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German Pages 304 Year 2014
Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline Sauter, Hans-Joachim Schott (Hg.) Das Heilige (in) der Moderne
Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline Sauter, Hans-Joachim Schott (Hg.)
Das Heilige (in) der Moderne Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts
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Inhalt
Vorwort: Das Heilige (in) der Moderne
Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline Sauter, Hans-Joachim Schott | 7 »Das Heiligste … ist unter unsern Messern verblutet« – Der Tod Gottes und das Ende der Ehrfurcht in Nietzsches Diagnose
Edith Düsing | 13 »Wir setzen uns mit Tränen nieder« – Hans Blumenberg als Hörer der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs
Nicola Zambon | 41 Messianische Rache – Zum Problem des Ressentiments in Walter Benjamins Geschichtsphilosophie
Hans-Joachim Schott | 61 Entscheidung/Unterscheidung – Zur Denkfigur von Carl Schmitts Politischer Theologie
Daniel-Pascal Zorn | 85 Politik atheologisch begreifen – Theologie apolitisch begreifen …? Erik Peterson zum Problem einer politischen Theologie
Hendrik Rungelrath | 105 Heiliges Leben – Zur Biopolitik des Aktivismus (Kurt Hiller)
Sandro Holzheimer | 123 »… das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege …« – Max Webers und Edward Shils’ Beiträge zu einer Soziologie des Heiligen
Magnus Schlette | 141 Heilige Jungfrau, heilige Erotik und zerstückelter ›Volkskörper‹ – Zur Transzendenz der Gemeinschaft bei Georges Bataille
Karin Peters | 161
Der agonische Märtyrer der Moderne – Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir
Héctor Canal | 183 Fragment und Totalität – Das Ausbleiben der unio mystica und die negative Darstellung in der modernen Kunst
Milan Herold | 203 Der Dichter als Hierophant – Angelos Sikelianos und die ›Delphische Idee‹
Thomas Heinzel | 217 Das ›Heilige‹ und die Theorie – Einige Überlegungen zur Theorie und ihrer Dynamik bei Michail M. Bachtin
Maik Neumann | 231 In Babel – Kon(tra)fusion der Sprache in Joyces Finnegans Wake
Caroline Sauter | 255 »Heilige Gespräche« – Die performative Funktion Gottes in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften
Rebekka Schnell | 279 Autorinnen und Autoren | 299
Vorwort: Das Heilige (in) der Moderne
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschüttert die sogenannte ›Säkularisierung‹ die Religiosität des Abendlandes.1 Die widerspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem jüdisch-christlichen Erbe der abendländischen Tradition besitzt in der Philosophie, der Theologie, der Soziologie und der Kunst um die Jahrhundertwende von 1900 ihren diskursiven Ausgangspunkt in Nietzsches gewaltigem und epochemachendem Wort vom ›Tod Gottes‹. Allerdings kündigt Nietzsches ›toller Mensch‹ den Tod Gottes nicht an, sondern er stellt ihn fest: »Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen. Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!«2 Nietzsche ist demnach nicht als Prophet, sondern vielmehr als Chronist der Säkularisierung zu verstehen: Seine Bedeutung besteht – unter anderem – darin, mit seiner prägnanten Formel die Reflexion über das säkularisierte Zeitalter angestoßen zu haben. Die Moderne beginnt demnach nach dem Bewusstwerden der Säkularisierung, mit dem ›Tod Gottes‹. Dieses Bewusstwerden mündet nicht etwa in der Verschwiegenheit über Sakralität, sondern entfacht im Gegenteil eine neuaufflammende Diskussion über das Heilige. Rudolf Ottos monumentale Studie Das Heilige (1917) legt davon ebenso Zeugnis ab wie das große Interesse der jungen Ethnologie und der sich entwickelnden Psychoanalyse an der Erforschung der religiösen Riten und Mythen sogenannter ›primitiver‹ Völker. Religiöse und religionshistorische Themen entgleiten allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts der institutionalisierten Sa-
1
Vgl. zum Begriff der Säkularisierung um 1900 Daniel Weidner: »Einleitung: Walter Benjamin, die Religion und die Gegenwart«, in: Ders. (Hg.), Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 7-35, hier S. 1922.
2
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München: Dtv 2003, S. 343-651, hier S. 481.
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kralwissenschaft mehr und mehr und verschieben sich in die Bereiche der Philosophie und der Kunst, mithin ebenso in diejenigen der Politik, der Soziologie und der Geschichtsschreibung. Das Heilige wird dabei sowohl im kulturtheoretischen und philosophischen Diskurs als auch in den Künsten, insbesondere der Literatur, zunehmend zu einer Denkfigur und zu einer Chiffre ihrer eigenen Poetik. Was sich als ›Modernität‹ versteht, ist deshalb schlechterdings untrennbar mit der Idee eines Heiligen verbunden – und nicht ungerechtfertigt erscheint es also, von dem Heiligen der Moderne zu sprechen. Dieses Heilige der Moderne ist jedoch ein ›ver-kehrtes‹, invertiertes, ›anderes‹ Heiliges, das sich von dem Heiligen der Religion emanzipiert. Etwa werden explizite Theologumena wie dasjenige des Deus absconditus in die Ästhetik transponiert. In Baudelaires und Flauberts Poetik sind bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts Denkfiguren der Nicht-Präsenz Gottes und der radikalen Profanierung des Heiligen ausgearbeitet worden, die im beginnenden 20. Jahrhundert etwa bei Rilke oder Valéry fortleben. Es entstehen in der Kunst und in der Philosophie Inszenierungen und Codierungen des Heiligen, d.h. spezifische Schreibweisen und Rhetoriken, die die Form ›heiliger Texte‹ oder sakraler Traditionen aufnehmen, thematisieren, subvertieren und profanieren. Dieser Verlust der Exegese-Hoheit in den Sakralwissenschaften und der damit einhergehende Autoritätsverlust religiöser Deutungen des Heiligen hat nicht nur Konsequenzen für die Ästhetik der Moderne, sondern ermöglicht auch explizit politisch-juristische Interpretationen des Heiligen. So begreift etwa Max Weber das Charisma nicht mehr als religiöses Phänomen, sondern als Herrschaftsstruktur. Noch im späten 20. Jahrhundert gehört Giorgio Agambens Begriff des homo sacer, der in den vergangenen zehn Jahren die Diskussion um die politische Dimension des Heiligen entscheidend geprägt hat, ebenfalls weder einer profanen noch einer religiösen Sphäre an, sondern vielmehr einer politischjuristischen Ordnung, in der eine trennscharfe Unterscheidung beider Bereiche unmöglich ist.3 Jeder deklarierten Säkularisierung zum Trotz zeigen sich also in der Moderne Phänomene, die als ›heilige‹ beschrieben werden oder die dem ›Heiligen‹ zugeschrieben werden können: etwa Phänomene charismatischer Herrschaft, formale oder diskursive Elemente, die sakrale Praktiken oder Poetiken aufgreifen, oder eine Wiederkehr ritualisierter Verhaltensweisen im politisch-gesellschaftlichen Handlungsraum. Diese Phänomene aufzuzeigen, zu beschreiben, zu analysieren und in Zusammenhänge einzuordnen bzw. diese Zusammenhänge unter
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Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 92.
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den spezifischen ästhetischen, politischen und künstlerischen Gegebenheiten der Moderne transparent zu machen, bildet das Kernanliegen der Beiträge des gesamten Bandes. Es wird in den folgenden Beiträgen diskutiert, wie genau das Verhältnis von Modernität und ›dem Heiligen‹ zu denken ist: Befindet sich das Heilige in der Moderne, oder konstituiert es diese als das Heilige der Moderne gar? Mit dieser Stoßrichtung greifen die Aufsätze Debatten auf, die aktuell die Philologien, die Philosophie, die Soziologie sowie die Kultur- und Kunstwissenschaften prägen, und versuchen, diese gegenwärtige Diskussion aus der Tradition des frühen 20. Jahrhunderts zu erhellen. Die leitenden Thesen sowie die Beobachtungsansätze des vorliegenden Sammelbandes sind demnach nicht allein aus der historischen Perspektive geistesgeschichtlicher Forschung, sondern auch für die Standortbestimmung der kulturwissenschaftlichen Disziplinen heute von immenser Bedeutung. In Frage steht, ob der immer wieder deklarierte religious turn um die Jahrhundertwende von 2000 tatsächlich stattgefunden hat oder ob es sich statt um einen turn nicht vielmehr um eine Kontinuität der Diskussion seit der Jahrhundertwende von 1900 unter anderen historischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Prämissen handelt. Einer der häufig als Vertreter des religious turn genannten Autoren, nämlich Jean-Luc Nancy, hat bereits in den 1990er Jahren gegen eine Rhetorik der ›Wiederkehr‹ des Heiligen und also gegen die Rhetorik des turn argumentiert. Nancy stellt dar, dass jedes heutige Denken notwendig bedeute, über das Tod-Gottes-›Ereignis‹ zu meditieren, das den Ausgangspunkt für die Rhetoriken der Säkularisierung und (Re-)Sakralisierung (in) der Moderne bildet: »cet événement irrefutable et indéplaçable.«4 Jenes Ereignis mache alle ›Wiederkehr‹ des Religiösen überflüssig, weil es das Denken herausfordere, dort zu denken, wo kein Gott das Sein, das Subjekt oder die Welt sei und somit auch niemals ›zurückkehren‹ könne. Nietzsches epochemachende Formel vom ›Tod Gottes‹, auf die sich Nancys Kritik geradezu dogmatisch bezieht, steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts an zentraler Stelle in der Debatte um Religion und Religiosität sowie in der ästhetisch-literarischen Gestaltung einer neuen Modernität. Deshalb dient sie auch im vorliegenden Band als diskursiver Ausgangspunkt. Die Denkfigur des Gottestodes bei Nietzsche beleuchtet Edith Düsing in ihrem Beitrag in all ihrer Vieldimensionalität, indem sie sie im Kontext von dessen philosophischen Gesamtwerk deutet. Auch Nicola Zambon geht in seinen metaphorologischen Bemerkungen zur Matthäuspassion J.S. Bachs von Nietzsches Gottestod-Formel aus
4
Jean-Luc Nancy: Des lieux divins, suivi de Calcul du poète, Mauvezin: Trans-EuropRepress 1997, S. 15.
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und stellt sie in einen anderen Zusammenhang des späteren 20. Jahrhunderts, nämlich Blumenbergs Philosophie. Dabei präpariert er aus Blumenbergs Textund Denkbewegungen ein ›gottheitsgebärendes Fragen‹ heraus: ein Fragen, durch das der verlorengeglaubte Gott gleichsam erzeugt wird. Ein etwas anders gelagertes Problem der Nietzsche-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert verfolgt Hans-Joachim Schotts Lektüre von Benjamins geschichtsphilosophischen Überlegungen: das Problem des Ressentiments. Die Geschichtsphilosophie, die Benjamin unter ständigem (durchaus kritischen) Rückgriff auf Nietzsche entwirft, führe zu dem Konstrukt einer ›messianischen Rache‹. Diese von Schott »theologisch aufgeladen« genannte Geschichtsphilosophie enthalte ein gesellschaftlich destruktives Potential. In der Moderne wird also der Konnex von Theologie und Politik virulent, der mit Carl Schmitts Politischer Theologie (1922) auf eine Formel gebracht worden ist. Daniel-Pascal Zorn liest Carl Schmitts politische Philosophie von ihrer strukturellen Seite her: er nimmt die Denkfigur der Entscheidung/Unterscheidung in den Blick, die die Oszillationen zwischen dem Politischen, dem Philosophischen und dem Theologischen inszeniere. Auch Hendrik Rungelrath nimmt Carl Schmitt zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum unbedingten Zusammenhang von Politik, Theologie und Religion, den er – aus dezidiert theologischer Perspektive – anhand seiner Auseinandersetzung mit Erik Petersons Kritik am Konzept einer ›politischen Theologie‹ nachweist. Gott werde dabei als diskursive Macht eingesetzt, die aber, wie Rungelrath schreibt, eine »geradezu unmögliche« sei. Das Verhältnis von Theologie und Politik müsse demnach auch aus theologischer Perspektive neu in den Blick gerückt werden. Eine von Walter Benjamin als ›Dogma‹ betitelte Denkfigur steht dabei im frühen 20. Jahrhundert am Schnittpunkt von Theologie und Politik: das ›heilige Leben‹.5 Dieses Konzept spielt in den 1920er Jahren im Aktivismus Kurt Hillers eine entscheidende Rolle. Sandro Holzheimer kommentiert, ebenfalls mit Bezug auf Carl Schmitt, aber auch unter Rückgriff auf Giorgio Agambens Benjamin-Lektüre, die geistigpolitischen Voraussetzungen des Aktivismus und die Aporie des Lebens-alsLeben-Verlustes, die sich, konsequent gedacht, aus einer solchen Sakralisierung des Lebens ergeben müsse. Die Sakralisierung des Lebens ist im Aktivismus ein geistiges und ein politisches Konzept und wirkt als solches unmittelbar in den menschlichen Handlungsraum, kurz: ins Soziale hinein. Die Frage nach dem Heiligen gewinnt demnach im frühen 20. Jahrhunderts auch im soziologischen
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Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Ders., Gesammelte Schriften, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M: Suhrkamp1991, hier Bd. II.1, S. 202.
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Diskurs höchste Aktualität und Brisanz. So spricht Magnus Schlette gar von einer ›Soziologie des Heiligen‹. Ausgehend von Edward Shils’ Auseinandersetzung mit Max Webers Konzept charismatischer Herrschaft zeigt Schlette, dass es in der Moderne zu keiner vollständigen Rationalisierung sozialer Beziehungen im Sinne Webers kam, sondern Charisma sich in alltäglichen gesellschaftlichen Interaktionen erhalten hat. Dass die Sakralität also durchaus als gemeinschaftsbildendes Konzept, ja als soziale Handlung Geltung erlangen kann, scheint sich auch aus der Soziologie gleichsam in die Literatur zu übersetzen. Dies exemplifiziert besonders das prominente Beispiel Georges Batailles, der sowohl als Philosoph und Soziologe als auch als Romancier in Erscheinung getreten ist. Karin Peters nimmt mit NotreDame de Reims eine frühe Erzählung Batailles in den Blick, die einen Kontrast zu den späten obszönen Erzählungen bildet, aber – auf einer anderen rhetorischen Ebene – nichtsdestotrotz eine ähnliche Problemlage beschreibt: nämlich die gewaltsame Verletzung eines (Volks-)Körpers. Eine andere auch für die Literatur zentrale Denkfigur ist die Weber’sche Figur des Charisma, der charismatischen Herrschaft und des Charismatikers. Von dieser ausgehend perspektiviert Héctor Canal einen weiteren Aspekt des Heiligen in der Literatur. Er betrachtet anhand einer paradoxen literarischen Heiligenfigur, nämlich der Figur des ungläubigen Priesters, wie die Zuschreibung von Heiligkeit in dem Kurzroman San Manuel Bueno, mártir (1931) von Miguel de Unamuno zu einer Identitäts- und Gemeinschaftsbildung führt, die freilich den herrschenden Diskurs des institutionalisierten Katholizismus in Spanien zu subvertieren imstande ist. Auch Milan Herold beschreibt in seiner Analyse der modernen Kunstwerktheorie eine Subversionsbewegung: den Verlust der Aura, des Heiligen und des Kultischen als die Urerfahrung der Moderne voraussetzend, zeigt er an Hand von Giacomo Leopardis L’Infinito, wie die Kunstwerke selbst diese Erfahrung in einer negativen Darstellung (die nicht eine Darstellung des Negativen ist) zu unterlaufen vermögen: nämlich durch eine Poetik des lustvollen Scheiterns. Eine ganz andere Art der Subversion stellen Thomas Heinzels Betrachtungen zu Angelos Sikelianos’ ›Delphischer Idee‹ dar. Der griechische Dichter belebt nach dem 1. Weltkrieg die Tradition der Delphischen Festspiele neu, um durch die Aufführung antiker Dramen ein gemeinschaftsstiftendes Festereignis zu schaffen. Doch nicht nur in der Dichtung, sondern auch in ihrer Theorie sind im frühen 20. Jahrhundert Diskurse und Denkfiguren eines ›anderen‹ Heiligen virulent, die traditionelle religiöse und theologische Diskurse des Heiligen unterlaufen. So zeigt Maik Neumann in einer kontrastiven Lektüre der theoretischen Schriften Martin Bubers und Michail Bachtins auf, wie in Bachtins Theorierhetorik der spezifisch christlich geprägte Begriff des Heiligen in einer dynamischen ›opera-
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tiven Formalisierung‹ zu einem bloßen funktionalen Moment umgewertet wird. Dass nicht nur der Begriff des ›Heiligen‹, sondern auch religiöse und sakrale Topoi sowie auch der allerzentralste Begriff der Theologie, nämlich Gott, in der Literatur der Moderne zu poetologischen Funktionsstellen werden, zeigen die beiden abschließenden Beiträge an Hand zweier eminenter Autoren der Epoche: James Joyce und Robert Musil. Caroline Sauters Beitrag umkreist, wie der biblische Babel-Topos in Joyces Finnegans Wake zur Chiffre der Poetologie des Textes selbst avanciert, die in einer paradoxen Kontra-Fusion statt einer Konfusion besteht, in der die Sprachen weder verschwimmen noch verwirrt werden, sondern stattdessen vielmehr den notwendigen Selbstwiderspruch jeder einzelnen Sprache ausbuchstabieren. Mit Rebekka Schnells Untersuchung der performativen Funktion Gottes in Musils Mann ohne Eigenschaften kommt die Diskussion schließlich wieder an ihren Ausgangspunkt zurück: nämlich zur Frage nach Gott und seinem (Fort-)Leben in der ›säkularisierten‹ Moderne. Dass es Musils Roman nicht darum geht, diesen (toten) Gott ›zum Leben zu erwecken‹, sondern dass die Rede von Gott vielmehr den sakralwissenschaftlichen Diskurs verlässt, um die Poetik des Romans selbst zu inszenieren, kann demnach als exemplarische Schlussbeobachtung gelten. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ausgewählte Vorträge eines interdisziplinären Forschungskolloquiums zurück, das von den Herausgebern vom 5.-7. August 2011 unter dem Titel Das Heilige in Literatur und Kulturtheorie der Moderne an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg veranstaltet wurde. Unser Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes, ohne deren finanzielle Förderung das Kolloquium nicht hätte stattfinden können. Namentlich möchten wir Herrn Dr. Pascal Pilgram erwähnen, der auf einem Doktorandenforum der Studienstiftung den Anstoß zu dem Kolloquium gab, und Frau Prof. Dr. Andrea Bartl, die uns bei der Organisation des Projekts vor Ort in Bamberg unterstützt hat. Frankfurt am Main, Februar 2013 Héctor Canal, Maik Neumann, Caroline Sauter, Hans-Joachim Schott
»Das Heiligste … ist unter unsern Messern verblutet«1 Der Tod Gottes und das Ende der Ehrfurcht in Nietzsches Diagnose E DITH D ÜSING
Einleitung: Problemaufriss und Schlüsselthese zum Heiligen in Jesu Christo Die Rede vom Heiligen, des näheren von dem Heiligsten, worin das schlechthin Gute anwesend ist, fokussiert Nietzsche überraschend eindeutig und ausschließ-
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Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft [=FW], S. 125. Nietzsches Schriften werden grundsätzlich nach folgender Ausgabe zitiert: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin: de Gruyter 1967-1977 (= im Folgenden durch die Sigle KSA direkt im Fließtext zitiert); KSB: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München: Dtv 1986. Einzelne Werke Nietzsches werden mit den folgenden Siglen abgekürzt und unter Angabe der Aphorismus-Nummer zitiert: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (= MA); Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile (= M); Die Fröhliche Wissenschaft (= FW); Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (= JGB); Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (= GdM). Jugendschriften Nietzsches werden zitiert nach Friedrich Nietzsche: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. H. J. Mette, München: Dtv 1933ff. (= BAW).
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lich in der Gestalt Jesu Christi.2 Dieses von Nietzsche nur zweimal verwendete Attribut, so ist zu zeigen, ist für ihn christologisch verankert, das Heilige in unüberbietbarer Erhabenheit, daher der Superlativ, wird also christozentrisch gefasst. So steht und fällt dessen ontologischer Gehalt mit der Glaubwürdigkeit von Jesu Gottgleichheit. Wegen der Entmythologisierung der Evangelien und wegen des Hinstürzens des Bildes von Jesus als Weltenheiland müssen, in neuer Selbstwertsetzung, andere Wege zum göttlichen heiligen Sein gefunden werden. Ausgehend vom Jugendgedicht Golgatha führt eine Sinnlinie zur Parabel vom ›tollen Menschen‹. In freigeistiger Brechung wird der Glaubensinhalt verfremdet, indem der Mensch als Täter einer mörderischen Tat demaskiert wird, durch die er sich selbst des Heiligen als Seinsgrundes beraubt. Nietzsche ist im 19. Jahrhundert zum Denker des Verlustes des Heiligen und Ewigen geworden, dessen Bürge vormals das Christentum und Platon waren: »Götterdämmer – Es giebt nichts Ewiges!« (KSA 10, 374)3 Das Resultat von Nietzsches radikaler Freigeisterei ist, dass überall nichts sei, dessen Gehalt, z.B. in der göttlichen Kunst Platonischer Dialektik, »als ewig und allgültig« erwiesen werden könne, – außer, wenn die Seele im Liebeswahn zur Idee des absoluten Guten entrückt ist (M, 544).
2
Vgl. historisch und systematisch dazu Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 35. Aufl., München: Beck 1963, S. 95f. Mit der Religion des Moses beginnen für Otto die Ethisierung des Numinosen und seine Erfüllung zum ›Heiligen‹ im eigentlichen Sinn, das nicht mehr irrational, unheimlich, furchtbar, sondern zur Anbetungswürdigkeit geläutert ist. Dieser Vorgang vollende sich in Prophetie und Evangelium. Gott, »der Heilige Israels« (Jesaja 6) wird klar begriffen als Allmacht, Güte, Weisheit, Treue. Die Schlüsselstelle zum substanziell Heiligen im Neuen Testament ist Lukas 1,35: Der Engel verkündet Maria: »Der heilige Geist (pneuma hágion) wird dich überschatten; deshalb wird das geboren Werdende heilig (hágion), Sohn Gottes (Hyiòs Theou) genannt werden.«
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Das Ewige verloren hat Nietzsche u.a. durch kühnes Weiterdenken der Hypothesen von Darwin und Strauß. Otto Most hebt Nietzsches Ewigkeitssuche hervor, vgl. Otto Most: Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, Frankfurt/M: Klostermann 1977. In Zarathustras Brautlied an die Ewigkeit, im siebenmaligen Bekenntnis: »Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!« (KSA 4, 287ff; KSA 6, 405) sowie in der Selbstermunterung, der Amor fati möge seine »letzte Liebe« sein (FW, 276), klingt solche religiöse Suche nach. Vgl. dazu auch Manfred Kaempfert: Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei F. Nietzsche, Berlin: Erich Schmidt 1971.
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Da in christlich-platonischer Tradition das die Welt transzendierende Höchste und Heiligste als Liebe, Sittlichkeit, Recht und in jeder Tugend weltliche Gegenwart gewinnt, ist Nietzsche zu Recht überzeugt, selbst »ein capitales Ereigniß in der Krisis der Werthurteile zu sein« (KSB 8, 259). Seine Psychologie der Entlarvung eingebildeter Tugenden mündet ein in Zarathustras Umwertung des Askese-Ideals mit kardinalen Tugenden wie Mitleid, Demut und Keuschheit in eine Gloriole der Selbstsucht, Herrschsucht und Wollust. Zarathustras ›Schatten‹ rückt heilige Einsiedler in den Verdacht, dem Lustprinzip zu frönen.4 »›Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben‹: so will ich’s, so will’s auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe ich noch – Lust?« (KSA 4, 340) Er erleidet und enthüllt den Teufelskreis von Lustsuche, die nach Gottes Tod ein Surrogat ist für das ungestillte Liebesverlangen, und Überdruss angesichts der universalen Sinnleere. »›Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‹«, sprach ich zu mir; »›oh ewiges – Umsonst!‹« »Du hast das Ziel verloren« (KSA 4, 341). Jegliche religiöse Gewissheit wird für Nietzsche untergraben durch historisch-wissenschaftliche Kritik. »Wie die Städte bei einem Erdbeben einstürzen und veröden und der Mensch nur zitternd und flüchtig sein Haus auf vulkanischem Grunde aufführt«, so ruft historische Analyse ein Begriffsbeben hervor, das Menschen ihren »Glauben an das Ewige« raubt (KSA 1, 330). Die Erdbeben- und Vulkanmetaphorik deuten hin auf irritierende Bedeutungsverschiebungen vertrauter Begriffe. Der Tatort des Gottesmordes, so lautet Nietzsches kriminalistische Enthüllung, ist die Bibelexegese. Dies soll im Folgenden durch eine Ausleuchtung der Parabel vom ›tollen Menschen‹ (FW, 125) gezeigt werden. 1) »Das Heiligste« in Nietzsches Jugendglauben und der Verlust »höchster Dinge« In Nietzsches Jugend bis zum zweiten Studiensemester ist der christliche Glaube des gebildeten Protestantismus in lutherisch-pietistischer Einfärbung die Grundlage seiner geistigen Existenz. In der freigeistigen Phase seines Denkens erklärt
4
Vgl. Edith Düsing: »›Heilige Selbstsucht‹ (Immoralismus) oder Sich-quälen-Lassen vom Himmel des Ideals (Hypermoralismus)? Nietzsches Konzept des individuellen Gesetzes«, in: E. Düsing/K. Düsing/H.-D. Klein (Hg.), Geist und Sittlichkeit. EthikModelle von Platon bis Levinas, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 261297, sowie Edith Düsing: »Nietzsches antichristliches Paulusbild«, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 38 (2009), Nr. 2, S. 41-57.
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er im Jahre 1881 nach vielfachen Umbrüchen:5 Das Christentum ist »das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe […] Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen.« (KSB 6, 108f.) In Skizzen »Zum Leben Jesu«, des näheren »Zur Auferstehungslehre«, zitiert der zwanzigjährige Nietzsche zur »Christophanie des Johannes« aus Offb. 1,18: »ich war todt, und ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit«, und aus Mt. 17,2: Jesu »Angesicht leuchtete wie die Sonne« (BAW 3, 102f.). Hier steht er noch in der Tradition, deren Verlust er in seiner maximalen Sinnschwere ausloten wird. Erinnernd an Offb. 1,17, wo Jesus spricht: »Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige«, charakterisiert Nietzsche später die »teleologischen Lehrer« von Platon bis Kant durch ihre These, jeder einzelne Mensch sei »etwas Erstes und Letztes und Ungeheures« (FW, 1). Besagt die hässliche ›Wahrheit‹ des Naturalismus: Die Art ist alles, der Einzelne in seiner »Fliegen- und Froscharmseligkeit« (wie Pindars ephemeroi) ist nichts, so lautet die Antithese der mit tiefer Sympathie von Nietzsche fein gezeichneten ethisch-teleologischen Lehrer zur Physiokratie: Jeder Einzelne ist an sich wertvoll. »Ja, ich bin wert zu leben!«, jeder ist für sich »immer einer« (FW, 1).6 Das in Bildgehalt und Aussagekraft gewichtige Gedicht mit dem Titel Gethsemane und Golgatha von 1864 stammt aus der ersten Zweifelsperiode des jungen Nietzsche, bezeugt aber klar die christliche Botschaft zum Passionsgeschehen. Das Gedicht stellt die mitternächtliche Szene bei Gethsemane (Mk. 14,32-42) und die mittägliche auf Golgatha (Mk. 15,12-41) zusammen. Es stellt beide Szenen als weltgeschichtlich einzigartige und bedeutungsvollste Ereignisse
5
Zum Jugendglauben siehe Edith Düsing: Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, 2. Aufl., München: Fink 2007, S. 79-124. Zur Phasencharakteristik ebd., S. 34-46, zu Nietzsches Freigeisterei ebd., S. 353-423. Zu Nietzsches Verlust seines Jugendglaubens u.a. durch die Lektüre von D.F. Strauß’ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36) und zu seinem »Duell« mit Strauß (KSA 6, 319) vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 125-166.
6
Für Platon (Symposion 211b) ist jedes Menschen Seele, den Ideen ähnlich, ewig eingestaltig (monoeides); dazu stimmt Leibniz‹ Definition der Monade, die Substanz sei: Nur, was ein Wesen (monas) ist, ist ein Wesen (ousia). Vgl. G. W. Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band II, hg. v. E. Cassirer, 3. Aufl., Hamburg: Meiner 1966, S. 223f. – Zur Antithetik von Mechanismus und Teleologie in Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 201-350; zum Verlust der Geistseele an die Natur in FW 1 vgl. ebd., S. 265ff.
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dar und ruft sie als »heiligste Vergangenheit« ins Bewusstsein der Nachwelt. Zeit und Ewigkeit berühren einander. Alles Irdische wird in seiner Vergänglichkeit enthüllt, die äußere Welt verblasst vor dem inneren, an Christus orientierten Licht, das die Seele erfüllt und aus ihrer Verlorenheit an die Welt zu Gott zurückbringen soll. Alle vorherige Geschichte ist Vorbereitung dieser Fülle der Zeit, die in Christus aufgeht, oder deren Nachwirkung. Christus ist Mitte und Wendepunkt der Weltgeschichte. »O Stätten heiligster Vergangenheit! / Gethsemane und Golgatha, ihr tönet / Die frohste Botschaft durch die Ewigkeit: / Ihr kündet, daß der Mensch mit Gott versöhnet, / Versöhnet durch das Herz, das hier gerungen, / Das dort verblutet und den Tod bezwungen! – / O Stätten, ihr, der Zukunft Weltgericht, / Der Frommen Hoffnung und der Sünder Grauen! / Vor Euch wird eitler Ruhm und Glanz zu nicht, / Von Euch wird Segen auf die Welten thauen. – / So schaut ihr, vorwärts, rückwärts, auf die Zeit, / Ein Merkmal in dem Strom der Ewigkeit.« (BAW 2, 401)7
Das Golgatha-Thema war Nietzsche offenbar so bedeutsam, daß er drei Reinschriftfassungen mit nur leichten Veränderungen vollständig niederschrieb. »Du heil’ger Leidensbronnen«, mit dieser Anrede wird Christi Weg zum Kreuz, der Sünde, Tod und Teufel überwindet, um Seelen zu retten, mit den heilsamen Wunden des leidenden Gottesknechts verknüpft (Jes. 53,5) und Jesu psychosomatische Befindlichkeit durchsonnen. In der Wendung vom verstehensinnigen »großen Herzen« Christi finden sich allversöhnerische Ideen angedeutet. Die Stätten »heiligster Vergangenheit« werden – in einem Kierkegaard’schen Gleichzeitigwerden mit Christus und damit Überwinden des historischen Zeitenabstands, des Lessing’schen »garstigen Grabens« – in Nietzsches Jugendgedicht, durch Meditation des Kreuzes, zu »Stätten heilig ernster Gegenwart«. Das Inbild dessen, was für Nietzsche das Heilige, Gute, die Liebe selbst war, ist Jesus am Kreuz. Ist er aber nicht der Christus, so leuchtet Nietzsches Verlustbilanz zur verlorengegangenen wahren Welt ein.8 Die bisher »höchsten Dinge«, der biblisch fundierte Gottesglaube und die Religion des Kreuzes Christi, haben sich in unglaubwürdige »Mythen« und »Märchen« verwandelt (KSA 11, 627). Es ist dann eine »furchtbare Neuigkeit«, daß der vormals geglaubte »christliche Gott ›todt‹ ist, daß in unseren Erlebnissen nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung« sich ausdrückt (KSA 11, 425). »Das jenseitige Leben weg? – man
7
Das ›Verbluten‹ Gottes kehrt in der Parabel vom ›tollen Menschen‹ wieder.
8
Zu dem Text: »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« (KSA 6, 80f) vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 65f, S. 125ff.
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hat dem Leben die Pointe genommen.« (KSA 11, 621) Auch herrscht keine Furcht mehr vor den Folgen der Gottlosigkeit. Zunächst spielt sich solches Verlieren der »höchsten Dinge« im Bewusstsein Einzelner ab, bald aber wird »der Verlust des Glaubens« unter allen »ruchbar« (KSA 9, 200). Es folgt in Nietzsches Diagnose daraus unabwendbar und breitenwirksam das Aufhören von Ehrfurcht und Achtung, von Autorität und Vertrauen; weiter folgt ein blindwütiges »Leben nach dem Augenblick«, dem »gröbsten Ziele«, dem »Sichtbarsten«, schließlich ein beliebiges »Experimentiren, ein Gefühl der Unverantwortlichkeit, die Lust an der Anarchie!« (KSA 9, 200)9 Eine gemeinere Gattung Mensch gewinnt, wie in Platons Ochlokratie, das Regiment: die Masse maßt sich Herrschaft an; ihr müssen anders denkende Einzelne sich anpassen.10 Überschauen wir überhaupt schon, so ruft Nietzsche eine Sequenz von sich überstürzenden Fragen auf, die ganze Folgelast der sich anbahnenden »Vernichtung der Religion und Metaphysik«, der »Noblesse und Individual-Bedeutung«? Wehe denen, die, wenn der erwartbare »Rausch der Anarchie« abgeflaut ist, sich den Massen zudringlich als ihre »Heilande« anzubieten suchen (KSA 9, 201). Die meisten wollen, vor dem Hintergrund von »Saturnalien der Barbarei«, so erklärt Nietzsche hellsichtig kulturpsychoanalytisch in seinen Basler Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, bewusst oder unbewusst nur »für sich selbst die fessellose Freiheit« (KSA 1, 698). Die Bedeutung der textgeschichtlichen Basis Bibel für den christlichen Glauben ist Nietzsche deutlich bewusst. Er entfaltet die Frage der Wahrheit des Christentums in drei Aspekten: 1) als die Frage nach der Existenz eines guten Gottes, 2) als die Frage der Geschichtlichkeit der »Entstehungs-Legende« (KSA 13, 417) vom rettenden Evangelium Christi, wie er es mit Anklang an Strauß’ bibelkritische Mythenkonzeption ausdrückt. Historisch philologische Textkritik führt für Nietzsche durch ihren methodischen Zugriff, angewandt auf das Buch der Bücher, zur Entkräftung seines überzeitlichen Wahrheitsanspruchs, 3) als Psychologie des Gläubigen, der z.B. in frohgemuten Erlebnissen einen von Gott
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Der gefährliche neue Gedanke einer Freigabe des Experiments und Selbstexperiments Mensch ist für Nietzsche mit dem Darwinismus verknüpft. Er spricht ahnungsvoll von einer »ungeheuren Experimentirwerkstätte« (KSA 13, 408f). Zu seinem ureigenen, ab 1887 entfesselten Naturalismus vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 304-350.
10 Zum politisch-ideengeschichtlichen Hintergrund der Anarchie – der Verfallsgestalt der Demokratie für Nietzsche wie für Platon –, die schon für Platon in Tyrannis oder Auflösung natürlicher Autorität, daher in Egalitarismus umzuschlagen droht, vgl. Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York: de Gruyter 1987, S. 293-307.
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auf ihn herabströmenden Gnadenglanz verspürt (MA, 134), in Wahrheit aber eigentlich pure Selbstliebe aus Erbarmen übt: aus Selbstverachtung wird Selbstbegnadigung (KSA 8, 180). »Welcher Denkende hat […] die Hypothese eines Gottes noch nötig?« (MA, 28) Diese freche Frage ist nicht zu verwechseln mit dem fixen Lehrsatz: Kein Denkender hat Gott nötig. Nietzsches Wende zum Freigeist verlautet im Notat: »Gott ganz überflüssig«; »Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges«; »Verächtlichkeit aller Motive«; »Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten.« (KSA 8, 88) Mit der Gottespreisgabe stürzt die humane Selbstachtung dahin. Nietzsche ist der kühnste Zerstörer aller Mythen und grundlosen Optimismen in Bezug auf den Menschen, die Welt und Gott. Aus intellektueller Redlichkeit will er sich jegliche tröstliche Ausdeutung des Weltlaufs versagen. Die paradoxe Spannweite, die in der Kühnheit liegt, dass er jeden Gedanken, der gedacht werden kann, experimentell zulässt, jede Emotion dazu fühlt und dass er sich Rechenschaft gibt über die im Fall des Atheismus leer bleibende Seele, macht den hohen Reiz von Nietzsches Philosophieren aus. Aus Es wird hierbei Ich: »Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidieren« (KSA 8, 593). Nietzsche beklagt Gottes Tod sowie das Ende der Ehrfurcht, das entspricht der Herzenslogik; zugleich treibt er in Freigeisterei jede Entmythologisierung des Heiligen auf die Spitze.11 Das Motiv ist: »Götzen aushorchen!« (KSA 6, 57) Es gebe mehr Götzen in der Welt als Realitäten, Zeitgötzen und ewige Götzen (KSA 6, 57f). Viele Aphorismen Nietzsches, v.a. in der experimentalphilosophischen mittleren Zeit, sind mit Ambivalenzen gespickt derart, dass er – gemäß dem impliziten Motto: weg mit den schönen Illusionen und her mit den bittern Wahrheiten! – zwar die Demontage metaphysischer Annahmen auf die Spitze treibt, dabei jedoch die Gefährlichkeit des Abbaus für den Fortbestand des Humanen aufzeigt, das nicht mehr vom Glauben an das Heilige und Ewige behütet bleibt. In Nietzsches geschichtsphilosophischer Schau hat sich der unbedingte Wille zur Wahrheit (FW, 344) gebildet durch die christliche »Beichtväter-Feinheit«
11 In Nietzsches Denkweg widerstreitet die Pascal’sche Logik des Herzens, die Tröstliches sucht, fortwährend der Logik des Verstandes. Man müsse, »wider sein Gewissen, sein Gewissen selbst secirt haben« (KSA 14, 120). Pascal schreibt: »Le coeur a ses raisons, que la raison ne connaît point.« (Blaise Pascal: Pensées, hg. v. Léon Brunschvicg, Paris: Hachette 1972, Fragm. 277).
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des Gewissens, das in der Neuzeit zum wissenschaftlichen Gewissen bzw. zur intellektuellen Redlichkeit um jeden Preis »sublimiert« ist (FW, 357). Nietzsche stellt die Frage: Was hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Seine Antwort ist: Aufgrund der Wahrhaftigkeit, die im christlichen Gewissen immer strenger eingeübt wurde, verbiete sich am Ende jede »Lüge im Glauben an Gott« (GdM III, 27). Die Natur könne nicht mehr so angesehen werden, als enthalte sie Beweise von Gottes Güte, die Weltgeschichte nicht mehr »interpretiert« werden zu Ehren einer göttlichen Vernunft oder als »Zeugnis einer sittlichen Weltordnung«12, und schließlich können persönliche Erlebnisse nicht mehr so ausgelegt werden, »wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei«. Daß diese teleologische Weltansicht vorbei sei, nennt Nietzsche mit Pathos die »Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit«, die einen »redlichen Atheismus« als mögliches Resultat einschließt. Dieser Atheismus steht für Nietzsche nicht nur im Gegensatz zum christlichen Ideal, sondern ist für ihn dessen letzte Phase in Gestalt seiner fatalen Selbstaufhebung. »Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung.« (GdM III, 27) Dass oberste Werte »sich entwerthen« (KSA 12, 350f.), passt zur Figur der Selbstaufhebung großer Dinge, zuerst Gottes. Das Ehrfurcht Erweckende betrifft dabei die größten Dinge, die gemäß Nietzsches tragischer Schau durch ihre eigene innere Konsequenz zugrundegehen, und zwar in einer Geschichte der Selbstbewusstwerdung des kühnen Willens zur Wahrheit, der als »unbewußter Imperativ« (!) den ursprünglich christlichen und platonischen metaphysischen Glauben an den Wert der Wahrheit – »Gott ist die Wahrheit« – geschichtsmächtig weiter zur Wirkung bringt (GdM III, 24). Nietzsche hebt im ›Lügenverbot‹ auf ein streng wissenschaftliches, nicht pneumatisches Naturverständnis ab (MA, 8) und, auf Strauß’ Glaubenslehre anspielend, wonach die Kritik des Dogmas seine Geschichte sei, auf das historistische Zugrundegehen des Christentums als Dogma. Dem folge als künftiges Schauspiel Europas das Zugrundegehen des Christentums als Moral (GdM III, 27). Das Gefälle zur Wertlosigkeit persönlichen Seins ohne Gott hat Nietzsche in nahezu prophetischer Intuition erfasst:
12 In Ecce Homo wird in einer Art empirischen Intuition die ganze Geschichte der Menschheit (und die Genese der Natur) eine »Experimental-Widerlegung« der Annahme einer sittlichen Weltordnung genannt (KSA 6, 367).
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»Das grösste neuere Ereigniss, – dass ›Gott todt ist‹, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, […] ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muss unsre alte Welt täglich […] misstrauischer, fremder, […] scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereigniss selbst ist viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass auch nur seine Kunde schon angelangt heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?« (FW, 343)
In plötzliche Abgründe eines naturalistisch verstandenen Todes bis hin zu Selbstmordlizenz und Euthanasie, wiewohl in Frageform und ein Tabu erinnernd, führt ein Aphorismus, der an das Darwin’sche Kampf-ums-Dasein-Motiv anknüpft: »Was heisst Leben?« Leben heißt »fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: ›Du sollst nicht tödten!‹« (FW 26) Tötungslizenz abzuwehren wird ein Problem. Für Nietzsche liegt die Letztbegründung christlich-moralischer Werturteile in der Gottesidee. Sie sind für ihn nicht ableitbar aus der Geist- oder Vernunftnatur des Menschen. Die christliche Ethik der Liebe, der Pflicht und des Mitleids fällt mit dem christlichen Gott selbst. Bricht man aus ihr den Glauben an den christlichen Gott heraus, so zerbricht das ganze System ihres Wertgefüges. 2) Die vieldimensionale Bedeutung von Gottes Tod Der sachliche Gehalt in Nietzsches Formel vom ›Tod Gottes‹ ist, mit Heidegger, vom vulgären Atheismus abzurücken. Auch nicht zu verwechseln ist er mit der Position eines dogmatischen Atheismus. Sinngemäß ist von Nietzsches methodischem Atheismus zu sprechen, der bibelkritisch und naturwissenschaftlich inspiriert ist. Als guter Kantianer weiß er, daß Gottes Nichtexistenz unbeweisbar ist. Mit dem durchdringend erschütternden Wort vom ›Tode Gottes‹, das für viele
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Nachfolger Nietzsches willkommene Parole für einen naiven dogmatischen Atheismus wurde, hat er sich nicht angemaßt, über Dasein oder Nichtdasein Gottes befinden zu können. Vielmehr hat er im Formulieren dieser Parole wie in einem Paukenwirbel das heimliche und in seiner Sicht gefährliche Absterben des Gottesglaubens im Bewusstsein der Moderne aufzeigen wollen. Der rasche »Sieg des wissenschaftlichen Atheismus«, als europäisches Ereignis im 19. Jahrhundert steht für Nietzsche in Korrelation zum »Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott« (FW 357), den er, seiner Erschütterung gemäß, im dramatischen Wort fasst: »Gott ist todt!« (FW 125) 2a) Naturphilosophische Dimension des Gottestodes: die Dämonisierung des Schöpfergottes Nietzsche spannt geschichtsphilosophisch einen weiten Bogen: Auf Hegels »gothische Himmel-stürmerei« durch die Zentralstellung einer Vernunft, der die Wahrheit in ihrer ganzen, auf das Absolute, auf Gott hin, transparenten Totalität zugänglich ist, erfolgt als Gegenschlag ein »Sieg der antiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulativer Hypothese« (KSA 11, 252f.), so erklärt Nietzsche wohlabgewogen als Prä-Popperianer und zielt dabei auf den Sieg der Darwinisten. Im Einklang mit Kants Kritik der Physiokratie aber tituliert er den Physikalismus als die sinnärmste aller Weltinterpretationen; eine bloß »mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt!« (FW, 373) Das methodische Ja und zugleich ethische Nein zum Mechanismus zeigt Nietzsches Spannweite. Als philosophische Alternative im Horizont Darwins kristallisiert Nietzsche die Frage heraus, ob die Welt, zum einen das Unbeseelte, zum anderen das Lebendige, besser als Zufallsgemisch von Urelementen, als ein blindes Spiel des Werdens oder durch Teleologie erklärbar sei. Seiner Vorliebe für Teleologie misstrauend, argumentiert Nietzsche für und wider das eine und andere Deutungsmodell. Es geht um die Gründe und Gegengründe, entweder naturalistisch ein anonymes Chaos oder theozentrisch Gott als letzten Seinsgrund anzunehmen. Gründet Natur in sich selbst, so ist die Seele nur deren Zufalls- oder Versuchsprodukt. Wenn Natur nicht, mit Hegel ausgedrückt, das Andere des Geistes selbst ist oder dessen wohlgeplantes, teleologisch geordnetes Produkt, sondern, wie bei Demokrit, ein ohne Vernunft, Geist oder Güte »Zusammengeschütteltes« (KSA 8, 106), so erhebt sich für Nietzsche in der Seele des Menschen die Angst, alles Dasein sei ohne Sinn und Ziel. Daher entwirft er grandiose Selbsttäuschungen, um sein Dasein als von jeher beschlossen und bejaht finden zu dürfen. Er versucht, so Nietzsches Religionskritik, am intensivsten in der Religion, das Elend seines Zufälligseins im Weltall verzweifelt zu leugnen.
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Die Gottesfrage hängt für Nietzsche zusammen mit seiner Sicht der Natur. Im Überblick auf Nietzsches Denkweg zeigt sich, dass der Verlust der Aristotelisch-Kantischen Teleologie der Natur, der den jungen Nietzsche als schockierende Evidenz überfiel, sein Grabes-Glockengeläut auf Gottes Tod mit eingeleitet hat. »Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus« (KSA 7, 461),13 so notiert er, die fortan auszudenken zum peinigend auferlegten Programm für ihn wird. Durch seinen neuen Darwin’schen Blick in die Methode der Natur, höheres Leben durch »Trümmerfelder« von misslungenen Individuen (KSA 7, 460), durch millionenfaches Sterben der Schwächeren, zu erringen, ist der Schöpfergott dämonisiert. In Nietzsches Vorstellung, der Mensch sei in Wahrheit ohnmächtiger Spielball von gnadenlosen Welttendenzen, liegt der böse Koinzidenzpunkt von darwinistischem Zufallskonzept und archaisch-heidnischem Gedanken einer Treulosigkeit Gottes.14 Die Seele findet sich dann im Schatten des Deus absconditus vor, der in antiker Religion Ananke, naturphilosophisch Zufall heißt. Der im Vergleich zum christlichen väterlichen nun unheimlich und fremd gewordene verborgene Gott gewinnt für Nietzsche dämonische Züge, insofern er als der mögliche zwielichtige Initiator, ja auch Promotor des grausigen Daseinskampfes gemäß dem Darwin’schen Prozess der Selektion in Blick genommen wird. Erschütternden Ausdruck verleiht Nietzsche dem Sichsuchen der Seele, das zu einem zerstörerischen Sich-selbst-Verlieren wird, in dem Dithyrambus: Zwischen Raubvögeln (KSA 6, 389ff.). Die noch lebende Seele sieht sich von ihren eigenen Kadaverjägern umlauert. Innere wie äußere Realität, das ›Ganze‹ des Seins, wird vom zerbrochenen Spiegel Ich dysteleologisch als Chaos und Abgrund der Angst wahrgenommen. Der Mensch steht überall sich selbst nur noch als einem Zufallsprodukt anonymer Natur gegenüber. Moralkritik, wonach das Unegoistische unmöglich ist und Gut und Böse keine Gegensätze sind, negative Theodizee, wonach ›Gott widerlegt‹ sei, weil alles Geschehen als ohne Güte erscheint, und Hypothesen zur grausamen Art der Lebensentstehung bilden für Nietzsche einen Kontext.
13 Zum Darwinismus-Komplex in Nietzsches Philosophie vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 201-350. 14 Mit Hölderlin verbindet Nietzsche von früh an die (auch existentielle) Frage nach Gottes Treue oder Untreue. Wie Hölderlin, und zwar mit Reminiszenzen an die Trinitätsidee, verlegt er eine Tragik ins göttliche Sein selbst. Der Dichter und der Denker, beide suchen v.a. in der Spätzeit eine höhere Einheit von Jesus und antiken Göttern. Vgl. dazu Edith Düsing: »Schöpferisches Zerbrechen der Vernunft (fascinosum et tremendum)? Nietzsches Nähe zu Hölderlin im Thema Gotteserfahrung«, erscheint 2013 in dem geplanten Band: Edith Düsing: Gottesfinsternis und veruntreute Seele.
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»Die Widerlegung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.« (KSA 11, 624) Zu Gottes Gottheit gehören für Nietzsche zentrale Eigenschaften, die aus der Tradition des christlichen Abendlandes stammen: Liebe, Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, Allmacht. Als Prädikate des Welturhebers müssen sie miteinander kompatibel sein. An dieser, von Leibniz erhobenen Konsistenzanforderung jedoch scheitert in Nietzsches Sicht die Konzeption des Gottesbegriffs. Zarathustras Provokation: »Könntet ihr einen Gott denken?« (KSA 4, 109) wird implizit negativ beantwortet wegen der Unvereinbarkeit maßgeblicher Eigenschaften. So sind auch rätselhafte schwarz-humoristische Notizen zu dem zerfallenden Gottesbegriff deutbar: »Freude, überall die Immoralität wieder zu entdecken«; »›Hunger‹ im Protoplasm«; »der Widersinn im Gottesbegriff: wir leugnen ›Gott‹ in Gott«, so spricht prototypisch »der praktische Nihilist« (KSA 13, 210f.). 2b) Ursachen von Gottes ›Tod‹ im Zarathustra: Patripassianismus und Anti-Theodizee Der ›Teufel‹ ist es, der Zarathustra in zwei markanten Sätzen Ursachen von Gottes Tod offenbart: »›Auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.‹« »›Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.‹« (KSA 4, 115) Deshalb wird ironisch vor dem Mitleiden gewarnt, wenn nicht einmal Gott dieses, ohne zugrunde zu gehen, durchstehen kann. Im Gespräch mit dem Papst entlockt Zarathustra jenem die innersten Gedanken, fragt ihn, der am meisten Gott geliebt und nun »am meisten auch verloren« hat, »wie er starb?« Ist es wahr, »dass ihn das Mitleiden erwürgte, – dass er es sah, wie der Mensch am Kreuze hieng, und es nicht ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hölle und zuletzt sein Tod wurde?« (KSA 4, 323) Die Teufelsenthüllung vertiefend, hebt diese Gottestodergründung auf das Kreuz und die trinitarische Dimension ab. Gottvater stirbt aus Empathie mit dem Sohn, dem ecce homo. Das soteriologische Motiv von Gottes leidender Menschenliebe ertönt. Nietzsches Phantasie erinnert die original christlichen Motive von innertrinitarischer Liebe und Gottes Heilsplan für die Menschen; aus der Perspektive von Jesu Bewusstsein intoniert er das Thema von Gottes Leiden: »Er [Jesus, E.D.] liebte die Menschen, weil Gott sie liebt. Er wollte sie erlösen, um Gott zu erlösen. – Liebe zu den Menschen war«, so heißt es tiefsinnig, »das Kreuz, an welches er geschlagen wurde; er wollte Gott aus seiner Hölle erlösen: welche ist die Liebe Gottes zu den Menschen.« (KSA 10, 167) Den Streit der frühen Kirche, ob Gott leiden
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könne, entscheidet Nietzsche in freier Reflexion für die Patripassianer.15 Er notiert 1882/83: »Ein Ebräer Namens Jesus war bisher der beste Liebende.« (KSA 10, 159) Nicht Gottes Existenz ist Nietzsches Problem, sondern die nur schwierig glaubbare Güte Gottes. Das Herumschikanieren mit absurden Folgerungen aus der Prämisse, er sei doch gütig, bis an die Grenze des Surrealistischen: die Selbstaufhebung des causa-sui-Seins Gottes aus ohnmächtigem Erbarmen mit seiner Kreatur, liefert dafür starke Indizien. Die Güte-Hypothese führt Nietzsche ad absurdum; sie ist die zumeist ihm sympathische. Dagegen steigert er den das Schlimmstmögliche als real setzenden Verdacht, Gott existiere als gnadenloser Tyrann. Auf ein grausiges Geheimnis deutet Zarathustra im Gespräch mit dem Papst hin, ihm zurufend: »Lass ihn fahren, er ist dahin. Und ob es dich auch ehrt, dass du diesem Todten nur Gutes nachredest, so weisst du so gut als ich, wer er war«! (KSA 4, 323) Die Skepsis im Gottesbild führt zum bittersten Mutmaßen: »Wie der Teufel zu Gott wird« (KSA 10, 27). Die schaurige Metamorphose Gottes, der als Schöpfer »Alles zu schön gemacht« hat, in den »Teufel«, erwägt Nietzsche in Ecce Homo (KSA 6, 351; vgl. auch Gen. 1,31). Nietzsches Zarathustra stellt uns vor ein schlimmes Entweder/Oder: A) Gott ist entweder das liebende Mitleid in Person und ohnmächtig, seiner Liebe die nachhaltige Auswirkung zu sichern. B) Oder Gott ist der tyrannische WillkürHerrscher, ein harter, rachsüchtiger »Zornschnauber« (KSA 4, 324). Für diesen Fall ist seine Haupteigenschaft summa potestas, aber ohne Liebe, Güte, Gerechtigkeit, Weisheit. Gott ist, polemisiert er, »ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm« (KSA 4, 110), ein Anklang an den Willkürgott, der mathematische Wahrheit ändert und Taten als unsittliche setzt. Es ist ratsam, sich davor zu hüten, bei Nietzsche monokausale Erklärungen zu suchen. In negativer Dialektik erprobt Nietzsche gern sich widerstreitende Erklärungsmodelle und hält die Entscheidung offen. In der einen Hypothesenreihe
15 Über den »Schmerz Gottes« im Angesicht von Jesu Kreuzesleid vgl. Hans Urs von Balthasar: Theologie der drei Tage, Einsiedeln: Johannes 1990, und Ders.: Theodramatik, Bd IV: Das Endspiel, Einsiedeln: Johannes 1994, S. 191-222. Für Karl Barth legt Christi Leiden das ganze Wesen Gottes aus, der aus Liebe sein Teuerstes hingibt und, was Christus erleidet, miterleidet. Solches Miterleiden Gottes gehört für Barth zentral zum Geschehen von Gethsemane und Golgatha, vgl. Karl Barth: Kirchliche Dogmatik, Band IV/3, Zürich: Evangelischer Verlag 1959, S. 478. – Zu den Patripassianern vgl. Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983 (Nachdr. d. 4. Aufl. 1909), hier Bd. I, S. 206f, 596ff; Bd. II, S. 404ff.
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hebt er ab auf die Dämonisierung Gottes zum Deus malignus. In der anderen umreißt er in kühner Phantasie eine philosophische Theologie der Ohnmacht eines vielleicht gütigen Gottes, bis hin zur Idee der Patripassianer, Gott selbst sei aufgrund seines trinitarischen Einsseins mit Jesus gestorben.16 So spielt er alle Möglichkeiten von der dämonistisch übersteigerten Allmachtshypothese bis zur übersteigerten Ohnmachtshypothese durch. Letztere wandelt er ab in die surrealistische Variante eines verzweifelten Suizids Gottes oder einer transzendenten Passion des ›Vaters‹, der analog zur Passion des Sohnes aufgrund seiner Agape selbst den Tod erleidet, und zwar im alles durchschauenden Anblick a) seines sinnlos sich opfernden Sohnes, b) der machtvoll sich konstituierenden Kirche,17 die bald von ihrer Nachfolge des ›Sohnes‹ entfremdet, von dessen Liebe abgefallen ist, c) der Menschen in ihrer unaufhebbaren Hässlichkeit. Zum Zweck einer Lösung der Theodizeefrage,18 deren gordischen Knoten die Inkompatibilität wesentlicher Gottes-Attribute ausmacht, erprobt Nietzsche zwei Varianten, die beide die Existenz Gottes voraussetzen, seine Essenz jedoch in je extreme Prädikationen abwandeln: Der grausame Gott ist ethisch zu verachten. Der liebende Gott, der im Wesen Agape (Misericordia) ist, muß in Anbetracht real existierender ›Teufeleien‹ in Natur- und Menschengeschichte ohnmächtig sein, seiner Retterliebe Wirkung zu verleihen. Die ontologische, theologische, ethische Kardinalfrage lautet, »wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge« reiche (KSA 11, 699). In dieser Kernfrage liegen die erörterten widerstreitenden Gottesvorstellungen als verborgener Sprengsatz. Das alte »absurde Vertrauen« in eine »Leitung der Dinge sub specie boni« weist er ab (KSA 12, 457). Nietzsches Begriff vom ›Tod Gottes‹ hat im Zarathustra eine christliche und eine antichristliche Sinndimension; die christliche ist patripassianisch, die antichristliche liegt in der Mutmaßung, das Projekt göttlicher Liebe sei tragisch ge-
16 Adolf v. Harnack weist darauf hin, daß modalistische Monarchianer – zum Zwecke der Wahrung des Monotheismus – den Erlöser Christus als den fleischgewordenen Vater selbst aufgefasst haben (A. von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I, S. 734-747). Tertullian spricht von der »Kreuzigung«, vom »Fleisch«, ja »Tod Gottes« (vgl. ebd., Bd I, S. 206ff.). 17 Die an Liebe erkaltete Kirche nennt er den »Stein am Grabe eines Gottmenschen«, den eigentlich ein Engel Gottes weggewälzt haben soll (s. Matth. 28,2), denn »sie will, daß er nicht wieder auferstehe« (KSA 10, 119). 18 Zu Nietzsches Ringen um die Theodizee und ›Gottes Tod‹ darin, vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 424-495.
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scheitert: a) selbst wenn Jesus Gottes ›Sohn‹ war, misslang ihm die Erlösung; b) der Deus absconditus ist ein grausamer Tyrann, ein Jesus unbekannter Gott.19 Nietzsche nennt die Morgenröte und Die Fröhliche Wissenschaft als vorab verfasste Kommentare zu Zarathustra (KSB 6, 496), Zarathustra wiederum Vorrede, »Vorhalle« oder »Zwischen-Akt« seiner Philosophie, deren Hauptbau aber noch ausstehe (KSB 6, 485, 499) und der ungeschrieben blieb. Der Autor spricht jedenfalls dem Werk Die Fröhliche Wissenschaft einen hohen Deutungsrang zu. 3) Gottes Tod in der Parabel vom ›tollen Menschen‹ – »wir erwachen als Mörder« Die erstmals in Die Fröhliche Wissenschaft (FW, 125) publizierte Formulierung: »›Gott ist todt‹« ist keine atheistische Propagandaparole, sondern die pathetische Formel vom Niedergang des christlichen Glaubens. In Entwürfen zum Nihilismus skizziert Nietzsche, wie für ihn ein ›Sterben‹ Gottes gleichbedeutend ist mit der skeptischen Aushöhlung der Glaubwürdigkeit seiner wesentlichen, in der christlichen Tradition formulierten Eigenschaften. »Das Christenthum an seiner Moral zu Grunde gehend. ›Gott ist die Wahrheit‹, ›Gott ist die Liebe‹, ›der gerechte Gott‹ – Das größte Ereigniß – ›Gott ist todt‹ – dumpf gefühlt« (KSA 12, 129). Nietzsche erhebt solches dumpfe Fühlen zu rücksichtsloser Bewusstseinsklarheit. Die Negation – der Tod Gottes – steht in Zusammenhang damit, dass mit dem bisher geglaubten guten christlichen Vatergott ein unmoralischer Welturheber unvereinbar ist, dessen durchgreifende Realität Nietzsche – weit mehr als Gottes Nichtsein – glaubt befürchten zu müssen. Wenn Gott nicht die Wahrheit oder nicht die Liebe oder nicht gerecht ist, dann gibt es diesen ehemals als Gott Geglaubten, Geliebten und Anerkannten nicht, dann existiert er aufgrund furchtbarer neuer Entdeckungen nicht mehr, d.h. der vormals als so lebendig gekannte Gott ist ›tot‹, ›gestorben‹, ohne wiederzuerstehen wie Jesus im Evangelium. Aus Dostojewskis Dämonen exzerpiert Nietzsche: »›Fühlen daß Gott nicht ist und nicht zugleich fühlen, daß man eben damit Gott geworden ist, ist eine Absurdität.‹« (KSA 13, 145) Als Titel, zugleich erschließende Idee steht über den Exzerpten: »Die Logik des Atheismus« und das programmatische Wort: »Die absolute Veränderung, welche mit der Negation Gottes eintritt«. Die »alte Werthungs-Welt«, die theonom war, ist »umgeworfen« (KSA 13, 143). Ontologisch ist die Rede von Gottes Tod, urteilslogisch ist die von der Negation Gottes konnotiert. Nietzsche charakterisiert als die »klassische Formel« des Atheismus:
19 Nietzsches Beziehung zu Jesus und sein antichristliches Jesusbild erörtert E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 167-198.
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»›Ich bin gehalten, meinen Unglauben zu affirmiren«. Was ist, so fragt beschwörend der Selbstmörder Kirillov, die Geschichte der Menschheit? »›Der Mensch hat nichts gemacht als Gott erfinden, um sich nicht zu tödten. Ich, als der Erste, stoße die Fiktion Gottes zurück‹« (KSA 13,144) »›Ich will mich tödten, um meine Insubordination zu beweisen, meine neue und schreckliche Freiheit‹«! (KSA 13, 145) Das Erlaubtsein von allem nach Gottes Tod und die suizidale Komponente sind hochbedeutsam. Der Philosoph konnte bei dem grandiosen Romanautor eigene Schlüsseleinsichten wiederfinden. So wie es für Aristoteles charakteristisch ist, Gott als den unbewegten Allesbeweger zu denken, so für Nietzsche, dass der ›tolle Mensch‹ verzweifelt Gott sucht. Die Titelfigur im Aphorismus »Der tolle Mensch« (FW125) bekundet dieselbe schwere Beunruhigung, Gott verloren zu haben, die Nietzsche als Denker und Person existentiell beseelte.20 An ihrem Schluss steht das Programm einer Umwertung aller Werte, wie in einer Notwehrhandlung. Bleibt das Resultat seines Nachforschens nach Gott auch negativ, so unterscheidet sich der ›tolle Mensch‹ von den Alltags-Atheisten, die Gott durch ihre Gleichgültigkeit getötet haben. Sie halten seinem Fragen nach Gott Spott entgegen. Wahnsinnig ist der tolle Mensch im Sinne der Platonischen guten theia mania (vgl. Phaidros, 244ff.), des prophetischen und kathartischen göttlichen Wahns. »Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter […] Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er. ›Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den
20 Heidegger sieht im tollen Menschen Nietzsche selbst, der, so erwägt er, in dieser Gestalt als »Denkender […] de profundis geschrieen«, d.h. leidenschaftlich Gott gesucht hat. (Martin Heidegger: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: Ders.: Holzwege, 4. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann 1963, S. 246) Nietzsches Wort: ›Gott ist todt‹ ist für Heidegger »kein atheistischer Lehrsatz« (Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen: Neske 1961, Bd. 1, S. 183). Die Vorstufe zu FW, 125 lässt ein noch stärkeres Klagelied auf Gottes Tod verlauten und den Kältetod der Humanität als Folgelast. Enthüllt wird die sublime Täuschung leerer Autonomie im hybriden Glauben, der Platon und Johannes vergessen will, wir selbst seien das Licht und das Leben (vgl. KSA 9, 631f.). – Zu Gottes Tod vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 424-505, zur Vorstufe FW 125 ebd., S. 477f.
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Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?« (FW, 125)
»Das Heiligste«, Gott, der absolut Heilige, verblutet. Im Vorwurf des Gottsuchers an die Agnostiker, die am Ort der Anbetung des Mammon in Gerüchte und Geschäfte eintauchen (»ihr seid es, die Gott getötet haben«), klingt Petri kühne Rede nach: »Ihr habt ihn [Jesus, E.D.] […] getötet« (Apg. 2,23), hier aber ohne Hoffnung auf sein Auferstehen: Er »bleibt todt«. Wie bei Jesu Kreuzigung eine Finsternis über das Land kam (Mk. 15,33), der Kosmos also gleichsam mittrauert, begleitet in Nietzsches Parabel eine kosmische Katastrophe den Tod Gottes. Die Kategorien zur Beschreibung versagen im Versuch, die verheerenden Folgen des Gottestodes auszuloten; das Universum implodiert und explodiert. Gottes Sterben heißt Losbinden der Erde von ihrer Sonne: Symbol des Heiligsten, göttlich Guten oder höchsten Seins; ohne das Agathon ist alles nichts wert. Dass Nacht hereinbricht, symbolisiert den Verlust der Wahrheit, die Kälte den Verlust der Liebe. Nietzsche stellt vor die eine Wahl: Gott oder das Nichts! Der Mensch erleidet im Gottestod totalen Orientierungsverlust, es ist ein richtungsloses Fallen; er weiß nicht mehr, woher er kommt, wohin er geht, wer er ist. Der visionäre ›tolle Mensch‹ ruft eine Frage als Diagnose aus: »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« Das Agathon als Maß aller Maße ging verloren, das die Güte des Seins verbürgt. Das der Form nach kategorische Urteil »Gott ist todt«, dessen Inhalt eine Paradoxie, nämlich das Gestorbensein des Unsterblichen, darstellt, wird im vollen Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit dieses Wortes getroffen. Zu wenig Spezifisches enthielte die Deutung des ungeheuren Wortes, fasste man es nur als Krisenbewusstwerdung auf, etwa kulturgeschichtlich als Bilanzziehen für eine Epoche, die durch Gottesferne verfinstert ist, oder fasste man es nur psychologisch als Ausdruck persönlicher Existenznot auf. Den einzigen Hinweis, mit dem sich
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in der Gleichnisrede etwas bestimmtes Reales assoziieren und – in einer Art kriminologischem Indizienbeweis – ein Motiv für die Tat (»Wir haben Gott getötet«) und der mögliche Tathergang rekonstruieren lässt, enthält die Wendung vom Verbluten des Heiligsten ›unter unsern Messern‹, die Mordwaffen in Gestalt von Seziermessern sind und auf die heiße Spur der kritischen Historie zurückführen. Im Jahre 1873 notiert Nietzsche in kurzer Zeit zweimal mit geringen Nuancen fast dasselbe, zuerst zum Thema Religion, dann Zur Zeitschilderung. Er deckt ein »Sterben« bzw. »Absterben« des Christentums auf, als dessen Ursache er »die kritische Historie« bestimmt. Das erste Notat beschließt streng, das Christentum sei »ganz der kritischen Historie preiszugeben«, das zweite vorsichtiger: »Das Christenthum ist sehr bald für die kritische Historie d.h. für die Section reif.« (KSA 7, 711, 751) ›Sezieren‹ und ›Vivisektion‹ sind aus der chirurgischen Medizin entlehnte Begriffe. Die »Geburtsstätte des Christenthums«, also das Leben Jesu (D.F. Strauß!), sei, nach abgeschlossenem wissenschaftlichen Erkenntnisgang, »zu Ende seciert« und damit »vernichtet« (KSA 1, 296ff.), so Nietzsches Alarmruf in der Betrachtung über die Historie. Die historische Kritik wird mit der »Section«, also dem kunstgerechten Öffnen von Leichnamen verglichen; gemeint ist ein erbarmungslos zum Tode führendes Analysieren von etwas bislang lebendig Gewesenem. Die Fröhliche Wissenschaft setzt in diesem kritisch-analytischen Sinn die Entdeckung, Gott sei ›tot‹, damit gleich, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist (FW, 343). Auf den einzig realen Sinn einer Mordtat am Ewigen verweist in der Parabel vom tollen Menschen (FW, 125) das blutbefleckte Messer historisch-kritischer Analyse des biblischen Gottes.21
21 Reinhard Gasser zeigt, wie Nietzsche »verheerende Folgewirkungen« aus Gottes Tod auf uns zukommen sieht, der ganze Horizont sich verdüstert, der Mensch in nie gekanntem Ausmaß sich selbst fragwürdig wird und als solchermaßen Verstörter dazu neigt, selbst eine Logik von Schrecken zu inszenieren (FW, 343). Vgl. Reinhard Gasser: Nietzsche und Freud, Berlin/New York: de Gruyter 1997, S. 498-501. Nietzsche rechne mit einer melancholischen Reaktion auf ›Gottes Tod‹, nicht nur mit zeitweiliger Trauer. Dazu stimmt Zarathustras ›Depression‹, als er des abgründlichen Gedankens der ewigen Wiederkehr inne ist (KSA 4, 205), die den bedrückenden Gottesnamen »circulus vitiosus deus« trägt, als das Sinnlose für ewig (JGB, 56). – Sigmund Freud hat, als Feuerbachianer, das Ende der religiösen Illusion befördert. Zugleich erblickt er psychoanalytisch – Nietzsches Tod-Gottes- und Nihilismusprognose schimmert hier durch, in welcher der Philosoph eine Labilisierung des gottverarmten Ich in der Tiefe und dessen Orientierungslosigkeit vorausgesehen hat –, dass seit der intellektuellen und existentiellen »Entkräftung« der (christlichen) Religion nur die wenigs-
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Vordergründig ist es die Sezierlust des menschlichen Verstandes, die, gemäß Nietzsches Schau, das ›Sterben‹ des christlichen Gottes auslöst,22 in psychoanalytischer Tiefenschärfe aber ist es die Strategie zur Verleugnung der eigenen Hässlichkeit, die den Spiegel des göttlichen Wortes stumpf macht, in welchem sie schmerzlich grell sichtbar sein würde.23 Der aufgeklärte Mensch seziert viel lieber den Spiegel, als dass er sich von ihm durchleuchten ließe, das ist des Freigeistes Durchblick. Der ›tolle Mensch‹ sucht offenbar Gott, er will demnach, dass Gott existiert. Dass er Gott nicht finden kann, erklärt er sich durch ein begangenes Verbrechen, das entweder selbstmörderische Konsequenzen zeitigt oder eine gottlose Vergöttlichung des Menschen herausfordert. Er beschließt seine Konfession eines gescheiterten Gottsuchers mit einer Zeitparadoxie: »›Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!‹ Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe«, also einen ergreifenden Totenklagegesang auf Gottes Tod. Zur Rede gestellt, habe er immer nur dies entgegnet: »›Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht« – wenn Christus nicht auferstanden ist – »die Grüfte und Grabmäler Gottes‹« sind? (FW, 125) Die Formulierung: »Gott bleibt todt« (FW, 125) – ebenso
ten Kulturmenschen fähig seien, ohne Anlehnung an Andere zu existieren. Daher rühre die Zunahme der Neurosen. »Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen.« (Sigmund Freud: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Band VIII, Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 109.) 22 So zeigt der Autor der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, wie die Humanität gefährdet wird durch Isolation der kritischen Historie aus dem Sinngefüge, in das sie mit der antiquarischen und monumentalischen Historie gehört; die zweite schenkt durch liebevolles Bewahren des Vergangenen eine Rechtfertigung personaler Existenz aus ihrer Herkunft; die dritte transzendiert durch das Verehren dessen, was wert ist, ewig gültig zu bleiben, die Vergänglichkeit; die nur kritische aber führt zu Vivisektionen bis zum Tötungseffekt des von ihr Untersuchten. Das oft intonierte Motiv der Rechtfertigung gemahnt noch an Luthers Ernst der Suche nach dem gnädigen Gott. 23 ›Gottes Wort‹ mit dem Spiegel zu vergleichen, den man fliehen will (Jak. 1,23ff.), oder dem »zweischneidigen Schwert«, das Geist und Psyche trennt (Heb. 4,12f.; vgl. Offb. 1,16), dürfte Nietzsche geläufig gewesen sein. Die Art, wie »bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrechterhalten wird«, so rühmt er, indem er das verlorene objektiv Heilige perspektivisch zu heiligen Erlebnissen und zum Verehrungswürdigsten subjektiviert, sei das »beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt« (JGB, 263).
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wie Zarathustras Wort: »Nun aber starb dieser Gott! […] Seit er im Grabe liegt […]« (KSA 4, 357) – ist als schroffe Antithese zum neutestamentlichen Zeugnis zu lesen: Er, Jesus Christus, ist »wahrhaftig auferstanden« (Lk. 24,34). Im Vorentwurf zur Parabel vom ›tollen Menschen‹ heißt es: »Gott ist todt – wer hat ihn denn getödtet? […] den Heiligsten Mächtigsten […] Mord der Morde! Wir erwachen als Mörder!« (KSA 9, 590) So erinnert die letzte, schwerste Stufe in der Selbstbewusstwerdung des freien Geistes an Ödipus, der sich selbst als den von ihm gesuchten Mörder seines Vaters entdeckt. »Wie tröstet sich ein solcher? Wie reinigt er sich? Muß er nicht der […] heiligste Dichter selber werden?« (ebd.) Die Gottesfremde wächst grenzenlos, indem der ›tolle Mensch‹ im Entsetzen erwacht, sich selbst als Zerstörer des Ewigen in und über ihm entdeckt und überlastet findet mit der übermenschlichen Aufgabe, das Heilige autopoietisch neu zu schaffen. Von Zarathustra heißt es, er »versank in tiefes Nachsinnen. Endlich sagte er wie träumend: ›Oder hat er sich selber getödtet? Waren wir nur seine Hände?‹« (KSA 9, 603) Dieses Traumbild speist sich aus dem Evangelium (Joh. 10,18; Mt. 17,22), dass Jesus sich vom Vater in der Menschen Hände überantworten lässt, die sonst keine Gewalt über ihn hätten, erinnert Jesu Eins-sein mit Gott und die Wahrheit, nur Gottes Zulassen erlaubt Menschen, göttliches Sein ›töten‹. Die von Nietzsche in der Parabel gestaltete hohe Ambivalenz von Schmerz und Jubel über den ›Tod Gottes‹ speist sich nicht allein aus der ›Greueltat‹, die für rabiat freigeistig Denkende Stolz und für zarter Besaitete Abscheu hervorruft; sie ist auch originär religionsphilosophisch zu erklären: Dass der Gott der Liebe ›tot‹ ist, erweckt bitterliche Wehmut, ja tiefe Melancholie. Hingegen gilt dem ›Tod‹ des Tyrannengottes das Triumphieren der Selbstbefreiung aus knechtischem Joch. Nietzsches Reflexionen bezeugen, wie sein Entdecken des ›Todes Gottes‹ zunächst maximale Erschütterung auslöst. Er ist die Tragödie der Tragödien, der Mord aller Morde, maxima culpa ohne Trost und Vergebung, woran jeder nicht heroische Geist, der seiner Mittäterschaft inne ist, zerbrechen muss. Und weit um sich greifend, bricht die Hässlichkeit des Menschen hervor: »habt ihr ihn schon erfunden, den häßlichsten Menschen? Ohne Gott, Güte, Geist –« (KSA 11, 335). Im Zarathustra wird als der Täter des Gottesmordes in Tiefenanalyse »der häßlichste Mensch« identifiziert. Betroffen sucht Zarathustra ihm, in dem er ahnungsvoll sich erkennt, zu entrinnen. In Vorentwürfen erprobt Nietzsche, Zarathustra selbst als Mörder Gottes auftreten zu lassen, der infolge seiner Untat, wie Nietzsche in einer unheimlichen Vision ausmalt, von Gottestrümmern zermalmt wird. Nietzsche lässt Zarathustra im Gottesmord einen voluntaristischen Akt
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verüben gemäß dem Motiv: Ich will, dass Gott nicht sei! Er malt die Selbstbestrafung des Gottesmörders plastisch aus, des näheren, wie Zarathustra wegen Hybris von seinem Schatten-Ich gequält wird. Du »hobst dich hoch«, so »raunte er höhnisch«. »Du Mörder Gottes, du Überwundner, noch überwandest selber du deinen Mord nicht.« »Verurtheilt« bist du daher verzweifelt zu dir selbst. »Du Schleuderer, Stern-Zertrümmerer, langsam zermalmt durch Sternensplitter, [zersplittert und zerschleudert durch Gottestrümmer] – du mußt noch fallen!« (KSA 14, 309) Hochmut kommt vor dem Fall. In radikaler Ich-Einsamkeit droht der Verlust von Agape, Philia und Eros. »Du suchst Einen, den du lieben könntest und findest ihn nicht mehr? […] Dein glühendes Auge wird aber- und abermals den oeden Raum durchbohren – aber wo du auch suchst, […] wirst du ewige Oede finden […] du selber und dein glühendes Auge – ihr ja habt den leeren Raum also leer gemacht!« (KSA 14, 309)24 Das »glühende Auge« steht für die Leidenschaft der Erkenntnis, Anti-Theodizee und Gotteshass. Für den »Gottesmörder«, den »Verführer der Reinsten« und »Freund des Bösen« (KSA 13, 555), wird, wie im letzten Hauch antik-göttlicher Weltordnung, das hybride Sternzertrümmern zur Selbststeinigung; unaufhaltsames Fallen abgrundwärts wird ihm zugesagt, geistseelisch in den Abgrund der Melancholie; es ist ein Verdammtsein zu letzter Einsamkeit.25
24 Zur Bedeutungsverschiebung der Bilder vom Stein, der Zarathustra, Gott oder ein bloß Geworfenes oder alles dieses darstellt, zum Stein als Sinnbild des Geistes der Schwere und Schwermut, worin das Scheitern jedes Versuchs demonstriert ist, Gottes Tod – und für den Mörder Gottes, seine Tat – zu überwinden, vgl. Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröte bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York: de Gruyter 1997, S. 598ff. 25 Vgl. Edith Düsing: »Im Labyrinth des Zwischenmenschlichen. Nietzsches Negative Dialektik der Anerkennung«, in: B. Vogel/H. Seubert (Hg.), Die Auflösung des abendländischen Subjekts und das Schicksal Europas, München: Alitera 2005, S. 47186. Wolfram Groddeck zeigt anhand von Bedeutungskonfigurationen und -überlagerungen in der Zeit zwischen Zarathustra und spätesten Gedicht-Reinschriften zu »Zwischen Raubvögeln«, inwiefern und warum Zarathustra kein ›Gottesmörder‹ sein soll, vgl. W. Groddeck: Friedrich Nietzsche ›Dionysos-Dithramben‹, Band 2, Berlin/New York: de Gruyter 1991, S. 329-335. Der Änderung von ›Mörder‹ in »grausamster Nimrod« und ›Jäger‹ Gottes (vgl. KSA 6, 390) folgt, – auf die mißglückte Jagd, mithin auf den intendierten, nicht aber realisierten ›Mord‹ an Gott, – das lebensgefährliche Sich-selbst-Erjagen; »anders gesagt: Gott lebt«, – wobei diese brisante rhetorische Implikation keine Revision einer metaphysischen Position beweist. Der
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Im publizierten Text ist Zarathustra der kluge Analytiker des Gottesmordmotivs; am Ende wird seine Betroffenheit psychosomatisch deutlich, denn ihn »fröstelte bis in seine Eingeweide« (KSA 4, 331). »›Ich erkenne dich wohl‹, sprach er mit einer erzenen Stimme: ›du bist der Mörder Gottes! Lass mich gehn. – Du ertrugst den nicht, der dich sah – der dich immer und durch und durch sah, du hässlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!‹« (KSA 4, 328) Der ›hässlichste‹ Mensch wird im Zarathustra typologisch als der ›Mörder Gottes‹ demaskiert, der – so das erklärte Motiv seiner Tat – keinen Kronzeugen seiner Hässlichkeit und seines maximalen Selbstunwertes ertrug. Er verschob – gemäß Nietzsches Tiefenanalyse – seinen Selbsthass auf Gott, an dem er für sein eigenes Missratensein Rache verübte. Im Dionysos-Dithyrambus Zwischen Raubvögeln findet in der Zwiesprache Zarathustras mit sich selbst eine Verschiebung und Peripetie in gerade umgekehrter Richtung statt, von der mörderischen Gottesverfolgung hin zur Selbstzerstörung: »Jüngst Jäger noch Gottes«, jetzt aber von dir selbst erjagt, »Selbstkenner! Selbsthenker!« (KSA 6, 390) – so tituliert er sich in der Höllenfahrt seiner Selbsterkenntnis.26 Im Wort vom sich quälenden »Selbsthenker« klingt der von Nietzsche in der Spätzeit gebrandmarkte »Henker-Gott« an (KSA 6, 399), den er als grausam anklagt. So betont Nietzsche mit hohem Nachdruck die suizidale Konsequenz der Hybris, Gott zu töten.27
Raubvogel, der in der griechischen Sage die Hybris des Prometheus mit Qual bestraft, parodiert im benannten Dithyrambus »schadenfroh«, »mit irrem Gelächter« (ebd.). Zarathustras Lachen, sein Jasagen über die Abgründe hinweg, bis hin zur Andeutung evozierten Irrsinns. 26 Zur Gewissensqual, zum Selbst- und Gotteshass vgl. E. Düsing: Nietzsches antichristliches Paulusbild, S. 165-168. – Zum ›Sichverbrennen‹ in Selbsterkenntnis und zur Wahrheitsfrage vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, S. 261-282. 27 Im Aphorismus Zur Kritik der Modernität brandmarkt Nietzsche explizit die Hybris, die Gott, die Seele und die Welt betrifft (das sind die drei höchsten Vernunftideen bei Kant): »Nimmt sich unser ganzes modernes Sein« nicht »wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus«? »Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre NaturVergewaltigung mit Hülfe der Maschinen«; »Hybris ist unsre Stellung zu Gott, […] zu einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen FangnetzGewebe der Ursächlichkeit«; »Hybris ist unsre Stellung zu uns, – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ›Heil‹ der Seele!« (GdM III, 9)
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Im Zarathustra geschieht eine merkwürdige Ineinssetzung von Jesus und Gott, insofern der große Mitleidende, Christus, der das Mitleiden predigte und von sich, unbescheiden, zeugte: »›ich – bin die Wahrheit‹« (KSA 4, 330; vgl. Joh. 14,6), und der Alles Sehende, der allwissende Gott sterben mussten. Christus wird so in die Tötungsabsicht des hässlichsten Menschen gegen Gott, den allweisen Herzenskündiger, unmittelbar einbezogen. Getötet werden soll er wegen seines bedrückenden Allessehens, so die ›Beichte‹ der unerhörten Tat des gesichts- und namenlosen Gottesmörders. Gott wird offenbar von Jesus her gedacht und vice versa, Jesu wie Gottes Wesen aber verkürzt auf ein bedrängendes Alles-Sehen. »›Aber er« – patripassianisch wird in dem »er« Christus und Gott in einer Synopse zusammengedacht – »musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit.‹« »›Er sah immer mich: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben – oder selber nicht leben. – Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen: dieser Gott musste sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt!‹« (KSA 4, 331)28 In Vorentwürfen wird das geistseelische Profil des Gottesmörders erklärt: Sein »Trotz in der Selbst-Erniedrigung« bäumt sich so weit auf, bis er »tödliche Rache« am Zeugen seiner Schmach fordert (KSA 10, 555). Jesus den Über-Mitleidigen (KSA 4, 331) nennen heißt, daß Nietzsche ihn als Inkarnation von Schopenhauers Religion des Mitleids beurteilt. Daß auch dieser Jesus über Alles sehende Augen verfüge und bis ins tiefste Innere der Seele zu blicken vermöge, ist ein punktuelles Erinnern der Trinitätsvorstellung bzw. Jesu als vere homo et vere Deus. Insofern in frommer Bibellektüre Gottes Wort Beichtspiegel ist, worin der Leser sich prüft, heißt die Relativierung des Bibelworts jedermanns wohlfeile Entlastung vom Anblick eigner Hässlichkeit. 4) Nihilismus (oder Atheismus der Ideallosigkeit) als Gottestodfolge – mit Ausblick auf Heidegger »Irren durch ein unendliches Nichts« ist die erste Definition von Nihilismus, als Folge von Gottes Tod. Für Nietzsche gilt der Verlust des Vollkommenen, Heiligen, Ewigen und daraus entspringend der Verlust aller Werte, Ziele und Ideale
28 Ein Bild von Jesus als dem, der alles sieht (Joh. 1,48), findet sich in Notizen zum Matthaeus-Evangelium von 1863: Jesus wird bestimmt durch seinen Gegensatz gegen die, »die sich in ihren Werken an den Schein halten«, statt wie Jesus Herzensreinheit, Wahrheit und Feindesliebe zu leben. »Er sieht die Gedanken.« (BAW 2, 250ff)
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als irreversibel und endgültig. »Wer das Große nicht mehr in Gott findet«29, so erklärt er, der findet es gar nicht; er muß es leugnen oder selbst schaffen (KSA 10, 37). Ein trostloses Dahinleben ist der passive, eine neue Selbstwertsetzung der aktive Nihilismus. Der Nihilismuskomplex ist bei Nietzsche vieldimensional,30 insofern er in ihm Zukünftiges voraussieht, Zeitgeistströmungen analysiert und glühend seine eigene Zukunftsvision inszeniert. Nietzsche argumentiert in zuweilen durcheinanderlaufenden Gedankenlinien als Diagnostiker, als säkularer Prophet, als Kulturkritiker, als Sinnvakuumstherapeut und als biopsychischer Stratege. Die Nihilismus-Thematik zeichnet sich im Frühjahr bis Herbst 1881 ab, zu derselben Zeit, in der Nietzsche das Motiv vom ›Tode Gottes‹ erstmalig intoniert. Sinngenetisch sind Nihilismus- und Tod-Gottes-Thema dicht miteinander verwoben und vorbereitet durch Nietzsches Frage nach den tiefgreifenden »Umwandlungen«, die konsequent aus den freigeistigen Lehren folgen, dass 1) »kein Gott für uns sorgt«, dass 2) »es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistischunmoralische Menschheit)?«, unser Leben vorbeigeht, niemand uns zur Verantwortung zieht, dass 3) »wir Thiere sind« (KSA 9, 461). Der Nihilismus, europäisches Geistesdrama, erhebt sich 1) religionsphilosophisch aus der Lehre der Gottferne (Deismus oder Atheismus), 2) ethisch aus der Negation der Pflichtethik, die ein im Gewissen verlautendes Gottesgesetz lehrt, 3) naturphilosophisch aus dem Darwinismus. Das Aufbrechen des Nihilismus erklärt er vorrangig durch den »Untergang des Christenthums« (KSA 12, 125). Mit einem prägnanten Satz, der die Geschichte der abendländischen Metaphysik umgreift, und zwar die Lehre von Gott als ens realissimum et perfectissimum, von dessen Abglanz und Lichtüberfülle alles andere Seiende graduell, je nach Nähe oder Ferne vom Ursprung, ebenso Wahrheit und Güte empfängt, sucht er das Unheimliche des Nihilismus zu ent-
29 Das Große ist: a) das Agathon Platons, b) der akinetos panta kinei des Aristoteles, c) der Augustinische Drei-Eine in und über uns, d) Anselm: Deus est id quod maius et melius cogitari non potest, e) das ens perfectissimum des Thomas, f) Cusanus’ ultima linea universi, g) Kants drei Vernunftpostulate, h) das Erhabene bei Schiller. – Ambivalent ist Nietzsches spätes Wort: »›Christus am Kreuze‹ ist das erhabenste Symbol – immer noch« (KSA 12, 108), worin sich weniger Nostalgien verbergen als in eins achtungsvoller Respekt und zornige Kampfeslust. 30 Zum Nihilismus vgl. Edith Düsing: »Grundprobleme des Nihilismus. Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 33 (2007), S. 177-226. Zu Heideggers Aus- und Umdeutung von Nietzsches Verständnis des Todes Gottes und der nihilistischen Folgelast vgl. ebd.
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rätseln: Es ereignet sich als europäisches Schicksal ein »Rückschlag von ›Gott ist die Wahrheit‹ in den fanatischen Glauben ›Alles ist falsch‹« (KSA 12, 126). Die Schlüsselthese zur Aitiologie des Nihilismus lautet: Der Mensch kann eine von ihm existentiell eingenommene Position nicht ersatzlos streichen. Ein Vakuum- und Umkehr-Effekt tritt ein, dass nämlich das Verlorene und unbewusst weiter Ersehnte in pervertierter Gestalt wiederkehrt. So diagnostiziert er: »Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Werthungen, mit dem gleichen Maaße von Energie, mit dem wir Christen gewesen sind« (KSA 13, 69). Eine solche maximale Hochschätzung des Menschen in der Annahme eines ewigen Wertes jeder Person schlägt radikal um in die Behauptung einer sterblichen und wertlosen Seele.31 Die Heraufkunft des Nihilismus steht für Nietzsche schmerzlich bevor als Selbstbewusstwerdung des Menschen über seine eigene Sinnverarmung, als eine krisenreiche »allertiefste Selbstbesinnung« (KSA 13, 56), von der es fraglich sei, ob er sich je davon werde erholen können. Nihilismus ist das Gefühl totaler Sinnlosigkeit, weil alle überzeugungsmächtigen Ziele abhanden kamen. Wird aber der Kreis der überlebten und fallengelassenen Werte, so verbildlicht er, immer voller, so kommt dem Menschen »die Leere und Armut an Werthen […] immer mehr zum Gefühl« (KSA 13, 57). Nihilist würde der Philosoph sein, der »hinter allen Idealen des Menschen das Nichts findet«, die Lebenslüge oder »das Nichtswürdige, das Absurde, […] alle Art Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens.« (KSA 14, 427f) Was bedeutet Nihilismus? – »Daß die obersten Werthe sich entwerthen.«; »es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹« (KSA 12, 350) Das Sichentwerten der höchsten Dinge entspricht der Selbstaufhebungsfigur negativer Dialektik, die Nietzsche verwendet, hinter der die freigeistige Kardinaltugend intellektueller Redlichkeit steht, der gehorchend alles Erhabene auf seinen fragwürdigen dunklen Untergrund zu durchschauen ist. Unter Leittiteln wie »Zur Geschichte der modernen Verdüsterung« oder: »Der europäische Nihilismus« finden sich im Nachlaß Entwürfe zum Nihilismusproblem. In einer Synopse wird das ›Gott-ist-tot‹-Motiv als Ursache für viele Arten Pessimismus, für die Sucht zu verzweifeltem Andersseinwollen, zum
31 Vgl. Edith Düsing: »Von der Geistseele zur Tierseele des Menschen. Nietzsches Verabschiedung der Metaphysik der Seele«, in: H.-D. Klein (Hg.), Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 261291.
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Nein, Nichtstun, zu Rausch- und Vergessensbedürfnis enthüllt. »Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?« Es sei ein Irrtum anzunehmen, er beruhe auf »socialen Nothständen«, auf Korruption, seelischer, leiblicher oder intellektueller Not; denn solches alles rufe nicht eine radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Hoffen und mutbeseeltem Handeln hervor (KSA 12, 125f). Bedenklich sei eine merkwürdige Empfänglichkeit des Menschen für Weisen von Selbstbetäubung, um über die ungeheuere Leere, »Narcosen des Ekels an sich selber«, ein Elendgefühl, das von innen her rührt, und über das »im Innersten« nicht Wissen, »wohinaus?« hinwegzukommen (KSA 10, 660).32 Willensschwäche ist für Nietzsche das alarmierende Resultat. Er sucht gegen die Schwächung der Persönlichkeit, bedingt durch die für ihn irreversible Bezweiflung des letzten Trostes in der Religion, ein neues Zentrum. »Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft!« (KSA 10, 662) Diese Idee soll jedem Lebensdetail Ewigkeitsodem einhauchen. Nietzsche beklagt das Ende der Ehrfurcht und, unter dem Titel »Tagebuch des Nihilisten«, den heraufziehenden »Atheismus als die Ideallosigkeit« (KSA 13, 139). Im Gefolge des Todes Gottes steht die Vereisung menschlicher Lebenswelt in soziale Kälte und die Vereinsamung der Individuen, die dem Sirenenlockruf »kein Hirt und Eine Heerde« widerstehen (KSA 4, 20; vgl. Mk. 6, 39). Der grandiose Durchblick eines sensiblen religionsphilosophischen Erdbebenforschers ist zeit- und selbstkritisch: »Wir haben Gott getödtet« – jeder prüfe sich, wie, wo, warum, auf seine Motive: die Anbetung des Kritizismus, des Mammon, der Gesellschaft als Erlöserin oder der Physiokratie als Weltmodell, – und den Nihilismus selbst produziert, in dem wir, stetig fallend, uns verirrt haben. Nietzsches Position im Zarathustra, verdichtet in den Parolen: Gott sei tot, »der Übermensch sei der Sinn der Erde!« (KSA 4, 14) ist gewiß als radikal antireligiöse zu bestimmen. Unterdessen waltet bei dem Autor eine andere, unterschwellig eruptive Gedankenlinie des Kampfes mit Gott. Gemäß freigeistiger Logik des Verstandes ist er Atheist, in der Logik des Herzens der Gottesgequälte. Der vulkanische Glutkern in Nietzsches Tod-Gottes-Parole ist die Frage der Treue und Untreue Gottes. Die Wahrheit des Nihilismus, die religiös sein kann, ist, die Nichtigkeit alles Endlichen zu erblicken.
32 Paaren sich das große Mitleiden und der große Ekel am Menschen, so komme »etwas vom Unheimlichsten zur Welt«, pure Selbstverachtung als ›letzter Wille‹ des Menschen, Nihilismus als sein Wille zum Nichts (GdM III, 14).
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Das »paradoxe Mysterium« übersteigerter religiöser Grausamkeit wider sich selbst sucht Nietzsche auszuloten. Der Religiöse, der sich und alles Gott geopfert hat, verfällt darauf, Gott selbst aufzugeben. »Musste man nicht […] einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern?« fragt er (JGB, 55). Die Grundansicht des christlichen Abendlandes war, daß Gottes AgapeLiebe Ziel und Urgrund aller Dinge sei. Diese Annahme wird von Heidegger, der Schlüsselgedanken Nietzsches im 20. Jahrhundert wirkmächtig zur Geltung bringt, illusionslos aufgegeben.33 Angst ist die Grundbefindlichkeit des Menschen; der Mensch existiert laut Heidegger in der, wie er mit Nietzsche sagt, wesenhaften »Heimatlosigkeit« (HB 84f), in der »Unheimlichkeit«, im schlechthinnigen ›Un-zu-Hause‹ (GA 20, 402f). Die Angst offenbart uns unser Sein zum Tode, sie führt – nachdem von Platon bis Hegel die menschliche Seele als Gott ähnlich, ja unsterblich aufgefaßt worden war – bei Heidegger vom cogito sum zum moribundus sum (GA 20, 437f). Von Gott losgerissen, stürzt sie in ihre eigene Verweslichkeit. Der Mensch ist, so Heidegger, in die Welt geworfen als in eine »leere Erbarmungslosigkeit« (SuZ 343). Solches Los- und Leersein an Erbarmen ist ein christliches Theologoumenon in Gestalt seiner dezidiert verneinenden Absage. Dem, was bei Nietzsche der ›Tod Gottes‹ und die aus ihm entspringende Heimatlosigkeit bzw. der Sinnlosigkeitsaffekt ist, entspricht bei Heidegger die »Seinsverlassenheit« des Menschen. So wie es für Nietzsche der ›Tod Gottes‹ ist, der den Nihilismus auf den Plan ruft, so ist es analog für Heidegger der ›Seinsentzug‹, der die nihilistische Befindlichkeit des Menschen herbeiführt. Für ihn heißt Nihilismus, wie ihn Nietzsche bedacht hat, »daß alle Ziele weg sind« (GA 65, 138). Nietzsches Wort: »›Gott ist todt!‹« (FW, 125) bedeutet für Heidegger das nicht-mehr-Lebendigsein einer metaphysischen Welt und deshalb des in ihr Höchsten, alles Begründenden: Gott. Gottes Totsein deutet er als das Ende der abendländischen Metaphysik, von dem sein Denken den Ausgang nimmt. Er übernimmt bedingungslos Nietzsches Überzeugung, »daß wir«, im Unterschied zu allen Früheren, »die Wahrheit nicht haben« (KSA 9, 52), und besiegelt dessen
33 Siglen: GA 20: Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 3. Aufl. Frankfurt/M: Klostermann 1994; GA 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1989; HB: Über den ›Humanismus‹, in: Platons Lehre von der Wahrheit, 2. A. Bern: Francke 1954, 53-119; SuZ: Sein und Zeit, 12. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1972.
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geschichtsphilosophische Konstruktion des unabwendbaren Zerfalls übersinnlicher Werte gemäß Nietzsches Motto: »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde«. Der Angst erregende Entzug des Seins, der schicksalhaft verhängt sei, und die ihm entsprechende Seinsvergessenheit, die von Menschen getätigt wird, dürften bei Heidegger in ihrer inneren Fundierungsordnung ähnlich geheimnisvoll zueinander stehen wie Zarathustras Schwindel erregender (vgl. KSA 4, 110), d.h. unglaubwürdiger Willkür-Gott zum Gottesmord des hässlichsten Menschen bei Nietzsche, der durch seine Gewalttat die Gottesverlassenheit als unwiderrufliche besiegelt, um den Zeugen seiner Hässlichkeit auszulöschen und eine neue Unschuld zu erträumen.
»Wir setzen uns mit Tränen nieder« Hans Blumenberg als Hörer der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs N ICOLA Z AMBON Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist. W. BENJAMIN, ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE
Deine Neigung, Freund, dem Objektiven, der sogenannten Wahrheit nachzufragen, das Subjektive, das eine Erlebnis als unwert zu verdächtigen, ist wahrhaft spießbürgerlich und überwindenswert. […] Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? T. MANN, DR. FAUSTUS
Es gibt Fragen, die uns nicht loslassen und uns, unlösbar, ein Leben lang beschäftigen. Für Hans Blumenberg (1920-1996) war eine dieser Fragen jene nach Gott. Blumenberg ist zwar katholisch erzogen worden, entfernte sich jedoch zunehmend von der Kirche und vom Glauben. So überraschend es scheinen mag, veröffentlicht dieser als Skeptiker berühmt gewordene Philosoph am Ende seiner akademischen Karriere ein Werk, in dem er mit der latent nachwirkenden Frage
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nach Gott fertig zu werden sucht. Zugleich bietet der Text eine der wenigen Passagen, in denen Blumenberg sich autobiographisch äußert. Ich spreche von seiner Matthäuspassion (1988): »In der Aula der alterwürdigen Schule, der schon Thomas Mann die Ehre vorenthalten hat, sie bis zum Abschluß zu besuchen, stand an der Stirnseite über der Orgel und den Bildnissen der Reformatoren Luther und Bugenhagen – dessen als des Verweltlichers der einstigen Klosterschule – in gotischen Lettern der Bibelspruch: Die Furcht des Herren ist der Weisheit Anfang.«1
Eine Furcht, die der Schüler Hans nicht als jene des Menschen vor Gott verstanden hatte, sondern als die Furcht, die Gott selbst vor seinem eigenen Geschöpf und dessen Ebenbildlichkeitswunsch empfinden musste. Offenbar ein Missverständnis, das allerdings, laut Blumenberg, Tenor seiner theologischen Einstellung geblieben ist, bis hin zur Matthäuspassion, dem enigmatischen Buch, von dem hier die Rede sein wird. Auf den folgenden Seiten werde ich zeigen, inwiefern die Passionsmusik Bachs und vor allem das ästhetische Erlebnis ihrer Rezeption Aufschluss darüber gibt, ob und wie unsere ›nachchristliche Zuständlichkeit‹ einen Zugang zur Gottesfrage (noch) finden kann (I). Davon ausgehend erläutere ich das rezeptionsphänomenologische Prozedere von Blumenbergs Metaphorologie, sowie dessen Strategie und Ziele (II). Im Rückblick auf Nietzsches Diktum vom Tod Gottes deute ich Blumenbergs Umgang mit der Matthäuspassion als anamnestisches Nachleben Gottes in der Neuzeit (III). Abschließend nehme ich die kritische Einstellung Blumenbergs gegenüber Nietzsche zum Anlass, um der Frage einer möglichen Wiederkehr Gottes in der Neuzeit nachzugehen (IV). I. ›Kryptische Unkenntlichkeit‹. Ästhetische Aneignung der Passionsgeschichte Im Kern ist die Matthäuspassion Hans Blumenbergs eine kritische Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, die aber nur aufgrund eines ästhetischen Erlebnisses stattfinden kann. Denn diese Konfrontation wäre nicht denkbar gewesen ohne die Wirkung der Musik Bachs zunächst auf den Menschen, dann auf den Philosophen Blumenberg, dem die Passionsmusik lebens-
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Hans Blumenberg: Matthäuspassion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 28 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle MP).
