkeit der Schrift unterworfen ist, schiebt er das eigene „Urbild oder Ideal” (Walter Benjamin)12, den angerufenen, ‚heiligen’ Text, eine zur Übersetzung aufrufende, virtuelle SchriftFigur, vor sich her. Hölderlins kryptische Widmungen adressieren Namen, Anagramme und Unterschriften und verwerfen das Ideal einer Unmittelbarkeit des Anrufs. Die Würdigung des Dichters der Anrufung hat vielleicht erst angefangen. Hölderlins Poetologie einer ‚negativen’ Apostrophe wartet noch auf weitere, grundlegendere Untersuchungen. Die Technisierung macht vor der Sprache nicht halt. Sie produziert Phantasmen der Ermächtigung. Eine individuelle Post-Adresse beispielsweise könnte nicht funktionieren, ohne für alle lesbar zu sein. Ihre Entzifferbarkeit bürgt für Verifizierbarkeit und Demokratisierung: Daß diese Freiheit jedoch eine Illusion bleibt, solange nicht über die Verbindung zwischen allgemeinen und individuellen Adressen reflektiert wird, zeigen Kierkegaard, Kafka und Mallarmé. An Dingen der Medienkultur – Postkutsche, intime Wohnstube, ausgestellter Briefumschlag oder virtuelles Buch – läßt sich der Stand der Reflexion ablesen. Konstruktionen wie der unbestimmte Wohnsitz und die demiurgische Spindelmaschine lassen jedes Mal wieder neue, merkwürdige Figurationen der Kommunikation zwischen Öffentlickeit und Privatleben entstehen. Sie gehen einem Wissen der Literatur über sich selbst auf den Grund: Sie liefern einen „Anlaß” (Kierkegaard) zu Ironie, Vergnügen und Witz. Und sie stellen die alte Frage nach dem Adressaten: Wenn sich jeder Text an einen 11 Vgl. S. 103 dieser Publikation. 12 Vgl. S. 140 dieser Publikation.
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(angeführten) Leser adressiert, wo hält sich dieser Leser dann auf? Verführerische Irrwege fordern ihren virtuellen Adressaten zum „Akt der Selbstwahl” auf (Kierkegaard). Mallarmé fordert außerdem, die Errungenschaften der allgemeinen Adressierung auch für die bildenden Künste wie das Theater zu nutzen. Die Einbeziehung einer kleinen Gruppe von Initiierten könnte sich so auf die Größe eines virtuellen Theaterpublikums ausweiten. Kafkas Zwirnspule Odradek dagegen weigert sich, einen festen Wohnsitz anzugeben. Die sich selbst hervorbringende, parthogene Konstruktion in actu ist eine witzige Antwort auf die teleologischen Rückbestände, von denen selbst noch rationalisierte Adressen (Platon) befallen sind. Ironie, virtuelles Vergnügen und Witz sind Formen einer ernstzunehmenden Kritik. Sie richtet sich gegen den technischen Wahn perfektionierter Adressen, indem sie deren Sollwerte überprüft und durcheinander bringt. Wenn Adressen sich nicht mehr auf ein demiurgisches Prinzip berufen können, bringt dies Unabschließbarkeiten mit sich. Mit Dante wird der Beginn einer über sich selbst sprechenden Moderne lesbar. Autor und Leser können nicht mehr mit dem Schutz von religiösen oder staatlichen Autoritäten rechnen, die das Gesagte einer festen Adresse unterstellen. Apostrophen erweisen sich als infernal, weil umkehrbar und pervers. Aus diesem Grund setzt die Divina Commedia ihrem Leser die allegorische Entschleierungsarbeit wie eine köstliche Speise vor, konfrontiert ihn aber zugleich mit deren unverdaulichen Resten. Pensa lettore ruft es imperativ zum Nachdenken und -dichten auf. Als Entschädigung für die Mitarbeit seines Leser-Schülers stellt der autore einen poetischen Höhenflug (fama) im Paradies in Aussicht. Die symmetrisch auf drei imaginäre Räume verteilten Leser-Adressierungen legen das Wissen eines Textes über sich selbst offen. Sie sprechen über eigene Zweifel, machen Risse und Brüche einer Autorschaft sichtbar und problematisieren damit auch die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Wissenschaft. In der Geschichte des Lesens erhalten Dantes sich verhüllende und verkleidende Adressen zum ersten Mal einen nicht mehr nur ornamentalen sondern auch ontologischen Status. Dantes immer wieder zitierte Hölle scheint schließlich in der Appellstruktur von Zeugnissen, die über das Lager berichten, ihre historische Abgründigkeit zu erfahren. Die umgekehrte Allegorese des Mythos, der zur Geschichte geworden ist, schafft jedoch keinen neuen, historischen Sinn, sondern führt die Kritik am souveränen Sprechen auf andere Weise fort. Der konzentrationäre Appell ruft und versammelt. Der Einzelne geht in ein befehlsempfangendes ‚Ganzes’ ein, er wird formiert, abgerichtet und vernichtet. Im Lager kommt der Herausruf aus der Menge einem Todesurteil gleich. Das stundenlange Appellstehen dient der Erniedrigung der Gefangenen, die,
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zu Nummern reduziert, den Befehlen der SS zustimmen müssen und damit zu Komplizen der gegen sie gerichteten Foltermethoden werden. Wie aber könnte sich ein „Sprechen ohne Macht” (Sarah Kofman) artikulieren? Illusorisch ist es zu glauben, daß es eine andere Sprache geben könnte, eine Sprache jenseits der Sprache, die zur Komplizin der Täter geworden ist. Eine lückenlose Geschichte des Appells rekonstruieren zu wollen, erweist sich daher als genauso unmöglich notwendig wie nach Auschwitz noch etwas zu erzählen. Jede Geschichte wird „von nun an aus der Zeit vor Auschwitz sein.” (Blanchot) Charlotte Delbos Trilogie Auschwitz et après wählt den Weg der Theatralisierung. In seriellen Standbildern stellt sie einzelne Appelszenen vor Augen, die vor allem den Blick des Zuschauers als einen doppelten, zugleich hin- und wegsehenden sichtbar machen. Die Szenen, die das Warten auf den Tod darstellen, appellieren an einen standhaltenden Blick, der sich selbst zur Reflexion – zum Nach-Denken und Wider-Spiegeln – auffordert. Ein Vorhaben, das sich jedoch als blind erweisen muß. Denn Sprache spricht unaufhörlich weiter. Atemlos. Sie tut es, ohne sich auf eine letzte Instanz berufen zu können. Das macht sie zu einem iterativen, immer wieder neu adressierbaren Ereignis. Diese Herausforderung der wiederholbaren und doch einmaligen Adressierbarkeit von Sprache anzunehmen, ist das Anliegen der Untersuchung Anruf, Adresse, Appell. Ein literaturwissenschaftliches Verfahren, das einzelne Figurationen aufruft und versammelt, kann jedoch den Vorgang des Anrufens, Adressierens und Appellierens nicht gänzlich bloßlegen, da es selbst immer schon in ihn verwickelt ist. Die kommunikative Struktur eines jeden – auch eines literaturwissenschaftlichen, sich dem Wissen der Literatur widmenden – Textes birgt zugleich das Risiko und die Chance einer künftigen, jederzeit wiederholbaren Aktualisierung in sich, die eine Adresse performativ werden läßt. Und so warten die hier verknüpften Fäden nun darauf, aufgenommen und weiter verarbeitet zu werden.