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weltlichen Anlass bietet, die plastische Kraft religiöser Denkfiguren zum Ausdruck zu bringen. Mit der Musik Bachs wird einer Gemeinde von Gläubigen und Ungläubigen ein Geschehen vorgeführt, auf das sie sich einlässt, und zwar trotz aller theologischen Unverständlichkeiten, die die Aufführung dem modernen Hörer zumutet. Denn der Gott der Passion – so die Situation, von der Blumenberg ausgeht – kann nicht mehr der unsere sein: Die theologischen Prämissen, auf denen die religiöse Virulenz der Matthäuspassion beruht und die für die Zeitgenossenschaft Bachs nicht nur selbstverständlich waren, sondern ihrem lebensweltlichen Horizont selbst innewohnten, sind uns unzugänglich geworden. In der biblischchristlichen Passionsgeschichte verlangt ein Gott, der von seinen Geschöpfen und deren Sünden übermäßig erbittert wurde, den Tod seines eigenen Sohnes als einzig mögliches Opfer, das ihm Genugtuung für seine Beleidigung zu bieten vermag – ein Opfer, das uns als »erbitterte Forderung nach einer unfasslichen Sühne« (MP, S. 14) erscheint: eine uns entfernte, ja befremdliche Vorstellung, die sich mit nichts Vertrautem aus unserer Lebenswelt mehr verbinden lässt. Denn verlorengegangen sind nicht nur die Glaubensprämissen, die sich in der christlichen Welt um den Tod des Gottessohnes gebildet hatten wie ein Kristall um einen Kern, sondern vor allem der Horizont, der die Bedeutsamkeit dieser Bildwelt zu evozieren vermochte. Denn wer glaubte heutzutage noch, so die impertinente Frage Blumenbergs, dieser Gott habe sich für unsere Sünden geopfert? Ist die in der Matthäuspassion implizierte Theologie uns rätselhaft geworden, so liegt dies laut Blumenberg allerdings nur z.T. an der christlichen Traditionsgeschichte. Die sich abzeichnende Kluft zwischen der modernen Lebenswelt und der christlichen Theologie ist vielmehr das Resultat einer Zäsur, welche die Aufklärung und die kritische Methode hinterlassen haben. Die Bibelkritik hat an den theologischen und metaphysischen Dissonanzen, ja Widersprüchlichkeiten der Passionsgeschichte gearbeitet und ihr dabei jene Konsistenz genommen, die ihr durch eine ausdauernde und jahrhundertlange Rezeption zukam. Eine Konsistenz, die nie auf theologischer Widerspruchsfreiheit beruhte, sondern vielmehr auf der Einheit des Gefüges ihrer narrativen Materialien: »Zitat an Zitat, Bild an Bild« wurde sie gefügt, als ob die Gottesgeschichte eben doch die Geschichte »eines einzigen Urhebers gewesen wäre, der sich nur aus zweckmäßigen Gründen so vieler Sprecher, so sich vermehrender Quellen, Urquellen und Bearbeiter bedient hätte.« (MP, S. 21) Will man den theologischen Sinn der Passionsgeschichte erfassen, so setzt dies eine gewisse Sinneinheit der Erzählung ebenso wie eine Einheit von Autor und Subjekt der biblischen Narration, nämlich Gott, voraus. Denn »Fragen von
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theologischem Rang können aus der Beschäftigung mit der Bibel nur hervortreten, wenn deren ›Subjekt‹ als Autor, da sonst von ihm nichts zu wissen wäre – auf seine Identität festgelegt wird.« (MP, S. 24) Ansonsten bliebe nur eine heterogene Sammlung disparater Materialien und narrativer Fragmente, die kein Verständnis ermöglichen. Wo eine solche Identität von Autor und Subjekt der Erzählung fehlt, dort ist es unmöglich, die Passionsgeschichte zu erzählen und deren Prägnanz gelten zu lassen. Gerade dies wurde durch die kritische Methode destruiert: die Möglichkeit, die Texte der Tradition noch als Text lesen zu können, d.h. aus den Geschichten der christlichen Tradition die eine Geschichte entbinden zu können. »Der Leser, auch der unfromm gesonnene, ist das Opfer der Zerfällung in immer neue Autorschaften, weil ihm die Grundleistung jeder Leserschaft, die Diskontinuität des faktischen Substrats mit den subjektiven Eigenmitteln zu überwinden und sich ein Gegenüber von ›Subjekt‹ zu schaffen, streitig gemacht wird.« (MP, S. 22)
Laut Blumenberg sind die narrativen Materialien längst zu bloßen historischen Dokumenten, bzw. zu Reliquien einer Wahrheit geworden, die keine Signifikanz oder keinen Wert für die heutige Zuständlichkeit mehr haben kann. Gleichwohl besitzen »die Bilder und Gleichnisse, die heiligen Geschichten und Reden, die Sprüche und Choräle der Bachgemeinde, die aus unserem Horizont entschwunden« (MP, S. 8) sind, zugleich eine Prägnanz, die sich ihrer Rezeptionsgeschichte verdankt, aller theologischen Unverständlichkeit zum Trotz. Diese Aura kommt den Texten der Tradition kraft der »Mittäterschaft der Zeit« (MP, S. 37) zu und hat nur bedingt mit der Wahrheit der frohen Botschaft zu tun, die in ihr offenbart wird. Muss man, so scheint Blumenberg sich zu fragen, auf dieses narrative Material der Tradition endgültig verzichten und sich mit der kerygmatischen Armut theologischer und metaphysischer Lesarten bescheiden? Und wenn nicht, unter welchen Voraussetzungen sind die biblischen Texte noch als Text lesbar? Aber auch andersherum: Warum sollten das narrative Material der Bibel und die Passionsgeschichte weiterhin für uns zugänglich sein? Müssten wir über diesen Verlust an dogmatischer Unterstellung nicht eigentlich erleichtert sein? Und überhaupt: Sollte das alles nicht bereits selbstverständlich, ja obsolet, redundant geworden sein, zumal nach dem Ende Gottes, nach seinem Tod? Mag sein. Aber allen Aporien zum Trotz wächst laut Blumenberg bei dem modernen Hörer gerade kraft der Musik die Bereitschaft, den verlorenen, fremdgewordenen Gott trotz der Distanz als den eigenen anzunehmen, wenn auch nur für die Dauer der musikalischen Aufführung. Der Musik gelingt es, den Vollzug
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der Passionsgeschichte zu vermitteln, nicht indem sie vom Hörer zu glauben fordert, aber doch »für Stunden wenigstens, zuzugestehen, einzuräumen, gelten zu lassen.« (MP, S. 35) Musik – und Kunst überhaupt – hat mit der Empfänglichkeit für Allegorien und Mythen, Symbole und Bilder, also kurz: mit der Unbegrifflichkeit zu tun. Sind die Glaubensprämissen der Passion nicht nur historisch geworden, sondern in »kryptische Unkenntlichkeit«2 versetzt, so ist der ästhetische Reiz, oder der gute Geschmack, wie Blumenberg provozierend behauptet, die einzig plausible Bedingung für den modernen Menschen, sich auf ein Geschehen wie das der Passion einzulassen.3 Ein Geschehen, dessen Bedeutsamkeit nur in kirchlichen Räumen, in Gemälden oder eben in der Musik latent bewahrt wird und zugleich nachzuwirken vermag. Blumenberg hat bereits in seinem Aufsatz Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott (1954) ausdrücklich für eine erneute Aneignung dessen plädiert, was er ›physiognomisches Moment‹ der Religion nennt: »Die Religion bedarf zutiefst eines Gesichtes, sie verzagt vor dem physiognomisch Unfassbaren, vor dem, was zu ›rein‹ ist, als daß es Gestalt annehmen, ›Fleisch werden‹ könnte.«4 Diese Behauptung trifft auch auf die Matthäuspassion zu: Nach Blumenberg war und ist die Religion immer noch ein lebenspraktischer Vollzug, bei dem das Unbegriffliche als Mittel dient, die Kontingenz unserer Existenz zu verarbeiten, indem sie »jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen«, wenn auch nur vorläufig, zu beantworten vermag, »deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund vorgestellte vorfinden.«5 Gegen Kant, der diese Art Anthropomorphismus vom reinen Vernunftglauben überwunden sehen wollte, argumentiert Blumenberg, dass Gott eines Vehikels bedarf, um ›wirklich‹ sein zu können.
2
Vgl. Anselm Haverkamp: Begreifen im Bild. Methodische Annäherung an die Aktua-
3
Vgl. H. Blumenberg: Matthäuspassion, S. 9: »Es ist Sache seiner [des Hörers; N.Z.]
lität der Kunst, Berlin: August 2009, passim. Affinität, seiner Wahl und – ich scheue mich nicht zu sagen: seines Geschmacks. […] Es wäre sinnlos, dabei auf den ›ästhetischen Reiz‹ zu verzichten. Bachs Passionswerk ist – was immer sonst noch es sein mag – auch ein ›ästhetischer Reiz‹, sich seinen Inhalt nicht gleichgültig sein zu lassen und sich für die Stunden seiner Dauer seinem Horizont einzufügen.« 4
Hans Blumenberg: »Kant und die Frage nach dem ›gnädigen Gott‹«, in: Studium Ge-
5
Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp
nerale 7 (1954) H. 9, S. 554-570, hier S. 570. 1998, S. 23. Solche Fragen sprechen die Grundsituation des menschlichen Lebens an, d.h. die metaphysischen Bedürfnisse, die unsere Praxis in der Wirklichkeit orientieren.
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Diese Vehikel sind aber nichts anderes als Symbole, Bilder, Allegorien usw., die keine naiven, zu überwindenden Vorformen der Begrifflichkeit, sondern eigenständige würdige Formen der Unbegrifflichkeit sind. Die Texte der Tradition werden erst dann wieder als Text lesbar, und ihre Prägnanz wieder virulent, wenn man mit der Unbegrifflichkeit umzugehen vermag – doch sich darauf einzulassen ist für den modernen Menschen alles anderes als selbstverständlich. Dazu bedarf er, so Blumenberg, der ›theologischen Großzügigkeit‹ der Musik, welche dem erstarrten Dogma der Theologie und den wasserdichten Systemen der Metaphysik entgegenarbeitet: »Darin ist die Passionsmusik Erbin des Rituals: Das Symbol kann großzügig sein. Niemand fragt in das Rezitativ des Evangelisten hinein, was denn genauer gemeint sei. Es ist kein Angebot zu Zweifeln am Text, dem die Musik die sakrale Qualität der Unbefragbarkeit verleiht. Das ist die Lebensbedingung jener Großzügigkeit.« (MP, S. 45, Herv. N.Z.)
Die Kunst kann die Starrheit der Tradition sprengen, die durch dogmatische Bemühung um Eindeutigkeit variations- und deswegen rezeptionsunfähig geworden ist. Denn Rezeption kann nicht ohne einen Spielraum an möglichen und verschiedenen Lesarten stattfinden, ohne jene Kreativität also, die sich nur in und durch Variationsfähigkeit entfaltet: Begriffliche Unbestimmtheit ist ein wesentliches Merkmal der Kunst, die sich dabei der Arbeit der Rezeption bedient. Wie sie sich dessen bedient, dies erklärt Blumenberg bereits in Arbeit am Mythos (1979): »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel ›Thema mit Variationen‹ in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist.«6
Ästhetische Erfahrung ermöglicht die Rezeption religiöser Denkfiguren durch die begriffliche Unbestimmtheit der Kunst, und im Fall der Matthäuspassion durch ihr ›musikalisches Mehr‹: »Dieses Mehr macht in Bachs Passion die Differenz zwischen dem Wort und der Musik aus. Lässt man den kanonischen Rang
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Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 40.
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des Textes auf sich beruhen, transzendiert der Ton alles, was ihm unterlegt wird.« (MP, S. 35) Die Kunst desorientiert, da sie durch ihre konzeptuelle Unbestimmtheit, ihren Mangel an Begrifflichkeit zum ausgezeichneten Instrument für die Befreiung des Denkens und Ahnens, des Erinnerns und Fühlens, ja eines unbegrifflichen Begreifens wird. Sie ist insofern, wie Blumenberg hervorhebt, »die Prävention aus dem Geiste der Musik gegen die heranrückende historische Vernunft.«7 (MP, S. 48) Ist also die Heilserwartung der Passion verschwunden, so ermöglicht die Musik keine Erlösung, wohl aber die Auflösung der dogmatischen Dissonanzen der Passionsgeschichte zu harmonisch ertönenden Konsonanzen einer Narration, die ihre Sinneinheit auf diese Weise zurückgewinnen kann: »Die Stiftung der Identität kann nur eine Sache der Kunst sein.« (ebd.) Die Musik macht gleichsam den Text und die Geschichte, die darin erzählt wird, wieder begehbar. II. »Wirklich ist nur, was Spuren hinterlässt«. Horizontneubesetzung Blumenberg ist nicht daran gelegen, alte oder veraltete Bedeutungssysteme der Theologie oder Metaphysik wieder einzuführen oder den Glauben an deren Gott zu erneuern. Seine Auseinandersetzung mit Bach hinterfragt vielmehr die Bereitschaft des modernen Menschen, von Gott Abschied zu nehmen. Allerdings ist
7
Die ästhetische Deutung Blumenbergs impliziert den Versuch, einer theologischen oder historistischen Interpretation Bachs den Boden zu entziehen. Dabei ähnelt seine Einstellung jener Adornos, der sich bereits der Aneignung von Bachs Werk durch die religiöse Tradition und die theologische Interpretation widersetzte. Gegen den Versuch, einen »neu-religiösen« Bach a posteriori zu gewinnen, beansprucht Adorno seine Modernität, die sich gerade aus »der Enge des theologischen Horizonts« entfaltete, »um ihn zu durchbrechen und in Universalität überzugehen«. Die polemischen Erwägungen Adornos richten sich gegen die theologische Interpretation, die dem Historismus eines Wilhelm Dilthey verwandt sei: Die derzeitige Funktion der Musik Bachs sei es, »den individualistischen Zustand kraft Setzung eines den Menschen übergeordneten, dem Dasein enthobenen, zugleich jedoch eindeutigen theologischen Inhalts entratenden, abstrakten Prinzips zu überwinden«. Dies bezwecke, Bach zum Gegenstand philosophischer Spekulation und so zum »Kulturgut« ideologischer Konstrukte zu machen. Vgl. T. W. Adorno: Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. I, Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 162-179, hier S. 162f.
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hierbei zu konturieren, was genau unter den heutigen Prämissen zu verabschieden ist. Blumenberg geht es um das Reservoir von Bedeutungen oder Reflexionsmaterialien, das ›Gott‹ birgt, und sei es nur in den zahllosen Erzählungen seiner Geschichte und Rezeptionsgeschichte. Selbst wenn der Glaube zu einer harmlosen, entleerten Vorstellung geworden ist, impliziert eine solche kenosis dennoch nicht, dass dieser tote, vergrabene, beinahe vergessene Gott nichts mehr über den Menschen zu sagen hat. »Il ne s’agit pas de repeindre les cieux, ni de les reconfigurer: il s’agit d’ouvrir la terre obscure et dure et perdue dans l’espace«8 – Diese Worte von Jean-Luc Nancy sind auch für Blumenberg Programm. Denn die Metaphorologie ist darauf angelegt, die möglichen und wirklichen »Vergangenheiten unserer Gegenwart« wieder zu öffnen, d.h. »die wirklichen Möglichkeiten« und »die möglichen Wirklichkeiten« dessen zu erforschen, was wir »hinter uns haben«9. Die alte Frage Immanuel Kants, »was wir denn wissen können, transformiert sich gerade dem historisch nicht unbesonnenen Nachdenken immer mehr in die andere, was es denn gewesen war, was wir wissen wollen.«10 In Bezug auf Gott impliziert dies die Frage, welcher war dieser Gott, den wir zu haben geglaubt
8
Jean-Luc Nancy: La Déclosion (Déconstruction du christianisme, 1), Paris: Galilée
9
Ulrik Houlind Rasmussen: »Zur Plastizität der Erinnerung von dem, was sein kann.
2005, S. 9. Gotteserinnerung bei Hans Blumenberg«, in: Michael Moxter (Hg.), Erinnerung an das Humane. Beiträge zur philosophischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, S. 281-299, hier S. 287. Die Aufgabe der Metaphorologie ist bereits in H. Blumenberg: Kant und die Frage nach dem »gnädigen Gott«, angedeutet: »In allen Fragen nach der Vergangenheit verbirgt sich doch der Antrieb, den Punkt zu bestimmen, an dem das nachher Wirkliche noch und damit Unabänderliche noch Möglichkeit war, und so in das Dunkel dessen tiefer einzudringen, was für uns noch Möglichkeit sein mag.« (S. 554.) 10 Hans Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-FischerPreises der Universität Heidelberg, in: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981 (1974), S. 163-172, hier S. 164. Vgl. dazu auch Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, 2. Aufl., Frankfurt/M.: 1983, S. 9: »Hält man sich an Kants Katalog der letzten großen Fragen, so bleibt es nicht vordringlich bei dem: Was können wir wissen? Enttäuschung gerade an dem, was sich als gekonntes Wissen herausgestellt hat, erfordert zu fragen: Was war es, was wir wissen wollten? Das gibt auch der anderen Hauptfrage des Kanons: Was dürfen wir hoffen? eine Abwandlung, die zu fragen unausweichlich macht: Was war es, was wir erhoffen durften?«
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haben?11 Laut Blumenberg ist diese Frage noch von Belang, weil die Passionsgeschichte und ihre Rezeption, d.h. ihre (Nach-)Erzählungen, Deutungen und Umschreibungen, ja ihre Dogmatisierungen, noch Aufschluss darüber geben, wie der Mensch sich selbst begriffen, wie er seine Erwartungen und Hoffnungen angesichts der Wirklichkeit artikuliert hat und vielleicht noch artikulieren kann. Denn Vergangenheit meint nicht überwunden, vergessen oder verloren, sondern vielmehr »versteckt, verborgen, latent«12: Das Vergangene ist das, was uns ›vordenkt‹, was uns und unsere Weltsicht immer schon mitbestimmt.13 Es handelt sich also bei Blumenberg um kein Plädoyer für die Rettung des theologischen oder metaphysischen Gottes, sondern – mit Nancy gesprochen – »il s’agit de savoir […] ce que veut dire précisément ce simple mot: ›homme‹. […] Derrière ce mot, derrière ce qu’il dit et derrière ce qu’il cache – ce qu’il ne veut pas dire, ce qu’il ne peut pas ou ne sait pas dire.«14 Dem Menschen eignet keine punktuelle Existenz. Er ist nicht auf die einseitige Wahrnehmung seiner Gegenwart beschränkt, sondern immer in einen historischen Horizont eingelassen: Horizont meint Offenheit zum Abwesenden, sei es in der Erwartung des Künftigen, oder in der Erinnerung ans Vergangene. Für eine Phänomenologie der Rezeption bedeutet dies, dass Horizonte die metakinetischen Zusammenhänge umschreiben, in denen ein Werk sein Wirkungspotential entwickelt. Werke sind nie »erratische Einschlüsse, die vom Strom der Geschichte mitgeführt werden«15: Sie erscheinen nie an und für sich, sondern, mit
11 Vgl. H. Blumenberg: Matthäuspassion, S. 15: »Ob er [der heutige Hörer, N.Z.] einen Gott hat oder nicht, ist dabei sekundäre gegenüber de, Begriff, mit dem er noch erfassen kann, was es bedeutete, einen zu haben.« 12 Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, passim. 13 Vgl. H. Blumenberg: Paradigmen, S. 91f.: »Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ›im Rücken‹; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, ›kanalisiert‹ in dem, was überhaupt sich uns zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können.« 14 J.-L. Nancy: La Déclosion, S. 10. 15 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 327405, hier S. 329. Man würde vielleicht dazu neigen, eine solche Annahme der Hermeneutik Gadamers zuzurechnen. Bei Gadamer ist die in der Rezeption ästhetisch aufgearbeitete Bedeutung eines Kunstwerkes eine Hypostase seines Wahrheitsgehalts in der sich annähernden Bewegung von Vergangenheit und Gegenwart. Hingegen betont Blumenberg ironisch, »daß es Hermeneutik durchgängig nur mit einem Mehr an Sinn
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Husserl gedacht, in bestimmten Gegebenheitsweisen, die als Ferment der Rezeption dienen. Diese Gegebenheitsweisen konstituieren den lebensweltlichen Hintergrund, vor dem und aus dem heraus das Vordergründige sich abhebt und abspielt, d.h. die Ökonomie der Bedeutsamkeitsstiftung und ihre historische Symptomatik sich entfalten kann. Die geschichtsphänomenologische Frage nach der möglichen Konstitution eines heutigen Rezeptionshorizontes betrifft die Problematik, ob und was unsere ›nachchristliche‹ Gemeinschaft noch hören kann, insofern der Eindruck des Hörers immer schon über die punktuelle Erfahrung seines Horizontes hinausgeht. Blumenberg prägt in diesem Zusammenhang die paradoxe Formel der ›Horizontabschreitung‹: der Horizont wird nicht umbesetzt, er muss überhaupt erst neubesetzt, neu konstituiert werden. Es handelt sich um keine Umformung, sondern um eine wesenhaft neue Aneignung der Bildwelt, die der Passionsmusik Bachs eignet. Sie ist möglich, gerade weil die uneinholbare Distanz zum Horizont der Lebensgemeinschaft Bachs uns erlaubt, der Strenge des dogmatischen Wissens und dem Höchstmaß an theologischer Bestimmtheit zu entrinnen. Gerade die Verlusterfahrung unserer Zeitgenossenschaft birgt die Möglichkeit eines neuen Zugangs zur Passionsgeschichte. Der heutige Hörer genießt den Vorzug einer Zuständlichkeit, in der die Dogmatik eines 2000 Jahre währenden Christentums in ihr Gegenteil umschlägt: Fragen, die an die Gottesgeschichte gar nicht gerichtet werden durften, werden somit wieder fragbar, indem das Gewicht der alten Deutungssysteme von Metaphysik und Theologie ausgesetzt und dieser Geschichte eine erneute Lesbarkeit oder Hörbarkeit verliehen wird. Dies erfolgt, indem die Frage nach der ›Realität‹ Gottes suspendiert wird zugunsten jener nach seiner ›Wirklichkeit‹. Gerade aus der Spannung zwischen
als dem offen Gegebenen und Selbstverstandenen zu tun hat, nach dem Axiom des Mattesilano: Semper mens est potentior quam sint verba.« (Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 24) Vor allem aber lässt dieses von der Seinsgeschichte Heideggers abgeleitete Muster Gadamers nicht begreifen, weshalb Bilder und Denkformen eine Prägnanz gewinnen, die ihr wiederholtes Auftauchen in der Rezeption zu erklären vermag. Die sogenannte ›Horizontverschmelzung‹ »erklärt nichts, auch und vor allem nicht, wie [kulturelle] Gehalte fern von ihrem Ursprung und ihrer genuinen Funktion immer wieder als Leitfiguren elementarer Selbst- und Weltbestimmung aufgegriffen und ausgelegt, variiert und umakzentuiert werden konnten.« (H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential, S. 329) Vgl. zur Wirkungsgeschichte Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 7. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2010, S. 296-313 und passim.
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diesen zwei Begriffen erwächst die Wirkung der Matthäuspassion, denn laut Blumenberg stimmen Realität und Wirklichkeit nicht überein: ihre Differenz entspricht jener zwischen Existenz und Wirksamkeit. Um Realität bzw. Realismus kreisen die Leitfragen von Metaphysik und Theologie, welche sich seit jeher darum bemühen, dem ontologischen Prädikat der Existenz Gottes Fassung zu geben und der Prädikation seiner Doktrin derart Konsistenz zu verleihen. Dennoch bedürfen Antworten auf solche ontologischen Fragen einer Erprobung und einer Beweisbarkeit, welche die Welt unserer Erfahrung sparsam gewährt. Seit Kant wissen wir, dass Gott kein unmittelbarer Gegenstand unserer Erfahrung sein kann: Die Rede von Gott ist immer symbolisch, denn nur Symbole, d.h. analogische Darstellungen, ermöglichen die Veranschaulichung von Vernunftideen. Das Symbolverständnis erläutert Kant als »bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erste nur das Symbol ist.«16 Übertragt man dies in die Terminologie Blumenbergs, so lassen sich diese »bildliche[n] Vorstellungen«17 in ›absolute Metaphern‹ umbenennen.18 Mit den Symbolen bei Kant vergleichbar, ist die Funktion der Metaphern keine bloß erkenntnistheoretische; vielmehr erfüllen absolute Metaphern wie Welt, Leben, Geschichte, Raum, Zeit, Sprache, Gott, Sein, usw. metaphysische Bedürfnisse, denn »ihr Gehalt bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein
16 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Bd. X der Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M: Insel 1956, B257|A254. Vgl. auch B254|A251: »Die Realität unserer Begriffe darzutun werden immer Anschauungen erfordert. […] Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihm schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann.« 17 Immanuel Kant: Was heißt, sich im Denken orientieren? [1786], in: Kants Werke in sechs Bänden, Bd. III, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 263-283, hier S. 283. 18 Vgl. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 58: »Man sieht leicht, daß der Ausdruck ›symbolisch‹ bei Kant nichts anderes bedeutet als ›metaphorisch‹, freilich mit der Verschärfung in Richtung auf die absolute Metapher.« Darauf hatte Blumenberg bereits in der Einleitung der Paradigmen aufmerksam gemacht.
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Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.«19 Ist das Verständnis von ›Gott‹ mit Kant symbolisch, mit Blumenberg metaphorisch, so erweist sich die Frage nach seiner Realität als höchst problematisch, denn es kann nicht gefragt werden, was hinter der Metapher steht, oder, mit Wittgenstein, welche nackte Tatsache sie abbildet, die der Fall sein muss, damit die Metapher zutrifft.20 Es lässt sich allein die Frage nach der Frage formulieren, worauf die Gottesidee die Antwort ist, d.h. nach dem anthropologisch relevanten Bedürfnis, das diese »kühnste Metapher«21, wie provisorisch auch immer, zu erfüllen vermag.
19 H. Blumenberg: Paradigmen, S. 25. Außerdem erfüllen absolute Metaphern auch ein pragmatisches Bedürfnis, indem sie zwar nicht sagen, was solche Objekte an und für sich sind, dafür aber, was sie dem Menschen im Kontext seines Lebens und seiner Zwecke bedeuten können: Sie ermöglichen also ein Verständnis, mithilfe dessen der Mensch sich im Denken und in der Wirklichkeit orientiert. Absolute Metaphern erschließen überdies eine weitere Dimension, indem sie von der existentiellen Situation des Menschen in der Geschichte berichten, d.h. wie er jeweils mit der Welt um ihn herum umgegangen ist. Können also absolute Metapher kraft ihrer Geschichts- und, a fortiori, Traditionsfähigkeit »Sinnhorizonte und Sichtweisen« eröffnen, prägen und bewahren, so geben sie zugleich über die historisch-regionalen Perspektiven auf die Welt Aufschluss. Dabei ermöglichen sie, den historischen »Untergrund« zu erkennen und an die »Substruktur des Denkens«, die »Nährlösung seiner systematischen Kristallisationen« heranzukommen. Vgl. ebd., S. 13; sowie dazu Barbara Merker: »Phänomenologische Reflexion und pragmatische Expression. Zwei Metaphern und Methoden der Philosophie«, in: Anselm Haverkamp/Dirk Mende (Hg.), Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 153-180, bes. S. 157-164. 20 Vgl. Thomas Rentsch: »Thesen zur philosophischen Metaphorologie«, in: Anselm Haverkamp/Dirk Mende (Hg.), Metaphorologie, S. 137-152, hier S. 138f. Gerade weil absolute Metaphern keine Behauptung über die Welt darstellen, lassen sie sich keiner Prüfung unterziehen, ob sie wahr oder falsch sind. Angemessenheit ist ihr einziger Maßstab: Eine absolute Metapher ist nicht negierbar, sondern nur funktional umbesetzbar durch eine andere, die ihr funktional äquivalent ist und zugleich besser zu beschreiben vermag, was der Fall ist. 21 Hans Blumenberg: Anthropologische Annährung an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders: Ästhetische und anthropologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 431. Dazu vgl. ebd.: »Die kühnste Metapher, die die größte Spannung zu umfassen suchte, hat daher vielleicht am meisten für die Selbstkonzeption des Menschen geleistet.«
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Dass Gott keine objektive Realität eignet, schließt seine Wirklichkeit indes nicht aus. Das Dilemma der Philosophie Blumenbergs ist weniger die Frage nach der Existenz, der Realität, sondern danach, wie etwas gewirkt hat, bzw. ob es noch wirksam ist – denn »wirklich ist nur, was Spuren hinterlässt« (MP, S. 181). Dieser Satz meint keinen bloßen Wirklichkeitsbegriff, sondern das Prinzip aller möglichen Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten. Befragt man eine Spur nach dem Körper, der den Abdruck bewirkt hat, so erscheint sie als res, sie dient der objektivierbaren Gegenwart und ihrer Gewissheit, sie macht eine Realität gleichsam dingfest: Das Gewicht des Körpers sowie die Größe des Fußes, der den Abdruck hinterlassen hat, sind messbar. Zugleich verweist sie aber auf das Verschwinden von dem, was nicht mehr da ist, und dessen Spuren als memoria an den Verlust seiner Präsenz dienen. Dieser Verlust verweist in der christlichen Tradition vor allem auf den des Corpus Christi. Gerade weil das Christentum in diesem Verlust gründet, hat jene »disparition fondatrice«22 nie aufgehört, eine ganze Tradition zu stiften, die als eine Art Phantomleib die Leerstelle besetzt, jene Tradition also, deren Spuren Blumenbergs Metaphorologie aufzugraben sucht.23 Nicht der Gewissheit der Realität, sondern der Erinnerung an diesen Verlust dienen solche Spuren, denn was real, beweisbar, gewiss ist, koinzidiert nicht mit dem, was wirklich, d.h. wirkend, nachwirkend oder sogar nach- bzw. fortlebend ist. Realität und Wirklichkeit Gottes fallen nicht zusammen. Seine Wirklichkeit
22 Michel de Certeau: La Fable mystique, Paris: Gallimard 1982, S. 108ff. Vgl. auch S. 110: »[Cette question habite, N.Z.] déjà les commencements évangéliques. Devant la tombe vide, vient Marie de Magdala, cette figure éponymique des mystiques modernes: ›Je ne sais pas où ils l’ont mis‹. Elle interroge le passant: ›Si c’est toi qui l’as emporté, dis-moi où tu l’as mis‹. Articulée par toute la communauté primitive, cette demande ne se limite pas à une circonstance. Elle organise le discours apostolique. […] Son corps [de Jésus, N.Z.] est structuré par la dissémination, comme une écriture.« 23 Zum Begriff ›Aufgraben‹ vgl. Edmund Husserl: »Phänomenologische Archäologie«, in: Knut Ebeling/Stefan Altekamp (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/M.: Fischer 2004, S. 46-49, hier S. 46. Daneben zum Begriff ›Spur‹/›Abdruck‹ vgl. Georges Didi-Huberman: La ressemblance par contact. Archéologie, anachronisme et modernité de l’empreinte, Paris: Éditions de Minuit 2008, S. 13f und passim: »Non seulement les empreintes apparaissent ellesmêmes comme des ›choses‹ pour le moins anachroniques – si elles sont bien ce ›présent réminiscent‹, visuel et tactile, d’un passé qui ne cesse de ›travailler‹, de transformer le substrat où il a imprimé sa marque.«
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hat nur mit seiner Wirkung als absolute Metapher zu tun, deren Potential sich anamnestisch entfaltet: Die plastische Kraft der Erinnerung an diesen toten Gott,24 die in und durch die Musik Bachs freigelegt wird, variiert zwischen der Bewahrung des Vergangenen und dessen möglicher Umformung im Prozess des »Eingedenkens«25 durch eine erneute Rezeption, die von der Bürde des metaphysischen und theologischen Gottes befreit ist. Dazu bedarf es der Aufarbeitung der Tradition, die Blumenberg mit Nietzsche unternimmt und zugleich gegen die Folgerungen und Folgen Nietzsches selbst mobilisiert. III. Mit Nietzsche: Erinnerung an das Göttliche Bereits in Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (1971) nimmt Blumenberg auf Nietzsche Bezug: »Als Nietzsche vom Tode Gottes sprach, griff er – im Gegensatz zum Atheismus des 19. Jahrhunderts, der seinerseits der kategorischen Dogmatik eine dogmatische Negation entgegenstellte – auf die Form des Mythos zurück.«26 Nietzsche habe die Theologie nicht bloß negiert, sondern vielmehr transformiert, »indem er Gott eine Geschichte gab, deren Ende ihre Pointe ist. Er machte von der formalen Freiheit des Mythologen Gebrauch und übertrug sie […] auf den biblischen Gott«27. Der tote Gott Nietzsches ist kein abwesender Gott, sondern ein Gott, der die heiklen Spuren seines eigenen Todes hinterlässt:
24 Vgl. dazu Catherine Malabou: »Deconstructive and/or ›plastic‹ readings of Hegel«, in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 41/42 (2000), S. 132-141, hier S. 134: »The German noun ›Plastizität‹ […] is added to two already existing words formed from the same root: the noun ›plastic‹ (die Plastik) and the adjective ›plastic‹ (plastisch). All the three words derive from the Greek ›plassein‹ which means ›to model‹. The adjective ›plastic‹ means, on the one hand, ›capable of changing form‹, malleable – potter’s clay is ›plastic‹; on the other hand, it means ›that which has the power to give form‹, as in the plastic arts or plastic surgery. Plasticity then designates the character of which is plastic, that is, of that which can both receive and give form.« Auf den Aufsatz Malabous verweist Ulrik Rasmussen im oben zitierten Aufsatz (siehe Fußn. 9), der davon ausgehend seine aufschlussreiche Analyse über die Problematik der Gotteserinnerung im Denken Blumenbergs entfaltet. 25 Walter Benjamin: Zum Bilde Prousts, in: Ders., Gesammelte Schriften II. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 310-324, hier S. 311. 26 H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential, S. 351f. 27 Ebd., S. 352f.
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»Wohin ist Gott? Rief er [der tolle Mensch, N.Z.], ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!«28
Voraussetzung für den Tod eines Gottes ist seine Existenz, da nur das existiert, was sterben kann. Blumenbergs Matthäuspassion spitzt diese Konsequenz zu, indem der Tod zum endgültigen Beweis der Existenz Gottes wird: »Gott ist der durch Tod endgültig Gewordene, an dessen Perfekt-Existenz keine Negation herankommt.« (MP, S. 302) Die erstaunliche Konsequenz daraus ist, dass »Gott als Gewesener wirklicher geworden ist denn als vermeintlich beweisbarer oder heilsnotwendig geglaubter« (ebd.). Erst durch den unantastbaren Gottestod wird seine vollständige Realität hergestellt, d.h. die des Gewesenen, indem diesem Gott eine Existenz verliehen wird, die nicht mehr negiert, sondern allein im anamnestischen Andenken verbürgt werden kann: Was gewesen ist, muss bleiben, sei es nur als unverwischbare Spur, als Erinnerung an das Verlorene, denn es kann nicht mehr nicht-gewesen sein. Die Strategie Blumenbergs ist insofern eine ironische, oder ironisierende: Gott gewinnt zwar eine Existenz, die indes erst a posteriori, im rememorativen Erzählen seiner Geschichte, bewiesen werden kann.29 Gott wird, als Gestorbener, zu etwas »untilgbar Gewesene[m]« (MP, S. 304),30 dessen Erinnerung die Musik für ihren künftigen Hörer bewahrt.
28 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. XV Bände, Bd. III, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., München: de Gruyter 1988, S. 480f. 29 Der Tod Gottes ist dabei nicht, wie bei Heidegger, der Tod des »Übersinnliche[n]« als »bestandlose[s] Produkt des Sinnlichen« (vgl. Martin Heidegger: Nietzsches Wort »Gott ist tot«, in: Ders., Holzwege, 6. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann 1980, S. 205263, hier S. 205). 30 Wie Hans Robert Jauß bewiesen hat, wird das Buch Hiob bei Nietzsche zum pastiche, indem das Spiel von Fragen und Gegenfragen des tollen Menschen dem Katalog anklagender Fragen Hiobs an Jahwe (Hi 38, 8ff.) entspricht. Diese Fragen machten die Aufgabe einer post-nietzscheanischen Theodizee besonders schwierig, denn von ihnen ausgehend müssen Welt und Geschichte gerechtfertigt werden, »ohne Nietzsches Paradox im Sinne der christlichen Religion – als Erfahrung von Kreuzestod und Auferstehung Christi – oder im Sinne der atheistischen Aufklärung – ›que dieu n’existe pas‹ – auflösen zu dürfen«. Der »Gottesbeweis ex contrario« rückt dann »Nietzsches Nihilismus in ein seltsames Zwielicht«. Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und
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Die Musik ist wesentlich für das Verständnis der Passion, sofern sie etwas gegen die begriffliche Arbeit der Theologie oder Metaphysik zum Tönen bringt. In der Musik wird die Passion zum eigenen Erlebnis des Hörers, auch oder vor allem gegen die gescheiterte Allmacht des Gottesbegriffs: »Der beleidigte Gott wird der gescheiterte Gott sein. Dass die Allmacht mit der Welt die gotteswürdige Intention verfehlt – und nicht schon an ihr, sondern erst in ihr zerbricht –, ist Thema der Passion.« (MP, S. 15) Ein Scheitern, das die Musik vollzieht, indem sie den Realismus der Passion, d.h. die Frage nach ihrer historischen Faktizität oder theologisch-metaphysischen Wahrheit ausklammert. Doch ihr Klang, ihr transzendierendes oder ekstatisches Mehr erschließt das Leiden, die Konkretheit des Schmerzes. Somit ermöglicht die Musik, wenn auch nicht zu verstehen, weshalb dieser Gott leidet, so doch wenigstens mitzuleiden: »Wir setzen uns mit Tränen nieder – singt der Chor am Ende der Matthäuspassion – wir setzen uns mit Tränen nieder, und rufen Dir im Graben zu.«31 »Welch frommer, ja weiser Verzicht,« – ergänzt Blumenberg – »dass die Matthäuspassion mit der Versiegelung des Steines und den Tränen der Verlassenheit [Gottes] schließt. Als sei es für immer, rufen beide Chöre dem im Grabe nach: Ruhe sanft, sanfte ruh!«32 (MP, S. 240) Im ›Eingedenken‹ vollzieht sich also das ›Noch-wirklich-sein‹ oder ›Wiederwirklich-werden‹ Gottes, wenn auch nur in Form der Narration seiner Geschichte oder in der Ritualität der musikalischen Aufführung Bachs. Dass dieser sakrale Bilderreichtum, diese göttlichen Geschichten noch einmal erzählbar werden, ist die Leistung der Musik.
literarische Hermeneutik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 465. Dieser Gott trägt nicht mehr die absoluten Züge eines Gottes, der nicht ist, sondern die menschlichen eines Gottes, der nicht mehr ist. Der Verzicht auf die Theodizee wird gerade dadurch zur letztmöglichen Theodizee, indem das Los Gottes von jenem der Welt dissoziiert und er somit von der Verantwortung gegenüber seiner Schöpfung entlastet wird. 31 Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion. Matthäus-Passion. Weihnachts-Oratorium. Messe in h-Moll. Textausgabe, Stuttgart: Reclam 2007, S. 65. 32 Die inszenierte, hier etwas zu stark betonte katharsis pathematon dementiert Blumenberg selbst. Vgl. dazu H. Blumenberg, Matthäuspassion, S. 36: »Wenn ›Humor‹ dem Wortsinn nach eine Sache der Säfte, des Fließenden und Strömend-Bewegten ist, dann sind auch Tränen ihm zugehörig. Daß sie Erleichterung gewähren – gegen jeden ihnen zustehenden Anschein der Untröstlichkeit –, haben sie gemein mit dem Lachen, das ihrer nicht so würdig zu sein scheint, wie es die geläufige Wortverbindung von ›Lachen und Weinen‹ suggeriert.«
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»Gelassen kehrt der Unfolgsame [so Blumenberg über seine eigene theologische Einstellung, N.Z.] zu den Texten der Kindheit und Geistesfrühe zurück. Die Ahnung einer anderen Wirklichkeit geht ihm nach, die nicht ohne weiteres eine höhere zu sein beansprucht, aber für ihre Art von Realismus Unantastbarkeit gewonnen hat.« (MP, S. 248)
… und sei vielleicht alles auch nur, um dem Spürsinn der eigenen Jugend nachzugehen, dass die Furcht des Herrn die Furcht Gottes selbst vor seinen Geschöpfen ist. IV. Gegen Nietzsche: Passion ohne Ende Wir wissen, welche Umbesetzung Nietzsche im Sinn hatte: Der Tod Gottes sollte den Weg für den Übermenschen frei machen – doch blieb laut Blumenberg der freigelegte Weg leer. »Le destin historique de l’homme« – betont er mit Emile Cioran – »est de mener l’idée de Dieu jusqu’à sa fin« (MP, S. 307). Dabei stellt sich indes die Frage, zu wessen Ende die Idee Gottes vorangetrieben werden muss: Bis zum Ende Gottes, oder des Menschen selbst? Die Zweideutigkeit des Genitivs ist hier ebenso verbindlich wie unlösbar: demzufolge würde aber das Ende Gottes also notwendig auch das Ende des Menschen bedeuten. »Der Ausdruck ›Passion‹ hat, seiner lateinischen Herkunft nach, eine im Deutschen nicht nachbildbare Doppeldeutigkeit: die von Leiden und Leidenschaft. Nur als Mensch, durch Menschwerdung, sollte Gott gelitten haben können. Aber die Eskalation Gottes zu betreiben scheint – aufs Ganze der Geschichte von Mythos und Religion betrachtet – so etwas wie die ›Leidenschaft‹ des Menschen zu sein.«33 (MP, S. 306)
33 Dessen war sich auch Nietzsche bewusst: eine der wichtigsten (und überlesensten) Fragen, die der tolle Mensch der Menschenmenge nach der Ankündigung des Tod Gottes stellt, lautet: »Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?« (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 481, Herv. N.Z.). Die Folge einer solchen Notwendigkeit erklärt Nietzsche im Kapitel Das Eselsfest aus dem Zarathustra (Friedrich Nietzsche, Friedrich, Also Sprach Zarathustra, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. XV Bände, Bd. IV, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., München: de Gruyter 1988, S. 390ff): Zarathustra kommt zu seiner Höhle zurück, wo die sogenannten höheren Menschen dabei sind, einen Esel anzubeten – ein pastiche der Bibel (Ex. 32), wo Moses zusieht, wie das auserwählte Volk das goldene Kalb anbetet. So entgegnet einer der höheren Menschen dem erstaunten Zarathustra: »Der alte Gott lebt wieder, oh Zarathustra, du magst reden, was du willst. Der hässlichste Mensch ist an Allem schuld: der hat ihn wieder auferweckt. Und wenn er
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Entweder ist der Mensch noch Mensch, so muss auch Gott, oder ein Gott, noch sein. Oder wir sind mit diesem Gott, mit jedem Gott fertig, und dann wäre auch die Negation des Menschen mitimpliziert. Aber wäre vielleicht der Mensch keiner mehr, weil er ›Über-‹ wurde? Blumenberg scheint pessimistisch bzw. kulturpessimistisch zu sein: Es habe sich bereits gezeigt, inwieweit der Mensch Unmenschliches oder ›Untermenschliches‹ unternehmen kann, sobald er sich dem Übermenschlichen anzunähern versucht. Übermenschliche Träume sind ausgeträumt.34 Diese Aporie ist nicht lösbar. Einerseits lässt Blumenberg keine Sehnsucht oder Nostalgie nach Gott zu, andererseits plädiert er gegen das Vergessen dessen, was die Gottesidee in sich birgt. Was andersherum bedeuten könnte: Er plädiert für die Erinnerung an das, was der Mensch war und vielleicht nicht mehr ist, weil er anders geworden ist. Könnte es sein, dass die Frage nach Gott an Prägnanz verloren hat? Haben wir vielleicht gelernt, ja lernen müssen, uns mit der Vorläufigkeit unserer Existenz zu arrangieren – obwohl wir sterben müssen? Wie ein bereits erstorbener Stern, der noch nachleuchtet, wirkt die Gottesfrage nach, selbst wenn die Antwort seit langem versperrt ist. Mit der Frage
sagt, dass er ihn einst getödtet habe: Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurtheil.« Dass dieser Plural – »bei Göttern« – verwendet wird, ist kein Zufall: Wer wieder geboren wird, ist Teil der Göttergeschichte, deren zyklischer Charakter den Tod zur bloßen Episode macht. Nun kann Zarathustra die Rückkehr Gottes feiern, indem die heidnische, zyklische Zeitlichkeit neu begründet wird. Wenn alles zurückkommt, dann kommt sogar der Gott des Christentums zurück: Durch diese Wiederkehr wird er jedoch seiner historischen Einmaligkeit beraubt. Eine solche Mythologisierung der Theologie ist der letzte, raffinierte Akt Nietzsches gegen seinen alten Feind: Mit der Lehre vom Tod Gottes zerstört Nietzsche die Illusion der Heilsgeschichte als einzig mögliche Geschichte, um aus dem christlichen Gott eine Erzählung unter vielen möglichen zu machen, auf die die Erzählung des Übermenschen folgen soll. 34 Das Verhältnis Blumenbergs zu Nietzsche ist zwiespältig. Nietzsche bleibt zwar ein konstanter Referenzpunkt, allerdings äußert Blumenberg wiederholt sein Unbehagen an den Folgen von dessen Philosophie. Am Ende der Matthäuspassion negiert Blumenberg, dass Gott vom Übermenschen umgebracht wurde: »Es gab diesen Mord nicht. Zumindest diesen einen nicht, dafür aber zahllose, die der Qualifikation des Menschen für die Gottesnachfolge ein Ende setzen« (MP, S. 306). Eine bittere Anspielung, die bereits in H. Blumenbergs Kant und die Frage nach dem »gnädigen Gott«, S. 554, explizit aufscheint: Was Nietzsche für ein fruchtbares Erbe gehalten hatte, zeigte sich als »ein furchtbares Erbe, wie die Erfahrung mit einer der Omnipotenz sich zuneigenden Macht des Menschen alsbald lehren sollte«.
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kommt Gott in die Welt – doch woher das gottheitsgebärende Fragen kommt, dies ist das Rätsel, dessen die Passionsmusik einzugedenken vermag: »Es mag sein, daß man aus der Geschichte lernen kann – oder auch nicht. Das ist sekundär gegenüber der elementaren Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben.«35
35 H. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend, S. 170.
Messianische Rache Zum Problem des Ressentiments in Walter Benjamins Geschichtsphilosophie H ANS -J OACHIM S CHOTT
In seinem frühen Fragment Kapitalismus als Religion analysiert Walter Benjamin den Kapitalismus als ununterbrochen zelebrierte Kultreligion, die keine ausgearbeitete Theologie kenne und im Unterschied zu allen früheren Religionen nicht vom Druck eines »ungeheure[n] Schuldbewußtsein[s]« entsühne, sondern die Schuld »universal« mache.1 Nietzsches Lehre vom Übermenschen, der sich jeder Buße verweigere und die unbedingte Steigerung seines Machtwillens bejahe, gehöre ebenso wie Freuds Konzeption des Unbewussten und die marxistische Theorie von der unumkehrbaren Entwicklung des Kapitalismus zur »Priesterschaft von diesem Kult« (GS VI, 101).2 Der Grund für Benjamins scharfe Polemik gegen Nietzsche liegt, so eine meiner Thesen, in der von Immanuel Kant in der Analytik des Erhabenen gestellten geschichtsphilosophischen Frage, wie der traumatische Charakter der Vergangenheit, der aus der Ohnmacht des Subjekts gegenüber einem Überschuss an Apprehension von sinnlicher Wahrnehmung re-
1
Walter Benjamin: »Kapitalismus als Religion«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 100-103, hier S. 100. Im Folgenden werden die Gesammelten Schriften mit der Sigle GS zitiert.
2
Zu Benjamins Kritik an Nietzsche in Kapitalismus als Religion vgl. ausführlich Renate Reschke: »Barbaren, Kult und Katastrophen. Nietzsche bei Benjamin. Unzusammenhängendes im Zusammenhang gelesen«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.), Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig: Reclam 1992, S. 303-339, hier S. 319-326.
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sultiert, bewältigt werden kann. Benjamin und Nietzsche erkennen als paradigmatische Vertreter einer »selbstkritischen Moderne«3 gleichermaßen diese Ohnmacht des Subjekts an und verwerfen daher die im 19. Jahrhundert verbreitete Fortschrittsgläubigkeit, die die für die Moderne zentrale Erfahrung einer unbewältigt-traumatischen Vergangenheit ausblendet. Während Nietzsche jedoch im Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine Lösung für die transzendentale Problematik des irreduziblen Rückstands der Komprehension gegenüber der Apprehension zu finden glaubt, plädiert Benjamin für eine messianische ›Rettung‹ der Vergangenheit und begreift den Gedanken der ewigen Wiederkehr als Ausdruck der kapitalistischen Kultreligion. In Umkehrung von Nietzsches Kritik am psychophysischen Habitus des Ressentiments entwickelt Benjamin ein politisches Konzept revolutionärer Rache, mit dem er sich nicht allein gegen Nietzsches materialistische Anthropologie, sondern auch gegen den historischen Materialismus der marxistischen Tradition wendet, ohne dabei aber überzeugend die Möglichkeit einer gerechten Rache aufzuzeigen, die sich nicht in der ruinösen Verzirkelung von subjektiven Gewaltexzessen verstrickt. Fortschrittsmythen In seiner Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels wirft Benjamin Nietzsche vor, seine wertvolle Einsicht »in die Bindung der Tragödie an die Sage und in die Unabhängigkeit des Tragischen vom Ethos« (GS I.1, 280) in der Geburt der Tragödie einem nihilistischen Ästhetizismus aufgeopfert zu haben, indem er den Menschen zu einer bloßen Erscheinung der Kunst degradiert und »Götter und Heroen, Trotz und Leid, die Pfeiler des tragischen Baus« (GS I.1, 281) aus seiner ästhetischen Theorie eliminiert habe. Ohne auf Nietzsches spätere Abkehr von der »Artisten-Metaphysik«4 seiner Erstlingsschrift einzugehen, attackiert Benjamin die angebliche geschichtsphilosophische Blindheit und die mythisierenden Tendenzen der Geburt, wobei er nicht Nietzsches Kritik an einer vereinfachenden moralischen Deutung der Tragödie widerspricht, die den dargestellten Handlungen »moralische Bedeutung als den Abbildern der Wirklichkeit«
3
Daniel Fulda/Thorsten Valk: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 1-20, hier S. 9.
4
Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. XV Bände, Bd. I, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 7. Aufl., München: Dtv 2004, S. 7-135, hier S. 13. Im Folgenden wird die Kritische Studienausgabe mit der Sigle KSA zitiert.
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sowie »moralische Einsichten« zuschreibt (GS I.1, 283). Vielmehr wendet er sich gegen Nietzsches vollständige Verwerfung moralischer Gehalte der Tragödie, die zwar nicht als »letztes Wort«, aber als Moment des »integralen Wahrheitsgehalts« der tragischen Dichtung zu fassen seien: »nämlich geschichtsphilosophisch« (ebd.). Das Subjekt müsse, so Benjamin, den »Grund« (GS I.1, 282) der Tragödie ausmachen, wobei dieser Grund nicht auf eine schöpferischästhetische Kraft des Menschen, sondern auf seine moralische Anlage verweise, wegen der er »den ewigen Vorwurf« der ästhetischen »Bildungen« darstelle (ebd.). Im Unterschied zu Nietzsche, dessen physio-ästhetisches »Stärkungs- und Ökonomisierungsmodell«5 exaltierter Affekte keine Lücke zwischen Ästhetik und Ethik zulässt, bildet für Benjamin die tragische Erfahrung keinen Selbstzweck, sondern transzendiert in einer geschichtlichen Bewegung den Bereich des Ästhetischen in Richtung auf die praktische Urteilskraft.6 Trotz dieses kanti(ani)sch anmutenden ästhetischen Konzepts, in dem das Subjekt des tragischen Geschehens sowohl als utopische Kraft agiert (»vor-werfen« im Sinne der Projektion einer utopischen Zukunft), indem es durch seinen Trotz und sein Leid einen Ausgang aus der »regulären Verzirkelung des Agon« (GS I.1, 295) findet und seine »Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaft« (GS I.1, 288) hinüberrettet, als auch als moralische Instanz fungiert (»vor-werfen« im Sinne eines moralischen Vorwurfs), die sich einer ästhetizistischen Weltauslegung verweigert, spricht Benjamin Nietzsches tragischem Denken ein hohes zeitdiagnostisches Potential zu, da er die fortschritts- und wissenschaftskritische Stoßrichtung von Nietzsches früher Philosophie als Herausforderung an seine eigene Geschichtsphilosophie begreift. Bei aller Kritik an Nietzsches Geburt der Tragödie bewegt sich Benjamin mit seinem Trauerspielbuch »in einem Horizont […], den Nietzsches Erstlingsschrift erst eröffnet hat: den der Kritik der Wissenschaft durch Kunst und Religion«7. In den Arbeitsnotizen zu seiner Spätschrift Über den Begriff der Geschichte, die die neue historisch-kritische Benjamin-Ausgabe übersichtlich dokumentiert,
5
Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte
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Zu Benjamins geschichtsphilosophischer Kritik an Nietzsches Tragödientheorie vgl.
(1755-1888), München: Fink 2005, S. 34. Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen, Bielefeld: Transcript 2010, S. 37f. 7
Achim Geisenhanslüke: »›Zu lange ist schon die Ohrfeige fällig, die schallend durch die Hallen der Wissenschaft gellen soll.‹ Zum Widerstreit von Philologie und Philosophie in Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie und Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: DVjs 77 (2003), H. 1, S. 77-90, hier S. 80.
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nennt Benjamin den Gedanken der ewigen Wiederkehr, zwar den »Albtraum des historischen Bewußtseins«8, begreift ihn aber auch als »das ›letzte Aufgebot‹ gegen die Idee des Fortschritts« (BG 131)∗, die er selbst einer umfassenden Kritik unterzieht. In Nietzsches Unzeitgemäßer Betrachtung ueber den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, der Benjamin das Motto für den 12. Abschnitt seiner geschichtsphilosophischen Thesen entnimmt, wirft Nietzsche dem Fortschrittsglauben am Beispiel von Hegels Philosophie vor, ein allwissendes Subjekt zu konstruieren, das sich als den Endpunkt jeglicher Geschichte begreife, weshalb es alle vorausgegangenen historischen Epochen als Vorstufen für die Vollendung der Universalgeschichte deute. In Hegels Geschichtsphilosophie erkennt Nietzsche säkularisierte Formen christlicher Endzeitvorstellungen wieder, die an einem überspannten Anspruch auf vollständige Repräsentation der historischen Ereignisse in der Transparenz eines sich selbst bewussten Subjekts kranken. Ähnlich wie die Linkshegelianer wertet Nietzsche Hegels teleologisches Geschichtsmodell, das in kognitiver Hinsicht sein Ziel in Hegels Philosophie und in praktisch-politischer Hinsicht seinen Abschluss im preußischen Ständestaat findet, als Ausdruck einer ideologischen Anpassung der Universitätsphilosophie an herrschende Machtverhältnisse, die den Segen einer sophistischen Geschichtsphilosophie erhalten, deren Aufgabe es ist, dem politischen Status quo eine metaphysische Legitimation zu verschaffen: »Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt […]. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung emporgestiegen: so dass für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen. […] [E]r [hat] in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der ›Macht der Geschichte‹ gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Thatsächlichen führt. […] Wer aber erst gelernt hat, vor der ›Macht der Geschichte‹ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nicht zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht. […] Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Nothwendigkeit, ist jedes Ereigniss der Sieg des Logischen oder der ›Idee‹ – dann nur hurtig nieder auf die Kniee und nun
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Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. IXX, hg. v. Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 131. Im Folgenden zitiert mit der Sigle BG.
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Alle Hervorhebungen in den Zitaten entstammen dem Original.
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die ganze Stufenleiter der ›Erfolge‹ abgekniet! Was, es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr?« (KSA 1, 308f.)
Aber auch der Historismus, der im Unterschied zu Hegels Philosophie kein Ziel der historischen Entwicklung, sondern lediglich die regellose Abfolge verschiedener Epochen kennt, etabliere, laut Nietzsche, eine Geschichtsschreibung, die eine aktive Aneignung und Gestaltung der Geschichte verhindere und zu einer passiven, kontemplativen Haltung gegenüber dem historischen Verlauf verleite, indem sie Schüler und Studenten der Geschichtswissenschaften mit einer unüberblickbaren Masse von unzusammenhängenden Fakten konfrontiere, die das Bildungssubjekt dazu zwinge, die Fülle des mechanisch angelernten Wissens möglichst schnell wieder zu vergessen, sodass es keine authentische, für die politische Praxis relevante Bildungserfahrung machen könne. Die schnelle Abfolge des Lehrstoffs provoziere beim Lernenden eine Art Schockstarre, die dazu führe, dass er keine neuen Erfahrungen mehr an sich heranlasse und den gelernten Stoff nicht mehr ernst nehme. Die vom Schock der historistischen Lehrstrategie erzeugte Erfahrungsarmut des Lernenden bringe eine schwache Persönlichkeit hervor, die leicht in die arbeitsteilige Wirtschaft eingepasst und zu einem treuen, gehorsamen Staatsbeamten erzogen werden könne, da es ihr an eigenen Erfahrungen mangele: »[D]ie Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus wäre, der ›dem Arbeitsmarkte‹ eine Menge von Kraft entziehen würde. Man blendet einige Vögel, damit sie schöner singen. […] Das Mittel aber, das verruchte Mittel, das man anwendet, um sie zu blenden, ist allzu helles, allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht. Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht: Jünglinge, die nichts von einem Kriege, einer diplomatischen Action, einer Handelspolitik verstehen, werden der Einführung in die politische Geschichte für würdig befunden. […] [D]ie Masse des Einströmenden ist so gross, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig […] auf die jugendliche Seele ein, dass sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiss. Wo ein feineres und stärkeres Bewusstsein zu Grunde lag, stellt sich wohl auch eine andere Empfindung ein: Ekel.« (KSA 1, 299)
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Benjamin interessiert sich für Nietzsche wegen dessen »Einspruch[s] gegen fragwürdige Geschichtskonzeptionen«9. Er greift in seinem Baudelaire-Essay Über einige Motive bei Baudelaire und in seinen geschichtsphilosophischen Thesen »Nietzsches Forderung einer kritischen Historiographie wieder auf«10, indem er sowohl dem Fortschrittsdenken, das er am Beispiel der Sozialdemokratie analysiert, als auch dem Historismus ein unkritisches Verhältnis gegenüber faktischen Machtverhältnissen attestiert. In beiden Fällen beherrscht, so Benjamin, die Vorstellung einer »homogene[n] und leere[n] Zeit« (BG 102), in der auf kontinuierliche Weise die historischen Ereignisse aufeinander folgen, die Konstruktion von Geschichte. Während in der Fortschrittsideologie der Sozialdemokratie das kantische Konzept des Fortschritts als »unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit entsprechender)« (BG 102) Prozess vorherrsche, dessen treibende Kraft nach Ansicht der Sozialdemokratie der technische Fortschritt sei, sei der Historismus durch das »Verfahren der Einfühlung« (BG 96) gekennzeichnet, das sich ebenso wie das Fortschrittsdenken auf »die homogene und leere Zeit« (BG 102) beziehe, die der Historismus mit »der Masse der Fakten« auf rein »additiv[e]« Weise fülle (ebd.). Die Verfahrensweisen beider Geschichtsphilosophien seien, so Benjamin weiter, unfähig, einen kritischen Begriff von Geschichte zu entwickeln, da sie das gesellschaftliche Feld nicht als Ort antagonistischer Konflikte begreifen, die die harmonische Repräsentation des historischen Ablaufs unmöglich machen. Die Sozialdemokratie bewerte, wie Benjamin im Anschluss an Max Weber ausführt, den sozialen Fortschritt am Maßstab der technischen Entwicklung, die sie unter dem Einfluss der »alte[n] protestantische[n] Werkmoral« als »eine politische Leistung« ansieht (BG 99), womit sie einen fatalen Kategorienfehler begehe, denn der technische Fortschritt sage nichts über die Zu- bzw. Abnahme von soziokulturellen und politischen Partizipationschancen aus. Genauso unreflektiert gehen nach Benjamins Analyse die »Geschichtsschreiber des Historismus« (BG 96) vor, da ihre Methode der Einfühlung stets den Herrschenden zugute komme. Der Historizismus untersuche die »Kulturgüter« (BG 97) der herrschenden Klasse, ohne dabei die gewaltsamen gesellschaftlichen Verhältnisse zu beachten, die der historische Materialist »nicht ohne Grauen bedenken« (ebd.) könne. Jedes »Dokument der
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Helmut Pfotenhauer: »Benjamin und Nietzsche«, in: Burkhardt Lindner (Hg.), Walter Benjamin im Kontext. 2., erw. Aufl., Königstein: Athenäum 1985, S. 100-126, hier S. 102.
10 Jeanne Marie Gagnebin: »›Über den Begriff der Geschichte‹«, in: Burkhardt Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, übers. v. Marion Schotsch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 284-300, hier S. 288.
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Kultur« sei »ein solches der Barbarei«, weil es nicht allein »der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen« entsprungen sei (ebd.), wie Benjamin unter dem Schock des Hitler-Stalin-Paktes schreibt. Die ewige Wiederkehr und das Leiden an der Zeit Der ideologische Charakter sowohl des historistischen als auch des sozialdemokratischen Geschichtsbegriffs zeigt sich, wie im vorigen Abschnitt erläutert, für Benjamin an der Form der Zeitlichkeit, die den beiden Geschichtsphilosophien gleichermaßen zugrunde liegt. Während das additive Verfahren des Historismus und der technizistische Fortschrittsglaube der Sozialdemokratie eine Tendenz zur Akkumulation von Werten und Gütern in der Geschichte entdecken, wird, so Benjamin, das gesellschaftliche Leben in Wahrheit von einem tödlichen Wiederholungszwang beherrscht, dessen Macht jede kontinuierliche Entwicklung geschichtlicher Erfahrung unterbindet und das moderne Subjekt zur endlosen Repetition von zerstückelten Tätigkeiten verdammt, die die Zeit nicht mit einer sinnvollen Evolution füllen können, sondern sie leer ablaufen lassen. Die mechanische Arbeit in den Fabriken, das Glücksspiel oder der Konsum von Produkten der Kulturindustrie bilden Handlungszusammenhänge, in denen das Subjekt niemals eine Tätigkeit vollenden kann, weil sie nicht auf die Ansammlung von Lebenserfahrung, sondern auf die sture Wiederholung zusammenhangloser Zyklen ausgelegt sind. Besonders eindringlich weist Benjamin die zerstückelte Zeitwahrnehmung der Moderne am Hasard-Spiel nach: »Die Verrufenheit des Hasardspiels hängt in der Tat daran, daß der Spieler selbst Hand ans Werk legt. […] Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit).« (GS I.2, 636) Freuds individualpsychologische Spekulationen über den Todestrieb aufgreifend und auf die kollektive Ebene der geschichtlichen Lebenswelt übertragend, betont Benjamin, dass die Herrschaft der blinden Wiederholung weniger aktuellen gesellschaftlichen Antagonismen, sondern der endlosen Geschichte der Unterdrückung entspringe. Vergangene Traumata bringen eine blinde Wut auf das Leben hervor, sodass das in die kapitalistischen Produktionszyklen eingespannte Kollektivsubjekt angesichts des Verlusts zusammenhängender Lebenserfahrung »keinen Trost« (GS I.2, 642) mehr akzeptiert, sondern – ähnlich wie der legendäre Misanthrop Timon von Athen – wahllos seine Wut an Freund und Feind auslässt. Benjamins von Freud inspirierte Analyse des Todestriebs berührt sich mit Nietzsches Lehrstück vom Ressentiment, das im Zarathustra unter dem Begriff des ›Geistes der Rache‹ diskutiert wird. Nietzsche lehnt die metaphysisch-mora-
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lische Vorstellung eines Subjekts, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, strikt ab, da er hinter dem Begriff des autonomen Individuums die Intention des Ressentiments erkennt, das Leben zu verurteilen und abzuwerten. Ressentiment bezeichnet bei Nietzsche eine Therapieform, die gegen »p h y s i o l o g i s c h e [] H e m m u n g s g e f ü h l [e] « (KSA 5, 378) zum Einsatz kommt. Die am Leben Leidenden verschaffen sich, so Nietzsche, eine kurzfristige Erleichterung von ihren Schmerzen, indem sie sich einen ›bösen‹ Täter erfinden, den sie für ihre Leiden verantwortlich machen können. Die Menschen werden, so Nietzsche weiter, frei und autonom gedacht, um dem Menschen des Ressentiments einen Vorwand für moralische Anklagen zu geben, die die Ursachen seiner Leiden zwar nicht beseitigen, aber betäuben, indem sie starke Affekte auslösen, die den ursprünglichen Schmerz überdecken: »Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungsnämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden […].« (KSA 5, 373f.)
Derjenige, der Ressentiment empfindet, verbirgt seinen hasserfüllten Charakter und seine Lust am Strafen, indem er vordergründig altruistische Handlungen wie »Wohlthun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen« (KSA 5, 383) ausübt und seine Rache- bzw. Hassgefühle gegenüber dem Leben als Streben nach Gerechtigkeit tarnt: »›Strafe‹ nämlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.« (KSA 4, 180) Der am Ressentiment erkrankte Mensch kann jedoch mit seinen Anklagen seine körperlichen und psychischen Depressionen nicht überwinden, sondern »vergiftet« bei dem Versuch, sich von seinen Leiden zu therapieren, »zugleich die Wunde« (KSA 5, 373), weil die starken Affekte, die das Ressentiment hervorruft, auf lange Sicht den physiopsychischen Apparat des Kranken ruinieren. Ursprung des Ressentiments sind bei Nietzsche die von Kant in der Analytik des Erhabenen beschriebenen Ohnmachtsgefühle, die durch den Überschuss an sinnlicher Wahrnehmung gegenüber den Verarbeitungskompetenzen der kategorialisierenden und schematisierenden Funktionen des menschlichen Erkenntnisapparats ausgelöst werden. Im Fall des Mathematisch-Erhabenen ist die Einbildungskraft mit einem Quantum konfrontiert, das sie aufgrund seiner alles überragenden Größe nicht zu einer Einheit zusammenfassen kann. Kant analysiert in seiner Theorie des Erhabenen treffend das von zahlreichen modernen und zeitge-
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nössischen Wissenschaften wie der Psychoanalyse oder Systemtheorie beschriebene Phänomen, dass endliche Wesen mit einer Umwelt konfrontiert sind, deren Komplexität die endliche Kapazität ihrer Wahrnehmungs- und Verstandesschemata übersteigt. Die Auffassung (apprehensio) einer verstreuten Vielheit überfordert die synthetische Leistungsfähigkeit der Einbildungskraft, sodass das Subjekt vor dem Abgrund einer unkontrollierbaren Wahrnehmung steht, vor dem es erschrocken zurückweicht. Diese die Verarbeitungskompetenzen der Einbildungskraft übersteigende Wahrnehmung »ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet«11. Das zentrale Beispiel für diesen Abgrund ist in der Kritik der Urteilskraft die Zeit. Während die Auffassung endlos in der Zeit zurückschreiten kann, gelingt der Zusammenfassung (comprehensio aesthetica) die Aufhebung der endlosen Zeitreihe in die Präsenz einer transparenten Gegenwart nicht: »[D]ie Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, […] des Sukzessiv-aufgefaßten in einen Augenblick, ist […] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht.«12 Im Erhabenen gelingt jedoch diese Synthese von Regressus und Progressus nicht, die anschauliche Gegenwart bleibt aus. Der Erkenntnisapparat wird von einem Ereignis getroffen, das für das Subjekt ›zu früh‹ eintritt, weil die Synthetisierungsbemühungen der Einbildungskraft ›zu spät‹ kommen. Die Fähigkeiten des Subjekts, Einheit in der Mannigfaltigkeit herzustellen, leiden daher an einer ursprünglichen Verspätung. Bevor das Subjekt sich der Tatsache bewusst wird, dass es in eine Situation involviert ist, ist es schon mitten im Geschehen. Den für endliche Wesen konstitutiven Rückstand der Komprehension gegenüber der Apprehension von Wahrnehmung schreibt Nietzsche im Gedanken der ewigen Wiederkehr fest, da der große Zyklus des Werdens Ereignisse wiederkehren lässt, die indiszernibel-identisch und numerisch-distinkt sind.13 Wenn alle Möglichkeiten des Seins erschöpft sind, tauchen notwendigerweise wieder Ereignisse auf, die sich von ihrem ersten Auftreten lediglich in numerischer Hinsicht unterscheiden. Auf diese Weise zwingt der Gedanke der Wiederkunft zu der Erkenntnis, dass wir immer schon in der Wiederholung des ursprünglichen
11 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Ders., Werkausgabe, XII Bände, Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 181. 12 Ebd., S. 182. 13 Vgl. zur zeitlichen und logischen Struktur der Wiederkunftslehre, in der sich indiszernibel-identische Ereignisse numerisch diskriminieren lassen, die luziden Ausführungen bei Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York: de Gruyter 1984, S. 217-246.
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Ereignisses gefangen sind und jeder Versuch, uns über eine Handlungssituation Übersicht zu verschaffen, gegenüber dem Ereignis zu spät kommt. Im Zyklus der ewigen Wiederkehr gibt es niemals eine Aufhebung der Vergangenheit in die Präsenz der Gegenwart; die Lücke zwischen Apprehension und Komprehension wird niemals geschlossen. Bei Nietzsche leidet – um einen Begriff Slavoj Žižeks aufzugreifen – der phänomenale Bereich aufgrund der begrenzten Fähigkeit der Subjekte zur Synthese von Wahrnehmungen an einer ihm »inhärenten Inkonsistenz«14, die endliche Wesen nicht überwinden, sondern lediglich bejahen können. Dass der Wille des Subjekts den Ablauf der Zeit nicht umkehren kann, provoziere, so Nietzsches These, seinen Hass auf das Leben und bringe ein zerstörerisches Ressentiment hervor. Er nimmt »an Allem, was leiden kann, […] Rache dafür, dass er nicht zurück kann« (KSA 4, 180), indem er das Leben als Strafzustand interpretiert, der niemals endet, da die Strafe die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann: »›Keine That kann vernichtet werden: wie könnte sie durch die Strafe ungethan werden! Diess, diess ist das Ewige an der Strafe ›Dasein‹, dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld sein muss!« (KSA 4, 181) Der ›Geist der Rache‹ erfindet sich einen Täter, den er für die traumatische Vergangenheit verantwortlich machen und ihn für seine Taten zur Rechenschaft ziehen kann. Da jedoch die Vergeltung an der geschehenen Vergangenheit nichts ändert, beseitigt die Strafe nicht die Schuld des Täters, sodass die Interpretation der Welt als Strafzustand einen endlosen Zyklus von Leiden, Strafe und Schuld erzeugt, der nach Nietzsches Analyse zur nihilistischen Abkehr vom Leben führt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen überwindet diesen entsetzlichen Zyklus, indem sie die Welt von der Interpretation der Schuld befreit. Zwar kehren alle Dinge ewig wieder, weil der aus dem Rückstand der Komprehension gegenüber der Apprehension resultierende Zwang zur Wiederholung nicht aufgehoben werden kann, aber sie kehren nicht wieder, weil sie schuldig sind und eine Strafe nach sich ziehen, sondern weil sie in jedem Augenblick ihrer Existenz etwas unendlich Wertvolles erreichen, das der Wiederholung Wert ist. Da die gesamte Kette des Seins nur wiederkehren kann, wenn auch jede einzelne Lage der Willen-zur-Macht-Zentren wiederkehrt, gibt es nichts, was in der Welt geschieht, das nicht eine absolute Notwendigkeit und einen unüberbietbaren Wert in sich trägt: »Geschehen und Nothwendig-Geschehen ist eine Tautologie.« (KSA 12, 536) Der Gedanke der Wiederkehr vermag zwar nicht das traumatische »›Es war‹« (KSA 4, 180) aufzuheben, aber er ändert die Beziehung des Subjekts zu seiner Vergangenheit, indem er deren unverzichtbare Bedeutung für die Wieder-
14 Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 56.
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kehr aller Dinge herausstreicht. Auf diese Weise gelingt die »Versöhnung mit der Zeit« (KSA 4, 181), denn der Wille, der die Wiederkehr aller Dinge bejaht, empfindet die Vergangenheit nicht mehr als Trauma, sondern als Bedingung seiner Existenz im zyklischen Ablauf des innerweltlichen Geschehens: »Alles ›Es war‹ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ›aber so wollte ich es!‹« (ebd.) Benjamins Analyse der kapitalistischen Moderne weist deutliche Parallelen zu Nietzsches Beschreibung der zerstörerischen Spielart der ewigen Wiederkehr als endloser Zyklus von Schuld und Strafe auf. Wie Benjamin in seinen Studien zu Baudelaire im Anschluss an Freud herausarbeitet, ist das moderne Subjekt pausenlos traumatisierenden Schockerfahrungen ausgesetzt, die die Verarbeitungsleistungen des Bewusstseinsapparats überfordern und einen vom Todestrieb regierten Wiederholungszwang konstituieren. Neben der Dynamik des modernen Großstadtlebens ist es vor allem die sinnentleerte Arbeit der maschinellen Industrieproduktion, die dem Arbeiter jede produktive Entfaltung seiner Fähigkeiten verweigert und ihn in monotone Reproduktionszyklen einspannt: »Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt.« (GS I.2, 633) Im Unterschied zu Nietzsche betrachtet Benjamin jedoch den Gedanken der ewigen Wiederkehr nicht als möglichen Ausweg aus dem verschuldenden Kultus der kapitalistischen Religion, sondern im Gegenteil als fatalistischen Mythos, der das Verhängnis des zerstörerischen Wiederholungszwanges nicht aufzulösen vermag. In den Aufzeichnungen zum Passagen-Werk heißt es z.B.: »Die Essenz des mythischen Geschehens ist Wiederkehr. Ihm ist als verborgene Figur die Vergeblichkeit eingeschrieben, die einigen Helden der Unterwelt (Tantalus, Sisyphos oder die Danaiden) an der Stirne geschrieben steht. Den Gedanken der ewigen Wiederkunft im neunzehnten Jahrhundert noch einmal denkend, macht Nietzsche die Figur dessen, an dem das mythische Verhängnis sich neu vollzieht.« (GS V.1, 178) Auch in den Vorarbeiten zu Über den Begriff der Geschichte schreibt Benjamin: »Die Grundkonzeption des Mythos ist die Welt als Strafe – die Strafe, die sich den Straffälligen erst erzeugt. Die ins Kosmische ewige Wiederkehr ist die ins Kosmische projezierte [sic!] Strafe des Nachsitzens: die Menschheit hat ihren Text in unzähligen Wiederholungen nachzuschreiben.« (BG 139) Benjamin kann Nietzsches Überwindungsversuch der Metaphysiken der Strafe und der Schuld nicht akzeptieren, weil die Konzeption der ewigen Wiederkehr »die Spur der ökonomischen Umstände [trägt], denen sie ihre plötzliche Aktualität verdankt« (GS I.2, 663). Nietzsche versuche mit dem Gedanken der Wiederkehr, »die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden: nämlich das der Ewigkeit und das des: noch einmal.«
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(GS I.2, 683) Jedoch bleibt für Benjamin Zarathustras Lehre ein ideologisches Konstrukt, für das »die Tatsache von Bedeutung [ist], daß die Bourgeoisie der bevorstehenden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung nicht mehr ins Auge zu blicken wagte« (GS I.2, 677). Aus den fragmentarischen Zentralpark-Notizen lässt sich schließen, dass für Benjamin der ideologische Charakter der nietzscheanischen Wiederkunftslehre weniger im Konzept der zyklischen Wiederholung beglückender Erfahrungen als in ihrer maßlosen Hinauszögerung begründet liegt. In »dem Augenblicke […], da die Sicherheit der Lebensverhältnisse durch die beschleunigte Abfolge von Krisen sich sehr verminderte« (GS I.2, 663) gewinne der Gedanke der Wiederkehr »seinen Glanz davon, daß mit einer Wiederkehr von Verhältnissen in kleineren Fristen, als sie die Ewigkeit zur Verfügung stellte, nicht unter allen Umständen mehr zu rechnen war« (ebd.). Problematisch ist an dieser Ideologiekritik nicht nur, dass Benjamin den komplexen logischen, naturwissenschaftlichen und ethischen Gehalt der Wiederkunftslehre ausblendet, indem er sie zum Ausdruck kapitalistischer Interessen erklärt, sondern auch, dass er in seinem Spätwerk schließlich politisch fragwürdige Folgerungen aus seiner Polemik gegen Nietzsche zieht.15 Die Kritik am Gedanken der ewigen Wiederkehr mündet, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in Über den Begriff der Geschichte in eine Revolutionstheorie, die die Beseitigung des universellen Schuldzusammenhangs, der nach Benjamins Einschätzung die kapitalistische Gesellschaft prägt, von einer apokalyptischen Racheaktion des Proletariats erwartet. Das Gesetz von Strafe und Schuld durch den ›Geist der Rache‹ selbst zu besiegen, ist – so eine meiner Thesen – das erklärte
15 Für Benjamin ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr vornehmlich ein ideologischer Ausdruck der kapitalistischen Warenwelt. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Nietzsche den Gedanken der Wiederkehr in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften entwickelt. Seine Argumentation für ein zyklisches Universum ist bis heute nicht widerlegt. Vielmehr versucht die aktuelle Schleifenquantenkosmologie eine zyklische Bewegung des Universums zu denken, um die Annahme zu vermeiden, dass das Universum aus einer nicht weiter berechenbaren Singularität hervorgegangen ist. Den Gedanken der Wiederkehr ohne weitere Begründung als ideologischen Mythos zu diskreditieren, bedeutet, dem Forschungsstand der aktuellen Astrophysik nicht gerecht zu werden. Zur Möglichkeit eines zyklischen Universums vgl. Martin Bojowald: Zurück vor den Urknall. Die ganze Geschichte des Universums, Frankfurt/M.: Fischer 2009.
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Projekt von Benjamins später Geschichtsphilosophie, die er in intensiver Auseinandersetzung mit Nietzsches Tragödienschrift entwickelt.16 Die Zerstörung der alexandrinischen Kultur Nietzsche attackiert in seiner Tragödienschrift den »unumschränkt sich wähnende[n] Optimismus« (KSA 1, 117) der alexandrinisch-sokratischen Kultur, deren Werte die abendländischen Gesellschaften seit Platon hegemonial beherrschten, was sich an den sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts zeige, die den »Glaube[n] an das Erdenglück Aller« förderten, indem sie ihre Anhänger mit der verantwortungslosen Rhetorik »schöne[r] Verführungs- und Beruhigungsworte von der ›Würde des Menschen‹ und der ›Würde der Arbeit‹« über die Tatsachen hinwegtäuschten, dass die alexandrinische Kultur einen »Sclavenstand« benötige, »um auf die Dauer existieren zu können« (KSA 1, 117). Dieser Stand lerne unter dem Einfluss der alexandrinischen Rhetorik seine »Existenz als ein Unrecht zu betrachten«, weshalb er sich »anschick[e], nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen«, sodass die moderne Kultur »einer grauenvollen Vernichtung« entgegengehe (ebd.). In der zwölften These von Über den Begriff der Geschichte nimmt Benjamin Nietzsches Diagnose, dass die optimistische Fortschrittsideologie der sokratischen Kultur eine revolutionäre gesellschaftliche Bewegung hervorbringe, die für ihre eigene und die Knechtung ihrer Vorfahren
16 Den Gedanken der ewigen Wiederkehr entdeckt Benjamin auch bei Blanqui, der unabhängig von Nietzsche vor dem Hintergrund mathematischer Spekulationen eine eigenständige Version des Wiederkunftgedankens entwickelt. Vgl. zum Einfluss Blanquis auf Benjamin Hartmut Stenzel: »Dekonstruktion der Sinnstiftung und geschichtsphilosophischer Pessimismus. Baudelaire und Blanqui als antiromantische Vordenker Benjamins«, in: Heinz Brüggemann/Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 299-321, hier S. 319ff.; Detlev Schöttker: »Kapitalismus als Religion und seine Folgen. Benjamins Deutung der kapitalistischen Moderne zwischen Weber, Nietzsche und Blanqui«, in: Bernd Witte/Mauro Ponzi (Hg.), Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne (= Philologische Studien und Quellen 194), Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 70-81; speziell zu Benjamins Auseinandersetzung mit Nietzsches und Blanquis Gedanken der Wiederkunft vgl. Stéphane Moses: »Benjamin, Nietzsche et l’idée de l’éternel Retour«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 74 (1996), Nr. 804, S. 140-158; Birte Löschenkohl: »Entweder/Und, Wiederkunft/ Erlösung«, in: Sigrid Weigel/Daniel Weidner (Hg.), Benjamin Studien 2, München: Fink 2011, S. 129-144.
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Rache nehme, auf, wendet jedoch Nietzsches Kritik an dieser apokalyptischen Racheaktion ins Positive:17 »Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.« (BG 101) Die proletarische Weltrevolution ziehe ihre Kraft nicht aus der Hoffnung auf die Erlösung »künftiger Generationen«, sondern nähre sich »an dem Bild der geknechteten Vorfahren« (ebd.). Allein die Tatsache, dass Benjamin ein extrem subjektives Gefühl wie die Rache, deren neurotischen Charakter die Psychoanalyse seit Freud in ihrer klinischen Praxis herausgearbeitet hat, dem Proletariat als Motivationshilfe anempfiehlt, lässt seine Geschichtsphilosophie im Hinblick auf ihre politischen Konsequenzen fragwürdig erscheinen. Benjamin fahndet seit seiner Frühschrift Zur Kritik der Gewalt nach einer »reinen unmittelbaren Gewalt« (GS II.1, 199), die im Unterschied zu Schmitts souveräner Staatsmacht weder Recht setzt noch es erhält, sondern die Rechtssubjekte vom Joch des Rechts befreit.18 Um den »wirklichen Ausnahmezustand« (BG 97) herbeizuführen und die Herrschaft des Faschismus zu beenden, empfiehlt Benjamin die Rache als revolutionäre Aktionsform, womit er meiner Einschätzung nach nicht nur die Blindheit des Ressentiments, sondern auch die von Nietzsche herausgearbeiteten Rationalitätseffekte der rechtlichen Ordnung nicht angemessen einschätzt.19
17 Benjamins Gedanke einer messianischen Rache entspringt nicht allein der Auseinandersetzung mit Nietzsche, sondern basiert auch – wie die Forschung im Anschluss an Scholem häufig herausgestellt hat – auf der vor allem in der lurianischen Kabbala unter dem Begriff Tikkun verhandelten Vorstellung einer erlösenden Wiederherstellung der ursprünglichen Harmonie von Gottes Schöpfung. Vgl. zum Einfluss der jüdischen Mystik auf Benjamins Geschichtsphilosophie Andreas Pangritz: »Theologie«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 774-825, hier S. 798ff. 18 Zu Benjamins komplexem Begriff der ›reinen Gewalt‹ vgl. Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt/M.: Fischer 2008, S. 106109. 19 Zu Benjamins Auseinandersetzung mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes und der Wirkung seiner revolutionären Geschichtsphilosophie auf die Gegenwartsphilosophie, speziell auf Agambens Homo-sacer-Projekt vgl. Nitzan Lebovic: »Benjamins ›Sumpflogik‹. Ein Kommentar zu Agambens Kafka- und Benjamin-Lektüre«, in: Daniel Weidner (Hg.), Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 191-212; Vivian Liska: »Zur Aktualität von Benjamins messianischem Erbe. Giorgio Agamben und andere Anwärter«, in: Daniel Weidner
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Wie Nietzsche betont, fordert die Ausübung eines Richteramtes ein hohes Maß an Selbstkontrolle und -disziplin, da es auf einem »positive[n] Verhalten« basiert, nämlich auf der »mildblickende[n] Objektivität des gerechten, des r i c h t e n d e n Auges« (KSA 5, 310), die »dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment« ein Ende setzt, »indem sie theils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, theils an Stelle der Rache ihrerseits den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, theils Ausgleiche erfindet, vorschlägt, unter Umständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für alle Mal verwiesen ist.« (KSA 5, 312) Durch diese Verfahren der Rechtssprechung wird, wie sich mit Nietzsche sagen lässt, eine »immer unpersönlichere Abschätzung der That eingeübt« (ebd.), die die Maßlosigkeit der subjektiven Rachegefühle, die aus dem unmittelbaren »Gefühle des Verletzt-seins« (KSA 5, 310) entspringen, auf sozial verträgliche Weise abmildert. Dass es nicht nur eine Korruption der Mächtigen, sondern auch der Ohnmächtigen gibt, deren Leiden am Leben sich in maßloser Rachsucht gegen diejenigen äußert, die nicht wie sie selbst an ihrer Existenz leiden, diese wichtigste moralkritische Einsicht der Philosophie Nietzsches weist Benjamin zurück, weil er – trotz seiner Einsicht in die zerstörerischen Zyklen von Gewalt und Gegengewalt – annimmt, in der revolutionären Gewalt des Proletariats eine messianische Spielart des Ressentiments gefunden zu haben, die sich nicht im Ausbruch blinder Wut erschöpft. Wie Benjamin im Trauerspielbuch im Kontext seiner Analyse der antiken Tragödie selbst herausstellt, führt jede Rache unvermeidlich zu einer ebenso subjektiven Gegenrache, da das Opfer der Rache sich aufgrund des subjektiven Charakters der angewendeten Gewalt zu Recht ungerecht behandelt fühlen darf, sodass sich die »reguläre Verzirkelung des Agon« (GS I.1, 295) endlos perpetuiert. Um diese mörderische Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen, müsste – um mit Hegel zu sprechen – der Begriff selbst Rache üben und damit das subjektive Gefühl des Verletzt-Seins in eine objektive Vergeltung transformieren: »Was die Wiedervergeltung zunächst gegen sich hat, ist, daß sie als etwas Unmoralisches, als Rache erscheint und daß sie so für ein Persönliches gelten kann. Aber nicht das Persönliche, sondern der Begriff führt die Wiedervergeltung selbst aus. ›Die Rache ist mein‹, sagt Gott in der Bibel […].«20 Wenn Gott am Tag des Jüngsten Gerichts Rache für begangene Sünden übt, dann han-
(Hg.), Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 213-238. 20 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders., Werke, XX Bände, Bd. VII, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 196.
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delt es sich, so Hegel, fraglos um eine objektive Wiedervergeltung und eine gerechte Form ausgleichender Gerechtigkeit, die keine Gegengewalt provoziert, denn Gott als allmächtiges, gütiges und allwissendes Wesen verfügt über die notwendige Neutralität und die erforderlichen Informationen, jeden Menschen gemäß der von ihm begangenen Sünden mit einer angemessenen Strafe zu belegen. Benjamin sieht dieses idealistische Konstrukt objektiver Vergeltung zu Recht mit großer Skepsis und behandelt es im Nachlassfragment Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt als »eigentlich heidnische Vorstellung« vom Jüngsten Gericht, gegen die er die sich in der Zeit vollziehende »Vergebung« setzt (GS VI, 98). Jedoch bändigt auch dieses Gerechtigkeitsmodell nicht die Gefahren des Ressentiments, da der Sturm von Gottes Zorn »nicht nur die Stimme [ist] [sic!] in der der Angstschrei des Verbrechers untergeht, er ist auch die Hand, welche die Spuren seiner [Untat] vertilgt, und wenn sie die Erde darum verwüsten müßte« (ebd.). Wirkliche Versöhnung kann, so Benjamin, erst in einer Gemeinschaft eintreten, die die revolutionäre Gewalt der proletarischen Rache als Stellvertreterin der göttlichen Gewalt stiftet. Da das »Soziale […] in seinem jetzigen Stande Manifestation gespenstischer und dämonischer Mächte« sei, könne sich göttliche Gewalt ausschließlich in »revolutionäre[r] Gewalt« äußern: »echte göttliche Gewalt kann anders als zerstörend nur in der kommenden Welt (der Erfülltheit) sich manifestieren« (GS VI, 99). Abgesehen davon, dass Benjamin mit seinem Geschichtsbegriff, der mit theologischen Denkfiguren operiert, auf die »Darstellung des Gesellschaftsganzen«21 zielt, die unter den modernen Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht zu leisten ist, wird das revolutionäre Proletariat in dieser Geschichtskonstruktion mit der unlösbaren Aufgabe belastet, durch die messianische Rache traumatische Vorfälle, die sich in der Vergangenheit ereignet haben, vollständig auszulöschen; es muss die Spuren einer verbrecherischen Tat gänzlich aus den sozialen Beziehungen tilgen, damit sich der Gesellschaftskörper zu einer harmonischen Einheit fügen kann. Gerade diese Leistung können aber endlich-begrenzte Wesen, die von ihrer Bindung an die phänomenale Wirklichkeit nicht abstrahieren können, nicht erbringen, da sie den Zeitpfeil nicht umkehren und ein vergangenes Ereignis ungeschehen machen können. Hinter Benjamins Vorstellung einer göttlichen Vergebung steht daher, so meine Kritik, ein harmonisierendes Bild von Gesellschaft,
21 Norbert Bolz: »Der Kapitalismus – eine Erfindung von Theologen«, in: Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos 2009, S. 187-207, hier S. 204. Bolz geht in seiner Kritik an Benjamins Geschichtsphilosophie sogar soweit, sie als »totalitär« (ebd.) zu bezeichnen.
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das der unaufhebbaren Verstrickung der sozialen Aktanten in ein Netz von Macht- und Gewaltphantasien nicht angemessen Rechnung trägt.22 Um Benjamins Konstrukt einer messianischen Rache zu verteidigen, hilft es auch nicht weiter, wenn man – wie dies Giorgio Agamben im Anschluss an Michel Foucault und Jacques Rancière tut – das Proletariat als messianischen »Rest«23 betrachtet, der von den Institutionen des Gemeinwesens – der Polizei im Sinne Rancières – nicht angemessen repräsentiert werden kann und der daher ein (absolutes) Unrecht erfährt. Dieser Opferstatus – bei dem ohnehin strittig ist, ob er einen absoluten Charakter besitzt24 – berechtigt seine Träger jedoch nicht, im Namen des Allgemeinen Rache zu üben, da sie als endliche Wesen ihre partikulare Perspektive nicht überspringen und die Position des Allgemeinen einnehmen können.25 Die Rede von einer messianischen, vom Recht emanzipierten Politik läuft angesichts des notwendig subjektiven Charakters des Ressentiments Gefahr, als ideologische Rechtfertigung partikularer Interessen missbraucht zu werden. Die messianische Rettung der Vergangenheit Da Benjamin sein geschichtsphilosophisches Konzept revolutionärer Gewalt in einem ausgleichenden Gerechtigkeitsbegriff fundiert, benötigt die welthistori-
22 Vgl. dagegen mit positiver Wertung von Benjamins Begriff der Vergebung Werner Hamacher: »Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ›Kapitalismus als Religion‹«, in: Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos 2009, S. 77-119. 23 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Homo sacer III, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 142. Vgl. ausführlich zum paulinisch geprägten Konzept des ›Rests‹ als messianischer Größe Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 56-71. 24 In Abgrenzung zu Rancières Verständnis von Politik, die »die Tatsache eines Anteils der Anteillosen« (Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 109) in die soziosymbolischen Matrizes einschreibt, betrachtet Agamben das Unrecht, das den Proletariern widerfährt, als absolutes Unrecht. Vgl. G. Agamben: Die Zeit, S. 70f. 25 Daher ist auch Slavoj Žižeks Plädoyer für eine »gerechte Rache/Vergeltung« (Slavoj Žižek: Gewalt. Sechs Abseitige Reflexionen, hg. v. Willi Baer u. Karl-Heinz Dellwo, Hamburg: LAIKA 2011, S. 166), das er im Anschluss an Benjamin vertritt, für eine aufgeklärte Politik nicht zielführend. Ressentiment erzeugt aufgrund seines notwendig subjektiven Charakters stets Gegengewalt und blockiert damit eine produktive Bewältigung sozialer Antagonismen.
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sche Rache des Proletariats eine Autorisierung durch die unterdrückten Klassen vergangener Epochen. Da die Ahnen der gegenwärtig Unterdrückten jedoch, wie Benjamin berücksichtigt, ihre Nachfolger nicht explizit zur Rache auffordern, spricht er von einer »geheime[n] Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«, sodass den proletarischen Rächern eine »schwache messianische Kraft mitgegeben« sei (BG 94), die unverwirklichten Potentiale der Vergangenheit, das Glück, das die Unterdrückten niemals erlangen, sondern sich nur wünschen konnten, in die Tat umzusetzen.26 Wenn Benjamin schreibt, dass »[w]ir […] auf der Erde erwartet worden [sind]« (ebd.), um diese messianische Aufgabe zu erfüllen, richtet er die Geschichte nicht auf ein transzendentes Ziel aus oder übernimmt den problematischen Fortschrittsbegriff der Sozialdemokratie, sondern fordert eine engagierte Geschichtsschreibung, die die kontinuierliche Zeit des Fortschritts aufsprengt, um die Katastrophen und Brüche der historischen Entwicklung kenntlich zu machen: »Vergangenheit historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.« (BG 95) Bei aller Betonung der Diskontinuität der Geschichte impliziert der messianische Aspekt von Benjamins Geschichtsphilosophie jedoch auf doppelte Weise die Konstruktion einer kontinuierlichen Geschichte: Auf der einen Seite steht die endlose Kette der Herrschenden, zwischen denen eine direkte Erbfolge existiert: »Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben« (BG 96f.), weshalb sie auch für all die Schandtaten, die ihre Vorgänger begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden dürfen und so dem kollektiven Ressentiment ein imaginäres Ziel bieten. Auf der anderen Seite steht die kontinuierliche Kette der Unterdrückten, denn die proletarische Klasse ist aufgrund ihrer messianischen Kraft dazu autorisiert, für die »Generationen Geschlagener« (BG 101) Rache zu üben.27
26 Dass sich die messianische Kraft nicht auf eine restlose Aktualisierung, sondern auf »die Möglichkeit von Glück« bezieht, hat Andreas Oberprantacher herausgearbeitet. Vgl. Andreas Oberprantacher: »›eine schwache messianische Kraft …‹ Walter Benjamins Hoffnung«, in: Wolfgang Palaver/Andreas Oberprantacher/Dietmar Regensburger (Hg.), Politische Philosophie versus Politische Theologie? Die Frage der Gewalt im Spannungsfeld von Politik und Religion, Innsbruck: Innsbruck UP 2011, S. 89108, hier S. 93. 27 Auf die doppelte Bewegung von Klage um eine verlorene Vergangenheit und revolutionärer Gewalt weisen zahlreiche Arbeiten zu Benjamins Geschichtsphilosophie hin, ohne aber das Problem der Rache zu fokussieren. Vgl. z.B. Gabriel Motzkin: »Das Dilemma einer säkularen Philosophie der Geschichtswissenschaft. Gedanken über Ben-
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Benjamins Messianismus stieß bei den Vordenkern der Kritischen Theorie auf Unverständnis. Max Horkheimer wirft in einem Brief vom 16. März 1937 Benjamin eine idealistische Haltung zur Geschichte vor, da er die Abgeschlossenheit der Vergangenheit nicht ernst nehme und damit der in der Moderne unglaubwürdigen Idee eines Jüngsten Gerichts Vorschub leiste: »›Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagnen sind wirklich erschlagen … Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben.‹« (GS V.1, 589) Benjamin greift in Über den Begriff der Geschichte Horkheimers Kritik auf, wenn er in der neunten Geschichtsthese mit einem allegorischen Bild davon spricht, dass die Vergangenheit sich der rettenden Aktualisierung zu entziehen droht, weil die Bewegung der Zeit unaufhörlich in die Zukunft strebt: »Der Engel der Geschichte […] möchte wohl verweilen, die Toten wecken, und das Zerschlagenen zusammenfügen. Aber ein Struurm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so straark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.« (BG 98) Jedoch kann Benjamin Horkheimers Kritik nicht vollständig akzeptieren, da diese sonst seine gesamte geschichtsphilosophische Konstruktion unterminieren würde. Das Eingedenken in die unverwirklichten Potentiale der Vergangenheit kann, so Benjamin, »das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abschlossenen [sic!] und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie […].« (GS V.1, 589) Ein Minimum an messianischer Kraft muss der revolutionären Klasse des Proletariats mitgegeben sein, sonst verliert ihre weltgeschichtliche Racheaktion ihre Legitimität. Am Anspruch, »daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist« (BG 94), hält Benjamin fest, da er in der Tradition des präsenzontologischen Denkens den Tag des Jüngsten Gerichts als den Augenblick bezeichnet, in dem der »erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu[fällt]« (BG 94).28 Die moralische Solidarität mit den Opfern der Geschichte, die in den Archiven der offiziellen Geschichtsschreibung kein Heimatrecht besitzen, ist bei Ben-
jamins Thesen zum Konzept der Geschichte«, in: Heinz Brüggemann/Günter Oesterle (Hg.), Walter Benjamin und die romantische Moderne, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2009, S. 519-533; Sigrid Weigel: »Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht«, in: Daniel Weidner (Hg.), Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 66-94. 28 Zu einer kritischen Perspektivierung von Benjamins Konzept einer messianischen Rettung des Vergangenen vgl. Karl Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 506-538.
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jamin an ein ästhetisches Wahrnehmungs- und Darstellungsproblem gebunden, das aus dem fundamentalen Rückstand der Komprehension gegenüber der Apprehension von Wahrnehmung resultiert. Die Erkenntnisschemata des menschlichen Bewusstseinsapparats müssen aus einem Überschuss an Wahrnehmung diejenigen Daten selektieren, die für das Überleben des Subjekts unentbehrlich sind. Daher führt jede von den schematisierenden Funktionen des Erkenntnisapparats erzeugte Gegenwart einen Überhang an Wahrnehmung mit sich, der sich der Präsenz des Bewusstseins entzieht. Ein Teil der Wahrnehmung ist vergangen, bevor er im Bewusstsein repräsentiert werden konnte. Wie aber ist ein Zugriff auf diese Vergangenheit, die jede Gegenwart des Bewusstseins begleitet, möglich, wenn sie de jure die interpretativen Leistungen der menschlichen Erkenntnisschemata übersteigt? Benjamins Antwort, die er in kritischer Auseinandersetzung mit Bergson, Proust und Baudelaire entwickelt, lautet, dass es mit der mémoire pure eine Erinnerungsform gibt, die die unbewussten Daten der überschüssigen Wahrnehmung im Gedächtnis versammelt und sie in einen gleichermaßen persönlichen und kollektiven Traditionszusammenhang einbindet, der über kultische Feste und Zeremonien die unterschiedlichen Materien der bewussten Erinnerung und der mémoire pure miteinander vermittelt: »Die Kulte mit ihrem Zeremonial […] führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch. […] Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit.« (GS I.2, 611) In Zeiten des festlichen Eingedenkens werden die Schematisierungsfunktionen und zeichenhaften Interpretationsmodelle des Bewusstseins außer Kraft gesetzt. Der Zugriff auf das Übermaß an Wahrnehmung erfolgt über ein ternäres, analoges Sprachmodell, in dem ein aus Zeiten magischer Weltauslegung herstammendes mimetisches Vermögen »unsinnliche Ähnlichkeit[en]« zwischen Gegenwart und Vergangenheit entdeckt, die als Medium fungieren, »in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren« (GS II.1, 213). Diese Sprachbilder, die heimliche Korrespondenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit ermöglichen, bilden eine Ebene des subjektiven Interpretationsgeschehens, das sich der linguistischen Zeichenebene entzieht, da die unsinnlichen Ähnlichkeiten analogische, kontinuierliche und nichtdifferenzierte Zeichen darstellen, die nicht dem Abstraktionsprozess unterliegen, der symbolische Formen der digitalen, diskontinuierlichen und disjunktiven Repräsentation unterwirft und satz-propositionale Interpretationseinheiten generiert.29 Benjamin erkennt am Beispiel von Bergsons Lebensphilosophie, dass das
29 Zur Differenz zwischen analogen und digitalen Medien vgl. Günter Abel: Sprache,
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Eintauchen in den dichten semiotischen Wahrnehmungsstrom, in dem das amorphe Material der sinnlichen Wahrnehmung noch nicht in diskrete Begriffsentitäten unterteilt ist, in der Moderne die »schlechte Unendlichkeit eines Ornaments« (GS I.2, 643) mit sich bringt, weil nach dem Niedergang ritualisierter Kulte, die den Übergang in den vor-prädikativen Bereich analoger Bilder sicherstellen, die mémoire pure zu einer privatisierten mémoire involontaire degeneriert, die nur noch zufällig eintritt. Daher sind – das zeigt für Benjamin das Beispiel Baudelaires – in der Moderne nur noch »die auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung« (ebd.) zu haben. Das Eingedenken in die Vergangenheit droht von den zynischen Herren der Geschichte und ihrer Geschichtsschreibung dauerhaft unterbunden zu werden, sodass »auch die Toten […] vor dem Feind, wenn er siegt [sic!] nicht sicher sein [werden]. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (BG 96) Der Tigersprung ins Vergangene Trotz seiner Bemühungen, den Anspruch auf vollständige Repräsentation der Vergangenheit nicht zu überdehnen, sind Benjamins geschichtsphilosophische Spekulationen mit dem historischen Materialismus der marxistischen Tradition unvereinbar.30 Benjamin kennt, wie das Theologisch-politische Fragment zeigt, ein Ende der Geschichte im messianischen Reich Gottes: »Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.« (GS II.1, 203) Bei Marx hingegen ist das Gottesreich weder Ziel noch Ende der Geschichte, sondern ein rein ideologisches Konstrukt. Der Kommunismus beendet oder vollendet die Geschichte nicht, sondern
Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 162-168. Aus historischer Perspektive vgl. die klassisch gewordenen Ausführungen zur Krise des ternären Sprachmodells in der Moderne bei Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp1971, S. 93. 30 Zu den am intensivsten diskutierten Aspekten der Benjamin-Forschung gehört die Frage, ob seine eigenwillige, theologisch aufgeladene Geschichtsphilosophie materialistische Züge trägt. Diese bereits von Scholem, Adorno und der 68er-Bewegung diskutierte Frage kann hier nicht abschließend geklärt werden. Es soll lediglich festgehalten werden, dass aufgrund der oben aufgeführten Argumente Benjamins Geschichtsphilosophie mit dem marxistischen Materialismus als unvereinbar erscheint. Vgl. zur Diskussion um Benjamins Materialismus die Übersichtsdarstellung bei Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, hg. v. Florent Perrier, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 1163-1201.
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ermöglicht sie erst, wobei dieser Geschichte kein einheitliches Subjekt zugrunde liegt: »Die Gesellschaft als ein einziges Subjekt betrachtet, ist, sie überdem falsch betrachten – spekulativ.«31 Dieser berühmte, gegen Hegel gerichtete Satz drückt eine zentrale Gedankenfigur des marxistischen Materialismus aus. Für Marx reflektiert und hebt sich die Abfolge der verschiedenen Produktionsformationen nicht vollständig im Resultat der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse auf, sondern bewahrt gegenüber dem Resultat ihre Äußerlichkeit. Keiner Produktionsformation ist es – so betonen führende Marx-Kommentatoren wie Louis Althusser, Hiroshi Uchida, Wolfgang Haug oder Andreas Arndt – möglich, ihre Produktionsbedingungen ohne Bezug auf äußerliche, historische Voraussetzungen zu produzieren und zu reproduzieren.32 Wie Marx an prominenter Stelle in seiner historischen Schrift Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, die Benjamin 1938 bei Brecht in Svendborg liest,33 ausführt, stellt das Angewiesen-Sein der aktuellen Klassen auf eine Vergangenheit, die sie nicht frei produzieren können, eine ungeheure Belastung dar, die jeglichen Veränderungswillen zu ersticken droht und die großen Revolutionäre zur Nachahmung vergangener Epochen verdammt: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwür-
31 Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Ders./Friedrich Engels: Werke, XLIII Bände, Band XIII, Berlin: Dietz 1971, S. 615-641, hier S. 625. 32 Vgl. Hiroshi Uchida: Logik der Produktion. Marx’ Grundrisse und Hegels Logik, hg. v. Walter G. Neumann, Hannover: Verlag für die Gesellschaft 1994, S. 108-112; Andreas Arndt: »Was ist Dialektik?«, in: Das Argument 50 (2008), H.1, S. 37-48, hier S. 47f.; Wolfgang F. Haug: »Dialektik«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 2: Bank bis Dummheit in der Musik, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Hamburg: Argument 1995, S. 657-693; zu Marx’ Bruch mit Hegel vgl. Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S. 142f. 33 Vgl. Erdmut Wizisla: »Revolution«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 665-694, hier S. 683.
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digen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.«34
Während Marx über das nachahmende Zitieren vergangener Epochen spottet und sie als ein Phänomen betrachtet, das lediglich im Rahmen der bürgerlichen Revolution einen gewissen Heroismus auslösen konnte, lobt Benjamin sie als Aktualisierung der uneingelösten Potentiale der Vergangenheit: »Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genauso wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.« (BG 102) Während Benjamin die modischen Aktualisierungen der Vergangenheit als produktives Moment der Revolution wertet, erhebt Marx die strenge Forderung, die Vergangenheit als abgeschlossen zu betrachten und die messianische Rettung des Vergangenen strikt aus dem Reich revolutionärer Politik zu verbannen, die ausschließlich auf die Zukunft ausgerichtet sein dürfe: »Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.«35
Wie die zitierte Passage zeigt, unterscheidet sich der historische Materialismus der marxistischen Tradition fundamental von Benjamins theologisch aufgeladenem Geschichtsbegriff. Benjamins Vorstellung einer messianischen Rache ist mit dem marxistischen Begriff des Klassenkampfes unvereinbar, weil Marx die hegelianische Dialektik verendlicht und auf diese Weise den messianischen Vergangenheitsbezug aus der revolutionären Politik ausschließt. Bei Marx tritt – das ist gegen Benjamin festzuhalten – das Proletariat nicht als »die letzte geknechtete, als die rächende Klasse« (BG 101) auf, da ihm ausschließlich die Aufgabe zu-
34 Karl Marx: »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Ders./Friedrich Engels: Werke. XLIII Bände, Band VIII, Berlin: Dietz 1960, S. 111-207, hier S. 119. 35 K. Marx: Der 18. Brumaire, S. 117.
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fällt, die Zukunft zu gestalten. Benjamin war sich, wie Nachlassnotizen zeigen, dieser fundamentalen Differenz zwischen seiner und der marxistischen Dialektik durchaus bewusst. In den Notizen zu den geschichtsphilosophischen Thesen bezeichnet er den historischen Materialismus der marxistischen Tradition als »irrige Konzeption«, die auf einer Variante des sozialdemokratischen Fortschrittsdenkens basiere, da für Marx die »Menschheit im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft« gelange (BG 154). Diese materialistische Geschichtsauffassung beabsichtigt Benjamin zu korrigieren, indem er dem »Begriff der klassenlosen Gesellschaft […] sein echtes messianisches Gesicht« wiederzugeben versucht, »und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst« (BG 155). Ob Benjamin mit seinem geschichtsphilosophischen Konzept einer messianischen Rache einen produktiven Beitrag zu einer revolutionären Politik leistet, scheint mir aufgrund des subjektiven und imaginären Charakters von ausgleichenden Gerechtigkeitstheorien äußerst fraglich. Materialistische Politik muss, wie dies Marx und Nietzsche trotz aller philosophischen Differenzen gleichermaßen fordern, die Vergangenheit als abgeschlossene Tatsache akzeptieren. Die Unfähigkeit des Subjekts, die Vergangenheit in die Präsenz seines Bewusstseins aufzuheben, beweist die Eigenständigkeit der Materie gegenüber dem reflektierenden Geist, weshalb die Ablehnung einer messianischen Erlösung der Vergangenheit zum Grundbestand materialistischen Denkens gehört. Diskussionswürdig ist im Rahmen des materialistischen Paradigmas lediglich, ob man wie Nietzsche die Erlösung von der Last der Vergangenheit von der ewigen Wiederkehr des Gleichen erwartet oder wie Marx einen reflektierten Fortschrittsbegriff vertritt, der die traumatische Dimension der Vergangenheit zwar nicht leugnet, aber doch die Möglichkeit einer utopischen Gestaltung der Zukunft nicht vollständig ausschließt.
Entscheidung/Unterscheidung Zur Denkfigur von Carl Schmitts Politischer Theologie D ANIEL -P ASCAL Z ORN
Die politische Philosophie Carl Schmitts gehört zu den wesentlichen Bezugspunkten einer Auseinandersetzung mit dem Politischen im 21. Jahrhundert. Schmitts oft martialisch anmutenden Thesen sind sowohl Projektions- als auch Reibungsfläche für die Herausbildung Neuer Politischer Theorie.1 Auch für die lebendige Debatte über die Möglichkeit und Machbarkeit einer politischen Theologie ist die Auseinandersetzung mit Schmitt unausweichlich – zumal in Zeiten, in denen die Ubiquität des Menschen und seiner empirischen, sozialen und metaphysischen Grenzen zum globalen Bewusstsein der Theoriebildung gehören. In den folgenden Überlegungen möchte ich mich mit dem konzeptionellen ›Gerüst‹ von Schmitts Gedankenentwicklung vor allem im Ausgang von seiner – 1922 erstmalig erschienenen – Politischen Theologie2 im Zusammenhang mit der Einführung der Grundunterscheidung »Freund und Feind« im 1933 erschie-
1
Vgl. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007; Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; Ders.: Ausnahmezustand, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Vgl. zum Überblick über die Neue Politische Theorie: Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010; Jan Völker/Uwe Hebekus: Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg: Junius 2012.
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Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 6. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1993. Im Folgenden im Fließtext zitiert mit der Sigle PT und entsprechender Seitenzahl.
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nenen Hauptwerk Der Begriff des Politischen3 auseinandersetzen. Weil es mir auf einen direkten konzeptionellen ›Überstieg‹ zwischen den beiden Werken, also auf ihre spezifische konzeptionelle Nähe zueinander, ankommt, beziehe ich mich auf den Text der Politischen Theologie in der zweiten Auflage, die im selben Jahr, nämlich 1933, erschienen ist. 1. Analyse von Denkfiguren: Methodische Vorbemerkung Die Konzentration auf die Konzeption geht dabei von einigen methodischen methodischen Prämissen aus: So wird es mir im Folgenden nicht darum gehen, einen inhaltlichen Kommentar zu Schmitts Überlegungen zu liefern, in dem diese in einen größeren Kontext eingebettet würden. Vielmehr liegt mein Augenmerk darauf, wie Schmitts eigene begriffliche Entscheidungen in seinen Texten arbeiten und so in ihrem Verhältnis zueinander diejenige Struktur bilden, die es hier zu skizzieren gilt. Eine klassisch hermeneutische Perspektive, in der es um die Explikation einer im Text wie auch immer zugrundeliegenden ›Wahrheit‹ geht, ist dafür ebenso ungeeignet wie die bloß überprüfende philosophische Fragestellung nach Wahrheit oder Falschheit dessen, was Schmitt inhaltlich behauptet. Dementsprechend handelt es sich bei der folgenden Untersuchung wesentlich um ein indirektes Lektüreverfahren, das im Nachvollzug der im Text zugrunde gelegten Gedanken besteht. Zugleich geht es um eine spezifische Form der Achtsamkeit auf die Etablierung von Begriffen. Damit ist vorausgesetzt, dass ich Schmitt als Philosophen lese, d.h. unter der Voraussetzung, dass er können wollen muss, dass sein Denken ein begründetes und zugleich begründendes Denken ist, d.h. dass es sich in Schmitts Text um eine konsequente und nicht bloß lose assoziative Gedankenentwicklung handelt. In dieser Hinsicht soll so die Denkfigur oder Figuration des Denkens, die Schmitts Überlegungen strukturiert, plausibel gemacht werden – in der Art, dass es zum ältesten Geschäft von Philosophie gehört, das ›andere Denken‹ jeweils in seiner Eigenheit zu verstehen zu suchen. Eine Denkfigur ist dabei gedacht als diejenige Struktur, die sich in philosophischen Reflexionen stets auf immer unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringt – was die Vielfalt dessen ausmacht, was wir Philosophie nennen –, die sich aber hinsichtlich ihrer strukturellen Ei-
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Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker & Humblot 1979. Im Folgenden im Fließtext zitiert mit der Sigle BP und entsprechender Seitenzahl. Zur Unterscheidung von »Freund und Feind«, vgl. BP, S. 26-39.
E NTSCHEIDUNG /U NTERSCHEIDUNG
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genschaften durchaus in einen Vergleich bringen lassen – was ausmacht, dass wir diesen und jenen Text philosophisch nennen.4 Um meine Darlegungen in Bezug auf Schmitts Denkfigur zu plausibilisieren, möchte ich zwei bestehende Lektüre-Ansätze zu Schmitt in einen Dialog zueinander bringen, um schließlich herauszustellen, worin die Struktur besteht, die sich in Schmitts politischer Philosophie zeigen lässt. Mein erster Ausgangspunkt ist Heinrich Meiers Abschluss5 seiner Untersuchung zu Schmitt und Leo Strauss6, die mit dem Titel Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie bereits das Resümee von Meiers Schmitt-Lektüre programmatisch wiedergibt: Politische Theologie setzt eine vorgängige Entscheidung voraus, die sie radikal von jeder politischen Philosophie unterscheidet, oder wie Meier sein Buch beschließt: »Inter auctoritatem et philosophiam nihil est medium.«7 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es diese Entscheidung ist, die für Schmitts Denken maßgeblich ist und dass der Begriff der Entscheidung sich in gleich mehrfacher Weise systematisch im Werk Schmitts bricht und dort zuallererst das konzeptionelle Gerüst ermöglicht. Insofern »inter auctoritatem et philosophiam« aber vorgängig unterschieden ist, da eine Entscheidung auch eine Unterscheidung voraussetzt, wird die folgende Untersuchung an der operativen, d.h. an der die konzeptionelle Machart betreffenden, Oszillation von Unterscheidung und Entscheidung (insofern eine Entscheidung für eine Alternative eine Unterscheidung bereits voraussetzt) und von Entscheidung und Unterscheidung (insofern eine Unterscheidung – als Grenzziehung zwischen, ›inter‹, etwas – selbst eine Entscheidung ist) orientieren. Dabei soll sich am Ende der Untersuchung zeigen, dass in der genauen Befolgung der These Meiers in der Hinsicht einer operational aufmerksamen Lektüre, wie sie Jean-Pierre Schobinger skizziert hat8, ein Schlüssel zum Verständnis dazu liegt, warum Schmitts Theorie philosophisch nachvollzogen werden
4
Eine genaue Herleitung des Begriffs der ›Denkfigur‹ gebe ich in meiner Dissertation, in der es um den Vergleich von ›Denkfiguren‹ bei Martin Heidegger und Michel Foucault geht.
5
Vgl. Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994. Vgl. hier das Vorwort, S. 9.
6
Vgl. Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und ›Der Begriff des Politischen‹, 3.
7
H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts, S. 261.
8
Jean-Pierre Schobinger: Operationale Aufmerksamkeit in der textimmanenten Ausle-
Aufl., Stuttgart: Metzler 1992.
gung, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 39 (1992), S. 5-38.
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kann, aber inhaltlich ein Bekenntnis erfordert, das ihr äußerlich ist. Meiers These lautet: »Wer zum Kern des Unterfangens vorstoßen will, in dessen Dienst sich Schmitt mit seiner Theorie des Politischen stellt, muß bis zu der alles entscheidenden Frage zurückgehen, die in Schmitts ›Theorie‹ nicht zur Sprache kommt, sondern ihr vorausliegt, weil sie für Schmitt ein für allemal autoritativ beantwortet ist.«9
Ich möchte zum Abschluss, auf der Basis der bis dahin durchgeführten Untersuchung, eine kleine Änderung in dieser Formulierung Meiers vorschlagen, in der sich noch die Möglichkeit von Meiers wie der hier vorliegenden Analyse wiederfinden lässt. Um die bei Schmitt in kleinteiliger Textanalyse aufgezeigte Denkfigur philosophisch zu plausibilisieren und so ihren eigentlichen ›metaphysischen Kern‹ noch deutlicher zur Erscheinung zu bringen, soll die von Meier ausgehende Untersuchung im zweiten Teil dieses Aufsatzes mit einem Hinweis – mein zweiter Ausgangspunkt – verbunden werden, den Ralf Rother in seinem Buch Wie die Entscheidung lesen? Zu Platon, Heidegger und Carl Schmitt10 gegeben hat. Rother stellt dort im Ausgang von einem Brief Heideggers an Schmitt das Heraklit-Fragment 53 vor, wie es von Eugen Fink und Heidegger in deren gleichnamigem Seminar ausgelegt wurde. Damit soll deutlich werden, was mit der – asymmetrischen – Oszillation von Unterscheidung und Entscheidung bzw. Entscheidung und Unterscheidung gemeint sein kann und inwiefern Schmitt möglicherweise nur Denkformen ins Werk setzt, die unabhängig von seinen Behauptungen über die tatsächliche Verfasstheit der Welt diese Behauptungen strukturieren und in eine konsequente Folge stellen. Diese konsequente Folge wird als Figuration von Schmitts Denken oder ›Schmitts Denkfigur‹ angesprochen und ist damit das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung. Hinsichtlich der thematischen Ausrichtung soll allerdings nicht die gesamte Denkfigur untersucht werden, sondern im Besonderen das, was in ihr in der Funktion eines Numens wirkt. Ich übernehme diesen Begriff vor allem deswegen von Rudolf Otto11, weil dieser in Das Heilige ein ganzes Ensemble an denkphänomenalen Bestimmungen zur Explikation desselben entwickelt. Dabei ist Ottos Versuch begrifflich zu fassen, »was ein völlig spezifisches Moment in sich hat,
9
H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts, S. 52.
10 Ralf Rother: Wie die Entscheidung lesen? Zu Platon, Heidegger und Carl Schmitt, Wien: Turia & Kant 1993. 11 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 6. Aufl., Breslau: Trewendt & Granier 1921.
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das sich dem Rationalen […] entzieht und das ein […] ineffabile ist, sofern es begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist […]«12, eigentlich zentral: Der reine Akt, der auf sich selbst verweist und damit auf die Ebene des Transzendenten, in das hinein sich jeder Versuch der Bestimmung je schon entzieht. Dabei geht der Annahme eines solchen Numens das »Eingeständnis« voraus, dass jedes Denken von Potentialität das Denken einen – wiederum nun denkbaren – »letzten Grund alles Geistes in der Welt überhaupt den absoluten Geistes als actus purus«13 voraussetzt. Im Folgenden wird die paradoxe Spannung dieser provisorischen Phänomenologie das umschreiben, was hier in philosophischer Hinsicht das »Numinose« genannt wird: »Entzug« und »Selbstständigkeit/Selbsttätigkeit«, reiner »Akt« und reiner »Grund« – in ihrem jeweiligen Gedachtwerden als philosophische oder theologische Kategorien und der vorgängigen Entscheidung zum Waltenlassen oder Nichtwaltenlassen des »Irrationalen«, das zugleich »actus purus« ist. Hier liegt dann noch einmal systematisch begründet, was mit Meiers wesentlicher Trennung von Politischer Philosophie und Politischer Theologie bereits angesprochen wurde: Das Dritte liegt in der Entscheidung selbst, die darin zur Unterscheidung wird. Die folgenden Ausführungen sollen diesen Satz Schritt für Schritt zur Erhellung bringen. 2. Entscheidung: Politische Theologie Carl Schmitt beginnt seine Politische Theologie mit dem Satz: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (PT, S. 13) und rückt damit den Begriff der Entscheidung in den Mittelpunkt seines Interesses. Die Politische Theologie besteht aus insgesamt vier Kapiteln, für deren Lektüre14 ich folgende Ordnung vorschlage: Kapitel 1 exponiert vor allem den Begriff der »Entscheidung« und das »Subjekt des Souveräns«, auf das noch der Ausnahmezustand hinweist. Der Ausnahmezustand ist der status nascendi einer werdenden Ordnung, (über) die der Sou-
12 R. Otto: Das Heilige, S. 5. 13 R. Otto: Das Heilige, S. 137f., Fn 1. 14 Damit ist gerade nicht gesagt: dass Schmitt nur so gelesen werden könne, dass damit eine Wahrheit in Schmitts Werk aufgedeckt werde, dass Schmitt in Wirklichkeit dies oder jenes gemeint habe. Sondern nur das: dass sich in dem Zusammenhang von Schmitts Politischer Theologie und dem Begriff des Politischen eine Struktur zeigt, die sich wie folgt beschreiben lässt.
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verän entscheidet.15 Zur Entscheidung des Souveräns gehört »eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung« (PT, S. 18). Sie »macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut« (PT, S. 14). In eins damit ist die totale Bestimmung des Geltenden gegeben: »Alles Recht ist ›Situationsrecht‹. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität.« (PT, S. 19) Die Entscheidung des Souveräns besitzt so zwei Momente: Dass die Entscheidung in ihrer Unverfügbarkeit getroffen wird und das, was sie entscheidet.16 Im zweiten Kapitel zeigt Schmitt auf, dass sich ein Residuum der Unverfügbarkeit und unbestimmbaren Jeweiligkeit der souveränen Entscheidung im normalen Recht bestehender Ordnung wiederfinden lassen: »Es erhebt sich das Problem, wieweit in jeder Feststellung und Entscheidung mit rechtslogischer Notwendigkeit ein konstitutives Element enthalten ist, ein Eigenwert der Form.« (PT, S. 33) In diesem Eigenwert der Form, die nur qua Setzung eben als diese und keine andere Form beschrieben werden kann17, liegt die souveräne Entscheidung, ein Residuum der Unverfügbarkeit, das nicht mehr etwa aus einer Grundnorm abgeleitet werden kann: »Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist, und der Umstand, daß eine Entscheidung notwendig ist, ein selbständiges determinierendes Moment bleibt.« (PT, S. 36)
Damit setzt sich die radikal gedachte Entscheidung über den Ausnahmezustand in den normalen Zustand hinein fort, oder umgekehrt: Nur von einer solchen ra-
15 »Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart [!] sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß [!], in der Rechtssätze gelten können.« (PT, S. 19) 16 »Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht.« (Ebd.) 17 »Es ist in der Eigenart des Normativen begründet und ergibt sich daraus, daß ein konkretes Faktum konkret beurteilt werden muß, obwohl als Maßstab der Beurteilung nur ein rechtliches Prinzip in seiner generellen Allgemeinheit gegeben ist. So liegt jedes Mal eine Transformation vor. […] In jeder Umformung liegt die auctoritas interpositio.« (PT, S. 37)
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dikalen Entscheidung des Souveräns lässt sich das Verhältnis von Recht und Gesetz in angemessener Weise fassen: »[E]rst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.« (PT, S. 38) Im dritten Kapitel führt Schmitt zugleich eine Vertiefung und Parallelisierung der vorangegangenen Kapitel durch, indem er hier eine wesentliche Prämisse formuliert, die durch seinen kritischen und scheinbar nur deskriptiven Blick hindurch ebenso für ihn selbst gilt: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach […], sondern auch in ihrer systematischen Struktur […].« (PT, S. 43) Dieser reflexive Schritt ermöglicht es Schmitt, die Unverfügbarkeit der Entscheidung des Souveräns mit der Unverfügbarkeit der Entscheidung Gottes zu parallelisieren: »Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.« (PT, S. 43) Damit wird zugleich expliziert, was mit »systematischer Struktur« gemeint ist: »[D]ie im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze […].« (PT, S. 43) Im Zuge der Säkularisierung ergibt sich so zwar die Notwendigkeit, die Begriffe ebenso säkular zu verstehen, aber durch diese bloß weltimmanente Begriffsverwendung schimmert doch stets ihr metaphysischer Ursprung hindurch. Es ist, so Schmitt, Juan Donoso Cortés, der »sich mit großartigem Radikalismus des metaphysischen Kerns aller Politik bewußt war […].« (PT, S. 55) Im vierten Kapitel schließlich stellt Schmitt die politisch-theologischen Überlegungen dreier gegenaufklärerischen Staatsphilosophen dar: Diejenige von Donoso Cortés, von Joseph Marie de Maistre und von Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald. Vor allem Donoso Cortés und de Maistre werden allerdings so zitiert und dargestellt, dass durch ihre Äußerungen hindurch auch die vorangegangenen Kapitel und ihre Entwicklung erhellt werden: »Überall, wo die katholische Philosophie des 19. Jahrhunderts sich in geistiger Aktualität äußert, hat sie in irgendeiner Form den Gedanken ausgesprochen, daß eine große Alternative sich aufdrängt, die keine Vermittlung [!] mehr zuläßt. No medium, sagt Newman, between catholicity and atheism. Alle formulieren ein großes Entweder-Oder, dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt als nach einem ewigen Gespräch.« (PT, S. 59)
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Ich möchte nun vorschlagen – und darin folge ich Heinrich Meier18 –, dass die Politische Theologie von diesem vierten Kapitel her gelesen diejenige Struktur offenbart, in der sich so etwas wie eine Denkfigur zuallererst zeigt. Der erste Teil dieser Figur betrifft die in der Politischen Theologie arbeitende Operationalität der Entscheidung, sowie die Explikation des Horizontes, vor dem sich Schmitts eigene Rede positioniert. Zunächst ist so zu verdeutlichen, was es heißt, wenn behauptet wird, dass Schmitt ›durch‹ die Äußerungen der Gegenrevolutionäre ›hindurch‹ seine eigene Position erhellt. Das ›durch hindurch‹ ergibt sich als Konsequenz aus Schmitts eigenen Feststellungen: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe« (PT 43), sowie: die »systematische Analogie theologischer und juristischer Begriffe wird […] deshalb hervorgehoben, weil eine Soziologie juristischer Begriffe eine konsequente und radikale Ideologie voraussetzt.« (PT, S. 47-48) Liest man diese Sätze deskriptiv, so verfehlt man die Ebene19, die sie aufschließen: Schmitts eigene Begriffe sind säkularisierte theologische Begriffe und zwar so, dass ihre Darstellung notwendig auch die Darstellung, wenngleich indirekt, ihres theologischen Horizonts oder Kerns mit einschließt. Dies lässt sich an zwei Beispielen exemplarisch zeigen:20 »Die aktuelle Bedeutung jener gegenrevolutionären Staatsphilosophen aber liegt in der Konsequenz, mit der sie sich entscheiden. […] Schon in den […] Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf eine reine, nicht räsonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung.« (PT, S. 69)
18 Vgl. H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts, S. 125-126: »Der Vorrang des Theologischen ist die Voraussetzung von Schmitts Totalismus. Das Politische im gewöhnlichen Verstande steht für etwas, das es selbst nicht ist, das es aber nachdrücklich in Erinnerung ruft. Es repräsentiert ein Anderes, das ihm voraus- und zugrundeliegt, ein Anderes, das allerdings nicht das ›Ganz Andere‹ ist, weil es im alles entscheidenden Fall im Politischen durchbricht, aufscheint, und in realer Gegenwart präsent ist.« 19 Was Schmitt über Bonald sagt, gilt so für ihn selbst: »Die Tradition ist für ihn die einzige Möglichkeit, den Inhalt zu gewinnen, den der metaphysische Glaube des Menschen akzeptieren kann, weil der Verstand des Einzelnen zu schwach ist, um von sich aus die Wahrheit zu erkennen.« (PT, S. 60) 20 Heinrich Meier hat alle wesentlichen Züge dieses theologischen Horizonts herausgearbeitet. Indem ich seiner Darstellung mehr Evidenz verleihe, interessiert mich jedoch zugleich auch die Struktur, in der Schmitts Denken sich bewegt.
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Die »aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung« ist strukturgleich mit derjenigen Entscheidung, um die es Schmitt in den vorangegangenen Kapiteln ging: »Die Entscheidung [hier: des Souveräns, D.P.Z.] ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren« (PT, S. 37-38), und: »Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.« (PT, S. 14) Es ist ebenfalls de Maistre, für den gelte: »Der Grund [dafür, dass eine Obrigkeit gut ist, wenn sie nur besteht, D.P.Z.] liegt darin, daß in der bloßen Existenz einer obrigkeitlichen Autorität eine Entscheidung liegt und die Entscheidung wiederum als solche wertvoll ist, weil es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird.« (PT, S. 61)
So sei es in der Praxis dasselbe »keinem Irrtum unterworfen zu sein und keines Irrtums angeklagt werden zu können; das Wesentliche ist, daß keine höhere Instanz die Entscheidung überprüft.« (PT, S. 61) Auch hier finden sich die Bestimmungen der Entscheidung wieder: Nur was »frei von normativer Gebundenheit« (PT, S. 14) ist, kann nicht noch einmal von einer höheren Instanz geprüft werden; ein Irrtum kann nur festgestellt werden, wenn ein Richtmaß vorliegt, d.h. aber eine spezifische Grenzziehung von »richtig« oder »falsch«: »Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt« (PT, S. 14), d.h. jedes Richtmaß ergibt sich erst von der Entscheidung selbst her. Liest man die Politische Theologie als eine Exposition, vor der dann die Schrift Der Begriff des Politischen die eigentliche politische Theorie entwickelt, dann lässt sich die Exposition der Politischen Theologie anhand folgender Struktur nachvollziehen: In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage von 1933, also im Jahr der Veröffentlichung von Der Begriff des Politischen, betont Schmitt: »Inzwischen haben wir das Politische als das Totale erkannt und wissen infolgedessen auch, daß die Entscheidung darüber ob etwas unpolitisch ist, immer eine politische Entscheidung bedeutet, gleichgültig wer sie trifft und mit welchen Beweisgründen sie sich umkleidet. Das gilt auch für die Frage, ob eine bestimmte Theologie politische oder unpolitische Theologie ist.«21 (PT, S. 7-8)
21 Dieses Zitat spielt auch für Meiers Deutung eine zentrale Rolle: »Sobald das Politische ›als das Totale erkannt‹ ist, läßt sich das Ganze zu dem ›metaphysischen Kern‹ in Beziehung setzen, der ›aller Politik‹ inhärent ist. Alles bewegt sich um Ein [sic!] Gravitationszentrum, und nichts entgeht der grundsätzlichen Zuständigkeit der Politischen Theologie. Das Politische ist aber solange nicht ›als das Totale erkannt‹, wie nicht der
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Ausgehend von einer solchen Totalisierung des Politischen, die ja direkt Schmitts eigene Rede betrifft, ergibt sich folgende Reihe: Wenn alle prägnanten Begriffe der Staatslehre ihrer Struktur nach säkularisierte theologische Begriffe sind (vgl. PT, S. 43) – dann gilt das auch für die (später systematisch relevante) Unterscheidung von »Freund und Feind«. Desweiteren: Eine Soziologie juristischer Begriffe setzt eine radikale und konsequente (!) Ideologie voraus (vgl. PT, S. 47-48) und es ist Ziel einer solchen Soziologie, diese letzte radikal systematische Struktur zu finden (vgl. PT, S. 50) – also: Ihre eigene ideologische Voraussetzung zur Explikation zu bringen. Wie geht sie dabei vor? Sie expliziert Tradition mit Blick auf ihren metaphysischen Kern (vgl. PT, S. 60).22 Damit wird das Theologische zur Bedingung einer solchen explikativen Arbeit: »Voraussetzung für diese Art Soziologie juristischer Begriffe ist also radikale Begrifflichkeit, das heißt eine bis zum Metaphysischen und zum Theologischen weitergetriebene Konsequenz. Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität [hinsichtlich der Struktur, D.P.Z.] ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffs.« (PT, S. 50-51)
Das gilt dann auch vice versa für die Gegenwart des Textes: Diejenige Form, in der das Politische sich organisiert und die als totale Form des Politischen ohne weiteres einleuchtet, hat dieselbe Struktur wie das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter macht. In dieser Umkehrung lässt sich noch der letzte Satz reformulieren: ›Die Feststellung einer solchen Identität (hinsichtlich der Struktur) ist die Soziologie des Politikbegriffs.‹ Ist die Welt in Schmitts Perspektive in ihrer Totalität politisch, dann entspricht dieser politischen Totalität eine metaphysische Totalität. Zu bestimmen ist, in welchem Verhältnis diese beiden Totalitäten zueinander stehen: »Zu dem Gottesbegriff des 17. und 18. Jahrhunderts gehört die Transzendenz Gottes gegenüber der Welt, wie eine Transzendenz des Souveräns gegenüber dem Staat zu seiner Staatsphilosophie gehört.« (PT, S. 53)
›metaphysische Kern‹ als an ihm selbst politisch begriffen zu werden vermag.« (H. Meier, Die Lehre Carl Schmitts, S. 117.) 22 Gemäß der oben gemachten Annahme, dass Schmitt in seinem Kommentar zu den gegenrevolutionären Staatsphilosophen auch und besonders seine eigene Rede der Politischen Theologie erhellt, lese ich hier die Aussage über Bonald zumindest als Rechtfertigung von Schmitts eigener historisch gefärbter Begriffssoziologie.
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3. Unterscheidung: Der Begriff des Politischen Mit der dreifachen politisch-theologischen Parallele – das Theologische als historisch vergangene Tradition des Politischen, als radikale Selbstexplikation des Politischen, schließlich in der Parallelisierung der jeweiligen Entscheidung zu einem ›Dass‹ von Gott/Souverän – kann nun der zweite Schritt, die in der Entscheidung getroffene Unterscheidung als Gegensatz in Der Begriff des Politischen aufgezeigt werden. Auch hier exponieren die ersten Sätze wesentlich eine doppelte operative Entscheidung Schmitts: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. […] Staat ist in seinem Wortsinn und seiner geschichtlichen Erscheinung nach ein besonders gearteter Zustand […], und zwar der im entscheidenden Fall maßgebende Zustand […], der Status schlechthin.« (BP, S. 20)
Und: »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe.« (BP, S. 26, Herv. i.O.)
Die Entscheidung des Souveräns, der über den maßgebenden Zustand entscheidet, wird nun in den Begriff des Politischen eingebettet, der noch vom Begriff des Staates, für den die souveräne Entscheidung maßgeblich ist (vgl. PT, S. 52), vorausgesetzt wird. Damit ist das Totale des Politischen formuliert – und zwar in besonderer Weise: Diejenige Entscheidung, die den Staat zuallererst konstituiert, ist aus der Innenperspektive des Ausnahmezustands die absolute Entscheidung. Dabei wechselt Schmitt den Referenzrahmen: »Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere, koexistierende, politische Einheit voraus. Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten […].« (BP, S. 54)
Es ist die Unterscheidung von »Freund und Feind«, die zuallererst global den Pluralismus der Staatenwelt zugleich (im Sinn der Unterscheidung als solcher) möglich und (im Sinn der Unterscheidung »Freund/Feind«) notwendig macht. Zu beachten ist die Position, die Schmitt damit einnimmt: Das Politische als das
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Totale teilt die gesamte Welt in jeweils regional relative Freunde/Feinde und ermöglicht sowohl den Begriff des Staates unter anderen Staaten, als auch deren jeweilige Grenzziehung zueinander. Aber auf derselben Referenzposition, nämlich das Totale betreffend, steht auch die Entscheidung Gottes, die zugleich Offenbarung für den Menschen ist und damit die Erkenntnis von ›gut und böse‹ als radikales Entweder-Oder etabliert.23 Diese Unterscheidung »Gut und Böse« taucht nun im Umfeld der Bestimmung der politischen Unterscheidung »Freund und Feind« mehrfach auf und spannt so ganz im Sinn der Politischen Theologie den Hintergrund auf, vor dem die Unterscheidung »Freund und Feind« verstanden wird: Auf der operativen Ebene führt Schmitt das aus, was er inhaltlich verneint. Er entwirft eine deutliche Analogie in gleich mehrfacher Hinsicht:24 im Einsatz des Unterschieds »Gut und Böse« als Beispiel für das Kriterium des Moralischen, als Beispiel für ein unableitbares Kriterium und als Beispiel für die Irreduzibilität der Bedeutung, erscheint die Unterscheidung »Freund und Feind« zugleich durch die Unterscheidung von »Gut und Böse« expliziert, und zwar als unableitbarer, irreduzibler Gegensatz. In eins mit der Unterscheidung wird das Unterschiedene als Gegensätzliches entschieden: Die Unterscheidung »Freund und Feind«, die im Konfliktfall (vgl. BP, S. 27) zum Gegensatz wird, ist zwar in ihrer Funktion als Bezeichnung eines Intensitätsgrades25 von der totalen Unterscheidung »Gut und Böse«, die zugleich Gegensatz ist, selbst noch unterschieden; gerade aber wegen der Latenz, die zwischen »Unterscheidung« und »Gegensatz« liegt, ist sie der radikalere Begriff, »die stärkste und intensivste Unterscheidung« (BP 28). Sie kann nur deswegen »stark« und »intensiv« sein, weil die Intensität im Übergang von »Unterschied« und »Gegensatz« liegt: »Der poli-
23 Vgl. Röm 1,19-32. 24 »Gut und Böse« ist die letzte Unterscheidung auf dem Gebiet des Moralischen, der »Freund und Feind« zunächst »nicht gleichartig und analog« sein muss. Sodann entspricht der Unterscheidung »Freund und Feind« doch »Gut und Böse«, diesmal als Gegensatz, nämlich »[i]nsofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist«. Schließlich gibt der Gegensatz von »Gut und Böse«, der »nicht unmittelbar auf ihn [den Gegensatz »Schön und Häßlich« oder »Nützlich und Schädlich«, D.P.Z.] reduziert werden darf« sogar das Exemplar ab, demgegenüber »der Gegensatz von Freund und Feind noch weniger mit einem jener anderen Gegensätze verwechselt oder vermengt werden« darf. (BP, S. 26f.) 25 »Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen […].« (BP, S. 27)
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tische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen.« (BP, S. 27) Dabei ist der politische Feind »eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine […] Normierung, noch durch den Spruch eines […] Dritten entschieden werden können.« (BP, S. 27) In dieser äußersten Intensität und der Betonung der Möglichkeit von Konflikten im extremen Fall wiederholt sich die äußerst konsequente Entscheidung, die keine Mediation mehr zulässt (vgl. BP, S. 59-61). Vielmehr ist die Entscheidung zur Aktualisierung des relativen »Unterschieds« als absolutem »Gegensatz« situativ und einer vorgängigen oder irgendwie »objektiven« Einschätzung der Lage vollkommen unzugänglich26; der Konfliktfall ist nur ein Anlass für die Entscheidung, ob ich den potenziellen Feind als aktualen Feind, d.h. aber als wirkliche und konkrete Bedrohung meiner ganzen Existenz wahrnehme. Insofern also die Setzung von jeder der beiden Konfliktparteien absolut gesetzt werden kann, ist die Setzung der Unterscheidung selbst bereits eine Entscheidung zu einer spezifischen Hinsicht auf die Welt – d.h. Schmitt leitet den Unterschied/Gegensatz »Freund und Feind« nicht etwa her, sondern führt ihn qua Entscheidung, als »Kriterium«, Richtmaß seiner Hinsichtnahme, in die Untersuchung ein: »Die seinsmäßige Sachlichkeit und Selbständigkeit des Politischen zeigt sich schon in dieser Möglichkeit, einen derartig spezifischen Gegensatz wie Freund-Feind von anderen Unterscheidungen [sic!] zu trennen und als etwas Selbständiges zu begreifen.« (BP, S. 28) Die inhaltlich gefasste Spanne von »Intensität«, zwischen dem Anderen als Feind, mit dem ich Geschäfte machen kann und dem Anderen als Bedrohung meiner eigenen Existenz, die Spanne zwischen »Unterscheidung« und »Gegensatz« wird zuallererst ermöglicht dadurch, dass Schmitts Unterscheidung von »Freund und Feind« operativ bereits
26 »Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen [!] ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben. Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen [!] nur selbst entscheiden [!], ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.« (ebd.)
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selbst in sich eine Entscheidung ist.27 Was aber zugleich unterschieden und entschieden ist, d.h. in seiner totalen Spannung ein unwiderrufliches Entweder-Oder setzt, das kann nur von einem souveränen Akt der Setzung her verstanden werden. 4. Entscheidung/Unterscheidung – Unterscheidung/Entscheidung: Heideggers Heraklit Ralf Rother hat in seinem Buch Wie die Entscheidung lesen? Zu Platon, Heidegger und Carl Schmitt auf einen Brief Heideggers an Schmitt hingewiesen, in dem Heidegger auf das Fragment 53 von Heraklit zu sprechen kommt: »An ihrem Zitat von Heraklit hat mich ganz besonders gefreut, daß Sie den ȕĮıȚȜİȣȢ nicht vergessen haben, der dem ganzen Spruch erst seinen vollen Gehalt gibt, wenn man ihn ganz auslegt. Seit Jahren habe ich eine solche Auslegung […] bereit liegen – das İįİȚȟİ (erweist er) und İʌȠȚȘıİ (läßt er werden) die in Fr. 53 vorkommen.«28
Das Heraklit-Fragment 53 lautet in voller Länge in der deutschen Übertragung von Heidegger und Fink wie folgt: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.«29 Rother folgt in seiner Interpretation dem Heraklit-Seminar, das Heidegger und Fink 1966/67 gegeben haben. Die für die Exposition von Schmitts Denkfigur wesentliche Stelle findet sich in folgender Interpretation Heraklits von Fink: »Wie der Vater der Ursprung der Kinder ist, so ist der Streit, den wir mit dem ۇȞ [dem Einen] als Blitz und Feuer zusammendenken müssen, der Ursprung der ʌȐȞIJĮ [Dinge]. Das
27 Die Ambivalenz einer »inneren« Entscheidung zur Unterscheidung »Freund und Feind« und einer »äußeren« Voraussetzung dieser Unterscheidung nimmt Meier ebenfalls wahr: »Zum einen wird der Begriff des Feindes von Schmitts Konzeption des Politischen als fraglos geltende Größe in Anspruch genommen, zum anderen erschließt sich der Sinn dieser Konzeption einzig im Horizont dessen, was Schmitt als unbezweifelbare Wahrheit gilt.« (H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts, S. 52.) 28 R. Rother: Wie die Entscheidung lesen?, S. 67; dort zitiert nach: »Heidegger and Schmitt. The Bottom Line«, in: Telos 72 (1987), S. 132. 29 R. Rother: Wie die Entscheidung lesen, S. 69; dort zitiert nach: Martin Heidegger/Eugen Fink: Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/1967, Frankfurt/M.: Klostermann 1970, S 42.
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Verhältnis von ʌȩȜİȝȠȢ [Krieg] als Vater zu den ʌȐȞIJĮ wiederholt sich in gewisser Weise in dem Verhältnis von ʌȩȜİȝȠȢ als Regent zu den ʌȐȞIJĮ. Den ȕĮıȚȜİܡȢ müssen wir in Verbindung bringen mit dem Steuern und Lenken des Blitzes.«30
Wesentlich für Frage, in welcher Weise genau sich das Verhältnis wiederholt, ist, wie Heidegger auch in seinem Brief an Schmitt bemerkt, der Unterschied zwischen »erweisen« und »machen«: »Die Weise, wie der Krieg Vater der ʌȐȞIJĮ ist, wird in ȑįİȚȟİ benannt, die Weise, wie der Krieg König der ʌȐȞIJĮ ist, wird in ȑʌȠȓȘıİ angesprochen.«31 Rother entgeht in seiner inhaltlich orientierten Auslegung die eigentümliche Struktur als solche, die das Fragment prägt. Diese Struktur lässt sich nun wie folgt nachtragen: Das Doppel, das sich aus dem Krieg oder Streit ergibt: »Vater – erweist – Göttliche/Sterbliche« – »König – läßt werden – Freie/Sklaven« ergibt sich als eine asymmetrische Verschiebung der ersten Funktion in die zweite Funktion. Das »Erweisen« kann verstanden werden als ein allererstes Aufzeigen, ein zeigendes »da«, das in dieser Bewegung des Zeigens (und in dem, was es auf-zeigt) bereits eine Unterscheidung trifft. Indem also überhaupt etwas aufgewiesen wird, fällt diese Entscheidung in eins mit der Unterscheidung von Göttern und Menschen. Diese Bewegung wird wiederholt in der Unterscheidung des Königs, dessen Entscheidung zwar ebenfalls eine unterscheidende Bewegung ist, bei der das Unterscheidende aber nicht in eins mit dem Akt, sondern in eins mit dem Inhalt dessen fällt, was unterschieden wird: nämlich die Menschen in Freie und Sklaven. Der konstitutive Akt des Königs, der mit seiner Entscheidung die Ordnung der Polis festlegt und ihre Grenzen zieht, setzt so den konstitutiven Akt des Vaters voraus, der zuallererst Menschen in seiner Entscheidung als Unterscheidung konstituiert – in Abgrenzung zu den Göttern. Auf beiden Positionen waltet der ʌȩȜİȝȠȢ, die »Aus-einander-setzung«32. Der Streit enthält so in sich die Potenz dieser Entfaltung in die doppelte und asymmetrische Figur von in sich wiederholten Entscheidungen/Unterscheidungen, die zugleich in einem denklogischen Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Der Sinn von »Aus-einander-setzung« lässt sich unter Einbeziehung der Fragmente 51 und 80 von Heraklit noch weiter spezifizieren: »Sie begreifen nicht, wie es auseinanderstrebend zu ihm selbst zusammenstimmt: gegenwendige […] Fügung wie bei Bogen und Lyra« (Frg. 51) – »Man muß wissen, daß der
30 M. Heidegger/E. Fink: Heraklit, S. 43. 31 Ebd. 32 Vgl. Martin Heidegger: Aletheia (Heraklit, Fragment 16), in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954, S. 277.
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Krieg eigentlich zusammenbringender ist, und ein gebührendes Recht der Streit, und daß alle Dinge werdende im Streit und (so) in Mitleidenschaft gezogene sind« (Frg. 80). Thomas Buchheim merkt dazu an: »Demnach verhält es sich […] so […], daß man nämlich Gegensätze gar nicht zusammenbringen kann […], während man sehr wohl Gegenwirksames oder Gegenläufiges im Streit zusammenhalten kann, um so erst eine solche gespannte Form von Einheit zu erzielen.«33 Ebenso wie der Streit jedoch die Einheit – vom Kosmos in der Ordnung »Götter und Menschen« und von der Polis in der Ordnung »Freie und Sklaven« – zuallererst ermöglicht, ergibt sich aus ihm auch die Bewegung, die von der ersten Ordnung als Verschiebung in die zweite führt. Eugen Fink drückt dies in einer späteren Sitzung des Heraklit-Seminars aus: »Wohl ist sein [Heraklits, D.P.Z.] Grundgedanke leicht zu formulieren, aber die Schwierigkeit liegt in der Brechung dieses Grundgedankens in den vielen Gedankenbahnen und Vorstellungen, mit denen er umgeht. Der Grundgedanke Heraklits ist in eine Vielzahl von Wegen gebrochen.« Woraufhin Heidegger hellsichtig antwortet: »was einen Einblick in IJȐ ʌȐȞIJĮ gibt.«34 In der Brechung des ȜȩȖȠȢ, in der sich zugleich das Dass einer Einheit, ȑȞ als Lichtung im doppelten Sinn von Ort und Blitz gedacht (ebd., S. 203), ergibt sich das Was der IJȐ ʌȐȞIJĮ, die Mannigfaltigkeit, d.h. aber: die in sich in einzelne Dinge gebrochene Vielheit der Dinge. Zuletzt aber ist es der ȜȩȖȠȢ Heraklits selbst, nämlich seine Entscheidung zur Unterscheidung des Streits in »Vater« und »König«, die aus sich selbst heraus erhellt, inwiefern der Streit Vater und König aller Dinge, auch noch dieses ȜȩȖȠȢ des Fragments 53 ist: Heraklit »erweist« den Unterschied von »Vater und König«, der beiden entscheidenden Instanzen, und er »lässt werden« die Unterscheidung, die von den beiden Instanzen her eine doppelte ist, nämlich in »Götter und Menschen« und in »Freie und Sklaven«. Die Struktur der Denkfigur Schmitts lässt sich damit in ihrer dreifachen Brechung – »Entscheidung/Unterscheidung Schmitt« – »Entscheidung/Unterscheidung Gott« – »Entscheidung/ Unterscheidung Souverän« in ihrer Grundstruktur bei Heraklit nachvollziehen. 5. Schmitt – Gott – Souverän: Die Instanz der Entscheidung Diejenige Denkfigur, die sich in Schmitts Überlegungen zeigt, lässt sich als ein asymmetrisches Verhältnis zweier Entscheidungen und zweier Unterscheidungen
33 Vgl. Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Portrait, München: Beck 1994, S. 81-82; 74; 80. Hiernach zitiere ich auch die übrigen Fragmente Heraklits, mit Angabe der Fragmentnummer in runden Klammern. 34 Vgl. M. Heidegger/E. Fink: Heraklit, S. 188.
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begreifen: Gott, der in seiner Entscheidung zur Welt – der Schöpfung – zugleich die Offenbarung dieser Schöpfung als Unterscheidung von »Gut und Böse« einführt, ist in der Tat Anfang und Ende der Überlegungen, wenn die radikale Unterscheidung der Offenbarung den Hintergrund bietet für die graduelle Steigerung der Unterscheidung von »Freund und Feind« bis hin zur existenziellen Spannung – und zum ʌܟȜİȝȠȢ, der Auseinandersetzung als Krieg, in dem die Spannung sich realiter entlädt. Die Entscheidung Gottes wiederholt sich, relativ betrachtet, in der Voraussetzung des Souveräns, der mit der Entscheidung zur staatlichen Ordnung im Ausnahmezustand zugleich die Unterscheidung zwischen »Freund und Feind« trifft. Diese politische Grundunterscheidung beginnt aber auf der operativen Ebene zu oszillieren, nämlich genau dort, wo Schmitt logisch an derselben Position wie Gott die Setzung durchführt, dass das Politische und damit »Freund und Feind« eine totale Unterscheidung ist, ein EntwederOder, dem sich niemand entziehen kann. Diese Oszillation nimmt Schmitt in der Politischen Theologie als theologischen »Hintergrund« seiner eigenen Begrifflichkeit wahr, der dann im Begriff des Politischen zum maßgeblichen Explanans für das eigentlich Maßgebliche wird. In der Tat ließe sich der Scherbruch dieser Oszillation der logischen Position – von innen her: Gott, von außen her: Schmitt – auch noch weiterverfolgen. Im Nachwort von Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie eröffnet Schmitt im eigentlichen Sinn das, was hier »Horizont« genannt wurde, und zwar im Hinblick auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen: »Augustinus verlagert die Schwierigkeit [der Gnosis, dass der Schöpfergott nicht mit dem Erlösergott identisch sein kann, D.P.Z.] aus der Gottheit in die Freiheit des von Gott geschaffenen und mit [ebendieser, D.P.Z.] Freiheit ausgestatteten Menschen, also in ein Geschöpf, das kraft seiner ihm verliehenen Freiheit die nicht-erlösungsbedürftige Welt Gottes [Schöpfergott, D.P.Z.] erst erlösungsbedürftig macht [Erlösergott, D.P.Z.].«35
Das Dilemma liegt hier nun in der Erschaffung des Menschen: Gott schafft den Menschen und genau dadurch macht er erst sich selbst als Erlösergott notwendig, nämlich in der Zeitspanne des Menschen, die dieser von Schöpfung bis Erlösung zu durchlaufen hat. Die Schöpfung Gottes, die notwendig von ihm unterschieden sein muss und die zugleich sich nur innerhalb dessen abspielen kann,
35 Carl Schmitt: »Nachwort. Zur heutigen Lage des Problems. Die Legitimität der Neuzeit«, in: Ders.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin: Duncker & Humblot 1970, S. 120.
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was von Gott selbst geschaffen wurde, läuft in sich selbst zurück; sie bleibt Schöpfung im problematischen Sinne nur solange, wie sie unerlöst den Unterschied des Menschen zu Gott im Unterschied der Menschen zueinander wiederholt. Die letzthin undenkbare Einheit in Gott, auf die alles Streben des Menschen in doppelter Weise hinausläuft, ist für Schmitt in der Figur Christi gegeben. Hier, und darin liegt zugleich Utopie und Gnade, ist die einmal eröffnete und sich stets weiter fragmentierende Figur aufgehoben: »Die Lehre von der Trinität umhüllt die Identität von Schöpfergott und Erlösergott in der Einheit von Vater und Sohn, die beide nicht absolut identisch, aber dennoch ›Eins‹ sind, wobei ein Dualismus von zwei Naturen, Gott-Mensch, in der zweiten Person zur Einheit wird.«36
Schmitts politische Philosophie hat damit in ihrem Kern nicht nur das Numen der göttlichen/souveränen Entscheidung zu ihrem Anfang, sondern sie erlaubt es noch, Heraklits Satz zu reformulieren: șİȩȢ ʌȐȞIJȦȞ ʌĮIJȒ ȡȑıIJȚ, (ȤȡȚıIJȩȢ) ʌȐȞIJȦȞ įȑ ȕĮıȚȜİȣȢ – ›Gott ist aller Dinge Vater, (Christus) aller Dinge König.‹ Vater und Sohn sind eins, und zwar im Sohn, in dem sich die Differenz zum Vater noch einmal als Einheit wiederholt.37 Freilich ohne den zweiten Teil – weil GottVater gerade nicht der Streit ist, sondern alles umfasst und sich seine schöpferische Herrschaft in Gott-Sohn als König der Welt repräsentiert, sind die Unterscheidungen in eins gesetzt – und damit sozusagen »christologisch ineinander gefaltet«38. Vor Gott – gleich ob Vater oder Sohn – gilt nur noch der Glaube an
36 Ebd. 37 Weil der ʌȩȜİȝȠȢ, wie mit Buchheim gezeigt, als »gegenwendige Fügung« (s.o.) verstanden werden kann, er so also eine »gespannte Einheit« zuallererst möglich macht, vgl. hier Fußn. 33. Vgl. dazu noch einmal Fink zum ʌȩȜİȝȠȢ: »[…] der Streit, den wir mit dem ȑȞ [dem Einen] als Blitz und Feuer zusammendenken müssen […]« (siehe Fußn. 30). 38 Zu einer abweichenden Deutung insbesondere der Stelle aus dem Nachwort der Politischen Theologie II, vgl. Jürgen Manemann: Carl Schmitt und die Politische Theologie. Politischer Anti-Monotheismus, Münster: Aschendorff 2002, S. 185. Manemann sieht in dieser Unterscheidung von »Schöpfergott« und »Erlösergott«, die Schmitt von Augustinus her denkt, ein wesentliches Indiz für dessen ›politische Gnosis‹, vgl. ebd., S. 185. Weil bei Schmitt selbst allerdings keine Textnachweise dafür vorliegen, steht in Frage, ob Manemanns Entscheidung, Schmitts Begriff vom ›Katechon‹ »als eine Metapher zu verstehen« (S. 177) nicht letztlich dazu führt, dass Manemann seinerseits den Begriff der Gnosis als operative Metapher einsetzt, um sein Unternehmen zu
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die Offenbarung: der Geist der Gemeinde, der aus sich heraus diese Einheit von Gott und König, Vater und Sohn erst für den Menschen erschließt. Der ȜȩȖȠȢ des Heraklit (erste Entscheidung/Unterscheidung) wird zum ȜȩȖȠȢ des Heiligen Geistes, der Vater wird zu Gott-Vater oder dem Schöpfergott (zweite Entscheidung/Unterscheidung), der König wird zu Gott-Sohn oder dem Erlösergott (dritte Entscheidung/Unterscheidung). Der Streit der Welt wird aufgehoben in der Einheit der Trinität. Vor diesem Hintergrund lässt sich die hier herausgestellte Oszillation in der Begriffsbildung Schmitts noch einmal mit einer Abwandlung des Zitats von Meier, von dem hier ausgegangen wurde, herausstellen:
plausibilisieren. Exemplarisch für einen solchen operativen Wechsel – Metapher bei Schmitt zu Metapher zum Verständnis von Schmitt – ist z.B. folgender Satz: »Wenn Schmitts politische Theologie hier [›von mir, J. Manemann‹, D.P.Z.] als kupierte Gnosis charakterisiert wird, dann ist darauf hinzuweisen, daß er [Carl Schmitt, D.P.Z.] die Gnosis in die Sphäre des Politischen transferiert.« (S. 176) Obwohl Manemann den Term »gegenstrebige Fügung« (hier: ›gegenwendige Fügung‹) nach Jacob Taubes zitiert, führt ihn seine Deutung nicht zu Heraklit und damit nur zum ›Entweder-Oder‹ von Gegensätzen, für die es dann eine Wahl geben muss. Vgl. ebd., S. 185. Thomas Ruster, dessen Urteil über Meiers Schmitt-Lektüre in gewisser Weise Pate für die vorliegende Lektüre stehen könnte – Meiers Interpretation sei aus dem Text alleine nicht zu belegen – ist dagegen zuzustimmen, wenn er über Schmitts »Säkularisierung der christlichen Herrschaftsmetaphysik« sagt: »Ihre Reduktion auf eine bloß formale Struktur […] ist möglich, sie ergibt Sinn und wird auch so zur Quelle politischen Denkens und Handelns«. Vgl. Thomas Ruster: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, 6. Aufl., Freiburg/Basel/Wien: Herder 2003, S. 120. Eine faszinierende Lektüre Schmitts aus der Perspektive der französischen Philosophie gibt Friedrich Balke, dem ich allerdings nicht darin zustimme, sich von einer »Logik der Wiederholung […] [zu distanzieren], die sich das Denken der Kontingenz des Historischen […] dadurch zu ersparen sucht, daß sie das geschichtliche Ereignis als Effekt der ›Aktualisierung‹ zeitenthobener, invarianter Positionen auffaßt.« Vgl. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München: Fink 1996, S. 19. Hier ist fraglich, ob Balke die, durchaus einsichtige, Ausschließung systematischer Auslegungsstrategien – er nennt Biographien, »Einflussliteratur« (»Carl Schmitt und …«), Werkeinheit – nicht gewissermaßen ›durch die Hintertür‹ in unsystematischer Weise wieder hereinholt – »[…] weil es gilt, auch solche Spuren in dem verschlungenen Werk des politischen Theoretikers zu verfolgen, die er nicht selbst gelegt hat.« (ebd.)
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»Wer zum Kern des Unterfangens vorstoßen will, in dessen Dienst sich Schmitt mit seiner Theorie des Politischen stellt, muß bis zu der alles entscheidenden Frage zurückgehen, die in Schmitts ›Theorie‹ nicht zur Sprache kommt, sondern ihr vorausliegt, weil sie von [und nicht ›für‹, D.P.Z.] Schmitt ein für allemal autoritativ beantwortet ist. [Herv. D.P.Z.]«39
Es ist Schmitts Werk – und Gottes Beitrag, in dem er die Aufhebung der Welt im Glauben zu denken erlaubt. Die Denkfigur Schmitts, philosophisch genommen, führt in die Welt des Politischen hinein. Nimmt man sie theologisch, so lässt sie noch ihre eigene Aufhebung in Christus denken. Die Entscheidung, die Schmitt so exponiert, von der aus sein Denken sich entfaltet und an der es sich bricht wie Licht in einem Prisma, diese Entscheidung ist damit uns weitergegeben.
39 H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts, S. 52.
Politik atheologisch begreifen – Theologie apolitisch begreifen …? Erik Peterson zum Problem einer politischen Theologie H ENDRIK R UNGELRATH
I. Einleitung Zu Beginn eines Beitrags, der sich mit einer von theologischer Seite her vorgetragenen Kritik an politischer Theologie beschäftigt, ist es kaum möglich, nicht auf das Bild vom Schachautomaten zu verweisen, das Walter Benjamin in der ersten seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte verwendet: die Allegorie von der Puppe, die von einem versteckten buckligen Zwerg im Inneren eines Tisches an Schnüren gelenkt wird.1 Benjamin stellt sich bekanntlich »[z]u dieser Apparatur […] ein Gegenstück in der Philosophie« vor. Gewinnen soll dabei »immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«2 Allerdings ist der zweite Teil dieser Verhältnisbestimmung von Puppe
1
Im Folgenden zitiert nach Benjamins Handexemplar, vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, hg. v. Gérard Raulet, in: Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. 19, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 30.
2
Ebd. Die vollständige These im Wortlaut: »Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, dass er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, sass vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion
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und Zwerg, von Theologie und Materialismus nicht ganz eindeutig formuliert: »Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt«3. Weil das feminine Pronomen sie nominativisch wie akkusativisch verstehbar ist, bleibt rein sprachlich unterbestimmt, wer dort eigentlich wen in Dienst nimmt.4 Zwar ist Benjamins französische Fassung der Thesen in diesem Punkt eindeutig, ebenso ein früher Entwurf der entsprechenden Passage5, und zudem durchzieht den gesamten Text ohnehin eine eindeutige Sinnlinie. In ihrer sprachlichen Doppeldeutigkeit legt die Formulierung dennoch eine Spur, die andeutet, dass das Verhältnis von politischer Philosophie – bei Benjamin sehr konkret der historische Materialismus – und Theologie, aber auch praktisch von Politik und Religion, verwickelter sein könnte, als gedacht: schließlich bleibt unklar, ob der Zwerg Theologie seine Funktion im Automaten absichtlich und selbstbestimmt wahrnimmt, oder vom ungenannt bleibenden Konstrukteur – oder demjenigen, der mit ihm eine Partie um den Begriff der Geschichte spielt – gegen seinen Willen gefangen gehalten wird.6 Denkbare Verhältnisbestimmun-
erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit sass ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« (ebd.) 3
Ebd., Herv. H.R.
4
Vgl. Ralf Konersmann: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte,
5
In der französischen Fassung der Thesen heißt es: »Elle n’aura aucun adversaire à
Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 28f. craindre si elle s’assurera les services de la théologie« (W. Benjamin: Begriff der Geschichte, S. 59); die frühere Fassung aus dem Manuskript-Konvolut II lautet ähnlich: »Wenn die Dienste der Theologie ihr gesichert sind« (ebd., S. 121). 6
Für Giorgio Agamben hat Benjamin mit dem Bild von Puppe und Zwerg nahe gelegt, »den Text der Thesen selbst als ein Schachbrett zu betrachten«, sodass auch bei ihm eine theoretische Schlacht »mit der Hilfe eines Theologen geführt [wird], der zwischen den Zeilen versteckt ist« (Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 153). Dass Agambens philologische Rekonstruktion eines Paulus-Zitates – denn Paulus ist für Agamben Benjamins buckliger Zwerg – im Text der Thesen nicht vollends zu überzeugen vermag, zeigt Manfred Schneider: »Der Messias und die Reste. Giorgio Agambens Paulus-Lektüre«, in: Eva Geulen/Kai Kauffmann/Georg Mein (Hg.),
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gen von Puppe und Zwerg gäbe es demnach genug – bevor aber eine solche Bestimmung in diesem Beitrag skizziert werden kann, muss noch kurz auf den Begriff der ›politischen Theologie‹ eingegangen werden, mit dem auch der vorzustellende Ansatz arbeitet. Im Haupttitel von Carl Schmitts erstmals 1922 publizierter Schrift Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität haben nämlich solche Zusammenhänge von Politik, Religion und Theologie, die man als Interdependenzen oder Verflechtungen denken könnte, eine paradigmatische Formulierung erfahren.7 Dass weder der Begriff der ›politischen Theologie‹ noch die Sache eindeutig sind8 und verschiedene Bezugnahmen von Religion auf Politik und vice versa bezeichnen können, spiegelt sich in den verschiedenen Umschriften, Relektüren und Neufassungen von Schmitts Programm, das zunächst Strukturanalogien von Theologie und Recht begriffssoziologisch9 analysiert – und nicht zuletzt in den operativen Tendenzen, die solchen Umschriften je inhärent sein können.10 Insofern differiert das Design politischer Theologie je nach konkreter Akzentsetzung und Ausrichtung: als juristische wäre politische Theologie eine Begriffssoziologie innerhalb der Rechtswissenschaft, die im Sinne einer Ablei-
Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München: Fink 2008, S. 41-58, hier S. 48. 7
Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2009. Dass im vorliegenden Beitrag von ›Religion‹ ebenso wie von ›Theologie‹ gesprochen wird, impliziert keine trennscharfe Differenzierung beider Begriffe, sondern verweist vorläufig und basal darauf, dass der eher praktische Aspekt ritueller Handlungen und ihrer jeweiligen Form ebenso wie die Reflexion darauf als eher theoretischer Aspekt politisch einschlägig sein können. Als vorläufig erweist sich dieser Verweis nicht deshalb, weil jede ›religiöse‹ Handlung zumindest implizit theologisch angebunden, Theologie als Rede von Gott aber wiederum gegebenenfalls religiöse Handlung ist und etwa ein Gebet als beides beschrieben werden kann – sondern deshalb, weil die Frage nach der praktischen Relevanz theoretischer Bekenntnisse ja gerade in der politischen Theologie zur Debatte steht.
8
Vgl. Jürgen Brokoff/Jürgen Fohrmann: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 7-11, hier S. 7.
9
Vgl. C. Schmitt: Politische Theologie, S. 43.
10 Vgl. dazu z.B. Michaela Rissing/Thilo Rissing: Politische Theologie. Schmitt – Derrida – Metz. Eine Einführung, München: Fink 2009, S. 41f.
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tung »theologische Restbestände in der aufgeklärten politischen Moderne«11 aufdeckt, und damit eine strukturelle Analogie zwischen der juridischen und der theologischen Begrifflichkeit feststellt; als institutionelle behandelte sie die »Aussagen eines Gottesglaubens […] über den Status, die Legitimation, Aufgabe und evtl. Struktur der politischen Ordnung, einschließlich des Verhältnisses der politischen Ordnung zur Religion.«12 Als theologische politische Theologie ist sie schließlich als appellative auf die »Interpretation der christlichen Offenbarung im Hinblick auf das von ihr geforderte Engagement der Christen und der Kirche für die politisch-soziale Ordnung (und deren Veränderung) als Verwirklichung christlicher Existenz«13 ausgerichtet. Nicht zuletzt mit Bezug auf das politisch-strategische Interesse der Schmitt’schen Begriffssoziologie wären jedoch Überschneidungen und Gemeinsamkeiten solcher Perspektivierungen diskutierbar. Im Folgenden wird daher mit Jürgen Fohrmann davon ausgegangen, dass der Terminus politische Theologie die »Schnittstelle zweier Bereiche« bezeichnet, nämlich diejenige von Politik und Theologie, und »dabei eine wechselseitige Abkömmlichkeit [behauptet]: Keine Politik ohne Theologie, keine Theologie ohne Politik. Damit ist mehr gemeint als nur ein schwacher gegenseitiger Einfluß.«14 Diese Begriffsbestimmung impliziert demnach noch keine Vorordnung, sondern verweist beide Bereiche auf ihre Berührungspunkte.
11 Armin Adam: Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich: Pano 2006, S. 7. Vgl. daneben zum Folgenden Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Politische Theorie und politische Theologie. Bemerkungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis«, in: Jacob Taubes (Hg.), Religionstheorie und politische Theologie, Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München u.a.: Schöningh 1983, S. 16-25, hier S. 19. 12 E.-W. Böckenförde: Politische Theorie, S. 19. 13 Ebd., S. 20. Im Prospekt dieser Ausrichtungen differiert auch die je konkrete praktische Relevanz und der jeweilige Bezug zur ›Religion‹. 14 Jürgen Fohrmann: »Die Grenze der Politischen Theologie. Anmerkungen zu einem Konzept«, in: Brokoff/Ders., Politische Theologie, S. 29-38, hier S. 29. Die These Benjamins hat Slavoj Žižek 2003 angesichts einer von ihm konstatierten »›postsäkularen‹ messianischen Wende der Dekonstruktion« umgedreht: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›Theologie‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen« (Slavoj Žižek: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 7). Auf Konsequenzen für Žižeks eigenen Ansatz kann hier nicht eingegangen werden – das Problem der wechselseitigen Verflech-
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In seinem 1935 erstmals erschienenen Traktat Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum15 hat der 1930 vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte deutsche Theologe Erik Peterson (1890-1960) eine theologisch argumentierende Kritik an politischer Theologie geübt, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Im Anschluss daran wird der theologische Versuch unternommen, Petersons Kritik weniger in ihrem Urteil, als vielmehr im Hinblick auf ihren Begründungsdiskurs genauer zu profilieren. Weniger die allgemeine Frage nach der Legitimität politischer Theologie, als mehr die trinitätstheologisch und eschatologisch angebundene Argumentation Petersons könnte sich demnach performativ als weiterführendes Moment auch für einen heutigen Diskurs über politische Theologie erweisen. Petersons Argumentation präpariert eine eigene Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik und erweist sich damit als diskursive ästhetische Figuration von Heiligem in der Moderne. Wenn nämlich gerade im Bereich der politischen Theologie das Heilige mit eigenem politischem, rhetorischem und operativem Interesse inszeniert werden kann, wird die Nachfrage umso dringlicher, wie der Ort des Heiligen, der Theologie als Diskurs darüber und der Religion als Praxis jeweils kartographiert wird. Allerdings nimmt Peterson keine Definition der politischen Theologie vor, sondern er führt den Begriff lediglich in der letzten Fußnote seines Textes kurz auf Schmitt zurück (vgl. DM 158); offenbar versteht er politische Theologie jedoch als eine Ideologie, »die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht« (DM 99) und wendet sich demnach gegen die strategische Verwendung religiöser Vorstellungen als Legitimationsmuster für Politik. Petersons Kritik lässt sich so als die Frage verstehen, ob der politisch-theologische Diskurs über das Heilige, wie ihn etwa Schmitt führt, sich an einem spezifischer theologischen Sakraldiskurs messen lassen kann – oder anders: welche Schnittmenge der politisch-theologische Diskurs mit einem theologischen bildet. Aus diesem Setting ergibt sich die Frage, von welchem Ort der Diskurs jeweils geführt wird, wer also in Fragen der
tung von Politik und Theologie indessen wird mit dieser Formulierung weiter angeschärft. 15 Erik Peterson: Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig: Jakob Hegner 1935. Aus diesem Text wird im Folgenden mit der Sigle DM und Seitenangabe direkt im Fließtext zitiert.
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politischen Theologie jeweils zuständig ist16 – ob gleichsam aus der Perspektive von Puppe oder Zwerg argumentiert wird. Möglicherweise ist die Vergewisserung über den Ort, von dem aus argumentiert wird, dasjenige, was dieser spezifische Sakraldiskurs auch heutiger Theologie aufgibt. II. Zu Petersons These In seinem Monotheismus-Traktat versucht der vor allem patrologisch und religionsgeschichtlich arbeitende Peterson, so seine Vorbemerkung, »[a]n einem historischen Beispiel […] die innere Problematik einer am ›Monotheismus‹ sich orientierenden ›politischen Theologie‹« (DM 11) aufzuzeigen. Ob dieses historische Beispiel und die historische Argumentation die weiter reichende These einer »innere[n] Problematik« politischer Theologie nicht nur aufzeigen, sondern auch valide werden argumentieren können, bleibt jedoch anzufragen. Petersons Beispiel jedenfalls ist der Begriff monarchia, dessen Entwicklung er mit einer Fülle von Textbelegen von der griechischen und jüdischen Theologie bis zur Aufnahme in christlich-theologischen Diskursen der ersten drei Jahrhunderte nachzeichnet. Im Anschluss an diese Begriffsgeschichte versucht er dann zu zeigen, wie die christliche Trinitätslehre, vor allem in der Entfaltung der drei Kappadokier17, durch den Begriff der Trinität eine streng monarchisch orientierte politische Theologie verunmöglicht – dass also, wie Peterson zu schließen versucht, die orthodoxe Trinitätslehre des vierten Jahrhunderts jede politische Theologie verunmögliche. Neben der Frage, ob das historische Material, das Peterson vorlegt, die Beweislast trägt, bleibt vor allem zu diskutieren, ob die erst kurz vor Schluss in eine systematische These umschlagende Argumentation methodisch valide ist. Eine genauere Orientierung soll im Folgenden unternommen werden.
16 Vgl. dazu auch Carl Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, 5. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2008, S. 74-84, v.a. S. 76f. und 83. 17 Die »drei Kappadokier« Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz sind maßgeblich an der »theologischen Ausarbeitung und kirchenpolitischen Durchsetzung des Nicaenums beteiligt […]. Auf sie geht zwar nicht die Formulierung, wohl aber die Durchsetzung der terminologischen Unterscheidung von der einen ›Usia‹ und den drei ›Hypostasen‹ zurück« (Klaus Koschorke: »Kappadokier«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 5, hg. v. Walter Kasper, Freiburg: Herder 2000, S. 1219).
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II.1 Zu Petersons Argumentation Schon in der Vorbemerkung zu seiner Schrift stellt Peterson die These auf, dass es für Christen »politisches Handeln immer nur unter der Voraussetzung des Glaubens an den dreieinigen Gott geben« (DM 11, Herv. H.R.) könne, der jenseits von Monotheismus und Polytheismus zu verorten sei. Der Monotheismus ist für Peterson dabei zunächst ein theologisches Problem, weil das Verhältnis von Monotheismus und Trinitätslehre zu klären bleibt; gleichzeitig aber könnte, so der Diskursrahmen des Traktats, ein solches metaphysisches Konzept im Sinne der These Schmitts auch politisch einschlägig sein. Dabei setzt Peterson umgekehrt auch bei einem Begriff des Monotheismus an, der diesen als »Konzeption der durch die eine Gewalt des einen Prinzips gewährleisteten metaphysischen Einheit, die nach Analogie der politischen Einherrschaft begriffen wird«18, fasst. Denn das Leitmotiv seiner Ausführungen lässt sich Peterson von dem IliasVers »nicht gut ist Vielherrenschaft, einer sei Herr«, den Aristoteles am Ende des 12. Buches der Metaphysik zitiert, geben: monarchia (vgl. DM 13). Dabei handele es sich nicht einfach um ein Bild, mit dem Aristoteles einen metaphysischen Begriff durch einen politischen veranschaulicht – vielmehr gehe die Strukturanalogie von Metaphysik und Politik, die Peterson damit auszumachen glaubt, so weit, dass sich für ihn »[a]us einer inneren Notwendigkeit heraus […] in dem Bilde aus der politischen […] Sphäre, die theologische Darlegung des 12. Buches [der Metaphysik]« (DM 14) vollendet. In seiner theologiegeschichtlichen Argumentation verfolgt Peterson diesen Topos der göttlichen Monarchie, den er als paradigmatische Formulierung des Monotheismus begreift, indem er Belege zunächst bei Aristoteles, der pseudaristotelischen Schrift von der Welt, dann bei Philo von Alexandrien, der die jüdische Gottesvorstellung mit »dem monarchischen Prinzip der griechischen Philosophie verschmolzen« habe (DM 98), sowie bei altkirchlichen Theologen wie Justin, Tatian, Tertullian oder Origenes, vorbringt. Besonders wichtig ist ihm Eusebius, da dieser das Ende der Nationalstaatlichkeit, so Petersons Lektüre, historisch verortet, »aber in dieser historischen Feststellung, die als Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen erscheint, wird nun zugleich politisch für das Imperium Romanum optiert« (DM 80): »In diesem Sinne wurde die Pax Augusta dann als die Erfüllung der alttestamentlichen eschatologischen Weissagungen gedeutet« (DM 99) – der ursprünglich politische Sinn der monarchia Gottes, den Peterson über das Homerzitat bei Aristote-
18 Barbara Nichtweiß: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg: Herder 1992, S. 777.
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les zu rekonstruieren versucht hatte, sei damit vollständig zu einer Legitimation politischer Verhältnisse geworden. Der Begriff der göttlichen Monarchie verliert jedoch, so Peterson, »mit dem orthodoxen Dogma seinen politisch-theologischen Charakter. Gregor von Nazianz hat ihm seine letzte theologische Tiefe gegeben, wenn er in seiner dritten Theologischen Rede ausführt, […] [d]ie Christen […] bekennten sich zur Monarchie Gottes. Freilich nicht zur Monarchie einer einzigen Person in der Gottheit, denn diese trage den Keim des Zwiespaltes in sich, sondern zu einer solchen des dreieinigen Gottes. Dieser Einheitsbegriff habe in der geschaffenen Kreatur keine Entsprechung. Mit diesen Ausführungen ist der Monotheismus als politisches Problem theologisch erledigt« (DM 96f.).
Weil also eine solcherart trinitätstheologisch gedachte Einheit in der »geschaffenen« Welt analogielos ist, meint Peterson, dass auch jede politische Anwendung des Trinitätsdogmas unmöglich sei. Insofern kann er bilanzieren: »die Lehre von der göttlichen Monarchie mußte am trinitarischen Dogma und die Interpretation der Pax Augusta an der christlichen Eschatologie scheitern.« (DM 98f.) Während Peterson die Bedeutung der Trinitätslehre im Monotheismustraktat durch den Verweis auf die Kappadokier etwas genauer erläutert, wird der andere hier genannte Punkt, die Eschatologie, nicht genauer ausgeführt. Darauf wird zurückzukommen sein. Für Peterson ist damit aber zugleich auch »grundsätzlich der Bruch mit jeder ›politischen Theologie‹ vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht« (DM 99). Politische Theologie könne es nur »auf dem Boden des Judentums oder Heidentums […] geben. Doch die christliche Verkündigung von dem drei-einigen Gotte steht jenseits von Judentum und Heidentum, gibt es doch das Geheimnis der Dreieinigkeit nur in der Gottheit selber, aber nicht in der Kreatur.« (DM 99f.)
Auf diese Weise profiliert Peterson den theologischen Diskurs über seine konkrete religiöse Sonderstellung19, denn Trinität wird hier nicht nur theoretisch als Spezifikum christlicher Gottesrede (Theo-logie) entwickelt, sondern fungiert zugleich als Abgrenzungskriterium zu anderen religiösen Gemeinschaften. Dabei bleibt gleichwohl fraglich, ob das Problem einer machtvollen Inszenierung jegli-
19 Vgl. Hans-Joachim Sander: Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgeselschaft 2006, S. 105.
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cher Gottesrede auf diese Weise nicht abgeblendet wird. Dass die Dreieinigkeit keine kreatürliche Analogie hat, beinhaltet hier nämlich gleichzeitig, dass die Vorstellung von ihr singulär ist – dies jedoch löst noch nicht das Problem sich theologisch legitimierender Machtstrategien. Dass Petersons Ausführungen jedenfalls nicht nur die frühchristliche Theologie betreffen, sondern auch eine Reevaluation christlicher Gottesvorstellungen nach der Aufklärung intendieren, und damit als Diskurs über Sakrales in der Moderne verstanden werden können, zeigt seine Vorbemerkung, in der es nicht nur heißt: »Die europäische Aufklärung hat von dem christlichen Gottesglauben nur den ›Monotheismus‹ übriggelassen, der in seinem theologischen Gehalt ebenso fragwürdig ist, wie in seinen politischen Konsequenzen« (DM 11), sondern in der Peterson auch Augustinus, der »an allen geistigen und politischen Wenden des Abendlandes sichtbar geworden« (ebd.) sei, um sein fürbittendes Gebet ersucht. Bevor aber im Folgenden nach einer aktuellen Bedeutung der These Petersons gefragt werden kann, müssen zu ihrer Bewertung einige Kritikpunkte referiert und diskutiert werden. II.2 Zur Bewertung der These Im Untertitel seiner erst 1970 erschienenen Antwort auf Peterson, Politische Theologie II, zitiert Carl Schmitt die »Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie«20. Zur Bewertung der These Petersons ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass Peterson das Wort »erledigt« in seinem Traktat nur für den Monotheismus verwendet, »während er bezüglich der politischen Theologie im allgemeinen die vorsichtigere Formulierung ›Bruch vollzogen‹ wählt«21. Die Annahme, dass Peterson politische Theologie als Ganze »erledigen« wollte, trifft also wohl kaum zu, insofern es ihm viel eher darauf angekommen zu sein scheint, sie an ihren theologischen Voraussetzungen zu messen – wobei er aus seiner eigenen historisch ausgerichteten Messung konkret einen Bruch mit politischer Theologie abliest. Zweitens sind die von Peterson als historisches Beweismaterial angeführten Belege ausführlich geprüft worden.22 Diese Überprüfung kommt »zu einem ne-
20 C. Schmitt: Politische Theologie II. 21 Hans Maier: »Erik Peterson und der Nationalsozialismus«, in: Barbara Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit. Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson. Symposium Mainz 2000, Münster: Lit Verlag 2001, S. 240-253, hier S. 248. 22 Vgl. die von Alfred Schindler, Hans-Ulrich Perels, Jan Badewien, Ernst L. Fellechner erarbeitete Analyse: Dies.: »Petersons historisches Beweismaterial – Prüfung von These und Belegen«, in: Alfred Schindler (Hg.), Monotheismus als politisches Pro-
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gativen Ergebnis: Petersons Erledigungs-These ist in ihrer pauschalen Form unhaltbar, und zwar in ihrer historischen Konkretion ebenso wie in ihrer systematischen Verallgemeinerung.«23 Zunächst konzentriert Peterson nämlich, wie schon angemerkt, seine Abhandlung über die politische Theologie ausschließlich auf den Monotheismus und führt diesen mit der Rezeption des monarchia-Begriffes eng. Insofern vermittelt er »den Eindruck, daß der Monarchia-Begriff ein für jede politische Theologie zentraler oder sogar notwendiger Begriff ist. Nur dadurch kann eigentlich der Anschein erweckt werden, daß mit dem Nachweis der dogmatischen Unkorrektheit dieses Begriffs jegliche politische Theologie theologisch erledigt ist.«24 Zudem sind einerseits nicht alle Textbelege streng im Sinne der politischen Theologie interpretierbar, andererseits werden nicht alle politisch eventuell einschlägigen Topoi der Theologie des 2. und 3. Jahrhunderts genannt.25 Schmitts Urteil über das Missverhältnis von These und Beleg26 ist also durchaus zuzustimmen, denn Petersons These lässt sich am beigebrachten historischen Material nicht verifizieren. Umso wichtiger scheint die Frage, wie theologisch mit ihr gearbeitet werden kann. Drittens ist die Tatsache, dass Peterson seinen Begriff der politischen Theologie im Traktat nicht definiert, vielfach und wohl zu Recht kritisiert worden:27 Ernst Fellechner macht in Petersons Traktat vier verschiedene »Relations- bzw. Funktionsbestimmungen seiner beiden Komponenten ›Theologie‹ respektive
blem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1978, S. 23-70. 23 Alfred Schindler: »Einführung«, in: Ders., Monotheismus, S. 9-13, hier S. 12. 24 Rudolf Hartmann: »Die Entstehung des Monotheismus-Aufsatzes«, in: Schindler, Monotheismus, S. 14-22, hier S. 19f. Vgl. daneben ebd., S. 22. Auch dieses Urteil geht im Übrigen etwas ungenau vom Versuch einer »Erledigung« der politischen Theologie durch Peterson aus. 25 So urteilen Hans-Ulrich Perels (vgl. A. Schindler u.a.: Beweismaterial, S. 28-32) und Jan Badewien (vgl. ebd., S. 36). 26 Vgl. C. Schmitt: Politische Theologie II. Ernst L. Fellechner weist sogar darauf hin, dass bei Gregor von Nazianz, den Peterson als herausragenden Vertreter einer orthodoxen Trinitätslehre und damit als deutlichsten Kritiker einer politischen Theologie anführt, der »Monotheismus und sein hervorragendes Stichwort ȝȠȞĮȡȤȓĮ […] unvermittelt und auf engstem Raum mit der trinitarischen Lehre [koexistieren]« (A. Schindler u.a.: Beweismaterial, S. 56, Herv. i.O.). 27 Vgl. z.B. C. Schmitt: Politische Theologie II, S. 54. Vgl. zur ausführlichen Kritik an Schmitts Antwort wiederum Nichtweiß, die »in Schmitts Darstellung etliche Ungenauigkeiten in Detailfragen« (B. Nichtweiß: Peterson, S. 818) nachzuweisen versucht.
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›Metaphysik‹ einerseits und ›Politik‹ andererseits«28 aus. Neben einer »indifferente[n] Ambivalenz« fasst Peterson nach Fellechner auch eine Legitimation der Politik durch die Theologie, eine Konstruktion der metaphysischen Vorstellungen nach dem Vorbild politischer Zustände, oder aber umgekehrt eine Einwirkung auf politische Zustände nach dem Vorbild der Metaphysik darunter.29 Auch dieser Punkt verunklart Petersons allgemeine Schlussthese, obwohl dies, weil je konkret trinitätstheologisch argumentiert werden kann, noch nicht unbedingt problematisch sein muss. Der weiterführende Punkt ist der vierte: denn aus der zutreffenden Kritik, dass auch das Trinitätsdogma nur theoretisch, »aber nicht faktisch einer politischen Instrumentalisierbarkeit entzogen«30 sei, dass es demnach auch keine wirkliche historische Zäsur in Bezug auf politische Theologie im vierten Jahrhundert gegeben habe, resultiert ja, dass politische Theologie auch nach der Ausarbeitung der Trinitätslehre noch möglich war und ist – und das dürfte, wie im Hinblick auf die Vorbemerkung schon angedeutet, implizit auch ein Anlass für Petersons Kritik gewesen sein.31 Gisbert Greshake hatte im Anschluss an Pe-
28 Ernst L. Fellechner: »Methode und These Petersons als Spiegel dogmatischer Entscheidungen«, in: Schindler, Monotheismus, S. 71-75, hier S. 71. 29 Vgl. ebd., S. 72. 30 So E. Fellechner, in: A. Schindler u.a.: Beweismaterial, S. 58, Herv. i.O. 31 Vgl. B. Nichtweiß: Peterson, S. 788f. Ob die Kritik Petersons sich tatsächlich direkt auf Schmitt bezieht, wird man nicht beantworten können, denn bis auf die bereits genannte Fußnote, die Schmitt als den Urheber des Begriffs politische Theologie nennt, wird kein direkter namentlicher Bezug hergestellt. Allerdings sind wiederum weder der Haupttext noch der Text dieser Fußnote als eindeutige Kritik an Schmitt zu sehen – letzterer könnte auch schlicht einen wissenschaftlich korrekten Nachweis der Begriffsherkunft darstellen. Vgl. ebd., S. 810-816. Als Adressat kommt für Nichtweiß eher die Reichstheologie vor allem katholischer Provenienz in Frage. Vgl. ebd., S. 766ff. und S. 810; ähnlich auch H. Maier: Peterson, S. 246. Stefan Gandler bezieht dabei die Hässlichkeit des Zwerges in Benjamins Bild vom Schachautomaten auf die Reichs-Theologen. Vgl. Stefan Gandler: Materialismus und Messianismus. Zu Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 19. Ob Petersons Kritik Schmitt mitbetrifft, dürfte letztlich davon abhängen, ob man Schmitts Politische Theologie als Programmschrift für »begriffs-geschichtliche Erforschung solcher Zusammenhänge versteht oder auch als Darlegung der eigenen politischen und staatsrechtlichen Intentionen« (B. Nichtweiß: Peterson, S. 812), und ob Schmitt damit selbst die Theologie zur Legitimation seiner staatsrechtlichen Überlegungen instrumentalisiert.
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ter Koslowski angemerkt, dass »Peterson selbst die ›dialektische Struktur‹ seiner eigenen These nicht durchschaute: Sein Interesse, gegen die politisierende Theologie der ›Deutschen Christen‹ jedweder politischen Theologie prinzipiell den Garaus zu machen, übersah, daß seine Position damit selbst ›ein Stück politischer Theologie‹ war und ist«32. Bei diesem Urteil Greshakes bleibt zunächst fraglich, ob die Wiedergabe von Petersons Intention als die einer solchen prinzipiellen Widerlegung politischer Theologie – wie schon erwähnt – an den Formulierungen seines Textes überhaupt zu verifizieren ist. Abgesehen davon könnte jedoch die dialektische Struktur der Thesen Petersons – ob absichtlich angelegt oder nicht – mit ihrer eschatologischen und vor allem trinitätstheologischen Argumentation vielleicht gerade ihre Stärke sein. Denn auf diese Weise legt Peterson, so die hier zu unterbreitende These, performativ einen theologischen Decodierungsdiskurs für politische Theologie an, der auch seinen eigenen Ansatz wiederum auf sich selbst zurückverweist. Diese Logik setzt nämlich einen je neu herzustellenden Bezug auf Offenbarung als gleichsam dynamischen Verweisungszusammenhang an die Stelle eines prinzipiellen und apodiktischen Urteils. Diesem Problemüberhang muss noch genauer nachgegangen werden. III. Theologische Anknüpfungspunkte III.1 Trinitätstheologie als Identität-Differenz-Grammatik Peterson führt die Trinitätslehre als ein notwendiges theologisches Korrektiv politischer Theologie ein – demnach müsste sich jede politische Theologie theologisch an ihr messen lassen. Allerdings arbeitet sein Monotheismus-Traktat kein eigenes trinitätstheologisches Modell aus, sondern verweist auf die Entfaltung der Trinitätslehre durch die Kappadokier. Der Linie der Peterson’schen Überlegungen folgend könnte man Trinitätslehre jedoch als eine Grammatik33 von Ein-
32 Gisbert Greshake: Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg: Herder 1997, S. 468f. mit Verweis auf Peter Koslowski: »Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre«, in: Theologie und Philosophie 56 (1981), S. 70-91, hier S. 71. Dass Peterson selbst, etwa in seiner zweiten Vorlesung über den Römerbrief, politische Begriffe theologisch verwendet hat, veranschaulicht exemplarisch folgendes Zitat: »Christus der als Kyrios akklamierte Souverän des neuen Äons […]«, zitiert nach: B. Nichtweiß: Peterson, S. 753, Herv. H.R. 33 Analog zum linguistischen Begriff bezieht sich Grammatik hier und im Folgenden auf eine Art Regelformativ, das Zuordnungen und Verknüpfungen in theologischen Aussagen orientiert.
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heit und Vielheit begreifen, wobei die Vielheit nicht zugunsten der Einheit, die Einheit nicht zugunsten der Vielheit aufgelöst werden darf. Das eigentliche Argument bei Peterson wäre dann weniger die Analogielosigkeit der trinitarischen Einheitskonzeption, als vielmehr die konstitutive Spannung zwischen Einheit und Vielheit, die weder aussagbar noch auflösbar ist und daher aufrechterhalten werden muss. Als Sprachform dafür böte sich die christologische Formel des Chalcedonense an, die durch die doppelte Negation des »ungetrennt und unvermischt« einen nicht eigentlich positiv bestimmbaren Raum schafft.34 Dabei kommt es darauf an, Trinität nicht als Gegenbild, sondern als Konkretion des Monotheismus begreifbar zu machen.35 Die Trinitätslehre wäre damit auch nicht Ausdruck »einer möglichen Affinität zu polytheistischen Traditionen«36 – und demnach auf der Linie der Monotheismuskritik von Odo Marquard anschlussfähig37 –, eher geht sie davon aus, dass »Gott […] keine differenzlose Einheit [ist],
34 Gemeint ist die Formel: »[…] Unser Herr Jesus Christus ist als ein und derselbe Sohn zu bekennen, vollkommen derselbe in der Gottheit, vollkommen derselbe in der Menschheit, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch derselbe, […] ein und derselbe Christus […] in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt […]« (Horos des Konzils von Chalcedon, zitiert nach: Josef Wohlmuth [Hg.]: Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 1: Konzilien des ersten Jahrtausends, Paderborn u.a.: Schöningh 1998, S. 86, Herv. H.R.). Vgl. dazu Gregor Maria Hoff: »Chalkedon im Paradigma Negativer Theologie. Zur aporetischen Wahrnehmung der chalkedonensischen Christologie«, in: Theologie und Philosophie 70 (1995), S. 355-372. Da die christologische Formel das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in der einen Person Jesu Christi umschreibt, während trinitätstheologisch umgekehrt das Verhältnis dreier Personen zur einen Natur zur Debatte steht, kann die Formel hier trinitätstheologisch nur als Sprachform vorgeschlagen werden. 35 In der Tat ist theologisch mit Georg Essen darauf hinzuweisen, dass der Monotheismus »als Ausdruck des Glaubens, daß Gott dreifaltig Einer ist […], ohne Trinität nicht sachgemäß bestimmt werden kann« (Georg Essen: »Monotheismus, IV. Systematischtheologisch«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 7, hg. v. Walter Kasper, Freiburg: Herder 2000, S. 428-430, hier S. 428). 36 Saskia Wendel: »Trinitarischer Monotheismus. Wie man dem Gewaltverdacht gegen den Monotheismus zu entrinnen vermag«, in: Peter Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg: Herder 2005, S. 117-130, hier S. 121. 37 Vgl. dazu Odo Marquard: »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam 1981, S. 91-116.
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keine absolute Identität, die Differenz und Besonderheit ausschließt, sondern Identität in Differenz in der Einheit der drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Geist«38. Wenn also Gott, wie Gregor Maria Hoff schreibt, trinitarisch »in der Identität seines Wesens erschlossen« wird, die darin besteht, »sich als Beziehung von Vater und Sohn, d.h. als Liebe und also im Modus einer Differenz zu bestimmen«39, wären Identität und Differenz wiederum als »ungetrennt und unvermischt« zu denken. In Bezug auf Slavoj Žižeks Relektüre der christlichen Trinitätslehre – die dieser dezidiert in Bezug auf »politische Implikationen«40 vornimmt – versucht Hoff demgemäß, die »Bedeutung der trinitarischen Idee an die herausfordernde Wirklichkeit jener Erfahrungen zurück zu binden, die sich für die Entwicklungen des christlichen Bekenntnisses zum dreieinen Gott verantwortlich zeichnen«41. Petersons Hinweis darauf, dass ein trinitarisch gedachter Einheitsbegriff in der ›geschaffenen Welt‹ analogielos ist, Trinität also gewissermaßen als ›Transzendenzmarker‹ einzuführen, ist allerdings nicht unbedingt ausreichend, um einen politischen Missbrauch theologischer Aussagen theologisch kritisierbar zu halten. Denn der Verweis auf diese Analogielosigkeit blendet tendenziell aus, dass Gott eine diskursive Macht sein kann, die machtvoll, eben politisch, diskursivierbar ist – und Differenzen zwischen Gott und Mensch ebenso wie zwischen verschiedenen Gottesvorstellungen machtvoll ausspielbar macht. An Peterson wäre darum außerdem die Frage nach dem Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität zu stellen, wobei erstere als Erkenntnisgrund der letzteren zu verstehen wäre. Wie schon erwähnt fehlen bei Peterson trinitätstheologische Modelle, die sein trinitarisches Verständnis verdeutlichen und damit evaluierbar
38 S. Wendel: Monotheismus, S. 120f. 39 Gregor Maria Hoff: »Der dreieine Gott. Ein Bekenntnis nur für Fachleute?«, in: Ders., Stichproben, S. 201-214, hier S. 209f. 40 S. Žižek: Puppe und Zwerg, S. 26. 41 G. M. Hoff: Der dreieine Gott, S. 209. Vgl. zur Trinitätslehre auch Magnus Striet: »Monotheismus und Schöpfungsdifferenz. Eine trinitätstheologische Erkundung«, in: Walter, Gewaltpotential des Monotheismus (2005), S. 132-153; sowie Ders.: »Spekulative Verfremdung? Trinitätstheologie in der Diskussion«, in: Herderkorrespondenz 56 (2002), S. 202-207; Ders.: Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie, Regensburg: Pustet 2003. Auf die theologisch eindrucksvolle freiheitsanalytische Trinitätstheologie kann hier nicht eingegangen werden; im Kontext politischer Theologie als Begriffssoziologie wäre lediglich anzufragen, ob der Einfluss politischer Gegebenheiten auf Theologie korrelativ oder kontrafaktisch nicht auch den zumindest juridisch-politisch einschlägigen Begriff der Freiheit beeinflussen könnte.