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DANK Diese Untersuchung wurde 1999-2001 durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Eine erste Fassung hat die Philosophische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 2002 als Habilitationsschrift angenommen. Die zweite Fassung war Gegenstand eines kumulativen Verfahrens 2004 an der Université Paris IV (Sorbonne). Allen Beteiligten sei herzlich gedankt, besonders Hartmut Böhme, Anselm Haverkamp und Gérard Raulet, die das Projekt mit auf den Weg gebracht und aufmerksam betreut haben. Bei meinen Recherchen zu einzelnen Kapiteln waren mir Ulrich Ott, Deutsches Literaturarchiv in Marbach, Johannes Tuchel, Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, und Guillaume Agullo, Musée de la Résistance in Toulouse, behilflich. Sibylle Benninghoff-Lühl, Irving Wohlfarth und André Combes danke ich für fundierte Kritik, Walter Hellmann für gestalterische Ideeen, Brigitte Kather, Petra Bopp und Christine Kuhlmann für das Korrekturlesen. Mit Dankbarkeit denke ich außerdem an all jene Freunde und Kollegen, die mir immer wieder mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Danken möchte ich auch den Mitarbeitern des transcript-Verlags, insbesondere Gero Wierichs, der mir bei der Buchherstellung geholfen hat. Widmen möchte ich das Buch meiner Familie, die sowohl Alltag als auch Krisen stets mit mir geteilt hat. Ohne ihren Beistand wäre manches sicher nicht möglich gewesen.
Wem sonst als Euch
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B IBLIOGR APH IE Die Bibliographie enthält nur die unmittelbar zitierte Literatur. Nicht einzeln aufgeführt sind Beiträge aus mehrfach zitierten Sammelwerken. Adorno, Theodor W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: T. W. Adorno, Prismen, Frankfurt a. M. 1976. Adorno, Theodor W.: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1979. Adorno, Theodor W.: „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins”, in: T. W. Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1994a. Adorno, Theodor W.: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1994b. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1995. Agacinski, Sylviane: Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre, Paris 1996. Agacinski, Sylviane: Aparté. Morts et conceptions de Sören Kierkegaard, Paris 1977. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002. Agamben, Giorgio: Ce qui reste d’Auschwitz, übers. v. Pierre Alferi, Paris 1999. Alewyn, Richard: „‚Wem sonst als dir?’ Eine Mitteilung von R.A.”, in: Hölderlin-Jahrbuch, Bd.9, 1955/56, S. 219-220. Allerkamp, Andrea: „An/Ruf: Quelle, Nahme, Stimme. [Zu Friedrich Hölderlins Hyperion]“, in: Weimarer Beiträge, 4, 2001a, S. 559-575. Allerkamp, Andrea: „Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft“, in: Georg Christoph Tholen/Gerhard Schmitz/Manfred Riepe (Hg.), Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, Bielefeld 2001b, S. 369380. Allerkamp, Andrea: „Anrufung und Übertragung. Annäherung an das Verhältnis von Psychoanalyse und Musik.“ In: Christian Scheib/Sabine
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur Juni 2005, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-343-7
Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft Juni 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 50 Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Christa Brüstle, Nadjy Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Rhythmus im Prozess Zeitstrukturen in Kunst, Kultur und Natur Mai 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9
Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9
Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock Mai 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5
Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 Mai 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5
Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie April 2005, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-266-X
Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Wissen im 21. Jahrhundert April 2005, ca. 400 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien April 2005, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-274-0
Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X
Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart April 2005, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0
Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde April 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 10 Abb., ca. 26,00 €, ISBN: 3-89942-326-7
Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion März 2005, ca. 150 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-348-8
Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur März 2005, 384 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-331-3
Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe April 2005, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-299-6
Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform - eine Spurensuche März 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 10 z.T. farbige Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen (unter Mitarbeit von Jeannie Moser)
Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet Januar 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN: 3-89942-287-2
Februar 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-284-8
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de