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und anknüpfungsfähig machen würden; in Bezug auf die politische Theologie wäre zumindest ein Ansatz einer Verhältnisbestimmung von immanenter und ökonomischer Trinität und damit in politisch-theologischer Hinsicht letztlich auch von Immanenz und Transzendenz jedoch weiterführend. Ansatzpunkt wäre dabei das Christusereignis: Wenn die Vorstellung von der Inkarnation davon ausgeht, dass sich Gott in der menschlichen Geschichte verortet hat, so ist mit dieser Verortung unweigerlich ein Verhältnis zur Macht gegeben, dem theologisch nicht ausgewichen werden darf.42 Gerade eine Orts- und Verhältnisbestimmung zur Politik darf eine Rede von Gott als Diskurs nicht auslassen, »weil Politik, schlichtweg vom Machtgebrauch lebt und Gott zugleich eine Macht ist. Es liegt […] nahe, dass von Gott in der Politik Gebrauch gemacht wird; aber es fragt sich, ob dieser Gebrauch Gott gerecht wird oder nicht.«43 Das gilt auch praktisch, wenn Kirche »in ihrer konkreten, historisch-gesellschaftlichen Erscheinung […] immer schon als eine politische Größe existiert, die einerseits den anderen gesellschaftlichen Institutionen gegenübersteht, zugleich aber eines ihrer Teilsysteme bildet.«44 So bleibt das Problem prekär. Hier ist eine zweite Relativierung hilfreich, die Peterson durch die Eschatologie markiert. III.2 Eschatologie als chronologische Grammatik Obwohl Erik Peterson in anderen Schriften konsequent eschatologisch denkt45, wird diese Perspektive im Monotheismus-Traktat nur angedeutet: auch die christliche Eschatologie habe, heißt es dort, zum Bruch mit der politischen Theologie beigetragen (vgl. DM 99f.). Weiterführend wäre die in christlicher Perspektive durch die Verschränkung von futurischer und präsentischer Eschatologie qualifizierte Lehre von den letzten Dingen durch die Spannung zwischen »schon« und »noch nicht« der Vollendung charakterisierbar: das Reich Gottes hat demnach theologisch zwar schon begonnen, bleibt jedoch gleichzeitig noch
42 Vgl. H. J. Sander: Gotteslehre, S. 124. 43 Ebd. Dies dürfte zudem auch unabhängig von einem konkreten religiösen Bekenntnis zu Gott gelten. 44 Alois Halbmayr: »Gottesrede als Einspruch. Das ideologiekritische Potential negativer Theologie«, in: Ders./Gregor Maria Hoff (Hg.), Negative Theologie heute? Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition, Freiburg: Herder 2008, S. 186-208, hier S. 189. 45 Vgl. dazu ausführlich B. Nichtweiß: Peterson, S. 457-498.
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im Kommen.46 In der Tat werden konkrete politische Gegebenheiten damit zwar nicht abgewertet, aber doch theologisch – und nur theologisch – unter einen eschatologischen Vorbehalt gestellt.47 Analog zur Trinitätslehre ist eine so gefasste Eschatologie als Vorbild politisch-theologischer Herrschaftslegitimation tatsächlich unbrauchbar – politische Theologie müsste sich jedoch an ihr messen lassen. Christlich-theologisch wäre dann der Begriff der Zeit genauer zu bestimmen, und zwar speziell in Bezug auf die scheinbar paradoxe Zeit, in der sich die Kirche befindet, die mit dem Reich Gottes nicht identisch, von ihm aber dennoch nicht zu trennen ist. Diese Zeitauffassung müsste den Spannungen zwischen Christusereignis und Vollendung des Reiches Gottes, zwischen Präsenz und Absenz, zwischen messianischem Ereignis und Wiederkunft des Messias Rechnung tragen. Solche Zuordnungen würden christlicher Zeitauffassung aber auch gleichsam strukturell zugrunde liegen und damit gewissermaßen analog zur linguistischen Grammatik funktionieren. Demgemäß wäre dann die Zeit theologisch nicht nur in Gotteslehre, Schöpfungslehre oder Eschatologie zu verhandeln, sondern auch in der Ekklesiologie; und umgekehrt die Ekklesiologie als Lehre von der Kirche unter der Hinsicht ihrer Zeit zu verhandeln.48 Indessen verwundert es, dass Peterson selbst die theologische Wissensform des Messianischen nicht nennt, die in ihrer biblischen Verwendung zunächst durchaus auch politisch verstehbar ist und erst im Laufe der innerbiblischen theologischen Entwicklung eigentlich eschatologisch akzentuiert wird.49 Sofern also das Messianische als möglicherweise inversive Figur einer Wissensform gegenüber – nicht nur politischen – Machtstrukturen einen Gegendiskurs anlegt und eine am Kreuz
46 Vgl. zur biblischen Vergewisserung etwa Gottfried Vanoni/Bernhard Heininger: Das Reich Gottes, Würzburg: Echter 2002. 47 Dieser Begriff dürfte eine originäre Prägung Petersons sein. Vgl. B. Nichtweiß: Peterson, S. 490f.; sowie Kurt Anglet: Der eschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur Erik Petersons, Paderborn: Schöningh 2001. 48 In seinem Römerbriefkommentar hat Giorgio Agamben im Anschluss an Paulus Überlegungen zur messianischen Zeit angestellt. Vgl. G. Agamben: Zeit, die bleibt, v.a. S. 75-87. Diese Überlegungen als Ausgangspunkt für eine ekklesiologische Zeitreflexion zu verwenden, dürfte – trotz der Akzentverschiebungen, die bei einer christlich-theologischen Agambenrezeption im Einzelnen wohl nötig wären – eine weiterführende Perspektive darstellen. Den Vorschlag, die messianische Zeit auf die Kirche zu beziehen, hat Agamben kürzlich selbst vorgelegt. Vgl. dazu Ders.: Kirche und Reich, übers. v. Andreas Hiepko, Berlin: Merve 2012. 49 Vgl. dazu z.B. Heinz-Josef Fabry/Klaus Scholtissek: Der Messias, Würzburg: Echter 2002, v.a. S. 26ff. und 53f.
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zunächst auch: ohnmächtige Logik veranschlagt, könnte man eine politische Theologie auch unter diesem Leitbegriff ausarbeiten – jedoch im Bewusstsein, dass gerade das Messianische ein politisch eminent einschlägiger Begriff ist.50 Neben die inhaltliche Spannung, die bei Peterson trinitätstheologisch und eschatologisch formuliert wird, träte dann eine auch formale Spannung, die Theologie überhaupt unter Vorzeichen stellte, die man als messianische bezeichnen könnte.51 IV. Orte … Die bisherige Argumentation hat versucht, politische Theologie am konkreten Beispiel der von Peterson geäußerten Kritik an eine Form negativer Theologie zu vermitteln.52 Die zumindest ansatzweise offenbarungstheologische Anbindung sollte dabei apophatische, negative Theologie und kataphatische Theologie einander zuordnen, sodass »Affirmation und Negation […] sich […] nicht dialektisch gegenüber[stehen], als wäre das eine die überfällige Korrektur oder Erweiterung des anderen«53. Mit Trinität und Eschatologie wurden jedoch zwei geradezu unmögliche Grammatiken der Gottesrede genannt: letztere nimmt Bezug auf das Reich Gottes als einen unmöglichen Ort, und erstere wird vom Kreuz als einem unmöglichen Ort her formuliert.54 Zwei Grammatiken also, die auf Orte Bezug nehmen, die gleichwohl offenbarungstheologisch angebunden sind, nämlich einerseits in der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft sowie andererseits in der Reflexion auf das Christusereignis und seine theologische Rationalisierung im Verhältnis zu demjenigen, den der biblische Jesus als seinen Vater bezeichnet. Diese Grammatiken relativieren nicht lediglich politische Theologie, vielmehr setzen sie Theologie überhaupt in eine relativierende Verbindung zu ihrem
50 Vgl. dazu etwa die Römerbriefvorlesung von Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus, München: Fink 2003, v.a. S. 23-34. 51 Das Messianische als eigentlich jüdisches Theologumenon verweist christliche Theologie dabei wiederum an eine Größe, auf die sie sich nur beziehen, die sie jedoch nicht besitzen kann. Das Messianische als inversive Figur zu verstehen, ist ein vorläufiger Vorschlag, über den gesondert zu diskutieren wäre. 52 Von daher beziehe ich mich gewissermaßen in umgekehrter Argumentationsrichtung auf den Vorschlag von Alois Halbmayr, das ideologiekritische Potential negativer Theologie auszuarbeiten. Vgl. dazu seine Ausführungen in Ders.: Gottesrede als Einspruch. 53 Ebd., S. 195. 54 Vgl. G. M. Hoff: Der dreieine Gott, S. 205-208.
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Offenbarungsgrund. Dabei bleibt durchaus die Möglichkeit, dass eine irgendwie geartete politische Theologie »selbst mit ideologischen Kategorien« agiert; unabdingbar bleibt daher immer auch »Kritik ihrer selbst, das Bemühen und der Auftrag, das bei sich selbst Unbeobachtete zu beobachten, das Aus- und Abgeblendete ins Auge zu fassen«55. Dies impliziert kein abschließendes Urteil, sondern verlangt vielmehr eine immer neu ansetzende Argumentation. Von solchen Orten56 ausgehend soll zum Schluss noch eine ganz andere Spur ausgelegt werden: denn die Etymologie, die das Matthäusevangelium in 1,21 für den Namen Jeschuah (Jesus) angibt, leitet diesen vom hebräischen Wort ʲʹʩ (jaschah) ab, das ursprünglich »weit, geräumig sein« bedeutete.57 Freilich hat sich schon früh die Bedeutung »retten, Heil schaffen« daraus entwickelt – eine christliche Theologie, die sich auf die Botschaft dieses Jesus bezieht, dürfte in einem solchen ganz ursprünglichen Zusammenhang aber auch inhaltlich topologisch zu fassen sein. Mit einer solchen Topologie wäre dann auch die Verhältnisbestimmung von Puppe und Zwerg je neu vorzunehmen: bei jeder Frage nach der Politik (in) der Theologie wäre je neu zu bestimmen, ob der Zwerg absichtlich oder unabsichtlich in Dienst nimmt oder genommen wird und wie die Schnüre zwischen ihm und der Puppe beschaffen sind. Auf das als doppelte Frage formulierte implizite Benjamin-Zitat im Titel dieses Beitrags ist damit keine einfache Antwort zu geben: Gott kann je konkret machtvoll diskursiviert werden – dies aber theologisch je konkret neu zu vermessen, ist nicht der unwichtigste Anspruch, den Erik Peterson erhebt.
55 A. Halbmayr: Gottesrede als Einspruch, S. 193. 56 Ich beziehe mich auf den Ansatz topologischer Theologie von Hans-Joachim Sander. Vgl. dazu grundlegend Ders.: Gotteslehre. 57 Vgl. etwa Ludwig Koehler/Walter Baumgartner: Lexicon in veteris testamenti libros, Leiden: Brill 1958, S. 412. Auch wenn die Ableitung des Namens aus dieser Verbform etymologisch nicht unbedingt haltbar ist, dürfte die Tatsache, dass der Autor oder Redaktor des Matthäusevangeliums diese herausgehört hat, bestehen bleiben. Der Versteil in Mt 1,21 lautet im griechischen Original: »ĮۺIJܞȢ Ȗܖȡ ıȫıİȚ IJܞȞ ȜĮܞȞ ĮۺIJȠڲ ޅʌ ܞIJޒȞ ڳȝĮȡIJȚޒȞ ĮۺIJޒȞ« (hier zitiert nach: Novum Testamentum Graece, hg. v. Kurt Aland u.a., 27. Aufl., Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1993), übersetzt etwa: »dieser nämlich wird sein Volk retten von ihren Sünden«.
Heiliges Leben Zur Biopolitik des Aktivismus (Kurt Hiller) S ANDRO H OLZHEIMER
1. Aktivistische Konstellationen: Geist und Leben Die geläufige Beobachtung, dass das Leben – im Gefolge etwa von Bergson, Nietzsche und Simmel – in der klassischen Moderne zu einem Schlüsselbegriff der philosophischen und ästhetischen, aber auch der politischen Reflexion avanciert, mag insbesondere für den Expressionismus und seine hier zur Debatte stehende politische Nebenströmung gelten:1 gemeint ist der Aktivismus, wie er ab 1915 vor allem von Kurt Hiller in den Ziel-Jahrbüchern programmatisch entwickelt wird.2 Für den Expressionismus – daran sei hier zunächst erinnert – lässt sich der Begriff des Lebens als zentrales Konzept exakt deshalb einziehen, weil,
1
Vgl. einführend zum expressionistischen Schlüsselbegriff Leben Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, 2., akt. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 5061.
2
Vgl. zum Einfluss der Lebensphilosophie auf den Aktivismus Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./Bern: Lang 1981, S. 119-129. Mit Schwerpunkt auf der Philosophie Nietzsches siehe weiterhin Alexandra Gerstner: »Der Philosoph als Gesetzgeber. Nietzsche-Rezeption im literarischen Aktivismus«, in: Schriften der Kurt-Hiller-Gesellschaft 3 (2007), S. 91-105, und Dieter Schumacher: »Der ›herrschende Gedanke‹«, in: Schriften der Kurt-Hiller-Gesellschaft 1 (2001), S. 74-93.
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wie Martens in seiner grundlegenden Studie gezeigt hat3, der zeitgenössische Vitalismus die philosophische Grundierung der Strömung abgibt, für die nach dieser Lesart der Satz aus August Stramms Drama Rudimentär: »Oh! Mensch! Wir leben!«4, als Stiftungsformel überhaupt gelten kann. Expressionistischer Vitalismus hieße in diesem Sinne die Apotheose des Organisch-Schöpferischen: ein, nach Martens, mystisch-religiöser dionysischer »Lebenskult«5, nämlich die Sakralisierung des Lebens als eines energetischen, dynamischen physischen wie psychischen Prinzips. Auf dieser Ebene zeigt der Vitalismus nicht zuletzt auch seine kulturskeptische Ausrichtung, wird er im Expressionismus doch immer gegen die präsupponierte Leblosigkeit einer modernen Zivilisation in Stellung gebracht, die vom Leben nur die Umbra vitae lasse, um mit dem Titel eines Gedichts von Georg Heym zu sprechen.6 Dass dieser literarische Lebenskult jedoch noch immer die prekäre Trennung von autonomer Kunst bzw. Geist und Leben reproduziere, indem er sich mit seinen geistigen und ästhetischen Abstraktionen gegen die reale Präsenz des Leben positioniere und von ihr abschließe, ist der Kern des Vorwurfs, den das Dadaistische Manifest 1918 an die Expressionisten richtet. Dort heißt es: »Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.« Und weiter: »Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe.«7 Mit den weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe ist nun exakt die Strömung des Aktivismus als politischer Arm des Expressionismus gemeint. Denn die von dadaistischer Seite kritisierte Abtrennung der ästhetisch-geistigen Form von der Immanenz des Lebens kehrt im Aktivismus in Gestalt eines politischen Programms wieder. Keineswegs nämlich geht es in diesem um das unmittelbare und
3
Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1971. Vgl. zu den Bezugsgrößen Nietzsche, Bergson und Simmel ebd., S. 32-72.
4
August Stramm: Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa, hg. u. m. e.
5
Vgl. insgesamt G. Martens: Vitalismus und Expressionismus, bes. S. 73-126.
6
Vgl. Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. v. Karl Ludwig
Nachw. v. Jeremy Adler, München u.a.: Piper 1990, S. 167.
Schneider, Bd. 1: Lyrik, bearb. v. Karl Ludwig Schneider u. Gunter Martens, Hamburg/München: Heinrich Ellermann 1964, S. 462f. 7
»Dadaistisches Manifest«, in: Otto F. Best, Theorie des Expressionismus, durchges. u. verb. Aufl., Stuttgart: Reclam 1982, S. 236-240, hier S. 240.
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spontane Zelebrieren der – wie es in einem dadaistischen Gedicht von George Grosz heißt – Aktualität der »knallige[n] Welt«8, sondern um deren Überwindung in einem vom Geist diktierten utopischen télos des Lebens. Das publizistische Zentralorgan des Aktivismus firmiert also nicht zufällig unter dem Titel Das Ziel, Hiller selbst gibt der Strömung ihre eschatologische Signatur, wenn er sie als Aufbruch zum Paradies9 versteht. Den aktivistischen Schlüsselbegriff bildet hierbei der Geist – seltener ist die Rede von Vernunft oder lógos –, verstanden als moralisches Korrektiv einer depravierten und inhumanen Politik und Zivilisation: Der »Sinn des Geistes ist die Gestaltung von Leben«10, schreibt Hiller und schließt damit direkt an das Gründungsmanifest des Aktivismus an, Heinrich Manns 1910 erschienenen Essay Geist und Tat, in dem der Geist laut Mann die »Revolte des Menschen gegen die Natur«11 antreibt und als gleichermaßen metaphysisches wie souveränes Prinzip die normative »Definition der Welt«12 gibt. »Dieser Begriff ›Geist‹, mehr als andere Begriffe, spottet jeder Definition«13, schreibt Hiller. Inhaltlich völlig unbestimmt ist der Geist deshalb, weil er umgekehrt die Funktion einer reinen Instanz der Bestimmung, eines politischen Herrensignifikanten zu erfüllen hat.14 Aufklärung über diesen eigenartig unbestimmten Schlüsselbegriff des Aktivismus verspricht demnach nicht die Rekonstruktion seines zumal eklektischen Inhalts. Vielmehr zeigt gerade seine inhaltliche Leere, dass die Rolle des Geist-Begriffs bei Hiller rein strukturell, mit Slavoj Žižeks englischen Worten »purely structural«15, ist, dass seine Funktion im aktivistischen Diskurs sich also weniger aus dem Begriffsinhalt, sondern aus seiner formalen Position innerhalb einer abstrakten Konstellation speist. Der Geist, so lässt sich in diesem Sinn zuerst festhalten, tritt als Instanz der allgemeinen und
8
George Grosz: »Gesang an die Welt«, in: Ders., Ach knallige Welt, du Lunapark. Gesammelte Gedichte, hg. v. Klaus Peter Dencker, München/Wien: Hanser 1986, S. 45.
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Vgl. Kurt Hiller: Der Aufbruch zum Paradies. Sätze, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint 1973 [= Nachdr. d. Ausg. München: Kurt Wolff 1922].
10 Kurt Hiller: Logokratie oder Ein Weltbund des Geistes, Leipzig: Der Neue Geist 1921, S. 14. 11 Heinrich Mann: Macht und Mensch. Essays, m. e. Nachw. v. Renate Werner, u. e. Materialienanh. zusammengest. v. Peter Paul Schneider, Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 13. 12 Ebd., S. 16. 13 K. Hiller: Logokratie, S. 32. 14 Vgl. zu Begriff und Theorie des Herrensignifikanten Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology, London: Verso 1989, S. 87-129. 15 Ebd., S. 99.
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idealen Form zum Leben hinzu, mit ihm wird im Begriffsgerüst des Aktivismus »über dem Seienden das Seinsollende« oder die Idee installiert, »über der Wirklichkeit de[r] Wert, über der Historie die Utopie, über der Erfahrung das vernünftige Denken, über der Natur de[r] Geist in uns, der sie formt«16. Angesprochen ist somit ein hylemorphes Form-Materie-Modell:17 Die aktivistische Ideologie denkt Leben und Gesellschaft einzig als rezeptives Material (hýle) des ›Transzendenzplans‹ des Geistes.18 Form wird hier also interventionistisch und transzendent gedacht, idealiter je schon angelegt in den formalen Ideen als »Ziele[n] des Geistes«19, die der Aktivismus um die für ihn typische voluntaristische Signatur ergänzt, um den Willen zur Tat im Namen der Ideen. In der aktivistischen Engführung heißt Geist ein »Rationalismus, der Ziele setzt und den Willen zur bewußten Tat entfacht«20. Wenn Hiller fordert, dass der Geist gerade auch im Politischen »Herr der Abläufe«21 zu sein habe, so wird hiermit also strukturell eine Position der Transzendenz reklamiert: Beansprucht wird mit dem Begriff der unmögliche »archimedische[] Punkt, von wo jene wirre und verwesende Welt der Parteien aus den Angeln zu heben ist«22. Präsupponiert wird in der
16 K. Hiller: Logokratie, S. 8. 17 Vgl. insgesamt zur Form-Materie-Thematik und mit Erläuterung des aristotelischen Hylemorphismus C. von Bormann, W. Franzen, A. Krapiec, L. Oeing-Hanhoff: »Form und Materie (Stoff)«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 2: D-F, Basel/Stuttgart: Schwabe 1972, Sp. 977-1030. 18 Vgl. zum Begriff des Transzendenzplans Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, übers. v. Hedwig Linden, Berlin: Merve 1988, S. 166: »Jegliche Organisation, die von oben herrührt und sich auf eine, selbst versteckte Transzendenz bezieht, nennt man einen theologischen Plan: Entwurf im Geiste eines Gottes, aber auch Evolution in den angenommenen Tiefen der Natur, oder auch Organisation der Macht einer Gesellschaft […]. Er verfügt tatsächlich immer über eine zusätzliche Dimension, er impliziert immer eine Dimension, die den Dimensionen dessen, was gegeben ist [Immanenzplan; S.H.], hinzugefügt wird«. 19 H. Mann: Macht und Mensch, S. 25. 20 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Bd. 1: Logos, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1969, S. 103. Hiller zitiert an dieser Stelle eine positive Rezension des Ziel-Jahrbuchs von 1918 (Tätiger Geist) und macht sich deren Beschreibung des aktivistischen GeistBegriffs zu eigen. 21 Kurt Hiller: »Ortsbestimmung des Aktivismus«, in: O.F. Best: Theorie des Expressionismus, S. 127. 22 K. Hiller: Logokratie, S. 36.
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Geist-Politik des Aktivismus je schon die theologisch-politisch grundierte Unterschiedenheit, ja dualistische Unterscheidbarkeit von Geist und Leben. Denn selbst wenn der Geist im Aktivismus stets vitalistisch und voluntaristisch überzeichnet wird und als »Unerklärbar-Dynamisches«23 durchaus seine »Nähe zu lebensphilosophischen Argumentationsformen«24 verrät, so gehen »Dualisten«25 wie Hiller nie von einer monistischen Überblendung, sondern von der Trennung zwischen Geist und Leben aus. Der Geist, so ließe sich sagen, ist dabei die innere Differenz im Leben: Er ist das dynamische und gestaltende Prinzip, das aus ihm als »führende[s] Prinzip«26 heraustritt und sich von ihm in einem souveränen Akt ausnimmt, um ihm nunmehr sein Gesetz aufzuerlegen. Im Anschluss an Platons und Nietzsches Philosophenkönigtum gilt der »Geistige […] den Aktivisten als eine Funktion des Volkes [bzw. abstrahiert und begrifflich analog: des Lebens als Gegenpart des Geistes; S.H.], die vom Volk klar geschieden«27 ist. In dieser Position absoluter Autonomie, im Entwurf einer Instanz, die »sich selbst gebiert und [deren] Ursprung nicht ›die Verhältnisse‹ sind«28 erweist sich die Analogie des Geistes zur Struktur politischer Souveränität, deren Phantasma die »Phalanx der Geistigen, der Logosdurchglühten«29 antreibt. 2. Heiliges Leben: Die sacratio als politische Struktur Im Sinn dieser Analogie geht es in den folgenden Überlegungen darum, anhand von Hillers geistesaristokratischem Staatskonzept der sog. Logokratie (vgl. seine
23 Ebd., S. 8. 24 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 63. 25 K. Hiller: Logokratie, S. 8. 26 Ebd., S. 14. 27 A. Gerstner: Der Philosoph als Gesetzgeber, S. 98. 28 Kurt Hiller: Geist werde Herr. Kundgebungen eines Aktivisten vor, in und nach dem Kriege, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint 1973 [= Nachdr. d. Ausg. Berlin: Erich Reiß 1920], S. 42. Vgl. hierzu auch Hillers strikte Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus zugunsten der Monarchie: »Darum rangiert im Zeremoniell der Vernunftpolitiker die Demokratie noch unter der Erbmonarchie. In der Erbmonarchie kann ein glücklicher Zufall den Geist auf den Thron setzen; in der Demokratie schließt die Notwendigkeit den Geist von der Herrschaft aus.« (K. Hiller: Logokratie, S. 23f.). Die Ablehnung der Demokratie durch Hiller ergibt sich also direkt aus seiner Einweisung des Geistes bzw. der Geistigen ins Bild der Souveränitätsmacht. 29 K. Hiller: Logokratie, S. 36.
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Schrift Logokratie oder Ein Weltbund des Geistes, 1921)30 die prekäre Spannung zwischen Geist und Leben sowie ihre politische Signatur nachzuzeichnen. Die originäre Referenz dieser Herrschaft der Geistigen bildet nämlich das bloße Faktum des Lebens: Oberste Maxime und »revolutionäre Hauptidee« des Aktivismus ist die »absolute Heiligung des Menschenlebens«31, die »Unantastbarkeit des Lebens«32, mit der sich der militante Pazifist Hiller vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs gegen eine Politik wendet, die von ihm als Thanatopolitik erkannt wird und deren Überwindung nun in der »Abschaffung des Todes«33 zu liegen habe. Dieses heilige Leben, dessen Schutz allererst den Souveränitätsanspruch des Geistes legitimiert, steht dabei freilich im breiteren Kontext des expressionistischen Lebenskults. Wo Hiller jedoch diesen Lebenskult auf das Feld der Politik zieht, wo er also das faktische Leben politisiert, ist das heilige Leben nicht mehr nur als ästhetische oder religiös-mystische, sondern – auch hinsichtlich der besagten Analogie zwischen dem Geist und der Struktur der Souveränität – als genuin politische Figur zu erfassen. Giorgio Agambens rezenter Versuch einer Genealogie der souveränen Macht im Abendland verhält sich solidarisch zu einer solchen politischen Rekonzipierung der religiösen Kategorie des Heiligen. In Absetzung von den ethnologischen, soziologischen und anthropologischen Ansätzen einer Theorie der »Zweideutigkeit« (Durkheim) des Heiligen, die auf die Nähe des Begriffs zu den Kategorien des Unreinen und Verfemten abstellen34, geht es Agamben um die sacratio in ihrer »vielleicht älteste[n] Bedeutung«35, nämlich als politische Struktur, wie sie in der eigentümlichen Figur des homo sacer aus dem archaischen römischen Recht sinnfällig werde. Sacer jedenfalls heißt – in der Ambivalenz von ›heilig‹ und ›verfemt‹ – dort derjenige, der aus den Rechtsnormen verstoßen ist, jedoch nicht als Opfer den Göttern überantwortet werden kann, heißt also das »in einer doppelten Ausnahme […] sowohl vom ius humanum als auch vom ius divi-
30 Vgl. die umfassende Einführung bei Harald Lützenkirchen: Logokratie. Herrschaft der Vernunft in der Gesellschaft aus der Sicht Kurt Hillers, Essen: Westarp 1989. 31 K. Hiller: Logokratie, S. 36. 32 Ebd., S. 16. 33 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 160, Herv. i.O. 34 Vgl. stellvertretend das Kapitel »Die Sühneriten und die Zweideutigkeit des Begriffs des Heiligen« in Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt/M. u.a.: Verlag der Weltreligionen/Insel 2007, S. 570-670. 35 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 19.
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num« ausgeschlossene Leben: »Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf, ist das heilige Leben.«36 Der homo sacer als Figur des aus der Gemeinschaft verbannten und dem Zugriff einer nicht rechtlich sanktionierbaren Macht ausgelieferten nackten Lebens ist nach Agamben also das genealogische Paradigma der Struktur der modernen Souveränität. In der somit als Produktion eines nackten Lebens politisch rekonzipierten sacratio präfiguriert die souveräne Entscheidung über die Ausnahme: »Rückt man den homo sacer an seinen eigentlichen Ort jenseits des Strafrechts wie des Opfers, so stellt er die ursprüngliche Figur des in Bann genommen Lebens dar und bewahrt das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die politische Dimension konstituiert hat […]. Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.«37
Die sacratio gibt in dieser Bedeutung das basale Paradox der souveränen Entscheidung an, nämlich dass diese das Leben in Form der Ausnahme politisiert, dass sie also die Referenz auf das Leben nur durch seine Ausnahme vom Recht und seine Exponierung als nacktes herstellt. Die originäre Referenz der Souveränität ist nicht das Rechtssubjekt, sondern das heilige Leben in besagtem Sinn. Biopolitik, d.h. die spezifisch moderne Ausfällung des faktischen Lebens als regierungstechnisches Objekt, ist die politische Verstetigung (und Banalisierung) der souveränen Entscheidung über die Ausnahme, die in der sacratio präfiguriert. Für Hillers Aktivismus, in dem sich die Heiligung des Lebens durch die »Priester des Geistes«38 mit dem Souveränitätsanspruch des Geistes verknüpft, ergeben sich hieraus zwei Fragen, die zugleich auch die potentiell problematischen Fortschreibungen seiner Entwürfe zu einer Politik des Geistes sichtbar machen. Wenn der Aktivismus, wie es einmal in Heinrich Manns Roman Der Kopf (1925) im kritischen Rückblick auf die Figur des sogenannten Intellektuellen oder Geistigen heißt, die Herrschaft einer »lebenfördernden Vernunft«39 und das Projekt der Lebensheiligung gegen die autoritäre »Blutmacht«40 des Staats
36 Ebd., S. 92, Herv. i.O. 37 Ebd., S. 93, Herv. i.O. 38 H. Mann: Macht und Mensch, S. 22. 39 Heinrich Mann: Der Kopf. Roman, m. e. Nachw. u. e. Materialienanh. v. Michael Stark, Frankfurt/M.: Fischer 2011, S. 333. 40 Ebd., S. 226.
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ausspielt, so wäre zu fragen, ob in der Herrschaft des Geistes nicht das Paradox der Souveränität noch anwesend ist, ob also das aktivistische Projekt der unbedingten Heiligung des Lebens nicht durch die sacratio in ihrer alten Bedeutung unterminiert wird: »Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht [verstanden als ›Blutmacht‹, d.h. als Macht über Leben und Tod; S.H.] als Menschenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes, seine unwiderrufliche Aussetzung in der Beziehung der Verlassenheit.«41
Zu fragen wäre im Anschluss zweitens, ob die logokratische Heiligung des lebendigen »Geschöpf[s]«42, wie Hiller schreibt, d.h. die explizite Politisierung des bloßen Faktums des Lebens, nun nicht den Punkt darstellt, an dem der Geist als vormalige transzendente, theologisch-politische Quelle des Gesetzes die von Michel Foucault beschriebene »biologische Modernitätsschwelle«43 der Politik überschreitet, an dem also, indem sich nun geistige Politik tendenziell als Biopolitik realisiert, die besagten »weltfremden Theorien literarischer Hohlköpfe« ihre durch und durch moderne politische Signatur, d.h. ihre Solidarität mit spezifisch modernen politischen Ordnungsverfahren zeigen. 3. Souveränität des Geistes und Lebensheiligung Es erscheint also ergiebig, das aktivistische Konzept der Logokratie mit Blick auf die von Agamben vorgeschlagene Analogie der sacratio zur Struktur der Souveränität zu lesen, d.h. das von Hiller ins Zentrum seiner Überlegungen gestellte heilige Leben des Geschöpfes als Referenz und Einsatz einer souveränen Macht zu erfassen. Die Idee der »Gewährleistung des Lebens selber, des puren Lebens«44, die sich in der pazifistischen Wendung gegen Krieg und Todesstrafe konkretisiert, muss deshalb einer Lektüre, die das Politische vor das Ethische dieser Idee schiebt, nicht als moralische Maxime, sondern als machtstrategische Option erscheinen: Hinter Hillers an die Idee der Menschenrechte anschließen-
41 G. Agamben: Homo sacer, S. 93. 42 K. Hiller: Logokratie, S. 31. 43 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 14., durchges. u. korr. Aufl., übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 138. 44 K. Hiller: Logokratie, S. 14.
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den Heiligung des puren Lebens durch den Geist gilt es die sacratio als Paradigma der souveränen Entscheidung über ein von jedem Recht ausgenommenes nacktes Leben zu entdecken. Das hieße also, dass das pure Leben nicht als der Politik vorausgehendes und sie begründendes factum brutum, sondern als Effekt einer Grenzziehung bzw. einer souveränen Entscheidung zu sehen ist, die unaufhörlich Norm und Ausnahme, politisch vollwertige Existenz und bloß faktisches Leben trennt. Als sacratio stellt die logokratische Lebensheiligung nicht minder eine politische Vereinnahmung des Lebens durch die Macht in Form einer Ausnahme dar: Im Bezug auf die Herrschaft des Geistes ist das pure Leben auch das des homo sacer. Hillers »Geschöpf«, die schutzbedürftige Kreatur, ist das in Bann genommene nackte Leben, das der souveränen Entscheidung des Geistes oder der Geistigen direkt korreliert – wenn auch mit der notwendigen Einschränkung, dass dieses nackte Leben anders als Agambens homo sacer auf dem Tableau der aktivistischen Macht nicht als virtuell tötbares erscheint. Diese Beobachtung lässt sich bestätigen, weil Hillers Begriff des heiligen Lebens an die Idee der Menschenrechte anschließt, mit der 1789 erstmals das Faktum der Geburt, d.h. das bloße Leben zum Fundament des bürgerlichen Staats und dem Schutz der nun eben nationalen Souveränität anheimgestellt wird.45 »Das reale Wohl des Staatsbürgers verlangt zuerst, daß er leben darf«, zitiert Hiller diese Verschiebung und macht so das heilige »Ur-Recht auf Dasein«46 zur Basis auch der logokratischen Staatsutopie. So sehr jedoch die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen schon in ihrem Titel eine prekäre Spannung zwischen menschlicher und politischer Existenz ausmisst und die Möglichkeit eines Auseinanderfallens, einer Demarkation von Mensch und Bürger zumindest latent in Aussicht stellt, so sehr ließe sich ihr Verhältnis als Disjunktion fassen, in der das heilige Leben nicht nur als natürliche Basis, sondern als Schwundstufe der politischen Existenz des Bürgers denkbar ist. So jedenfalls verhält es sich bereits 1789, also im Jahr der Déclaration, in den Préliminaires de la Constitution des Abbé Sieyes, der dort die natürlichen als passive von den aktiven Bürgerrechten unterscheidet: »Die Frauen […], die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, dürfen keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen.«47 Das heilige Leben der
45 Für Hillers vergleichbar argumentierendes Plädoyer für den Nationalismus vgl. ebd., S. 32ff. 46 Ebd., S. 35. 47 Emmanuel Joseph Sieyes: »Einleitung zur Verfassung. Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte«, in: Ders., Politische Schriften 1788-
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Menschenrechte, Grundlage der Rechte des Bürgers der Nation, wird hier zur politischen Qualifikation genau derjenigen, die in der Gemeinschaft nur in Form ihrer Absonderung anwesend sind, die also in die Nation nur um den Preis ihrer Ausschließung eingeschlossen sind.48 So wird die Grenze zwischen heiligem und politischem Leben als Effekt einer souveränen Demarkation einsichtig, die auch die Logokratie Hillers und seine in Sieyes’ Gefolge stehende Theorie von der natürlichen »Wertverschiedenheit der Menschen«49 heimsucht. Denn auch in dieser steht und fällt die reklamierte Souveränität von Geist und Idee mit der stets neu zu ziehenden Demarkation zwischen dem höheren Leben der »Menschen der Geist-Rasse«50 und den geistig »Inferioren«51 als Besitzern des puren Lebens. Für diese steht bei Hiller – wohl auch, weil es als revolutionäres Subjekt mit den Geistigen konkurriert – das Proletariat, das als geistferne Klasse, als »Menschheitsteil, der vom Geiste abgeschnitten lebt«52, einzig als faktisches Leben adressierbar und deshalb »untauglich zum Ideenverwirklichen und Gesetzgeben«53 ist. Die Sakralisierung des Lebens in der Logokratie erweist sich politisch als Akt der sacratio: Was als heiliges oder pures Leben qualifiziert wird, ist in die Gemeinschaft nur in Form der Ausschließung eingeschlossen, hat also »nicht die gleiche Berufenheit zum Gesetzgeben oder […] zum Ernennen der Gesetzgeber«54. Das pure Leben erweist sich in der aktivistischen Utopie demnach als Leitdifferenz, die es stets neu zu ziehen gilt, ja, deren Setzung allererst die Konstitution des politischen Raums der Logokratie und die Bestimmung seiner Grenzen erlaubt. Diese innere Differenz im Leben zu setzen, um die »führerischen Naturen«55 von zu führenden »Inferioren« zu unterscheiden, heißt jedoch auch, den Geist auf eine biologistische Legitimationsschwelle herabzuziehen. Sofern nämlich »die Vernunft, biologisch gesehen, Wille und Erkenntnis der jeweils Vorgeschrittensten«56 sei, geht es Hiller um die Beschwörung einer inneren Differenz,
1790, übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, S. 239-257, hier S. 251. 48 Vgl. hierzu auch G. Agamben: Homo sacer, S. 135-144. 49 K. Hiller: Logokratie, S. 26. 50 Ebd., S. 31. 51 Ebd., S. 21. 52 Ebd., S. 9. 53 Ebd., S. 10. 54 Ebd., S. 26. 55 Ebd., S. 24. 56 Ebd., S. 23.
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die es im Leben als undifferenziertem »Daseiendem, Gegebenem«57 erlaube, das Leben des zur Macht berufenen »geistigen Geblüts«58 – ein Leben also, das mehr ist als nur pures Leben – vom bloßen menschlichen »Geschöpf« abzusetzen, das an der Gemeinschaft nur als eingeschlossenes Ausgeschlossenes partizipiert. Ihre genuine Umsetzung findet dieser Akt, der den politischen Raum konstituiert, diese basale Struktur der Hiller’schen Utopie im Vorschlag für eine fortlaufende geistige Auslese, der die Grenzziehung zwischen »Geist-Rasse« und purem Leben als eigentlichen Einsatz der Logokratie sichtbar macht: Die sacratio als Bestimmung des heiligen Lebens, d.h. als Entscheidung über die Ausnahme, ist der eigentliche Akt, der den politischen Raum begrenzen soll, der unter die Herrschaft der Aristoi des Geistes fällt. Zu dieser prinzipiell unabschließbaren »Herstellung der wahren Aristokratie«59, d.h. zur Unterscheidung des geistigen im undifferenzierten Leben sei demnach die stetig zu wiederholende »Zufuhr proletarischen Blutes« in das »Geistreservoir«60 der Nation ebenso wünschenswert wie die Absonderung eines bloßen Lebens als »Rest, Bleibsel, Abhub, Niederschlag der Auslese«61 – Hillers pragmatischer Logik zufolge gebührt es nämlich diesem auf seine körperliche Natur reduzierten Leben, jene »Sklavenarbeiten« zu übernehmen, die den materiellen »Standard der Zivilisation« wahren: »Der Proletarier kann verschwinden, der Plebejer nie.«62 Und daraus folgt also, dass die Konstitution des politischen Raums auf Basis des bloßen Faktums des Lebens die Struktur der sacratio reproduziert und im »Plebejer« die Figur des homo sacer zum Ausgangspunkt der Demarkation der politischen Dimension macht. Mit Blick auf das vom Linksintellektuellen Hiller inkriminierte »großkapitalistische Ungeziefer«63 ist die Stiftung der Logokratie deshalb gleichursprünglich mit der souveränen Entscheidung, dass »jenes raffende Gesindel entrechtet«64 sei, mit der Produktion eines heiligen Lebens also, das »in keinem Fall im Gemeinwesen der Menschen wohnen«65 kann, jedoch somit – in Analogie zu Agambens Be-
57 Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser 1974, S. 163. 58 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 53. 59 K. Hiller: Logokratie, S. 10. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 21. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 38. 64 Ebd., S. 8. 65 G. Agamben: Homo sacer, S. 110.
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griff der virtuellen Tötbarkeit – als lebender Körper zum Gegenstand politischer Strategien und Vereinnahmungen avanciert: »Schlagen wir das Gelichter aufs Haupt, die Spekulanten, die Wucherer, die Sauger, die Groß-Händler mit Produkten, die sie nicht produzierten, die Vampyre unsrer Not; entkleiden wir sie ihres Besitzes und schicken wir dieses Unbenervten, die heute nur ein kotiges Lachen für unser Wesen und Wollen haben, in die Bergwerke, auf die Moore.«66
Der aktivistische Entwurf der Vernunft als Herrschaftsprinzip und der theologisch-politische Anspruch, im Rekurs auf ihre Transzendenz »der Gemeinschaft ein ungeteiltes Fundament«67 zu geben, sie ein für allemal zu begründen, haben ihren Fluchtpunkt in der Struktur der sacratio bzw. der souveränen Entscheidung. Der politischen Instituierung der Logokratie ist die souveräne Bestimmung und Abgrenzung eines Anteils der Anteilslosen, des heiligen Lebens gleichursprünglich. Als strenge Adepten der Vernunft erzeugen Logokraten sowohl in der Politik als auch in der Philosophie homines sacri als Grenzfiguren. So jedenfalls kommentiert schon Hans Blumenberg den Begriff Logokratie: »Die Begründer von Begründungssystemen mögen eindrucksvoll genug am Werk gewesen sein, sie haben nie verhindern können, daß ihre Apostel und schließlich ihre Wachturmverkäufer daran gingen, Diktate der Bedingungen zu erlassen, unter denen überhaupt von anderen noch mitgeredet werden darf. Strategien werden da zu Zwangsritualen, die zwar Gläubige, aber auch Flüchtlinge erzeugen.«68
4. Biopolitik des Geistes Bereits das Projekt der Auslese als »Zucht von Wertmenschen«69 oder die Anklage des Kapitalisten als Schädling am gesunden Volkskörper und Nutznießer der »Arbeitskraft lebendiger Menschen«70 lässt den biopolitischen Fluchtpunkt
66 K. Hiller: Logokratie, S. 38. 67 Jacques Rancière: Zehn Thesen zur Politik, übers. v. Marc Blankenburg, Zürich/Berlin: diaphanes 2008, S. 40. 68 Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen, i. Verbind. m. Manfred Sommer hg. v. Hans Blumenberg-Archiv, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 129. Vgl. zum Begriff des politischen Flüchtlings als Figuration des heiligen Lebens auch G. Agamben: Homo sacer, S. 140ff. 69 K. Hiller: Logokratie, S. 21. 70 Ebd., S. 8.
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der Politik des Geistes hervortreten. Zumindest ist zu konstatieren, dass das »koexistentielle Problem«71 für Hiller kaum durch sozial- oder wirtschaftspolitische Gesetzgebungen, d.h. eben nicht auf der Ebene der juridischen Idealität lösbar erscheint, sondern in erster Linie durch Eingriffe, die den politischen Körper auf Basis seiner »Naturalität«72 zu »kurieren«73 erlauben. Die Heiligung des Lebens als zu schützende »Voraussetzung aller Güter; auch der höchsten«74 ist nicht nur im Hinblick auf einen humanistischen Ethos, sondern auf eine politische Praxis zu verstehen, deren Ziel im Lebendigen liegt: Wenn Hillers »Geistige« nicht nur wie vormals Gesetzgeber, sondern nun auch »Ärzte«75 zu sein haben, dann ist dies die biopolitische Konkretisierung der expressionistischen Forderung nach der neuen Menschheit. Die Heiligung des Lebens im Aktivismus korreliert historisch dem, was Foucault als die »vollständige Durchsetzung des Lebens«76 in der modernen Politik bezeichnet. Die Hauptidee also, »daß aller gerechten Regelung des Lebens die Gewährleistung des Lebens selber, des puren Lebens, logisch vorangeht«77, ist insofern ernst zu nehmen, weil somit das Leben in seiner biologischen Positivität zum Ziel des Regierens erklärt wird und weil – paradox genug – unter dem Rubrum der Logokratie und der Herrschaft des Geistes das Votum für eine »Verstaatlichung des Biologischen«78 fällt. Dass Hiller hiermit für einen Ausnahmezustand votiert, der unterhalb der Rechtsform des sozialen Verkehrs ein nacktes Leben exponiert und politisiert, wird dort sichtbar, wo seine Hauptidee nicht nur stilistisch an Carl Schmitt erinnert. In dessen zeitnah zu Hillers Schriften publizierter Politischer Theologie (1922) heißt es:
71 Kurt Hiller: »Eudämonie und Evolution«, in: O.F. Best: Theorie des Expressionismus, S. 135. 72 Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. v. Michel Sennelart, übers. v. Claudia Brede-Konnersmann u. Jürgen Schröder, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 108. 73 K. Hiller: Logokratie, S. 7. 74 K. Hiller: »Ortsbestimmung des Aktivismus«, in: O.F. Best: Theorie des Expressionismus, S. 130. 75 K. Hiller: Logokratie, S. 7. 76 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 135. 77 K. Hiller: Logokratie, S. 14. 78 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 282.
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»In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können. Jede generelle Norm [Hiller: »gerechte[] Regelung des Lebens«; S.H.] verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse [Hiller: »Gewährleistung des Lebens selber, des puren Lebens«; S.H.], auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft.«79
Bei Hiller, und das verbindet seine Ausführungen logisch mit Schmitt, wird der Ausnahmezustand, der ein aus der Rechtsform herausgenommenes nacktes Leben freilegt, zur conditio sine qua non der Souveränität und der Politik des Geistes. Politische Gestaltung gemäß der idealen Ziele des Geistes wird, so ließe sich sagen, für Hiller realiter erst dort möglich, wo »die Kraft des wirklichen Lebens eine in Wiederholung erstarrte Mechanik«80 durchbricht, wie es bei Schmitt selbst mit reichlich vitalistischer Tönung heißt. Am deutlichsten wird das in Hillers Schriften dort, wo er den geistigen Aktivismus zum Aufbruch in ein Paradies erklärt, dessen lebensphilosophische Grundierung die Forschung bemerkt hat81 und das noch genauer als biopolitische Utopie zu beschreiben ist, die – so unterstreicht Hiller ihren eudämonischen Zug – nicht die jenseitige Befreiung des Bewusstseins, sondern die diesseitige des »lebendigen Menschen«82 in Aussicht stellt. Wenn davon die Rede ist, dass die »Insassen« dieses weltlichen Paradieses »Menschen«83 seien, so ist der Begriff hier im Sinne Foucaults als der des »Gattungs-Menschen«84 zu verstehen, das Paradies wiederum als Programm einer biopolitischen Optimierung des menschlichen Lebens, zu dem eben nicht nur die metaphysische Not, sondern in erster Linie »das grobe, materielle, biologische, animalische Glück«85 gehört. An die Stelle einer rechtsförmigen Lösung des koexistentiellen Problems, wie sie von einer Politik des Geistes zu erwarten wäre, die etwa in Heinrich Manns Essayistik gerade auf juridisch-politische Fragen zielt, tritt nun mit dem logokratischen Paradies die Vision einer biologisch-organisch fundierten »Lebensordnung«86
79 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel von der Lehre der Souveränität, 7. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1996, S. 19. 80 Ebd., S. 21. 81 J. Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, S. 119. 82 K. Hiller: Logokratie, S. 34. 83 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 100. 84 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 286. 85 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 124. 86 Ebd., S. 102.
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und einer Gesundung der heiligen Natur des Sozialen: »Das Paradies kennt keine Armut, bloß Verschiedenheit der Bedürfnisse; keine Krankheit, bloß den Rhythmus des Turgor: ein zeugungsstarkes Auf und Ab zwischen Müdheit und Überschwang.«87 Die Wissensform des Hiller’schen Geistes ist nicht das Recht, sondern die Biologie, seine politische Strategie ist nicht der Schutz und die Verteidigung des Gesetzes, sondern die Sicherung des Friedens durch die »unendliche Steigerung des Menschlichen«88, durch die totale Entfaltung des Organischen in einem Zustand der Homöostase: »[M]an soll so handeln, daß globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten erzielt werden; kurz gesagt geht es also darum, das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen […] und deren Regulierung sicherzustellen.«89 Die logokratische Heiligung des Lebens ist zugleich die Produktion eines biopolitischen Körpers der Gesellschaft, in dem der »heilige[] Bau der Gemeinschaft«90 nun vollends mit den basalen Grundfunktionen des Lebens in eins fallen soll. Wo Hiller die Paradieslehre auf einen eudämonistischen Staatszweck abstellt, ist dieser »Eudämonismus, der das Glück der Mitkreaturen meint«91 als Chiffre eines auf Dauer gestellten biopolitischen Ausnahmezustands lesbar: Heiligung des Lebens als politische Struktur heißt hier, dass die Logokratie konsequent die Grenze des Rechtssubjekts transzendiert, um die lebendigen »Mitkreaturen« als Interventionsfeld der Macht des Geistes zu konstituieren. Das zeigt sich allzu deutlich dort, wo Hiller die Notwendigkeit staatlicher Rechtsnormen nur betont, um sie sogleich in ein umfassendes biopolitisches Diagramm einzubinden: »Erlöschen aller Gesetze morgenfrüh würde die Zahl der Totschläge und Vergewaltigungen vertausendfachen, den Hungertod zur Volksseuche und die Seuchen zu gräßlichen Königinnen der Situation machen.«92 Im Rahmen des Eudämonismus, dieses programmatischen Ausdrucks der Heiligung des Lebens, wird das Gesetz von einer transzendenten Form der Repräsentation zu einer immanenten Funktion, zu einem taktischen Element in der Politik eines Geistes, der sich nun als biopolitische ratio vollendet. »Ratio reguliert das Vorhandene«93, bringt es Hiller auf die Formel. Er spricht so dasjenige aus, was man das Perfide seiner Version einer Politik des Geistes nennen könnte: deren Eigenart gegen-
87 Ebd., S. 100f. 88 Ebd., S. 110. 89 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 291. 90 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 101. 91 Ebd., S. 123. 92 Ebd., S. 146. 93 Ebd., S. 49.
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über anderen zeitgenössischen Entwürfen wie etwa denen Heinrich Manns besteht darin, dass »das Vorhandene« nicht schlicht auf einen als transzendent gedachten lógos als allgemeine Form der Repräsentation bezogen wird, um so das Problem der Vereinigung von Geist und Leben kritisch zu thematisieren. Dort nämlich, wo Hiller vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie den Geist-Begriff pragmatisch als biopolitisches Kalkül rekonzipiert, verwandelt das Gesetz der Vernunft sich in eine Funktion des natürlichen Lebens, was allererst dessen totale Vereinnahmung gewährleistet. Ausgehend von der Idee und vom Akt der Lebensheiligung drängt Hillers Biopolitik des Geistes, die buchstäblich die »menschenhafteste[] […] Regelung des menschlichen Lebens«94 im Sinn hat, Geist und Leben, Gesetz und Natur in eine Zone der Ununterscheidbarkeit, in der die geistige Norm dem Feld ihrer Anwendung zunehmend immanent wird95, in der sich also die Geistesgeschichte der Menschheit als Naturgeschichte vollenden soll.96 Ein letztes Beispiel mag das verdeutlichen: Hiller rubriziert die Logokratie allgemein unter einem geistig-moralischen Begriff von Liebe, den er jedoch sofort mit dem biologistische Konnotationen umfassenden Begriff des Eros überblendet und strategisch identifiziert.97 Denn der Aktivist resümiert, dass die »Erfüllung der geistigen Aufgabe psychodynamisch« anzustreben und deshalb erst durch sexualpolitische Interventionen möglich sei, die den Eros als positive Triebkraft regulieren und eine »Disziplinierung der Sinnlichkeit«98 antreiben, die jedoch »nicht durch generelle Moralnormation von außen erfolgen kann, sondern
94 Ebd., S. 126f. 95 Vgl. Pierre Macherey: »Für eine Naturgeschichte der Normen«, in: François Ewald u. Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 171-192. 96 Hiller beschreibt dies als Selbstabschaffung des Geistes verstanden als transzendente, vom Leben getrennte Instanz: »Die merkwürdigste Eigenschaft des Paradieses: es ist frei von Geist.« (K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 102.) 97 Vgl. zur Bedeutung des Eros-Begriffs bzw. des Begriffspaars Eros/Logos bei Hiller Martin Klaussner: »Kurt Hiller zwischen ›Eros‹ und ›Logos‹. Einige Anmerkungen«, in: Schriften der Kurt-Hiller-Gesellschaft 2 (2005), S. 201-274, sowie Veronica Piccolo: »Kurt Hiller zwischen Leben und Schreiben, Eros und Logos: Der schwierige Weg eines ethischen Geistes«, in: Marina Marzia Brambilla u. Maurizio Pirro, Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920), Amsterdam/New York: Rodopi 2010, S. 299-323. 98 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 155.
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individuell-autonom sein muß«99. Was bei Hiller Geist heißt, gewinnt seine Macht erst dort, wo es nicht als äußerliches Gesetz, sondern biopolitisch im menschlichen Leben selbst wirksam ist und dieses einem Prozess der umfassenden Optimierung und Normalisierung unterwirft – denn immerhin müsse, so Hillers Entwurf eines biomoralischen Sicherheitsdispositivs100, die regulierte Freisetzung des Eros zugleich einen »Abbau der Prostitution« nach sich ziehen, »wodurch die bösen Krankheiten immer weiter zurückgedrängt und isoliert würden, bis zu ihrer Ausrottung«101. Die Herrschaft des Geistes und die Gesetzgebung der Philosophen erfüllen sich schließlich in der Gestalt der modernen Normalisierungsgesellschaft, dem »historische[n] Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie«102. 5. Gebrauch des Lebens Die Idee der Lebensheiligung im Aktivismus ist nicht nur, auch wenn der geschichtliche Kontext von Wilhelminismus und Erstem Weltkrieg diese glättende Lektüre motiviert und legitimiert, als Ausdruck eines humanistischen Ethos zu verstehen – am Beispiel Kurt Hillers wird dessen Latentes manifest. Gerade dort ist das Problematische an seinen potentiellen Fortschreibungen zu erfassen, wo der Aktivismus sich nicht nur in kritischen Invektiven gegen bestehende Missstände erschöpft, sondern ihnen utopische Gesellschaftsentwürfe gegenüberstellt und die »Schöpfung eines seligen Seins im Realen«103 anvisiert. Gerade auf dieser Ebene, auf der die Idee der Sakralität des Lebens mit der sacratio der Souveränität untrennbar zusammenfließt, erscheint im heiligen Leben des Aktivismus das exponierte nackte Leben, das als solches seiner Vereinnahmung und teleologischen Vollendung durch eine Macht des Geistes zugeführt wird, die »den Menschen langsam, langsam zum Menschen erzieht«104. Genau dies, nämlich die totale Konfiszierung des Lebens, ist der politische Fluchtpunkt des humanistischen Projekts des Aktivismus, d.h. der antizipierten posthistorischen Vollendung des Menschen, die als Idee in Literatur und Kultur der klassischen Moder-
99
Ebd., S. 156.
100 Vgl. zum Begriff des Sicherheitsdispositivs M. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 33-79. 101 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 128. 102 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 139. 103 K. Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 109. 104 Ebd., S. 146.
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ne – im expressionistischen Begriff des neuen Menschen sowie in Heinrich Manns Begriff des »absolute[n] Mensch[en]«105 – ohnehin virulent ist. Die Affinität des Aktivismus zum Begriff des Heiligen läge in diesem Sinn sogar genau in seiner teleologischen Ausrichtung als »Philosophie des Ziels«106 beschlossen, in der Aneignung des Lebens für die Ziele und Zwecke, die die »Ewigkeit des Geistes«107 verbindlich und allgemein diktiert. In einigen kursorischen Anmerkungen hebt Agamben genau diese Dimension des Heiligen hervor. Die Sakralisierung sei ein Akt der Absonderung des Geheiligten in einen Bereich der »Nichtverfügbarkeit«: »Heilig oder religiös waren die Dinge, die auf irgendeine Weise den Göttern gehörten. Als solche waren sie dem freien Gebrauch und dem Verkehr der Menschen entzogen.«108 Als heilige haben die Dinge Wert nur unter der Perspektive des höheren Zwecks und Ziels, der Identität und des »heiligen Namen[s]«109, denen sie geweiht sind. Das heilige Leben erweist sich als das Leben, das mit seiner Bestimmung, seinem Ziel, seiner Identität oder politischen Programmierung völlig in eins fällt. Es ist die Figur des Verlusts des Lebens als reiner Möglichkeit, das »von der Verbindung mit einem Ziel emanzipiert« und als »Mittel ohne Zweck«110 dem profanen Gebrauch anheimgestellt wäre, dessen Wert sich demnach also, wie Walter Benjamin, der scharfe Kritiker des Aktivismus111, einmal anmerkt, nicht mehr anhand äußerer Bestimmungen, sondern nur anhand eines irreduziblen »Guts-Recht des Guts«112 bemessen ließe.
105 H. Mann: Macht und Mensch, S. 25. 106 Kurt Hiller: »Philosophie des Ziels«, in: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, hg. v. Kurt Hiller, München/Berlin: Georg Müller 1916, S. 187-217. 107 H. Mann: Macht und Mensch, S. 12. 108 Giorgio Agamben: Profanierungen, übers. v. Marianne Schneider, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 70. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 84. 111 Vgl. die Polemik gegen Hiller in Walter Benjamin: »Der Irrtum des Aktivismus. Zu Kurt Hillers Essaybuch ›Der Sprung ins Helle‹«, in: Ders., Gesammelte Schriften, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Bd. I-VII, hier Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 350-352. 112 Walter Benjamin: »Notizen zu einer Arbeit über die Kategorie der Gerechtigkeit«, in: Frankfurter Adorno-Blätter 4 (1995), S. 41-42, hier S. 41.
»… das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege …« Max Webers und Edward Shils’ Beiträge zu einer Soziologie des Heiligen M AGNUS S CHLETTE
Die folgenden Überlegungen dienen dazu, drei Thesen, die ich hier vorschlagen möchte, auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit Max Weber und Edward Shils zu plausibilisieren. Erstens, Menschen sind durch die conditio humana disponiert, praktische Orientierung im Leben durch die Erfahrung charismatischer Begabung oder durch Einfühlung in das Charisma anderer Menschen, Gruppen oder Gegenstände, in diesem Sinne also durch charismatische Orientierungen zu suchen. Zweitens, charismatische Orientierungen können wesentlich zum Gelingen des Lebens beitragen, sie sind in einem gewissen Maß sogar unverzichtbar für eine gelingende Lebensführung. Natürlich können sie das Gelingen des Lebens auch erschweren und sogar verhindern, und zwar durch ›Verführung‹ zu einem Handeln, das nicht im wohlverstandenen Eigeninteresse liegt oder nicht moralisch gerechtfertigt werden kann – aber das soll nicht hier mein Thema sein. Drittens zeichnet sich die Moderne durch eine ihr eigentümliche Form charismatischer Orientierung aus. Ich werde zur Begründung meiner Thesen zunächst den herrschaftssoziologischen Zusammenhang skizzieren, in dem Weber seine Charismatheorie primär entwickelt und verortet hat, mich dann Edward Shils’ Bemühungen zuwenden, Webers Charismabegriff in einen weiteren handlungs- und werttheoretischen Rahmen zu stellen, um schließlich zu zeigen, dass und wie Weber selbst dieser werttheoretischen Auslegung seines Charismabegriffs in einer für die Moderne noch heute kulturdiagnostisch erhellenden Weise entgegengekommen ist, freilich ohne seine Andeutungen noch theoretisch ausgearbeitet zu haben.
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I. Charisma Wir schreiben Menschen Charisma zu, wenn sie über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, die erstens in außeralltäglicher Weise erlebt werden, zweitens bestimmte Wirkungen auf uns ausüben und drittens auf die Begnadung bzw. Erfüllung durch eine höhere Macht zurückgeführt werden. Wichtig für das Verständnis von Charisma ist, wie die Bedingungen seiner Zuschreibung untereinander zusammenhängen. Zunächst: Der Charismabegriff benennt eine Relation; Charisma wird Menschen nicht an sich zugesprochen, sondern sub specie eines außeralltäglichen Erlebens bestimmter Eigenschaften dieser Menschen, also nur dann, wenn, und nur darum, weil die besagten Eigenschaften in einer bestimmten Weise außeralltäglich erlebt werden. Außerdem kommt das Charisma den Trägern solcher Eigenschaften oder Fähigkeiten auch nur für diejenigen zu, die sie tatsächlich außeralltäglich erleben, erlebt haben oder – im Grenzfall – ein solches Erlebnis antizipieren; die Überzeugung, dass jemand charismatische Eigenschaften oder Fähigkeiten besitzt, gewinne ich niemals (allein) aufgrund der Bekräftigung dieser Eigenschaft durch Zeugen, ganz gleich, wie viel Autorität sie besitzen mögen. Weiterhin bemisst sich die spezifische Außeralltäglichkeit des Erlebens für den Erlebenden daran, ob es einen Unterschied in seinem Handeln zeitigt. Zudem setzt die Zuschreibung von Charisma voraus, dass der Erlebende die faktische oder antizipierte Veränderung seines Verhaltens bzw. seines Handelns auf den Einfluss desjenigen zurückführt, dessen Eigenschaften oder Fähigkeiten er in außeralltäglicher Weise erlebt bzw. erlebt hat. Wenn diese Voraussetzungen alle vorliegen, dann ist noch eine letzte Bedingung der Zuschreibung von Charisma notwendig: die Überzeugung des Erlebenden, das unbezweifelbare Faktum des Erlebnisses und seiner Wirkung beruhe keineswegs auf einer Idiosynkrasie, sondern auf der Kraft des Trägers der erlebten Eigenschaften, einer Kraft, so wunderbar und rätselhaft, so zwingend und überwältigend, dass sie wohl kaum von dieser Welt sein könne, sondern in ihr sich eine höhere Macht bekunde, die sich in unendlicher Gnade verkörpert hat, die in ihm, dem Begnadeten, gleichsam ›Mensch ward‹. Diese Überzeugung liegt zunächst intuitiv vor – nämlich aufgrund der eigentümlichen phänomenalen Evidenz des Erlebens – und drängt sich dem Erlebenden dann immer mehr auf, bis dieser in eine beobachtende, das Wunder nun gleichsam fest-stellende Distanz zu sich sowie zu der Situation des Erlebens tritt und bekennt, ja, dieser dort, dessen Kraft ihn so überwältigend berührt habe, sei tatsächlich von einer höheren Macht begabt und in diesem Sinne begabt mit – ›Charisma‹, ein ›Charismatiker‹.
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Die Bedeutung dieser Zuschreibungspraxis, die in der Antwort auf die Frage liegt, was Menschen und soziale Gruppen veranlasst, sich oder anderen Charisma zuzuschreiben, ist der Sache nach zwar nicht zuerst, aber wohl am prominentesten von Max Weber historisch-systematisch erschlossen worden. Webers terminologische Prägung des Begriffs, der aus der jüdisch-christlichen Tradition stammt1, stützt sich auf Rudolph Sohms Studien zu den geschichtlichen Grundlagen des Kirchenrechts2 und Robert Ranulph Maretts Phänomenologie primordialer religiöser Erfahrungen, die Marett am Beispiel präanimistischer Religionen untersuchte und für die er den melanesischen Ausdruck ›mana‹ in die religionswissenschaftliche Forschung eingeführt hatte.3 Vor allem die Referenz, die Weber seinem Gewährsmann Sohm erweist, macht unmissverständlich klar, in welcher Hinsicht er den Charismabegriff entwickeln will. Von Sohm übernimmt er, dass es sich dabei um eine Kategorie von Gewaltstruktur handeln soll. Unter ›Gewalt‹ versteht Weber alle physischen und psychischen Mittel zur Durchführung eines Kampfes und der Ausübung von Macht. ›Kampf‹ nennt er eine soziale Beziehung, insofern das Handeln in ihr »an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist«4, ›Macht‹ »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«5. ›Charisma‹ wird von Weber also im Kontext einer machttheoretischen Begründung sozialer Kooperation und Ordnung verstanden, nämlich als eine bestimmte Form von Gewalt, die es einem Akteur ermöglicht, sich im Kampf durchzusetzen und Macht auszuüben. Wer Personen oder Gegenständen ›Charisma‹ zuschreibt, erkennt damit an, dass sie über Mittel verfügen, um ihn zu einem ihrem Willen entsprechenden Verhalten oder Handeln zu bewegen. Diese Anerkennung muss keinesfalls die Form eines Ent-
1
Er taucht zuerst in der Septuaginta auf und wird im Neuen Testament von Paulus sowie im ersten Petrusbrief verwendet. Zu den einschlägigen Stellen, ihrer theologischen Interpretation und praktisch-theologischen Bedeutung vgl. die Artikel ›Charisma‹, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/ Stuttgart: Schwabe 1971, Sp. 996f., und vor allem ›Charisma, Charismen‹, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 7, Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 681-698.
2
Vgl. Rudolph Sohm: Kirchenrecht, Bd. I: Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig: Duncker & Humblot 1892.
3
Vgl. Robert Ranulph Marett: The Threshold of Religion, London: Methuen 1909.
4
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
5
Ebd., S. 28.
Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 1980, S. 20.
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schlusses oder einer reflektierten Zustimmung annehmen. Vielmehr wird sie sich zunächst und zumeist in der spontanen Bereitschaft zeigen, dem Willen des Charismaträgers Genüge zu tun. Und von dieser Bereitschaft gilt wiederum, dass sie von der tiefen Gewissheit getragen wird, die Erwartungen, die der Wille des Charismaträgers bekundet, seien legitim. Darum ist die charismatische Machtausübung auch ein Fall von ›Herrschaft‹. Denn ›Herrschaft‹ definiert Weber als »die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«6, wobei ›Gehorsam‹ bedeuten soll, »daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses halber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den Wert oder Unwert des Befehls als solchen«7. Jede Herrschaft beansprucht die Legitimität ihrer Ausübung und reziprok vom Beherrschten die Anerkennung ihres Geltungsanspruchs durch ein »Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen«8. Die Legitimitätsgeltung der Herrschaft trägt laut Weber charismatische Züge dann, wenn sie »auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen«9 beruht. Solche Hingabe gründet in dem affektiv fundierten und rational unhintergehbaren Glauben an das Charisma: die Gnadengabe des Beherrschenden. Freilich gewinnt und erhält der Charismatiker seine Herrschaft nur durch »Bewährung seiner Kräfte im Leben. Er muss Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will. Vor allem aber muss sich seine göttliche Sendung darin ›bewähren‹, dass es denen, die sich ihm gläubig hingeben, wohlergeht.«10 Es entspricht ganz dem Glaubenscharakter, dass sich die Kräfte, auf denen die Geltung des Charismatikers bei seiner Gefolgschaft beruht, methodisch weder falsifizieren noch verifizieren lassen. Ob Jesus der Erlöser der Menschheit, Kutusow der Befreier Russlands ist, werden weder die Jünger des einen noch die Soldaten des anderen durchs Studium der Wissenschaft, der Historie oder der Kriegskunst antizipieren bzw. aus deren Regeln und Gesetzen ableiten, sondern allein im Vollzug entschlossener Gefolgschaft erfahren können, und zwar, in beiden Fällen, nicht zuletzt auch aufgrund der Entschlossenheit ihrer Gefolgschaft.
6
Ebd.
7
Ebd., S. 123.
8
Ebd., S. 122.
9
Ebd., S. 124.
10 Ebd., S. 656.
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Diese Entschlossenheit wird aber nicht nur von der Gefolgschaft verlangt, sondern auch vom Charismatiker selbst: Er muss an die Gnadengabe glauben können11, so vorbehaltlos und unbeirrt, dass dieser Glaube für ihn geradezu Zeichen seiner Begabung ist – und für die Gefolgschaft Grund seiner charismatischen Wirkung. Darum können die besagten Kräfte auch nicht durch Befolgung alltäglicher Techniken erworben werden. Sie gründen vielmehr im subjektiven Erleben der Begnadung durch eine transzendente Macht.12 Aus den gleichen Gründen kann sich der Charismatiker »›von seinem Gott verlassen‹ fühlen, wie Jesus am Kreuz, sich seinen Anhängern als ›seiner Kraft beraubt‹ erweisen«13; darum aber auch kann ›Kleinglaube‹ eine charismatische Begnadung von vornherein unterbinden, wie im Fall des Mose, dem Jahwe ›widerwillig‹ Aaron als Mittler seiner Weisungen vorziehen muss, weil der andere nicht an die Macht seiner Stimme glaubt.14 Weber lässt keinen Zweifel daran, was die Entwicklung des Charisma-Konzepts für die soziologische Theoriebildung leisten soll. »Wie entstehen in dieser Welt der Eingestelltheit auf das ›Regelmäßige‹ als das ›Geltende‹ irgendwelche ›Neuerungen‹?«, fragt er in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Änderung der äußeren Lebensbedingungen könne zwar der Anlass für soziale Innovationen sein, keinesfalls aber ihr Grund, denn ebenso gut könnte sie auch zum »Untergang des Lebens« führen.15 Wann wäre das der Fall? Offenbar dann, wenn individuelle oder kollektive operationale Schemata, die unter ehemals gegebenen Bedingungen routinisiert worden sind, auf Handlungssituationen angewandt würden, die diesen Bedingungen nicht mehr entsprechen. Kriterien der Angemessenheit kollektiven Handelns sind unter radikal neuen Handlungsbedingungen nämlich nicht begründungssicher aus Beständen routinisierten Wissens ableitbar. Orientierung beruht in solchen Situationen offenbar auf Intuitionen der Problemlösung. Diese müssen zudem die spezifische Qualität einer Überzeugung haben, der Überzeugung nämlich, der intuitiv erfasste Lösungsweg werde sich als richtig erweisen. ›Richtig‹ heißt hier, dass er erst dann, wenn er sich bewährt hat, auch begründet werden kann, und zwar durch eine Fallrekonstruktion, deren Ergebnisse wiederum in einer Operationalisierung des Lösungsweges und damit seiner Überführung in die Bestände routinisierten Wissens bestünde – mit ande-
11 Vgl. ebd., S. 661. 12 Vgl. ebd., S. 657. 13 Ebd., S. 656. 14 Vgl. Ex 4,10-17. 15 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 188.
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ren Worten: in gleichsam nachholender Rationalisierung der bewährten Intuitionen. Die Überzeugungsqualität verleiht den besagten Intuitionen unter dem Entscheidungszwang, der in einer derart ›offenen‹ Situation auf die Akteure ausgeübt wird, allererst die nötige Entschlusskraft, ins Offene und Ungewisse hinein zu handeln. In Frage steht, wie sich dieser Typus von überzeugungsfesten Intuitionen bildet. Weber ist der Auffassung, dass soziale Neuordnungen sich dem Einfluss von Individuen verdanken, »welche bestimmt gearteter ›abnormer‹ […]« – d.h. außeralltäglicher – »Erlebnisse und durch diese bedingter Einflüsse auf andere fähig sind«16. Psychologisch unterscheidet er zwei Arten des Einflusses solcher Individuen: »Die eine ist: plötzliche Erweckung der Vorstellung eines Handelns des Beeinflussten als eines ›gesollten‹, durch drastisch wirkende Mittel: ›Eingebung‹. Die andere: Miterleben eigenen inneren Verhaltens des Beeinflussenden durch die Beeinflussten: ›Einfühlung‹.«17 Dadurch entstehe sehr häufig ein Gemeinschaftshandeln, gemeint ist die gemeinschaftliche Koordination des Einzelhandelns zu einer Problemlösung. Es besteht wohl kein Zweifel, dass Weber hier, ohne sie beim Namen zu nennen, die charismatische Herrschaft im Blick hat:18 Die gesellschaftlichen »Neuordnungen«, von denen in der auszugsweise zitieren Passage die Rede ist, werden kraft charismatischer Befähigung zu zweierlei außeralltäglichen Leistungen zustande gebracht: erstens zur Bildung der Überzeugung eines Führers, den richtigen Weg zu gehen, ohne ihn im strikten Sinne zu kennen; zweitens zur Bildung und Bindung einer Gefolgschaft durch den Gewinn der Befehlsgewalt über sie sowie durch Erzeugung des Bewusstseins der Gefolgschaftsmitglieder, dem Führer zu Gehorsam verpflichtet zu sein, und zwar ausdrücklich ohne die Legitimität von Gewaltanspruch und Pflichterwartung begründen zu können. Nimmt man Weber beim Wort, dann sind Elemente charismatischer Herrschaft angesichts der Zukunftsoffenheit menschlicher Existenz die Voraussetzung für die Bewältigung kollektiver Krisensituationen. Webers Auffassung von der universalgeschichtlichen Entzauberung der abendländischen Kultur legt es nun nahe, dass charismatische Erfahrungen eine kontinuierlich abnehmende Entfaltungschance haben. Als Entzauberung charak-
16 Ebd. 17 Ebd. 18 So auch Günther Roths Interpretation dieser Textstelle in »Charismatische Gegenkultur und persönliche Authentizität«, in: Ders., Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 137-162, hier S. 138.
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terisiert er bekanntlich »das Wissen davon oder den Glauben daran«, dass eine »zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht«, wenn auch nicht faktisch gegeben, so doch grundsätzlich menschenmöglich sei, ferner, »daß es […] prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe […], daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«19. Wer an die vollständige Berechenbarkeit aller Dinge glaubt, wird sich wohl kaum zum ›Empfang‹ bzw. zur Wahrnehmung von Charisma und zur Gefolgschaft eines charismatischen Führers disponieren. Viel eher passt dazu Webers historische These von der sukzessiven Ausweitung und Differenzierung bürokratischer Herrschaft. »Das Schicksal des Charismas(?) ist es«, schreibt Weber denn auch, »[…] zurückzuebben zugunsten der Mächte entweder der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung. Sein Schwinden bedeutet, im ganzen betrachtet, eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns«20. Die raison d’etre okzidentaler Rationalisierung ist aber laut Weber die Disziplin und »ihr rationalstes Kind: die Bürokratie […]«21. Zugespitzt formuliert: Der Geist der ›Entzauberung‹ spukt im bürokratisierten Gehäuse des Fachmenschentums und eskamotiert die menschliche Individualität. In der Protestantismusstudie entwirft Weber ein ebenso eindringliches wie düsteres Bild jenes Fachmenschentums, das dereinst am Ende des okzidentalen Entzauberungsprozesses stehen könnte. Zu seiner Charakterisierung bedient er sich Zarathustras Wort vom »letzten Menschen«22, jenem blinzelnden Schwächling, der sich in dem kümmerlichen Glück eines jede Seelenregung anästhesierenden Komforts behaglich eingehaust hat.23
19 Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Tübingen: Mohr 1951, S. 578. 20 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 681. 21 Ebd., S. 682. 22 Max Weber: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 9. Aufl., Tübingen: Mohr 1988, S. 204. 23 Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 3. Aufl., München: Dtv 1993, S. 18ff. In eine ähnliche Richtung weisen daneben, wenn auch im marxistischen Jargon insgesamt politisch korrekter, Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung. Diese verwirklicht sich nämlich qua Umschlag der Rationalität in Irrationalität durch Szientifizierung und Verwaltung der Lebenswelt im Geiste eines bürgerlichen maitre et possesseur de la nature, der von Odysseus bis zum Monopolkapitalismus den Teppich der Geschichte knüpft. Die sozialwissenschaftliche Variante die-
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Dieser Fachmensch ohne Leidenschaft, ohne Individualität, könnte Webers Spekulationen zufolge am Ende einer kulturgeschichtlichen Epoche stehen, deren Auftakt sich großen charismatischen Begabungen verdankt hat, denen Luthers und Calvins, der Puritaner und Pietisten.24 Allerdings ist die Sachlage etwas komplizierter. Das Charisma wird nicht einfach zum Opfer der Geschichte, sondern es hat an der Rationalisierung, die ihm durch den Geist der Entzauberung zum Verhängnis wird, zugleich lebhaften Anteil. Sein Schwinden ist nämlich Weber zufolge durch einen langwierigen Transformationsprozess vermittelt, den er als Versachlichung bezeichnet. Bei der Versachlichung des Charismas gilt es nun wiederum zwei Aspekte analytisch zu unterscheiden, die Weber, wenn ich recht sehe, nicht immer genau auseinanderhält, nämlich einerseits die Idealisierung des Charismaträgers, andererseits die Institutionalisierung bzw. Veralltäglichung des Charismas. Institutionalisierung bzw. Veralltäglichung des Charisma bedeutet, dass die Praxis der Zuschreibung von Charisma einschließlich der Situationen, in denen das der Fall sein soll, nach vorab festgelegten Regeln routinisiert und gleichsam dosiert wird. Sie ist dann notwendig, wenn die Herrschaftsbeziehung zwischen dem charismatischen Führer und seiner Gefolgschaft verstetigt und folglich von der Lebensund Wirkungszeit des einen Trägers entkoppelt werden soll. Das ist ursprünglich der Fall, wenn das Charisma in »eine durch hierurgische Mittel seitens eines Trägers auf andere übertragbare oder erzeugbare (ursprünglich: magische) Qualität« ›umgewidmet‹ wird.25
ses Verwaltungsgeistes liegt vor, wenn Gesellschaftstheorien Anweisungen für die konkrete Lebensführung entnommen und damit die Entscheidungsverantwortung an die Wissenschaft und aus ihr ableitbare Handlungsanweisungen delegiert wird. Vgl. dazu Ulrich Oevermann: »Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformationen und die Verweigerung der Lebenspraxis. Eine aktuelle Variante der Dialektik der Aufklärung«, in: B. Lutz (Hg.), Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung, Frankfurt/M.: Campus 1985, S. 463-474, und folgende Fallstudie: Ders.: »Eine exemplarische Fallrekonstruktion zum Typus versozialwissenschaftlichter Identitätsformation«, in: H.-G. Brose/B. Hildebrand (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 1988, S. 243-286. 24 Zur charismatischen Begabung letzterer, die bei Weber ein wenig schlecht weg kommen, vgl. v. Verf.: Die Selbsterfindung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, v.a. II. Teil. 25 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 144.
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Die Idealisierung des Charismas liegt dagegen vor, wenn es nicht mehr einzelnen Personen als solchen, sondern vielmehr Werten zugeschrieben wird, und Personen oder Institutionen nur, insofern sie diese Werte verkörpern.26 Genau genommen ist im Falle der Idealisierung des Charismas folglich zwischen zwei nur scheinbar einander widersprechenden Tendenzen zu unterscheiden, nämlich seiner »Entpersönlichung«27 einerseits, seiner »Subjektivierung«28 andererseits. Denn der jeweilige Gehalt der Werte, auf die sich im Prozess der Idealisierung das Charisma verlagert, bedarf immer noch der subjektiven Instanziierung durch die intrinsische Wertbindung von Menschen29, deren Handeln diese Werte verwirklicht – und insofern ist er subjektiv. Die geschichtliche Idealisierungsbewegung des Charismas gipfelt in der »charismatische[n] Verklärung der ›Vernunft‹ (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robes-
26 Vgl. dazu Günther Roth: »Charismatische Gegenkultur und persönliche Authentizität«, in: Ders., Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, S. 146ff., 153ff.; Stefan Breuer: »Das Charisma der Vernunft und die Singularität des rationalen Staates«, in: Ders., Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 59-83. 27 G. Roth: Charismatische Gegenkultur und persönliche Authentizität, S. 147. 28 Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd. 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 142. Schluchter schlägt einen Vergleich zwischen seiner Verwendung des Subjektivierungsbegriffs im Kontext seiner These zur entwicklungsgeschichtlichen Transformation des Charismas und Webers Verwendung des Sublimierungsbegriffs in der Religionssoziologie (Max Weber: »Zwischenbetrachtung«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S. 542, 566) vor. 29 Gemeint ist also die Bindung an Werte als solche, nicht die Bindung an Werte als ›Worte‹ eines Gottes, Propheten oder Führers. Übrigens kann man sich den Unterschied durch eine bekannte Streitsache der ›Rechtsgeschichte‹ klarmachen, nämlich dem Fall Hiob contra Jahwe: Hiob wirft Jahwe seine als grundlos empfundene Malträtierung mit Worten vor, die er auch seinen gottesfürchtigen Freunden berichtet: »So merkt doch endlich, daß Gott mir unrecht getan hat und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat. Siehe, ich schreie ›Gewalt!‹ und werde doch nicht gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da« (Ijob 19,6f.). Fast scheint es, als habe Hiob bereits mit den Augen Hegels einen Blick in den Beginn des Johannesevangeliums geworfen. Fordert er nicht Gott in seiner Streitsache vor den Richterstuhl – der Idee? Nicht ganz, denn er ›ruft‹, »aber kein Recht ist da«. Die Formulierung schwankt zwischen personifizierter und idealisierter Gottesvorstellung.
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pierre fand)«; der »letzte[n] Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat«30. Weber war der Auffassung, dass sich im okzidentalen Rationalisierungsprozess die Idealisierung und die Institutionalisierung des Charismas verhängnisvoller Weise ineinander verschränkt haben. Demnach instanziiert sich die Struktur charismatischer Herrschaft vermittels historisch kontingenter kultureller Konstellationen und Entwicklungsprozesse, die inhaltlich auf die Selbstaufhebung charismatischer Herrschaftselemente in einen vollständig bürokratisierten Staatsapparat und eine restlos ›durchkapitalisierte‹ Gesellschaft hinauslaufen. Allerdings wirft diese Konzeption Fragen auf. Mindestens bleibt unklar, warum die Versachlichung des Charismas eigentlich zu seinem Schwinden führen musste und, noch grundsätzlicher, ob dies überhaupt ein empirisch zutreffender Sachverhalt ist. Webers herrschaftssoziologische Konzeptualisierung des CharismaKonzepts »wird nicht« – wie Hans Joas zu Recht betont hat – »der Breite der Phänomene gerecht […], für die sich dessen Verwendung angeboten hätte. Weber setzt hier im wesentlichen voraus, daß es die Zuschreibung außeralltäglicher Qualitäten an Personen gibt […]. Was ihn interessiert, sind nicht die handlungstheoretischen Fragen: weder die Beschaffenheit dieser Personen noch die genauere Analyse der Situationen, in denen diese Zuschreibungen erfolgen, noch der Interaktionen zwischen Charismatikern und Anhängern noch der Bedürfnisse von Kollektiven, die vom ›Charisma-Hunger‹ getrieben werden […].«31 In dieselbe Richtung weist Ulrich Oevermann, wenn er vorschlägt, das Charisma-Konzept aus dem »einengenden Zusammenhang der Herrschaftssoziologie« herauszulösen und es als »Vorschlag für eine allgemeine Rekonstruktion der Strukturlogik materialer Innovation« zu lesen. »Charisma«, so Oevermann, »bedeutet dann nämlich nichts anderes als die pragmatische Handlungsstruktur,
30 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 726. Diese Form des Charismas, so möchte man ergänzen, hat freilich noch viele leibhaftige Verkörperungen erfahren, etwa durch Napoleon. Auch Napoleon ist kein genuiner Charismatiker mehr, sondern er wirkt charismatisch, weil er es vermochte, durch bestimmte Eigenschaften den ›Weltgeist zu Pferde‹ (Hegel) zu verkörpern (der sich aber bekanntlich auch ohne Pferd fortzubewegen weiß). Ohne Sensorium für diesen charismatisch aufgeladenen Weltgeist – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die Trikolore – wäre auch Napoleon nicht mehr gewesen als ein begabter Artillerist aus der korsischen Provinz. 31 Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 72. Joas zeigt außerdem, »daß sich die charismatischen Handlungsweisen gegen die Subsumption unter Webers am Rationalmodell orientierte Handlungstypologie sperren« (ebd., S. 74).
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in der mit Bezug auf eine Krise, die entweder anschaulich überzeugend vorliegt oder erfolgreich eingeredet wird, ein Versprechen auf Krisenlösung überzeugend vermittelt wird und sich praktisch bewährt.«32 Auch Oevermann fordert eine Weiterentwicklung des Weberschen Konzepts und skizziert die Umrisse der Landschaft, in die sie uns führen müsste: »Charisma bezeichnete dann allgemein den ›Stoff‹, den auch jede individuelle Lebenspraxis in der Form von Selbstvertrauen sich selbst gegenüber in der Krise benötigt.«33 Aber unter welchen Bedingungen und wie bildet sich dieses Selbstvertrauen? Außerdem: Worauf vertraut das Selbst, wenn es sich selbst vertraut?34 Auf diese Fragen werde ich in den folgenden Überlegungen nach Antworten suchen. Ich werde dafür argumentieren, dass charismatische Erfahrungen in erster Linie Werterfahrungen sind, und zwar solche, die uns aufgrund ihrer Eigenart eine bestimmte Art des (charismatischen) Selbstvertrauens vermitteln. In diesem Sinne sind Werterfahrungen einschlägig für die Kreativität des Handelns in Krisensituationen. Vor dem Hintergrund dieser argumentationsleitenden Hypothesen stellen sich meine anfangs formulierten Intuitionen deshalb folgendermaßen dar: Erstens, Menschen sind durch die conditio humana disponiert, Werterfahrungen charismatischer Art zu machen; zweitens, Wertbildung in charismatischen Erfahrungen kann wesentlich zu dem Gelingen individueller ›Lebensprojekte‹ beitragen; drittens, in der Moderne nimmt die Wertbildung durch charis-
32 Ulrich Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, in: St. Müller-Doohm (Hg.), Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 267-336; hier S. 331. 33 Ebd., S. 332. 34 Weitere Arbeiten, die systematisch ausführen würden, was genau unter »Selbstvertrauen« zu verstehen ist und wie es sich ›charismatisch‹ entwickelt, hat Oevermann m.W. bisher nicht vorgelegt. Immerhin gibt es eine instruktive Fallstudie, deren Ergebnisse die Relevanz von Charisma im obigen Sinne von ›Selbstvertrauen‹ für gelingendes künstlerisches Handeln nahe legen: Ders.: »Eugene Delacroix – biographische Konstellation und künstlerisches Handeln«, in: Georg Büchner Jahrbuch 6 (1987), S. 12-58. Hans Joas hat unterdessen wesentliche handlungstheoretische Intuitionen, die Webers Charisma-Begriff aufladen, ohne dass sie angemessen expliziert würden, begrifflich durch sein Konzept »kreativen Handelns« eingeholt (vgl. H. Joas: Die Kreativität des Handelns, Kapitel 3). Das gilt aber nicht für das »Selbstvertrauen«, in dem sich Oevermann zufolge Charisma phänomenal bekundet. Die Kreativität des Handelns setzt vielmehr schon entwickeltes Selbstvertrauen voraus, um sich ihrerseits entfalten zu können.
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matische Erfahrungen eine eigentümliche Form an. Wiederum soll eine Beurteilung der charismatisch erschlossenen Werte nicht hier mein Thema sein. II. Charisma und Werte Die Interpretation charismatischer Erfahrungen als Werterfahrungen kann an Weber dort anknüpfen, wo er – etwa im Umkreis seiner Ausführungen zur »charismatische[n] Verklärung der ›Vernunft‹«35 – auf Werte als Gegenstände der Zuschreibung von Charisma verweist. Allerdings wirft Weber hier vor allem Fragen auf, die wiederum in die Richtung der von Joas formulierten Kritik an seinem Charisma-Konzept weisen: Wie ist die Gefolgschaftsbildung von Werten gegenüber derjenigen von Führern zu verstehen? Was geht in den Menschen vor, wenn sie nicht einem Führer oder Propheten, sondern Institutionen – wie den Verfassungsgerichten – oder Ideen – wie denen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder Symbolen – wie der Trikolore (aber eben auch dem Hakenkreuz) – Charisma zuschreiben? Und welche praktische Konsequenz hat diese Zuschreibung in ihrer Lebensführung? Der Versuch, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, findet bei Edward Shils eine Anregung. Shils bemängelt, dass Weber sich vor allem für die konzentriertesten Ausdrucksgestalten des Charismas in Propheten und Führergestalten interessiert habe, dagegen weniger für die Formen seines »verstreuten und abgeschwächten Vorkommens«36. Aufgrund dieser Tendenz seines Forschungsinteresses habe er dazu geneigt, die Möglichkeit zu verneinen, dass Charisma »ein integraler Bestandteil im Prozess säkularer Institutionalisierung«37 werden kann. Shils hat in einer Reihe von Aufsätzen die Funktion von Charisma für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Sozialstruktur moderner Gesellschaften untersucht und die Ablösbarkeit des CharismaKonzepts von dem einengenden herrschaftssoziologischen Deutungsrahmen plausibilisiert, in dem es bei Weber steht.38
35 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 726. 36 Edward Shils: »Charisma, Order, and Status«, in: Ders., The Constitution of Society, Chicago/London: Univ. of Chicago Pr. 1982, S. 124 (dieses und alle folgenden englischen Zitate in meiner Übersetzung – M.S.). 37 Ebd., S. 125. 38 Vgl. die Beiträge im zweiten Teil seiner Essaysammlung The Constitution of Society unter dem Titel »The Sacred in Society«, Chicago/London: Univ. of Chicago Pr. 1982.
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Seine Leistung beruht auf einer gleichsam ›durkheimisierenden‹ Lesart von Webers Konzeption des versachlichten Charismas.39 Shils geht davon aus, dass der innere Zusammenhalt von Gesellschaften auf einem zentralen Wertsystem beruht. Die Tatsache, dass ein solches System existiert, führt er auf das Bedürfnis der Menschen nach der Erfahrung von ordnungserzeugenden Mächten zurück, die ihre individuelle Existenz transzendieren und ihnen ein intensiveres Wirklichkeitsbewusstsein als das routinisierte Alltagsleben vermitteln.40 Was Shils offenbar meint, könnte man auch so ausdrücken, dass die Menschen, wenn sie die Erfahrung einer solchen Macht machen, in einer innigeren Weise sie selbst sind. Das Bewusstsein der ultimativen Realitätsstruktur, also dessen, was ›in Wahrheit‹ ist, verändert auch ihr Selbstverhältnis; dessen phänomenale Ausdrucksgestalt ist der »Ernst«41. Deshalb streben die Menschen danach, mit den
39 Vgl. Hans Joas und Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 442. 40 Edward Shils: »Center and Periphery«, in: Ders., The Constitution of Society, S. 98f. Dass es den Menschen laut Shils um ein intensiveres Wirklichkeitsbewusstsein geht, lese ich aus seiner Formulierung, dass sie das Bedürfnis nach Kontakt mit den Symbolen einer Ordnung haben, »which is […] more central in the ›ulimate‹ structure of reality than is their routine everyday life« (ebd., S. 98). 41 Edward Shils: »Charisma«, in: Ders., The Constitution of Society, S. 110; Ders.: Charisma, Order, and Status, S. 123. Shils spricht hier vom Kontakt mit »something very ›serious‹«, das eben aufgrund dieser wahrhaftig empfundenen Eigenschaft »is thought to be, and therewith becomes, central or fundamental to man’s existence«. Offensichtlich ist die Ernsthaftigkeit dieser Ereignisse, Handlungen und Gegenstände eine Projektion des Ernstes, der im Kontakt mit diesen Ereignissen und Gegenständen bzw. im Vollzug der besagten Handlungen empfunden wird. Es entspricht vollkommen dem Sinn von Shils’ Ausführungen, was Michael Theunissen in der Einleitung zu seinem frühen Kierkegaard-Buch im Ausgang von unserer Alltagssprache über das Verhältnis von ›Ernst‹ und ›Wirklichkeit‹ gesagt hat: »Was nicht bloß irgendwie, sondern im Ernst oder in Wirklichkeit ist, bekommt durch diesen Zusatz keinen anderen Inhalt; es ist nur in einem ausgezeichneten Sinn. Dies, daß es ist, wird im Ernst gewichtig und schwer. So ist die Wirklichkeit, die wir meinen, wenn wir vom Ernst reden, nichts als das in seinem eigenen Gewicht bedeutsam gewordene Sein. Was wir ›ernst‹ nehmen und womit wir ›Ernst machen‹, ist das, was für uns wahrhaft und eigentlich ist« (Michael Theunissen: Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, 3. Aufl., Freiburg/München: Alber 1982, S. IX). Theunissens Einführung des ›Ernstes‹ ist von Kierkegaard geprägt und hat einen existenzphilosophischen Sinn, der auch in den diskutierten Ausführungen von Shils’ durchscheint.
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Ordnungen in Verbindung zu treten, in denen sich die besagten Mächte verkörpern. Das Streben nach Erfahrung der Mächte, welche die Welt sozusagen im Innersten zusammenhalten, nennt Shils eine »charismatische Neigung«, und sie äußert sich darin, dass »Personen, Handlungen, Rollen, Institutionen, Symbolen und physischen Objekten […] aufgrund ihrer angenommenen Verbindung mit den ›letzten‹, ›fundamentalen‹, ›vitalen‹, ordnungsverbürgenden Mächten« Charisma zugeschrieben wird.42 Es ist dieselbe charismatische Neigung, von der Shils nun behauptet, dass sie »in einer subjektiven Erfahrung des Besitzes charismatischer Qualität oder [Herv. M.S.] in einer Sensibilität und Aufnahmebereitschaft für das subjektiv erfahrene Charisma [resultiert], das sich im Verhalten, in den Worten und Handlungen anderer Individuen manifestiert«43. Beide, der charismatische Führer und seine Gefolgschaft, vereinigt dieselbe charismatische Neigung; während ersterer das Charisma direkt bzw. unmittelbar erfährt, wird es der Gefolgschaft in vermittelter Weise zugänglich. Was aber heißt das? Die Pointe von Shils’ CharismaTheorie besteht darin, dass sie sich auf diejenigen Fälle konzentriert, in denen die Erfahrung von Charisma eine das Erfahrungssubjekt seinerseits charismatisierende Wirkung entfaltet. Genau das ist bei charismatischen Personen im Unterschied zu ihrer Gefolgschaft der Fall. Im Vollzug ihrer direkten Erfahrung von Charisma gewinnen sie selbst charismatische Qualität. Shils ist der Überzeugung, dass die intensivste Verkörperung der transzendenten Mächte nicht ein charismatischer Führer, sondern das zentrale Wertsystem der Gesellschaft – eben im Sinne seiner ›durkheimisierenden‹ Lesart des Weberschen ›Charisma(s) der Vernunft‹ – ist. Die Führer zeichnen sich dadurch aus, dass ihre (direkte) Erfahrung des Charismas gesellschaftlich zentraler Werte sie charismatisiert, während das bei ihrer Gefolgschaft nicht der Fall ist. Deren Erfahrung des Charismas von Werten ist nicht direkt, sondern durch die Führer vermittelt, die über sie – ganz im Sinne der Weberschen Definition – (charismatische) Herrschaft ausüben. Charismatische Führerherrschaft ist aber etwas anderes, je nachdem, ob der Führer Werte erzeugt – das ist Webers zweifellos vom späten Nietzsche inspiriertes ›Normalmodell‹ charismatischer Herrschaft – oder ob er deren Charisma in einer selbstcharismatisierenden Erfahrung gewahrt und sich in Folge dieser Erfahrung nun berufen fühlt, die besagten Werte in einer einzigartigen und unersetzlichen Weise zu interpretieren bzw. zu verwirklichen. Denn genau das zeichnet den Shils’schen Charismatiker aus. Und er kann das in ganz unterschiedlicher Weise tun. Die radikalste ist sicher die bestimmte Negation aller ge-
42 E. Shils: Charisma, S. 110. 43 Ebd., S. 111.
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sellschaftlichen Verkörperungen dieser Werte einschließlich ihrer geltenden Symbolisierungen – darüber können wir uns kundig machen, wenn wir in der Bibel Jesu Anspruch nachvollziehen, er sei gekommen, das Gesetz zu erfüllen. Alltäglicher sind diejenigen Fälle, in denen sich ein Mensch berufen fühlt, im Dienst an Werten, deren Autorität auf ihrer charismatischen Erfahrung beruht, sich aktiv und mit Führungsanspruch an der Ausbildung, Bewahrung, Verteidigung und Entwicklung von Institutionen zu beteiligen, die diese Werte verkörpern. Dann kann der Charismatiker sogar zu einer treibenden Kraft der ›Beseelung‹ von Traditionen werden.44 Dass hier aber überhaupt von einer charismatischen Berufung die Rede sein kann, setzt voraus, dass eine Krise vorliegt, also per definitionem ein kollektives Handlungsproblem, dessen Lösung nicht aus den verfügbaren Wissensbeständen ableitbar oder als wahrscheinlich antizipierbar ist. Ob der Shils’sche Charismatiker Traditionen zerstört oder sie in einer innovativen Weise bewahrt, hängt von dem Maß ab, in dem sich die in diesen Traditionen aufgespeicherten Handlungsorientierungen als situativ unangemessen erwiesen haben. In jedem Fall gewahrt er in der direkten Erfahrung der charismatischen Werte, die den Nukleus der Gesellschaft bilden, seine Berufung, ›zu retten, was zu retten ist‹. Shils führt besonders ein Beispiel an, das veranschaulicht, was wir uns unter Charisma vorzustellen haben, wenn wir es nicht im engeren Sinne herrschaftssoziologisch verstehen wollen. Universitäten, schreibt er, müssen als soziale Institutionen zwangsläufig zahlreiche etablierte Denk- und Bewertungsmuster reproduzieren und Traditionen weiterführen. Deshalb werden sie mit Problemen konfrontiert, wenn sie sich mit jungen Leuten auseinanderzusetzen haben, die über »im hohen Maß charismatische intellektuelle und moralische Neigungen« verfügen.45 Der Nachwuchs, so Shils, muss durch Übung und Forschung lernen, seine Neigungen zu disziplinieren. Gelingt ihm das, anstatt ungezügelten Intuitionen zum Opfer zu fallen, dann sei er frei, »durch Forschung eine neue Ordnung zu schaffen«46. Shils charakterisiert offenbar Menschen, die zu einer direkten Erfahrung von Charisma in der Lage sind. Und zweifellos beschreibt er in seinem Beispiel wissenschaftliche ›Novizen‹, die den Wert der Wissenschaft in einer sie ihrerseits charismatisierenden Weise charismatisch erfahren. Allerdings liegt in diesem Fall keine Herrschaftsbeziehung zu Dritten vor. Interessant ist das Beispiel gleichwohl deshalb, weil es auf alle die viel unspektakuläreren Fälle hindeutet, in denen aufgrund einer charismatischen Werterfahrung – Shils’ direkter
44 Vgl. Edward Shils: Tradition, Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1981, S. 228ff. 45 E. Shils: Charisma, S. 114. 46 Ebd., S. 115.
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Erfahrung – Menschen in sich eine Berufung entdecken; die Berufung nämlich, ihrem Leben mutig und beharrlich eine unverwechselbare Gestalt zu geben, indem sie sich leidenschaftlich und opferbereit jener Sache hingeben, auf die sie sich durch das charismatische ›Ereignis‹ nahezu hingestoßen wissen. Zurück zu Weber. Trotz der berechtigten Kritik an der herrschaftssoziologischen Verengung des Charisma-Konzepts gibt es bei ihm allerdings Spuren (s)einer handlungs- und werttheoretischen Reflexion. So fällt dem Leser auf, dass Weber dort, wo er von gänzlich charismafernen Lebensformen handelt, ihn dieser Mangel nicht eigentlich herrschaftssoziologisch interessiert. Unmerklich gleiten seine primär herrschaftssoziologisch profilierten Vorstellungen von der Bedeutung charismatischer Erfahrungen in ethische Erwägungen hinüber, die einen gehaltvollen Begriff von Individualität voraussetzen. Und dieser Begriff zehrt, so meine These, von der Möglichkeit bestimmter charismatischer Orientierungen, die auch in der Gegenwart der Moderne noch entwickelt werden können. Zunächst: Weber perhorresziert jegliche Art pomphafter Inszenierungen von Charisma. Mit untrüglicher Genauigkeit durchschaut er sie als Ausdrucksgestalt nicht einer Berufungserfahrung, sondern der Feigheit davor, die eigene Sendung in sich zu suchen und ihr entschlossen zu folgen. Die Sprache des Charismas wird hier zur eigenen Handlungsentlastung gewählt und erhört. Aber Weber erkennt ebenso wie wenige Dekaden vor ihm Nietzsche in seiner Kritik des lautstarken deutschen Nationalismus, dass dies der Geist seiner Zeit ist. In dem Maße, in dem den Modernen die Verbürgung ihrer Berufung durch die Autorität des geschichtlichen Erbes und ihre charismatische Eingebung durch Gottes Gnade unter der als heillos empfundenen rationalen Skepsis zerronnen sind, laborieren sie an der von Georg Lukàcs formelhaft beschworenen ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹. In der Kathederprophetie erkennt Weber eine der Reaktionsbildungen auf diese Situation. Sie verspricht dem entzauberten Geist die Aufhebung seiner Zerrissenheit zwischen einem wissenschaftlich motivierten Kritizismus und seinen weltanschaulichen Bedürfnissen individueller Sinngebung, indem sie ihm vorspiegelt, Antworten auf die letzten Lebensfragen ließen sich in einer methodisch verlässlichen Weise verallgemeinern. Weil aber Weber zutiefst davon überzeugt ist, dass Sinnfragen nicht auf empirische und begriffliche Fragen reduzierbar sind und uns die Moderne mit einem ›Polytheismus der Werte‹ konfrontiert, deren Gültigkeit ›für mich‹ nicht aus Argumenten ableitbar ist, hängt ihre Beantwortung letztlich von individuellen Entscheidungen ab, die jeder ›für sich allein‹ zu treffen hat. Weber jedoch entzieht sich dem Vorwurf des Dezisionismus, denn die Formgebung menschlicher Existenz gründet für ihn nicht auf nichts, sondern sie
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ruht auch in der Moderne noch auf qualitativen Erfahrungen. Nicht anders ist Webers Wort zu verstehen, »daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, […] daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.«47
Die Reihung der zitierten Nebensätze verdeutlicht, dass beide, höchste Kunst und intimste Gemeinschaft, auf einen gemeinsamen ›Nenner‹ verweisen, der sich auch noch in anderen Lebensbereichen und -situationen finden ließe als denen der (ausschließlich höchsten) Kunst- und (ausschließlich intimsten) Gemeinschaftserfahrung. In beiden kann das Gleiche, freilich in verschiedener Weise, gegenwärtig sein, nämlich das Sensorium für die letzten und sublimsten Werte, die aus der Öffentlichkeit der entzauberten Moderne zurückgetreten seien. Vermittels der Kunst- oder Gemeinschaftserfahrung, aber auch in anderen Zusammenhängen, denn Weber liefert uns an dieser Stelle nur Beispiele bewährungslogisch bedeutsamer Erfahrungen, werden sie subjektiv authentifiziert. Weber nimmt das pianissimo sehr ernst – denn worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen, wie es ein Bruder im Geiste formuliert hat. Daher schließt er mit einer Kadenz vollendeter Lakonie. Auf die großen Fragen der Ethik und Religionsphilosophie: ›Was sollen wir tun?‹ und ›Was können wir hoffen?‹ antwortet auch er im pianissimo: »[…] an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält«48. Die Erschließung der beiden letzten Sätze aus Wissenschaft als Beruf steht und fällt natürlich mit der Bedeutung, die man dem berühmt-berüchtigten »Dämon« abzugewinnen vermag. Zunächst: Er korrespondiert mit der zuvor zitierten pianissimo-Stelle; ich schlage folgende Konjektur vor: Heute finden wir nur noch im pianissimo unseren Dämon und dieser ist kein bärtiger Rabauke, der uns wie die von Weber studierten Berserker in die Ekstase reitet, sondern ein subtiler Souffleur, dessen Text uns in einer historischen Situation verzaubert, in der wir den Part vergessen haben, den wir nach Herkunft und Sitte auf den Brettern hätten spielen sollen. Was ist und macht ein Dämon? Aus Literatur und Alltagssprache wissen wir, dass er die Personifizierung einer spirituellen Macht ist, die von uns Besitz ergreift – ethisch gesehen im Guten wie im
47 M. Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 596. 48 Ebd., S. 597.
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Bösen. Und es bedarf nun keines Spagats, ihn als Chiffre charismatischer Erfahrungen zu deuten. Warum aber die Chiffrierung? Nach seinem grandiosen herrschaftssoziologischen Auftakt zögert Weber, auch das pianissimo in denselben Kategorien zu erfassen. Hubert Treiber hat die These vertreten, Webers »Dämon« verdanke sich einer Schopenhauer-Lektüre.49 Bei Schopenhauer heißt es: »Denn hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das innerste Wesen des Menschen selbst, der Dämon, der ihn leitet und der nicht ihn, sondern den er selbst gewählt hat, – sein intelligibler Charakter – wie Kant sich ausdrückt.«50 Folgt man der dementsprechenden Schopenhauer-Bezugnahme, dann bekräftigt sie nur noch mehr die ohnehin schon nahe liegende Vermutung, Weber erfasse mit dem »Dämon« den von Shils als grundlegend auch für die Ordnungsstabilisierung moderner Gesellschaften und Gemeinschaften herausgestellten Sachverhalt einer ihrerseits charismatisierenden Erfahrung von Charisma. Der Dämon erweist sich darin nämlich als die Personalisierung eines charismatischen Impulses zur wertrationalen Formgebung meiner Existenz. Wenn es stimmt, dass Webers »Dämon« so gedeutet werden muss, entgeht seine Ethik auch dem Vorwurf des Dezisionismus: Die menschliche Formgebung wird nicht in einer ihrerseits grundlosen Entscheidung begründet, sondern in qualitativen Erfahrungen, welche die Entscheidung für eine bestimmte wertbezogene Formgebung motivieren. Nun spricht der (angenommene) Schopenhauer-Bezug Webers dafür, dass diese Erfahrung im Horizont des ›Charismas der Vernunft‹ gedacht werden muss. Ist dies die letzte Form, die das Charisma auf dem Wege seiner fortschreitenden Subjektivierung noch annehmen kann, dann sind die ›dämonischen Souffleure‹ unserer Wertbindung und Formgebung vielleicht die letzten Phänotypen dieser letzten Form des Charismas in der okzidentalen Geschichte. Und sie sind zugleich die konsequentesten Ausdrucksgestalten dieser Form, insofern sie die von Robespierre verklärte Vernunft prozessualistisch als Vernünftigkeit begreifen. Die Vernunft, so verstanden, kann unter Bedingungen der Entzauberung freilich keine Letztbegründung von Normen mehr leisten, die eo ipso existentielle Verbindlichkeit besäßen. Darum zieht sie sich auf das Gebot der Konsequenz
49 Vgl. Hubert Treiber: »Nach-Denken in der Auseinandersetzung mit Max Weber. Zum ›Persönlichkeitskonzept‹ bei Wolfgang Schluchter«, in: A. Bienfait u. G. Wagner (Hg.), Verantwortliches Handeln in gesellschaftlichen Ordnungen. Beiträge zu Wolfgang Schluchters ›Religion und Lebensführung‹, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 69-120, hier S. 73. 50 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, zitiert nach ebd.
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zurück, mit der wir unsere inhaltlichen Wertüberzeugungen in intellektueller Rechtschaffenheit, nämlich verteidigungsbereit und zugleich offen gegenüber konkurrierenden Wertanmutungen(,) in einer »Kette letzter Entscheidungen« zu einer formgebenden Bestimmungsmacht unseres Lebens reifen lassen.51
51 In diesem Sinne ist das Gebot der Vernünftigkeit zu Recht von Dieter Henrich und in seiner Nachfolge von Wolfgang Schluchter verstanden worden. So jedenfalls deutet Wolfgang Schluchter in seiner luziden Konjektur der Ethik Webers dessen kantkritischen Kantianismus, also Webers Transformation des konstitutiven Universalismus Kants in einen regulativen (vgl. W. Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd. 1, S. 255-260). Und Schluchter anerkennt, dass sich in diesem Gebot ein »existentielles Bewusstsein« bekundet, das auf charismatischen Orientierungen beruht (vgl. Schluchters Klassifikation von Handlungsorientierungen und Bewusstseinsformen im Anschluss an Weber: ebd., S. 140ff.). Schluchter folgt seinerseits in Grundzügen der Rekonstruktion von Webers impliziter Ethik in seiner Wissenschaftslehre durch den jungen Dieter Henrich (vgl. Ders.: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen: Mohr 1952, S. 118-128). Vgl. auch Gerhard Wagner: »Das Charisma der Vernunft. Eine Bemerkung zu Wolfgang Schluchters Reformulierung von Max Webers Handlungstheorie«, in: A. Bienfait u. G. Wagner (Hg.), Verantwortliches Handeln, S. 169192, hier v.a. S. 179ff.
Heilige Jungfrau, heilige Erotik und zerstückelter ›Volkskörper‹ Zur Transzendenz der Gemeinschaft bei Georges Bataille K ARIN P ETERS
I Frankreich feierte Anfang 2012 ein Jubiläum, das für den zeitgleich stattfindenden Wahlkampf um das Präsidentenamt mehrfach instrumentalisiert werden sollte: Am 6. Januar 2012 jährte sich der Geburtstag der französischen Nationalheiligen Jeanne d’Arc zum 600. Mal. Sowohl der damalige Präsident Nicolas Sarkozy als auch Marine Le Pen vom rechten Front national sahen sich daraufhin berufen, Jeanne als Garantin französischer grandeur im Namen der eigenen Sache wiederauferstehen zu lassen.1 Le Pen, die bereits 2006, damals noch im Schatten ihres Vaters, als »Jeanne d’Arc der Rechten« aufgetreten war, bediente sich dazu einer wohlbekannten Krisenrhetorik, die vom Untergang tönt – »Frankreich geht es schlecht« – und im Namen der Pucelle Erlösung von der drohenden ›Überfremdung‹ in Aussicht stellt.2 So wie Jeanne 1429 die Englän-
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Der Front national pflegt Jeanne d’Arc seit zwei Jahrzehnten als Parteiikone, huldigt ihr rituell am 1. Mai und empfand insofern Sarkozy als Wähler sammelnden Usurpator der rechten Ideologie. Vgl. Michaela Wiegel: »Nicolas Sarkozy. Wahlkampf mit einer Legende«, in: FAZ, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nicolas-sarkozywahlkampf-mit-einer-legende-11595493.html vom 06.02.2012.
2
Vgl. Stefan Simons: »Jeanne d’Arc der Rechten«, in: Der Spiegel 39 (2006), S. 142144, hier S. 142.
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der aus Orléans vertrieb und Karl VII. zur Krönung in Reims verhalf3, soll die neue Jeanne der Rechten den französischen Staatskörper von ungewollten Fremdkörpern reinigen und der Grande Nation ihr ins Mystische reichendes Selbstbewusstsein zurückerstatten. Dieses Deutungsmonopol über die jungfräuliche Kriegerin will sich die Rechte nicht streitig machen lassen: Ihr Altmeister Jean-Marie Le Pen hielt am 6. Januar 2012 eine Rede, in der er ›seine‹ französische Nationalheilige gegen all jene verteidigte, die Frankreich an ein globalisiertes Europa verkauften, die »Wacht« an seinen nationalen Grenzen aufkündigten und Frankreich seinen Vorrang der Nationalstaatlichkeit absprächen.4 Als Verteidiger der französischen Jugend (»Die Nation ist in Lebensgefahr«) und zum Zwecke ihrer Rettung beschwor er die Tugenden der Pucelle und schloss mit dem Schlachtruf: »Vive Jeanne, Vive Marine, Vive la France!«5 Diese Gleichsetzung des heiligen, des weiblichen und des politischen Körpers begegnet in der Geschichte des modernen französischen Selbstverständnisses nicht zum ersten Mal. Bereits die letzte Jahrhundertwende kannte eine ähnliche Krisenrhetorik und nicht zufällig fiel diese zeitlich zusammen mit dem Kanonisierungsprozess Jeannes, der 1909 zu ihrer Selig- und 1920 zu ihrer Heiligsprechung führt. Es ist die Dritte Republik (1870-1940), die Jeanne d’Arc für sich als Nationalheilige entdeckt. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und seinem schmachvollen Ausgang – Napoleon III. gerät in Sedan in preußische Gefangenschaft und am 18. Januar 1871 lässt sich Wilhelm I. ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser ausrufen – gerät Jeanne d’Arc in der ersten Phase der Republik zur Symbolfigur einer »nationalen Märtyrer- und Erlösermythologie«6, die immer wieder Revanche gegenüber Deutschland fordert. Besonders der Verlust Elsass-Lothringens saß als schwärende Wunde des »nationalen Körpers«7 tief. La Revanche galt deshalb durch die Reihen der politischen Parteien als populistischer Gründungsmythos und politische Religion der Dritten
3
Vgl. die kenntnisreiche Übersicht in Gerd Krumeich: Jeanne d’Arc. Die Geschichte
4
Vgl. die deutsche Übersetzung auf der rechtspopulistischen österreichischen Home-
der Jungfrau von Orléans, München: Beck 2006. page: http://sosheimat.wordpress.com/2012/04/29/le-pen-heute-muss-frankreich-sich/ vom 18.05.2012. 5
So am 1. Mai 2012, vgl. Gero von Randow: »Wer den Franzosen die Angst nimmt, gewinnt«, in: Die Zeit Online, http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-05/frankreichwahl-duell/komplettansicht?print=true vom 04.05.2012.
6
Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865.
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Ebd., S. 165.
Frankreich 1871. Deutschland 1918, Frankfurt/M.: Fischer 2007, S. 167.
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Republik. Ihr soziales Imaginäres hat deutliche Spuren in der zeitgenössischen Literatur und insbesondere in Texten der Zeit zwischen 1918 bis 1939 hinterlassen. Auch der Philosoph, Soziologe und Schriftsteller Georges Bataille (18971962) macht die Verletzung des französischen Nationalkörpers durch deutsches Militär zum Thema eines kurzen – seines ersten – Textes. Mit Notre-Dame de Rheims liegt uns ein weitgehend ignoriertes Zeugnis des jungen Bataille vor, das mit seiner späteren obszönen Literatur noch nichts gemein hat. Der Text wurde 1918 publiziert und geht auf Erfahrungen aus den Jahren des Ersten Weltkrieges zurück: Im September 1914 beschießen deutsche Truppen die symbolisch bedeutende Königskirche in Reims, in der seit dem Mittelalter die französischen Könige gesalbt wurden. Georges und seine Mutter müssen den schwerkranken Vater in der Stadt zurücklassen und fliehen. Bei ihrer Rückkehr ist der syphiliskranke und bereits erblindete Vater tot. 1917 konvertiert Georges, der aus einem atheistischen Elternhaus stammt und krankheitsbedingt aus dem Militärdienst entlassen wird, zum Katholizismus und tritt in das Priesterseminar Saint-Flour ein. Erst als er zum Studium an die Pariser École des Chartes wechselt und sich in den 1920er Jahren wieder von der Religion abwendet, beginnt für ihn mit der Lektüre Bergsons, Freuds und Nietzsches sowie der Freundschaft mit den Surrealisten Masson und Leiris die produktive Auseinandersetzung mit der geistesgeschichtlichen Gegenwart. Literarisch zunächst noch unter dem Einfluss des französischen Surrealismus, politisch aktiv in der antifaschistischen ContreAttaque der 1930er Jahre und als Soziologe federführend in der Religionssoziologie des Collège de Sociologie (1937-39) wird aus dem vom Krieg traumatisierten Georges der radikale Denker Bataille, dessen Thesen zur heiligen Erotik und dessen moralische Provokationen in den romans obscènes bis heute ihre Faszinationskraft nicht eingebüßt haben. Dieser Bataille steht schließlich im Zeichen des toten Gottes Nietzsches und hat sich jeglicher nationalistischer Rhetorik entschlagen. In Notre-Dame de Rheims8 hingegen gedenkt Bataille nicht nur der Jungfrau Maria sondern auch Jeanne d’Arcs und ihres Heldenmutes, um die Franzosen zu
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Georges Bataille: Notre-Dame de Rheims [1918], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Michel Foucault u. Denis Hollier, Paris: Gallimard 1973, S. 611-616, hier S. 616. Im Folgenden im Fließtext abgekürzt mit der Sigle NDR. Der Text erschien erstmalig als Broschüre im Courrier d’Auvergne in Saint-Flour, Bataille hat den Text außerdem wohl im Rahmen einer Schulfeier mündlich vorgetragen. Er hat sich später allerdings nicht zu seinem Erstlingswerk bekennen wollen, das überhaupt erst in den 1970er Jahren in Saint-Flour wiederentdeckt wurde. Vgl. in dieser Hinsicht Bernd
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beschwören, aus der Asche des Krieges wie ein nationaler Phönix wiederaufzuerstehen. Er appelliert an eine »jeunesse plus splendide« (NDR, S. 616), an die Jugend Frankreichs, sich als würdige Söhne des jungfräulichen Doppelgeschlechts von Maria und Jeanne zu erweisen. Ein unsterbliches Frankreich solle wie die Stätte des heiligen Königtums von neuem erblühen. Erweist sich dieser Text auch als absolut heterologisch9 zum restlichen Œuvre Batailles, lohnt doch gerade deshalb umso mehr der Blick darauf. Auf diesem ›unbekannten Bataille‹ baut schließlich, so meine These, die Architektur seines Denkens auf.10 Bataille erweist sich mit seinem ersten Text als Kind seiner Zeit und als Kind eben jener Dritten Republik, die für die wichtigsten politischen Denkfiguren des Sakralen in der französischen Moderne verantwortlich zeichnet. Im Folgenden untersuche ich, wie in der Figur Jeanne d’Arcs auch für Bataille Moderne und Sakralität zusammenkommen und inwiefern die heilige Jungfrau auf einen prekär gewordenen politischen Körper verweist. Erst vor dem Hintergrund dieses frühen, für die zeitgenössische Literatur des Renouveau catholique durchaus typischen Diskurses ist die negative Theologie des späten Bataille in all ihrer Radikalität als zweite, weil philosophische, poetische und politische Konversion zu verstehen. II Notre-Dame de Rheims ist rhetorisch stringent komponiert. Nach dem Lob der glorreichen Vergangenheit von Stadt, Volk, Religion und Kathedrale wechselt der Erzähler in den Einzugskreis seiner persönlichen Erinnerung, zeichnet ein Bild der noch unversehrten Kathedrale, um schließlich in elegische Klage über deren Zerstörung im Ersten Weltkrieg überzugehen. Zuletzt wendet er sich an
Mattheus: Georges Bataille. Eine Thanatographie, Bd. I, München: Matthes & Seitz 1984, S. 45f. 9
Vgl. zum Begriff und Konzept der Heterologie, der sich Bataille verschreibt, bes. Georges Bataille: »L’expérience intérieure« [1954], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 5, hg. v. Denis Hollier, Paris: Gallimard 1973, S. 7-189. Eine bündige Definition der heterologischen inneren Erfahrung, die auch für das hier gewählte Beispiel aussagekräftig ist, liefert Jean-Louis Baudry: »Elle est connaissance du savoir de ce que la connaissance doit exclure pour se constituer.« Jean-Louis Baudry: »Bataille et l’expérience intérieure«, in: Tel Quel 55 (1973), S. 63-76, hier S. 65.
10 In diesem Sinne argumentiert auch Denis Hollier, der als einer der wenigen in diesem opuscule die ideologische Kehr- oder Rückseite des Werkes Batailles erblickt. Vgl. Denis Hollier: La prise de la Concorde. Essais sur Georges Bataille, Paris: Gallimard 1974.
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die Jugend Frankreichs und fordert sie auf, den Glauben wie die Kathedrale zu neuem Leben zu erwecken. Damit ruft Bataille ein Geschichtsmodell in Erinnerung, das seit der Antike als zyklischer Wechsel goldener und eiserner Weltalter vorgestellt wurde. Der Text setzt ein mit der fast märchenhaft anmutenden Formel »Vous avez ouï-dire de Rheims qui fut une grande ville« und referiert zunächst jene »histoire antique« (NDR, S. 611), die zum kulturellen Gedächtnis aller Franzosen gehört. Nach der Ursprungslegende über die Taufe von Clovis im Jahr 498/99 kommt Reims das vom Papst später anerkannte Recht zu, die französischen Könige zu salben. Ludwig der Fromme ist 816 der erste tatsächlich in Reims gesalbte König und im 11. Jahrhundert etabliert sich die Kathedrale als Krönungskirche. Ihr Privileg leitet sie von der Ampulle des Hl. Remigius ab, die ein vom Himmel geschicktes Öl für die Salbung enthält. In der Salbung wird der König mit seiner mystischen Natur ausgestattet und erweist sich als besonderer Diener Gottes. Das Ritual betont daher vor allem die Pflichten des Monarchen, die er im Schwur seinem Volk und Land gegenüber einzuhalten verspricht. Die Salbung gleicht einer Fürstenschule und mystischen Wiedergeburt (»presque […] une nouvelle naissance«11), konsolidiert aber zugleich die herausragende Stellung des französischen Königshauses, da nur dieses über eine direkte Verbindung zu Gott verfügt: »lequel seul entre tous les Roys de la terre resplendit de ce glorieux privilège, qu’il est singulièrement oinct de l’huille envoyée du Ciel«12. Die Erzählstimme taucht dann schnell in eine Epoche ein, die für die Bestätigung dieses heiligen Bandes steht und zugleich eine nationale Krise bedeutet: Der Text entwirft ein Tableau der in die Stadt einziehenden Jungfrau von Orléans, die den Dauphin in Zeiten des Krieges gegen England zur Salbung nach Reims führt. Ein gekrönter König war, daraus leitete die historische Jeanne ihr Bestreben ab, in Frankreich immer nur ein halber König. Ohne den heiligen Akt der Salbung konnte er sich nicht König Frankreichs nennen.13 Das Reims Jeanne
11 Jean Goy: A Reims, le Sacre des Rois de France, Reims: Coulon 1980, S. 8. Vgl. daneben zur Nähe der Krönungs- und Salbungsriten zum rite de passage, dem Übergangsritus, der Statusänderungen über symbolischen Tod und symbolische Wiedergeburt bewältigt, Jacques Le Goff: »A Coronation Program for the Age of Saint Louis: The Ordo of 1250«, in: János M. Bak (Hg.), Coronations. Medieval and Early Modern Monarchic Ritual, Berkeley: Univ. of California Pr. 1990, S. 46-57, hier S. 48. 12 Siehe den Ordo du sacre (ca. 1350), zitiert nach J. Goy: A Reims, S. 19. 13 Siehe zum Problem des »ceremonial interregnum« Ralph E. Giesey: »Inaugural Aspects of French Royal Ceremonials«, in: János M. Bak (Hg.), Coronations. Medieval and Early Modern Monarchic Ritual, Berkeley: Univ. of California Pr. 1990, S. 35-45, hier S. 38.
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d’Arcs erscheint deshalb bei Bataille als religiöse und nationale Heimstatt, die Kathedrale in all ihrer Jugend und Reinheit als guter Hirte (»la Cathédrale toute jeune et blanche veillait comme un berger sur son troupeau bêlant«, NDR, S. 611) und die Bewohner der Stadt als »le bon peuple de France« (ebd.). Über seine Protagonistin führt Bataille bereits im ersten Abschnitt eine Isotopie in den Text ein, die Jugend, Reinheit, Glauben und eine heile Volksgemeinschaft verbindet. Jeanne zieht durch die Straßen und vereint Männer, Frauen und Kinder zu einer einzigen glücklichen Masse, die sie und den Dauphin willkommen heißt: »il y avait là tout le bon peuple de France, les mères qui montraient à leurs enfants la jeune sainte si guerrière et le roi, les hommes joyeux qui couraient en criant Noël« (ebd.). Selbst in Zeiten der Not und in der Kerkerhaft, die für Jeanne folgen wird, als der König sie an die Engländer regelrecht verkauft, soll sich Jeanne, so zumindest in der Zurichtung Batailles, an Reims erinnert haben: »elle dut souvent revoir et aimer ce souvenir du sacre« (ebd.). Wie Jeanne sich an das sacre in Reims erinnert, so auch der Erzähler, der sich in seiner eigenen, modernen Kerkerhaft einer vom Glauben abgefallenen und gewalttätigen Gegenwart zu befinden scheint. Durchgängig dient die jungfräuliche Kriegerin als direkte Identifikations- und als narrative Perspektivfigur: »J’ai eu moi aussi quand j’habitais la vieille ville cette vision qui est belle comme nos rêves de paradis.« (ebd.) Allerdings herrschte in der Jugend des Erzählers nicht mehr das goldene Zeitalter einer heilen und heiligen Gemeinschaft, sondern es haben sich »bruit« und »lumière criarde« in die »rue nouvelles« (NDR, S. 611f.) der Stadt eingeschlichen: Die Moderne hat Einzug gehalten. Dennoch überragte die Kathedrale als in Stein gemeißelter Triumph das Treiben der Straße (»mais il y avait toujours la Cathédrale et toujours elle vivait dans un triomphe de pierre«, NDR, S. 612). In der Jungfrau Maria, die auf dem Portal abgebildet ist und dort vom eigenen Sohn gekrönt wird, erscheint erneut die triumphale Jungfräulichkeit, diesmal gepaart mit einer Alles und Alle verbindenden Mütterlichkeit: »Et Notre-Dame la Vierge, sous sa haute couronne, au portail, était si royale et si maternelle qu’il fallait bien que tout son peuple de fidèles devint joyeux comme des enfants et comme des frères et toute la pierre était baignée de bonté maternelle et divine.« (Ebd.)
Über das göttliche Licht, das diese Vision begleitet, legt sich sodann ein Todesschatten, »un ombre de mort« (ebd.), und der Ton des Textes wechselt vom jubilierenden Pathos zur elegischen Klage. In parallelistischer Verschränkung setzt sich der Erzähler mit Jeanne gleich, die in den Kerker und schließlich auf den Scheiterhaufen geführt wird: »Toute pleine de ses voix et de ses espoirs Jeanne
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d’Arc allait à la prison et au bûcher: nous aurons nous-mêmes des jours des larmes et le jour de notre mort nous guette à l’avance comme un voleur.« (ebd., Herv. K.P.) Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass der Erzähler in der Imagination der finsteren »jours des larmes« nicht mehr als einzelner Visionär auftritt, sondern in der Personaldeixis als Teil eines sprachlich deutlich markierten Kollektivs: »nous aurons nous-mêmes des jours des larmes et le jour de notre mort nous guette à l’avance comme un voleur. Aussi nous sommes des assoiffés de consolation. C’est vrai que la lumière de dieu luit pour nous tous, mais nous nous égarons dans nos misères quotidiennes« (NDR, S. 612, Herv. K.P.). Die Vision, die zuvor den Erzähler als Einzelnen betraf, wird als beschwörende Formel einer Gemeinschaft wieder aufgegriffen und im freundschaftlichen Gespräch mit einem »ami« bestärkt, der den Erzähler daran erinnert, sich an der Größe der Kathedrale auch innerlich aufzurichten. Das katholische ›Wir‹ hält sich in der Moderne also an beiden Jungfrauen fest, um den eigenen Glauben nicht zu verlieren. Daraufhin verändert sich die Sprechweise, denn dieses Geschenk, das der Erzähler dem »ami« verdankt, will er nun prophetisch an die Leser seines Textes weitergeben: »Et cette vision de Jeanne d’Arc, dont je suis moi-même tout vibrant encore après quatre ans, c’est la lumière que j’offre à vos désirs, ainsi que vêtue de soleil, Notre-Dame de Rheims.« (ebd.) Der eigene Text soll demnach als Vision zweiten Grades dienen. Die Zeit der Leser und die Zeit des Erzählers allerdings erlauben diese Vision allein in der sprachlichen Vermittlung und im imaginären Nachvollzug. Denn Erzähler und Leser befinden sich in einer Gegenwart, der die Kathedrale nur als Ruine geblieben ist: »Seulement, aujourd’hui, c’est dans la désolation qu’elle s’élève, mutilée.« (ebd.) Nacherzählt wird im Anschluss die Erinnerung an den Sommer und Herbst 1914, als der Krieg nach Reims kam und das eiserne Zeitalter anbrach. Auf die menschliche Angst und Flucht aus der Stadt folgt der Tod – »on mourait« (NDR, S. 613) – und schließlich die tödliche Verwundung der Kirche: »la vision d’une blessure qui meurtrissait le monde entier« (NDR, S. 614). Die Vision des göttlichen Lichtes, das als »lumière« zuvor immer wieder auftauchte, wandelt sich in den Widerschein des tödlichen Feuers in jedem Einzelnen, der das traurige Spektakel verfolgt: »Le lumineux équilibre de la vie est brisé parce qu’il n’est personne dont les yeux ne soient brûlés du reflet des flammes vives et qui ne soit meurtri dans sa chair par cette cruauté sanglante.« (NDR, S. 613f.) Dieses scheinbar brennende Auge ist das wohl stärkste Bild des Textes: Das eiserne Zeitalter hat nicht nur Leben und Gut, sondern auch die Vision des Göttlichen im Selbst ausgebrannt. Notre-Dame wird deshalb im Folgenden nur mehr als Leichnam vorgestellt. Die Beschreibung der Ruine setzt die Anthropomorphisierung der Architektur,
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die mit der Jungfrau Maria begann, weiter fort. Aus dem mütterlichen Leib ist aber eine unfruchtbare Hülle geworden (»les portes closes, les cloches brisées, elle avait cessé de donner la vie«, NDR, S. 614) und der steinerne Triumph hat sich in eine verzerrte Grimasse des Todes verwandelt: »c’était bien un rictus de squelette que grimaçaient les lézardes écharpées sur sa pierre jadis vivante, comme sur une face humaine« (NDR, S. 614). Dieser Riss im Stein ist auch in der Sprache zu hören: Gehäufte r-, s-, c- bzw. z-Laute zerreißen die versprachlichte Vision von Ganzheit, die der Text zuvor heraufbeschwört. Damit beginnt der letzte Teil des Textes: Der Erzähler stellt sich die rhetorische Frage, ob man angesichts dieses traurigen Schauspiels verzweifeln solle. Die Emphase des sich daran anschließenden Appells verneint sie umgehend. Eine neue Hoffnung erscheint am Horizont und dies bezeichnenderweise in der Form des Signifikanten »lumière«, der nun wieder aufscheint: »Seulement il est une lumière qui est plus forte que la mort: la France.« (ebd.) Auch die verstümmelte Kathedrale sei noch Symbol Frankreichs und müsse nun von Neuem geboren werden: »Ce n’est pas le désespoir que reflètent ses ruines et il n’est en elle de douleur que dans l’attente angoissée du Te Deum, qui exaltera la délivrance et le renouveau.« (NDR, S. 615). Die Vision transfiguriert sich und zitiert dabei Opfer und Auferstehung Christi (»transfigure la vision«, »comme un cadavre«, »un grand cri de résurrection«, ebd.). In ihrer Erhabenheit besiegt die Kathedrale den Tod – wenn die Jugend, das nun mehrfach angesprochene »vous«, sich zu ihrem »renouveau« berufen fühlt. Mit der neuen Jugend und ihren »désirs juvéniles« (ebd.) breche auch ein neues Zeitalter an, das zum Wiederaufbau der Kirche führen werde, die göttliche Vision erneuere und in Friedenszeiten dem Glauben neue Kraft geben solle: »vous bâtirez l’Église divine dans votre cœur« (NDR, S. 616). Damit habe die Mutter Notre-Dame erneut kraftvolles Leben gezeugt: »Vous serez les fils heureux de Notre-Dame et je ne saurai voir de jeunesse plus splendide.« (ebd.) Mit dieser zyklischen Rückkehr zur goldenen Jugend schließt der kurze Text. These, Antithese und Synthese sind zielsicher auf die prophetisch beschworene Wiederherstellung des Glaubens14 und damit auf eine im Glauben vereinte Gemeinschaft ausgerichtet. III In der Reminiszenz des Christusopfers, der Jungfrauen-Geburt und der Hoffnung auf ein »renouveau« liegen mehrere Sinnschichten des Textes verborgen. Ihre Bildbereiche und ihr Vokabular, derer sich Bataille in seinem opuscule bedient,
14 Vgl. D. Hollier: La prise de la Concorde, S. 46.
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entstammen sicherlich auch einer zeitgenössischen geistigen Modeerscheinung, die als Renouveau catholique in die (Literatur-)Geschichte eingegangen ist. Zwischen 1885 und 1935 erlebt Frankreich einen ungeheuren Aufschwung intellektueller Konversion zum Katholizismus. Als besonders markant erweist sich dabei der Anstieg statistisch verbürgter Konversionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges (1905-15) sowie der gleichermaßen tiefe Abschwung am Ende des Krieges.15 Bei den Konvertiten herrscht ein neuer Fortschrittspessimismus, der die Kritik am modernen Positivismus mit der Klage über die »décadence nationale«16 verbindet, der Frankreich nach 1870/71 anheimgefallen sei. Nach der Erfahrung eines zerstörerischen Materialismus, wie man ihn nicht nur im Krieg sondern bereits im Zweiten Kaiserreich mit seinem kapitalistischen Gebaren erlebte, kehren zahlreiche Künstler und Literaten zum idealistischen Glauben zurück. Exemplarisch dafür steht die Bekehrungserzählung Paul Claudels (18681955), der berichtet, wie er im Alter von 18 Jahren während der Weihnachtsvesper 1886 in der Pariser Kirche Notre-Dame ein Erweckungserlebnis hatte: Er erlebt die Mystik der katholischen Zeremonie nicht mehr nur als exotistischen »excitant« für das Schreiben, sondern wird beim Magnificat des Chores zum Glauben an das Unerklärliche bekehrt: »je crus«17. Claudel betont, dass sich unter den solchermaßen Bekehrten ein veritables Generationenbewusstsein abzeichne: »On a en soi une certaine manière d’être commune«18. Zudem berufen sich die Älteren dieser Generation – wie auch Claudel – dazu nicht grundlos auf die Ruinen des besiegten Frankreichs: »Nous avons eu une foi à retrouver, un édifice à reconstruire sur les ruines que nos pères nous avaient laissées.«19 Es sind dies die Söhne der Niederlage (»fils de la défaite«20), die in einem besiegten Land (»pays vaincu«21) groß geworden sind und sich mit dem katholischen
15 Vgl. Frédéric Gugelot: La conversion des intellectuels au catholicisme en France (1885-1935), Paris: CNRS 2010, S. 28. 16 Ebd., S. 29. 17 Paul Claudel: Ma conversion [1913], in: Ders., Œuvres en prose, hg. v. Jacques Petit u. Charles Galpérine, Paris: Gallimard 1973, S. 1008-1014, hier S. 1010. 18 Brief an Francis Jammes vom 28. Juni 1898, zitiert nach F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 31. 19 Brief an Gabriel Frizeau vom 10. April 1914, zitiert nach F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 32. 20 Joseph Wilbois: L’Homme qui ressuscita d’entre les vivants, Paris: Spes 1928, S. 13. 21 Émile Baumann: Mémoires, Lyon: La Nouvelle Édition 1943, S. 287.
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Glauben schließlich auch auf den Glauben an eine heilige Gemeinschaft rückbesinnen.22 Ist die von Claudel als vermeintliche Generation vorgestellte Gruppe des Renouveau catholique auch äußerst heterogen – sie lässt sich nicht auf eine bestimmte Altersgruppe oder Tendenz festschreiben –, erweist sie sich doch als Ausdruck eines intellektuellen Zeitgeistes, der Stil, Poetik und Genres der zeitgenössischen Literatur prägt. Zwischen 1912 und 1914 erscheint eine große Zahl euphorischer Heiligenviten auf dem Buchmarkt und die neuen Massenmedien23 eröffnen dem Renouveau catholique eine breite Leserschaft. Dieser Zeitgeist der 1910er Jahre spiegelt sich auch im Erstlingswerk des jungen Bataille. Als er Notre-Dame de Rheims verfasst, hat er mit 20 Jahren genau das Durchschnittsalter24 der Konvertiten aus dem Atheismus; es handelt sich durchaus um eine dezidierte Jugendbewegung.25 Auch bei Bataille ist wie bei anderen Konvertiten die Entscheidung für den Katholizismus mit der bewussten Abkehr vom atheistischen, wahnsinnig gewordenen Vater verbunden.26 Die Generation der Väter steht für ihn für eine unmöglich gewordene Vergangenheit, der Krieg dagegen versinnbildlicht eine seiner Generation verschlossene Zukunft.27 Erst der Blick in eine weit zurückliegende Vergangenheit (»un regard vers l’arrière […] [vers] un passé idealisé«28) eröffnet ihm eine neue Perspektive. Im Vergleich zur dominant laizistischen Kultur der Dritten Republik handelt es sich beim Renouveau catholique zunächst um eine Gegenkultur. Deshalb begreift Frédéric Gugelot selbst das dezidiert restaurative Moment der Bewegung
22 »Niederlagen sind Zeiten des Vatermords und der Rückbesinnung auf die Mutter Nation, zu deren Rettung und Bewahrung nun die Söhne aufstehen.« (W. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 74.) 23 Zeitungen wie die Revue de la jeunesse (ab 1912), das Bulletin des écrivains catholiques (ab 1918), die Revue pratique d’apologétique (1905-21) oder die Cahiers de l’Amitié de France (1910-14) dienen dem Renouveau catholique als Sprachrohr. 24 Vgl. F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 31. 25 Vgl. Veit Neumann: Die Theologie des Renouveau catholique. Glaubensreflexion französischer Schriftsteller in der Moderne am Beispiel von Georges Bernanos und François Mauriac, Frankfurt/M.: Lang 2007, S. 86. Maßgebend war das Autorenduo »Agathon« (Henri Massis und Alfred de Tarde), die 1912 und 1913 Untersuchungen zu »Les jeunes gens d’aujourd’hui« veröffentlichen und darin die prominente Rolle der jungen Katholiken betonen. 26 Vgl. B. Mattheus: Georges Bataille, S. 35. 27 Vgl. ebd., S. 41f. 28 F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 32f.
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als Spielart der Avantgarde. Wie im Falle von Joris-Karl Huysmans (1848-1907) bietet die Ästhetik des Renouveau einen Ausweg aus der Poetik des positivistischen Naturalismus und der symbolistischen Décadence. Auch in ihrer Schreibweise werden einige Dichter so regelrecht bekehrt: Sie verwerfen frühere Texte und stellen sich in den Dienst einer Literatur im Namen der Religion. Dies geschieht vor allem mit Verweis auf die affektive Qualität des Glaubens, dessen persuasive Rhetorik und admiratio-Poetik in der Literatur nachgeahmt werden soll: »L’Église doit toucher les foules pour retrouver sa puissance. L’art est un vecteur possible.«29 Mit diesem Vektor operiert auch die Rhetorik in NotreDame de Rheims. Das Staunen seiner Leser produziert Bataille dabei nicht nur durch seine hyperbolische Bildsprache und seine überschwängliche, adjektivische Semantik, sondern vor allem, indem er emotive und konative Sprachfunktionen wiederholt in den Mittelpunkt stellt: »Ses deux tours étaient droites dans le ciel comme des gerbes de lis et l’image des foules accueillantes se glissait parmi le peuple des saints qui avaient sous les porches des gestes éternels en des robes hiératiques et des visages joyeux comme jamais n’a sourri la pierre.« (NDR, S. 612, Herv. K.P.) »J’ai vu presque ses derniers jours de splendeur, dans la fièvre d’Août mil neuf cent quatorze. J’ai vu ses nefs pleines de soldats qui venaient se préparer à bien mourir.« (ebd., Herv. K.P.) »Vous êtes ceux dont elle attend le renouveau […]. Souvenez-vous que le monde a souffert d’avoir cru voir s’éteindre la lumière, par qui Dieu vit sur la terre et dans la paix. […] Puis vous imiterez vos très vieux pères, qui vous dominent dans le passé.« (NDR, S. 615, Herv. K.P.)
Diese Form literarischer persuasio steht für den Versuch, das Göttliche im künstlerisch Schönen ansichtig und für den Gläubigen somit erfahrbar zu machen. So ist es ein ums andere Mal die Konversionserzählung, die im Renouveau catholique im Mittelpunkt steht. Darin tritt der Dichter als exemplum und Nachahmer Christi bzw. Prophet und Verteidiger der Kirche auf. Der Renouveau will der Literatur und den Intellektuellen nach dem Rückzug aus der Welt, für den die l’art pour l’art-Ästhetik stand, ihre soziale und moralische Rolle zurückerstatten.
29 Ebd., S. 282.
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Mit dem Ersten Weltkrieg zeichnet sich im Renouveau catholique schließlich ein wesentlicher Richtungswechsel ab: Zuerst verbinden Viele für sich den Glauben an die Nation mit dem christlichen Glauben an die Nachahmung Christi, erst später wird es durch die großen Verluste im Krieg zum Nachlassen der Begeisterung kommen. In der persönlichen Opferbereitschaft kulminiert der Versuch, sich als Teil einer sakralen Gemeinschaft zu fühlen und aus den nationalen Opfern des Krieges einen irgendwie gearteten Sinn zu stiften.30 Noch Bataille spricht in seiner Vision Notre-Dames von der Gemeinschaft als »mère pour qui mourir« (NDR, S. 612). Auch die Beschäftigung mit Jeanne d’Arc und ihrem ›Opfer‹ für die Nation muss vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Denn der Renouveau catholique verbindet die Frage nach der sakralen Natur des Wunders, das Jeanne göttliche Stimmen hat hören lassen, mit der zunächst profan anmutenden Frage des Patriotismus. Genau darin liegt aber seine Vorstellung einer transzendentalen Gemeinschaft verborgen. Die französische Moderne hat sich seit dem endgültigen Untergang ihres Königsgeschlechts und der sakral beglaubigten Monarchie immer stärker mit diesem Gedanken befasst. Ob Jeanne vor allem als Mystikerin oder aber als Patriotin verstanden sein will, hat die Auseinandersetzung mit ihr über Jahrhunderte geprägt. Sie wird durch Jules Michelet in der postrevolutionären Geschichtsschreibung Frankreichs erneut befeuert. Die Nation erscheint dort als explizite Verhandlungssache in der causa Jeanne. Denn Michelet setzt gegen die konterrevolutionäre Rede vom geopferten Monarchen den Sündenbock Jeanne aus dem Volk, dem dadurch selbst eine eigene Göttlichkeit zuteil wird.31 Der traditionell royalistische Nationalismus der Jeanne-Verehrung wandelt sich dergestalt in republikanischen Patriotismus im Zeichen einer Heldin aus dem Volk, deren innere Kraft für das Wohl der Gemeinschaft zu bürgen hat – eine bürgerliche Neuinterpretation der Hl. Johanna, die bis dato als Garantin des Gottesgnadentums wahrgenommen wurde.32 Nach 1870/71 sind es dann auch bezeichnenderweise
30 »[U]n dolorisme d’acceptation, une foi nécessaire dans le contexte de la guerre totale. Croyance en Dieu et foi en la nation se mêlent.« (F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 46.) 31 Vgl. zu dieser »divinization« Susan Dunn: The Deaths of Louis XVI. Regicide and the French Political Imagination, Princeton: Princeton UP 1994, S. 46. 32 »Das Wunder neuer Art kommt nicht von oben, sondern von innen. Es entsteht im emanzipierten außerordentlichen Individuum von selbst, aus den natürlichen Kräften dieses Individuums.« (Dietmar Rieger: »Jeanne d’Arc und der Patriotismus. Zur Geschichte einer ›belle image de livre de prix‹ von der Revolution zur Résistance«, in: Romanistisches Jahrbuch 36 [1985], S. 122-139, hier S. 124.)
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Jeanne-Statuen, die zur Wacht der neuen Dritten Republik an den nationalen Grenzen nach Deutschland aufgestellt werden.33 Und um 1900 wird das nationale Symbol, das sich seiner grundlegenden Ambivalenz aus Royalismus und Republikanismus, Religiosität und Anti-Klerikalismus nie völlig hat entschlagen können, schließlich zur überparteilichen »Integrationsfigur«34. Verantwortlich dafür ist vor allem der Renouveau catholique sowie im Besonderen Maurice Barrès, der 1915 seine Aufsätze Autour de Jeanne d’Arc publiziert und die Jungfrau als Beschützerin der französischen Zivilisation gegen deutsches Bar barentum (»porte-bannière du monde civilisé« 35 ) ins Feld führt. Mithilfe der Figur Jeanne d’Arc wird die nationale Niederlage von 1870/71 zum »spirituellen Triumph durch heroisches Erdulden«36 sublimiert. Diese Vorstellung eines moralischen Sieges und der sittlichen Läuterung des Verlierers bedient sich am christlichen Topos des Martyriums. In Form sogenannter »Trostliteratur«, die nach einer »Pädagogik des Scheiterns«37 vorgeht, wird Jeanne zunehmend nationalistisch vereinnahmt. Schivelbusch fasst daher die nationale Mythenbildung als Schorf der Wunde im nationalen Körper auf. An ihr aktualisiert sich im Ersten Weltkrieg die Erinnerung an den Revanchegedanken. Jeanne ist in Mode – und politisch, religiös sowie literarisch zu diesem Zeitpunkt endgültig ›kanonisiert‹. Als Mittlerin zwischen einem den Einzelnen transzendierenden Ideal von Gemeinschaft sowie den individuellen Menschen tritt sie in die Nähe zu Maria und kann deshalb als ideologische Lager verbindende, neue Mutter der Nation inszeniert werden: In ihr verschmelzen Maria, Christus und die Nation, bis aus ihrem Selbstopfer eine neue, heilige Gemeinschaft hervorgeht: »It is as the holy Virgin that Joan gives birth to a sacred nation.«38 Dabei stellen insbesondere katholische Autoren die Opferbereitschaft Jeannes und somit das Martyrium der Unschuldigen in der imitatio Christi in den
33 Vgl. ebd., S. 126, Fußn. 23. 34 Ebd., S. 128. Diese löst sich in der Zeit der deutschen Besatzung der 1940er Jahre wieder in Ambivalenzen auf, als sowohl Vichy als auch die Résistance die Nationalheilige für eigene Zwecke instrumentalisieren wollte. Vgl. ebd., S. 130f. 35 Dietmar Rieger: »Jeanne d’Arc canonisée et non canonisée. Remarques sur la Pucelle littéraire au XXe siècle«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 25 (2001), S. 361-379, hier S. 361. 36 W. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 175. 37 Marieluise Christadler: »Zur nationalpädagogischen Funktion kollektiver Mythen in Frankreich«, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart: Klett-Cotta 1991, S. 201f. 38 S. Dunn: The Deaths of Louis XVI, S. 45.
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Mittelpunkt.39 Diese aus dem Christentum entlehnte sowie patriotisch gewendete Ideologie des Selbstopfers galt als »sine qua non of citizenship«40 und wurde in diesem Sinne beim Kriegseintritt heraufbeschworen. In der sich darin abzeichnenden Vorstellung eines transzendentalen Kollektivs kehrt das Heilige in der Moderne wieder: »Citizenship becomes a means for infusing transcendence into the nation; it is the foundation of a social religion, not of a political contract.«41 Nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, sondern auch das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft wird dabei ausgehandelt. Gugelot nennt die Vorstellung des »renouveau« dementsprechend eine »passion française«, die in Gestalt der französischen Nationalheiligen auch ein bestimmtes Geschichtsmodell entwirft.42 Dafür steht die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter und die Identifikation mit den ersten Märtyrern, wie sie uns beim späteren Mediävisten Bataille und seiner Notre-Dame de Rheims begegnen. Denn der moderne Konvertit wünscht sich, die individuelle unité mit Gott durch eine gelebte communio zu ergänzen – nur darin verbänden sich physische und metaphysische Realität. Das Erleben einer »unité collective«43 sei der Moderne jedoch abhanden gekommen. Also dient dem Renouveau catholique die Imagination des Mittelalters wie bereits den Romantikern als Heilmittel gegen seine eigene, ›seelenlose‹ Gegenwart und die Krise der Zivilisation.44 Darin äußert
39 Vgl. Ann W. Astell: Joan of Arc and Sacrificial Authorship, Indiana: Univ. of Notre Dame Pr. 2003, S. 187. Dies steht bei Charles Péguy in konkretem Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre. Der elsässische Jude Dreyfus kann als personifizierte Dolchstoßlegende interpretiert werden. An ihm entzündet sich der zeitgenössische Revanche-Gedanke, der in Dreyfus’ mehrfache rituelle Verstoßung mündet. Péguy und andere ›Dreyfusards‹ sahen darin eine Entehrung des republikanischen body politic und erklärten sich dann ihrerseits nachahmend bereit, für die Nation ihr Blut zu lassen: »to sacrifice their very selves for the individual stranger on whose fate the eternal salvation of the nation rested«. (ebd., S. 192.) 40 S. Dunn: The Deaths of Louis XVI, S. 48. 41 Ebd., S. 50. 42 Vgl. F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 401f. 43 Ebd., S. 403. 44 »En France, l’expérience de 1870 a démontré l’affaissement collectif engendré par l’irréligion […].« (André Godard: La Vérité religieuse, Paris: Bloud 1903, S. 370.) Generell lehnt der Renouveau catholique schon die Epochen der Renaissance, des Reformismus und der Revolution ab. Vgl. dazu Batailles späte Gegenüberstellung der verausgabenden Kulturleistung einer mittelalterlichen Kirche und der rationalistischökonomischen Scheunenarchitektur, die für ihn den Verlust sakraler dépense in der
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sich der Geschichtspessimismus der Bewegung, der auch im Text Batailles in den Begriffen einer sich wie Schatten über die Kathedrale legenden Zeit zum Tragen kommt (»ténèbres«, »ombre«, NDR, S. 612). Dieses Imaginäre einer der Vergangenheit gegenüber defizitären Gegenwart bildet die Schnittmenge des Katholischen und des restaurativen Nationalismus, des Religiösen und des Politischen im Frankreich der Dritten Republik. Darin taucht bezeichnenderweise auch die Erinnerung an die nationale ›Verstümmelung‹ im Deutsch-Französischen Krieg wieder auf. Die katholische Autorin Juliette Adam etwa übersetzt den aus den 1870er und 1880er Jahren signifikant vorgeprägten Begriff der Revanche in das Wunschbild einer France intégrale, dem sie in ihrem eigenen Jeanne d’Arc-Roman (Chrétienne, 1913) einen zeittypischen Ausdruck verleiht.45 Die monarchistische und nationalistische Action française strebt zur gleichen Zeit die Wiedereinführung der Erbmonarchie an. Beide – der Renouveau catholique und die faschistoide Action – teilen die Ansicht46, in einer entzauberten Gegenwart und am Ende einer deszendenten Geschichte zu leben. Gleichzeitig sind sie in einem tückischen Zyklus kultureller Erinnerung gefangen, denn mit diesem Geschichtsbewusstsein stellt die Dritte Republik unter Beweis, dass sie von ihrem ›Urtrauma‹ – der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg – nicht loskommt.47 IV Nach dem Ersten Weltkrieg sind zehn Prozent der männlichen Bevölkerung Frankreichs tot und zurück bleibt eine verwitwete Nation.48 Daraus erklärt sich vordergründig auch die Isotopie von Tod und Zerstörung, die in Batailles Notre-
Moderne verkörpert; in Georges Bataille: La part maudite, précédé de La notion de dépense [1949], Paris: Minuit 2007, S. 168. 45 Vgl. F. Gugelot: La conversion des intellectuels, S. 416f. 46 Nationalismus und Katholizismus erweisen sich dabei als verwoben sowie jedoch zugleich im Widerstreit begriffen: »[D]e toute évidence l’Action française poursuit la besogne la plus nettement anticatholique qui se puisse rêver […] en substituant le culte de la Patrie au culte de Dieu […].« (Jacques Rivière: »Catholicisme et nationalisme« [1919], in: Pierre Hebey [Hg.], L’Ésprit NRF [1908-1940], Paris: Gallimard 1990, S. 260.) 47 Vgl. W. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 177. Léon Gambetta fasst dies in der sprechenden Formel: »N’en parlons jamais, pensons-y toujours.« (ebd.) 48 Vgl. William Fortescue: The Third Republic in France, 1870-1940. Conflicts and Continuities, London/New York: Routledge 2000, S. 136.
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Dame de Rheims der Isotopie von Jugend und Glauben gegenübergestellt wird. Allerdings lässt der Text noch eine weitere Lesart zu, die auch der darin ausagierten Ambivalenz von Geburt bzw. Wiedergeburt Rechnung trägt. In dieser Hinsicht ist nach der Bedeutung der Verkörperungslogik im Text zu fragen, die in der metaphorischen Kette Kathedrale-Jeanne/Maria-France zum Tragen kommt. Eine Nation bzw. ein Staatsgebilde als Körper vorzustellen, ist wahrlich kein neues Phänomen. Allerdings wird es von neuem brisant, wenn ein bisher autoritär-monarchisch geführter Staat neue Bilder für eine neue Staatsform zu verhandeln hat. Fehlt der König als Kopf des Staatskörpers, wird die Allegorie des Staatskörpers selbst prekär. Philip Manow hat gezeigt, dass die Vorstellung eines demokratischen Volkskörpers starke Anleihen bei monarchischen Repräsentationen des Staates macht. Auf dieser strukturellen Ebene herrscht Kontinuität zwischen der Ordnung des Ancien Régime, die im Körper des Königs sein sakrales Haupt hatte, und der profanen republikanischen Demokratie.49 Inhaltlich jedoch hat sich der Wind gedreht: Die Demokratie versichert sich daher im Ritual der Wahl – nicht im Ritual der Salbung – ihres eigenen Ursprungs. Die Wahl bildet die vergängliche Emergenz des souveränen Volkes und wiederholt die Logik der Diskontinuität von Herrschaft, für die am Anfang der Französischen Republik das buchstäbliche Abschneiden der dynastisch-monarchischen Herrschaft stand. Aus konservativer Sicht ist die Republik deshalb immer schon ein Monstrum aus Leichenteilen, und nach der Niederlage gegen Deutschland müssen für diese ›doppelte Leiche Frankreich‹ neue Symbole und neue Rituale etabliert werden. Es verwundert kaum, dass gerade die Dritte Republik den eigenen Volkskörper in Isotopien von Ganzheit und Zerstückelung50 ausphantasiert. Deren »poetische Logik« ist nicht ›unschuldig‹, sie gewinnt eine dezidiert politische Dimension; ihre eingekapselten Mythen müssen, so Manow, freigelegt werden.51 Fehlt die eingängige Allegorie des Königs als Verkörperung des Staates (»L’État, c’est moi«), so fehlt auch ein affektives Bündnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft: »l’Etat, et même la Nation, ou la Patrie, sont des enti-
49 Vgl. Philip Manow: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, bes. S. 104-109; sowie zur »Restauration silencieuse« Nicolas Charbonneau/Laurent Guimier: Le roi est mort? Vive le roi! Enquête au cœur de notre monarchie républicaine, Paris: Michalon 2006. 50 »Nach dem Tod des Königs sammelten sie [die Revolutionäre, K.P.] nun die verstreuten Körperteile des politischen Körpers ein und setzten nach ihren Vorstellungen den ›Artificiall Man‹ neu zusammen.« (P. Manow: Im Schatten des Königs, S. 103.) 51 Vgl. ebd., S. 115 u. S. 118.
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tés trop abstraites pour parler à l’imagination et échauffer un sentiment«; es müssen andere »ressources de l’affectivité«52 geschaffen werden. Dies geschieht nicht nur bei Bataille in Gestalt einer Personifizierung der Nation zum weiblichen Körper. Dieses weibliche Frankreich kann jeden einzelnen Franzosen direkt ›anrufen‹ – so wie es in der internalisierten Vision der nationalen Ganzheit bei Bataille durchgespielt wird. Über diese Geschlechtlichkeit der Nation herrscht in der Forschung allerdings Uneinigkeit. Dass die Frau in der Republik als symbolische Repräsentation der idealen Staatsform eingesetzt wird, erweist sich als Konsens, der Bedeutung des eindeutig gewählten Gender, eines »sexe des Nations«, dagegen wird von mancher Seite skeptisch begegnet.53 Andererseits verrät gerade dieses weiblich bestimmte politische Geschlecht das psychopathologische Moment nationalistischer Ideologie. Jean-Louis Maisonneuve betont, dass die metonymische Kette einer Solidaritätsgemeinschaft, die den »corps de la mère« mit Blut und Boden, der Familie, und schließlich der »Nation ou la Patrie« oder Rasse verbindet, auf das affektive Moment des »tout est mère« setzt und dies mit der Sehnsucht nach einer starken Vater- bzw. Führerfigur verbindet.54 War die Nation früher mit dem König verheiratet, so ist die demokratische Moderne entweder grundsätzlich verwaist, auf der Suche nach einem neuen nationalen Vater oder wünscht sich wie die Action française den König55 selbst wieder herbei.
52 Jean-Louis Maisonneuve: L’Extrême-droite sur le divan. Psychanalyse d’une famille politique, Paris: Imago 1992, S. 42. 53 »Le sexe des Nations! … à suivre cette piste, on voit les belles promenades que l’on se promettrait dans la forêt des méditations socio-psychanalytiques. Nous avouons ne pas trop y croire, craignant que l’application au collectif des catégories de la psychologie individuelle ne mène à l’erreur de prendre des métaphores pour des réalités.« (Maurice Agulhon: Marianne au combat. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1789 à 1880, Paris: Flammarion 1979, S. 236.) 54 Vgl. die bildliche Darstellung bei J.-L. Maisonneuve: L’Extrême-droite sur le divan, S. 56; sowie daneben die folgenden Ausführungen: »la théorie du corps social, conçue par l’extrême droite, reconstitue à partir de la terre ancestrale et le corps maternel toute la hiérarchie des communautés chargées de continuer la fonction maternelle: protéger, nourrir et attaches les individus«. (Ebd., S. 72.) 55 Die attente monarchique der Dritten Republik stellt ein entscheidendes Zeitphänomen dar. Im Jahr 1871 schien die Restauration für kurze Zeit zum Greifen nah, als die von Monarchisten dominierte Nationalversammlung die Verbannung der Bourbonen aus Frankreich aufhob. Heinrich, Duc de Bourdeaux und Comte de Chambord, sprach damals von seinem Opferwillen, um die Nation aus den Ruinen wieder auferstehen zu lassen, und beruft sich dabei auf die Standarte Heinrichs IV, Franz I und Jeanne
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Der demokratische Staatskörper stellt sich also als ein vielgliedriger und zunächst problematischer makroanthropos dar. Daher wird in der politischen Mythologie der Republik immer wieder die Frau als Hypotypose56 einer imagined community57 bzw. ihrer Gründung eingesetzt, eine Metapher, die das Abstraktum eines begehrenswerten Mutterlandes sinnlich vorstellbar macht. Die Versinnbildlichung der Nation zum Frauenkörper, der jungfräulich bleiben oder geschändet werden kann, ist seit der Antike ein zentrales Element des sozialen Imaginären. Schon in den Gründungsmythen der römischen Polis spiegelt sich der republikanische Männerbund »in Bildern des unversehrten weiblichen Geschlechtskörpers«58. Dabei spielt aber wider Erwarten das Opfer dieses Körpers die wichtigste Rolle. Denn die männliche Republik (re-)integriert sich nicht nur über den jungfräulichen, sondern – etwa im Falle des Lukrezia-Mythos – vor allem über den toten Körper der Frau. Eine berühmte Variante dieses toten Frauenkörpers hat Émile Zola in Nana (1880) ausphantasiert. Am Ende des Romans wird der von Krankheit zerfressene Leichnam der Prostituierten Nana detailgenau beschrieben, ein Körper, der zuvor sinnbildlich für die zerstörerische Verschwendungssucht des Zweiten Kaiserreichs stand. Begleitet wird der Abschied von Nana durch die kriegstreiberische Euphorie der Soldaten, die sich 1870 in Paris zum Schlachtfeld aufmachen. Dem zeitgenössischen Leser muss ihr Schlachtruf »À Berlin!« bitter aufgestoßen sein, denn die Soldaten ziehen in die Niederlage. Im zerstörten Frauenkörper klingt der zerstörte Nationalkörper bereits an: »Un œil, celui de gauche, avait complètement sombré dans le bouillonnement de la purulence; l’autre, à demi ouvert, s’enfonçait, comme un trou noir et gâté. Le nez suppurait encore. Toute une croûte rougeâtre partait d’une joue, envahissait la bouche, qu’elle tirait
d’Arcs, mit der schon einmal die nationale Einheit hergestellt worden sei: »I received this standard as a sacred trust from the old king, my grandfather, dying in exile. For me, the standard has always been inseparable from the absent fatherland; it flew over my cradle, and I want it to cover my tomb.« Zitiert nach W. Fortescue: The Third Republic in France, S. 25. 56 Im Begriff der symbolischen Hypotypose, der von Kant entliehen ist, fassen Albrecht Koschorke u.a. die Versinnbildlichung des sinnlich nicht Wahrnehmbaren und bes. die Vorstellung eines ›Staatskörpers‹. Vgl. Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/ Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt/M.: Fischer 2007, S. 58f. 57 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 2006. 58 A. Koschorke et al.: Der fiktive Staat, S. 38.
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dans un rire abominable. Et, sur ce masque horrible et grotesque du néant, les cheveux, les beaux cheveux, gardant leur flambée de soleil, coulaient en un ruissellement d’or. Vénus se décomposait. Il semblait que le virus pris par elle dans les ruisseaux, sur les charognes tolérées, ce ferment dont elle avait empoisonné un peuple, venait de lui remonter au visage et l’avait pourri.«59
Wie bei der Prostituierten, bei der sich die Männer des Staates die Klinke in die Hand geben, so geht es auch im »Komplex der Jungfräulichkeit«60 immer um den Männerbund und nicht um die Frau. In der glorifizierenden Wiederauferstehung der Jungfrau als buchstäblicher Metapher der Nation zeichnet der frühe Bataille die positiv besetzte utopische Geburtsszene der (wohlgemerkt männlichen) »jeunesse splendide« Frankreichs; bei Zola hingegen findet sich ihre groteske und dystopische Inversion. Denn der kriegslüsterne Mob auf den Straßen prostituiert und tötet nicht nur den eigenen Staatskörper, sondern wird auch – so die zeitgenössische Wahrnehmung – im traumatischen Deutsch-Französischen Krieg penetriert und also selbst verweiblicht. Dies schlägt in die männlich perspektivierte Sexualisierung des Volkskörpers und in einen misogynen Virilitätskult um.61 In der französischen ›Kultur der Niederlage‹ und selbst im Jungfrauenkult des Renouveau catholique offenbart sich demnach die ambivalente Symbolkraft der politischen Spannfeder zwischen Verliererdepression und neuer Euphorie:
59 Émile Zola: Nana, Paris: Gallimard 2009, S. 474f. Siehe zur darin dargestellten »disease of society« David Baguley: Naturalist Fiction. The Entropic Vision, Cambridge: Cambridge UP 1990, S. 210. Auf die bemerkenswerte Pointe, dass die Dystopie des positivistischen Naturalismus und die Utopie des anti-positivistischen Renouveau catholique damit aus der gleichen Problematik zu erwachsen scheinen, kann hier nicht näher eingegangen werden. 60 A. Koschorke et al.: Der fiktive Staat, S. 44. 61 Vgl. Karen Offen: »Exploring the Sexual Politics of Republican Nationalism«, in: Robert Tombs (Hg.), Nationhood and Nationalism in France. From Boulangism to the Great War 1889-1918, London/New York: Harper Collins Academic 1991, S. 195209. Offen spricht anlässlich der biopolitisch anmutenden Diskussion um Mutterschutz und demographisch-nationale Mutterpflichten (»reproductive servitude«, S. 206) von »sexual politics« und »feminizing nationalism« (S. 196); man könnte aber bezüglich der symbolischen Hypotypose des Volkskörpers auch von political gender sprechen. Dessen misogyne Kastrations- und Unfruchtbarkeitsangst lässt sich realiter auf die erstarkenden Emanzipationsbewegungen der Jahrhundertwende zurückführen, die den Anstieg der Anzahl arbeitender Frauen sowie den demographischen Abschwung von Geburten beförderten.
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»In allen diesen Vorstellungen figuriert die Nation als die Mutter, die, vom Vater-Tyrannen getäuscht und in die Irre geführt, im schlimmsten Falle geschändet, mit Hilfe ihrer Söhne Freiheit, Unschuld und Souveränität wiedererlangt: ein Akt der Selbstreinigung […].«62 Erst Jeanne als sich aufopfernde und jungfräuliche Vermittlerin erlaubt nach der poetischen Logik dieser nationalen Mythologie »l’union du monarque-père avec la mère patrie«63. Darin wird das fundationale Moment der Königssalbung und des christlichen Opfers, das die Gemeinschaft der Christenheit begründet, legitimiert und in der Eucharistie auf Dauer stellt, in die profane Figur einer nationalen Gründung verlagert. Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die einzelnen Metaphern des Bataille’schen Textes kontextualisierbar, sondern auch Batailles Vorstellungen des zyklischen »renouveau« sowie der herbeigesehnten Wiederkehr des goldenen Zeitalters erhalten eine neue Qualität. Denn sein Erstlingstext steht geschichtsphilosophisch und literarisch im Bann einer sujetlosen, mythischen Zeit der Gründung. Jurij M. Lotman zufolge basiert mythopoetisches Erzählen auf der Organisation von homöomorphen Elementen zu einer dichten semantischen Topologie. Auch die metaphorischen Ketten und Isotopien bzw. Binäroppositionen, aus denen Batailles Notre-Dame de Rheims komponiert ist, konstruieren ein Bild der Welt, das Sinn erzeugt und Kontingenz reduziert.64 Über seine zyklische Welt bannt dieser mythopoetische Text, der mit Jeanne in Reims die Gründungsszene der französischen Nationalgemeinschaft beschwört und auf die Gegenwart projiziert, die Erfahrung der unbeherrschbaren Moderne und insbesondere des Krieges. Umso bemerkenswerter ist jedoch, dass Bataille im Anschluss ebendiesen hier noch gedeckelten Abgrund der kontingenten Geschichte und des NichtWissens wieder aufreißen wird. Zeitgleich zur Institutionalisierung der ehemaligen Jugendbewegung des Renouveau catholique im Rahmen einer patriotischen Nationalreligion verabschiedet sich Bataille vom christlichen Mystizismus. In
62 W. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 25. 63 J.-L. Maisonneuve: L’Extrême-droite sur le divan, S. 84. Laut Maisonneuve spielt die Jungfräulichkeit Jeannes deshalb eine besondere Rolle, weil sie als androgyne und unberührte Kriegerin das Fremde ausstoßen kann, ohne selbst einen ›inzestuösen‹ Wunsch nach der Vereinigung mit der Mutter/Nation zu hegen. Sie dient in diesem Sinne als Sublimationsfigur des nationalistischen Affekts und als dessen unschuldige Doppelgängerin, weil sie den nationalen Vater und die nationale Mutter vereint, anstatt sie ödipal zu entzweien. 64 Vgl. zu den hier aufgenommenen Begriffen Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 204f.
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der Folge pflegt er die »Sehnsucht nach Transzendenz«65 im soziologischen Interesse am Rituellen, übersetzt Transzendenz sowie die heilige Erfahrung kollektiver »unité« in Immanenz sozialer Weltlichkeit und stellt die Erfahrung des materialistischen Sensualismus als Grundlage einer neuen Philosophie66 in den Mittelpunkt. An die Stelle der totlebendigen Jungfrau Jeanne tritt die obszöne, phallische Frau, wie sie insbesondere mit der göttlichen Prostituierten Madame Edwarda67 (1937) bekannt geworden ist. In seinen obszönen Texten feiert Bataille Inzest und Tod sowie den heterologischen Genuss des non-savoir (»nous ne savons rien et nous sommes dans le fond de la nuit«, ME, S. 10) als Erfahrungen der »domaine sacré« (ME, S. 9). Eine moderne Ontologie des Todes löst das Pathos der Wiederbelebung ab. Damit schreibt Bataille am Ende der Dritten Republik die Inversion seiner eigenen göttlichen Vision aus. Auf die Funktionsstelle der mythischen Sublimierung ist endgültig die obszöne Profanierung gerückt. Sie erweist sich allerdings nicht als verkappter Mystizismus und auch nicht allein als negative Theologie, sondern als eine Abkehr von der kontingenzbewältigenden politischen Mythologie der Dritten Republik.
65 V. Neumann: Die Theologie des Renouveau catholique, S. 85. 66 Vgl. bes. Georges Bataille: L’Érotisme [1957], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 10, hg. v. Denis Hollier, Paris: Gallimard 1987, S. 7-270. 67 Georges Bataille: Madame Edwarda [1937], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, hg. v. Denis Hollier, Paris: Gallimard 1971, S. 7-31. Im Folgenden im Fließtext abgekürzt mit der Sigle ME.
Der agonische Märtyrer der Moderne Miguel de Unamunos San Manuel Bueno, mártir H ÉCTOR C ANAL
Im vorliegenden Beitrag soll anhand eines Heiligen (sanctum) – und d.h. anhand der Person eines Heiligen – ein differenzierter Blick auf das Heilige (sacrum) – also das Konzept des Heiligen – präsentiert werden. San Manuel Bueno, mártir (1931), die Geschichte eines Pfarrers, der trotz seiner Glaubenszweifel paradoxerweise den Glauben und damit den Zusammenhalt seiner kleinen Gemeinde aufrechterhält, ist eine der berühmtesten Schriften Miguel de Unamunos (1864-1936). Ausgehend von diesem heftig umstrittenen Kurzroman und vor der Folie von Unamunos berühmtem philosophischen Werk Das tragische Lebensgefühl sollen drei Facetten des Heiligen (sacrum) beleuchtet werden, die vom Allgemeinen über das eher Landesspezifische bis zum Unverwechselbaren im Werk Unamunos reichen:1 1. Charisma. 2. Hierarchie. 3. Das ›tragische Lebensgefühl‹. I 1. Obwohl weder in San Manuel Bueno, mártir noch im Tragischen Lebensgefühl das Wort carisma selbst vorkommt, ist es keineswegs abwegig, vom Charisma als einem der Hauptthemen in San Manuel zu reden: Der Protagonist stellt
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Morón Arroyo zeigt, wie in San Manuel viele Themen des ganzen Werks wiederaufgegriffen werden – der Kurzroman biete ein Konzentrat von Unamunos ›System‹ und ließe sich sogar als ein Themenkatalog lesen, vgl. Ciriaco Morón Arroyo: »›San Manuel Bueno, mártir‹ y el ›sistema‹ de Unamuno«, in: Hispanic Review 32 (1964), S. 227-246.
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eine charismatische Figur dar, wenn auch nicht in Webers politischer Dimension, sondern vielmehr im Sinne der biblischen Tradition, in der das griechische Wort charisma (ȤȐȡȚıȝĮ) im Kontext der Gemeinde als »Gabe Gottes« oder »Gnadengabe« verstanden wird.2 Auch wenn für Don Manuel nicht das gleiche wie für Paulus gelten kann, da er im Gegensatz zum Apostel nicht zu glauben vermag, spendet er seiner Gemeinde Trost und kann gleichzeitig nur in der Gemeinde Trost für seinen Unglauben finden.3 2. Der Laizismus, die radikale Trennung von Kirche und Staat, die in Frankreich 1905 nicht zuletzt als Folge der affaire Dreyfus in der Gesetzgebung verankert wurde, ist der letzte konsequenteste Schritt der Säkularisierung. Gerade in einer säkularisierten Moderne ist die politisch-soziale Diskussion nicht ohne die Reflexion über die öffentliche Rolle der kirchlichen Hierarchie und ihrer Beziehung zum Staat zu denken. Die Verdrängung der Religion in die Privatsphäre, die in der Moderne konstatiert wird, geht mit einer Schwächung der Hierarchie einher. Dieses brisante Thema prägt nicht nur die Moderne, sondern auch noch die Postmoderne – gerade das katholisch geprägte Spanien wurde 2010 von Joseph Ratzinger (Benedikt XVI) als zu (re)evangelisierendes Land erklärt. Doch bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Diskussion um den Laizismus in der Öffentlichkeit kontrovers geführt, insbesondere in Ländern wie Spanien, in denen starke antiklerikale Tendenzen an den Tag treten, die aufgrund von seit Jahrhunderten geltenden Sinekuren, politischen Stellungnahmen kirchlicher Amtsträger oder Bündnissen der Kirche mit den Oligarchen und Großbesitzern gegen die leidtragenden Schichten der Bevölkerung die Stellung der Kirche in der Gesellschaft überhaupt in Frage stellen. Unamuno, der oft in nicht unge-
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Weber bringt den Begriff des Charisma aus dem religionssoziologischen Kontext in die Politik; zum Begriff der charismatischen Herrschaft vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Tübingen: Mohr 1976, S. 140ff. (§ 10). Der Kirchenhistoriker Erik Peterson bezeichnet im Jahr 1937 das Martyrium als ein Charisma, eine Gnade Gottes – der Märtyrer sei »ein Nachfolger der einzigen, der zwölf Apostel« (Erik Peterson: »Zeuge der Wahrheit«, in: Theologische Traktate, München: Kösel 1951, S. 167-224, hier S. 174). Daraus leitet Peterson die Bedeutung der Märtyrer für die Kirche ab: »Die Kirche ist auf dem Fundamente der Märtyrer erbaut« (ebd., S. 167; zu Peterson vgl. auch den Beitrag von Hendrik Rungelrath im vorliegenden Band). In San Manuel wird den Versuch der Institution Kirche kritisiert, sich des Märtyrers Don Manuel zu bemächtigen.
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Vgl. Röm. 1, 11-12. Vgl. ferner W.E. Mühlmann: »Charisma«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. I: A-C, Basel: Schwabe 1971, Sp. 996-999.
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fährliche Streitigkeiten mit der kirchlichen Hierarchie verwickelt war, widmet sich dieser Frage besonders intensiv. In San Manuel wird, so meine These, das Verhältnis zwischen dem Heiligen und der kirchlichen Hierarchie thematisiert – die Institution Kirche beansprucht für sich die Deutungsmacht über das Phänomen des Heiligen, der charismatischen Figur; Unamuno vertritt dagegen die Auffassung, die Gemeinde, das Volk sei durch die von Generation zu Generation tradierte religiöse Tradition die wahre Instanz des Heiligen – denn allein in der Gemeinde manifestiere sich das Charisma. 3. Das ›tragische Lebensgefühl‹ ist ein Unamuno-spezifisches Thema. So lautet nicht nur der Titel seiner berühmten philosophischen Schrift Del sentimiento trágico de la vida (1913), deutsch Das tragische Lebensgefühl (1925), sondern auch das Motto seines Schaffens. Es ist »letztlich die Konsequenz aus dem Widerspruch zwischen Glaubensbedürfnis und Glaubensunfähigkeit. Es ist Unamunos skeptische Antwort auf die Frage, was aus unserm individuellen Bewußtsein wird, wenn wir sterben.«4 Grundlage seiner Philosophie ist der von Pascal geprägte Dualismus Wille (auch Herz und Leben)/Vernunft.5 Demnach wäre das Lebendige antirational, und das Rationale antivital: »Das Rationale, die sogenannte Vernunft, ist eben, streng genommen, ein Feind des Lebens.«6 Die Vernunft vermag die Frage der Unsterblichkeit, die Unamuno im Kapitel ›In der Tiefe des Abgrundes‹ mit Bezug auf Kierkegaards Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift stellt, nicht zu klären:7 »Der Glaube an die Unsterblich-
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Christoph Rodiek: »Europäisierung und Modernität im Werk Miguel de Unamunos«, in: Willi Hirdt (Hg.), Europas Weg in die Moderne. Beiträge zu Friedrich Nietzsche, Dostojewskij, James Joyce, Marcel Proust, Camillo Cavour, Luigi Pirandello, Jacob Burckhardt, Arnold J. Toynbee, Sigmund Freud, John Maynard Keynes, Alfred Nobel, Miguel de Unamuno, Bonn: Bouvier 1991, S. 203-222, hier S. 205f.
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Bei Unamuno lässt sich eine intensive Pascal-Rezeption nachweisen, auch in San Manuel Bueno, mártir, vgl. dazu María C. Campos Fuentes: »›Pensées‹ de Pascal en ›San Manuel Bueno, mártir‹ de Unamuno«, in: Hispanófila 50 (2007), S. 17-26.
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Miguel de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl. Übertragung von Robert Friese mit einer Einleitung von Ernst Robert Curtius, in: Ders., Gesammelte Werke IV, hg. v. Otto Buek, München: Meyer & Jessen 1925, S. 116. »[D]ie tragischste unter allen Aufgaben der Philosophie ist jene, die Notwendigkeit des Denkens mit den Notwendigkeiten des Herzens, des Wollens zu vereinigen. Hieran scheitert jedes System, das den ewigen, tragischen Widerspruch, den tiefen Grund unseres Daseins zu überbrücken versucht« (ebd., S. 21).
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»Noch mehr: Im konkreten Problem nimmt die Vernunft überhaupt keine Stelle ein. Streng genommen, leugnet sie nicht einmal wirklich die Unsterblichkeit, was ja eine
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keit ist irrational. Und dennoch benötigen Glauben, Leben und Vernunft einander gegenseitig.«8 Es gibt laut Unamuno einen logischen, rationalen Gott, dessen Existenz mittels der Logik bewiesen werden kann, das ist der Gott der Theologen. Es gibt aber auch einen lebendigen Gott, der nicht Vernunft, sondern Schmerz, Leiden und Liebe bedeutet, das ist der Gott der Mystiker.9 Die Religion ist also von beiden Elementen durchdrungen – sie bedarf der ratio, obwohl sich Religion und Vernunft gegenseitig bekämpfen.10 Unamunos Begriff der
Lösung wäre; sie ignoriert sie vielmehr. Im rationalen und logischen Sinne des Wortes gibt es gar kein solches Problem. Das der Unsterblichkeit der Seele, der Fortdauer des Individualbewußtseins, liegt außer dem Bereich der ratio, der Vernunft. Es ist an sich und ganz abgesehen von der Lösung, die man ihm gibt, irrational« (ebd., S. 140). 8
Ebd., S. 143. Unamuno, der selbst erklärte, er sei stark von Kierkegaard beeinflusst gewesen, lernte sogar Dänisch, um ihn im Original zu lesen und zu übersetzen. Zum Einfluss Kierkegaards – bei ihm zeichnet sich keine unversöhnliche Trennung von Glauben und Vernunft wie bei Unamuno ab – vgl. Jesús-Antonio Collado: Kierkegaard y Unamuno. La existencia religiosa, Madrid: Gredos 1962, bes. S. 436-447; Dezsö Csejtei: »The Knight of Faith on Spanish Land. Kierkegaard and Unamuno«, in: Letras peninsulares 13 (2001), S. 707-723. Evans weist auf die Verweise Unamunos zu Kierkegaards Entweder – Oder im Prolog von San Manuel hin, vgl. Jan E. Evans: Unamuno and Kierkegaard. Paths to Selfhood in Fiction, Lanham: Lexington Books 2005, S. 87-98, bes. S. 89ff.
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»Jede vernunftgemäße Auffassung Gottes ist in sich selbst widersprechend. Der Glaube an Gott entspringt aus der Liebe zu ihm – wir glauben, daß er sei, weil wir wünschen, daß er sei – oder er entspringt vielleicht ebensosehr aus Gottes eigener Liebe zu uns. Die Vernunft beweist uns nicht, daß Gott existiere – aber auch ebenso wenig, daß er nicht existieren könne!« (M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 192). Im Kapitel ›Vom Göttlichen zu Gott‹ wird der Gott der Mystiker beschrieben: »Nur zu dem lebendigen, menschlichen Gott gelangt man nicht durch die Vernunft. Die Vernunft entfernt uns sogar eher von ihm. Man kann nicht Gott erkennen, um ihn zu lieben. Man muß ihn zuerst lieben und nach ihm dürsten, ehe man ihn kennenlernt« (ebd., S. 214). Zur Mystik in Unamunos Philosophie vgl. Mario Secchi: »La filosofía de Unamuno. Implicaciones y derivaciones místicas«, in: Cuadernos Cátedra Miguel de Unamuno 33 (1998), S. 81-94.
10 »Vernunft und Glauben sind Feinde, von denen sich keiner ohne den anderen erhalten kann. Das Irrationale fordert Rationalisierung, und die Vernunft kann nur das Irrationale wirken. Sie müssen sich miteinander verbinden. Dies aber im Kampfe, wie ja der Kampf schon eine Art von Verbindung ist« (M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 144).
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agonía ist nicht spezifisch als Todeskampf, sondern vielmehr in der ursprünglichen Bedeutung des altgriechischen agon als Kampf zu verstehen. Daher lautet der Titel des vorliegenden Aufsatzes Der agonische Märtyrer der Moderne. Die Agonie als Kampf erhält in Das tragische Lebensgefühl eine große Relevanz als allgemeine Disposition des Menschen:11 »Ein einträchtiges Verhältnis von Vernunft und Leben, von Philosophie und Religion ist auf Dauer unmöglich. Die tragische Geschichte des menschlichen Denkens ist eine Geschichte des Kampfes der Vernunft gegen das Leben, wobei die Vernunft das Leben rationalisiert, es dazu bringt, sich ins Unvermeidliche, in die Sterblichkeit, zu schicken, während das Leben dagegen am Werke ist, die Vernunft zu verlebendigen, sie zur Stütze seiner Lebenswünsche zu machen. Und dieses alles ist die von der Geschichte der Religion untrennbare Geschichte der Philosophie.«12
Zwischen der Vernunft und dem Herzen zerrissen, weiß der moderne Mensch um das unauflösliche Problem des Todes und die Frage der Unsterblichkeit der Seele; der Mensch nach dem ›Tod Gottes‹ ist der unaufhörlichen Agonie, dem immerwährenden Kampf ausgeliefert.13 Unamuno bringt die Verzweiflung des ›tragischen Lebensgefühls‹ mithilfe eines Zitats aus Senancours Obermann (1804) auf den Punkt: »Der Mensch ist vergänglich. – Kann sein, aber lasst uns nicht widerstandslos vergehen, und wenn das Nichts doch unser Los ist, so sollten wir nicht so tun, als sei dies eine Gerechtigkeit.«14 Unamuno wandelt diesen Spruch ins Positive: »›Und ist das Nichts unser Los, so wollen wir also handeln, daß es zur Ungerechtigkeit an uns wird.‹ Hiermit wäre dann die einzig feste Grundlage alles Handelns für jeden gegeben, der kein Dogmatiker sein will oder
11 Auch in seiner Schrift La agonía del cristianismo (1930), 1924 im Exil entstanden und zunächst auf Französisch (1925) erschienen (deutsch Die Agonie des Christentums, 1928) wird die Bedeutung von Agonie als Kampf thematisiert. 12 M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 148f. 13 Und Unamuno lehnt ausdrücklich jedes Schmerzmittel gegen die Zerrissenheit des Menschen ab, sondern fordert ganz im Gegenteil: »Man muß nicht Opium nehmen, man soll Essig und Salz in die Wunden der Seele streuen« (ebd., S. 353). 14 Übersetzung des Verfassers, die Stelle lautet im Original: »L’homme est périssable. – Il se peut; mais périssons en résistant, et, si le néant nous est réservé, ne faisons pas que ce soit une justice« (Étienne P. de Senancour: Obermann. Bd. 2, Paris: Gustave Michaut 1913, S. 231). Zu Unamunos Obermann-Rezeption vgl. Émile Martel: »Lecturas francesas de Unamuno: Senancour«, in: Cuadernos Cátedra Miguel de Unamuno 14-15 (1964), S. 85-96.
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kann.«15 Die Alternative, das menschliche Schicksal mit Resignation hinzunehmen, die Unamuno am Beispiel Calderóns darstellt, bleibt dem modernen Menschen verschlossen, besonders dem gebildeten.16 Unamuno, der selbst in sein Tagebuch notiert, dass er Bücher schreibe und Kinder zeuge, um gegen die Sterblichkeit zu kämpfen, stilisiert diese Agonie als einen aussichtlosen Kampf gegen den Tod, einen Quijoten-Kampf, der dennoch geführt werden muss: »Mit einem Worte, ob nun mit oder gegen die Vernunft, – ich habe keine Lust zum Sterben. Und wenn ich schließlich sterbe, so habe ich doch, wenn es soweit ist, nicht selbst meinen Tod bewirkt, habe mich nicht sterben lassen, sondern es hat mich das Schicksal der Menschen getötet. Da ich nie dahin kommen werde, den Kopf oder, besser gesagt, das Herz zu verlieren, so werde ich mich nicht vom Leben scheiden; es wird mich entlassen.«17
Der Wunsch nach Transzendenz, nach einem Leben nach dem Tod ist die Grundlage der meisten abendländischen Religionen. Das Leben des Christentums entspringt, Unamuno zufolge, dem Tod. Unamunos agonische Einstellung ist unter diesem Aspekt dezidiert antichristlich.18 Das ist sicherlich einer der Gründe, weshalb Das tragische Lebensgefühl 1957 auf dem Index libri prohibitorum stand.19 II Die erste Ausgabe von San Manuel Bueno, mártir wurde am 13. März 1931 in der Zeitschrift La Novela de Hoy veröffentlicht. 1933 erschien, zusammen mit
15 M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 328. 16 »Und doch ist heute, wenigstens für die intellektuellen Gläubigen, der Glaube wirklich vor allem das Bedürfnis nach Gottes Dasein« (ebd., S. 242). 17 Ebd., S. 166; vgl. auch ebd., S. 319. 18 Die Frage, ob Unamuno gläubig war oder nicht, die Gegenstand virulenter Diskussionen wurde, steht nicht im Fokus dieser Untersuchung, vgl. dazu die Übersicht Armand F. Baker: »Unamuno and the Religion of Uncertainty«, in: Hispanic Review 58 (1990), S. 37-56. 19 Zu den Attacken der katholischen Kirche in der Nachkriegszeit auf Unamuno, die in der Indexierung seiner Werke gipfelten, vgl. Pedro Ribas Ribas: »La recepción de Unamuno en la España de 1940 a 1980«, in: Ana Chaguaceda Toledano (Hg.), Miguel de Unamuno. Estudios sobre su obra IV, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 2009, S. 293-312.
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drei weiteren Erzählungen, die Ausgabe letzter Hand – diese leicht überarbeitete Ausgabe wurde mit einem Vorwort des Autors versehen, das in der Forschung leider oft außer Acht gelassen wird.20 Darin bestätigt er den von Gregorio Marañón in einer Rezension geäußerten Eindruck der Kohärenz von philosophischem und belletristischem Werk, indem er den Kurzroman explizit mit seinem bedeutendsten philosophischen Werk verbindet: »Ich habe in diesem Roman mein ganzes tragisches Lebensgefühl des Alltags ausgedrückt.«21 San Manuel ist ein Spätwerk, das nicht in den deutschen Gesammelten Werken (1925-28) enthalten ist und erst später mehrfach übersetzt wurde – leider gibt jedoch keine der drei deutschen Übersetzungen das bedeutsame Vorwort wieder.22 Die meisten Interpretationen von San Manuel zielen auf die Deutung dieses Textes im Verhältnis zum restlichen Werk, was aufgrund von Unamunos häufigen Widersprüchen und Meinungsprüngen nicht unproblematisch ist. Die von der älteren Forschung vertretene These, die eine konservative, ja reaktionäre Wende im Spätwerk Unamunos konstatieren möchte – in San Manuel, im krassen Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten, ergreife Unamuno Partei für die privilegierten Schichten und zeige Reue für seine jahrzehntelange Polemik gegen die katholische Kirche in Spanien –, wurde inzwischen revidiert.23 Ich vertrete eine ironische Lektüre von
20 Manche nach Unamunos Tod erschienenen Ausgaben nehmen eine Kapiteleinteilung vor, die vom Autor nicht vorgesehen war, die meisten dieser Ausgaben beinhalten nicht die drei dazugehörigen Erzählungen und geben das Vorwort nicht bzw. nur partiell wieder. Das Vorwort bietet wichtige Hinweise für die Lektüre des Werkes. Zu der Doppeldeutigkeit und Unamunos conceptismo im Vorwort sowie zur nicht immer vorbildlichen editorischen Praxis seiner Schriften, vgl. Bénédicte Vauthier: »Huellas del ideario (religioso) krausista en San Manuel Bueno, Mártir de Miguel de Unamuno«, in: Cuadernos Cátedra Miguel de Unamuno 33 (1998), S. 145-189, bes. S. 149-152. 21 Miguel de Unamuno: San Manuel Bueno, mártir y tres historias más, Madrid: EspasaCalpe 1969, S. 9f. (Übersetzung des Verf.). Im Prolog hebt Unamuno die Unterscheidung zwischen seinem belletristischen und seinem philosophischen bzw. theologischen Werk auf. 22 Vgl. San Manuel der Gute. Erzählung, übers. v. Doris Deinhard, Frankfurt/M.: Insel 1961; San Manuel Bueno, mártir/San Manuel Bueno, Märtyrer (spanisch/deutsch), übers. v. Erna Brandenberger, Stuttgart: Reclam 1987 [in diesem Beitrag wird aus dieser Ausgabe mit Angabe der Seitenzahl im Fließtext zitiert]; Das Martyrium des San Manuel. Drei Geschichten zur Unsterblichkeit, Berlin: Ullstein 1998 (darin: »San Manuel Bueno, Märtyrer«, übers. v. Wilhelm Muster, S. 7-48). 23 Vgl. Antonio Regalado García: El siervo y el señor. La dialéctica agónica de Miguel de Unamuno, Madrid: Gredos 1968, S. 202-213. Unter anderen behauptet Regalado,
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San Manuel, die jene drei am Eingang dieses Aufsatzes genannten Aspekte miteinbezieht und somit Unamunos Kampf gegen die Institution Kirche, die Notwendigkeit einer im Volk verankerten Tradition sowie die Rolle einer vom ›tragischen Lebensgefühl‹ getriebenen charismatischen Figur aufzeigt. Bereits in Ángela Carballinos erstem Satz, in dem die Ich-Erzählerin24 den Protagonisten und den Ort der Handlung einführt, werden dem Leser einige Schlüssel zum Verständnis des Kurzromans präsentiert: »Jetzt, da der Bischof der Diözese Renada, zu der dieses mein geliebtes Dorf Valverde de Lucerna gehört, sich anschickt, wie es heißt, den Heiligsprechungsprozeß25 für unsern Don Manuel, oder besser gesagt, San Manuel Bueno, welcher in dieser Gemeinde Pfarrer war, in die Wege zu leiten, will ich hier in einer Art Bekenntnis – und Gott allein, nicht ich, weiß, was es bewirken wird – alles festhalten, was ich von dem matriarchalen Mann weiß und im Gedächtnis habe […].«26 (5)
Das Thema der kirchliche Hierarchie wird gleich angesprochen: In der katholischen Kirche ist die Seligsprechung der erste Schritt zu einer Heiligsprechung.
dass Unamuno ein mittelalterliches Spanien brauche, um seinen Durst nach Unsterblichkeit zu lindern (S. 204); Don Manuel raube dem Dorf seine Freiheit, um eine Theokratie zu etablieren (S. 206). Eine andere Interpretationslinie, derzufolge Unamuno den Kampf aufgegeben und eine kontemplative Haltung eingenommen habe (vgl. Carlos Blanco Aguinaga: »Sobre la complejidad de ›San Manuel Bueno, mártir‹, novela«, in: Nueva revista de filología hispánica 15 [1961], S. 569-588, bes. S. 571), wurde ebenso revidiert. 24 Im Nachwort erklärt der auktoriale Erzähler, der »archimensajero« (Erzbote) Miguel de Unamuno, er habe die Aufzeichnungen von Ángela Carballino gefunden und gebe sie bloß wieder. Allerdings gibt der auktorialer Erzähler zu, »Einzelheiten« verbessert zu haben, vgl. dazu Mario A. Ortiz: »San Manuel Bueno Mártir. Divina novela de Miguel der Unamuno, archimensajero«, in: Letras peninsulares 13 (2001), S. 725-738. 25 Brandenberger übersetzt ungenau beatificación (Seligsprechung) mit Heiligsprechung. 26 Zum Namen Renada, der sowohl die Möglichkeit von res=nada (einer Fusion des katalanischen mit dem kastilischen Wort nichts) als auch die weniger wahrscheinliche Assoziation renacido (wiedergeboren) ermögliche, vgl. Gayana Jurkevich: The Elusive Self. Achetypal Approaches to the Novels of Miguel de Unamuno, Columbia, London 1991, S. 134f. Blanco Aguinaga weist zu Recht auch auf die mögliche Lesart renada (doppeltes Nichts) hin. Außerdem bietet er eine eindrückliche Analyse von der täuschenden Einfachheit der Prosa in San Manuel, vgl. C. Blanco Aguinaga: »Sobre la complejidad de ›San Manuel Bueno, mártir‹, novela«.
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Der Bischof, Vertreter der Hierarchie Roms, muss prüfen, ob das Leben des Don Manuel für eine Heiligsprechung taugt. Diese Prüfung scheint allerdings für das Volk, für das Dorf nicht notwendig, denn Don Manuel wird, wie der erste Satz deutlich macht, von der Gemeinde bereits als San Manuel verehrt. Das Dorf hat ihn schon längst heiliggesprochen: Die Diskrepanz zwischen der Institution Kirche und der populären Religion tritt eklatant zutage. Auch das Wort »Beichte« kommt gerade an zentralen Stellen oft im Laufe der Handlung vor, dabei werden alle Nuancen von confesión (lat. confessio) in der kollektiven und in der individuellen Sphäre als Bekenntnis, Geständnis und Beichte durchgespielt. Die religiös aufgeladene Sprache in San Manuel wird über die vielen Bibelzitate hinaus vor allem durch die theologische Symbolik der Figuren-Namen verstärkt.27 Mit einer Unamuno-typischen Wendung wird Don Manuel mit dem Oxymoron »matriarchalische[r] Mann« beschrieben, um dessen Heterodoxie zu unterstreichen.28 Als ihre erste Erinnerung an Don Manuel berichtet Ángela, die Hauptthemen des Romans vorstellend, dass er sich gegen ein vielversprechendes klerikales Amt und für sein Dorf entschieden habe, sodass er »Angebote für eine glänzende kirchliche Laufbahn aber ausgeschlagen habe, da er nur für sein Valverde de Lucerna da sein wollte, für das Dörfchen, das wie eine verlorene Brosche am See liegt, am Fuß des Berges, der sich darin spiegelt« (11). Der Gegensatz zwischen kirchlicher Hierarchie und dem pueblo (dieses Wort bedeutet gleichzeitig Dorf und Volk) wird anhand von Don Manuels Alternative angesprochen und zum ersten Mal die Landschaft um Valverde de Lucerna beschworen.29 Gleichzeitig
27 Der Name Ángela etwa erweist seine Trägerin als Schutzengel für die anderen Figuren und für das Dorf, Lázaro (»Gott hat geholfen«) steht für die Wiederauferstehung und Manuel (»Gott mit uns«) für die Verbindung zu Christus. 28 Zu einer weiterführenden Interpretation dieses Ausdrucks vgl. Ciriaco Morón Arroyo: »Novela y pensamiento. ›San Manuel Bueno, mártir‹«, in: Ana Chaguaceda Toledano (Hg.), Miguel de Unamuno. Estudios sobre su obra I, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 2003, S. 153-162, bes. S. 161. 29 Aus praktischen Gründen sei in diesem Aufsatz nur en passant auf die große Bedeutung der Landschaft in San Manuel hingewiesen, die eine reale Inspiration hat, vgl. dazu Ricardo Gullón: Autobiografías de Unamuno, Madrid: Gredos 1964, S. 334-340; Mary R. Strezeszewski: The Writer in the Landscape. Authorial Self-Representation and Literary Form in the Landscape Writings of Unamuno and Azorín, Potomac: Scripta humanistica 2006, S. 139-141. Im Rahmen seiner alten »poetischen Transhumanz« auf dem Land zeigt sich Unamuno vom Besuch des Sanabria-Sees im Juli 1930 tief beeindruckt, vgl. Pedro Cerezo Galán: Las máscaras de lo trágico. Filosofía y tra-
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wird das Thema vom Leben und vom Tod eingeführt, das zentral im Tragischen Lebensgefühl war und in San Manuel ein immer wiederkehrendes Leitmotiv ist: »Wie er doch die Seinen liebte! Er lebte nur dafür, zerrüttete Ehen wieder zusammenzubringen, widerspenstige Kinder mit ihren Eltern und Eltern mit ihren Kindern zu versöhnen, hauptsächlich aber um Verbitterte und Lebensmüde zu trösten und allen beizustehen, damit sie ruhig sterben konnten.« (11)
Der Dorfpfarrer übt eine mächtige Wirkung auf die kleine Gemeinde aus und wird von allen Mitgliedern respektiert und geschätzt. Don Manuel ist eine charismatische Figur, die nicht führt; Don Manuel leitet nicht die Gemeinde, er begleitet und tröstet sie – es handelt sich nicht nur um ein religiöses, sondern auch um ein originäres Charisma, das die nachapostolische Unterscheidung zwischen Charisma und Amt nicht kennt. Don Manuels Charisma beruht allerdings nicht ausschließlich auf seinem Amt als Priester, wie es in Webers Konzeption des Amtscharismas beschrieben wird, sondern auch auf seinen persönlichen Qualitäten:30 Neben einer Aufzählung seiner Wunder wird berichtet, dass Don Manuel nie gegen Atheisten, Freimaurer, oder Ketzer gepredigt habe. Für einen spanischen Pfarrer dieser Zeit ist dies befremdlich, wie die Fehden Unamunos gegen die Institution Kirche bezeugen. Indem Don Manuel sich politisch neutral zeigt und sich nicht in weltliche Angelegenheiten einmischt, sondern sich bloß für das Wohl seiner Gemeinde einsetzt, wird dem zeitgenössischen Leser klar, dass es sich hier um eine Ausnahmeerscheinung handelt.31 Don Manuel passt sich der Hierarchie nicht an und bedient sich nicht seines Charismas, um daraus
gedia en Miguel de Unamuno, Madrid: Trotta 1996, S. 714. Vom Besuch veranlasst, verfasste er ein Gedicht zur Legende vom verlorenen Dorf Valverde de Lucerna, vgl. Colette Rabaté/Jean-Claude Rabaté: Miguel de Unamuno. Biografía, Madrid: Taurus 2009, S. 563. 30 Weber nennt »[d]as priesterliche Charisma« als das Paradebeispiel für Amtscharisma. Allerdings üben die persönlichen Eigenschaften Don Manuels unabhängig von seinem Amt eine so mächtige Wirkung auf die Gemeinde aus, dass diese Figur sich nicht mit dem für Weber entscheidenden Merkmal des Amtscharismas erklären lässt, nämlich der »Loslösung der amtscharismatischen Fähigkeiten von den Qualitäten der Person des Priesters« (M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 144f. [§ 11]). 31 Die Tatsache, dass Don Manuel die Einrichtung einer Gewerkschaft nicht unterstützt (vgl. 69), ist nicht als Zeichen eines angeblichen Konservatismus zu deuten, sondern vielmehr als Plädoyer für die Trennung zwischen weltlichen und geistlichen Angelegenheiten, für die Nicht-Einmischung der Kirche in die Politik.
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einen Vorteil für sich oder für die Institution Kirche zu schlagen.32 Don Manuel führt in das Ritual des Gottesdiensts eine gemeinsame Übung ein, sodass die ganze versammelte Gemeinde gemeinsam laut betet: »›Ich glaube an Gott Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erde …‹ und so weiter. Es war kein Chor, sondern eine einzige Stimme, eine einfache und einige Stimme, in der alle ineinander verschmolzen […]. Wenn wir zu der Stelle kamen: ›Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben‹, tauchte Don Manuels Stimme in die der Gemeinde ein wie in einen See, denn nun schwieg er.« (19)
Dieser Textabschnitt wirft einige Rätsel auf: Wieso schweigt Don Manuel eben an dieser Stelle? Braucht er einfach nicht mehr zu reden, weil sich das ganze Dorf an dem Gebet beteiligt? Oder möchte er sich etwa nicht mit dem Volk identifizieren? Indem Don Manuel schweigt, deutet sich an, dass er nicht an die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben glaubt – diese beiden Dogmen bilden für Unamuno das Zentrum der christlichen Lehre. Don Manuel glaubt vielmehr an etwas anders: an das Nichts. In San Manuel wird das Nichts durch den See symbolisiert, der zum Selbstmord verführt.33 Im Anblick des Nichts besteht das Martyrium des San Manuel. Don Manuels nihilistische Einstellung wird umso deutlicher in seiner Antwort auf Ángelas Frage: »Welches ist unsere Sünde, Herr Pfarrer?« Er erwidert:
32 Die physische Beschreibung des Protagonisten erinnert an Don Quijote; dieser Eindruck wird durch Don Manuels Familiennamen bekräftigt, da auch Alonso Quijano el Bueno genannt wurde. In dem Kapitel ›La tentación nadista‹ stellt Cerezo Galán den Vergleich zwischen den Figuren Don Manuel und Don Quijote an, vgl. P. Cerezo Galán: Las máscaras de lo trágico, S. 714-733. Unamuno selbst legt im Prolog diese Verbindung nahe, indem er beiden Figuren ein Quijoten-Martyrium zuschreibt: »Y no quiero aquí comentar ya más ni el martirio de Don Quijote ni el de Don Manuel Bueno, martirios quijotescos los dos« (Miguel de Unamuno: San Manuel Bueno, mártir, S. 20). 33 Zu Don Manuels Selbstmordversuchung siehe S. 63. Zum Nihilismus in San Manuel vgl. P. Cerezo Galán: Las máscaras de lo trágico, S. 721. Der Nihilismus kommt im autobiographischen und experimentellen Werk Cómo se hace una novela (1927) am deutlichsten zum Vorschein. Unamuno prägte den Begriff nadismo anstatt der üblichen Bezeichnung nihilismo, um eine spezifisch spanische Lebenseinstellung, die bereits in San Juan vom Kreuze oder Velázquez vorhanden war, besser zum Ausdruck zu bringen, vgl. dazu Armando Savignano: »Filosofía y religión en Unamuno: El nadismo«, in: Cuadernos Cátedra Miguel de Unamuno (2010), S. 107-116.
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»[D]as hat schon ein großer spanischer Gelehrter der katholischen und apostolischen Kirche gesagt, das hat schon der Dichter von ›Das Leben ein Traum‹ gesagt, nämlich: ›die größte Schuld des Menschen ist geboren zu sein‹. Das, meine Tochter, ist unsere Sünde: geboren zu sein.« (75)
Der Hinweis auf Calderón – es ist nicht der einzige in San Manuel – verrät erstens Unamunos Emphase des spezifisch spanischen Charakters seiner Erörterungen und zweitens die Ansicht, die Literatur spiegele die theologische Lehre in einer für das Volk verständlichen Form wider. Eine neue Figur tritt in Ángelas Erzählung, ihr aus Amerika zurückgekehrter Bruder Lázaro. Aufgeklärt und antiklerikal, nimmt er sogleich eine eindeutige Position gegen Don Manuel ein: Pfarrer wie er seien Beispiel »für die finstere Theokratie, in der Spanien begraben« (41) sei und die den sozialen und ökonomischen Fortschritt verhindere. Lázaros Eintreffen in Valverde de Lucerna erinnert an den Auftritt des ›tollen Menschen‹ bei Nietzsche – eigentlich würde Lázaro am liebsten den ›Tod Gottes‹ ankündigen.34 Don Manuel sieht in Lázaro eine Unruhequelle für das Dorf und nimmt sich seiner an. Die beiden Männer gehen oft zusammen spazieren und führen dabei lange Gespräche, langsam entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen. Lázaro begreift schnell, dass Don Manuel doch einen positiven Einfluss auf das Dorf ausübt, das ihn braucht. Gleichzeitig entdeckt er Don Manuels Schwachstelle: »›Ja, das ist etwas anderes‹, sagte er zu mir, nachdem er ihn gehört hatte, ›er ist nicht wie die andern, aber mir macht er nichts vor; er ist zu gescheit, um alles zu glauben, was er zu lehren hat‹.« (43) Lázaro fängt an, regelmäßig am Gottesdienst teilzunehmen und nach einiger Zeit, zur großen Freude seiner Schwester, will er sogar die Kommunion empfangen. Die Zeremonie findet vor der versammelten Gemeinde statt, die sich glücklich über die Bekehrung des schwarzen Schafes zeigt. In einer Beichtszene verrät Lázaro seiner Schwester die wahren Gründe seiner vermeintlichen Bekehrung: Don Manuel habe ihn davon überzeugt, ein gutes Beispiel für das einfache Volk zu werden und einen Beitrag für das Zusammenleben der Gemeinde zu leisten. Letztendlich solle er nur so tun, als ob er glauben würde. Don Manuel habe aber niemals versucht, ihn zu bekehren – durch ihren Bruder erfährt endlich Ángela das Geheimnis des Pfarrers:
34 Unamuno setzte sich intensiv mit Nietzsches Werk auseinander und verfasste sogar ein Sonett an ihn, vgl. dazu Armando López Castro: El rostro en el espejo. Lecturas de Unamuno, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca 2010, S. 137-153.
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»Wenn ich nämlich zu ihm sagte: ›Aber raten Sie mir tatsächlich, Sie als Pfarrer, daß ich den Leuten etwas vorspielen solle?‹, stammelte er: ›Vorspielen? Nein, nicht vorspielen! Das ist nicht vorspielen! Nimm Weihwasser, hat einmal jemand gesagt, und mit der Zeit wirst du gläubig.‹ Als ich ihm nun fest in die Augen schaute und zu ihm sagte: ›Und Sie, sind Sie durch das Messelesen mit der Zeit gläubig geworden?‹ wandte er den Blick zum See hinunter, und seine Augen füllten sich mit Tränen. So habe ich ihm sein Geheimnis entrissen.« (51-53)
Don Manuel glaubt nicht an die Doktrin, die er predigt. Dieser Widerspruch zwischen seiner Stellung, seiner Pflicht als Pfarrer und seinem Skeptizismus ist sein Martyrium, sein ›tragisches Lebensgefühl‹; er würde gerne wie die Leute im Dorf glauben, ist aber nicht dazu fähig. Daher schweigt Don Manuel, wenn es im kollektiven Gebet um die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben geht. Und hier verortet Unamuno den Ursprung der ›Agonie des Christentums‹ – Agonie als Kampf: die Wiederauferstehung des Fleisches, eine jüdische Hoffnung, tritt in Konflikt mit der Unsterblichkeit der Seele, der griechisch-platonischen Hoffnung. Anschließend berichtet der Skeptiker und Atheist Lázaro, worin die Heiligkeit Don Manuels besteht: »Da begriff ich […] seine Beweggründe, und damit begriff ich auch seine Heiligkeit; denn er ist ein Heiliger, Schwester, ein richtiger Heiliger. Als er es unternahm, mich für seine heilige Sache zu gewinnen – denn es ist eine heilige, hochheilige Sache – versuchte er nicht, den Triumph für sich zu beanspruchen, sondern er tat es um des Friedens, um des Glückes willen, zur frommen Täuschung der ihm Anvertrauten, wenn du willst […]. Ich beugte mich seinen Überlegungen, und das ist also meine Bekehrung. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich zu ihm sagte: ›Aber, Don Manuel, die Wahrheit, vor allem die Wahrheit‹, und er mir zitternd ins Ohr flüsterte […]: ›Die Wahrheit? Die Wahrheit, Lázaro ist möglicherweise etwas Schreckliches, etwas Unerträgliches, etwas Mörderisches; die einfachen Leute könnten nicht leben damit‹.« (53)
Nietzsches ›toller Mensch‹ kündigt den ›Tod Gottes‹ nicht an, er stellt ihn fest. Es ist für ihn nur eine Frage der Zeit, bis sich die Nachricht vom Tod Gottes überall verbreitet.35 In Valverde de Lucerna ist offensichtlich diese Nachricht noch nicht angekommen. Die Handlung spielt in einem ländlichen Gebiet Spa-
35 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. XV Bände, Bd. III, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., München: Dtv 1999, S. 480f.
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niens, einem Land an der Peripherie Europas, in welchem nach dem verlorenen Krieg im Jahr 1898 Europa und die Modernisierung des Landes wichtige Themen in der politischen Diskussion sind. Unamuno selber schreibt oft über Europa und über den Gegensatz zwischen Spanien und Europa – in diesem Kontext ist eine berühmte polemische Auseinandersetzung mit Ortega y Gasset entstanden – und unterscheidet den Kern Europas (Frankreich und Deutschland) von der Peripherie.36 Genauso wie Tolstoi in Russland, setzt sich Unamuno auch mit der Macht der Kirche auseinander. Es ist kein Zufall, dass die beiden Denker, die als ›christliche Existenzialisten‹37 gelten, aus peripheren Ländern kommen, in denen die kirchliche Hierarchie (die katholische in Spanien, die orthodoxe in Russland) eine enorme politische und ökonomische Macht ausübt, während soziale Missstände herrschen und die wirtschaftliche Lage des Volkes desolat und aussichtslos bleibt. Beide fordern eine Rückkehr zur individuellen Religiosität, die von der Kontrolle, Lenkung und Manipulation der Kirche (und in letzter Instanz der herrschenden Eliten) befreit ist. Dass Tolstoi selbst von der orthodoxen Kirche exkommuniziert und vom Volk als ein Heiliger verehrt wurde, ist geradezu die perfekte Pointe. Die Ironie in San Manuel basiert allerdings darauf, dass weder die Kirche noch das Volk das Geheimnis des Pfarrers kennen. Anders als in Dostojewskis Großinquisitor vertretene Identität von Staat und Kirche ist in San Manuel die Institution Kirche nicht Zweck an sich, sondern nur Mittel zum Wohl des Volkes.38 Die Worte Don Manuels an Lázaro verraten, dass
36 Vgl. M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 347f. 37 Anna Hamling: »Tolstoi, Unamuno y el existencialismo cristiano«, in: Cuadernos Cátedra Miguel de Unamuno 38 (2003), S. 91-105; Anna Wieczorek Gray: Introducción a un estudio comparativo entre Miguel de Unamuno y León Tolstói, Madrid: Pliegos 2001, S. 127. Beide, Tolstoi und Unamuno, beziehen eindeutig Stellung gegen die Institution Kirche. Obwohl sie keine Außenseiter sind, gehen sie auf Konfrontationskurs zu beiden Kirchen, indem sie deren Materialismus denunzieren, die mittels Manipulation der Gläubigen politisch-materielle Ziele verfolgen. Beide plädieren für ein erneuertes, an den Evangelien ausgerichtetes Christentum. Es ist zwar nicht belegt, dass Unamuno Tolstois Bekenntnis gegen den Intellektualismus gelesen hat, aber sehr wahrscheinlich (vgl. ebd. 114-122). 38 Cerezo Galán hebt die radikalen Unterschiede zwischen dem Großinquisitor und San Manuel hervor, da Dostojewskis Figur, im Gegensatz zu Don Manuel, eine weltliche Macht über das Volk ausübt. Seine Argumentation stützt er mit Unamunos Kritik an der Figur des Großinquisitors als Vertreter einer materialistischen Geschichtsauffassung in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1920, vgl. P. Cerezo Galán: Las máscaras de lo trágico, S. 717f.
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der Trost der Gemeinde – und der eigene, wie in der ursprünglichen Definition vom Charisma – der Zweck der Religion ist. Die in San Manuel implizite Auffassung vom Charisma deutet auf eine Religion ohne Theologie hin39, auf eine direkte Ausrichtung an den Evangelien ohne theologisch-kirchliche Vermittlung; die Existenzberechtigung der Institution Kirche ist auf den Trost der Gemeinde begrenzt: »Ich bin dazu da, die Seelen meiner Pfarrkinder zum Leben zu führen, sie glücklich zu machen, sie von ihrer Unsterblichkeit träumen zu lassen, und nicht, sie zu töten. Hier tut not, daß die Leute gesund leben können, daß Übereinstimmung über den Sinn des Lebens herrscht, und mit der Wahrheit, mit meiner Wahrheit, könnten sie nicht leben. Sie sollen aber leben. Eben das tut die Kirche: sie zum Leben führen. Wahre Religion? Alle Religionen sind wahr, sofern sie die Völker, die sich dazu bekennen, zum geistigen Leben führen, sofern sie ihnen Trost spenden, weil sie auf die Welt kommen müssen, um zu sterben, und für jedes Volk ist die wahre Religion seine eigene, die es sich geschaffen hat. Und meine? Meine besteht darin, Trost zu finden, indem ich anderen Trost spende, obwohl der Trost, der ich ihnen gebe, meiner nicht ist.« (55)
Das Dilemma zwischen Wahrheit und Illusion beklemmt die Seele des Don Manuel. An dieser Stelle werden die beiden Ebenen der religiösen Erfahrung transparent: die individuelle des Einzelnen, und die kollektive des Volkes. Der vollständige Titel vom ›tragischen Lebensgefühl‹ lautet ja Das tragische Lebensgefühl in den Menschen und in den Völkern. Denn Unamuno unterscheidet deutlich zwischen dem Individuum, das Erinnerungen besitzt, und dem Volk, das eine Tradition besitzt. In den jeweiligen Kulturkreisen weisen Religionen, auch wenn sie vermeintlich dieselben sind, Unterschiede auf – der spanische Katholizismus ist aufgrund der verschiedenen Überlieferung der religiösen Tradition anders als z.B. der italienische, da die Weitergabe von Generation zu Generation nicht ganz unter der Kontrolle einer höheren Instanz wie der Kirche steht. Findet der Protestantismus seinen besten künstlerischen Ausdruck in der Musik, tut es der Katholizismus in der bildenden Kunst, der italienische in Michelangelos Sixtinischen Kapelle, der spanische in Velázquez’ Christus, der ewig zu sterben scheint.40
39 Nach Don Manuels Tod sagt Lázaro zum neuen Dorfpfarrer, der in die Fußstapfen des Heiligen treten wollte: »Wenig Theologie, ja? wenig Theologie; Religion, Religion« (87). 40 Unamuno widmete diesem Bild sein größtes lyrisches Werk: El Cristo de Velázquez (1920). Im Gegensatz zu Bachs Matthäus-Passion, Sinnbild des deutschen Protestantismus (vgl. dazu auch den Beitrag von Nicola Zambon im vorliegenden Band), ist
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Die Frage Ángelas, ob das Volk wirklich glaube, beantwortet Lázaro mit Skepsis. Diese Frage sei ja unbedeutend.41 Nur die Gebildeten wissen vom Tod Gottes. Es ist also mehr eine Sache des Willens als der Vernunft. Der Vernunft nach wäre Gott tot. Als Don Manuel erkrankt und merkt, dass er bald sterben wird, beauftragt er beide Geschwister mit seinem Vermächtnis – den Erhalt des Glaubens zum Wohl der Gemeinde: »Hört! Sorgt für diese armen Schafe, sie sollen sich mit ihrem Leben abfinden, sie sollen glauben, was ich nicht habe glauben können. Und du, Lázaro, wenn du sterben mußt, so stirb wie ich, wie unsere Angela [sic] sterben wird, im Schoße der heiligen, katholischen und apostolischen römischen Mutter, der heiligen Mutter Kirche von Valverde de Lucerna, wohlverstanden. Somit verabschiede ich mich für immer, denn dieser Traum, der Leben heißt, geht zu Ende …« (77)
Don Manuel unterscheidet deutlich zwischen zwei Instanzen, der offiziellen Kirche, der Hierarchie auf der einen Seite, und der einzig wahren und gültigen Instanz auf der anderen Seite: die Gemeinde, das Dorf.42 Der intertextuelle Hinweis auf Calderóns berühmtestes Stück Das Leben ein Traum wird hier eingesetzt, um das Gleichnis vom geträumten Leben für die Illusion des Glaubens zu verdeutlichen.43 Die vom ›tragischen Lebensgefühl‹ gekennzeichnete charis-
»der höchste künstlerische Ausdruck des Katholizismus, zumindest des spanischen, in der körperlichsten, greifbarsten und dauerndsten aller Künste zu finden […], nämlich in der bildenden Kunst: in dem Christus von Velasquez, der immer sterbend scheint und doch niemals ganz stirbt, auf daß wir alle leben können!« (vgl. M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 90). 41 »Was weiß ich …! Es glaubt einfach so, aus Gewohnheit, aus Überlieferung. Wichtig ist, es nicht aufzuwecken. Es lebe in der Dumpfheit seiner Gefühle weiter und bürde sich nicht überflüssige Qualen auf. Selig sind die geistig Armen!« (55-57). 42 In diesem Sinne ist Don Manuels Beichte vor Ángela zu verstehen, in der er sie um die Absolution »im Namen des Dorfes« bittet und sie sie ihm, ein Sakrileg begehend, »[i]n Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« (61) erteilt – und nicht, wie anderswo behauptet, weil Don Manuel gegen das Dorf sündige (vgl. R. Gullón: Autobiografías de Unamuno, S. 349). 43 Im Laufe der Erzählung greift Don Manuel mehrmals auf Calderóns Bild des geträumten Lebens zurück: »Mühen wir uns also weiterhin ab in unserm Werk, Lázaro, arbeiten wir uns zu Tode bei unserm Volk, damit es ein Leben erträume, wie der See
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matische Figur, die nicht mehr glauben kann, versucht den Glauben der Gemeinde, ihr geträumtes Leben, aufrecht zu erhalten: »Wie Moses habe ich den Herrn, unser erhabenstes Traumbild, von Angesicht zu Angesicht geschaut, und du weißt, daß die Heilige Schrift sagt, wer das Antlitz Gottes sieht, wer im Traumbild die Augen des Antlitzes sieht, mit denen es uns anschaut, der muß sterben für immer, und es gibt keine Rettung für ihn. Darum soll unser Volk das Angesicht Gottes in diesem Leben nicht sehen; was nach dem Tod ist, braucht nicht unsere Sorge zu sein, denn da wird es nichts mehr sehen …« (79)
In einer entscheidenden Stelle berichtet Lázaro seiner Schwester, wie Don Manuel das Gleichgewicht zwischen den Gegenpolen einer inquisitoriellen Theokratie und dem Szientismus bzw. den nach dem ›Tod Gottes‹ entstandenen politischen Extremismen zu wahren versucht habe, da letztere auch nicht das Heil bringen können: »Er hat mich vom Fortschrittsglauben geheilt. Es gibt nämlich zwei Arten von gefährlichen und schädlichen Menschen, Angela [sic]: die einen sind überzeugt vom Leben nach dem Tod, von der Auferstehung des Fleisches, und quälen wie Inquisitionsrichter – was sie ja sind – alle übrigen, damit sie dieses Leben als Übergangsdasein gering achten und sich das jenseitige gewinnen; die anderen glauben ausschließlich an das irdische Leben […]. Aber da sie nur an diese Welt glauben, hoffen sie auf irgendeine zukünftige Gesellschaft und geben sich alle Mühe, dem Volk den Glauben an eine andere zu verweigern […]. Somit muß man sorgen, daß sie von der Illusion leben können.« (85-87)
Jedem Leser wird deutlich, dass diese Illusion nicht lange aufrecht zu erhalten ist. Somit erhält die Lebensgeschichte des Don Manuel einen pessimistischen Nachhall, der dadurch verstärkt wird, dass das Volk anscheinend nicht in der Lage ist, mit der Wahrheit – dem ›Tod Gottes‹, dem Unglauben Don Manuels – konfrontiert zu werden. Umgeben von der ganzen Gemeinde stirbt Don Manuel in der Dorfkirche. Ángela berichtet, dass der Bischof, der als Formalität für die Seligsprechung eine Lebensgeschichte des Pfarrers schreiben lässt, sie sehen will, damit sie ihm über Don Manuels Leben erzähle. Sie verschweigt ihm das Geheimnis und der Bischof scheint keinen Verdacht zu schöpfen. Ángelas Erzählung ist keineswegs eine Hagiographie. Somit wird die offizielle Geschichts-
den Himmel erträumt.« (65) »Es gibt kein anderes ewiges Leben als dieses …, mögen sie es sich als ewig erträumen …, ewig für einige wenige Jahre …« (73)
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schreibung, die von der Kirche vertreten und in Auftrag gegeben wurde, unterlaufen. III In dem darauffolgenden und nicht als solches gekennzeichneten Nachwort des auktorialen Erzählers gibt dieser vor, einige Stellen von Ángelas Erzählung nachgebessert oder geändert zu haben, und bietet gleichzeitig eine Interpretationsstütze: »Es [das Volk, H.C.] hätte ihnen nicht einmal geglaubt, füge ich hinzu. Die Leute hätten ihren Werken geglaubt und nicht ihren Worten, denn Worte taugen nicht dazu, Werke zu stützen, die Werke genügen sich selbst. Für ein Dorf wie Valverde de Lucerna gibt es keine andere Bekenntnismöglichkeit als den Lebenswandel. Die Leute wissen auch nicht, was Glaube überhaupt ist, und vielleicht ist ihnen das auch nicht einmal sehr wichtig.« (99101)
Glaubt das Volk nur an die Taten – und nicht an die Worte – so bedeutet dies, dass es das Charisma des Heiligen wahrnimmt und die Theologie unwirksam bleibt. Mithilfe der Etymologie und Symbolik der Namen wird die zentrale Botschaft des Textes von dem sich als Redaktor inszenierenden Erzähler offenbart:44 »Bevor ich jetzt diesen Epilog abschließe, möchte ich dir, geduldiger Leser, noch den neunten Vers aus dem Brief des vergessenen Apostels Judas – was noch ein Name ausmacht! – in Erinnerung rufen, wo uns berichtet wird, wie mein himmlischer Namenspatron, der Erzengel Michael – Michael bedeutet: ›Wer wie Gott?‹ und Erzengel bedeutet: ›Hauptgesandter‹45 – mit dem Teufel – Teufel bedeutet ›Ankläger‹, ›Zuträger‹46 – um den Leichnam des Moses rang und nicht zuließ, daß jener ihn in die ewige Verdammnis führe, sondern zu ihm sagte: ›Der Herr strafe dich.‹ Wer es verstehen will, der verstehe es.« (99)
44 Hier wird der Komplex Dichter-Philosoph um Unamunos eigentlichen Beruf ergänzt: der Philologie – er hatte in Salamanca einen Lehrstuhl für klassische Philologie inne. Im abschließenden Kapitel von Das tragische Lebensgefühl hebt Unamuno die Wechselwirkung zwischen Dichtung, Philosophie und Philologie hervor. 45 Im Original heißt es archimensajero (Erzbote), was wiederum die Bedeutung des auktorialen Nachworts hervorhebt. 46 Im Original heißt es fiscal (Staatsanwalt).
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Die vorhin angesprochene ironische Wende wird hier evident: Die Kirche, die Hierarchie, möchte einen Ungläubigen seligsprechen, als ersten Schritt, um ihn zum Heiligen zu erheben. Don Manuel ist jemand, der sich der Hierarchie nicht unterworfen hat.47 Die Hierarchie missbraucht die charismatische Figur, den heiligen Manuel, mit dem Zweck, den Glauben zu stärken. Im Tragischen Lebensgefühl wird eine treffende Diagnose der Lehre des San Manuel Bueno, mártir geboten: »die Märtyrer machen eine Religion viel mehr als die Religionen die Märtyrer«48. Die von San Manuel Bueno, dem Märtyrer »gemachte« Religion ist eine des Trostes, angelehnt an eine direkte und nicht von der Kirche kontrollierte Lektüre der Evangelien. Die Kirche versucht sich eine charismatische Figur anzueignen, obwohl Don Manuel nur in seine Gemeinde gehört und nur in Valverde de Lucerna heilig ist. Die ironische Pointe wird durch die hier präsentierten Assoziationen unüberhörbar bekräftigt: Der Teufel wird mit einem Anwalt identifiziert – im Tragischen Lebensgefühl nennt Unamuno die scholastische Theologie des Thomas von Aquin »Juristerei«; der Scholastik wirft er vor, die Vernunft in Glaubensfragen eingeführt zu haben und somit die Gemeinde, die Laien von den innigen Kenntnissen des Glaubens ausgeschlossen und den Graben zwischen der Hierarchie und dem Volk, der Gemeinde vergrößert zu haben.49 Allgemein bemüht sich Unamuno um eine deutliche Unterscheidung zwischen der Religion des Volkes und der Theologie. Es liegt daher an dieser Stelle nahe, die kirchliche Hierarchie mit dem Teufel zu identifizieren. Der auktoriale Erzähler Michael – Miguel de Unamuno – will verhindern, dass der Teufel (die Hierarchie) sich der Leiche, des Erbes des San Manuel Bueno, des Märtyrers, bemächtigt. Die letztzitierte Wendung belegt den Quijoten-Kampf Unamunos gegen die katholische Kirche.
47 Bénédicte Vauthier, die eine anregende Lektüre von San Manuel vor der Folie der spanischen Krausisten des 19. Jahrhunderts bietet, betont auch den ironischen Charakter des Nachworts: Dass ein Heterodoxer sowohl vom ungebildeten Volk als auch von der Kirche als ein Heiliger gehandelt wird, sei eine Ironisierung der zeitgenössischen religiösen Intoleranz, vgl. B. Vauthier: »Huellas del ideario (religioso) krausista en San Manuel Bueno, Mártir de Miguel de Unamuno«, bes. S. 182-189. 48 M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 239. Im Original heißt es fe (Glaube) anstatt Religion: »Los mártires hacen la fe más aún que la fe los mártires« (Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida en los hombres y en los pueblos, Madrid: Alianza 2008, S. 204) 49 »Die sogenannte rationalistische Theologie ist rein advokatorisch«, vgl. M. de Unamuno: Das tragische Lebensgefühl, S. 116-121, hier S. 119.
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IV Als sich Ángela fragt, ob die Leute im Dorf tatsächlich glauben, zieht sie folgende Bilanz: »Was ist das überhaupt: glauben? Wenigstens leben sie. Jetzt glauben sie an den heiligen Manuel, den Guten, den Märtyrer, der, ohne auf die Auferstehung zu hoffen, in ihnen die Hoffnung darauf wachhielt.« (97) Der vermeintliche Heilige (sanctus) bewirkt das Fortbestehen der Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele, das als Wohl der Gemeinde, ja als das Heilige (sanctum) selbst begriffen wird. Befreit von der Deutungsmacht der Kirche gehört der Heilige der Gemeinde. San Manuel ist eine charismatische Figur im ursprünglichen Sinne der Evangelien, sein Charisma verströmt kraft seiner Werke und nicht seines Amtes wegen. Dass Unamuno in einem zehn Jahren nach Max Webers Tod entstandenen Text diese ursprüngliche Bedeutung von Charisma derart betont und die charismatische Macht in ihrer politischen Dimension außer Acht lässt, ist nicht nur seinem fast programmatischen Hang zur Provokation geschuldet; mit der Fiktionalisierung des Heiligen in San Manuel wird vielmehr bewusst die Frage aufgeworfen, ob und wie Calderón und Nietzsche zu versöhnen sind – ob ein vormodernes Verständnis des Heiligen für die Moderne doch noch fruchtbar zu machen ist. In Ángelas Erzählung erscheint diese Möglichkeit plausibel aufgrund der äußeren Umstände – ihre Geschichte beschreibt eine präindustrielle, rurale Gesellschaft, die noch nicht vom ›Tod Gottes‹ erfahren hat –, im auktorialen Nachwort wird jedoch diese Frage offen gelassen. Unamunos moderner Märtyrer ist insofern agonisch, als Don Manuel in einem inneren Kampf gegen das ›tragische Lebensgefühl‹ steht, nämlich die für den modernen Menschen symptomatische Unfähigkeit zu glauben. Der Glaube ist keine Angelegenheit der Vernunft mehr, sondern des Willens. Gleichzeitig lässt sich San Manuel Bueno, mártir im Kontext des öffentlich ausgefochtenen Kampfes Unamunos lesen: Es ist ein Kampf gegen Hierarchie und Theologie einerseits, gegen den Szientismus andererseits, der die Religion ersetzen möchte – und für eine sorgfältige Modernisierung Spaniens, welche mit einer Rückbesinnung auf die landesspezifische Überlieferung zu bewerkstelligen sei.
Fragment und Totalität Das Ausbleiben der unio mystica und die negative Darstellung in der modernen Kunst M ILAN H EROLD Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich an Bild und Gebärde. RILKE
Die Frage nach dem Gott der Philosophen bedeutet immer auch die Frage nach dem Begriff des Absoluten und des Unendlichen. Das gilt auch für die moderne philosophische Ästhetik, die, wie Hegel sagt, beginnt, seitdem wir das Knie nicht mehr beugen.1 Mit dem Ende sakraler und bürgerlicher Repräsentationskunst initiiert sich die Moderne aus einer Verlusterfahrung: Die Aura, das Heilige, das Kultische gehen verloren. Es tritt das ein, was Friedrich Schlegel 1795 treffend als Zerreißen einer mythischen Einheit beschreibt. Aus dieser Sicht ist in den Begriff der Kultur in der profanen, nicht-sakralen Welt immer schon eingeschrieben, dass Kultur einmal Kult war: »Der Griechische Mythus ist – wie der treuste Abdruck im hellsten Spiegel – die bestimmteste und zarteste Bildersprache […]; eine kleine vollendete Welt der schönsten Ahndungen der kindlich dichtenden Vernunft. Dichtung, Gesang, Tanz und Geselligkeit – fest-
1
Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders.: Werke, XX Bände, Bd. Bd. XXIII, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 142.
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liche Freude war das holde Band der Gemeinschaft, welches Menschen und Götter verknüpfte.«2
Das Ideal der frühen, klassizistischen Position Schlegels ist die Antike mit ihren in sich abgeschlossenen Kunstwerken, von denen Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen treffend bemerkt, dass ihnen das Bewusstsein von der möglichen Täuschung durch Kunst fehle. Eine bestimmte Statue ist z.B. nicht Darstellung eines Gottes, sondern Apoll selbst: »Das ›Bild‹ stellt die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr […]. Man kann es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeichnen, daß ihm die Kategorie des ›Ideellen‹ fehlt.«3 Das Dargestellte, nicht die Darstellung wurde wahrgenommen. So waren auch das Geistige und das Transzendente im Leben ungebrochen real. Die Grenze zum modernen Bewusstsein formuliert Schlegel dergestalt, dass das »Streben nach dem Unendlichen« notwendig einhergehe mit der »Reflexion über das Verhältnis des Idealen und Realen«. Nun ist der ästhetische Geltungsanspruch von Kunstwerken auf objektive Wahrheit nicht mehr fraglos allgemeingültig.4 Jedes einzelne Kunstwerk muss sich von jetzt an gegenüber dem Ganzen, der Gesellschaft und je allen anderen Kunstwerken selbst rechtfertigen, denn die transzendenten Rechtfertigungsinstanzen sind verloren. Dieser Prozess wird traditionellerweise entweder melancholisch als Kulturpessimismus – in der Traditionslinie Hegels – oder als Befreiung vom Alten – in der Traditionslinie Schlegels – gelesen. Adorno, der sich dem zweiten Weg anschloss, formuliert die Frage nach der Möglichkeit sakraler Kunstwerke in der Moderne als das Problem eines »Bild[es] des Bildlosen«, d.h. einer Darstellung des Undarstellbaren bzw. einer Darstellung des Ganzen, die auf ihr notwendiges Scheitern reflektiert.5 Sein Ausgangspunkt ist Schönbergs Oper Moses und Aron, dessen auskomponierte letzte Szene programmatisch endet: »Unvorstellbarer Gott! Unaussprechlicher, vieldeutiger Gedanke! […] O, Wort, du Wort, das mir fehlt«. In Schönbergs Frag-
2
Friedrich Schlegel: »Über das Studium der griechischen Poesie«, in Ders.: Kritische
3
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische
Friedrich Schlegel Ausgabe (= KFSA), XXXV Bände, Bd.I, S. 217-367, hier S. 277. Denken, 1 [1925]. 5. unveränd. Aufl., reprograph. Nachdr. d. 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 51. 4
F. Schlegel: Studium-Aufsatz, S. 211f.
5
Theodor W. Adorno: »Sakrales Fragment. Über Schönbergs Moses und Aron«, in: Musikalische Schriften I-III, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 454-475, S. 458.
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ment gebliebener Oper zeitigt sich die allgemeine Unmöglichkeit »des ästhetisch Ganzen« und des »sakralen Kunstwerks«. Adorno nennt Schönbergs Fragment gebliebene Oper die notwendig scheiternde Antwort auf die »Kantische Frage«: »wie ist kultische Musik ohne Kultus überhaupt möglich?«6. Das Selbstverständnis der modernen Kunst, ihre ästhetische Autonomie, ist ein Nicht-mehr. In diesem Geiste ist auch der erste Satz der Ästhetischen Theorie formuliert: »Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.«7 I In Kants modernster Schrift, die Kritik der Urteilskraft, findet sich noch eine solche vormoderne Selbstverständlichkeit. Im Schönen der Natur entdeckt das ästhetisches Subjekt, dass die Welt für ihn zweckmäßig eingerichtet ist: »Die Schöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe.«8 Diese prägnante Formulierung nimmt die Theorie unserer Weltpassung wieder auf. In den schönen Dingen zeigt uns die Natur eine »Spur« und gibt uns einen »Wink«, dass man auf die »gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte« mit der ästhetischen Reflexion hoffen kann.9 Das Schöne zeigt sich unvorhersehbar und offenbart sich blitzartig wie ein Zufall oder ein überraschendes Ereignis. Kant fasst in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft seine Korrespondenztheorie zwischen Ich und Welt im Schönen der Natur folgendermaßen zusammen: »[D]a diese Zusammenstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjekts zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit desselben in Ansehung der Erkenntnisvermögen des Subjekts.«10
6
Ebd., S. 454-457.
7
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 7.
8
Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlass. Logik, in: Ders.: Kants gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften etc., XXIII Bände, Bd. XVI, Berlin: Akademie-Ausgabe 1902ff., S. 127 [Reflexion 1820a]. Es handelt sich um eine Bemerkung Kants auf der Adress-Seite des Briefes von Marcus Herz vom 9. Juli 1771.
9
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, XII Bände, Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S. 234 [B169].
10 Ebd., S. 101 [B XLV]. Diese »Okkasionalität« der ästhetischen Erfahrung, in der sich unser interesseloses Wohlgefallen erfüllt, scheint kontingent. Inwiefern diese Zufälligkeit aber gerade den Anspruch auf strenge allgemeine Gültigkeit des Geschmacksur-
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Diese Harmonie, die letztlich eine Leibnizsche prästabilierte Harmonie zwischen Ich und Welt wieder in die kritische Philosophie einführt, lässt uns – so Kants Aufklärungsglaube – entdecken, dass die Welt für uns gemacht ist, und dass wir sie uns untertan machen können. Dieselbe metaphysische Flucht in die Denkfigur Gottes als absoluten Harmonisierer kehrt für die Organismen, die biologischen Zweckmäßigkeiten, wieder: Denn auch hier setzen wir notwendig einen Schöpfer voraus – ein »transzendentales Substrat«, wie Kant sich ausdrückt –, der die Welt rational für uns eingerichtet hat. Diesen metaphysischen Ballast und aufklärerischen Hoffnungsglauben der instrumentellen Vernunft tilgt für die Ästhetik als Erster Friedrich Schlegel, indem er seit seinen frühesten Aufsätzen einerseits von der Werkseite, andererseits von den Kunstwerken seiner Gegenwart ausgeht und »Natur« als Kategorie einer modernen Ästhetik streicht. Neben dem Schönen kennt Kant noch eine zweite Form der ästhetischen Weltbegegnung: das Urteil über erhabene Dinge. Die Erfahrung des Erhabenen formuliert paradigmatisch für die Moderne eine prägnante Theorie der Reflexionslust des Scheiterns. Dabei steht die Konstellation von Ich und Welt unter negativen Vorzeichen. Im Erhabenen – Kants protoromantische Beispiele sind der tosende Ozean und die unendliche Weite einer Landschaft oder eines Gebirges – stellt sich das dramatische Scheitern so dar: Das epistemische Subjekt kann die Suchfunktion »Totalität«, die die Vernunft an alles in der Welt ansetzt, nicht auf einmal sinnlich erfüllen. In Kants Epistemologie bedeutet das, dass unsere Sinne überfordert werden von dem Zwang der Vernunft, das Ganze auf einmal zu fassen, den allein der Verstand in seinem sukzessiven Abzählen problemlos unendlich einlösen könnte. Unsere rezeptive Registratur scheitert an der Totalität. Der erste Schritt des erhabenen Gefühls ist folglich eine sinnliche, unmittelbare Unlust bzw. eine »negative Lust« – wie Kant sagt11 –, denn das Ich spürt, dass es nicht in die Welt passt. Diesem negativen Erleben einer Überforderung eignet eine spezifisch moderne Gegenwartserfahrung. Der betreffende Gegenstand kann nicht mehr »auf Anhieb […] ›durchlaufen‹ und ›zusammengenommen‹ werden […], sondern er zerfällt gleichsam in seine Einzelteile«12. Wird die Fülle des sinnlichen Materials oder des zu Denkenden zu groß, schlägt das Scheitern der Erkenntnis auf die
teils stützt, vgl. Wolfgang Wieland: Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 98f., 266f. 11 I. Kant: Urteilskraft, S. B76. 12 Christine Pries: »›Königsberger Avantgarde‹, oder: Wie modern war I. Kant?«, in: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, hg. v. Wolfgang Welsch/Dies., Weinheim: VCH 1991, S. 155-164, hier S. 157.
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Einheit des Subjekts zurück: es fragmentiert. Das moderne Subjekt ist in dieser erhabenen Perspektive ein »Dividuum«, dem unaufhaltsam die Gegenwart zu einem reinen, infinitesimalen Übergang des Augenblicks schrumpft.13 Der zweite Schritt des Erhabenen besteht in einer Selbstermächtigung des Subjekts. Kants Umbiegung liegt in der rettenden Reflexivität des epistemischen Ichs, das den Grund des Scheiterns in sich selbst findet: Dass die Erfahrung des Erhabenen doch lustvoll ist, ist in unserer rationalen Struktur – in dem Vorhandensein von Vernunftideen – gegründet. Das blitzartige Umschlagen des dialektischen Gefühls des Erhabenen zwischen einem »schnellwechselnden Anziehen« und »Abstoßen« – die »Rührung«14 – gibt so einen »flüchtigen Blick auf die Idee, das Absolute«15 frei. Dieser Augenblick des Umschlags ist die moderne Nachfolgefigur der unio mystica, verstanden als »ganzheitlich vereinigendes Gewahrwerden und Erleben des Absoluten in unmittelbarer Intuition«16. Die religiöse Erfahrung der »visio Dei« wird ohne Gottesbezug im Ästhetischen aufgehoben.17 Noch in Rudolf Ottos einschlägigem Werk Das Heilige von 1917 finden sich beide Momente des Erhabenen. Im Rahmen seiner negativen Theologie definiert er die Erfahrung Gottes (bzw. das Heilige oder das Numinose – das rational Unfassbare und sinnlich Undarstellbare) als »mysterium tremendum et fascinans«: Das Heilige ist hier das absolut Mächtige, das erschreckt und zugleich anzieht.18 Otto hält zwar fest: »Religiöse Gefühle sind nicht ästhetische«. Dennoch orientiert sich seine Bestimmung der religiösen Erfahrung an dem Erhabenen bei Kant – Otto spricht von »Kontrast-harmonie« – und hebt genau diejenigen Momente heraus, die das Heilige mit dem Erhabenen und mit der ästhetischen Idee teilt: »ineffabile« und »in Begriffen nicht explizibel« zu sein.19 Kant führt im Theoriestück der Erfahrung des Erhabenen eine negativ-dialektische Darstellungsfigur ein. Eine erste natürliche nicht-zweckmäßige Welter-
13 Friedrich Schlegel: »Philosophische Lehrjahre (1796-1806). Erster Teil.«, in: KFSA, Bd. 18, Abt. V, S. 520 [Fragment 508]. 14 I. Kant: Urteilskraft, S. 181, 174ff. [B98, B87ff]. 15 Jean-François Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft. §§23-29, übers. v. Christine Pries, München: Fink 1994, S. 84. 16 Alois Maria Haas: Mystik im Kontext, München: Fink 2004, S. 86. 17 Vgl. Thomas Rentsch: »Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee«, in: Ders., Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York: de Gruyter, 2011, S. 355-379. 18 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: Beck 1979, S. 5-55. 19 Ebd., S. 56, 5, 13.
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fahrung, das Scheitern der Weltpassung, wird durch die reflexive Struktur des Ichs in eine intellektuelle Zweckmäßigkeit zweiter Stufe transformiert. Dass sich im erhabenen Scheitern der Sinne Vernunftbegriffe darstellen, wiederholt die Grundfigur der negativen Theologie. Kant selbst zeigt den Bezug auf: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen.«20 Dieses religiöse Paradigma negativer Darstellung fasst in nuce, dass das Ganze, die Totalität, nicht direkt dargestellt werden kann. II Implizit zieht bereits Kants Ästhetik das Schöne und das Erhabene zusammen. Das geschieht in zwei Theoriestücken, in denen sich jeweils die Logik des Erhabenen als eine Zweckmäßigkeit bzw. als eine Stimmigkeit zweiter Stufe wiederholt: In der Theorie der »ästhetischen Idee« (i) und in der Definition des Schönen als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (ii). (i) In Kants Kritiken galt bisher, dass alle Totalitätsformen, also die Ideen von Gott, Seele und Welt, prinzipiell nicht darstellbar und insofern ›er-haben‹ im Sinne von ›über-sinnlich‹ sind, da ihnen keine Anschauung korrespondieren kann. Deshalb schließen die ästhetischen Ideen systematisch eine Lücke in der negativen Begrenzung möglicher Erfahrung: Vernunftideen sind der Kern der Transzendentalphilosophie, weil sie Totalitätsbegriffe sind, also Vorstellungen vom Unbedingten, denen keine mögliche Anschauung korrespondiert. Jedoch wird der zweite Teil des berühmten Satzes »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«21 erst mit der ästhetischen Idee behandelt. Kant definiert ästhetische Ideen als »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann«22. Es gibt somit Anschauungen, die sinnlich vollständig bestimmt, begrifflich aber nicht vollständig bestimmbar sind. Ihr ›Vorteil‹ liegt darin, dass sie Totalitätsbegriffe anschaulich machen können – wenn auch nur indirekt. Bereits Kants Ästhetik ist nicht am Schönen orientiert: Denn dass gelungene Kunstwerke ästhetische Ideen darstellen, impliziert, dass sie nicht auf den Be-
20 I. Kant: Urteilskraft, S. 201 [B124]. 21 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werkausgabe, XII Bände, Bd.e III/IV, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968., S. 98 [B75]. 22 I. Kant: Urteilskraft, S. 249f. [B192f.].
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griff gebracht und die (Meta-) Regel, nach der sie gemacht sind, nicht angegeben werden kann. Ästhetische Ideen sind etwas Nicht-Propositionales, Nicht-Gedankliches, da sie durch keine endliche Menge von Gedanken vollständig gedacht werden können. Die unendliche Interpretierbarkeit gelungener Kunstwerke wird so zur Nachfolgefigur der erhabenen Natur und der Unsagbarkeit Gottes. Die letzte Konsequenz dieser Insuffizienz, das Kunstwerk nicht auf den Begriff bringen zu können, lautet: Kunstwerke sind ästhetische Darstellungen des Absoluten. Das ist der normative Anspruch, auf den Schlegel die Kunstwerke verpflichtet hat. Dieser zunächst begrifflich unbestimmte Kern ästhetischer Erfahrung kommt bei Schlegel in der formalen Bedingung zum Ausdruck, dass ein Kunstwerk kritisierbar sein muss: Das Werkganze muss wenigstens eine kohärente und konsistente ›Geschichte‹ seiner Momente erlauben, die die ästhetische Kritik – mit Gadamer verstanden als ästhetische Erfahrung – erzählen kann. Kants intentionaler Gehalt von Kunstwerken, anhaltende Reflexionslust zu ermöglichen, begründet so bei Schlegel ihre Grunddefinition, nämlich unendlich interpretierbar zu sein. Die kürzeste Definition könnte mit Kant und Schlegel lauten: Kunstwerk ist, worüber wir immer noch reden. Seine Totalität äußert sich negativ darin, dass wir das Kunstwerk nicht auf den Begriff bringen können. Ob ein Kunstwerk gelungen ist, entscheidet sich daran, »ob es eine immanente Kritik überhaupt möglich macht oder nicht. Ist diese möglich, liegt also im Werke eine Reflexion vor, welche sich entfalten, absolutieren […] läßt, so ist es ein Kunstwerk.«23 Das ist dann gegeben, wenn ein Werk »[g]ebildet ist […], wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist«24. Deshalb besteht der Grundsatz des frühromantischen Kritikbegriffs in der »Unkritisierbarkeit des Schlechten«25. Schlechte Kunst vernichtet sich selbst – ein Vorgehen, das Schlegel in Anlehnung an Fichte als Annihilieren bezeichnet. Schlegel erhebt für moderne Kunstwerke die negative Darstellung, die Kant im Erhabenen in die Ästhetik eingeführt hat, zur Grundstruktur jeder ästheti-
23 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders.: Gesammelte Schriften, VII Bände, Bd. I,1, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 7122, hier S. 78. 24 Friedrich Schlegel: »Athenäumsfragmente«, in: KFSA, Bd.2, S. 165-255, hier S. 215 [Fragment 297]. 25 W. Benjamin: Kunstkritik, S. 179.
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schen Darstellung. Er tut dies aber in einer anderen Art und Weise als heutige Reaktualisierungen der Kantischen Ästhetik. Wenn z.B. Lyotard die subjektive Erfahrung des Außergewöhnlichen, die Ekstase des erhabenen Augenblicks im Begriff des événement für die post-moderne Kunst stark macht, so wird die Modernität der Kantischen Ästhetik darin gesehen, den Objektbezug der ästhetischen Erfahrung vollständig auszuhängen.26 Schlegel dagegen hat Kants erhabene Welterfahrung im Begriff des »Fragments« übersetzt in die ontologische Beschreibung von Kunstwerken. Es ist von zentraler Bedeutung, dass Schlegel den bei Kant nahezu vollständig verschwiegenen Objektbezug so auch kriteriell einlöst, indem die funktionale Bestimmung des Kunstwerks und der Reflexionslust als Zweckmäßigkeit ohne Zweck normativ lesbar wird: als ein individuelles autonomes System.27 (ii) Kants entscheidende Definition des Schönen als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« bedeutet nämlich auch, dass jeder ästhetische Gegenstand zweckmäßig geordnet sein muss. Das nennt er in §15 »die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt, was es sein solle)«28. Die Ordnung von Kunstwerken muss also dergestalt sein, dass ihre einzelnen Momente zusammenstimmen, d.h. in einer Weise angeordnet sind, die jedem Moment eine notwendige Stelle im Ganzen zuweist. Der formale Begriff der Schönheit besteht also in der Forderung an Kunstwerke, eine stimmige Ordnung aufzuweisen. Hinter dieser allgemeinen Formulierung verbirgt sich Kants Definition von »System« aus der transzendentalen Methodenlehre: »Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Dies ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.«29
26 Ganz analog gilt auch, dass Rüdiger Bubners Einschätzung, dass die »Auflösung der traditionellen Werkeinheit […] sich ganz formal als gemeinsamer Zug der Moderne nachweisen« lässt, zuzustimmen ist. Der Rekurs auf Kant für die moderne Kunst kann aber nicht darin bestehen, auf den Werkbegriff vollständig zu verzichten und nur von der ästhetischen Erfahrung auszugehen (Rüdiger Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: Neue Hefte für Philosophie 5 [1973], S. 38-73, hier S. 49). Stattdessen sollte man bei Schlegels Werkbegriff einsetzen. 27 Vgl. dazu Guido Kreis: »Kunstwerke als autonome Ordnungen«, in: Jens Halfwassen (Hg.), Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg: Winter 2008, S. 295-314. 28 I. Kant: Urteilskraft, S. 144 [B45f.]. 29 I. Kant: KrV, S. 696 [B860].
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Deshalb handelt es sich um ein schlecht gemachtes und daher misslungenes Kunstwerk, wenn ein Teil des Ganzen nicht zweckmäßig, also »zufaሷllig oder unbedeutend«30 ist, oder wenn sich das Kunstwerk auf den Begriff bringen lässt. Jedes Fragment soll auf das notwendige Scheitern reflektieren, nicht das Ganze sein zu können. Das moderne Verständnis von Kunstwerken wird geboren aus dem Erhabenen, der säkularisierten Verlusterfahrung Gottes in der Natur, und bleibt zugleich an die Semantik des Unendlichen angebunden. Kants Weltpassung wird übersetzt in eine kritische Theorie in sich gebrochener Weltpassung durch Poesie. Wir erzählen stimmige Geschichten von uns und verorten uns so in der Welt, indem wir unser Verhältnis von Welt und Ich poetisch reflektieren. Die Darstellung von Totalität bzw. das Ganze, das ein Kunstwerk veranschaulichen soll, kann dabei »niemals anders als bloß negative Darstellung sein«31; und gerade einer reflexiven Poesie, einer »Poesie der Poesie«, die sich ihrer endlichen Schranken bewusst ist, gelingt ex negativo die Darstellung von Totalität. Der verbindende Eintrag ins Stammbuch der Moderne dazu lautet: »Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.«32 Im bewussten, reflektierten Fragment wird seine Unvollständigkeit im Bezug aufs Ganze vollständig dargestellt. Dass moderne Kunstwerke Fragmente sind, meint so zunächst eine Zweckmäßigkeit zweiter Stufe bzw. eine reflexive in sich gebrochene Stimmigkeit. Dass an sich unstimmige Momente in einem Kunstwerk in sich stimmig angeordnet sind, ist Schlegels Erweiterung des klassischen Werkbegriffs. Durch die stimmige Einbindung dessen, was im Kunstwerk notwendig unstimmig ist, kann das einzelne Kunstwerk seine Autonomie bewahren. Das Fragment verweist von Hause aus immer schon auf das Ganze; in ihm ist das Unendliche als leere Stelle sedimentiert. Die konkrete innere Totalität, die Kunstwerke sind, rechnet mit dem blinden Fleck, der jeder Darstellung von Totalität inhärent ist. Dadurch geraten auch die ästhetischen Gebilde der klassischen Moderne in den Blick. Die beabsichtigte Unabgeschlossenheit muss als solche das Ganze des Fragments bestimmen, wodurch es »in sich selbst vollendet sein« kann.33 Im bewussten und reflektierten Fragment wird der Bezug aufs Ganze, seine Unvoll-
30 Friedrich Schlegel: »Über Goethes Meister«, in: KFSA, Bd. 2, S. 126-146, hier S. 131. 31 I. Kant: Urteilskraft, S. 201 [B124]. 32 F. Schlegel: Athenäumsfragmente, S. 204, 169 [Fragmente 238 u. 24]. 33 Ebd., S. 197 [Fragment 206].
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ständigkeit, (vollständig) dargestellt: »Für das höchste Schöne würde die Kunst selbst nur eine Schranke sein.«34 III Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf Giacomo Leopardis berühmtestes Gedicht eingehen, das die Logik in sich gebrochener Kunstwerke poetisch weiterentwickelt und ein paradigmatischer Fall für die literarische Umsetzung der Logik negativer Darstellung in der modernen Kunst ist. Das Gedicht lautet im Wortlaut: L’Infinito Sempre caro mi fu quest’ermo colle, E questa siepe, che da tanta parte Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude. Ma sedendo e mirando, interminati Spazi di là da quella, e sovrumani Silenzi, e profondissima quiete Io nel pensier mi fingo; ove per poco Il cor non si spaura. E come il vento Odo stormir tra queste piante, io quello Infinito silenzio a questa voce Vo comparando: e mi sovvien l’eterno, E le morte stagioni, e la presente E viva, e il suon di lei. Così tra questa Immensità s’annega il pensier mio: E il naufragar m’è dolce in questo mare.
Leopardis berühmte Idylle transformiert das spannungsvolle Verhältnis von Subjekt, Augenblickserfahrung und erhabener Landschaft, das wir aus dem Kantischen Erhabenen her kennen, indem eben jene Idylle den eigentlichen Anstoß der Bewegung – das Unendliche der sinnlichen Fülle – in das lyrische Ich selbst verlagert. Das Gedicht eröffnet die Szene des Unendlichen – so der Titel – mit: »Stets teuer war mir dieser öde Hügel«. Das einsame lyrische Ich blickt vom Berg in
34 Friedrich Schlegel: Literary Notebooks. 1797-1801, hg. v. Hans Eichner, London: Athlone Press 1957, S. 23 [Fragment 33].
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die Tiefe. Diese Suche nach ›profondeur‹ ist für die Romantik typisch, man denke nur an das ebenfalls 1819 geschriebene »L’isolement« von Lamartine in den Méditations poétiques.35 In Leopardis Gedicht dagegen ist dem Ich von vorneherein der Blick in die Tiefe und entlang des Horizonts versperrt: »Und diese Hecke, die nach soviel Seiten / Vom letzten Horizont die Augen ausschliesst« (V. 2-3). Die typisch romantische Erfahrung der Fülle aus der erhabenen Perspektive, das romantisch-erhabene Motiv des Feldherrenblicks des überlegenen Subjekts in der Natur bleibt aus. Die Hecke konfiguriert eine im wörtlichen Sinne mystische Situation, denn ȝȪȦ bedeutet auch ›die Augen schließen‹. Der Blick auf die unendliche Weite des Meeres ist versperrt. Daher wendet sich das lyrische Ich nach innen und imaginiert bzw. fingiert (»io mi fingo«, V. 7) räumliche Unendlichkeit in einer Art kontemplativer Schau und Vision. Einerseits spricht Leopardi hier den romantischen Grundgedanken aus, dass das unerreichbare höchste Schöne der Kunst Produkt der Einbildungskraft ist und nur »durch eine Fiction oder [ein] Surrogat« möglich ist.36 Andererseits scheint das Gedicht auf eine mystische Einheit des Subjekts mit der Natur hinauszulaufen, in der die Differenz zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen aufgehoben sein würden. Das Partizip »mirando« (V. 4) bedeutet kein einfaches Sehen oder Blicken, sondern erinnert an die philosophische Schau des Absoluten bei Platon. So eröffnet dieses metapoetische Gedicht in den folgenden Versen die vorgestellte Unendlichkeit einer erhabenen Seelenlandschaft im einsamen Subjekt: »ungemessne / Räume jenseits von jener, übermenschlich / Verstummen, und die allertiefste Ruhe / Gestalt’ ich mir im Denken« (V. 4-7). Der Widerstand der Natur, die Hecke, schaltet so einerseits den weiteren Einfluss der Natur aus, andererseits wird das Außen vom lyrischen Ich mit dem Gehör wahrgenommen. In dem Augenblick, in dem sich das Auge der Seele öffnet, tritt eine Entgrenzung ein, die das lyrische Ich und das Gedicht selbst nicht mehr einholen können. Denken, Sinneswahrnehmung und Einbildungskraft kommen nicht zu der versprochenen aller-
35 Die Übersetzung folgt – mit leichten Änderungen – der Wiedergabe von: Ulrich Leo: »Zwei Einsamkeiten. Leopardis ›L’infinito‹ und Lamartines ›L’isolement‹. (Versuch einer ›Interlinear-Interpretation‹)«, in: Archivum romanicum 16 (1932), S. 521-539, hier S. 523. Seitdem Foucault in L’ordre des choses die Suche nach Tiefe als die Episteme der Romantik bezeichnet hat, ist immer wieder die Tiefendimension der Romantik raumtheoretisch untersucht worden; vgl. Inka Mülder-Bach: Tiefe. »Zur Dimension der Romantik«, in: Räume der Romantik, hg. v. Dies./Gerhard Neumann, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 83-102. 36 F. Schlegel: Literary Notebooks, S. 92 [Fragnent 798].
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tiefsten Ruhe, denn es ereignet sich genau in der Mitte des Gedichts eine Beinahe-Erleuchtung: Die entscheidende syntaktische Zäsur fällt inhaltlich zusammen mit dem Ausbleiben der unio mystica. Diese entscheidende Stelle, die zugleich eine versuchte Rückkehr zum glücklichen Ausgangspunkt des Gedichts – zur Hecke (»queste piante«, V. 9) und zum Hügel – ist, bereitet deutschen Übersetzern immer Probleme. So übersetzt z.B. Rilke: »Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne / Furcht damit um«. Dann wird aber übersehen, dass »non si spaura« (V. 8) eine verstärkende Verneinung ist, wie das ne explicatif im Französischen. Das Zusammenschießen von Gegenwartsbezug (»viva«, V. 13), Ewigkeit und Erinnerung (»mi sovvien l’eterno«, V. 11) restituiert aber gerade keine neue Einheit des Subjekts auf der Suche nach der verlorenen Zeit (V. 1); der erfüllte Augenblick tritt gerade nicht ein: »beinahe / Das Herz in Schauder fällt«37 (V. 7f.). Dennoch: Das Beinahe der Gotteserfahrung wird benannt: »Und wie den Windhauch / Ich rauschen hör’ in diesen Pflanzen, jene / Unendlich tiefe Ruh« (V. 8-10). Nach dieser synästhetischen Konstellation und Umbruchstelle, in der das Ich diesen quasi-göttlichen Hauch hört, werden die Raummetaphern abgelöst. Zeitliche Vorstellungen und Erinnerungen vom Unendlichen steigen auf: »und entsinne / Des Ewigen mich, der toten Zeit, der lebend / Noch gegenwärtigen, ihres Klangs« (V. 11ff.). Die Parallele zu Blaise Pascals berühmtem Fragment aus den Pensées »Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie« ist bezeichnend, da die Epiphanie, das mystische tremendum et fascinans, die Ekstase der religiösen Erfahrung oder eine Kantische Selbstermächtigung des erhabenen Subjekts eigentlich erwartbar wären38 und gerade nicht eintreten.39 Die Suche nach Fülle und Unendlichkeit
37 »per poco / Il cor non si spaura«: Leopardis Lied oder Gesang (Canto) über die Unendlichkeit ist der Form nach eine Idyllendichtung, inhaltlich stellt sich aber keine idyllische Naturerfahrung ein, sondern eine Erfahrung des Nichts. Bezeichnenderweise zitiert er hier das berühmte Lied über rein gar nichts des ersten Trobadors Wilhelm IX. von Aquitanien (Farai un vers de dreyt nien), vgl. die Verse 15f. »Per pauc no m’es lo cor partitz / d’un dol corau«, die Übersetzung von Dietmar Rieger lautet: »Beinahe ist mir das Herz gebrochen / wegen eines aus dem Herzen kommenden Schmerzes« (vgl. Mittelalterliche Lyrik Frankreichs 1. Lieder der Trobadors, hg. v. Dietmar Rieger, Stuttgart: Reclam 1980, S. 16-19, hier S. 16f.). 38 Giacomo Leopardi ist gerade deshalb nur ein Romantiker wider Willen. Vergleiche zu diesem Themenkomplex und dieser Stelle bei Pascal, Cesare Galimberti: »Leopardi: meditazione e canto«, in: Giacomo Leopardi. Poesie e prose, II Bände, Bd. I, hg. v. Rolando Damiani, Milano: Mondadori 1987, S. XI-LXXIX, hier S. XXX-XXXIII.
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gestaltet sich paradigmatisch für die Moderne und die moderne Dichtung als ein inszeniertes Scheitern. Die Erfahrung der unio mystica als dem Weltgrund, mit dem das lyrische Ich sich vereinen möchte, um das Unendliche darzustellen, ist nicht nur unsagbar, sondern gerade auch unverfügbar. Das Ende des Gedichts und der lyrischen Erfahrung stellt sich als lustvolles Scheitern dar. Die Sehnsucht nach dem Infinito, nach dem Unendlichen fällt mit dem Nichts zusammen, mit »le cose che non sono«40, mit den Dingen, die nicht sind und nicht sein können. Das Ganze klingt nach der klassischen Zerrissenheit des romantischen Subjekts. Man denke nur an Fausts Wald-und-Höhle-Monolog, in dem das Bewusstsein, im Einklang mit der Natur zu stehen, nur für einen flüchtigen Augenblick bleibt, bis das Gefühl der Enge eintritt: »So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde«. Dieses Begehren nach Lust und Fülle entwickelt Leopardi in seinem philosophischen Tagebuch, dem Zibaldone, als eine anthropologische Konstante. Immer wieder kommt er in seiner Lusttheorie auf die Unerfüllbarkeit im Endlichen unserer Sehnsucht nach dem Unendlichen zu sprechen. Diese »teoria del piacere« führt einerseits direkt in Leopardis Nihilismus, den Schopenhauer und Nietzsche bewundert haben, zeigt aber andererseits auch Leopardis ›Antwort‹ auf Heideggers Frage »Wozu Dichter?« an: Nach dem Verlust der Götter, der Natur und der Harmonie bleibt dem Dichter nur der schöne Schein, der zugleich in sich poetisch gebrochen wird. Leopardi nennt diese Reflexionslust des Scheiterns ein »piacere del dolore«41, eine Lust des Schmerzes oder eine Lust im Schmerz. Für den modernen Dichter ist gerade das Scheitern der ersehnten transzendenten Erfahrung von Einheit und Fülle lustvoll und damit poetisierbar. So endet das Gedicht mit einer Schlüsselmetapher der europäischen Geistesgeschichte, mit einem Schiffbruch. Aber Leopardis »Paradigma einer Daseinsmetapher« ist nicht mehr ein »Schiffbruch mit Zuschauer« (Blumenberg). Das interesselose Wohlgefallen des mystisch-religiösen, aber auch des Kantisch-auf-
39 Dagegen bleibt die Idee der natürlichen Weltpassung noch in den Epiphanien des poète sacré virulent, der die mystische Einheit in Gott wieder aufnimmt; vgl. Rainer Zaiser: Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters, Tübingen: Narr 1995, bes. S. 135-182. 40 Vgl. Giacomo Leopardi: Zibaldone di pensieri, Milano: Mondadori 2010, Bd. I, S. 135: »Indipendentemente dal desiderio del piacere, esiste nell’uomo una facoltà immaginativa, la quale può concepire le cose che non sono, e in un modo in cui le cose reali non sono« (Hervorhebung M.H.). 41 »Non per questo che il piacere del dolore è conforto all’infelicità moderna, l’ignoranza di esso piacere era difetto alla felicità antica« (ebd., S. 106).
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klärerischen Subjekts ist nicht mehr möglich. Die fingierte erhabene Unendlichkeit und das lyrische Ich selbst scheitern im diaphanen Unendlichen des Meeres: »Und süss ist mir in diesem Meer der Schiffbruch«.
Der Dichter als Hierophant Angelos Sikelianos und die ›Delphische Idee‹ T HOMAS H EINZEL
1. Einleitung Der selbsternannte Hierophant, der ›Offenbarer des Heiligen‹, dessen Wirken im vorliegenden Beitrag in Augenschein genommen werden soll, ist in Deutschland kaum bekannt: Es handelt sich um Angelos Sikelianos (1884-1951), einen der bedeutendsten modernen griechischen Literaten. Neben lyrischer Poesie verfasste er Tragödien sowie Prosaschriften und wurde für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.1 Zu seinen bekanntesten Werken2 gehören die Gedichte Mutter Got-
1
Der griechische Schriftstellerverband schlug Sikelianos 1946 dem Nobelpreiskomitee als Kandidaten vor. Die Nominierung blieb bis 1951 bestehen, war jedoch erfolglos, vor allem auch wegen des Widerstands, dem sich Sikelianos in der griechischen Politik gegenübersah. Vgl. Renée Jacquin: L’Esprit de Delphes. Anghélos Sikélianos, Aix-en-Provence: Université de Provence 1988, S. 253-260.
2
Es liegt eine Gesamtausgabe seiner Werke im griechischen Original vor, unterteilt in Lyrik, Tragödien und Prosa. Einige Gedichte und Theaterstücke liegen in englischer bzw. französischer Übersetzung vor. Siehe z.B. Edmund Keeley/Philip Sherrard (Hg.): Angelos Sikelianos. Selected Poems, Princeton: Princeton UP 1979; Angelos Sikelianos: Dédale en Crète. Tragédie, Montpellier: G.I.T.A. 1986. Eine Rezeption seines Werkes hat in Deutschland bislang kaum stattgefunden, so dass auch nur wenige Übersetzungen ins Deutsche vorliegen. Siehe z.B. Angelos Sikelianos: »Der Entrückte«, in: Evangelos Konstantinou (Hg.), Und ewig ruft Kassandra. Eine zweisprachige Anthologie griechischer und deutscher Lyrik des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001; Angelos Sikelianos: »Marsch des Geistes«, in Ef-
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tes (1917-1919) und Osterfest der Griechen (1918) sowie die Tragödien Daidalos auf Kreta (1942) und Christus in Rom (1946). Anhand dieser Titel lässt sich bereits erkennen, dass religiöse und mythologische Motive im Schaffen Sikelianos’ eine zentrale Rolle spielen: Eine Kombination aus antiker griechischer Mythologie, christlichen Elementen und Naturmystik erweist sich als prägend für sein Gesamtwerk. Seine Weltanschauung bleibt stark von Autoren aus dem esoterisch-okkultistischen Spektrum beeinflusst, etwa im Hinblick auf den Glauben an die Existenz einer von Eingeweihten tradierten ›ewigen Weisheit‹, an der alle Weltreligionen einen spezifischen Anteil haben. Darüber hinaus ist Sikelianos in besonderem Maße den Ideen Nietzsches, Bergsons und der Romantik im Allgemeinen verbunden. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen soll es weniger um das poetische Schaffen des Griechen als vielmehr um seine Rolle als »Hierophant des delphischen Logos«3 gehen, d.h. um die sogenannte ›Delphische Idee‹, die er in der Zwischenkriegszeit zu verwirklichen versuchte: eine millenaristische Vision von Delphi als spirituellem Zentrum, an dem eine neue ›Geistesaristokratie‹ auf die Orientierung der Menschheit an den ewigen Prinzipien einer ›Urweisheit‹ hinarbeiten sollte, um so universalen Frieden und Harmonie in die Welt zu bringen. In diesem Zusammenhang ist auch auf den visuellen und inszenatorischen Aspekt dieses Vorhabens einzugehen: die ›Delphischen Festspiele‹ von 1927 und 1930. 2. Grundlinien der ›Delphischen Idee‹ Sikelianos versteht sich selbst als Teil einer ›Geistesaristokratie‹ von Eingeweihten, die über ein höheres, ganzheitliches Bewusstsein der Welt verfügen und die großen kosmischen Zyklen hinter scheinbar unzusammenhängenden bzw. zufälligen historischen Ereignissen erkennen.4 Er habe von Kindesbeinen an gespürt,
rossini Kalkasina (Hg.), Woher kommt ihr? Neugriechisches Lesebuch, München: Dtv 2001. Sikelianos’ Prosatexte (darunter die Schriften zur ›Delphischen Idee‹) sind allein in einer griechischen Ausgabe verfügbar. 3
ȉȐțȘȢ ǻȘȝܟʌȠȣȜȠȢ: ȃİȠįȦȡȚțȐ. ȉȑııİȡİȢ ȝİȜȑIJİȢ țĮȚ ȝȓĮ ĮijȚȑȡȦıȘ, ȆȪȡȖȠȢ dzȜȚĮȢ: ǺĮȡȠȣȟ ܛ1930, S.52. [TakƝs DƝmopoulos: Neodǀrika. Tesseres meletes kai mia aphierǀsƝ, Pyrgos Ɯlias: BarouxƝ 1930, S. 52.]
4
Vgl. DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´. ǻİȜijȚțȐ (1921-1951), ǹșȒȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 1980, S. 50. [Angelos Sikelianos: Pezos Logos 2. Delphika (1921-1951), AthƝna: Ikaros 1980, S. 50.]
D ER D ICHTER
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dass er in »mystischer Symbiose mit dem All«5 lebe, wie er in einer Charakterisierung der eigenen Bedeutsamkeit hervorhebt. Seinem Verständnis nach beschränkt sich die Rolle eines ›wahren‹ Poeten nicht darauf, rein künstlerisch tätig zu sein; vielmehr ist der Dichter – vor allem der Lyriker – für ihn ein poeta vates, ein göttlich inspirierter Seher und Mystagoge, der Einblick in die unsichtbare Welt hinter der sichtbaren erlangen und die Sterblichen mit dem Göttlichen in Kontakt bringen kann.6 Auf Grundlage dieses Selbstverständnisses reift in ihm das Gefühl einer höheren Berufung – der Berufung, den Grundstein für die Erlösung der Menschheit zu legen. Laut Sikelianos befindet sich die Menschheit in einer Abwärtsspirale von Verfall und Unheil infolge des Triumphs rationalistischer und materialistischer Denkweisen seit der klassischen Antike. Diese Entwicklung, die in der westlich geprägten ›mechanischen‹ Zivilisation der Moderne ihren Tiefpunkt erreicht habe, sei geprägt von der Auflösung des holistischen frühantiken Weltbildes: Das Wissen über die Einheit von Mensch, Natur und Geschichte sei im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Dies habe zu einer Entfremdung von der Natur und einer Fragmentierung des Lebens sowie des Denkens geführt. Die Menschheit habe sich von der göttlichen ›Mutter Erde‹ abgewandt und versinke in Selbstsucht, Gier und Anarchie.7 Die geistige Entwurzelung des Menschen ergebe sich Sikelianos zufolge dadurch, dass die ›uneingeweihte‹ Mehrheit der Menschen (die nach seinen Maßstäben nicht über ein höheres Bewusstsein verfügen) die organische Einheit des Seins nicht erkenne, sondern sie durch eine abstrahierende und isolierende Betrachtungsweise zerteile und das Leben einzig nach den Kriterien einer oberflächlichen materialistischen Rationalität bewerte; dies führe zu einer virtuellen Zersplitterung des sich in den Formen der physischen Welt manifestierenden göttlichen Logos.8 Krieg, geistige Orientierungslosigkeit, soziale Fragmentierung und eine Banalisierung des Daseins sind für den griechischen Dichter die Folgen dieses fehlenden Bewusstseins, die nur durch eine
5
DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȁȪȡȚțȠȢ ǺȓȠȢ ǹ´. ȆȡܟȜȠȖȠȢ, ǹșȒȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 1965, S.16. [Angelos Sikelianos: Lyrikos Bios 1. Prologos, AthƝna: Ikaros 1965, S.16.]
6
Vgl. Philip Sherrard: The Wound of Greece. Studies in Neo-Hellenism, London: Rex Collings 1978, S. 85-91.
7
Vgl. Philip Sherrard: The marble threshing floor. Studies in modern Greek poetry, Athens: Harvey 1981, S. 169; DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ A´ (1908-1928), ǹșȒȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 1978, S. 89 [Angelos Sikelianos: Pezos Logos 1 (1908-1928), AthƝna: Ikaros 1978, S. 89]; ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 293.
8
Vgl. P. Sherrard: The marble threshing floor, S. 127.
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Rückbindung der Menschheit an den »tieferen Impuls der Schöpfung«9 überwunden werden könnten: Innerhalb der Ganzheit der Welt vollziehe sich der evolutionäre Wiederaufstieg des göttlichen Geistes aus der Materie durch immer höhere Bewusstseinsformen hindurch, wobei die geistigen »Monaden« in allen Lebewesen immer mehr ihre innere »latente Harmonie« verwirklichen müssten.10 Seiner proklamierten Rolle als Hierophant entsprechend möchte Sikelianos mittels einer »neuen Einweihung der Menschheit in die Erkenntnis ihres Selbst«11 ein höheres Bewusstsein der Göttlichkeit und Einheit des Seins stiften, um so eine neue, erlösende Weltordnung zu initialisieren. Als Ausgangspunkt für die spirituelle Vereinigung und Erhöhung des Menschengeschlechts wählt Sikelianos Delphi – eines der wichtigsten religiösen Zentren der griechischen Antike mit panhellenischen Institutionen wie dem berühmten Orakel oder den Pythischen Spielen. In seinen Prosaschriften bezieht sich der Lyriker jedoch nur z.T. auf die Erkenntnisse der akademischen Wissenschaft zur Geschichte des Ortes; vielmehr vertritt er in beträchtlichem Maße eine emische Sichtweise, die sich stark von den Werken esoterischer Autoren12 beeinflusst zeigt. Seine Texte zur ›Delphischen Idee‹ entwickeln in groben Zügen folgende Erzählung: Einst sei Delphi eine der heiligen Institutionen der »globalen arischen Amphiktyonie«13 gewesen, eines Idealstaats in einem frühantiken, indoeuropäischen ›Goldenen Zeitalter‹. In Gestalt des dorischen Volksstamms seien arische Kulturheroen nach Griechenland gekommen und hätten das delphische Heiligtum als
9
ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 333.
10 Ebd., S.88. Sikelianos folgt damit der gnostisch-neoplatonisch geprägten kosmologischen Konzeption der Theosophin Helena Blavatsky (1831-1891) und ihrer Nachfolger. Vgl. Helena Blavatsky: Die Geheimlehre, Hannover: Verlag Esoterische Philosophie 1999. 11 ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 229. 12 Zu nennen ist hier insbesondere der Franzose Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842-1909), dessen Konzept der ›Synarchie‹ als idealer, organischer Gesellschaftsordnung unter geistiger Anleitung Eingeweihter entscheidenden Einfluss auf Sikelianos und die ›Delphische Idee‹ ausübte. Vgl. R. Jacquin: L’Esprit de Delphes, S. 9495; ȇȓIJıĮ ĭȡȐȖțȠȣ-ȀȚțȓȜȚĮ: DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ. ǺĮșȝȓįİȢ ȂȪȘıȘȢ, ǹșȒȞĮ: ȆĮIJȐțȘ 2002, S. 277-286. [Ritsa Fragkou-Kikilia: Angelos Sikelianos. Bathmides MyƝsƝs, AthƝna: PatakƝ 2002, S. 277-286.] Zu Saint-Yves d’Alveydre und der ›Synarchie‹ vgl. Yves-Fred Boisset: Saint-Yves d’Alveydre. Une philosophie secrète, Paris: Duapha 2005. 13 ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 123.
D ER D ICHTER
ALS
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Zentrum eines universal-gesellschaftlichen Programms etabliert, welches in Indien, Ägypten, Chaldäa usw. ebenfalls umgesetzt worden sei.14 Delphi habe fortan als Herd einer »kosmischen Ethik«15 (basierend auf der ›Ewigen Weisheit‹) fungiert, welche die Orientierung der Massen an unveränderlichen Prinzipien sichergestellt und so für soziale Harmonie sowie Zusammenhalt gesorgt habe. Unter dem Einfluss dieser Ethik sei die griechische Kultur in der vorklassischen Antike erblüht.16 Delphi sei als spirituelles Zentrum zum ›Nabel‹ der Welt geworden, zu dessen Zielen die systematische Befreiung der Sklaven und die Gleichheit der Geschlechter ebenso gehört hätten wie die freundschaftliche Begegnung und Versöhnung aller bekannten Völker. Zu diesem Zweck seien auch Festspiele abgehalten worden, welche die jeweiligen Mythen der einzelnen Völker aufgenommen hätten.17 An der Spitze der delphischen Organisation standen, so Sikelianos, die höchsten Eingeweihten, eine religiöse Elite, deren Aufgabe es gewesen sei, über die zeitgenössische Geschichte aller bekannten Völker zu wachen und ihre geistigen Strömungen zusammenzuführen.18 Im Laufe der Zeit hätten Delphi und die anderen geistig sowie gesellschaftlich regulativen heiligen Zentren jedoch ihre Bedeutung und ihren Einfluss verloren; das Erbe des ›Goldenen Zeitalters‹ sei unter oberflächlicher Philosophie, selbstsüchtiger und kurzsichtiger Politik, einem dogmatischen Christentum sowie westlichem Rationalismus, Materialismus und Individualismus begraben worden. Spuren der glorreichen antiken griechischen Kultur und Weisheit erkennt Sikelianos dagegen in der ländlichen griechischen Volkstradition (ihren Mythen, ihrer Haltung zur Natur, dem Kunsthandwerk, der Musik etc.).19 Um eine neue Ära der Ganzheit und Harmonie einzuläuten, plant der Grieche, Mitstreiter zu mobilisieren, die sein Leiden an der Moderne teilen: Der Aufschwung holistischer und antirationalistischer Strömungen seit dem Fin de Siècle veranlasst Sikelianos zu der Schlussfolgerung, dass Eingeweihte,
14 Vgl. ebd., S. 75f. 15 Ebd., S. 88f. 16 Unter Einwirkung der kosmischen Ethik (Sikelianos spricht auch von der »arischen Intelligenz«; vgl. ebd., S. 88) habe die Menschheit die »höchsten Formen gesellschaftlicher Institutionen, Individuen und Symbole« hervorgebracht, u.a. die Veden, Orpheus, Homer, Delphi, Pythagoras, Eleusis, Aischylos und schließlich auch Jesus als »lebendige Verkörperung« dieser Ethik. Siehe ebd., S. 89. 17 Vgl. ebd., S. 275. 18 Vgl. ebd., S. 274. 19 Vgl. P. Sherrard: The marble threshing floor, S. 128ff.
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die die Geheimnisse des Lebens und des Universums kennen, noch immer auszumachen sind. Er ist überzeugt, dass die fundamentalen Probleme der Menschheit gelöst werden könnten, wenn es gelänge, diese verstreute spirituelle Elite zusammenzubringen, um zu kooperieren. Als Stätte ihrer Zusammenkunft (als »Arena des Lichts«20) bestimmt er Delphi – in seinen Augen ein ahistorischer Ort, wo die Zeit besiegt worden sei und die »Dauer« herrsche.21 Delphi sei einer derjenigen über die ganze Welt verstreuten Orte, an denen das Numinose besonders erfahrbar sei: Die Seele jedes Menschen könne dort mit der »Essenz und der ganzen Wahrheit des Planeten« in Kontakt treten.22 Das »lebendige Gedicht des Sonnenlogos« erfülle Delphi unaufhörlich mit seiner »mystischen Strahlung«23. Delphi könne diese Rolle allerdings nur spielen, wenn Griechenland insgesamt seiner Bestimmung gerecht werde: Sikelianos bemängelt, dass das Land zwar im 19. Jahrhundert seine politische Unabhängigkeit erlangt habe, jedoch nicht seine geistige Befreiung, die durch eine einseitige Orientierung am Westen verhindert werde.24 Der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden politischen, sozialen sowie ökonomischen Krisen erscheinen dem Lyriker wie eine Zeitenwende, eine Katharsis, die den Weg für die Erlösung der Menschheit frei mache. Es sei die Mission Griechenlands, die Speerspitze dieser Entwicklung zu bilden, indem es zu seinem ›wahren Selbst‹ zurückkehre, geistige sowie soziale Einheit erlange und das spirituelle Kapital seiner glorreichen Vergangenheit zum Wohle der gesamten Menschheit einsetze. Die Griechen sollten zu den »Prinzipien der
20 ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 332. 21 Vgl. ebd., S. 83. 22 Vgl. ebd., S. 238. 23 Ebd., S. 53. Der ›Sonnenlogos‹ stellt in der theosophischen Terminologie das rationale göttliche Bewusstsein bzw. den Geist dar, welcher das gesamte Leben und alle Formen eines Sonnensystems beseelt; d.h. er erweist sich als ein Teilaspekt des großen kosmischen Logos. Vgl. Theodore Besterman: Dictionary of Theosophy, Whitefish: Kessinger 2003, S. 66. Laut Sikelianos war »der dorische Gott Apollon für seine Eingeweihten wirklich der Weltlogos«, die »kolossale Existenz des schöpferischen und geistigen Lichts, das unaufhörlich im Weltall tätig ist«. ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 85f. 24 Vgl. ebd., S. 345. Sikelianos gibt hier ausführlich die Worte wieder, mit denen sein Vater die kindliche Begeisterung des Sohnes über die griechische Unabhängigkeit gedämpft habe und die ihn zur Suche nach dem »verborgenen griechischen Geist« motivierten.
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Dorischen Orthodoxie«25 zurückfinden (also zu den Prinzipien der antiken arischen Eingeweihten) und die regulative Rolle Delphis als geistiges Zentrum und ›Nabel‹ der Welt erneuern. Zwischen 1926 und 1936 verfolgt Sikelianos sein Ziel der Schaffung eines derartigen Zentrums – eines »Neuen Jerusalems«26 – mittels einer Reihe von Vorträgen, Artikeln, Konferenzen, Gesprächen (mit Intellektuellen sowie Politikern) und nicht zuletzt der beiden ›Delphischen Festspiele‹. Er beabsichtigt, eine internationale Elite von ›Eingeweihten‹ in Griechenland zu versammeln, um eine ›Delphische Vereinigung‹ zu bilden. Die geplante ›Delphische Universität‹ als spirituelles Zentrum sollte über territoriale Autonomie und politische Unabhängigkeit verfügen.27 Sie hätte eine »Zentralorganisation«28 als höchstes Gremium der Eingeweihten umfasst sowie Schulen für weltanschauliche Studien und ihre ökonomischen bzw. soziologischen Anwendungen, ein Konservatorium, allgemeinkünstlerische wie auch explizit religiöse Veranstaltungen (einschließlich der alle zwei bis drei Jahre stattfindenden ›Delphischen Festspiele‹), internationale Konferenzen, eine landwirtschaftliche Kooperative, die Herstellung von Kunsthandwerk sowie regionale Komitees und Zentren in ganz Griechenland zur Verbreitung und Durchsetzung der ›ewigen‹ delphischen Prinzipien.29 Die Struktur der in dieser Gestalt angedachten ›Delphischen Universität‹ ähnelt z.T. dem Modell von Rudolf Steiners ›Freier Hochschule für Geisteswissenschaft‹ im sogenannten Goetheanum bei Basel. Auch wenn sich Sikelianos nie explizit auf Steiner bezieht, so wurde er dennoch offenkundig vom Begründer der Anthroposophie inspiriert.30
25 Ebd., S. 274. Sikelianos nennt sechs Prinzipien, zu denen er aber nur sehr knappe und vage Ausführungen macht: Strahlung, Harmonie, Disziplin, Einfachheit, Autonomie, Gedächtnis. Vgl. ebd., S. 358f. 26 DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: īȡȐȝȝĮIJĮ ıIJȘȞ EȪĮ ȆȐȜȝİȡ ȈȚțİȜȚĮȞȠȪ, ǹșܛȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 2008, S. 90. [Angelos Sikelianos: Grammata stƝn Eva Palmer Sikelianou, AthƝna: Ikaros 2008, S. 90.] 27 Vgl. ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 279f. 28 Ebd., S. 63. 29 Vgl. Angelos Sikelianos: Plan général du mouvement delphique: L’Université de Delphes, Paris: Les Belles Lettres 1929, S. 19-40; ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 433ff. 30 Efthalie Papadaki vertritt die These, dass Sikelianos mit seiner geplanten ›Delphischen Universität‹ den 1925 verstorbenen Steiner zu ersetzen beabsichtigte. Vgl. Efthalie Papadaki: L’interprétation de l’antiquité en Grèce moderne: Le cas de Anghélos et Eva Sikélianos, Paris: Univ. Diss. 1998, S. 202f.
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Die langfristigen Ziele des spirituellen Zentrums von Delphi auf der nationalen sowie internationalen Ebene stellen sich in Sikelianos’ Entwurf wie folgt dar: 1. Die allgemeine Etablierung eines holistischen und spirituellen Weltbildes sowie einer Orientierung an ewigen Prinzipien, d.h. die Überwindung von Materialismus, Rationalismus und historischem Relativismus.31 2. Die Verbrüderung der Menschheit, d.h. die Überwindung von nationalem Chauvinismus, Imperialismus und religiösem Partikularismus; Erziehung und Führung der Volksmassen hin zu Einheit und Harmonie.32 3. Die Rückkehr zur »Mutter Erde« und zur Volksseele durch eine Stärkung der Landwirtschaft, ländlicher Regionen sowie des volkstümlichen Kunsthandwerks, um ein Gegengewicht zu der sich ausbreitenden, minderwertigen industriellen Massenproduktion und zum »wachsenden Monster der mechanischen Welt«33 zu schaffen. Sikelianos erhebt den Anspruch, ein spirituelles Zentrum zu schaffen, das »sicherlich weder Genf, noch Rom, noch Mekka, noch Moskau« darstellen würde, sondern »etwas anderes, etwas in dieser Stunde auf der Welt notwendigeres: der kleine, aber stabile und autonome Kompass«, der den Menschen Orientierung geben könnte.34 Im Kontakt mit den spirituellen Zentren anderer Länder, als Begegnungsort einer internationalen Geisteselite sowie als Brücke, die Ost (Asien) und West in einer »vollständigen Kultur«35 miteinander vereint, solle Delphi und damit Griechenland insgesamt – nach den Konzeptionen Sikelianos’ – zum Ausgangspunkt für die Entstehung eines globalen Friedensreiches werden. 3. Die Delphischen Festspiele Die Delphischen Spiele fanden zweimal statt, 1927 und 1930. Zentral ist in dieser Hinsicht das Wirken von Sikelianos’ erster Ehefrau – der gebürtigen Amerikanerin Eva Palmer (1874-1952). Sie finanzierte die ›Delphischen Festspiele‹ und hatte die künstlerische Leitung inne. Palmer stammte aus einer reichen New
31 Vgl. ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 50, 64, 69f., 72 und 304. 32 Entsprechend habe sich auch die Rolle Delphis im frühantiken ›Goldenen Zeitalter‹ dargestellt: Ein »Strahl der universalen Wahrheit« sei von dort zu den Massen gelangt und habe ihnen einen schöpferischen Rhythmus und einen »oft steinharten Zusammenhalt« gegeben. Vgl. ebd., S. 74. 33 E. Palmer-Sikelianos: Upward Panic, S. 78ff. Vgl. daneben ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 186-190. 34 Vgl. ebd., S. 280. 35 Ebd., S. 250.
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Yorker Familie und war eine äußerst begabte Choreographin sowie Künstlerin, die die Vision ihres Mannes uneingeschränkt teilte und die ästhetische Seite der ›Delphischen Idee‹ prägte.36 Nahezu alle Zuschauer besuchten die Veranstaltungen kostenlos auf Einladung des Ehepaares Sikelianos; es handelte sich von Anfang an um ein nichtkommerzielles, idealistisches Projekt. Neben Intellektuellen, Journalisten und Künstlern aus dem In- und Ausland sowie Angehörigen verschiedener staatlicher und öffentlicher griechischer Einrichtungen wurden auch Einwohner Delphis sowie der umliegenden Dörfer zu gesonderten Vorführungen in das antike Theater eingeladen.37 Die Festspiele waren zum einen als ein Zeichen für die in der Welt verstreute spirituelle Elite gedacht, sich in Delphi zu vereinen. Zum anderen sollten sie das griechische Selbstbewusstsein fördern, den nationalen Zusammenhalt stärken und der Welt zeigen, dass das moderne Griechenland nicht bloß ein Schatten antiker Größe sei, sondern aufgrund seines immensen geistigen Erbes eine aktive Rolle in der Welt zu spielen vermöge.38 Die Spiele bestanden aus vier Teilen: 1. Eine Ausstellung von volkstümlichem Kunsthandwerk sowie Aufführungen von Volksliedern und -tänzen, um die seit alten Zeiten bewahrte Kreativität der Griechen zu demonstrieren sowie der von Sikelianos postulierten Bewahrung des antiken Erbes in ländlichen Traditionen Rechnung zu tragen. 2. Eine Aufführung von byzantinischem Kirchengesang, der – so sah es das Ehepaar Sikelianos – ein lebendiges Überbleibsel der ursprünglichen antiken Tragödienmusik sei.39 3. Wettkämpfe und Aufführungen in der Tradition der antiken Pythischen Spiele, z.B. Diskus- und Speerwerfen, Bogenschießen, Tauziehen oder auch ein altgriechischer Waffentanz (›Pyrrhischer Tanz‹); das in diesen Veranstaltungen kommunizierte Körper- und Männlichkeitsbild erinnert deutlich an nietzscheanische Vorstellungen von Stärke, Vitalität und Heldentum. 4. Zudem die Höhepunkte und zentralen Ereignisse der Festspiele: Aufführungen von Tragödien des antiken Autors Aischylos (Der gefesselte Prometheus bei beiden Festspielen, 1930 zusätzlich Die Schutzsuchenden). Die Aufführungen in Delphi sollten das Publikum nicht einfach als rein ästhetisches Vergnügen unterhalten; vielmehr waren sie als kunstreligiöse Rituale
36 Zu Eva Palmer siehe vor allem ihre Autobiographie: E. Palmer-Sikelianos: Upward Panic. 37 Vgl. E. Papadaki: L’interprétation de l’antiquité, S. 176-179. 38 Vgl. A. Sikelianos: Plan général, S. II-III. 39 Vgl. E. Palmer-Sikelianos: Upward Panic, S. 107.
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gedacht, welche die Verbindung der Zuschauer mit den kosmischen Prinzipien (s.o.) herstellen sollten.40 Sikelianos sprach in diesem Zusammenhang von einer »kosmischen Liturgie«41. Wie oben erwähnt, lag eine der visionär intendierten Aufgaben des geplanten geistigen Zentrums in der Erziehung und spirituellen Erhöhung des Volkes. Sikelianos lag allerdings nicht an einer Popularisierung und damit Profanisierung dessen das, was er als ›Ewige Weisheit‹ sah. Wie die imaginierten Eingeweihten der Antike wollte er vielmehr die esoterische Lehre durch äußere Formen ausdrücken, mittels derer der Einzelne dann, je nach seiner individuellen geistigen Kapazität und Entwicklungsstufe, so viel versteht, wie es ihm eben möglich ist.42 Aischylos, ein Eingeweihter in die Eleusinischen Mysterien, habe dieses erzieherische Ziel erreicht, indem er etwas von der ›Ewigen Weisheit« in der symbolischen Form des Gefesselten Prometheus offenbart habe.43 In seiner delphischen Prosa beschreibt Sikelianos Beobachtungen, die er während einer der Aufführungen des Stücks vor Dorfbewohnern aus der Region gemacht habe. Er berichtet, eine aufmerksame Stille wäre eingetreten; das Publikum sei von einer höheren Intuition diszipliniert worden – das religiöse Wesen des Werkes sei auf diese Weise zum Ausdruck gekommen.44 Sikelianos und Palmer inszenieren das Werk 1927 unter Verwendung christlicher Symbolik: Prometheus wird mit weit ausgebreiteten Armen an einen Pappmaché-Felsen gefesselt wie Christus ans Kreuz. Deutsche Beobachter vergleichen die delphische Aufführung daher auch mit den katholischen Passionsspielen in Oberammergau.45 Für Sikelianos stellen sowohl Prometheus als auch Christus Symbole des Weltgeistes dar, des alles durchdringenden Logos, der sich in der materiellen Welt zersplittert zeigt, ›gekreuzigt‹ in der Selbstsucht, Ignoranz und mangelnden Schaffenskraft nahezu aller Menschen. Er ruht in jedem Individuum als eine Art göttlicher Samen, der nur auf seine Befreiung wartet.46 Die Verwirklichung und Freisetzung dieses supraindividuellen göttlichen Selbst bildet somit, in symbolischer Hinsicht, die Befreiung des Prometheus vom Felsen bzw. die Erlösung Christi vom Kreuz. Prometheus und Christus repräsentieren für den griechischen Poeten die Möglichkeit einer höheren Ordnung des Lebens. Zeus und seine Gehilfen, die den Helden an den Felsen geschlagen haben,
40 Vgl. ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 58. 41 Ebd., S. 113. 42 Vgl. P. Sherrard: The marble threshing floor, S. 158. 43 Vgl. ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 108f. 44 Vgl. ebd., S. 114. 45 Vgl. E. Papadaki: L’interprétation de l’antiquité, S. 184. 46 Vgl. P. Sherrard: The marble threshing floor, S. 168.
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symbolisieren die Kräfte, welche die spirituelle Vereinigung und Erhöhung der Menschheit behindern: die niedere Natur des Menschen, Materialismus, Ignoranz, Selbstsucht, politische Machtgier, religiöser Fanatismus etc. Die ›Delphischen Festspiele‹ erwiesen sich insgesamt als ein großer künstlerischer Erfolg: Die Qualität der Aufführungen wurde im In- und Ausland überwiegend gelobt. Die griechische Regierung begrüßte die eindrucksvolle Präsentation des ›nationalen Erbes‹, die dem internationalen Prestige des Landes förderlich war. Das Ehepaar Sikelianos wollte jedoch kein reines Unterhaltungsspektakel oder gar eine Touristenattraktion schaffen – die Veranstaltungen waren lediglich als Vorspiel zum eigentlichen Ziel Sikelianos’ und seiner Frau gedacht: der Schaffung eines spirituellen Zentrums. Diese idealistische Ausrichtung stand jedoch im Widerspruch zum Wunsch der griechischen Obrigkeit, die Festspiele als regelmäßig stattfindende kommerzielle Aufführungen zu etablieren – ohne ›Delphische Universität‹.47 Weder die Regierung noch die Orthodoxe Kirche konnten einen Plan akzeptieren, der de facto die Gründung eines autonomen, nicht-orthodoxen religiösen Zentrums in Delphi bedeutet hätte.48 Daran änderte auch der Sikelianos wohlgesonnene neue Bildungsminister Ioannis Makropoulos nichts, der 1934 eine Gesetzesvorlage zur »Gründung einer Delphischen Organisation« ins Parlament einbrachte und so neue Hoffnungen in Sikelianos aufflammen ließ.49 Der tiefreligiöse Lyriker fand mit seinem Vorhaben in den Kreisen der griechischen Intellektuellen lediglich eine geringe Anzahl von Anhängern und Fürsprechern, die über eine ähnliche weltanschauliche Ausrichtung verfügten und
47 Vgl. E. Palmer-Sikelianos: Upward Panic, S. 136. 48 Die Kirchenführung fürchtete ein Wiederaufleben des vorchristlichen Polytheismus. Vgl. ǼȚȡȘȞĮȓȠȢ ȈȐȝȠȣ: »Dzȟ ĮijȠȡȝȒȢ ȑȞȠȢ ȠȡĮȝĮIJȚıȝȠȪ«, in ǼțțȜȘıȓĮ 7 (1933), 5052. [EirƝnaios Samou: »Ex aphormƝs enos oramatismou«, in EkklƝsia 7 (1933), S. 5052.] 49 Vgl. DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: īȡĮȝȝĮIJĮ. ȉ. 2, ǹșȒȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 2000, S. 12. [Angelos Sikelianos: Grammata. Bd. 2, AthƝna: Ikaros 2000, S. 12.] Das entsprechende Gesetz mit der Nummer 6323 wurde 1934 tatsächlich verabschiedet; es sah jedoch nicht die Gründung der ›Delphischen Universität‹ vor, sondern stellte die Aufstellung eines 22köpfigen Komitees in Aussicht, das sich mit dem ›Delphischen Projekt‹ befassen sollte. Die Mitglieder dieses Komitees, mehrheitlich Beamte, wurden von staatlichen Stellen bestimmt, eine Mitgliedschaft von Sikelianos selbst war nicht vorgesehen. Letztlich diente das Gremium dazu, die Möglichkeiten einer dauerhaften Kommerzialisierung der Festspiele ohne spirituelles Zentrum zu sondieren, was der Dichter in einem Brief an Makropoulos auch beklagte. Vgl. A. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: īȡȐȝȝĮIJĮ. ȉ. 2, S. 167ff.
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eigene Artikel zur ›Delphischen Idee‹ veröffentlichten bzw. bei der Organisation der ›Delphischen Spiele‹ mitwirkten.50 Vielfach nahmen griechische Literaturkritiker und Intellektuelle – trotz positiver Kommentare zu den Festspielen – an der Vagheit von Sikelianos’ Ausführungen und der Unverständlichkeit der delphischen Prosa Anstoß. Dem Künstler wurde Realitätsverlust attestiert: Seine utopische Altertumsverehrung und seine mystische Weltanschauung hätten keinerlei Bezug zu den Problemen des modernen Griechenland.51 Darüber hinaus ruinierte die aufwändige Organisation der Festspiele das Ehepaar in finanzieller Hinsicht. Eine dritte Auflage der Festspiele ließ sich nicht mehr verwirklichen. Trotz des Scheiterns seiner Vision betrachtete Sikelianos die ›Delphische Idee‹ als das entscheidende Werk seines Lebens; bis zu seinem Tod sehnte er die Wiederaufnahme des Projekts und die Vereinigung sowie spirituelle Erhöhung der Menschheit herbei. 4. Abschließende Bemerkungen Sikelianos diagnostiziert eine allgemeine, weltumspannende gesellschaftliche Anarchie, ein »wildes Durcheinander widerstrebender sozialer und historischer Strömungen«52. Diese Desorientierung sei durch die fehlende Verwirklichung der kosmischen Prinzipien entstanden. Den einzigen Ausweg aus dieser Situation sieht er in der geistigen Vereinigung der Menschheit, und zwar mittels eines explizit religiösen Ansatzes: die Schaffung einer spezifischen Form theokrati-
50 Das Thema der griechischen Unterstützer von Sikelianos wird in der Forschungsliteratur bislang kaum ausführlich behandelt. Dimitris Tsakonas nimmt eine entsprechende Perspektive anfänglich auf, indem er von einem »Kreis um Sikelianos« spricht, der in künstlerischer Hinsicht von dessen Poesie beeinflusst sei und die ›Delphische Vision‹ teile bzw. zumindest unterstütze. Tsakonas nennt allerdings nur drei Personen: die Autoren Takis Barlas, Linos Karzis und Nikos Proestopoulos. Vgl. ǻȘȝܛIJȡȘȢ ȉıĮțܣȞĮȢ: ȁȠȖȠIJİȤȞȓĮ țĮȚ țȠȚȞȦȞȓĮ ıIJȠ ȝİıȠʌܟȜİȝȠ, ǹșܛȞĮ: ȀȐțIJȠȢ 1987, S. 383-399. [DƝmƝtrƝs Tsakǀnas: Logotechnia kai koinǀnia sto mesopolemo, AthƝna: Kaktos 1987, S. 383-399.] Es lassen sich jedoch darüber hinaus etwa zehn weitere Personen aus Griechenland benennen, einschließlich der fünf Unterzeichner (neben dem Ehepaar Sikelianos) der folgenlos gebliebenen Satzung der ›Delphischen Vereinigung‹ von 1931, darunter der renommierte Soziologe und spätere Premierminister Panajotis Kanellopoulos (1902-1986). Vgl. A. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: īȡȐȝȝĮIJĮ. ȉ. 2, S. 9. 51 Vgl. Ioanna Mylonaki: Die Suche nach der »Nationalen Identität«. Eine griechische literarische Zeitschrift der Zwischenkriegszeit, Frankfurt/M.: Lang 1995, S. 71. 52 ǹ. ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ Ǻ´, S. 98.
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scher Institutionen (in Delphi wie auch außerhalb Griechenlands) seitens einer ›erleuchteten Elite von Eingeweihten‹, die die kosmischen Zusammenhänge erkannt haben und auf der Grundlage dieses Wahrheitspostulates für sich in Anspruch nehmen, absolute Prinzipien definieren sowie implementieren zu können. Wie oben ausgeführt, fordert Sikelianos die Abkehr von Materialismus, Rationalismus und historischem Relativismus; in der Praxis hätte dies die Unterordnung von Wissenschaft und Geschichtsschreibung unter die von den delphischen ›Hierophanten‹ vertretenen weltanschaulichen Prämissen bedeutet. Die einander zuwiderlaufenden Interessen und Bestrebungen der Menschen, ihre Selbstsucht und Ignoranz bilden für den Poeten die Wurzel von Krieg und Tyrannei; nur durch die Ausrichtung der gesamten Menschheit auf die eine, Völker, Staaten und Religionen transzendierende göttliche Wahrheit kann seiner Ansicht nach Frieden und Harmonie entstehen. Dies ist der totalitäre Wesenszug der ›Delphischen Idee‹.53 Letztlich zielt das Projekt Sikelianos’ auf eine Entsäkularisierung der Gesellschaft ab: Die Ausdifferenzierung autonomer sozialer Wertsphären (Politik, Bildungswesen, Wirtschaft, Kunst etc.) als Ergebnis der gesellschaftlichen Emanzipation von religiösen Normen und Institutionen – ein Prozess, der sich für die Geschichte des Westens als prägend erwies und vor allem nach 1832 auch Griechenland erfasste – soll durch die Bindung eben dieser Wertsphären an die von der ›Delphischen Universität‹ vorgegebene geistige Orientierung überwunden werden. Sikelianos formuliert damit gegenüber der Orthodoxie als dominanter Mehrheitsreligion in Griechenland einen devianten Wahrheitsanspruch, alternative Heilsziele und -wege. Er bezeichnet seine eigene Religiosität als »orphisches Christentum, das Christentum Jesu selbst«54. Dem universalen Rechtgläubigkeitsanspruch der Kirche stellt er eine religiöse Selbstlegitimierung unter Rückgriff auf die ›ursprüngliche‹, esoterische Lehre Jesu entgegen – eine Lehre, die gemäß seiner Weltanschauung identisch ist mit derjenigen anderer großer Eingeweihter der Geschichte wie etwa Orpheus, Pythagoras, Hermes Trismegistos oder Mose.55 Sikelianos kritisiert, dass sich in der byzantinischen Zeit im öst-
53 Sikelianos erkennt sowohl im Faschismus als auch im Kommunismus »wertvolle Elemente und eine gewisse Tendenz zur Einheit«, vgl. ebd., S. 363. 54 Ebd., S. 272. 55 Sikelianos zeigt sich in dieser Hinsicht besonders von dem französischen Schriftsteller, Wagnerianer und Theosophen Édouard Schuré (18411929) beeinflusst. Dessen Publikation Die Großen Eingeweihten von 1889 gilt als Klassiker esoterischer Literatur und erscheint auch gegenwärtig noch in immer neuen Auflagen. Siehe Édouard Schuré: Die Großen Eingeweihten, Grafing: Aquamarin 2010. Sikelianos las das Buch
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lichen Christentum eine »negative Anthropologie« (welche die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur betone) und, damit verbunden, eine monastisch-asketische Ausrichtung durchgesetzt habe.56 Demgegenüber preist der Poet das Ideal einer religiösen Elite, die nicht nach außerweltlicher Askese strebt, sondern die Welt aktiv formt, die Menschen kollektiv zum Höheren erzieht und dadurch das Göttliche in ihnen befreit. Genau diese innerweltliche Mission hatte Sikelianos der ›Delphischen Vereinigung‹ zugedacht.
bereits als Jugendlicher. Zudem trat er zu Beginn der ›Delphischen Idee‹ brieflich mit Schuré in Kontakt, lud ihn zu den Festspielen ein und erwog sogar, eines der Mysterienspiele des Franzosen in Delphi aufzuführen. Vgl. DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: īȡȐȝȝĮIJĮ. ȉ. 1, ǹșȒȞĮ: ǴțĮȡȠȢ 2000, S. 394ff., 444f. und 467. [Angelos Sikelianos: Grammata. Bd. 1, AthƝna: Ikaros 2000, S. 394ff. [s.o.], 444f. und 467.] 56 Vgl. DZȖȖİȜȠȢ ȈȚțİȜȚĮȞܟȢ: ȆȑȗȠȢ ȁܟȖȠȢ E´ (1945-1951), ǹșȒĮ: ǴțĮȡȠȢ 1985, S. 33. [Angelos Sikelianos: Pezos Logos 5 (1945-1951), AthƝna: Ikaros 1985, S. 33.]
Das ›Heilige‹ und die Theorie Einige Überlegungen zur Theorie und ihrer Dynamik bei Michail M. Bachtin M AIK N EUMANN
I Das ›Heilige‹ als leitender Aspekt zur Fokussierung Michail M. Bachtins, eines der einflussreichsten Protagonisten literaturtheoretischer sowie philosophischer Diskussionen des 20. Jahrhunderts1, muss auf den ersten Blick überraschen, lässt sich in seinen Schriften doch kaum ein religiös inspirierter Akzent ausmachen.2 Einen wesentlichen Anhaltspunkt zur Relevanz einer solchen Frageperspektive bietet jedoch der in der Forschungsliteratur wiederholt aufgenommene Vergleich zwischen den Studien Michail Bachtins und Martin Bubers. Während sich die grundlegenden Bezugnahmen sowie Parallelen im Kontext der zentralen Ansätze von Buber und Bachtin – vor allem in Bezug auf die jeweils spezifische Dialog-Konzeption – in verschiedenen Forschungsanalysen de-
1
Exemplarisch sei in dieser Hinsicht vor allem der entscheidende Einfluss Bachtins auf die poststrukturalistische Theoriebildung erwähnt, den u.a. Matthias Aumüller in einer prägnanten Übersicht belegt. Vgl. Matthias Aumüller: »Michail Bachtin«, in: Matías Martínez/Michael Scheffel (Hg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München: Beck 2010, S. 105-126, hier S. 121-123.
2
Verschiedene, allerdings eigentümlich in den eigenen Ansatz eingepasste Bezugnahmen auf lebens- und religionsphilosophische Theoreme sowie Begrifflichkeiten zeitgenössischer Kontexte bzw. Kontroversen können dagegen gleichwohl z.T. stringent nachgewiesen werden. Vgl. dazu ausführlich Matthias Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur, Frankfurt/M. u.a.: Lang 1993, S. 17-61.
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tailliert dargestellt finden3, gewinnt eine Begrifflichkeit des ›Heiligen‹ in diesem Zusammenhang kaum an Kontur.4 Wie Maurice S. Friedman in einer vergleichenden Übersicht aufzeigt, stellen vor allem die sprachwissenschaftlichen, philosophischen sowie literatur- bzw. gesellschaftstheoretischen Implikationen die entscheidenden Affinitäten beider Annäherungen an eine dialogisch gedachte Erkenntnis sowie Bedeutungs- und Identitätsbildung dar. So betont Friedman u.a. mit Blick auf Bachtins Dostojewskij-Studien eine stringente Traditionslinie: »This experiencing of the other side is essential to the distinction which Buber makes between ›dialogue‹, in which I open myself to the otherness of the person I meet, and ›monologue‹, in which, even when I converse with her at length, I allow her to exist only as a content of my experience. […] Such in brief is Buber’s understanding of dialogue and, as we shall see, Bakhtin’s also. Bakhtin was a thoroughly dialogical thinker. For him, the voice of the person is inseparable from the dialogue between I and Thou. What became
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Insbesondere in den Forschungsarbeiten zu Bachtin zeigt sich wiederholt eine analytische Engführung mit verschiedenen Theoremen Bubers. Daneben wird u.a. die BuberRezeption Bachtins in ihrer weitgehend impliziten Bezugnahme verschiedentlich akzentuiert. Vgl. in dieser Hinsicht als exemplarische Auswahl: M. Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik, S. 43f.; Maurice S. Friedman: Martin Buber. The Life of Dialogue, 4., überarbeitete und erweiterte Aufl., London: Routledge 2002, S. 353-366; Steven Kepnes: »Buber and Bakhtin: Towards a Dialogical Theory of Language and Interpretation«, in: The Journal of Jewish Thought and Philosophy 2 (1992), S. 77-95; Steven Kepnes: The text as thou. Martin Buber’s Dialogical Hermeneutics and Narrative Theology, Bloomington/Indianapolis: 1992, S. 63-71; Wolf Schmid: Bachtins »Dialogizität« – eine Metapher, in: Hans-Günter Hilbert (Hg.), Roman und Gesellschaft. Internationales Michail-Bachtin-Colloquium, Jena: FriedrichSchiller-Universität Jena 1984, S. 70-77; Tzvetan Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle, übers. v. Wlad Godzich, Manchester: Manchester UP 1984, S. 29-34 und 94-113. Vgl. darüber hinaus zu einer wesentlichen Übersicht der sich seit den 1980er Jahren intensivierenden, kaum noch ganzheitlich zu überblickenden BachtinRezeption u.a. Carol Adlam/David Shepherd: The annotated Bakhtin bibliography, Leeds: Maney 2000; Markus May: »Bachtin im Dialog. Über den Gesprächspartner«, in: Markus May/Tanja Rudtke (Hg.), Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann, Heidelberg: Winter 2006, S. 9-27; Sylvia Sasse: Michail Bachtin. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S. 8-14.
4
Vgl. in dieser Hinsicht exemplarisch Katerina Clark/Michael Holquist: Mikhail Bakhtin, Cambridge, MA/London: Harvard UP 1984, S. 120-145; S. Kepnes: Buber and Bakhtin, S. 80-84; S. Sasse: Michail Bachtin, S. 33-35 und 91f.
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explicit in the philosophy of Martin Buber two generations later was already implicit in the thought of Dostoievsky as Bakhtin expounds it.«5
Das verbindende Element beider Theorie-Paradigmen ist demnach primär in einer grundlegenden Unterscheidung zu erkennen, mithin in einer formalen Operation: der Differenzierung zwischen ›Dialog‹ und ›Monolog‹, die in ihrer individuellen Setzung jeweils spezifische Prämissen sowie Folgeunterscheidungen evoziert, auf die im Folgenden – primär im Hinblick auf Bachtin6 – noch näher einzugehen sein wird. Die darin angelegte Perspektivierung der formalen Verfahren dialogtheoretischer Ansatzpunkte soll in den vorliegenden Ausführungen aufgenommen sowie um die Beobachtung weiterer Charakteristika der Bachtin’schen Theorieentwicklung ergänzt werden. Die verschiedentlich konstatierten Parallelen zwischen »Buber’s understanding of dialogue« und den Theoremen Bachtins als »a thoroughly dialogical thinker« lassen sich dergestalt mit einem formal-prakti-
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M.S. Friedman: Martin Buber, S. 354f. Die abschließenden Zeilen Friedmans heben diesen Gedanken noch einmal in der Form einer generellen Wendung hervor: »Thus Bakhtin has built on the foundation that Buber provided him and, without leaving the ground of dialogue, has carried it beyond Buber’s seminal insights into a rich harvest of literary criticism, philosophy of literature, and intellectual history.« (Ebd., S. 365.)
6
Es ist bereits an dieser Stelle zu betonen, dass die vorliegenden Überlegungen keine detaillierte Rekonstruktion der Dialog-Theorie Bachtins zu leisten vermögen. Auch wenn seine Schriften im Kern beständig um die für ihn zentralen Theoreme wie vor allem ›Dialogizität‹, ›Polyphonie‹, ›Karnevalisierung‹, ›Chronotopos‹ und ›Hybridität‹ kreisen, gewinnen diese jedoch zumeist keine trennscharfe, nachhaltige Determination – seine Ansätze verbleiben primär »fragmentarisch, argumentativ wie konzeptuell« (S. Sasse: Michail Bachtin, S. 18). Vgl. exemplarisch die generellen Einschätzungen zum polymorphen Schreiben bzw. zur heterogenen Terminologie Bachtins u.a. bei K. Clark/M. Holquist: Mikhail Bakhtin, S. 1f.; T. Todorov: Mikhail Bakhtin, S. xi. Eine Berücksichtigung der spezifischen, zumeist impliziten Verschiebungen, Umdeutungen und Abwandlungen, über die Bachtin seine entscheidenden Paradigmen immer wieder neu denkt und arrangiert, wäre für deren ergiebige Analyse unerlässlich, können allerdings im Folgenden nicht umfänglich dargestellt werden. Da aber im Kern wesentlich die Konstitutionsweise solcher dynamischen Verschiebungen in der Theorieentwicklung Bachtins im Fokus stehen soll, beschränken sich die folgenden Ausführungen im jeweiligen Zusammenhang auf knappe Charakterisierungen sowie ggf. auf ergänzende Verweise.
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schen Fokus7 grundieren, um darauf aufbauend bzw. damit verbunden die konzeptionell-theoretischen Fluchtpunkte zu analysieren. Das ertragreiche Potential, das eine solche heuristische Aufgliederung in formale sowie konzeptionelle Aspekte vor allem mit Blick auf die Schriften Bachtins entfaltet, wird im Kontext einer weiteren Beobachtung Friedmans, die er wie folgt pointiert, sogleich ersichtlich: »Both Martin Buber and Mikhail Bakhtin were profoundly religious men. […] the religious attitude that underlies their far-reaching philosophies of dialogue and that accounts for the remarkable fact that Mikhail Bakhtin, a Russian Orthodox believer could have been so deeply and decisively influenced by Martin Buber, who rested his philosophy and his life on unconditional trust in the relationship with God.«8
Die »religious attitude«, die Friedman vor allem an zwei Kategorien festmacht – »Bakhtin`s ›superaddressee‹ and Buber`s ›eternal Thou‹«9 – und leider ohne ausführliche Explikation in die Reihung seiner Überblicksdarstellung aufnimmt, erweist sich mit Blick auf die Schriften Bubers als unmittelbar augenfällig. So hebt Buber u.a. im 1957 verfassten Nachwort zu seiner zentralen Abhandlung Ich und
7
Hier gedacht als die Fokussierung der formalen Verfahren einer spezifischen Schreibpraxis bzw. Theorierhetorik, über die – sowie mit der – sich die jeweilige Konzeption des Theorieentwurfs entfaltet.
8
Ebd., S. 358. Die Formulierung »were profoundly religious men« verweist auf eine eigentümliche, wesentlich problematische Autorschafts-Konzeption, an die sich die im Folgenden vertretene Perspektivik in keiner Weise anschließt. Eine eingehende, kritische Reflexion des bei Friedman angelegten Verständnisses von Autorschaft kann in den vorliegenden Ausführungen jedoch nicht verfolgt werden.
9
Ebd. Ein detailliertes, vergleichendes Nachzeichnen der an dieser Stelle aufgerufenen Theoreme – dem ›ewigen Du‹ Bubers sowie dem ›Überadressaten‹ Bachtins – ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht zu leisten. Vgl. in dieser Hinsicht vor allem Martin Buber: »Ich und Du«, in: Ders., Das dialogische Prinzip, 11. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009, S. 5-136, hier S. 76f. und 101-103. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ID; Michail M. Bachtin: »Das Problem des Textes in der Linguistik, Philologie und in anderen Humanwissenschaften. Versuch einer philosophischen Analyse«, übers. v. Johanna-Renate Döring-Smirnov, Aage A. Hansen-Löve, Walter Koschmal und Herta Schmid, in: Poetica 22 (1990), S. 436-487, hier S. 484f.; Rainer Grübel: »Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin«, in: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese, hg. v. Rainer Grübel, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 21-78, hier S. 47f.
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Du sein »wesentlichstes Anliegen« hervor, »die enge Verbundenheit der Beziehung zu Gott mit der Beziehung zum Mitmenschen« (ID 122).10 Bei Bachtin dagegen ließen sich allein verstreute Anspielungen oder Begrifflichkeiten – in vagen, fragmentarischen Konturen – im Sinne einer solchen »attitude« nachzeichnen, da eine explizite Auseinandersetzung mit der eigenen, etwaig religiösen Grundierung in seinen Schriften ausbleibt.11 Für ihn stehen überwiegend primär poetologische bzw. formal-ästhetische Fragestellungen im Fokus, wie die Vorbemerkungen zu Probleme der Poetik Dostoevskijs exemplarisch betonen: »Die vorliegende Arbeit ist Problemen der Poetik Dostoevskijs gewidmet und betrachtet sein Werk ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt. […] Die Dostoevskij-Literatur war vor allem der ideologischen Problematik seines Werkes gewidmet. Die vorübergehende Aktualität dieser Fragen verdeckte die tieferen und beständigeren strukturalen Momente seiner künstlerischen Sehweise. Oft vergaß man fast völlig, daß Dostoevskij vor allem Künstler (wenn auch ein Künstler besonderer Art) und nicht Philosoph oder Publizist war.«12
Allerdings blendet Bachtin religionsgrundierte Aspekte im Rahmen seiner Dostojewskij-Lektüre nicht vollends aus, setzt er sich doch zudem mit religionsphilosophischen Paradigmen wiederholt auseinander. Sie begegnen jedoch in einer eigentümlichen Funktionalisierung und begründen darin die leitende These des vorliegenden Beitrags: Bei Bachtin, so soll gezeigt werden, lässt sich eine ›For-
10 Vgl. zudem u.a. Martin Buber: Nachwort. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Ders., Das dialogische Prinzip, 11. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009, S. 299-320, hier S. 306f. 11 Vgl. zur kontroversen und im Ergebnis eher skeptisch verbleibenden Diskussion um Bachtin als ›religiösen Menschen‹ u.a. Jürgen Brokoff/Torsten Hitz: »Die endliche und die unendliche Kommunikation bei Bachtin und Kristeva«, in: Torsten Hitz/Angela Stock (Hg.), Am Ende der Literaturtheorie? Neun Beiträge zur Einführung und Diskussion, Münster: Lit 1995, S. 26-42; Gary S. Morson/Caryl Emerson: »Introduction: Rethinking Bakhtin«, in: Gary S. Morson/Caryl Emerson (Hg.), Rethinking Bakhtin. Extensions and Challenges, Evanston: Northwestern UP 1989, S. 160, hier S. 43f. 12 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, übers. v. Adelheid Schramm, Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein 1985, S. 7. Im Folgenden zitiert mit der Sigle PPD. Vgl. zudem u.a. ebd., S. 15; Michail Bachtin: »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 154-300, hier vor allem S. 154-156.
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malisierung religionsphilosophischer Begrifflichkeiten‹ erkennen, die für die Theorieentwicklung eine spezifische Funktion entfalten bzw. diese über formale Operationen in Verbindung mit konzeptionellen Leitlinien entscheidend dynamisieren. Die damit aufgerufene Funktion gilt es in den folgenden Ausführungen näher zu charakterisieren, um in ihr einen spezifischen Stellenwert religiöser Motivik anhand des wiederholt eingesetzten Begriffs des ›Heiligen‹ exemplarisch zu rekonstruieren: zu Beginn in detaillierten Analyseschritten zum Band Probleme der Poetik Dostoevskijs sowie daran anschließend in knappen Beobachtungen mit Blick auf Zur Philosophie der Handlung.13 Im Fokus der Untersuchung soll dabei sowohl die formal-praktische als auch die konzeptionell-theoretische Dynamik, die sich über die Eröffnung und Fortentwicklung zentraler Unterscheidungen ausbildet, stehen. Ein dergestalt angelegtes Nachzeichnen der Theoriekonstitution Bachtins erlaubt es, die eher pointiert formulierte Beobachtung einer »religious attitude« wesentlich zu erweitern sowie in funktioneller Hinsicht spezifisch zu wenden. Auf diese Weise wird es möglich, unter dem gewählten Themenakzent dieses Bandes – ›das Heilige (in) der Moderne‹ –, das äußerst signifikante Aufnehmen sowie Ausprägen religionsphilosophischer Paradigmen differenziert zu analysieren. Die grundlegende Parallele Bachtins zu Martin Buber ist davon ausgehend auch unter diesem Blickwinkel hervorzuheben. So lässt sich in den Schriften Bubers ebenfalls ein funktionales Aufgreifen des Begriffs des ›Heiligen‹ aufzeigen, wobei das ›Heilige‹ hier zumindest in der Tendenz grundlegend in eine kohärent-religionsphilosophische Argumentation eingebunden bleibt. In den abschließenden Ausführungen soll diese weitere Variante einer ›operativen Formalisierung‹ kurz in Bezug auf Bubers Ich und Du veranschaulicht werden – primär als Ausblick, um entsprechende Impulse im Kontext komparativer Studien zu Bachtin und Buber anzuregen. II Den wesentlichen Form-Aspekt der Romane Dostojewskijs, den Michail Bachtin mit seiner erstmals 1929 erschienenen und 1963 in einer überarbeiteten Fassung publizierten Studie Probleme der Poetik Dostoevskijs zu fokussieren intendiert, weist er gleich zu Beginn in seinen Vorbemerkungen explizit sowie im Kontrast zu bisherigen Forschungsansätzen aus:
13 Michail Bachtin: Zur Philosophie der Handlung, hg. v. Sylvia Sasse, übers. v. Dorothea Trottenberg, Berlin: Matthes & Seitz 2011. Im Folgenden zitiert mit der Sigle PdH.
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»Wir halten Dostoevskij für einen der größten Neuerer im Bereich der künstlerischen Form. Er hat unserer Meinung nach einen völlig neuen Typ künstlerischen Denkens geschaffen, den wir polyphon nennen. […] Man kann sogar sagen, daß Dostoevskij gleichsam ein neues künstlerisches Weltmodell geschaffen hat, in dem viele wesentliche Momente der alten künstlerischen Form eine radikale Umwandlung erfuhren. […] aber das grundsätzlich Neue an ihnen [den wesentlichen Besonderheiten der Poetik Dostoevskijs, Anm. M.N.] und die organische Einheit, die sie in der künstlerischen Welt Dostoevskijs als ganzer bilden, sind bisher ungenügend gezeigt und erläutert worden.« (PPD 7)
Mit der an dieser Stelle noch etwas vage verbleibenden Unterscheidung zwischen einem »neuen Typ künstlerischen Denkens«, den er bei Dostojewskij innovativ verwirklicht sieht14, und einer »alten künstlerischen Form«, die er von der neuen Formgebung absetzt, gewinnt Bachtin die grundlegende Perspektive, über die sich seine folgenden Analysebeobachtungen aufspannen. Ihm ist primär daran gelegen, eine spezifische Neuerung in Bezug auf die künstlerische Formgebung (»das komplexe Phänomen des polyphonen Romans«, PPD 7) in seinen Prämissen, Konstitutions- und Wirkungsweisen zu erfassen, indem er sie als eine »radikale Umwandlung« bestehender Formprinzipien prononciert. Zudem verbindet er mit der neuen künstlerischen Form eine »organische Einheit«, ein spezifisches Denken sowie ein entsprechendes Weltmodell – arrangiert über die Dichotomie alt/neu. Doch wie präzise bildet sich das von Bachtin hervorgehobene neue Formprinzip aus? Anhand welcher Kriterien lässt es sich von einem alten Formprinzip differenzieren, d.h. von einem nicht-polyphonen Roman? Sowie vor allem: Auf welche Weise legt Bachtin seine eigene Theoriebildung an, um den innovativen Roman-Typus terminologisch und argumentativ zu erfassen? Einen ersten Anhaltspunkt bietet Bachtins Aufgreifen religionsphilosophischer Begrifflichkeiten sowie Paradigmen, wie es sich in verschiedenen Konstellationen des Analyseaufbaus ausmachen lässt. So veranschaulicht er das von ihm fokussierte Formprinzip des polyphonen Romans im Rahmen seiner Ausführungen zur – so die Kapitelüberschrift – »Idee bei Dostoevskij« (PPD 87-112), indem er einen Briefentwurf aus dem Notizbuch Dostojewskijs wie folgt zitiert:
14 Vgl. zur komplexen, über verschiedene Schriften und Ansatzpunkte angelegten Dostojewskij-Auseinandersetzung Bachtins, auf die an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden kann, ergänzend etwa die Überblicksdarstellung bei Galin Tihanov: The master and the slave. Lukács, Bakhtin, and the Ideas of Their Time, Nachdr., Oxford: Clarendon Press 2002, S. 187-215.
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»Es reicht nicht aus, Sittlichkeit als Treue eigenen Überzeugungen gegenüber zu definieren. Man muß sich außerdem ständig die Frage stellen: sind meine Überzeugungen richtig? Kontrollinstanz dafür ist allein Christus. […] Sittliches Vorbild und Ideal ist für mich Christus. Ich frage, hätte er Ketzer verbrannt, – nein. Das heißt also, daß Ketzer zu verbrennen, unsittliches Verhalten ist … Christus hat sich geirrt – das ist bewiesen! Mein brennendes Gefühl sagt mir aber: lieber bleibe ich bei einem Fehler, Christus, als bei Ihnen … Das lebendige Leben hat Sie verlassen, nur Formeln und Kategorien sind zurückgeblieben, aber Sie scheinen froh darüber zu sein. Man hat mehr Ruhe, sagen Sie (Trägheit) … […] Ich glaube Ihnen einfach nicht und setze dagegen, daß es unsittlich ist, nach seinen eigenen Überzeugungen zu handeln. Und es gibt nichts, womit Sie mich widerlegen könnten.«15
Das sich an dieser Stelle entfaltende Christus-Bekenntnis Dostojewskijs gewinnt seinen Reiz nicht so sehr aus seinen christlichen Überzeugungen, die sich durch die Vielzahl von Relativierungen bzw. Wendungen kaum unmittelbar erschließen. Vielmehr treten die »lebendigen Formen« der skizzierten Reflexion in den Vordergrund, wie Bachtin in seiner an die zitierte Notiz anschließenden Analysebeobachtung hervorhebt.16 Allerdings stellt sich auch hier unmittelbar die Frage nach den konstitutiven Charakteristika, über die sich ein solches Formspezifikum, die ›lebendige Form‹, fassen resp. denken lässt. Zudem ist nach dem Stellenwert zu fragen, den darin das Moment christlicher Religiosität, mithin deren ethisches Orientierungspotential, realisiert. In einem ersten Schritt sind in dieser Hinsicht mit Blick auf den spezifischen Theorieentwurf bei Bachtin (sowie auch bei Dostojewskij selbst, im Kontext der zitierten Notiz) im Folgenden vor allem zwei zentrale Aspekte (die Konzeption einer lebendigen bzw. polyphonen Form sowie deren analytische Erfassung) herauszustellen, die es daraufhin in einem zweiten Schritt in ihrer spezifischen Wechselbeziehung näher zu beschreiben gilt. Als konzeptioneller Ausgangspunkt erweist sich in der Skizze Dostojewskijs die Frage nach einer abstrakten Determination der ethischen Kategorie ›Sittlichkeit‹. Der entwickelte Ansatz widerspricht entschieden der lediglich in der Negation resümierten Auffassung, »Sittlichkeit als Treue eigenen Überzeugungen gegenüber zu definieren«. Eine solche Betrachtungsweise sittlicher Konstitution bedarf, gemäß den Zeilen Dostojewskijs, einer wesentlichen Erweiterung, die die
15 Biografija, pis’ma i zametki iz zapisnoj knižki F.M. Dostoevskogo, SPb, 1883, S. 371f. und 374, zitiert nach: PPD 109f. 16 Vgl. PPD 110.
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als feste Formationen gedachten Überzeugungen in eine beständige Reflexionsschleife überführt: »Man muß sich außerdem ständig die Frage stellen: sind meine Überzeugungen richtig?« Um die entsprechende Grundunterscheidung zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ in die Frage nach einem sittlichen Handeln einbinden zu können, erscheint Christus als die alleinige »Kontrollinstanz«, die ebenfalls über eine Frage bzw. einen logischen Schluss operiert: »Ich frage, hätte er Ketzer verbrannt, – nein. Das heißt also, daß Ketzer zu verbrennen, unsittliches Verhalten ist«. In Christus zeigt sich der monolithische Wahrheitsanspruch fixer Überzeugungen nachhaltig relativiert, indem sich die ›richtige Überzeugung‹ lediglich wiederholt in der konkreten, situativen sowie individuellen Begebenheit von der ›falschen Überzeugung‹ differenzieren lässt. Doch auch die ChristusFigur büßt ihr universelles Orientierungs- und Unterscheidungspotential umgehend ein: »Christus hat sich geirrt – das ist bewiesen!« Die emotionale Einstellung, das »brennende Gefühl«, hält gleichwohl an Christus als idealem Bezugspunkt fest: »lieber bleibe ich bei einem Fehler, bei Christus«. Im Verbleiben bei Christus zeigt sich eine Treue, die in ihrer Geste derjenigen ähnelt, die im Rahmen einer vermeintlichen Sittlichkeit den Überzeugungen gegenüber aufscheint. Allerdings geht die hier skizzierte Treuebindung von einer universell-theoretischen in eine individuell-emotionale Motivation über, die sich zudem als eine reflektierte Bindung ausweist und erneut von einer Negation absetzt: das »lebendige Leben hat sie verlassen, nur Formeln und Kategorien sind zurückgeblieben«. Die abschließende Conclusio spitzt den Kontrast, der sich vor allem über die Dichotomien richtig/falsch und lebendig/tot aufspannt bzw. fortentwickelt, weiter zu. Die für ihre eigene Gültigkeit sowie Genese blinde Überzeugung steht der reflektierten und emotionalen Handlung (als anhaltender Dialog mit einem – allerdings religionssystematisch vorgeprägten – Anderen) gegenüber: »Wie sind Sie zu dieser Überzeugung gelangt? Ich glaube Ihnen einfach nicht und setze dagegen, daß es unsittlich ist, nach seinen eigenen Überzeugungen zu handeln.« Die emotional bedingte und situativ angelegte Auffassung von Sittlichkeit lässt sich durch keine abstrakt-theoretische Einlassung widerlegen: »Und es gibt nichts, womit Sie mich widerlegen könnten.«17
17 Somit lassen sich als weitere leitende Dichotomien u.a. sittlich/unsittlich, Ruhe/ Reflexion sowie glauben/verstehen ausmachen. Sie kreisen um eine begrifflich nicht letztgültig zu fixierende Differenzierung, die eine Ethik menschlichen Handelns grundiert, ohne diese allerdings ausschließlich in »Formeln und Kategorien« zu determinieren – die Übertragung eines »brennende[n] Gefühl[s]« in eine Reihung und Dynamisierung kategorialer Bestimmungsansätze. Das hier aufscheinende plurale Kreisen um ein markiertes, jedoch kategorial nicht final abzubildendes Zentrum zeichnet auch
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Wie Bachtin treffend bemerkt, wendet sich die aus den Notizbüchern Dostojewskijs entnommene Skizze gegen die eindimensionale Bezugnahme auf abstrakte Formeln und Kategorien samt einem entsprechenden Wahrheitsanspruch. Sie konfrontiert diese mit einer am Dialog, an einem fragenden Überprüfen mit Blick auf eine apostrophierte Instanz (hier Christus) orientierten Sittlichkeit: »Formeln und Kategorien sind seinem Denken fremd. Er zieht es vor, bei einem Fehler, aber bei Christus zu bleiben, d. h. ohne Wahrheit im theoretischen Sinn dieses Wortes, ohne eine Wahrheit, die sich in Formeln ausdrücken ließe, ohne eine thesenhafte Wahrheit. […] das Suchen nach Wahrheit, nicht als Deduktion des eigenen Bewußtseins, überhaupt nicht im monologischen Kontext des eigenen Bewußtseins, sondern im idealen autoritativen Bild eines anderen Menschen, die Ausrichtung auf eine fremde Stimme, ein fremdes Wort sind charakteristisch für die formbildende Ideologie Dostoevskijs.« (PPD 110)
Die »formbildende Ideologie« Dostojewskijs, die Bachtin über die NotizbuchZeilen exemplifiziert sieht, folgt in diesem Sinne der Prämisse einer lediglich plural zu denkenden Welterfahrung, die sich durch keine »thesenhafte Wahrheit« einheitlich überformen lässt.18 Vielmehr scheint erst in den gleichwertigen, je-
die Theoriedynamik Bachtins in verschiedenen Konstellationen aus. Eine vergleichbare Bewegung lässt sich u.a. bei Roland Barthes beobachten. Vgl. in dieser Hinsicht u.a. Roland Barthes: Über mich selbst, übers. v. Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz 1978, S. 80f.; Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 66, 122 und 421; Daniela Langer: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München: Fink 2005, S. 200; Maik Neumann: »Die ›Mythen‹ Roland Barthes’ – ›Mythos‹ als Verfahren einer dynamischen Schreibweise«, in: Stefan Matuschek/Christoph Jamme (Hg.), Die mythologische Differenz. Studien zur Mythostheorie, Heidelberg: Winter 2009, S. 95-126. 18 Vgl. zur bei Bachtin angedeuteten Engführung von Roman und Leben (bzw. generell von Kunst, Wissenschaft und Leben) sowie zu seiner »Ästhetisierung philosophischer Positionen« Jürgen Lehmann: »Bachtin und Nietzsche«, in: Peter Wiesinger (Hg.), Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Bern u.a.: Lang 2002, S. 257263, hier S. 262; zudem u.a. Irina Wutsdorff: Bachtin und der Prager Strukturalismus. Modelle poetischer Offenheit am Beispiel der tschechischen Avantgarde, München: Fink 2006, S. 34-37; sowie in einer pointierten, programmatischen Verdichtung Mi-
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weils individuell einsetzenden, allerdings wechselseitig aufeinander bezogenen Blickwinkeln der einzelnen Personen sowie deren »Ausrichtung auf eine fremde Stimme, ein fremdes Wort«, der Zugang zu einer dialogischen, situativen Wahrheit auf. Bachtin überführt somit die bei Dostojewskij angelegten Dichotomien in die seine eigene Studie leitende Differenz zwischen Monolog und Dialog (die daraufhin eine Reihe von Folgeunterscheidungen evozieren): Dem »monologischen Kontext des eigenen Bewußtseins« steht die »innerlich dialogische Einstellung« (PPD 110) gegenüber.19 Als darin eingebunden sowie strukturell analog ausgerichtet charakterisiert Bachtin die poetische Konzeption bzw. Dynamik der Werke Dostojewskijs. Auch in ihnen zeige sich der Absolutheitsanspruch einer übergeordneten Sinninstanz relativiert: »Für Dostoevskij existieren keine Ideen, Gedanken und Thesen, die niemandem zugehören, die ›an sich‹ wären. Und ›die Wahrheit an sich‹ stellt er im Sinne der christlichen Ideologie als in Christus verkörperte dar, d. h. er stellt sie als Person dar, die in Beziehung zu anderen Personen tritt.« (PPD 38)
chail M. Bachtin: »Kunst und Verantwortung«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 93f. 19 Die »innerlich dialogische Einstellung« ist hier als eine spezifische Ausprägung bzw. Ableitung der von Bachtin vielgliedrig arrangierten ›Dialogizität‹ zu sehen: Indem er aus sprachphilosophischer Perspektive bereits grundsätzlich jedem Wort einen zwangsläufig dialogischen Charakter, eine dialogische Ausrichtung zuspricht – das »auf seinen Gegenstand gerichtete Wort geht in diese dialogisch erregte und gespannte Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente ein« (M. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 169) –, zeichnet sich ein dialogisches Formprinzip vor allem dadurch aus, diesen Charakter zu erhalten und auszustellen (so auch die situativ gewendete Sittlichkeit), anstatt ihn monologisch zu überformen. Übertragen gilt dies zugleich für die Redevielfalt einer Gesellschaft sowie für die im Roman aufgenommenen Wörter, Redeformen, Überzeugungen, Stimmen, etc. Der polyphone Roman bewahrt demnach die dialogische Ausprägung der in ihm angelegten zahlreichen ›Stimmen‹ (übergreifend für die integrierten Elemente), die somit nicht allein untereinander in einen Dialog eintreten, sondern bereits in sich eine dialogische Konstitution aufweisen sowie darüber hinaus mit ›Stimmen‹ anderer Romane bzw. generell kultureller Erzeugnisse in dialogischer Wechselwirkung stehen. Vgl. dazu u.a. PPD 301f.
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An anderer Stelle führt er seinen poetologischen Analysegedanken wie folgt weiter aus: »Die Idee, der Gedanke des Autors darf im Werk nicht die Funktion haben, die gesamte, dargestellte Welt zu beleuchten, sondern muß als Bild eines Menschen in sie eingehen, als Einstellung unter anderen Einstellungen, als Wort unter anderen Worten. […] Es leuchtet ein, daß in dieser Welt der Subjekte weder ein ideologisches Leitmotiv, noch ein ideologischer Schluß, die ihr Material zum Objekt machen, möglich sind. […] Dostoevskij hat den Solipsismus überwunden. Das idealistische Bewußtsein hat er nicht sich selbst, sondern seinen Helden vorbehalten, und nicht nur einem, sondern allen. Anstelle der Beziehungen des erkennenden und urteilenden ›Ichs‹ zur Welt steht das Problem der Wechselbeziehungen dieser erkennenden und urteilenden ›Subjekte‹ (Ichs) zueinander im Zentrum seines Schaffens.« (PPD 110 und 112)
In zwei aufeinander bezogenen Beobachtungen nivelliert Bachtin den monolithischen Anspruch letztgültiger Sinninstanzen, die das Werk bis in die Details der verschiedenen Strukturelemente prägen: Weder der Autor noch die ihn inspirierende »Wahrheit an sich«, das ihn anleitende »ideologische[] Leitmotiv« gewinnen eine übergeordnete Kontur – sie werden vielmehr als »Einstellung unter anderen Einstellungen, als Wort unter anderen Worten« in die unabschließbare Sinnproduktion der Textebene integriert. Allein im Sinne einer »formbildende[n] Ideologie« gewinnt der Autor im Rahmen der formalen Ausgestaltung des von ihm konzipierten Werks die Möglichkeit, und darin zugleich die Notwendigkeit, einer intentionalen Akzentuierung: »Doch dabei wird notwendig der eigentliche Inhalt unzureichend erfaßt: was Dostoevskij an wirklich Wichtigem und Neuem gesehen hat, geht verloren. Versteht man seine neue Perspektive nicht, kann man auch nicht richtig erfassen, was zuerst aus dieser neuen Sicht im Leben erkannt und entdeckt worden ist. Die künstlerische Form, versteht man sie richtig, gestaltet nicht einen fertigen und vorgefundenen Inhalt, sondern erlaubt es erst, ihn aufzufinden und zu sehen.« (PPD 51)
Die konkrete ›Autorabsicht‹ Dostojewskijs (»was Dostoevskij an wirklich Wichtigem und Neuem gesehen hat«)20 wird von Bachtin demgemäß in einem spezifischen formalen Strukturprinzip erkannt:
20 Bachtin hält somit an der intentionalen Eingriffsmöglichkeit einer Autorinstanz fest, auch wenn er diese primär auf ein innovatives Formprinzip, das Bewahren und Arrangieren der Stimmenvielfalt, bezieht. Ohne auf die zahlreichen Details und Umformu-
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»In keinem der Romane wird diese Vielfalt der Töne und Stile auf einen Nenner gebracht. Nirgends gibt es ein dominierendes Wort, sei es nun das des Autors oder das des Haupthelden. Die Einheit des Stils gibt es in diesem monologischen Sinne in den Romanen Dostoevskijs nicht. […] Denn die vollständige Dialogisierung ausnahmslos aller Elemente des Werkes ist ein wesentliches Moment in der Absicht des Autors.« (PPD 283)
Die Poetik Dostojewskijs, das Formprinzip seiner polyphonen Romane (in ihrer »Vielfalt der Töne und Stile«) ist dergestalt wesentlich in der dialogischen, wechselseitigen Verflechtung vielfältigster Figurenstimmen und darin gleichberechtigter Ideen, Gedanken und Wahrheiten bzw. Konstruktionen von Wirklichkeit zu erkennen. Dem Notizbuch-Eintrag Dostojewskijs vergleichbar kreist Bachtins Analyse um die als zentral erkannte Unterscheidung künstlerischer Formprinzipien, die sie in immer neuen Annäherungen zu determinieren versucht: der monologische, homophone Roman vs. der dialogische, polyphone Roman.21 Mit der eröffneten Leitdifferenz verbinden sich in der Folge zahlreiche
lierungen der Autorschafts-Konzeptionen Bachtins an dieser Stelle eingehen zu können, sei zumindest auf eine entscheidende, erneut eigentümlich unmarkierte Verschiebung hingewiesen: Das bei Dostojewskij nachgezeichnete polyphone Formprinzip erweist sich als nahezu vollständige Umkehrung der in der 1924 entstandenen Studie Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit angelegten Autor-Held-Relation. Während dort der Autor noch als »Träger der gespannt-aktiven Einheit jenes abgeschlossenen Ganzen des Helden und des Ganzen des Werkes, das jedem seiner Teilmomente gegenüber transgredient ist« (Michail M. Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, übers. v. Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid, hg. v. Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 66) erscheint, betont Bachtin in Probleme der Poetik Dostoevskijs: »Das Wort des Helden und das Wort über den Helden wird bestimmt von dem unabgeschlossenen, dialogischen Verhältnis zu sich selbst und zum anderen. Das Wort des Autors kann den Helden und sein Wort nicht von außen umfassen, abschließen und vollenden. Es kann sich nur an ihn wenden.« (PPD 284) Vgl. in dieser Hinsicht u.a. S. Sasse: Michail Bachtin, S. 83f.; Tanja Dembski: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 350-353. 21 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung von Bachtins Polyphonie-Konzeption bzw. -Terminologie und deren Differieren von seinem Dialogizitätsgedanken, den vor allem Julia Kristeva im Rahmen ihres Intertextualitätsansatzes aufgreift, u.a. S. Sasse: Michail Bachtin, S. 84-98; Florian Gelzer: »Dialogizität und erlebte Rede. Spuren romanistischer Stilkritik in Michail Bachtins Romantheorie«, in: Wirkendes Wort 56
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Anschlussunterscheidungen22, die eine detaillierte Nuancierung der innovativen Formgebung Dostojewskijs ermöglichen, ohne diese entgegen ihrer eigenen Prämissen in ein abgeschlossenes Formmodell zu überführen. Stattdessen findet sie in einer begrifflichen sowie konzeptionellen Dynamik sukzessive an Kontur – die konzeptionell-theoretischen Erwägungen in Bezug auf ein innovatives Formprinzip verbinden sich auf diese Weise mit entsprechenden formal-praktischen Operationen des eigenen Theorieentwurfs. III Die eingangs formulierte Leitfrage nach den »lebendigen Formen« sowie dem ›Heiligen‹ wieder aufnehmend, gilt es nun in einem zweiten Schritt, mit Blick auf das bei Dostojewskij und Bachtin beobachtete, konzeptionelle Arrangement die Funktion bzw. den Stellenwert der »christlichen Ideologie« zu fokussieren, die beide im Kontext ihrer Ausführungen prominent aufgreifen. Allerdings verfolgen weder Dostojewskij noch Bachtin eine konzeptionell-theoretische DetailAuseinandersetzung mit christlichen Lehren – sie legen die entsprechenden Verweise kaum bzw. nicht ausschließlich als theoretischen Bezugspunkt der von ihnen verfolgten Ansatzpunkte an. Wie bereits in der detaillierten Analyse der Dostojewskij-Notiz angedeutet, bedarf die Konstituierung einer ›lebendigen Form‹ neben einer entsprechend ausgerichteten, reflektierten Konzeption auch eines formal-praktischen Moments, um ein dynamisches Formprinzip und damit verbunden eine innovative Perspektivierung überkommener Zusammenhänge zu etablieren. So erweisen sich die Darlegungen Dostojewskijs nicht allein in ihrer konstitutiven Anrede mit Blick auf den Briefpartner als dialogisch geprägt, vielmehr scheint zudem über ihren zentralen Ansatzpunkt eine fragende Geste, d.h. eine elementare Apostrophierung der personalisierten Christus-Figur auf: »Ich frage: hätte er Ketzer verbrannt, – nein. Das heißt also, daß Ketzer zu verbrennen, unsittliches Verhalten ist«. Um die Loslösung des sittlichen Verhaltens von den starren Formeln
(2006), S. 127-142, hier S. 130-132; Sue Vice: Introducing Bakhtin, Manchester: Manchester UP 2008, S. 112-148. 22 Eine exemplarische Ansammlung entsprechender Folgedifferenzierungen weist die Sentenz auf, mit der Bachtin das dritte Unterkapitel (»Das Wort des Helden und das Erzählwort in den Romanen Dostoevskijs«, PPD 267-284) des Abschnitts »Das Wort bei Dostoevskij« (PPD 202-302) beschließt: »Das feste, tote, abgeschlossene, unbeantwortete Wort, das bereits das Letzte ausgesprochen hat, gibt es in der Welt Dostoevskijs nicht.« (PPD 284)
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und Kategorien abstrakter Überzeugungen nicht sogleich durch die Einsetzung der systematischen Begrifflichkeit christlicher Wertvorstellungen zu unterminieren, verbleibt der aufgerufene sowie als »Fehler« relativierte (und damit nicht selbst als letztgültige Instanz markierte) Christus grundlegend unterdeterminiert: Es wird weder detailliert ausgeführt, auf der Basis welcher Traditions- bzw. Leitlinien sich die hervorgehobene Christus-Orientierung ausprägt, noch lässt sich nachverfolgen, inwiefern Christus irrte und wodurch dies als erwiesen zu gelten hat. In der Christus-Figur setzt das Schreiben Dostojewskijs wesentlich eine elementare Funktionsstelle, an der es gelingt, die Differenzierung zwischen ›sittlich‹ und ›unsittlich‹ in einer innovativen Prägung neu auszurichten. Auf diese Weise wird die von einer übergeordneten, abstrakten Instanz befreite Sittlichkeit in einen immer wieder aufs Neue einzugehenden Dialog überführt, ohne zugleich der Gefahr einer gleichgültigen Willkür zu erliegen. Die arrangierten Theoriekomponenten verbinden sich dergestalt mit formalen Funktionsmomenten zu einer ›lebendigen Form‹, die als dynamisches Schreiben auch die – gemäß der Einschätzung Bachtins – polyphon angelegten Romane Dostojewskijs prägt. Der darin verfolgte Ansatz findet seine adäquate Ausgestaltung in einem Wechselspiel aus konzeptionell-theoretischen sowie formal-praktischen Komponenten. Eine vergleichbare Schreibdynamik entfaltet nun Bachtin, indem er die poetischen Prämissen Dostojewskijs in der Tradition einer »christlichen Ideologie« sieht: »Und die ›Wahrheit an sich‹ stellt er im Sinne der christlichen Ideologie als in Christus verkörperte dar, d. h. er stellt sie als Person dar, die in Beziehung zu anderen Personen tritt« (PPD 38), wodurch sie sich grundlegend personalisiert und relativiert zeigt. Doch auch in diesem Zusammenhang gewinnen die aufgerufenen Theoreme bzw. Leitlinien eines christlichen Weltbildes keine systematischen Konturen. Sie erweisen sich dagegen als Funktionsstelle, an der es gelingt, das Formprinzip Dostojewskijs anhand einer innovativen Akzentuierung zu charakterisieren: vermöge der Differenzierung zwischen einer Orientierung an logisch-abstrakten, für sich existierenden Ideen, Gedanken und Thesen sowie einer Ausrichtung an situativ bedingten, in einer konkreten Person verkörperten und in wechselseitiger Bezugnahme stehenden Wahrheitsansprüchen – »im Sinne der christlichen Ideologie« bzw. des polyphonen Romans Dostojewskijs.23
23 Vgl. zu den zahlreichen, leitenden Dichotomien, die sich in Bachtins Schriften vielfältig sowie in einer vergleichbaren Ausprägung beobachten lassen, exemplarisch seine Gegenüberstellung von ›Architektonik‹ und ›Komposition‹ in Michail M. Bachtin: »Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen«, in: Ders., Die
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Vor allem in die sich daran anschließende Unterscheidung zwischen einem latent negativ konnotierten monologischen und einem eher positiv konnotierten dialogischen Formprinzip tritt zumindest tendenziell ein »Trennmesser des Wertes«, wie Roland Barthes eines seiner wesentlichen Schreibverfahren im Rahmen seiner fiktiven Autobiographie Über mich selbst treffend charakterisiert: »Die bevorzugten Wörter, die er verwendet, sind oft in Gegenüberstellungen eingeteilt; bei den zwei Paar-Wörtern ist er für das eine und gegen das andere: […] Manchmal handelt es sich nicht nur um Oppositionen (zwischen zwei Wörtern), sondern um Aufspaltungen (eines einzigen Wortes): […] So tritt zwischen die Wörter, in die Wörter selbst, das ›Trennmesser des Wertes‹ […].«24
In Verbindung mit der bereits hervorgehobenen, aufgefächerten bzw. immer wieder neu einsetzenden Annäherung an die analysierte Innovation in der Formgebung des Romans zeichnet sich ein weiteres formales Verfahren der Theorieentwicklung Bachtins ab: das pointierte, unverknüpfte Aufgreifen christlicher resp. generell vielfach vorgeprägter Begrifflichkeiten, die zur (wertenden) Markierung zentraler Orientierungspunkte sowie Differenzierungen der eigenen Analysebeobachtung eingesetzt werden.25 IV Deutlich markanter tritt das in den bisherigen Ausführungen bei Bachtin verfolgte Schreibverfahren einer ›lebendigen Form‹ allerdings in seiner ab 1921 entstandenen, jedoch erst 1986 erstmals publizierten Schrift Zur Philosophie der Handlung im Kontext der Verwendung des Begriffs des ›Heiligen‹ hervor. Bachtin formuliert in Zur Philosophie der Handlung in ersten, fragmentarischen An-
Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 95-153. 24 R. Barthes: Über mich selbst, S. 139. Vgl. dazu M. Neumann: Die ›Mythen‹ Roland Barthes’, S. 109f. 25 So verweist etwa Matthias Freise aus einem generellen Blickwinkel auf die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion Bachtin’scher Bezugnahmen: »Bachtin beruft sich wiederholt auf die Leitfunktion der Philosophie für jede Ästhetik und Poetik. Doch er entwickelt die philosophischen Prämissen seines theoretischen Denkens in seinen Texten kaum.« M. Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik, S. 15f. Vgl. daneben u.a. ebd., S. 42.
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sätzen Erwägungen zu einer ›Ersten Philosophie‹26, mithin einer Moralphilosophie, die die tatsächliche, konkrete Handlung eines individuellen Menschen samt dessen Verantwortung in den Blick nimmt. Dabei bildet das abstrakte System einer Ethik bzw. eines philosophischen Theorieentwurfs, in dessen isolierten Entwürfen das verantwortlich-individuelle Leben keine Berücksichtigung findet, lediglich einen Teil dieser am tatsächlichen Ereignis orientierten Handlungsdimension: »Im Ergebnis stehen sich zwei Welten gegenüber, die absolut nicht miteinander verkehren und die füreinander nicht durchdringbar sind, die Welt der Kultur und die Welt des Lebens, die einzigartige Welt, in der wir schöpferisch tätig sind, erkennen, betrachten, leben und sterben; die Welt, in der der Akt unserer Tätigkeit objektiviert wird, und die Welt, in der dieser Akt ein einziges Mal tatsächlich verläuft, vollzogen wird.« (PdH 34)
Daran anschließend formuliert Bachtin an späterer Stelle: »Die ganze theoretische Vernunft ist nur ein Moment der praktischen Vernunft, d. h. der Vernunft der sittlichen Orientierung des einzigartigen Subjekts im Ereignis des einzigartigen Seins. In den Kategorien des theoretischen nicht-partizipativen Bewusstseins ist dieses Sein nicht bestimmbar, sondern nur in den Kategorien der tatsächlichen Teilnahme, d. h. der Handlung, in den Kategorien des partizipativ-wirksamen Erlebens der konkreten Einzigartigkeit der Welt.« (PdH 52)
Die in diesem Zusammenhang in einem ersten Schritt eröffnete Unterscheidung zwischen einer »Welt der Kultur« und einer »Welt des Lebens«, die in der Differenzierung von »theoretische[r] Vernunft« und »praktische[r] Vernunft« eine leicht abgewandelte Entsprechung findet, stellt den zeitkritischen Ausgangspunkt (das überkommene bzw. zu überwindende Paradigma) des von Bachtin ar-
26 Vgl. PdH 42, 62 und 74f. Wie Sylvia Sasse treffend hervorhebt, stellt Bachtins Zur Philosophie der Handlung mit dem von ihm verfolgten »Konzept der Ereignisphilosophie bzw. Ersten Philosophie« durchgängig eine »Auseinandersetzung mit Kant, mit dem Neokantianismus (Heinrich Rickert, Hermann Cohen), der Phänomenologie (Edmund Husserl, Max Scheler) und der Lebensphilosophie (Wilhelm Dilthey, Henri Bergson, Georg Simmel)« dar. Vgl. S. Sasse: Michail Bachtin, S. 27f.; zudem generell mit Blick auf die von Bachtin ungemein zahlreich aufgenommenen (u.a. religiösen, philosophischen, soziologischen und literaturtheoretischen) Begrifflichkeiten, Paradigmen und Kontexte Sasses detaillierte Anmerkungen (PdH 155-190) sowie M. Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik, S. 50-61.
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rangierten Ansatzes dar. Aus einer übergeordneten Perspektive, »der konkreten Einzigartigkeit der Welt«, ist dieser daraufhin in eine einheitliche Konstellation zu überführen. Die elementare Gegenüberstellung von ›theoretischer Kategorienwelt‹ und ›praktischer Handlungswelt‹ wird in der Folge in immer neuen Kontextualisierungen aufgegriffen. Ihre trennscharfe Kontur gewinnt sie vor allem aus dem entscheidenden Moment der »Teilhabe«, das die moderne Philosophie nicht zu kompensieren vermag – »Auch die moderne Philosophie liefert kein Prinzip für diese Teilhabe, darin ist ihre Krise begründet[.]« (PdH 64) – und das wesentlich über den Begriff des ›Heiligen‹ exemplifiziert wird, der bei Bachtin sonst kaum zur Geltung kommt bzw. den er nicht explizit reflektiert. Dementsprechend führt er im Rahmen einer kritischen Charakterisierung des historischen Materialismus aus: »Der moderne Mensch fühlt sich zuversichtlich, reich und sicher dort, wo es ihn prinzipiell nicht gibt, in der autonomen Welt des Kulturbereichs und ihres immanenten Gesetzes der Schöpfung, aber er fühlt sich verzagt, armselig und unsicher, wo er es mit sich selbst zu tun hat, wo er das Zentrum des Ausgangs der Handlung ist, im tatsächlichen einzigartigen Leben, d. h. wir handeln dann sicher, wenn wir nicht von uns selbst aus handeln, sondern ergriffen sind von der immanenten Notwendigkeit des Sinns dieses oder jenes Kulturbereichs, der Weg von der Prämisse zur Schlussfolgerung vollzieht sich heilig und ohne Sünde, weil es mich selbst auf diesem Weg nicht gibt, doch wie und wo soll man diesen Prozess meines Denkens einbeziehen, der innen heilig und rein ist, durch und durch gerechtfertigt in seiner Gesamtheit?« (PdH 63f.)
Die an dieser Stelle pointiert aufgenommene Begrifflichkeit eines ›heiligen Weges‹ bzw. eines ›heiligen Denkens‹ verbleibt ähnlich wie die »christliche[] Ideologie« in der Dostojewskij-Publikation grundlegend unreflektiert und entbehrt in religionsphilosophischer Hinsicht einer wesentlichen Präzisierung. Der Begriff verbindet sich allein mit einer von jeder Sünde separierten, unberührten Reinheit und verdichtet sich in seiner Verknüpfung mit »der autonomen Welt des Kulturbereichs« zu einem negativ konnotierten Wert. Dieser stellt als zentrale Funktionsstelle einen in seiner Unberührtheit vom verantwortlich handelnden Menschen zu überwindenden »Theoretismus«27 auf der einen Seite einer ins Zentrum zu rückenden, ›partizipativ-wirksamen Handlungswelt‹ auf der anderen Seite gegenüber.
27 Vgl. exemplarisch PdH 49, 65 und 73.
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Doch in der Abkehr von einem abstrakten System kategorialer Begrifflichkeit und der Hinwendung zu einer nicht mehr in einer theoretischen Terminologie zu erfassenden Handlungsdimension, die im tatsächlichen, menschlichen Erleben des einzigartigen Seins fundiert ist, steht Bachtin erneut vor dem Problem einer eigenen Beobachtungssprache, die die konkrete Einzigartigkeit nicht selbst in einer abstrakten Beschreibung überformt (vergleichbar der Konstellation beim analytischen Erfassen der ›lebendigen Form‹ in Probleme der Poetik Dostoevskijs).28 Allein in einer als unabschließbar gedachten Sprachbewegung zeichnet sich ein Ausweg aus dieser konzeptionellen Aporie ab: »Man darf natürlich die Macht der Sprache nicht übertreiben: Das einheitliche und einzigartige Seins-Ereignis und die daran teilnehmende Handlung sind prinzipiell ausdrückbar, faktisch ist das jedoch eine sehr schwierige Aufgabe, und eine volle Äquivalenz ist nicht erreichbar, jedoch immer aufgegeben.« (PdH 80, Herv. i.O.)
Ohne auf alle Implikationen der hier entfalteten Formulierung, die u.a. mit dem ›Aufgegebenen‹ im Kontrast zum ›Gegebenen‹ eine prominente Konzeption aufgreift29, detailliert eingehen zu können, sei primär der an dieser Stelle angelegte Aspekt hervorgehoben, dass ein Erfassen sowie Beschreiben des »einheitliche[n] und einzigartige[n] Seins-Ereignis[ses]« allein in einer prozessualen, immer wieder neu ansetzenden Annäherung zu leisten ist. Dieser folgt Bachtin auch in Zur Philosophie der Handlung im Sinne eines fragmentarischen, verschiedene Verfahren sowie Funktionen integrierenden und in pluralen Annäherungen ausgeprägten Schreibens. Während der Begriff des ›Heiligen‹ ebenso wie die »christliche[] Ideologie« im Rahmen der Dostojewskij-Studie eine Differenzierungsfunktion ausfüllt (allerdings mit umgekehrten Wert-Vorzeichen: in negativer anstatt in positiver Konnotation), um zwischen einer abstrakten, theoretischen Welt und einer tatsächlichen, einzigartigen Handlungswelt zu unterscheiden, überführt die immer wieder neu einsetzende Konzeptionalisierung einer »Philosophie der Handlung« die eröffnete Perspektive in eine dynamische Reihung von Determinationsansätzen. Diese zeichnen die wesentlichen Konturen des »einzigartigen Seinsereignisses« (PdH 111) und der damit verbundenen individuellen, »verantwortlichen Handlung« (PdH 112) nach, ohne den ephemeren Charakter des »persönlich verantwortliche[n] Akt[es]« (PdH 112) zu unterminieren. Das Wechselspiel aus konzeptionell-theoretischen sowie formal-praktischen Komponenten evoziert dergestalt eine »prinzipiell« zielgerichtete, jedoch sich
28 Vgl. in diesem Zusammenhang auch PdH 145f. 29 Vgl. für eine knappe Übersicht über die elementaren Bezugnahmen PdH 171.
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unabschließbar fortentwickelnde Bewegung – »eine volle Äquivalenz ist nicht erreichbar, jedoch immer aufgegeben«. V Wenn Bachtin nun davon ausgehend eine »Architektonik der konkreten Handlungswelt« in groben Konturen skizziert, »nicht im Sinne allgemeiner Begriffe oder Gesetze, sondern im Sinne allgemeiner Momente«, die allen einheitlicheinzigartigen Ereignissen gemein sind, zeigen sich in seiner Aufgliederung dieser Architektonik grundlegende Parallelen zu Martin Bubers dialogischem Prinzip: »Diese Momente sind: ich-für-mich, der-andere-für mich und ich-für-denanderen«30. Die Affinität zu dem von Martin Buber erstmals in seiner 1923 publizierten Schrift Ich und Du ausgearbeiteten Konzept einer sich über die konstitutiven »Grundworte« bzw. Beziehungen »Ich-Du« sowie »Ich-Es« auffaltenden Konstruktion von Wirklichkeit tritt deutlich hervor und lässt sich daneben auch im Dostojewskij-Band Bachtins dezidiert nachvollziehen31 – eine konzeptionelle Verwandtschaft, die, wie einleitend ausgeführt, bereits in verschiedenen wissenschaftlichen Beiträgen in ihrer Bezugnahme hervorgehoben wurde.32 Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen ist allerdings lediglich als weiterer Forschungsimpuls bzw. -ausblick abschließend hervorzuheben, dass auch Martin Buber die von ihm geprägte Gegenüberstellung von »Ich-Du« und »IchEs« über spezifische Schreibverfahren inszeniert sowie reflektiert. So kommt dem Begriff des ›Heiligen‹ auch in Ich und Du eine elementare Funktionsstelle zu, indem Buber das wirkliche, unmittelbare sowie wechselseitige In-BeziehungTreten zu einem gleichberechtigten Gegenüber der Ich-Du-Beziehung im Kontrast zu der auf eine erfahrende, distanzierte sowie unbeteiligte Aneignung der Welt basierenden Ich-Es-Beziehung als »heilig« kennzeichnet: »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend. […] Den Menschen, zu dem ich Du sage, erfahre ich nicht. Aber ich stehe in der Beziehung zu ihm, im heiligen Grundwort. Erst wenn ich daraus trete, erfahre ich ihn wieder. Erfahrung ist Du-Ferne.
30 Vgl. PdH 114. 31 Vgl. u.a. PPD 14 und 48. 32 Vgl. mit Blick auf Zur Philosophie der Handlung exemplarisch das ausführliche und ungemein kenntnisreiche Vorwort Sylvia Sasses, das die 2011 erschienene, deutsche Ausgabe einleitet: Sylvia Sasse: »Vorwort«, in: PdH S. 5-31, hier vor allem S. 25-28.
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[…] Denn Du ist mehr, als Es weiß. Du tut mehr und ihm widerfährt mehr, als Es weiß. Hierher langt kein Trug: hier ist die Wiege des Wirklichen Lebens.« (ID 12f.)
Auch im Kontext der gerade im Schlussteil explizit religionsphilosophisch grundierten Ausführungen Bubers verbleibt das Spezifikum des ›Heiligen‹ im wiederholt definitorisch aufgenommenen »heiligen Grundwort«33 durchgängig vage. In der Tendenz lässt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls ein ›Trennmesser des Wertes‹ (als Schreibverfahren) erkennen, das die »Grundworte« »Ich-Du« und »Ich-Es« in einer Gegenüberstellung arrangiert, wobei sich das ›Heilige‹ wesentlich in einer positiven Konnotation verdichtet.34 Daneben charakterisiert Buber die von ihm hervorgehobene, unmittelbare Beziehung des Ich-Du-Verhältnisses als über die gegenständliche Sprache kaum zu erfassen: »Aber die gegenständliche Sprache erhascht nur einen Zipfel des wirklichen Lebens.« (ID 21)35 Der sich dergestalt abzeichnenden konzeptionellen Aporie einer reflektierenden Beschreibung der Ich-Du-Unmittelbarkeit begegnet Buber über einen fragmentarischen, immer wieder neu ansetzenden Schreibprozess36, wie auch Hans-Joachim Werner treffend bemerkt: »Seine Philosophie ist fragmentarisch und kann vom Ansatz her nicht anders sein.«37
33 Vgl. u.a. ID 20, 69f. und 76. 34 Vergleichbar der Wert-Konstellation in Probleme der Poetik Dostoevskijs sowie im Unterschied zur entsprechenden Ausgestaltung in Zur Philosophie der Handlung. 35 In Zwiesprache eröffnet Buber eine vergleichbare Problematisierung im Hinblick auf die Möglichkeit einer adäquaten Beschreibungssprache für die eigene analytische Beobachtung: »Aber eigentlich aufzeigen kann ich, was ich im Sinn habe, nur an Begebenheiten, die in einer echten Wandlung aus der Kommunikation zur Kommunion, also in einer Verleiblichung des dialogischen Wortes münden. In Begriffen ist das, um was es hier geht, dem lesenden Menschen nicht zu überreichen. Aber in Beispielen dürfen wirs darstellen, […].« (Martin Buber: »Zwiesprache«, in: Ders., Das dialogische Prinzip, 11. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009, S. 137-196, hier S. 144f.) 36 Ähnlich wie Bachtin, allerdings ist bei Buber eine spezifische, individuell geprägte Schreibdynamik zu erkennen, die die in den bisherigen Ausführungen bereits analysierten Verfahren zusätzlich veranschaulicht. 37 Hans-Joachim Werner: Martin Buber, Frankfurt/M./New York: Campus 1994, S. 24.
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VI Mit Blick auf die (primär) bei Michail Bachtin nachgezeichnete Theorierhetorik ist im Kern eine über vier Schritte arrangierte Funktionalisierung christlicher bzw. generell vielfach vorgeprägter – und damit über ein spezifisches Wertpotential verfügender – Begrifflichkeiten, speziell des Begriffs des ›Heiligen‹, zu beobachten: 1. Als Ausgangspunkt zeigt sich ein nahezu unverknüpftes, nicht über explizite Bezugnahmen markiertes Aufnehmen entsprechender Begrifflichkeiten in den eigenen Analysekontext, wodurch sich die aufgegriffene Terminologie weitgehend unabhängig von vorgängigen Prägungen zu einer wertenden Differenzierung verdichtet, indem sie gerade dem einen und nicht dem anderen Aspekt einer Dichotomie zugeordnet wird.38 2. Davon ausgehend lässt sich eine immer wieder neu einsetzende Reihung definitorischer Annäherungen an den jeweils fokussierten Aspekt der Analyseperspektive erkennen, durch die die eröffnete Unterscheidung prozessual in immer neuen Erscheinungs- bzw. Beschreibungsformen nachgezeichnet und mit verschiedenen Folgeunterscheidungen ergänzt wird, ohne als Fluchtpunkt ein abgeschlossenes, systematisches Konzeptionsmodell zu vervollständigen. 3. Darin zeigt sich eine Dynamisierung, die sich einer letztgültigen Determination, einem Auf-den-Punkt-Bringen des beobachteten Gegenstandes, Phänomens, Form- oder Wirklichkeitsprinzips entzieht, um deren wesentliche Charakteristika in einer ihnen gerechten Beobachtungsperspektive sowie -sprache nachvollziehen zu können.39 4. Auf diese Weise zeigt sich ein Angleichen des eigenen Analyseansatzes, des eigenen Schreibens an die in der jeweiligen Studie hervorgehobenen Prämissen sowie Paradigmen, so dass sich ein eigentümliches Wechselspiel aus konzeptionell-theoretischen und formal-praktischen Komponenten abzeichnet, wodurch sich u.a. die »einzigartige Tatsache des tatsächlichen geschichtlichen Vollzugs« (PdH 57) konturieren lässt, allerdings ohne dessen ephemere Einzig-
38 So etwa beim »heiligen Grundwort«, dem »Grundwort Ich-Du«, das die »Welt der Beziehung« stiftet, im Gegensatz zur »Welt als Erfahrung« im »Grundwort Ich-Es« (ID 10-13). 39 Entsprechend greift Bachtin die Differenzierung zwischen dem ›heiligen Weg‹ der »autonomen Welt des Kulturbereichs« und dem ›partizipativen Weg‹ im »tatsächlichen einzigartigen Leben« wiederholt leicht verschoben auf, um sie in die asymptotische Bewegung der intendierten ›Ersten Philosophie‹ zu überführen.
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artigkeit durch eine ihn letztgültig erfassende, abstrakte, starre ›Kategorienwelt‹ zu unterminieren. Dementsprechend lässt sich für die bei Michail Bachtin rekonstruierte Theorieentwicklung zusammenfassend in Ansätzen eine ›operative Formalisierung‹ des ›Heiligen‹ konstatieren, die sich auch bei Martin Buber in einer eigentümlichen Variante andeutet.40 Als funktionales Moment bzw. dynamisierende Wertsetzung eines Schreibverfahrens scheint das ›Heilige‹ dergestalt in einer komplexen Verknüpfung von konzeptionell-theoretischer sowie formal-praktischer Strukturierung auf.
40 Wobei der jeweilige Grad der ›Formalisierung‹ durchaus differiert: So tritt sie etwa im Schreiben Bachtins markanter hervor, da Buber u.a. in Ich und Du wesentlich an einem übergeordneten, religionsphilosophischen Ansatzpunkt gelegen ist, auch wenn er darin keine eigenständige, kohärente Konzeption des ›Heiligen‹ formuliert. Zudem ließe sich die aufgezeigte ›Formalisierung‹ auch im Hinblick auf weitere Terminologien sowie Paradigmen bei Bachtin – zudem ausführlich bei Buber sowie darüber hinaus – nachweisen bzw. als Heuristik erproben. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags ist ein solches erweitertes Nachgehen der eröffneten Perspektive jedoch nicht zu leisten.
In Babel Kon(tra)fusion der Sprache in Joyces Finnegans Wake C AROLINE S AUTER
ʟʭʩʑʣʧʕ ʠʏ ,ʭʩʑʸʡʕ ʣʍ ˒ ʺʕʧʠʓ ʤʕʴˈʕ ʵʓʸˌʕʤ-ʬʕʫ ʩʑʤʍʩʔʥ ʠ
1 Und die ganze Erde hatte ein- und dieselbe Sprache und ein- und dieselben Wörter.
ʸʲʕ ʍʰˇʑ ʵʓʸʠʓ ˎʍ ʤʕʲʷʍ ʡʑ ˒ʠʍʶʮʍ ʑ˕ʔʥ ;ʭʓʣ˟ʓ ʮʑ ʭʕʲʱʍ ʕʰˎʍ ʩʑʤʍʩʔʥ ʡ ʟʭˇʕ ˒ʡˇʒ ʍ ˕ʔʥ
2 Und es geschah, als sie von Osten aufbrachen, da fanden sie eine Ebene im Land Schinar und ließen sich dort nieder: sie blieben dort.
ʤʕʴʸʍ ˈʑ ʍ ʰʍʥ ʭʩʑʰʡʒ ʬʍ ʤʕʰˎʍ ʬʍ ʑʰ ʤʕʡʤʕ ˒ʤʒʲʸʒ -ʬʓʠ ˇʩʑʠ ˒ʸʍʮʠʖ˕ʔʥ ʢ ʭʓʤʬʕ ʤʕʩʤʕ ʸʕʮʧʒ ʤʔ ʍʥ ʯʓʡˌʍʬ ʤʕʰʡʒ ˘ʍ ʤʔ ʭʓʤʬʕ ʩʑʤˢʍ ʔʥ ʤʕʴʸʒ ˈʑ ʍʬ ʟʸʓʮʖʧʔʬ
3 Und sie sagten, ein Mann zum anderen: Auf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! Und die Ziegel waren ihnen Stein, und der Asphalt war ihnen Mörtel.
ʭʑʩʮʔ ˉʕ ʡʔ ˣˇʠʖʸʍʥ ʬʕːʍʢʮʑ ˒ ʸʩʑʲ ˒ʰʕ˘-ʤʓʰʡʍ ʑʰ ʤʕʡʤʕ ˒ʸʍʮʠʖ˕ʔʥ ʣ ʓ ʲʔʰʍʥ ʟʵʓʸˌʕʤ-ʬʕʫ ʩʒʰ˝ʍ -ʬʔʲ ʵ˒ʴʕʰ-ʯʓ˝ ʭˇʒ ˒ʰʕ˘-ʤˈʏ
4 Und sie sagten: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, und sein Haupt bis in den Himmel! Und machen wir uns einen Namen, damit wir uns nicht über die Fläche der ganzen Erde zerstreuen!
˒ʰˎʕ ʸˇʏ ʓ ʠ ʬʕːʍʢ˙ʑ ʤʔ -ʺʓʠʍʥ ʸʩʑʲʤʕ -ʺʓʠ ʺʖʠʍʸʬʑ ʤʕʥʤʍʩ ʣʓʸʒ˕ʔʥ ʤ ʟʭʕʣˌʕʤ ʩʒʰˎʍ
5 Und JHWH kam herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten.
ʤʓʦʍʥ ʭʕ˘ʫʗ ʬʍ ʺʔʧˋ ʤʕʴˈʍ ʕ ʥ ʣʕʧʠʓ ʭʔʲ ʯʤʒ ,ʤʕʥʤʍʩ ʸʓʮʠʖ˕ʔʥ ʥ ˒ʮʍʦʕʩ ʸˇʏ ʓ ʠ ʬʖ˗ ʭʓʤʮʒ ʸʒʶˎʕ ʑʩ-ʠʖʬ ʤʕˢʲʔ ʍʥ ;ʺˣˈʏʲʬʔ ʭʕ˘ʧʑ ʤʔ ʟʺˣˈʏʲʬʔ
6 Und JHWH sagte: Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was sie zu tun ersinnen.
˒ʲʍʮˇʑ ʍ ʩ ʠʖʬ ʸˇʏ ʓ ʠ--ʭʕʺʴʕ ˈʍ ʭˇʕ ʤʕʬʡʍ ʕʰʍʥ ,ʤʕʣʸʍ ʒʰ ʤʕʡʤʕ ʦ ʟ˒ʤʒʲʸʒ ʺʔʴˈʍ ˇʩʑʠ
7 Auf, lasst uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass sie einer des ande-
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ren Sprache nicht mehr hören und verstehen können! ˒ʬʍːʧʍ ʔ˕ʔʥ ʵʓʸˌʕʤ-ʬʕʫ ʩʒʰ˝ʍ -ʬʔʲ ʭˉʑ ʕ ʮ ʭʕʺʖʠ ʤʕʥʤʍʩ ʵʓʴʕ˕ʔʥ ʧ ʟʸʩʑʲʤʕ ʺʖʰʍʡʬʑ
8 Und JHWH zerstreute sie von dort über die ganze Erde, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen.
-ʬ˗ʕ ʺʔʴˈʍ ʤʕʥʤʍʩ ʬʔʬˎʕ ʭˇʕ -ʩʑ˗ ʬʓʡˎʕ ˑʕʮˇʍ ʠʕʸʷʕ ʯʒ˗-ʬʔʲ ʨ ʕ ʮ˒ ʵʓʸˌʕʤ ʟʵʓʸˌʕʤ-ʬʕ˗ ʩʒʰ˝ʍ -ʬʔʲ ʤʕʥʤʍʩ ʭʕʶʩʑʴʤʎ ʭˉʑ
9 Darum nannte man sie mit Namen ›Babel‹, denn dort verwirrte JHWH die Sprache der ganzen Erde, und von dort zerstreute sie JHWH über die Fläche der ganzen Erde.1
Babel ist der Ort, Topos, der Verwirrung, der Konfusion. Des Weiteren ist Babel der Beginn der Geschichte der Schemiten, des Volkes, das den Namen des Namens trägt – ʭˇʒ (schem) nämlich bedeutet ›Name‹.2 Der Name und die Konfusion freilich sind im Babel der Bibel nicht voneinander trennbar: der Name selbst erweist sich im Text eben als Konfusion, als verwirrter – und verwirrender – Name. Die Babel-Geschichte im elften Genesiskapitel legitimiert scheinbar den Namen einer Stadt; sie erzählt, so zumindest sagt sie, weshalb Babel ›Babel‹ heißt: »Darum nannte man die Stadt mit Namen ›Babel‹, denn dort verwirrte [ʬʬʡ, balal] JHWH die Lippen der ganzen Erde.« (Gen. 11,9) Allerdings stellt Babel, und hier beginnt die Verwirrung, anders als es der biblische Babeltext suggeriert, in der Tat keine Übersetzung von ›Verwirrung‹ dar: Der Name ›Babel‹, der – so sagt der Text – ›Verwirrung‹ bedeuten soll, wird von dem Verb ʬʬʡ (balal, verwirren), die in den Versen 7 und 9 verwendet werden, zwar abgeleitet, doch der Name der Verwirrung – »Babel« – ist selbst verwirrt, bedeutet oder bezeichnet er doch zunächst einmal nichts: in der hebräischen Bibel wird Babel (ʬʓʡˎʕ ) ausschließlich durch Gen. 11,9 semantische Bedeutung zugeschrieben.3
1
Gen. 11,1-9. Ich zitiere Textstellen aus der hebräischen Bibel stets nach ʭʩʡʥʺʫʥ ʤʸʥʺ ʭʩʠʩʡʥ (Torah nabi’im weketubim) – Biblia Hebraica Stuttgartensia, editio quinta emendata opera A. Schenker, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1997. Die deutsche Übersetzung ist hier und im Folgenden – hier allerdings mit einigen Modifizierungen meinerseits –, sofern nicht explizit anders vermerkt, zitiert nach: Elberfelder Bibel, Wuppertal: R. Brockhaus 2006.
2
Vgl. Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte
3
Vgl. ebd., S. 83 u. S. 101.
Testament, 17. Aufl., Göttingen u.a.: Springer 1962, S. 839f.
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Babel, der Name der Verwirrung, stiftet Verwirrung. Babel ist der Name der Verwirrung selbst. Der Name ›Babel‹ ist vor allem deshalb als der Name der Verwirrung zu bezeichnen, weil er gleichzeitig etwas und sein Gegenteil bedeuten oder bezeichnen kann, nämlich Schöpfung und Zerstörung, Konstruktion und Destruktion, die in Babel in eins fallen. Im Bibeltext zeigt sich eine paradoxe Namensnennung: »und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Darum nannte man sie [die Stadt, C.S.] ›Babel‹.« (Gen. 11,8-9, Herv. C.S.) Die zum Zeitpunkt der Belegung mit einem Namen – nämlich ›Babel‹ – noch ungebaute Stadt wird vor ihrer Vollendung zerstört. Dennoch wird sie dadurch, dass sie benannt wird, als Stadt instituiert; die Stadt Babel aber ist nie etwas anderes gewesen als eine Ruine. Als Ruine wird sie ›Babel‹ genannt, als Ruine ist sie Stadt.4 Darum (ʯʒ˗-ʬʔʲ) erhält die Stadt den Namen ›Babel‹, den verwirrenden Namen der Verwirrung: Schöpfung und Zerstörung konvergieren in Babel, präziser: sie fusionieren. In der confusion aus widersprüchlichen Elementen5 fusionieren Konstruktion und Destruktion zum Paradoxon einer perpetuierten Ruine, in der die Gegensätze von Schöpfung und Zerstörung gleichermaßen vorhanden sind und einander nicht aufheben, sondern einander widersprechen, gegeneinander ankämpfen: nicht KonFusion, sondern Kontra-Fusion. Babel, der Name der Stadt, die als Ruine Stadt wird, bezeichnet gleichzeitig Schöpfung und Zerstörung sowie gleichzeitig die Vor- und Nachgängigkeit, die einander widerstreiten. Im Widerstreit bleibt Ba-
4
Somit verweist der Name ›Babel‹ – anders als etwa J. Hillis Miller ihn liest – keineswegs auf die Babel-Stadt als Stadt, sondern vielmehr auf eine perpetuierte BabelRuine. Vgl. J. Hillis Miller: »Babble before Babel«, in: Aris Fioretos (Hg.), Babel. Für Werner Hamacher, Basel u.a.: Urs Engeler 2009, S. 296-303, hier S. 298.
5
Das Verb, welches im Englischen als ›confuse‹, im Französischen als ›confondre‹ und im Deutschen mit ›verwirren‹ wiedergegeben wird, heißt im hebräischen Text ʬʬʡ (balal), was auch mit ›[in einen Teig] einrühren‹ oder ›sich vermischen‹ übersetzt werden kann (vgl. W. Gesenius: Hebräisches Wörterbuch, S. 101). Daniel HellerRoazen präsentiert unter Rückgriff auf Philos Babel-Deutung eine Lesart, in der ›Verwirrung‹ nicht als Zerstörung einer einheitlichen Sprache oder als Schöpfung einer neuen Sprache, sondern stattdessen als Verschmelzung divergierender Elemente zu einer ununterscheidbaren Einheit verstanden wird. Vgl. Daniel Heller-Roazen: Echolalias. On the Forgetting of Language, New York: Zone Books 2005, S. 222. Dass aber diese Einheit keine ist, sondern zwei widersprüchliche Elemente eine Einheit vortäuschen, die doch ihre Gegensätzlichkeit nicht auflöst, beachtet HellerRoazen nicht.
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bel ruinös. Diese Kontra-Fusion – etwa von Konstruktion und Destruktion in der auf Dauer gestellten Ruine – ist es, die mit dem Namen ›Babel‹ benannt wird.6 Als ein solcher Name entzieht sich der Name ›Babel‹ jeder Sprache: Er gehört keiner einzigen Sprache an, und damit überhaupt keiner Sprache7; er bezeichnet etwas, für das keine Sprache ein Wort hat, nämlich den selbstwidersprüchlichen ruinösen Zustand der Kontra-Fusion (und nicht etwa die Verwirrung, Konfusion). Der Name ›Babel‹ kann in alle Sprachen übertragen, hinübergetragen, werden und bleibt doch, unübersetzt und unübersetzbar, stets er selbst: »Babel«8. Er erweist sich somit als absolut unübersetzbar und zugleich übersetzbar schlechthin. Babel, der Name der Kontra-Fusion, ist – »sowohl archetypisch als auch allegorisch«, wie Derrida in seiner Babel-Bibel-Lektüre sagt9 – der Name für die Paradoxie des Übersetzens. Diese Paradoxie besteht darin, dass die
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Die Kontra-Fusion hat allegorischen Charakter. Babel ist nie etwas anderes als eine Ruine gewesen und deshalb ist Babel schon immer eine Allegorie. Denn Allegorien, so hat Walter Benjamin in seiner Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel deutlich gemacht, »sind im Reich der Gedanken was Ruinen im Reich der Dinge« (Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders., Gesammelte Schriften, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972ff., Bd. I-VII [= GS], hier GS I.1, S. 203-430, hier S. 354). Die Ruine ist als auf Dauer gestellter Zeuge der Vergänglichkeit und Zerstörung dessen, wovon sie letzter Teil ist, die Allegorie der Allegorie: die Allegorie nämlich ist eine grundsätzlich differentielle und sogar suidifferentielle Relation: Die Allegorie unterscheidet sich von sich selbst, indem sie auf etwas verweist, das sie nicht selbst ist. Sie ist nicht nur jeweils etwas anderes als sie selbst, sondern sie ist sogar tendenziell gleichzeitig sie selbst und ihr eigenes Gegenteil: sie bedeutet »das Nichtsein dessen, was es vorstellt« (ebd., S. 406).
7
Vgl. zur sprach-losen Qualität des Namens ›Babel‹ auch J. H. Miller: Babble before
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Dass der Name ›Babel‹, der Name der Verwirrung, aber als Name etwas bedeuten
Babel, S. 297f. muss, um der Geschichte von Babel eine Bedeutung zu geben, verwirrt die Übersetzer des Babelgeschehens, und sie übersetzen den unübersetzbaren Eigennamen, verwirrt, etwa als »Bavel, Confusion« (Chouraqui) oder »Babel, Gemenge« (Buber/Rosenzweig). 9
Vgl. Jacques Derrida: »Des Tours de Babel«, in: Ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Galilée 1987, S. 209-284, hier S. 211. Völlig zu Recht fragt Derrida zu Beginn seiner Argumentation nach der Sprache, in der der Babelturm hätte erbaut werden können, die also eine Sprache hätte sein müssen, in der Babel, »par confusion« mit ›Konfusion‹ hätte übersetzt werden können (ebd., S. 204) – die hebräische ist es nicht.
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Übersetzung, obwohl sie sich im Zwischenraum der Sprachen bewegt – ja, diesen sogar selbst bewegt –, selber Sprachen-los ist wie der Name ›Babel‹. Sie ist eine Instanz, die keine ist, und die als dritte Sprache, die es – zumindest als Sprache – nicht gibt, zwischen zwei Sprachen zu vermitteln hat.10 Babel instituiert vor allem den Imperativ, zu übersetzen: das Übersetzen wird in Babel als Gesetz, als Pflicht, als Schuldigkeit, als Aufgabe gegeben (und ob es zum Guten gegeben wird, ist unklar – so weist Derrida auf das Vergiften der Gabe der Sprache hin, das die Sprache selbst durchaus zu denken zulässt: gift – Gift11). Doch die versuchte Übersetzung des Namens ›Babel‹ – »Darum nannte man sie mit Namen ›Babel‹, denn dort verwirrte JHWH die Sprache der ganzen Erde« (Gen. 11,9) – scheitert schon im biblischen Babel-Text; und sie scheitert an der Tatsache, dass Babel zugleich eines und sein Gegenteil bedeutet und dass die Bedeutungen einander widerstreiten. Die Konfusion der Sprachen ›nach Babel‹ liegt nicht darin, dass eine Sprache sich von der anderen unterscheidet12, sondern sie liegt vielmehr in der Suidifferenz der einen Sprache zu sich selbst: verwirrend ist die Kontra-Fusion, die mit dem Geben des Namens ›Babel‹ gegeben ist. * James Joyce hat mit seinem Roman Finnegans Wake (1939) ein Werk geschaffen, in das sich die babelische Kontra-Fusion der Sprachen emphatisch einschreibt: was ein Wort sagt, kann in diesem multilingualen und experimentellen Buch stets gleichzeitig das Gegenteil seiner selbst sein und bedeuten. Augenfällig wird dies durch den ständigen und ununterbrochenen Prozess der Transfor-
10 Vgl. dazu ausführlicher Werner Hamacher: »Kontraduktionen«, in: Georg Mein (Hg.), Transmission – Übersetzung, Übertragung, Vermittlung, Wien: Turia & Kant 2010, S. 13-34; bes. S. 13 u. S. 27f. 11 Vgl. J. Derrida: Des tours de Babel, S. 205. 12 Hier liegt auch der entscheidende Denkfehler George Steiners, der in seiner einflussreichen und zweifelsohne grandiosen übersetzungstheoretischen Studie After Babel davon ausgeht, dass das »paradox of Babel« eben in der unüberwindbaren Vielheit der Sprachen, bis hin zu den Idiolekten reiche, sodass die Sprache selbst zwischen »elementary acts of speech« – der Tatsache, dass sie als Zeichensystem etwas aussage – und ihrer extremen Multiplizität zerrissen sei. Vgl. George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation, 3. Aufl., Oxford: Oxford UP 1998, bes. S. 495ff. Steiner missachtet, dass die noch viel paradoxere Paradoxie des Übersetzens von Babel bereits in der oben skizzierten Suidifferenz der einen Sprache zu sich selbst besteht.
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mation der Sprache im Zwischenraum zwischen den Sprachen: in der Übersetzung. Die expliziten und impliziten Babel-Motive in Finnegans Wake, die es ermöglichen, den ganzen Roman als Babel-Erzählung zu lesen, fordern ihre Übersetzung gleichzeitig heraus und vernichten sie, ja, sie befehlen und untersagen sie zugleich.13 Joyces Roman ist demnach als Allegorie des Übersetzungsprozesses zu lesen, in dem, wie aus der Babel-Erzählung der Bibel im Geben des Namens Babel bereits deutlich ersichtlich war, ein Wort – oder ein Name – zugleich sich selbst und sein Gegenteil bedeuten kann, eine Kontraduktion sich also als ihre eigene Kontra-Traduktion wird erweisen müssen. Z.B.: »God es El?« (FW, 246), so fragt der Text von Finnegans Wake. Mit anderen Worten: Ist Gott als El zu bezeichnen – also mit dem Namen, der den Gott Israels nicht von anderen Göttern unterscheidet – oder ist er mit seinem unaussprechlichen Eigennamen zu bezeichnen, der nur ihm eignet und ihn von allen anderen Göttern unterscheidet, der aber unsagbar ist? Die Frage ist paradox. Denn Gott ist nicht zu bezeichnen. Schon in Joyces Frage ist Gott nicht zu bezeichnen, denn es stellt sich die Frage, ob die Frage – hier im Übergang vom Englischen ins Spanische – noch heißen kann: Ist Gott El?, oder ob sie – zumindest auch – fragen würde: Ist Gott Er (span. el), und ob nicht darin gleichzeitig das genaue Gegenteil ebendieser Frage mitklänge, nämlich das Französische: God est elle? Also: Ist Gott nicht Er, sondern Sie? Dass nun, wie sich hier erweist, dem Namen der Kontra-Fusion (»Babel«) der Name Gott (»El«) eingeschrieben
13 Die Selbstwidersprüchlichkeit des Unterfangens, Joyce’sche Texte zu übersetzen, hat Derrida in seiner Rede über »zwei Wörter« – nämlich die Wörter he war – von Joyce herausgearbeitet. Derrida schreibt: »He war appelle la traduction, ordonne et inderdit à la fois la transposition dans l’autre langue. […] Et l’appelà traduire vous rejette; tu ne me traduiras pas.« (Jacques Derrida: »Deux mots pour Joyce«, in: Ders., Ulysse gramophone. Deux mots pour Joyce, Paris: Galilée 1987, S. 40f., Herv. i.O.) Joyces Original-Text lautet an der kommentierten Stelle: »And shall not Babel be with Lebab? And he war[.]« (James Joyce: Finnegans Wake. With an introduction by Seamus Deane. Reprinted following the text of the first edition published by Faber and Faber, London, and The Viking Press, New York, 4 May 1939, London u.a.: Penguin 2000, S. 246. Im Folgenden werden sämtliche Stellen aus diesem Werk mit der Sigle FW und Seitenangabe im Fließtext angegeben; hier FW, 258 u. 246.) Die Stelle „And he war“ heißt in Dieter H. Stündels vollständiger Nachdichtung bezeichnenderweise auf Deutsch – ähnlich wie auch die französische, von Derrida kommentierte, die lautet: »Et il en fut ainsi« –: »Und soll nicht Babel mit Lebab sein. Und er war.« (Dieter H. Stündel: Finnegans Wehg. Keinnäh ÜbelSätzZung des Wehrkeß fun Schämes Scheuß, Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1993, S. 258.)
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ist, hat Derrida in Des tours de Babel emphatisch herausgestellt und die Implikationen dieser Tatsache diskutiert. Gottes Name selbst kann, so deutet Derrida, nichts anderes als Konfusion bedeuten: »Et le nom propre de Dieu se divise assez dans la langue, déjà, pour signifier aussi, confusément, ›confusion‹«, und folglich muss, so Derrida, der Gott, der die Stadt Babel zerstört, auch sich selbst ruinieren und schließlich sich und seinen Namen dekonstruieren: »Dieu déconstruit. Lui-même.«14 Der Gottesname El, der selbst Teil der Konfusion geworden ist, ja den sich die Konfusion von Babel in ihrem Namen Bab-El einverleibt hat15, der folglich ebenfalls der babelischen Dissemination anheimfallen muss, ist freilich – und dies übersieht Derrida in seiner Deutung – eben nicht der unaussprechliche Gottesname, der mit JHWH graphisch dargestellt wird, sondern vielmehr der Name El, den JHWH im Hebräischen mit anderen Göttern teilt. El (ʬʒʠ) bezeichnet »als Gegensatz zu ʭʕʣˌ [’âdâm, »Mensch«, C.S.] […] sowohl den wahren Gott als die Götter der Völker. Soll es deshalb einen bestimmten Gott (Israels Gott, den einzigen Gott) bezeichnen, so wird es gewöhnlich näher präzisiert.«16 El ist kein Eigenname, sondern eine Gattungsbezeichnung für Gott als Teil der Götterwelt – und an dieser Stelle irrt Derrida, der El als Gottes »nom propre« bezeichnet und versteht, wiederum. Die babelische Kontra-Fusion kristallisiert sich im Versuch, Gott mit einem Namen zu versehen, heraus. Die Idee eines Namens Gottes ist kontradiktorisch: Entweder kann Gott als El bezeichnet werden – aber dann ist er nicht, zumindest nicht zwingend, der Gott Israels – oder er kann mit einem Namen benannt werden, der unsagbar ist, der also nicht auszusprechen ist, und der also nicht benennen kann, da das Benennen ein performativer Sprechakt ist, der das lautliche Aussprechen eines Namens voraussetzt. Wenn der Name Gottes nicht aussprechbar ist, dann kann er auch kein Name sein. Seine Unaussprechlichkeit ist (s)ein Selbstwiderspruch.
14 J. Derrida: Des tours de Babel, S. 207, Herv. i.O. 15 Das Geflecht oder gar Dickicht von Überlieferungen, Übertragungen und Überlagerungen, das sich um mögliche Bedeutungen des Namens Babel aus den verschiedensten altorientalischen Sprachen und Kulturen rankt, die Bab-El etwa als ›Tor der Götter‹, ›Vater-Gott‹ oder ›Stadt Gottes‹ verstehen lassen, weist auf die Unentwirrbarkeit des Namens der Verwirrung hin. Zu den verschiedenen Bedeutungszuschreibungen von Bab-El vgl. Alfred Hirsch: Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas, München: Fink 1995, bes. S. 21f. 16 W. Gesenius: Hebräisches Wörterbuch, S. 36.
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Der Text der hebräischen Bibel verwendet den selbstwidersprüchlichen unaussprechlichen Namen, um Gott zu bezeichnen: In der Babel-Erzählung im 11. Genesis-Kapitel wird »Gott« niemals als El, sondern stets als ʤʕʥʤʍʩ (JHWH) bezeichnet und benannt. Es ist der Gott mit dem unaussprechlichen Namen, der hier – als fundamental Unbenennbarer und also Namenloser, als noname – agiert, und der die Heiligkeit, also die Unaussprechlichkeit und damit – paradoxerweise – die Selbstwidersprüchlichkeit seines Namens verteidigt, die das Volk aus dem Osten, das Kapitel 10 und Kapitel 11 als »die Geschlechter Schems« (Gen. 11,10) präzisiert, zu untergraben sucht. Die Schemiten wollen mit ihrem Turmbau die Genealogie des Stammvaters Schem (Gen. 10) vollenden, also den Namen des Namens vervollkommnen:17 Das Volk Schems, das Volk also, das den Namen des Namens (schem) trägt, sammelt sich, in Missachtung des expliziten göttlichen Gebots in Gen. 9,7: »Ihr nun, seid fruchtbar und mehret euch, wimmelt [zerstreut Euch] auf der Erde!«, an einem Ort und baut eine Stadt und einen Turm, um sich »einen Namen zu machen« (Gen. 11,4). Die Schemiten wiederholen die Sünde des Sündenfalls: sie ahmen Gottes schöpferisches Wort in einer »Parodie […] des schaffenden Gotteswortes«18 nach, sie simulieren blasphemisch das sakrale Gotteswort, indem sie Gott selbst entstellend zitieren: Sie wollen einen Turm bauen, »sein Haupt bis an den Himmel«, und sie wollen sich »einen Namen machen« (Gen. 11,4) – mit anderen Worten, sie wollen »sein wie Gott« (Gen. 3,4). Denn mit ihren Handlungen nehmen sie den aussprechbaren ›Ersatz-Namen‹ des unaussprechlichen Gottes – nämlich ʭˇʚ ʒ ʤʔ (ha-schem), »der Name« – vorweg und beanspruchen diese Namen – den Namen ›Name‹ – für sich, für ihr Volk, für die Schemiten. Die Schemiten erheben sich gemeinsam gegen Schem. Sie versuchen, mit ihrem Turm zu Gott überzusetzen. »Sein Haupt« soll »bis an den Himmel« reichen (Gen. 11,4). Das hebräische Wort für ›Himmel‹ an dieser Stelle lautet ʭʑʩʮʔ ˉʕ (schamajim). Der Angriff auf, ja, der Krieg gegen Schem – gegen Gott, gegen den Namen – ist an dieser Stelle (beroscho haschamajim) deutlich im Rauschen der Sprache vernehmbar. Die Schemiten versuchen, zu Gott überzusetzen oder gar sich über Gott zu setzen, und verstoßen dabei gegen das Gesetz, das als Über-Gesetz das über alle Gesetze gesetzte Gesetz ist: »Du sollst den Namen (schem) JHWHs, Deines Gottes, nicht zu Nichtigem gebrauchen« (Ex. 20,7a; Übers. C.S.). Dieses ist das Über-Gesetz des
17 Vgl. dazu auch Joseph Vogl: »Kafkas Babel«, in: Poetica 26, H.3-4 (1994), S. 374384, bes. S. 375; sowie Thomas Schestag: »Sem«, in Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 64-118. 18 Walter Benjamin: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: GS II.1, S. 140-157, hier S. 153.
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Schem, über das sich die Schemiten, indem sie sich über Schem zu setzen trachten, hinweg-setzen, und mit dem Hinwegsetzen über das Über-Gesetz beginnt die Geschichte der Schemiten, die von Fremdheit, Nomadentum, Exil und Diaspora handelt, eine Erzählung von Verirrungen, Verwirrungen, Verstreuungen und Verlaufungen. * Joyce findet in Finnegans Wake das adäquate Wort für diese verirrende und verwirrende Geschichte: »the meandertale« (FW, 18). Der mäandernde Weg der Sprache wird in Joyces Werk nachgezeichnet. Unvermittelt beginnt, flussgleich sich windend, der erste Satz: »riverrun, past Eve and Adam’s …« (FW, 3)19, der nicht nur der erste, sondern zugleich die Fortsetzung des letzten Satzes im Roman ist: »A way a lone a last a loved a long the« (FW, 628). Dieser anfangs- und endlose Satz ist eine Kontra-Fusion zweier Sätze, die sich nicht ergänzen, sondern die einander widerstreiten: Weder beginnt der eine noch beendet der andere Satzteil den Roman; vielmehr mäandert der Sprach-Fluss unaufhörlich fort, gebiert sich selbst wieder neu, über-lebt sich stets aufs Neue. Die Geschichte der Menschheit bricht in Finnegans Wake immer wieder von neuem an.20 Der ›Protagonist‹ HCE (falls von einem solchen zu sprechen für Finnegans Wake angemessen sein sollte), wird als »Here Comes Everybody« (FW, 32) apostrophiert; er verbürgt, dass dieses Buch als Ein Buch für Alle und Keinen lesbar wird (falls es, und sicher ist dies keinesfalls, lesbar ist). »Past Eve and Adam’s« verläuft der zirkuläre Kurs des Sprach-Flusses, »back to Howth Castle and Environs« (FW, 3, Herv. C.S.): schon der Name des Ortes der Handlung trägt den Namen des Everybody HCE buchstäblich in sich mit. An diesem All-Ort des Everybody beginnt die Geschichte der Menschheit, die in Finnegans Wake vor allem eine Sprach-Geschichte ist, immer wieder neu: bei Adam und Eva – die bei Joyce allerdings in umgekehrter Reihenfolge »Eve and Adam« heißen – und, vor allem, mit einem Fall, einem lauten, archaischen Ur-Fall. Unüberhörbar hallt in einem
19 Eine genaue Lektüre der eröffnenden Zeilen von Finnegans Wake im Hinblick auf deren äußerst prekäre Lesbarkeit findet sich bei Jacques Aubert: »riverrun«, in: Derek Attridge/Daniel Ferrer (Hg.): Post-structuralist Joyce: Essays from the French, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1984, S. 69-78. 20 Joyces Rezeption Giambattista Vicos und dessen Konzeption einer zyklisch verlaufenden unendlichen Geschichte in La Scienza Nuova ist hier deutlich ersichtlich. Im weiteren Ver-Lauf des Satzes spricht dieser von »a commodius vicus of recirculation« (FW, 3) und zitiert Vico somit nicht nur konzeptuell, sondern sogar quasi namentlich.
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exakt hundertlettrigen Grollen des Falls, der den Sprach-Fluss (wieder) zum Fließen bringt, der Name und die Geschichte Babels nach: »The fall (bababadalgharaghtak[…]!)« (FW, 3). Die soeben im Everybody HCE (wieder-) geborene Menschheit lernt im Donnerwort sprechen und verliert sich schon im präbabelischen babble: »bababa …«, so stammelt sie los, und deutet die Verwirrung, die Konfusion (hebr. ʬʬʡ, balal) im folgenden Sprachgewitter (»bababadalgharaghtak[…]!«) nicht nur an, sondern führt sie aus. Vom Geplapper – auf Französisch babil – des Babys bis zur Konfusion und zur Kontra-Fusion von Babel muss sich nur ein Buchstabe verschieben. Der Mensch – HCE – wird stets »an overgrown babeling« (FW, 6) sein, ein monströses Babelbaby, dessen Sprache nie etwas anderes als Konfusion ›bedeuten‹ kann, er wird »by the waters of babalong« (FW, 103) sitzen und – vielleicht – dann und wann weinen21, vor allem aber auch unaufhörlich immer weitersprechen: babble on, babble along …, und also immer wieder fallen, zurück ins babble fallen. Der Mensch wird in seiner Sprache immer fremd bleiben, ein steter Exilant in Babylon: babble-on. Dieses Babylon ist ein anrüchig-lasziver, ja, hurerischer Durchgangsort: »babylone the great-grandhotelled with tit tit tittlehouse« (FW, 17). Babylon – babble-on, babble along – ist der Ort der Fremde (»the greatgrandhotelled«) und es ist der Ort, das Hotel, der Hure Babylon (»tit tit tittlehouse«)22, also der »fremden Frau«, vor dem die Sprüche Salomos in der biblischen Weisheitsliteratur eindringlich warnen: »Denn Honigseim träufeln die Lippen [ʩʒʺʴʍ ˈ, ʑ siftej] der fremden Frau, und glatter als Öl ist ihr Gaumen; aber zuletzt ist sie bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert.« (Spr. 5,3-4) Den zerstörerischen, bitteren Lippen der fremden Frau stehen in der hebräischen Bibel diejenigen süßen Lippen der ehelich geliebten Braut im biblischen Shir ha-shirim (»Lied der Lieder«), das ebenfalls von Salomo stammt, gegenüber: »Wabenhonig träufeln deine Lippen [ʪʍʑʩʺʔ ˣʺʍʴˈ, ʑ siptotajikh], meine Braut; Honig und Milch ist unter deiner Zunge.« (Hhld. 4,11a) Das in beiden Versen verwendete hebräische Wort ʤʕʴˈʕ (safah) bedeutet übersetzt nicht nur ›Lippe‹, sondern auch ›Sprache‹.23 Die Versuchung fremder Lippen in Babylon –
21 Natürlich handelt es sich hier um ein entstelltes Zitat aus einer Psalmenübersetzung: »An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.« (Ps. 137,1), so übersetzt Luther (Revision 1912); die englische King James Version sagt: »By the rivers of Babylon, there we sat down, yea, we wept, when we remembered Zion.« (Ps. 137,1) 22 Zur Allegorie der Hure Babylon im Neuen Testament, auf das dieses Joyce’sche SatzFragment anspielt, vgl. Offb. 17-19; insbes. Offb. 17,5 u.19,2. 23 Vgl. W. Gesenius: Hebräisches Wörterbuch, S. 790f.
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der Joyces Finnegans Wake nachgibt – ist, wortwörtlich, die Versuchung der Fremd-Sprache. Babylon (babble-on) ist also der Ort der Übersetzung, die immer nur ein Durchgangsort der Sprache sein kann. An diesem transitorischen Un-Ort, dieser Atopie der Fremden, der Fremde und der Fremdsprache findet die Aufrichtung des Babel-Turms im Gebrauch der fremden Sprache – die, wie zu zeigen ist, im Übersetzen durchaus auch die eigene sein kann – immer wieder statt: »(There was a wall of course in erection[.])«, heißt es zu Beginn von Finnegans Wake in der ersten Fall-Szene (FW, 6). Der – natürlich verkehrte – Anklang an die Verlaufsangabe in [the] course of weist auf die Perpetuierung des Geschehens hin: die Mauer ist dauerhaft im Status der Auf- und Errichtung (»in erection«), ihr Bau schließt nie ab.24 Die Errichtung (erection) des Turmes im babble des Sprach-Gebrauchs freilich ist ein perpetuierter Sünden-Phall (»Phall if you but will, rise you must!«; FW, 4).25 Doch die Erregung der Errichtung kann kein Dauerzustand sein: zu nah sind einander Er-
24 Das Motiv eines perpetuierten babylonischen Turmbaus entfaltet besonders meisterhaft Franz Kafkas Erzählung Das Stadtwappen, in: Ders., Beschreibung eines Kampfes (= Bd. 6 der Gesammelten Werke in acht Bänden, hg. v. Max Brod), Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 70-71. Die kollektive Erkenntnis der »Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus« führt zum Krieg und zu einer paradoxen Hoffnung auf ein Ende, das in der Zerstörung des Turms bestehen soll: »Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust […] zerschmettert werden wird.« (ebd., S. 71) Vgl. dazu auch Malte Kleinwort: »Kafka in Babels Ruinen«, in: Ulrich Wergin/Karol Sauerland (Hg.), Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 151-172. 25 Der Sünden-Phall HCEs, der das Romangeschehen, wenn in Finnegans Wake von einem solchen gesprochen werden kann, als leere Mitte strukturiert – die genaue Anklage gegen HCE (Here Comes Everybody) bleibt ebenso unerzählt wie der Inhalt des Briefes von ALP (Anna Livia Plurabelle) –, ist, nur so viel kann gewusst werden, sexueller Natur: »as he called down on the Grand Precurser who coiled him a crawler oft he dupest dye and thundered at him to flatch down off that erection and be aslimed of himself for the bellance of hissch leif.« (FW, 506) Teilweise spielt der Text an dieser Stelle auf Gen. 3,14 an: hier verflucht JHWH die zischende (»hissch«) Schlange, die den Sündenfall provoziert hat, nach der King James Version mit folgenden Worten: »Because thou hast done this, thou art cursed above all cattle, and above every beast of the field; upon thy belly shalt thou go, and dust shalt thou eat all the days of thy life.« (Gen. 3,14; King James Version)
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richtung (to raise), Aufrichtung (to rise) und Auslöschung (to raze), und so kehrt die Sprache – wieder einmal, wie immer – zurück zu Babel, zu dem Namen der Kontra-Fusion, der Konstruktion und Destruktion zugleich bedeuten soll. Und dass die Destruktion des Babel-Turmes vor allem ein sprachliches und sodann des Weiteren ein textuelles Problem sein könnte, reflektieren die »night-lessons« der Earwicker-Kinder: »When men want to write a letters. Ten men, ton men, pen men, pun men, wont to rise a ladder. And den men, dun men, fen men, fun men, hun men wend to raze a leader.« (FW, 278) Wenn jeder Text ein über den Text hinausgehendes Mehr enthält, nämlich ein über den Text hinausgehendes Mehr – mehr, als er der Text selbst je hat meinen oder ›aussagen‹ können –, so überlistet nicht nur die Sprache, sondern vor allem die Schrift im Moment des Schreibens ihren Erzeuger, der sie hervorbringt. Ihre Lettern konstruieren den Sinn und destruieren ihn im selben Moment. Das in den »nightlessons« schriftlich fixierte präbabelische babble, die Hervorbringung einer Sprache aus einer anderen, ist in der Joyce’schen Babelgeschichte eine Neuschreibung der schemitischen Genealogien, die die Babel-Erzählung im 11. Kapitel der Genesis umgeben und nach dem Muster »und X zeugte Y, und Y zeugte Z« usw. strukturiert sind.26 In den »nightlessons« von Shem, Shaun und Issy Earwicker zeugen und gebären die Buchstaben und die Wörter – ja, die Namen – einander unaufhörlich selbst anders wieder, durchaus nicht der – ob zu Recht oder zu Unrecht angenommenen – Intention ihres Erzeugers folgend. »When« zeugt »ten« zeugt »ton« zeugt »pen« zeugt »pun«, und so fort; »want« zeugt »wont« zeugt »wend«; »letter« zeugt »ladder« zeugt »leader«, ad infinitum, und »rise« zeugt – konfus, babelisch – in einer Kontra-Fusion sein eigenes Gegenteil: »raze«. Die Sprache macht sich selbständig, erzeugt ihren eigenen Gegen-Sinn, sie untergräbt und zerstört sich. Der Babelturm erregender Sinn-zu-Schreibung, d.h. der Akt der Fassung des babble in »letters« – Buchstaben, Lettern, (Himmels-)Leitern und Briefe – zerstört (raze) sich selbst im Moment und im Zeichen seiner Errichtung (raise, rise).27 Neben diesem Monument der sprachlichen Selbstzerstörung und zugleich Selbsterzeugung im Moment der schriftlichen Kodifikation in den »nightles-
26 Vgl. Gen. 10 u. Gen. 11,10-32. 27 Laurent Milesi bringt die Selbstzerstörung des Babelturms im Moment der Festschreibung der Lettern in dem schönen pun zum Ausdruck: »Babel élevée (Babel raised) devient Babel en-levée (Babel razed).« (Laurent Milesi: »L’idiome babélien de Finnegans Wake: recherches thématiques dans une perspective génétique«, in: Claude Jacquet (Hg.), Génèse de Babel. Joyce et la création, Paris: Éditions du CNRS 1985, S. 155-216 , hier S. 182)
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sons« steht, gleichsam als Mahnzeichen, eine Marginalie: »Rockaby, babel, flatten a wall« (FW, 278, Herv. i.O.). Die Aufrichtung (erection) des Turmes wird in der Genesis nämlich mit seiner Zerschmetterung (raze), vielmehr: mit seiner Verflachung, seiner Einebnung (flatten) gerächt. Im menschlichen Gebrauch der Sprache und der Schrift – nämlich immer dann, wenn Menschen Buchstaben zu Papier bringen wollen (»when men want to write a letters«; FW, 278) –, verflacht die Sprache (»flatten a wall«; FW, 278), doch zugleich wehrt sie sich gegen die Verflachung, indem sie ihren Benutzer überlistet und sich als nicht konfus, sondern kontra-fusioniert erweist. Damit begehrt die Sprache selbst gegen die göttliche Strafe auf, indem sie, wie das Beispiel aus den »nightlessons« eindrucksvoll deutlich macht, sich unendlich von ihrem erregten Erzeuger und dessen hervorbringender Intention abnabelt, um weitere Laute und weiteren Sinn, »all the soundest sense […]«, aus sich selbst unendlich proliferiert hervorzubringen: »[…] to be found immense« (FW, 96). * Deshalb ist Sprechen Gottes- (oder Götzen-)Dienst. Finnegans Wake ist sich dessen bewusst: in Joyces Babel wird bei der Produktion von Lauten – also im Sprechen, im babble – stets zum Laut-Gott oder zum Gott namens Loud gebetet, und inständig gefleht, sobald gesprochen wird: »Loud, hear us! Loud, graciously hear us!« (FW, 258). Doch die immense, potentiell unendliche Lautfülle produziert, wie gezeigt wurde, in perpetuierten Kontra-Fusionen einen doppelten Sinn, der sich selbst zuwiderlaufen kann (raise/raze). Der Ur-Fall, nämlich der ohrenbetäubende Donner-Knall, besser: Donner-Laut, den der Donnergott Loud in Joyces vielbesprochener Babelversion über die Erde schallen lässt, führt nicht nur zur Verflachung (flatten) des Babelturms, sondern vielmehr zu einer Verwerfung, Konfusion und Kontra-Fusion der sprachlichen Elemente, aus denen er besteht: »For the Clearer of the Air from on high has spoken in tumbuldum tambaldam to his tembledim tombaldoom worrild and, moguphonoised by that phonemanon, the unhappitents of the earth have terrumbled from fimament unto fundament and from tweedledeedumms down to twiddledeedees. Loud, hear us! Loud, graciously hear us!« (FW, 258)
Das laute und lautliche, das phonematische »phonemanon« der Rede des Gottes Loud überantwortet im erneuten göttlichen Donner-Krach (noise; megaphon; »moguphonoised«) die Bewohner der Erde der Sorge (worry; »worrild«: die sorgenvolle Welt), dem Verhängnis (doom; »tombaldoom«) oder sogar dem Jüngs-
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ten Gericht (doom) – also der Angst vor der Gruft (tomb): die unhappitents leiden unter tombaldoom –, indem es sie als »unhappitents«, unglückliche (unhappy) inhabitants (Einwohner) der Erde zu erkennen gibt, die deshalb unglücklich sind, weil sie im Moment der donnernden Gottesrede zu Nomaden in ihrer eigenen Rede werden, die hier nur zeitweilig ihre Zelte (tents) aufschlagen. Die »unhappitents« der ERDE – es schwingt nach der Babel-Lebab-Logik mit: REDE – campieren als nomadische Sprach-Exilanten – wie die nomadischen Schemiten der biblischen »meandertale« (FW, 18) in immer fremden Ländern – in der Sprache, die sich ihnen im Moment der Rede immer wieder von Neuem entzieht. Jede Rede widerspricht sich im Moment ihres Aussprechens nach Babel; jede Rede ist nicht nur verwirrend, sondern sie ist Kontra-Fusion. Jede Rede ist, mit Hamachers Worten über die Rede des Laut-Gottes Loud, ein »›phone ma non‹, ein Phonem, aber keines, ein Laut, der verstummt oder noch im Verlauten stumm bleibt, eine Erscheinung [phainomenon, C.S.], die immediat erlischt«28. Die Rede des Gottes Loud – die Loud- oder Laut-Rede – ist mehr als reiner Krach (noise); vielmehr produziert sie im scheinbaren babble der Laute eine Art Über-Sinn, der aber ein jeweils gegenläufiger Gegen-Sinn sein kann oder gar muss, insofern sich Laut, Letter und Sinn miteinander im Krieg befinden. Der Vater (Bab), nämlich Gott (El), kann etwa gleichzeitig eine Frau sein, Mutter gar: Elle, wie Joyces kunstvolles Palindrom »manowoman« (FW, 396) an einem anderen Wort eindrücklich vor Augen führt. Eines fällt mit seinem Gegenteil mitunter in eins, widerspricht sich: Kontra-Fusion der Sprache in Finnegans Wake. * Die Wörter ein- und derselben Sprache (oder besser: derjenigen Sprache, die vermeintlich ein- und dieselbe ist) widerstreiten einander also. In Joyces Text – und überhaupt – aber zeigt sich der Widerstreit der Sprache vor allem in der Übersetzung. Joyces Finnegans Wake ist ein Text, den Sam Slote zutreffend als »the exemplary text of and for translation« beschreibt, und ferner, Derridas Überlegungen zum Sprach-Krieg aufgreifend und konturierend, bemerkt: »the
28 W. Hamacher: Kontraduktionen, S. 31. Hamacher liest außerdem das Adjektiv »moguphonoised« als Beschallung mit einer Mogul- oder Megaphonie, in der als mog-u das englische mock you ([to] mock = nachäffen, spotten), als moguph das französische mot gaffe (verbaler Ausrutscher, Fauxpas) und als mo-gupho das englische guffaw (schallendes Gelächter) mitklingt. Vgl. ebd., S. 30f.
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text that declares war with translation.«29 Dieser Übersetzungskrieg innerhalb des Joyce’schen Textes tobt und donnert mit aller Macht: Das Sprechen der Sprache, wie es Finnegans Wake exemplarisch darstellt, ist ein steter Übersetzungsprozess, in dem allerdings die Differenz zwischen Ausgangs- und Zielsprache bis zur Identität verschwimmt.30 Das hundertlettrige Donnerwort etwa, das Finnegans Wake eröffnet, ist aus mehr als einem Dutzend Wörtern verschiedener Sprachen für ›Donner‹ zusammengesetzt, von Hindi (karak; »-gharagh-«) über Griechisch (bronton; »-bronntonn-«) und Japanisch (kaminari; »-kamminarronn-«) bis Französisch (tonnerre; »tonnerronn«)31, aus deren Zusammenspiel sich ein neues Kunstwort ergibt, das scheinbar onomatopoetisch donnert. Hamachers Beschreibung der Zukofsky’schen Catull-Übertragung charakterisiert auch die Sprache von Finnegans Wake treffend: »Sie spricht in der eigenen Sprache eine Fremdsprache, und spricht die eigene Sprache als fremde. Mindestens zwei Sprachen werden in ihr kontrahiert […]: Sie ist Traduktion nur als Kon-Traduktion […].«32 Die Sprache babelisiert sich in Finnegans Wake jeweils im Moment ihres Gebrauchs:33 »The babbelers with their thangas vain have been (confusium hold them!) they were and went; […] and the duncledames have countered with the hellish fellows: Who ails tongue
29 Sam Slote: »No symbols where none intended: Derrida’s war at Finnegans Wake«, in: Laurent Milesi (Hg.), James Joyce and the Difference of Language, Cambridge u.a.: Cambridge UP 2003, S. 195-207, hier S. 196, Herv. i.O. 30 Vgl. dazu auch die Einleitung von Seamus Deane, der sehr richtig bemerkt: »The book is written in the English language and also against the English language; it converts itself into English and perverts itself from English.« (Seamus Deane: »Introduction«, in: James Joyce, Finnegans Wake, S. vii-xlix, hier S. viii) 31 Das Donnerwort ist genauer aufgeschlüsselt in L. Milesi: L’idiome babélien, S. 185. Milesi weist auch auf eine weitere Allusion an Vico hin, in dessen Scienza Nuova der Donner der Götter von den Menschen als »pa – pape – papapa!« nachgeahmt wird (Finnegans Wake ahmt diese Nachahmung bei Vico nach; vgl. FW, 332: »Pappappappa!«) und somit die Sprache entstehen lässt. Vgl. genauer ebd., S. 183185. 32 W. Hamacher: Kontraduktionen, S. 23. 33 Von einer »babélisation de la langue« spricht Laurent Milesi. Vgl. L. Milesi: L’idiome babélien, bes. S. 176-187. Allerdings versteht Milesi unter »babélisation« die Vielsprachigkeit des auf der englischen Sprache nur lose basierenden Kunsttextes – er identifiziert Elemente aus über 40 Einzelsprachen in Finnegans Wake – und nicht, wie ich, die Tatsache, dass die Sprache sich im Moment des Sprechens selbst verwirrt.
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coddeau, aspace of dumbillsilly? And the fell upong one another: and themselves they have fallen.« (FW, 15)
Die Joyce’sche Strategie der Kontraduktion wird hier deutlich: »Who ails tongue coddeau, aspace of dumbillsilly?«, fragt die vermeintlich englische Sprache, ignorierend, dass eine Sprache zugleich die andere, in diesem Fall die französische (aber auch die deutsche), ist und sich also von sich selbst unterscheidet. Die Sprache übersetzt sich selbst: Où est ton cadeau, espèce d’imbécile?, so lautet die Frage eigentlich, und so ähnlich lautet sie auch und lautet doch nicht so; in »dumbillsilly« klingt nicht nur das englische dumb und silly, sondern auch das deutsche dumm für imbécile mit. Zwar sprechen diese »babbelers«, doch ihre Sprachen (tongues) sind leer und nichtig (»their thangas vain«): ›Sinn‹ eignet der Sprache nur insofern, dass sie ständig, immer wieder neu und stets flüchtig, im Ver-Lauten-Lassen der Sprache nomadische Sinnfragmente generiert, die aber nie auf ein Sprachelement allein applizierbar sind. Somit wird Sinn im Moment des Sprechens gleichzeitig destruiert und konstruiert. Sprache – welche Einzelsprache auch immer – ist, wie Joyces Wake geradezu penetrant wieder und wieder vorführt, nie etwas anderes als Fremd-Sprache, seit dem ersten, dem donnernden Ur-Fall: »since primal made alter in garden of idem« (FW, 263). Die unendliche Wiederholung dieses Falls geschieht in jeder jeweils neuen Sprachverwendung. Jeder Sprecher bringt sich stets wieder zu Fall, sobald er als »babbeler« spricht: »and themselves they have fallen« (Herv. C.S.). Der Fall der Sprache im Sprechen ist kein Einzelfall: es ist vielmehr der stetige Einfall der Fremdheit und der Alterität in die ursprüngliche Einheit: »the sibspeeches of all mankind have foliated (earth seizing them!) from the root of some funner’s stotter all the soundest sense to be found immense« (FW, 96). Alle Unterarten (subspecies) der Sprache sind verwandte Sprachen (sib speeches), doch sie sind sich eben darin verwandt, dass sie – auch einander – wesenhaft fremd sind, selbst wenn sie sich gleichen. Ja, gerade in ihrem Einander-Gleichen widerstehen die Sprachen einander: etwa im von Joyces Text insinuierten ›Gleichen‹ von Babel und Lebab, in dem Sprache und Widersprache, Babel und Gegen-Babel zumindest als Frage zusammenkommen: »And shall not Babel be with Lebab?« (FW, 258).34 In der Sprache – in jeder Sprache nach Babel – liegt ein Wider-
34 Die Frage »And shall not Babel be with Lebab?« in Finnegans Wake greift ein Thema aus dem Circe-Kapitel in Ulysses wieder auf. Hier aber steht der Widerspruch nicht in Frage: »Jewgreek is greekjew. Extremes meet. […] Bah!« (James Joyce: Ulysses. The 1922 Text, Oxford u.a.: Oxford UP 1998, hier S. 474) Jewgreek und greekjew fallen in eins, widersprüchliche Extrema (»death is the highest form of life«; ebd.) kreuzen
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stand, ein Selbst-Widerspruch. Sprache widerspricht sich; die Rede ist ihre eigene Widerrede: das ist Babel. Die Frage »And shall not Babel be with Lebab?« dreht den Babelturm in der Tat um, wie Derrida sagt35, doch nicht etwa, indem sie zurückkehrte zu einer sprachlichen Einheitsutopie, wie die Schemiten der Bibel sie im Bau des Babelturmes zu einem konkret lokalisierbaren Ort machen wollen, sondern vielmehr, indem sich Babel zugleich als Gegen-Babel (»Lebab«) erweist und sich somit nicht nur von sich selbst entfremdet, sondern sich gar selbst widerspricht. * Jede Übersetzung verschiedener Sprachen ineinander intensiviert die fundamentale Fremdheit, ja, den Selbst-Widerspruch der Sprache. Dabei stellt sie – und es stellt sich – diese Fremdheit – die Fremdheit der und zur ›eigenen‹ Sprache im Übersetzen ebenso wie die Fremdheit der fremden Sprache, die übersetzt wird – nicht nur aus, sondern gar her, und vor allem stellt sie sich und sie dar. Dies hat Paul de Man in seiner Lektüre des Übersetzer-Aufsatzes von Walter Benjamin eindrucksvoll herausgestellt.36 Der Übersetzungsprozess offenbart, wie de Man nachweist, in erster Linie die Entfremdung von und das Leiden an der eigenen Sprache, die sich als fremd erweist. Im Übersetzen der immer schon fremden ›eigenen‹ Sprache, die sich im Übersetzen erst als fremde artikuliert, entfremdet der Übersetzer sich selbst ›seiner‹ Sprache. Somit ist Übersetzen eine passionierte und passionierende Aufgabe, in der Kontra-Fusion des lateinischen passio als Leiden und Leidenschaft verstanden. Das Übersetzen ist demnach nicht nur eine Passions-Erfahrung, sondern auch eine pathetische Erfahrung, eine Erfahrung des Leidens: die ›eigene‹ Sprache leidet, dass sie fremd wird, und an dieser Entfremdung leidet der Übersetzer.37 Auch die nur vermeintlich versöhnende Auf-
einander, das eine widerspricht dem anderen und damit widerspricht sich die Sprache – nach Babel (oder Lebab) – selbst: Bah-bel! 35 Vgl. J. Derrida: Deux mots pour Joyce, S. 38. Der Umsturz (le renversement) stellt, wie Derrida weiter ausführt, den Sinn der Lettern (lettre) und des Seins (l’être, [to] be: baBEl) sowie die Lettern des Seins (les lettres de l’être) demnach auf den Kopf. 36 Vgl. Paul de Man: »Conclusions: Walter Benjamin’s ›The Task of the Translator‹«, in: Ders., The Resistance to Theory, hg. v. Wlad Godzich, Minneapolis: Minnesota UP 1986, S. 73-105, hier S. 84f. 37 De Man schreibt: »What the translation reveals is that this alienation is strongest in our relation to our own original language, that the original language within which we
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gabe – sie zielt, so heißt es bei Walter Benjamin, auf die Restitution der vielen Sprachen zur »Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen«38 – ist keine harmonische Auflösung der Fremdheit oder des Widerspruchs, der in den Wörtern der eigenen Sprache liegt. Vielmehr bleibt, so heißt es bei Benjamin weiter, »eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit […] den Menschen versagt«39. Es handelt sich bei der Sprach-Ergänzung, die Benjamins Übersetzer-Aufsatz vorstellt – darauf hat Carol Jacobs eindringlich hingewiesen40 –, um eine Ergänzung von Bruchstücken zu Bruchstücken, um sie wiederum als »Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen«41. Der Übersetzer zerschlägt die Illusion einer Sprache der Einheit, indem er Bruchstücke wiederum als zerstückelt erkennbar macht: er zerschlägt seine eigene Sprache. Der Übersetzer führt also die babelische Kontra-Fusion der Sprachen nicht nur herbei, sondern er führt sie in jedem Übersetzungsvorgang wieder neu aus. Er weist stets auf die Widerrede der Sprache zu sich selbst hin und widerspricht sich (und ihr) im Moment der Übersetzung notwendig selbst, da und indem er übersetzt. Die Übersetzung zerbricht die Sprache im Übersetzungsprozess, sie macht den Übersetzer in ›seiner‹ Sprache zu einem Heimatlosen, zum Nomaden, zum Exilanten und Durchreisenden42, und dies exemplifiziert vor allem der wesenhaft übersetzungsresistente oder gar übersetzungsfeindliche Joyce’sche Text, dessen wesentliches Charakteristikum Sam Slote völlig zutreffend als »Wakean peregrinism«43 bezeichnet. Die Babel-Erzählung in James Joyces Finnegans Wake ist demnach als Allegorie des Übersetzungsprozesses zu lesen. Im Übersetzungsakt kann, wie aus der Babel-Erzählung der Bibel im Geben des Namens Babel bereits deutlich ersichtlich war, ein Wort oder ein Name zugleich sich selbst und sein Gegenteil bedeu-
are engaged is disarticulated in a way which imposes upon us a particular alienation, a particular suffering.« (P. de Man: Conclusions, S. 84.) 38 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: GS IV.1, S. 9-21, hier S. 13. 39 W. Benjamin: Aufgabe des Übersetzers, S. 14. 40 Vgl. Carol Jacobs: »The Monstrosity of Translation«, in: Modern Language Notes 90 (1975), S. 755-766, hier bes. S. 762. 41 W. Benjamin: Aufgabe des Übersetzers, S. 18. 42 Denn jede Sprache, nicht nur die von Finnegans Wake, ist immer schon in sich vielsprachig. Vgl. zur Vielsprachigkeit der Sprache, auch der Einzelsprache, Bettine Menke: » …beim babylonischen Turmbau«, in: Hansjörg Bay/Christof Hamann (Hg.), Odradeks Lachen: Fremdheit bei Kafka, Freiburg: Rombach 2006, S. 89-114, hier S. 106; sowie W. Hamacher: Kontraduktionen, S. 24. 43 Vgl. S. Slote: No symbols, S. 195.
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ten. Eine Kontraduktion wird sich also als ihre eigene Kontra-Traduktion erweisen müssen. Übersetzen ist Krieg:44 nicht nur Polemik der Sprache, sondern auch Polemik gegen die Sprache innerhalb ihrer selbst. Diese Polemik, der SprachKrieg, wird in Finnegans Wake – mehr oder weniger publikumswirksam – inszeniert: Vorhang auf, donnernde Kontraduktion: »Byfall. Upploud!« (FW, 257) – Beifall, Applaus!, hier kommt das kriegerische Babel-Spiel der Sprache: »Kidoosh! Of their fear they broke, they ate wind, they fled; where they ate there they fled; of their fear they fled, they broke away. Go to, let us extol Azrael with our harks, by our brews, on our jambses, in his gaits. […] And let Nek Nekulon extol Mak Makal and let him say unto him: Immi ammi Semmi. And shall not Babel be with Lebab? And he war. And he shall open his mouth and answer: I hear, O Ismael, how they laud is only as my loud is one.« (FW, 258)
Der Ruf, der gewaltsame erste Anruf oder Kriegsschrei, der die Konfusion der Sprachen, ihr Zerbrechen und ihren Zerfall aufruft und einberuft, lautet: »Kidoosh!« – es ist der Lärm, der Laut (»Upp-loud!«), der Zersplitterung und Kontrafusion hervorbringt. Kiddusch ist aber auch das Heiligungs- und Segensgebet, das am Schabbat-Vorabend über dem Wein und über den Schabbatbroten gesprochen wird. Hier allerdings, im wakeanischen Babel, wird nicht Brot miteinander gebrochen, sondern Angst (»of their fear they broke«); es wird kein Schabbatbrot verzehrt, sondern Wind (»they ate wind«): von Luft aber wird niemand satt, und – »Kidoosh!« – so verstreut sich das Volk in alle Winde, der figurativen Bedeutung von (to) eat the wind gemäß, nach der ›Wind essen‹ nichts anderes bedeutet als ›spazieren gehen‹, ›Luft schnappen‹. Das namenlose Volk (»they«) aber spaziert hier nicht herum, sondern es flieht (»they fled«), ergeht sich nicht in fröhlichen Zerstreuungen, sondern verfällt in Panik. Eine frohe, gemeinschaftsbildende und identitätsstiftende Handlung – das gemeinsame Essen der jüdischen Gemeinde am Schabbat-Vorabend wird ebenfalls als Kiddusch bezeichnet – verkehrt sich in ihr Gegenteil, nämlich in Furcht und Flucht (»of their fear they fled«), in Zersplitterung und Zerbruch der Gemeinschaft (»they broke away«): das ist die Folge des Sprachkriegs.
44 Zum Sprach-Krieg in Finnegans Wake vgl. Derrida: »Déclarer est un acte de guerre, il déclara la guerre en langues, et à la langue et par la langue, ce qui donna les langues […].« (J. Derrida: Deux mots pour Joyce, S. 17, Herv. i.O.) Vgl. dazu auch Sam Slotes Kriegserklärung an Derridas polemische Lesart in S. Slote: No symbols, bes. S. 195f.
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Die Verzweiflung des Zerbruchs ruft den Wunsch nach Fixierung und Kontinuität hervor. Während das biblische Volk aus dem Osten ein physisches Zeichen der Kontinuität zu errichten trachtet – »Go to, let us build us a city and a tower, whose top may reach unto heaven; and let us make us a name, lest we be scattered abroad upon the face of the whole earth«, so sagen sie in der King James Version zueinander (Gen. 11,4) –, persiflieren die Joyce’schen Schemiten die biblischen Erbauer des Babelturms: »Go to, let us extol Azrael with our harks, by our brews, on our jambses, in his gaits. […] Go to, let us extell Makal, yea, let us exceedingly extell.« (FW, 258)45 In einer babelisch-wakeanischen babble-Genealogie (er-)zeugt extol (erheben) in direkter Linie extell (ent-sprechen): eine Verschiebung von der Errichtung und Erhöhung (extol) – die auch die Hybris des biblischen Babelunternehmens motivisch bestimmt: »bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, und sein Haupt bis in den Himmel!« (Gen. 11,4) – zum Sprach-Verlust (ex-tell), zum Fall, zur Verflachung (»Rockaby, babel, flatten a wall!«). Die Erhöhung, sobald sie sich als »extol« ausspricht, trägt ihre Strafe – die Sprachlosigkeit, das Ent-Sprechen (»extell«) – bereits mit und in sich. Das Babel-Unternehmen selbst ist eine Kontra-Fusion. Die sich selbst zersetzende, sich ent-sprechende Sprache ist also kein Residuum für fixierbaren, kontinuierlichen Sinn. Möglicherweise – mit dieser Möglichkeit spielt Joyces Text von Beginn an – ist die Stabilisierung in der Schrift zu haben: wo Sprache nichts als Wind ist (»wind«), nichts als Hauch, als vergänglicher und vergehender Laut (»Loud«), schreibt die Schrift sie, scheinbar zumindest, fest. Doch bereits direkt nach dem Fall heißt es: »But the world, mind, is,
45 Für eine ausführliche Deutung dieser Stelle verweise ich auf die kenntnisreiche Analyse in S. Slote: No symbols, S. 202f. Als das Thema des zitierten Fragments stellt Slote den Dualismus von Tod und Leben heraus: Azrael ist der Todesengel im Islam und Judentum; tefilim (»Dephilim« – hier klingt aber, wie Slote überliest, auch der Teufel, devil, mit) und mezuzot (»Mezouzalem« – gleichzeitig verweist dies Wort aber auch auf das lange Leben des Methusalem) hingegen enthalten jeweils Schriftrollen, die die Torah lebendig erhalten – also vor Azrael bewahren – sollen. Das Fortbestehen des Lebens wird auch von dem – in meinem Zitat ausgelassenen – Vers »didits dinkuns dud?« angedeutet, der das titelgebende irische Volkslied »Finnegan’s Wake« zitiert: »did ye think me dead?« »By our brews, on our jambses, in his gaits« liest Slote zunächst als »beer from Guiness’s brewery at James’s Gate« (ebd., S. 202), korrigiert aber »brews« später zu »Hebrews«, wobei He durch ›our‹ ersetzt wird, und so our bruise (unsere Wunde) hören lässt, die Slote – hier bin ich nicht von seiner Deutung überzeugt – als »pluralization of the first-person pronoun when he war« identifiziert (ebd.).
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was and will be writing its own wrunes for ever, man, on all matters that fall under the ban of our infrarational senses …« (FW, 19f.) Die Welt löst ihr eigenes runenhaftes Schreiben vom Menschen ab und schreibt Text – selbst eine Metapher – auf allen Stoff (Übersetzung der Metapher), der unter die Sperre, das Verbot, den Bann der Sinne fällt, die der ratio unterlegen und also infrarational sind. Die Welt schreibt sich selbst, und sie tut dies mit einem besonderen Alphabet: »what curios of signs […] in this allaphbed! Can you rede […] its world?« (FW, 18) Die Welten-Schrift ist eine Schrift, gezeugt auf dem »allaphbed« – das ist nicht nur Alephs Bett, sondern auch das Bett der Fremden, das ›andere‹, hurerische, babelisch-babylonische: das Allo-Bett46 –, die nicht aus Wörtern (words), sondern aus Welten (worlds) besteht. Und so sind die Buchstaben dieses Alphabets allumfassend, »an allforabit« (FW, 19) – all for a bit. Diese Schrift, die nicht aus words, sondern aus worlds besteht, zu lesen, ist der nach-babelische Wunsch: »that thy children may read in the book of the opening of the mind to light and err not in the darkness which is the afterthought of thy nomatter […].« (FW, 258) Der Allmaterie der Welt (»all matters«) steht das »nomatter« nach Babel gegenüber: der stofflose Text (Stoff) der Sprache ist als nomatter essentiell nomadisch, er ist nur ungeschrieben im Text-Stoff auffindbar und wechselt seinen Ort stets, und er scheint darum vernachlässigbar: doesn’t matter. Doch gerade der Text, der unbedingt und unter allen Umständen – no matter what – etwas enthält, das er selbst nicht sagt, weil ihm ein anderer, stofflos-nomadischer Text als »nomatter« eingeschrieben ist, ist ein Text, der übersetzbar ist. Nomatter wäre demnach der Name der Übersetzung, die nichts anderes als eine sprachlose Unsprache ist, eine Sprache zwischen den Sprachen, die es aber nicht gibt, oder – präziser – die es nur als stofflose gibt, als nomatter. Ein Element ist der hebräischen Sprache als paradigmatisches nomatter eingeschrieben: der unaussprechliche Name Gottes, JHWH.47 Dass das nomatter als
46 Das Bett und das Buch scheinen einander, zumindest im irischen Gälisch, verwandt zu sein: so weist Derrida – unter Berufung auf Philippe Lavergne – auf die Ähnlichkeit von leaba (das Bett) und leabhar (das Buch) hin (vgl. J. Derrida: Deux mots pour Joyce, S. 38). 47 Der unaussprechliche Name erweist sich als dem heiligen Text der hebräischen Bibel buchstäblich virtuell und deshalb unlesbar eingeschrieben: zwar existieren im Text der hebräischen Schrift seine Konsonanten ʤʥʤʩ (JHWH), doch ihre Aussprache ist unlesbar, da ihr die Vokale fehlen. So werden in der hebräischen Bibel die Konsonanten des unaussprechlichen Namens Gottes, der masoretischen Tradition folgend, nach dem Verfahren des sog. qere perpetuum vokalisiert; das Tetragrammaton yod-hewaw-he (JHWH) wird stets mit den Vokalzeichen anderer Wörter, nämlich ‘adonaj
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un nom à terre auch bei Joyce einen, oder den, oder gar den Einen Namen enthält, insinuiert bereits Hamacher.48 Dieser Name spricht sich aus in dem Text, der vom Namen spricht: »Immi ammi Semmi« (FW, 258) lässt mithören und mitlesen: I am Shem – Ich bin der Name.49 Da der hebräische Name Ha-Schem (dt. »der Name«) – also der Name Name – einer der Namen für den unaussprechlichen Gottes-Namen JHWH ist – der ein exemplarisches nomatter darstellt –, erweist sich der stammelnd, nur im kindlichen babble sich aussprechende Name (»Immi ammi Semmi«) als Name desjenigen Einen Namens, der in der jüdischen Tradition als der Inbegriff der unmittelbaren Einheit gilt.50 Das jüdische Credo, das ʲʔʮˇʍ (Schema), wiederholt diese Einheit täglich im rituellen Gebet: ʤʕʥʤʍʩ ʣʕʧʠʓ ʲʔʮˇʍ ʬʒʠʸʕ ˈʑ ʍ ʩ ʤʕʥʤʍʩ ˒ʰʩʒʤʖʬʎʠ (Dtn. 6,4; schema jisra’el JHWH elohejnu JHWH ächad); »Höre, Israel: JHWH ist unser Gott, JHWH ist Einer!« (Übers. C.S.); »Hear, O Israel: The LORD our God, The LORD is one!« (English Standard Version) Eine Variation dieses Bekenntnisses spricht sich in Finnegans Wake aus: »I hear, O Ismael, how they laud is only as my loud is one.« (FW, 258)51 Das Gottes-Lob der Schemiten (»they laud«) ist einzig, doch auch Gott – der sich bei Joyce beileibe nicht als einiger Gott erweist, sondern als ein solcher des Krieges, der Divi-
(»mein Herr«) oder in bestimmten Fällen ‘elohim (»Gott, Götter«), versehen. Vgl. zur Schreibung und Aussprache von JHWH nach qere perpetuum auch Wolfgang Schneider: Grammatik des biblischen Hebräisch, 3.Aufl., München: Claudius 2007, S. 7f. 48 Vgl. W. Hamacher: Kontraduktionen, S. 32. 49 Auch S. Slote: No symbols, S. 202, weist darauf hin, setzt in seiner Deutung allerdings einen anderen Schwerpunkt als ich in meiner Lektüre. Darüber hinaus handelt es sich bei »Immi ammi Semmi« außerdem um eine Aneinanderreihung dreier hebräischer Wörter mit jeweiligem Genitiv-Suffix in der 1. Ps. Sg., die sich in etwa als »meine Mutter – mein Volk – mein Name« übersetzen ließen. Der deutsche JoyceÜbersetzer Stündel hat dies zutreffend identifiziert und übersetzt auch dementsprechend korrekt: »Meimutter Meilandvolk Meiname« (D.H. Stündel: Finnegans Wehg, S. 258). Mir kommt es in meiner Analyse aber nicht auf dasjenige an, was im Text gesagt wird, sondern auf sein stummes, Wort-loses nomatter: das, was im Text nicht gesagt wird, weil es keine Materialität hat und also nicht zur Sprache kommen kann. Deshalb werde ich diese – durchaus korrekte – Bedeutung von »Immi ammi Semmi« vernachlässigen. 50 Der Gedanke der absoluten Einheit Gottes leitet sich aus seiner Selbstbezeichnung in Ex. 3,14 ab: ʤʓʩʤʍ ʠʓ ʸʹʏ ʓ ʠ ʤʓʩʤʍ ʠʓ (ayeh-ascher-ayeh; Ex. 3,14), »ego sum qui sum« (Vulgata), »ICH WERDE SEIN DER ICH SEIN WERDE« (Luther). 51 Zur Unterscheidung von Ismael, Israel und Ishmael und ihrer jeweiligen SchibbolethFunktion vgl. S. Slote: No symbols, S. 203f.
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sion und der Uneinigkeit: nämlich als »he war« (FW, 258)52 – ist one: doch er ist nicht mehr als ein »one loud«, ein Laut. Der LORD, der hier aus dem Text gekürzt wurde und der, immateriell, nur noch als dessen nomatter mit-klingt, ist ein Laut: Monophon. Dieses Monophon stellt sich aber als unaussprechlich dar: der Name JHWH hat als nomatter keine materiale Lautgestalt. Er kann nicht gesprochen werden; er ist stumm. Der Name – selbst der Eine Name – enthält als Wortloses nomatter vor allem eines: das Verstummen vor seiner Unaussprechlichkeit.53 Der Loud nimmt sich selbst zurück: er wird Stille, Stummheit, Lautlosigkeit. Das ist Babel: dass die Sprache niemals etwas anderes ist als ihre eigene Gegen-Sprache, die Rede nie etwas andres als ihre Gegen-Rede, der Ausspruch nie etwas anderes als sein Selbstwiderspruch: Kon(tra)fusion der Sprache in Joyces Finnegans Wake.
52 Vgl. dazu J. Derrida: Deux mots pour Joyce, bes. S. 39f. 53 Wenn der Akt der Namensgebung gleichzeitig wesentlich ein Übersetzungsakt ist, wie Walter Benjamin postuliert (vgl. W. Benjamin: Über Sprache, S. 150f.), so stellt sich das Übersetzen selbst als gewalttätig, polemisch, kriegerisch – aber vor allem kriegerisch gegen sich selbst – heraus. Dementsprechend deutet Paul de Man in seiner Lektüre des Benjamin’schen Übersetzer-Aufsatzes den Übersetzungsvorgang nicht zu Unrecht als Bedrohung und Gefahr (»threatening danger«) (P. de Man: Conclusions, S. 84). Dieses wesentlich Destruktive lässt auch Benjamins Übersetzer-Aufsatz erahnen, wenn er von der »ungeheuren und ursprünglichen Gefahr aller Übersetzung« spricht, die in nichts anderem als ihrer eigenen Selbstauslöschung besteht: es ist die Gefahr, dass »die Tore einer so erweiterten und durchwalteten Sprache zufallen und den Übersetzer ins Schweigen schließen.« (W. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 21)
»Heilige Gespräche« Die performative Funktion Gottes in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften R EBEKKA S CHNELL
»Mystique sans Dieu! … Lumineux non-sens! … […] Un mystique sans Dieu, Madame, mais il n’est point de mouvement concevable qui n’ait sa direction et son sens, et qui n’aille enfin quelque part! … Mystique sans Dieu! … Pourquoi pas un Hippogriffe, un Centaure!« P. VALÉRY, MONSIEUR TESTE
»Dieses Buch ist religiös unter den Voraussetzungen der Ungläubigen.«1 – so lautet das Urteil Robert Musils über sein Lebenswerk Der Mann ohne Eigenschaften. Tatsächlich exemplifiziert der Roman mit ironischer Präzision die Kontingenz aller Überzeugungen und Ideale, seien sie politischer, moralischer oder metaphysischer Natur. So folgt die gesamte Romanwirklichkeit dem »Prinzip des unzureichenden Grundes« (MoE, S. 134), einer Parodie des Leibniz’schen Satzes, nichts geschehe ohne »zureichenden Grund«2. Selbst Gott
1
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1645 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle MoE).
2
In seiner Theodizee charakterisiert Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes als dasjenige, »nach welchem niemals etwas ohne eine Ursache, oder einen bestimmenden Grund geschieht; das ist, ohne etwas, dadurch man a priori Grund geben kann, warum diese Sache vielmehr da ist, als nicht da ist? warum sie so, und nicht vielmehr
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spricht, so der Protagonist Ulrich, »von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis […], denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein […]« (MoE, S. 19). Wenn der Gott der Genesis über seine Schöpfung befindet – »und siehe da, es war sehr gut« (Gen. 1, 31) –, so drängt sich die Vermutung auf, dass es eben auch nicht gut, anders oder gar völlig fehl hätte laufen können. Ein solcher Möglichkeitsgott kann den gesuchten Grund, jenes »fehlende Stück, das den zerbrochenen Kreis schließt« (MoE, S. 155) gerade nicht verbürgen. Er ist nicht nur »die große Unbekannte in einer Gleichung, die es noch zu lösen gilt«3, sondern zugleich deren irreduzibler Rest. Die Gleichung, die im Mann ohne Eigenschaften immer aufs Neue aufgemacht wird und nie aufgeht, ist die vom »Lösen und Binden der Welt« (MoE, S. 153), der endlosen Operation von Analyse und Synthese, von Zerlegung und Neuordnung des Bestehenden.4 Gott fungiert dabei einerseits als Platzhalter oder Variable, die permanent auftaucht und deren Wert sich dennoch nie bemessen bzw. entziffern lässt; andererseits ist er dem Text selbst als semiotische Differenz eingeschrieben, die jeder Eindeutigkeit, jeder Lösung der Gleichung entgegenwirkt. Übertragen auf den Text bedeutet dies: Gott ist als Zeichen, Wort sowie/bzw. Leerstelle anwesend und hinterlässt seine Spuren im Text – Sprachspuren, die ihre ganz eigene Performanz entfalten.5 Er erweist sich nicht nur als neuralgischer
ganz anders ist? Dieser große Grundsatz findet in allen Dingen statt, und man wird niemals ein Exempel dagegen anführen können.« (Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee, hg. u. übers. v. Artur Buchenau, §44, S. 124f. 3
Elisabeth Albertsen: Ratio und »Mystik« im Werk Robert Musils, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1968, S. 40.
4
In seinem Essay Analyse und Synthese von 1913 bekräftigt Musil die Analyse als Voraussetzung jeder geistigen und dichterischen Tätigkeit – Synthese kommt nicht ohne Analyse, Gefühl nicht ohne Intellekt, Einheit nicht ohne Differenz aus. So warnt er denn auch vor dem unreflektierten Wunsch nach religiöser oder mystischer Ganzheit: »Man sei gegen nichts so misstrauisch wie gegen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach homerischer oder nach religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit.« Robert Musil: Analyse und Synthese, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1009 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle GW II).
5
Ich beziehe mich hier auf Derridas Begriff der Spur, in dem sich zugleich das Aufscheinen und das Verlöschen, die Ent- und Verbergung eines ›ganz Anderen‹ bekundet. Den Verlust der göttlichen Schrift, deren ursprünglicher Sinn nur vorläufig und unvollständig zu rekonstruieren ist, deutet Derrida in L’écriture et la différence als
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Punkt, um den die Suche der Geschwister Ulrich und Agathe nach dem »anderen Zustand« unermüdlich kreist, sondern er hat zudem eine performative Funktion für die Poetik des Romans selbst: Als blinder Fleck im semiotischen System generiert er eine Kette von Signifikanten, aus der nicht nur »Heilige Gespräche« (MoE, S. 746), sondern in letzter Konsequenz ein unendlicher Text hervorgehen.6 Die Gottesfrage spielt im gesamten Roman eine prononcierte Rolle, allerdings gewinnt sie in den einzelnen Teilen einen spezifischen Akzent. Sie ist untrennbar verknüpft mit der Thematisierung des Heiligen in seinen verschiedenen Facetten – ob als Beschreibung (pseudo)mystischer Zustände oder als reflexive Auseinandersetzung mit dem Erbe der Mystiker. So begegnen uns im ersten Buch vor allem verzerrte, uneigentliche Formen des Heiligen, etwa in der Verknüpfung von Wahnsinn und religiöser Erfahrung in der Figur Clarissens, aber auch in der (ironischen) Inszenierung der Lebenskrise Ulrichs als religiöse Suche, Irrfahrt und Bekehrung. Im zweiten Buch steht dann, im Rahmen der Wiedervereinigung der Geschwister, die Auseinandersetzung mit dem »heiligen Weg« (MoE, S. 751) und der Möglichkeit mystischen Erlebens in der Moderne im Vordergrund. Bevor wir uns also Gott und seiner poetologischen Funktion nähern, erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über die religiöse Thematik im Roman, und zwar 1.) »Zum Begriff des Heiligen« im ersten Buch, sowie 2.) zur »Phänomenologischen Mystik« im zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften. Dabei möchte ich zeigen, dass Musils Erforschung jenes »heiligen Weges« nicht in einer »gottlosen Mystik« aufgeht. Vielmehr soll 3.) im letzten Teil zur »Performativen Funktion Gottes« deutlich werden, inwieweit Gott, malgré tout, eine Schlüsselfunktion im Roman innehat.
Geburt der modernen Ästhetik und Kritik: »Cette certitude perdue, cette absence de l’écriture divine […] ne définit pas seulement et vaguement quelque chose comme la ›modernité‹. En tant qu’absence et hantise du signe divin, elle commande toute l’esthétique et la critique modernes.« Jacques Derrida: L’écriture et la différence, Paris: Éditions du Seuil 1967, S. 21. 6
Vgl. in dieser Hinsicht Martina Wagner-Egelhaaf: »Der ›andere Zustand‹ im ›Mann ohne Eigenschaften‹ ist die Erfahrung der Unmöglichkeit einer unio mystica in der Moderne; und diese Erfahrung bringt immerhin einen unendlichen Text hervor.« Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1989, S. 135.
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1. Zum Begriff des Heiligen Bereits im etymologischen Ursprung des Wortes ›heilig‹ zeichnet sich die Paradoxie des Heiligen ab: So bedeutet das lateinische Wort sacer ›rein‹ und ›unrein‹, ›erhaben‹ und ›verflucht‹, ›geweiht‹ und ›befleckt‹ zugleich.7 Diese Ambivalenzen und Vielgestaltigkeiten kennzeichnen auch das Heilige in Musils Mann ohne Eigenschaften: es begegnet in eigentlicher wie in verzerrter oder pervertierter Gestalt, in der Liebeserfahrung ebenso wie in körperlichen Ekstasen, Wahnsinn und Gewalt, und überlagert sich immer wieder mit dem Profanen. Dabei verwendet Musil die Begriffe des ›Heiligen‹ und ›Mystischen‹ nicht trennscharf. Allerdings charakterisiert das Mystische bei Musil eine unmittelbare Zuständlichkeit jenseits aller sprachlichen Artikulation; also das, was Ulrich als »das nackte, aller überkommenen begrifflichen Glaubenshüllen entschälte, von den alten religiösen Vorstellungen losgelöste, vielleicht kaum noch ausschließlich religiös zu nennende Grunderlebnis des mystischen Erfaßtwerdens« (MoE, S. 552, Herv. R.S.) bezeichnet. Während das Mystische als dasjenige erscheint, was sich schlechterdings zeigt, was also immer außerhalb der Sprache liegt8, ist das Heilige durchaus sprachlich-diskursiver Natur, wie sich bereits im Titel des Kapitels »Heilige Gespräche« andeutet: Es zeigt sich als Denkbild9, Reflexion und Deutung des mystischen Zustands. Der Begriff des ›Heiligen‹ scheint im ersten Buch auf ironische Weise auf, er verweist auf einen ursprünglichen Zustand der Ganzheit, der jedoch nur noch in marginalisierten, verschobenen oder verdrängten Formen begegnet. Über seine Spuren in der Gegenwart heißt es im Roman:
7
Vgl. Theo Lipowatz: »Das Heilige und das Geweihte«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/M.: Athenäum 1987, S. 507-516, hier S. 509.
8
Die Erscheinung des Sinns als Selbstoffenbarung, Sich-Zeigen in der mystischen Ekstase beschreibt Musil in seinem Tagebuch wie folgt: »Was erscheint, hat Sinn[.] Jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint.« Robert Musil: Tagebücher, Heft 21: 19201926, Bd. I, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 617.
9
Der Begriff geht auf Benjamin zurück und bezeichnet bei ihm eine »äußerste sprachliche Verdichtung […], durch die bestimmte Zustände, Beobachtungen, Erfahrungen oder Gedankengänge gleichsam ins Bild gebannt werden.« Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 268.
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»Man könnte ja versucht sein, in diesem schattenhaften Doppelgänger einer andren Welt nur einen Tagtraum zu sehn, wenn er nicht seine noch warmen Spuren in unzähligen Einzelheiten unseres Lebens hinterlassen hätte. Religion, Kunst, Liebe, Moral […], das sind Versuche, diesem andren Geist zu folgen, die mit ungeheurer Mächtigkeit in unser Leben hineinragen, aber ihren Sinn und Ursprung verloren haben und dadurch völlig verworren und korrupt geworden sind.« (MoE, S. 1664)10
Jene ›andere Welt‹ fristet demnach eine paradoxe Fortexistenz innerhalb der ›normalen‹ Wirklichkeit, ihr Einfluss ist einerseits von »ungeheurer Mächtigkeit« (MoE, S. 1664), andererseits haben sich die Formen, in denen sie sich manifestiert, derart weit von ihrem Ursprung entfernt, dass ihr Wesen teils bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Obgleich die Religion als genuiner Bereich der »andren Welt« (ebd.) hier nicht zufällig an erster Stelle steht, darf ihre Spur nicht primär im traditionell Religiösen gesucht werden. So prägt Musil in seinem Essay Der deutsche Mensch als Symptom den Begriff der »Profane[n] Religiosität« (GW II, S. 1398), mit dem er ein Element »im profanen Leben [bezeichnet], das im wichtigsten Sinne religiös« ist und auch ohne die Religionen bestehen kann (ebd., S. 1360). Mit dem Niedergang der Religion ist das Heilige in unterschiedliche Bereiche des profanen Lebens abgewandert. Als »irrationaler Rest« (MoE, S. 1874) fristet es eine Randexistenz in den Privatekstasen und -mythologien des Alltags, sei es als »religiöser Wahn oder Liebeswahn« (MoE, S. 767) oder als bloße Unterbrechung und »Urlaub« von der ›Normalwirklichkeit‹. Die modernen Erscheinungsweisen des Heiligen sind Surrogate und Zerrbilder eines ursprünglichen Zustands, dessen Gehalt sich in ihnen nur noch schattenhaft bekundet. So bemerkt Hobbyboxer Ulrich – nachdem er in einer nächtlichen Schlägerei das Bewusstsein verliert – über die Ekstase des Boxers ironisch: »[…] dieses Erlebnis der fast völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewußten Person sei im Grunde verwandt mit verlorengegangenen Erlebnissen, die den Mystikern aller Religionen bekannt gewesen seien, und es sei sonach gewissermaßen ein zeitgenössischer Ersatz ewiger Bedürfnisse, und wenn auch ein schlechter, so immerhin einer; und das Bo-
10 Jene »noch warmen Spuren« der »andren Welt« verweisen auf die Paradoxie eines abwesend Anwesenden, wie sie Derrida in De la grammatologie anhand der Spur formuliert: »L’absence d’un autre ici-maintenant, d’un autre présent transcendental, d’une autre origine du monde apparaissant comme telle, se présentant comme absence irréductible dans la présence de la trace, ce n’est pas une formule métaphysique […]. Le ›théologique‹ est un moment déterminé dans le mouvement total de la trace.« Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris: Les Éditions de Minuit 1967, S. 68.
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xen oder ähnliche Sportarten, die das in ein vernünftiges System bringen, seien also eine Art von Theologie […].« (MoE, S. 29)
Jenes »Grunderlebnis des mystischen Erfaßtwerdens« (MoE, S. 552) wohnt also ganz unterschiedlichen Bereichen menschlicher Erfahrung inne, sei es im Sport oder in Liebe, Kunst und Religion. Sie alle zeichnen sich durch einen Zustand der Selbstentäußerung, ein »wunderbare[s] Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren« (MoE, S. 765) aus.11 Diese Zuständlichkeit bildet somit das Gegenmodell zum cartesianischen Normalzustand, bei dem das Subjekt sich die Welt logisch aneignet. Das mystische Erlebnis ließe sich somit als selbstloser Seinsmodus bestimmen, in dem das Individuum sein begrenztes Sein auf ein Anderes hin transzendiert und diese Transgression, vor jeder begrifflichen oder moralischen Deutung, als sinn- und glückshaft erlebt.12 Diese Definition verweist auf jenen vielgestaltigen Zustand, der bei Musil mit der vagen Formel ›anderer Zustand‹ umschrieben wird.13 Nun fristet jener ›andere Zustand‹, wie bereits angedeutet, ein Schattendasein in der Wirklichkeit, wird diese doch dominiert vom »Seinesgleichen« (MoE, S. 129), jenen kollektiven Denk- und Gefühlsstrukturen, die sich wie ein Korsett
11 Aus einer vergleichbaren Perspektive definiert Böhme das Heilige, das bei ihm jedoch austauschbar erscheint mit dem Begriff des Mystischen: »Das Heilige ist, wenn es denn sich zeigen soll, an eine Entgrenzung gebunden, in der jeder Subjektstatus untergeht.« Hartmut Böhme: »Oblique Annäherung an das Heilige aus dem Geist der Gewalt«, in: Axel Michaels et al. (Hg.), Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, Bern u.a.: Lang 2001, S. 191-213, hier S. 205. 12 Dass eine solche Selbstentäußerung durchaus pathologische Züge tragen kann, oder sogar unmittelbar an Wahnzustände angrenzt, zeigt der Fall Clarissens, die von sich selbst behauptet: »Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann. Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische, und ich bin dann nicht die Bürgerin Clarisse, als die ich getauft bin, sondern vielleicht ein glänzender Splitter, der in ein ungeheueres Glück eindringt.« (MoE, S. 659) 13 Die wörtliche Bezeichnung »anderer Zustand« taucht im Roman strenggenommen nur ein einziges Mal auf, und zwar im zentralen Kapitel »Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang«: »Warum hätte die bürgerliche Kultur, als sie an die Stelle der religiösen trat, religiöser sein sollen als diese?! Sie hat jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse apportiert.« (MoE, S. 766, Herv. R.S.)
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um das seelisch-individuelle Erleben legen und es nach und nach ersticken. Was von der ›eigentlichen‹ Wirklichkeit bleibt, ist ein Simulakrum heteronomer Vorstellungen, Gefühle und Begriffe, die das Individuum nicht mehr zu sich selbst in Relation zu bringen vermag. Es ist das Unbehagen an einer abstrakt gewordenen Wirklichkeit, das den Protagonisten Ulrich in Opposition zum Bestehenden versetzt: »Ist denn die Wahrheit, die ich kennen lerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: – ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der unangreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?! Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle.« (MoE, S. 129)
Das Individuum erweist sich demnach als unhintergehbar auf das Faktische verwiesen, sein Denken, Fühlen sowie Sprechen wird durch die »fertigen Einteilungen und Formen des Lebens« konditioniert. Ulrich hingegen geht es um die »wirkliche Wirklichkeit«, jenen Kern primordialer Welterfahrung, der vom »Gefilz« (MoE, S. 13) des »Seinesgleichen« verstellt wird. Dessen »Hauch« ist »unangreifbar«, er ist also weder zu greifen noch auszurotten; die andere Wirklichkeit, von der er kündet, kann allein augenblicksweise erahnt werden. Nur in bestimmten Augenblicken scheint die Möglichkeit ursprünglichen Erlebens hinter der ›unwirklichen‹ Wirklichkeit auf und gibt den Blick frei auf die Kontingenz all ihrer Formen und Vorgänge. Ein solcher Augenblick ereignet sich im Roman, nachdem Ulrich seine Geliebte Bonadea zur Tür begleitet hat und sein Blick von der völlig beliebigen Gestaltung seiner Wohnung gebannt wird: »Alle diese Olinien, Kreuzlinien, Geraden, Schwünge und Geflechte, aus denen sich eine Wohnungseinrichtung zusammensetzt und die sich um ihn angehäuft hatten, waren weder Natur noch innere Notwendigkeit, sondern starrten bis ins Einzelne von barocker Überüppigkeit. Der Strom und Herzschlag, der beständig durch alle Dinge unserer Umgebung fließt, hatte einen Augenblick ausgesetzt. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit; ich sehe nicht wesentlich anders aus als das Gesicht eines Lupuskranken, wenn man mich ohne Vorurteil betrachtet, gestand die Schönheit. Im Grunde gehörte gar nicht viel dazu; ein Firnis war abgefallen, eine Suggestion hatte sich gelöst, ein Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung war abgerissen, ein fließendes, geheimes Gleichgewicht zwischen Gefühl und Welt war eine Sekunde lang beunruhigt worden.« (MoE, S. 128)
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Das Gleichnis der Wohnungseinrichtung steht hier stellvertretend für das Erratische, Unmotivierte des »Seinesgleichen«. Ebenso wie die Ornamentik des Interieurs folgen die Formen der Wirklichkeit keiner inneren Notwendigkeit. Entkoppelt von ihrer ursprünglichen Bedeutung sind sie zu einer unendlichen Kette von Zeichen ohne Bezeichnetes erstarrt. Das fein justierte System zwischen subjektiver Bedeutungszuschreibung und vermeintlich objektivem Bedeutungsgehalt beruht einzig auf der suggestiven Leistung des Subjekts: so spiegelt die wahrgenommene Wirklichkeit eben jene Vorstellungen und Erwartungen, die der Wahrnehmende in sie hineinprojiziert. Sobald der Glaube an die Notwendigkeit jedoch wankt, bricht das fragile Gleichgewicht zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit in sich zusammen und es zeigt sich die Relativität aller Urteile und Anschauungen, ja der Wirklichkeit überhaupt. Solche Momente sind für Ulrich gerade deshalb entscheidend, weil sie die Befreiung der Wahrnehmungsformen und die Möglichkeit eines völlig anderen, schöpferischen Zugangs zur Wirklichkeit bergen:14 »Und Ulrich fiel ein, daß alle Augenblicke, die in seinem Leben etwas Entscheidendes bedeuteten, ein ähnliches Gefühl hinterlassen hatten wie dieser«. (MoE, S. 128) Ulrichs Reflexionen gelten demnach der Frage nach einem unbestimmten Anderen: anderen Formen des Seins, Liebens, Denkens und Wahrnehmens – und damit einer anderen Wirklichkeit. Die sokratische Leitfrage des Romans, die einzige Frage, die »das Denken wirklich lohne«, ist für Ulrich »die des rechten Lebens« (MoE, S. 255). Ulrich beschließt daher, seine Karriere als Mathematiker abzubrechen und »ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen« (MoE, S. 47).15 Seine Suche und Krisis entsprechen dabei dem religiösen Motiv der Irrfahrt, die in einen »Zustand der Bekehrung, der Umkehrung« (MoE, S. 155) mündet – eine Anspielung auf die religiöse conversio, aber auch auf eine fakti-
14 Dies entspricht Musils Vorstellung einer »Sprengung des normalen Totalerlebnisses«, die er in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik als das »Grundvermögen jeder Kunst« charakterisiert (GW II, S. 1145). 15 Dass der Weg, den er in der Folge einschlägt, religiös konnotiert ist, deutet folgender, freilich scherzhafter, Ausspruch Ulrichs an: »›Bei allen Heiligen!‹ dachte er ›ich habe doch nie die Absicht gehabt, mein ganzes Leben lang Mathematiker zu sein.‹« (ebd.) Daneben ist hervorzuheben, dass ähnliche Floskeln, etwa »weiß Gott« oder »bei Gott«, bei Musil oft an entscheidenden Stellen auftauchen, so dass die religiöse Dimension der Thematik, wenn auch satirisch überformt und gebrochen, ständig präsent ist. Gleichzeitig verweist die Wiederholung und Banalisierung auch auf die Entleerung, die semantische Leere des Wortes ›Gott‹ (vgl. MoE, S. 42, S. 119, S. 186, S. 567, S. 633, S. 1089 u.a.).
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sche räumliche Umkehrung, das Phänomen der Inversion.16 Ulrichs Krisis gründet in seinem Unvermögen bzw. seinem Unwillen, in einer Idee, einer Empfindung oder einem Geschehen vollständig aufzugehen und etwas – einschließlich sich selbst – bedingungslos zu bejahen: »›Warum‹ dachte Ulrich plötzlich ›bin ich nicht Pilger geworden?‹ Reine, unbedingte Lebensweise, zehrend frisch wie ganz klare Luft, lag vor seinen Sinnen; wer das Leben nicht bejahen will, sollte wenigstens das Nein des Heiligen sagen: und doch war es einfach unmöglich, ernsthaft daran zu denken.« (MoE, S. 153)
Auch hier wird die Lebenshaltung Ulrichs – freilich ex negativo – in Relation zum Heiligen gesetzt. Sie ruft das religiöse Motiv der peregrinatio auf, welches das Leben, in Abkehr von weltlichen Maßstäben, als Reise zu Gott versteht.17 Der traditionelle heilige Weg steht Ulrich jedoch nicht mehr offen. Seine Weltverneinung gründet gerade nicht mehr in einem transzendenten Bekenntnis, sie verbleibt im Negativen. 2. Phänomenologische Mystik Die ›eigentliche‹ Auseinandersetzung mit dem Heiligen beginnt in Musils Roman erst nach rund 700 Seiten, und zwar durch das Zusammentreffen der Ge-
16 Das (religiöse) Motiv der Umkehr zeigt sich hier verknüpft mit dem optischen Phänomen der Inversion, das Musil v.a. durch den befreundeten Gestaltpsychologen Erich M. von Hornbostel kennt. Es bezeichnet in dessen 1922 erschienen Aufsatz Über optische Inversion (in: Psychologische Forschung 1 (1922), S. 130-156) das Oszillieren zwischen zwei einander ausschließenden räumlichen Perspektiven. Im Mann ohne Eigenschaften entspricht das Inversionsphänomen der Erfahrungsweise des »anderen Zustands«, in dem eine wechselseitige Umwandlung sowie Verschmelzung von äußeren Erscheinungen und inneren Empfindungen stattfindet. 17 Das Motiv des Lebens als religiöser Weg und Suche klingt im Roman wiederholt an, etwa im Begriff der »Suche nach dem rechten Leben« (MoE, S. 255), dem »Jahr der suchenden Unruhe« (MoE, S. 151) sowie am Ende des ersten Buches, bes. im »Heimweg«-Kapitel (vgl. MoE, S. 647-654). Allerdings zeigt sich darin keine Übertragung christlicher Schemata auf die Romanstruktur, wie Ursula Reinhardt argumentiert, sondern diese werden in ihrer bloßen Form zitiert, ohne den religiösen Inhalt zu übernehmen. Vgl. Ursula Reinhardt: Religion und Moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft. Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ im Spiegel christlicher Mystik, Marburg: Elwert 2003, S. 194f.
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schwister Ulrich und Agathe nach dem Tod des Vaters – einer Wiederbegegnung, die beide in den »Zustand einer inneren Wiedererweckung« (MoE, S. 755) versetzt. Ebenso wie sich erst nach dem Tod des Vaters von einer »Erzählung« im eigentlichen Sinn sprechen lässt, so wird der Monolog Ulrichs erst durch die wiedergefundene Schwester zum »Gesprächs-Eros«18. Leitmotiv des Schlüsselkapitels »Heilige Gespräche« ist die Frage nach der Möglichkeit eines heiligen Weges in der Moderne, der sich die Geschwister in der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen christlicher Mystiker nähern. Als bedeutsam erweist sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Umdeutung der Religion durch die Religionspsychologie bzw. -phänomenologie zu Anfang des 20. Jahrhunderts.19 Vor allem Rudolf Otto prägt mit seinem Begriff des »Numinosen« eine völlig neue Definition des Heiligen, das »nur durch die besondere Gefühlsreaktion, die es im erlebenden Gemüt auslöst«20, ausweisbar ist. Aus der Theophanie wird so die Hierophanie: das numen kann sich überall zeigen und ist nicht auf das Göttliche begrenzt. Entscheidend ist folglich nicht mehr eine objektive göttliche Instanz und die Frage nach deren Existenz, sondern die emotionale Wirkung auf den (religiös) empfindenden Menschen. Aus religionsphänomenologischer Perspektive stellt das Heilige damit ein »Urphänomen des Bewußtseins«21 dar, dessen empirischer Kern bei variierenden Erscheinungsund Deutungsmustern überzeitlich existiert.22
18 E. Albertsen: Ratio u. Mystik, S. 107. 19 Neben Otto unternimmt vor allem William James eine religionspsychologische Neubestimmung des Religiösen in der Nachfolge Schleiermachers: Das religiöse Erlebnis (als primärer Charakter der Religion) wird dabei losgelöst von seiner reflektierenden Ausdeutung, zu der die begriffliche Vorstellungsbildung sowie Lehre und Dogma (als sekundärer Charakter der Religion) gehören. Vgl. William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. u. bearb. v. Georg Wobbermin, Leipzig: Hinrichs 1914; Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: Beck 1936. 20 Ebd., S. 13 (Herv. R.S.). 21 Heinrich Meyer-Benfey: Moderne Religion. Schleiermacher. Maeterlinck, Leipzig: Diederichs 1902, S. 19f. 22 In vergleichbarer Ausrichtung definiert auch Martin Buber das religiöse Erlebnis, nämlich als ekstatische Einheitserfahrung, deren Evidenz in keinem äußeren Erklärungsmuster aufgeht: »Der Ekstatiker mag psychologisch, physiologisch, pathologisch erklärt werden; uns ist das wesentlich, was jenseits der Erklärung bleibt: sein Erlebnis.« Martin Buber: Ekstatische Konfessionen, Leipzig: Insel 1921, S. 5. Als signifi-
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Auf ebendiesen perzeptiven Kern der religiösen Erfahrung zielt auch die Beschäftigung der Geschwister mit den Zeugnissen der Mystiker. In den »Heiligen Gesprächen« nähert Ulrich sich dem »heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte« (MoE, S. 751). Dies ist nicht als bloße Provokation zu verstehen, sondern vielmehr als konstruktiver Zweifel, der Offenheit für das Denkmögliche bzw. -unmögliche schaffen soll – nicht umsonst bezeichnet sich Ulrich selbst als »gläubige[n] Mensch[en], der bloß nichts glaubte« (MoE, S. 826). Was bleibt von den Erfahrungen der Mystiker, so scheint er sich zu fragen, wenn die Religion als Sinnstiftungsmodell entfällt? Steht der »Kraftwagen« dabei emblematisch für das Zeitalter der Technik, so muss auch der »heilige Weg« vor dem Geiste empirischer Exaktheit Bestand haben und den Gegebenheiten der modernen Wirklichkeit angepasst werden. Wenn man von jeglichem theologischen Überbau abstrahiert, so Ulrichs Überlegung, gründen religiöse wie »profane Erleuchtung«23 in »ein[em] reine[n] Erlebniskern, der auch nach strengen Erfahrungsgrundsätzen glaubwürdig sein müsste«. Dieser gemeinsame Kern religiöser und profaner Epiphanien zeigt sich in jenem spezifischen Seinsmodus, in dem der Mensch der Welt nicht mehr als Subjekt gegenübersteht, sondern sich eins mit ihr weiß: »Denn das Ursprungserlebnis ist doch wohl dieser Zustand von Ich und Du und von Mensch und Natur, daß sie sich wiegen wie auf demselben Ast; und daß ein Mystiker dabei die Beseelung der Welt zu erleben meint, der nüchtern Irrende oder Findende aber einen Grundbegriff zur Beschreibung der lebenden Natur […] entdeckt: Das sind vielleicht nur verschiedene Auslegungen.« (MoE, S. 1354, Herv. R.S.)24
kant ist zu betonen, dass, Dietmar Goltschnigg zufolge, sämtliche Mystikerzitate im Mann ohne Eigenschaften aus Bubers Anthologie stammen. Vgl. Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils: Martin Bubers ›Ekstatische Konfessionen‹ im ›Mann ohne Eigenschaften‹, Heidelberg: Stiehm 1974, S. 60f. 23 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1: Aufsätze. Essays. Vorträge, unter Mitw. v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 297. 24 Die Auslegbarkeit des »Ursprungserlebnis[ses]« ist nicht nur für die Thematik des Heiligen, sondern für den Mann ohne Eigenschaften überhaupt wesentlich. Zwar wird in der zitierten Passage suggeriert, dass es eine Reduktion auf einen »reine[n] Erlebniskern«, eine Essenz des »Heiligen« geben könne, allerdings ist dieser Kern Grenzwert bzw. Ursprung, der immer schon als entzogen und durch Deutungen supplementiert aufscheint. Das Verhältnis von Ursprung und Auslegung wird durch Musils Ro-
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Während der Mystiker dasselbe Erlebnis vor dem Hintergrund transzendenter Erwartungen und Vorstellungen religiös interpretiert, wandelt sich beim modernen Menschen der transzendente Deutungshorizont in einen immanenten, indem der identische Wahrnehmungsgehalt unterschiedlich ausgelegt wird. Der ›andere Zustand‹ beruht nicht auf einer objektiv veränderten Realität, sondern auf einem anderen Verhalten, einer anderen Beziehung zur (oder: einer anderen Auslegung der) Welt. In den Worten Ulrichs: »Man glaubt, daß die Mystik ein Geheimnis sei, durch das wir in eine andere Welt eintreten; sie ist aber nur, oder sogar, das Geheimnis in unserer Welt anders zu leben.« (MoE, S. 1279)25 Zwar besteht die mystische Erfahrung zeitübergreifend, ihr Wesen wird aber durch wechselnde, kontingente Deutungen verstellt. Wird also die Frage nach Gott und seiner Realität suspendiert, so weisen alle Beschreibungen der Mystiker den gleichen Erfahrungskern auf. Ulrich schließt deshalb auf die Präsenz eines »bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand[s] von großer Wichtigkeit […], dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen« (MoE, S. 766, Herv. R.S.). 3. Die performative Funktion Gottes Bei dieser phänomenologischen Reduktion der Mystik auf ihren reinen Erlebniskern wird vordergründig jeder Bezug auf Gott eliminiert. Die Geschwister gehen den Weg der »Gottesergriffenen«, wie am Ende der »Heiligen Gespräche« bekräftigt wird, »ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben« (MoE, S. 761). Jedoch, so meine These, geht Musils moderne Erprobung des heiligen Weges nicht im Konzept einer »gottlosen Mystik« auf.26 Wenngleich die potentielle Erfüllung des ›anderen Zu-
man selbst radikalisiert. In ihm erweist sich gerade der Interpretationscharakter der Welt und des Textes als das Ursprüngliche, Wesentliche: Sinn offenbart sich demgemäß nicht a priori, sondern wird in Auslegungen immer neu hervorgebracht. 25 Diese Transformation der Wirklichkeit durch das Gefühl beschreibt Musil auch in Ansätze zu neuer Ästhetik: »[…] so oft ein Gegenstand aus der Sphäre weltlicher Betrachtung in die des schöpferischen Verhaltens tritt, verändert er sich, ohne sich zu verändern, und man kann scheinbar auch nicht sagen, daß er das Gefühl verändere, sondern das Gefühl verändert ihn.« (GW II, S. 1154) 26 Uwe Spörl stellt die facettenreichen Strömungen einer neuen, »gottlosen Mystik« um die Jahrhundertwende umfassend dar und bringt sie auf folgenden Nenner: »Neomystisch soll demnach heißen, was als Erfahrung oder Erlebnis […] der mystischen unio […] strukturell gleicht, ohne auf einen persönlichen Gott oder einen anderen trans-
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stands‹ sich unabhängig von einer Offenbarung Gottes erweist – und eine solche im Roman tatsächlich ausbleibt und ausbleiben muss –, so ist Gott als Funktion dennoch konstitutiv für die Performativität des Textes. Gott kommt, allem Dementi des Erzählers und des Protagonisten Ulrichs zum Trotz, hinterrücks immer wieder ins Spiel bzw. in den Text, davon zeugt allein die inflationäre Nennung des Wortes ›Gott‹.27 Allerdings handelt es sich dabei um einen negativen Gott jenseits religiöser oder theologischer Systeme. Als »irrationale[r] Rest« (MoE, S. 1874) dient er vielmehr als Movens für die unendliche Bewegung des Suchens, die sowohl die geistige Reise der Geschwister als auch den Text selbst charakterisiert: »Von Anfang an ist die Beziehung auf Gott also einfach da« (MoE, S. 1579), heißt es im Nachlass, und »Gott treibt beide weiter« (MoE, S. 1897) – ebenso, so ist hinzuzufügen, treibt er den Text selbst weiter.28 Gott ist dem Text gleichsam als Leerstelle, blanc, eingeschrieben; als Zeichen ohne Bezeichnetes markiert er die unhintergehbare Differenz von Signifikant und Signifikat, auf deren Verschiebung die Dynamik des Textes beruht.29 Die produktive Unschärfe jeder sprachlichen Bezeichnung, jeder Vor- und Darstellung der Welt zeigt sich in einem Gleichnis Ulrichs, das zugleich als poetologischer Hinweis auf die Rezeption des Textes lesbar wird: »Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend« (MoE, S. 357f.). In diesem Gleichnis über die Welt verwandelt sich die
zendenten Gegenstand bezogen zu sein.« Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn: Schöningh 1997, S. 26. 27 Walter Fanta zählt 2.350 Nennungen. Vgl. Walter Fanta: »Statt Religion Literatur, statt Literaturwissenschaft Theologie. Zum Gottesbegriff bei Robert Musil«, in: Rudolf Langthaler (Hg.), Die Gottesfrage in der europäischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Wien u.a.: Böhlau 2007, S. 187-205, hier S. 191. 28 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Fanta: »Es gibt keinen christlichen Gott im Mann ohne Eigenschaften, der etwa als Ziel einer Gottsuche des Romanhelden theologisch fassbar wäre. ›Gott‹, aber nicht der Gott der Gläubigen oder der Gott der Theologen, sondern ›Gott‹ als Wort ist freilich dennoch Bestandteil der Rhetorik und Poetik dieses Romans.« Ebd., S. 195. 29 Den Zusammenhang von Differenz und Aufschub bringt Derrida in der Wortschöpfung der différance zum Ausdruck: Erst als Bewegung der différance gewinnt die différence, d.h. die konstitutive Differenzialität von Zeichen, ihre zeitliche Dynamik – als Ökonomie des Umwegs, der Verzögerung, des Aufschubs von Sinn oder Präsenz, die als Motor der Textproduktion wirkt. Vgl. Jacques Derrida: »La différance«, in: Ders.: Marges de la philosophie, Paris: Éditions de Minuit 1972, S. 3-29.
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Welt selbst in ein Gleichnis, in dem kein Ding mehr schlechthin sich selbst bedeutet, sondern zum »Hinweis auf ein Anderes, Jenseitiges«30 wird: Die Welt wird zum Text (Gottes), der – ebenso wie der Text des Romans – nicht buchstäblich zu verstehen ist. Sein Sinn erschließt sich vielmehr in einem immer nur vorläufigen, partiellen Prozess der Annäherung.31 Ulrich zufolge gleicht die Aufgabe des Lebens jenen »mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert« (MoE, S. 358). Diese Annäherung ist jedoch nicht im Sinne eines Fortschritts zu verstehen, denn vielmehr als unabschließbarer, aporetischer Prozess: aporetisch, weil die »Einzellösungen« sich nicht ergänzen, sondern in einem widersprüchlichen Verhältnis stehen. Das Ideal eines solchen hypothetischen Lebens stellt, Ulrich zufolge, das Lesen dar, insofern Lesen das Faktische, Buchstäbliche, Eindeutige der Wirklichkeit suspendiert zugunsten des (Un-)Möglichen, des Imaginären.32 Eine auf diese Weise »ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung« (MoE, S. 365), wie sie dem Lesen (bzw. der Dichtung als seinem Komplement) eignet, setzt der Tyrannei des Seinesgleichen das radikal Uneindeutige, Paradoxe entgegen. Diese Offenheit eines »Dasein[s] ganz und gar aus Literatur« (ebd.) erfordert indes, dass der Sinn suspendiert bleibt und jede Eindeutigkeit durch die Inkongruenz, ja Widersprüchlichkeit von Hypothesen und Momentaufnahmen unterminiert wird: Lesen als Lebenshaltung impliziert
30 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, Berlin: Cassirer 1925, S. 310. 31 Vgl. die Notiz in Musils Tagebuch zum »andere[n] Zustand als Grundzustand der Ethik«: »Unmöglichkeit einer andren als sukzessiven Lösung« (R. Musil: Tagebücher, Heft 25: 1921-1923?, S. 660). 32 Die Analogie zwischen Leben und Lesen wird von Ulrichs Jugendfreund Walter artikuliert, der die »Andeutung seines Freundes, man sollte ungefähr so leben, wie man lese, zunächst für eine gewöhnliche und sodann für eine unmögliche Behauptung erklärt hatte« (MoE, S. 368). Hier klingt auch das Motiv vom ›Buch des Lebens‹ an, das von den Rabbinern über Augustinus bis hin zu Benjamin und Blumenberg thematisiert und variiert wurde. Anders als im Mittelalter, wo das Buch der Welt (als Schrift der Natur bzw. Heilige Schrift) sich als göttlicher Ordnungszusammenhang erschließt, wird diese Lesbarkeit in der Moderne jedoch fragwürdig, sie schlägt um in Unlesbarkeit: Die Analogie von Leben und Lesen verweist so gerade nicht mehr auf eine im Lesen herzustellende Sinneinheit, sondern auf die Aporie des Lesens. Vgl. Werner Hamacher: »Unlesbarkeit«, in: Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 7-26, hier S. 22.
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demnach die Unlesbarkeit als negatives Moment, das jeder Sinnbildung, d.h. Realisierung und Fixierung, entgegenwirkt. Diese Unlesbarkeit als Korrelat der »tiefe[n] Zweideutigkeit der Welt« (MoE, S. 1208) ist Musils Text selbst eingeschrieben:33 Der kausale Erzählzusammenhang erweist sich als suspendiert zugunsten einer tastenden Bewegung, in der sich Bedeutung immer nur momenthaft kristallisiert, um sogleich von neuen Sinnkonstellationen unterlaufen und abgelöst zu werden.34 Seine genuine Darstellungsform, wie auch die des »heiligen Weges«, ist die des Umwegs, bei dem das Objekt in immer neuen Anläufen gleichsam meditativ umkreist wird. Musil prägt für ein solches literarisches Verfahren den Begriff des ›Essayismus‹, der dem Fluss der Zustände und Erscheinungen einen augenblickshaften sowie einzigartigen Ausdruck verleiht und sie so zugleich in der Schwebe lässt. Der Essayismus ist, mit Benjamin gesprochen, dem Traktat ähnlich, und insofern der Kontemplation:35 Im Gegensatz zum logi-
33 Tatsächlich ist die Komplexität von Der Mann ohne Eigenschaften maßgeblich der Tatsache geschuldet, dass Musils Erzählweise über Perspektivismus oder Essayismus im konventionellen Sinn hinausgeht. Sein Essayismus ist vielmehr als performativer Vollzug der Unlesbarkeit zu verstehen, indem Bedeutung allein durch wechselnde, transitorische Relationen und Konstellationen generiert wird. Daraus folgt erstens, dass die Kategorien von ›wahr‹ und ›falsch‹ keine Anwendung mehr finden, da alle Aussagen, Werte oder Erscheinungen allein relative Größen innerhalb eines (textuellen) Kräftefelds darstellen; und zweitens, dass sich einander ausschließende Interpretationen oft lückenlos durch Zitate aus dem Text nachweisen lassen. Eine Lektüre, die allein auf inhaltlicher Ebene ansetzt, verliert sich daher zwangsläufig in der unauflösbaren Ambivalenz, d.h. in der Unlesbarkeit des Textes selbst. 34 Der Mann ohne Eigenschaften exemplifiziert, sowohl als Figur als auch als literarisches Werk, die Unmöglichkeit einer linearen Erzählordnung zugunsten eines Wucherns des Partikularen: »Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.« (MoE, S. 650). In den Worten Musils: »Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.« Robert Musil: Nachlass, Mappe II/1, S. 58; zitiert nach W. Fanta: Statt Religion Literatur, S. 198. 35 Musils Essayismus zeigt sich verwandt mit dem, was Benjamin in der »Erkenntniskritischen Vorrede« in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels als »Traktat« akzentuiert: »Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst
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schen Erfassen und Habhaftwerden einer Sache lässt es Raum für das Nichtwissen und Ahnen. Nicht zufällig erweisen sich Essayisten als Verwandte des Heiligen: »Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben […]; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.« (MoE, S. 253f.)36
Es ist offensichtlich, dass sich auch Ulrichs Verhältnis zur Wirklichkeit, und insbesondere zu Gott, als ein essayistisches darstellt: Es schließt Gott als Möglichkeit weder endgültig aus noch bejaht es seine Existenz, und verharrt vielmehr in der Spannung zwischen Skepsis und Mystik.37 Dementsprechend ist auch nicht lediglich ein einziges Gottesbild auszumachen, sondern eine Reihe z.T. widersprüchlicher Bilder, die der jeweiligen inneren Verfasstheit Ulrichs entsprechen. Gerade weil Gott im Text durch immer neue Metaphern bezeichnet wird – als Beschützerfigur, Liebhaber, »Ewige[r] Künstler« (MoE, S. 1125) oder Erhabenes – bleibt sein Platz bis zuletzt leer. Durch die permanente Setzung und Durch-
zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation.« Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 208. 36 Im Fragment Über den Essay imaginiert Musil die Möglichkeit eines Umschlags der essayistischen in mystische Erkenntnis: »Dies plötzliche Lebendigwerden eines Gedankens, dieses blitzartige Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes (eindringlich versinnlicht in der Pauluswerdung des Saulus) durch ihn, so daß man mit einemmal sich selbst und die Welt anders versteht: Das ist die mystische Erkenntnis im mystischen Sinn. In kleinerem Maße ist es die ständige Bewegung des essayistischen Denkens.« (GW II, S. 1336f.) Es lässt sich daher, mit Schärf, durchaus von einer »Poetik des mystischen Essayismus« sprechen. Vgl. C. Schärf: Geschichte des Essays, S. 233 (Herv. i.O.). 37 Diese Unentscheidbarkeit zeigt sich in den zahlreichen, z.T. dezidiert gegensätzlichen Äußerungen zu den Themenkomplexen ›Gott‹, ›Mystik‹ sowie zum/das ›Heilige(n)‹ im Roman selbst, aber auch in den Essays, Notizen oder Nachlassfragmenten Musils. Oft kristallisiert sich die Ambivalenz (bzw. Aporie) von Ulrichs Verhältnis zum Religiösen in einer knappen Pointierung. Hier sei nur ein Beispiel stellvertretend für viele andere genannt: »Er kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte.« (MoE, S. 1060)
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streichung bzw. Ironisierung wird jede sprachliche Fixierung Gottes vermieden. Die größtmögliche Annäherung an Gott bedeutet demnach, die Offenheit für die Totalität der Möglichkeiten zu erhalten und nach immer neuen »Teillösungen« zu suchen. Folglich wird der Mensch selbst zum Exegeten, er ist dazu aufgerufen, sich an der Enträtselung und kreativen Hermeneutik der Welt als aktiver Mitspieler bzw. Mitschöpfer zu beteiligen. Indem nun auch die Absichten Gottes nicht dem Wirklichen, sondern dem Möglichen gelten, gewinnt der Mensch durch den Möglichkeitssinn selbst etwas Göttliches: »Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.« (MoE, S. 16)
Die Schöpfung gleicht somit einem unvollendeten (und unvollendbaren) Experiment, zu dessen Wesen auch das Sinnlose, Paradoxe und Chaotische gehört. Anstatt jedoch die konventionelle Sinnfrage nach dem Grund des Bösen in der Welt zu stellen, deutet Ulrich ihren »entsetzlich missgestalteten Anblick« (MoE, S. 1093) paradoxerweise in eine Art lustvolles Spiel des Schöpfers mit den Menschen um: »Denn wie, wenn Gott selbst es wäre, der die Welt entwertet? Gewänne sie damit nicht auf einmal wieder Sinn und Lust? Und müßte er sie nicht schon entwerten, wenn er ihr auch nur um den kleinsten Schritt näher käme? Und wäre es nicht schon das einzige wirkliche Abenteuer, auch nur den Vorschatten davon wahrzunehmen?!« (Ebd.)
Jene radikale Bejahung des Offenen, Vieldeutigen und Kontingenten der Wirklichkeit beruht konstitutiv auf der Gottesferne, indem sie das Ausbleiben eines göttlichen Heils, einer Teleologie unvermeidlich voraussetzt. Aus dieser Perspektive erscheint nicht das Vollendete, sondern das Unabgeschlossene und Unvollkommene als schön und sinnhaft: Gott ›funktioniert‹ als ästhetisches Prinzip demnach gerade durch seine Verborgenheit, seine Abwesenheit fungiert zugleich als Sinnstiftung und Sinnentzug. In diesem Zusammenhang steht auch die seltsam anmutende Bemerkung Ulrichs, er glaube nicht, »daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!« (MoE, S. 1022) Der moderne Mensch hat dementsprechend nicht passiv auf die
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»Stunde des Wunders« (MoE, S. 1062) zu warten, noch soll er sich in die überkommenen Systeme von Religion und Theologie flüchten. Vielmehr ist es seine Aufgabe, eine zeitgemäße – immer nur vorläufige – schöpferische Ordnung der Welt zu schaffen, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre sinnlich-materielle, sondern auch auf ihre ethisch-moralische Dimension.38 Die eschatologisch gefärbte Vorstellung eines »kommenden Gottes« verweist daher nur vordergründig auf die messianische Erwartung einer zukünftigen Erlösung; vielmehr ist der Zukunftscharakter einer solchen Utopie nicht zeitlich (also teleologisch), sondern strukturell verfasst.39 Die Offenbarung Gottes bleibt in diesem Sinne, das ist zumindest in der (negativen) Theologie Ulrichs ihre raison d’être, ewiger »Vorschatten« und Möglichkeit, die niemals volle Realität werden kann und darf.40 Allein indem sich Gott nicht zeigt, vermag die unerfüllte Sehnsucht als Motor der imaginativen Tätigkeit des Ich zu wirken, das in einem unabschließbaren Prozess Bilder und Möglichkeiten produziert. Jene »bewegte, elastische Unbestimmtheit« (MoE, S. 1509), die Ulrichs Denken charakterisiert, entspringt dabei notwendig einem Mangel: »Es ist aber eine Eigentümlichkeit dieser Erlebnisse, daß sie fast immer nur in einem Zustand des Nichtbesitzes erlebt werden. So verändert sich die Welt, wenn sich der Entbrannte nach Gott sehnt, der sich ihm nicht zeigt, oder der Verliebte nach der fernen Geliebten, die ihm genommen ist.« (Ebd.)
38 So notiert Musil in seinem Tagebuch: »Die ganze Aufgabe ist: Leben ohne Systematik aber doch mit Ordnung. Selbstschöpferische Ordnung. Generative O[rdnung]. Eine nicht von a bis z festgelegte Ordnung, sondern eine im Schritt von n auf n+1.« R. Musil: Tagebücher, Heft 25: 1921-1923?, S. 653. 39 Dabei geht es nicht darum, Gott zur »Triebfeder für die historische Teleologie« zu machen, wie Fanta es theologischen Interpretationen dieser Passage vorwirft. Vgl. W. Fanta: Statt Religion Literatur, S. 197. Gott ist gerade nicht Flucht- oder Zielpunkt, sondern das Prinzip, das jeder Teleologisierung entgegenwirkt. 40 Auch Peter Deibler zieht in seiner explizit theologischen Interpretation das Fazit einer »negativen Theologie« Ulrichs bzw. Musils (s.o.), die »Gottes Unsagbarkeit und die Unangemessenheit jeglicher Festschreibung wahrt«. Allerdings ist ihm nicht zu folgen, wenn er diese Negativität kurzerhand zur Präsenz Gottes umdeutet, »wie sie das Christentum von Anfang an bekennt, anwesend in Brot und Wein, in Gebet, in Gemeinde«. Peter Deibler: Ist der Mann ohne Eigenschaften ein Gottsucher? (= Europäische Hochschulschriften I/1834), Wien: Lang 2003, S. 289.
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Als negative Freiheit von allem Bestimmten ermöglicht demnach erst jene Gottesferne, für die Fülle der Möglichkeiten hinter den Dingen empfänglich zu werden und zu einem schöpferischen Zustand zu gelangen. Als Verkörperung eines konstitutiven Mangels verbürgt Gott, dass der Zeichenprozess, die rastlose Produktion von Bildern, Utopien und Möglichkeiten, nicht abreißt. So vergleicht Ulrich die sich sukzessive ablösenden Wirklichkeiten mit einer »Sprache in Bildern«, »von denen keines das letzte ist«, und folgert daraus, »daß man auch dem gegenwärtigen nicht zu sehr vertrauen soll« (MoE, S. 1508f.). Als Moment der Negativität erweist sich Gott als Ursprung eines unendlichen Diskurses, der im paradoxen Sprechen des Unaussprechlichen dennoch die Möglichkeit eines Umschlags ins Positive birgt. In der Bewegung des Textes wiederholt und verkörpert sich so die Sehnsucht nach dem Abwesenden, dem fehlenden Grund, der notwendig entzogen bleibt. Folglich haben auch die Zeugnisse der Mystiker ebenso wie die eschatologisch-messianische Metaphorik vom »Tausendjährigen Reich«, die von den Geschwistern aufgegriffen und zitiert werden, keine semantische Referenz. Sie dienen als Chiffren, Allegorien sowie »Anschauungsmaterial«41 für jene grundlegende Vakanz, die immer nur provisorisch benannt wird, um sie offenzuhalten. Jedes mögliche Sagen des Heiligen, so könnte man sagen, gründet im Performativen: es ist reiner Ausdruck, Äußerungsakt ohne Inhalt.42 Das Heilige findet bei Musil, allem Sprachskeptizismus zum Trotz, in der Sprache selbst statt. Die »Heiligen Gespräche« dienen somit als Evokation des Heiligen im Medium der Sprache: sie bewahren nur noch die Form, jedoch nicht mehr den Inhalt der traditionellen christlichen Mystik.43 Durch diese Überordnung des Signifikanten über das Signifikat schlägt das Ausgesagte auf das Aussagen selbst zurück. Pointiert formuliert: Aus dem Sprechen über das Heilige wird Heiliges Sprechen!
41 W. Fanta: Statt Religion Literatur, S. 194. 42 Vgl. Bernhard Teuber: »Die mystische Mär. Eine postmoderne Relecture der christlichen Tradition nach Michel de Certeau«, in: Mariano Delgado (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Band III: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer 2005, S. 237. 43 Genau dieses Fazit zieht Michel de Certeau, wenn er über die neomystische Bewegung schreibt: »Von diesem Geist des Überschreitens, der hingerissen ist von einem uneinholbaren Ursprung oder Ende, Gott genannt, scheint in der zeitgenössischen Kultur vor allem die Bewegung des unaufhörlichen Aufbrechens zu überdauern, als bewahrte die Erfahrung, die sich nicht mehr auf den Glauben an Gott gründen kann, einzig noch die Form und nicht mehr den Inhalt der traditionellen Mystik.« Michel de Certeau: Die mystische Fabel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 488.
Autorinnen und Autoren
Canal, Héctor, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Philologie und Ästhetik der Romantik, literarische Übersetzung, Kulturtransfer Spanien-Deutschland. Düsing, Edith, Prof. Dr., Apl. Dozentin für Philosophiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Fichte, Kierkegaard und Nietzsche, Religions- und Sozialphilosophie, Intersubjektivität, analytische Tiefenpsychologie und Philosophie des dialogischen Prinzips. Heinzel, Thomas, M.A., Stipendiat des DFG- Graduiertenkollegs »Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa« an der Universität Erfurt. Promotionsprojekt: Esoterische Religiosität in Südosteuropa (1920-1945). Herold, Milan, M.A., trinationales Graduiertenkolleg »Gründungsmythen Europas« (Bonn, Paris, Florenz). Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Ästhetik der Romantik, französische und italienische Lyrik der Moderne. Holzheimer, Sandro, Dr. des., Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur der Moderne und der Frühen Neuzeit, Literatur und Politik, Intermedialität, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Neumann, Maik, M.A., Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotionsstudium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Arbeitsschwerpunke: Literatur- und Kulturtheorie, Wiener Moderne sowie Literatur und Shoah.
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Peters, Karin, Dr. phil, wissenschaftliche Assistentin für Französische und Hispanistische Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Autorschaftskonzepte in Moderne und Postmoderne, frühneuzeitliche Bukolik, naturalistische Mythopoetik, argentinische Gegenwartsliteratur. Rungelrath, Hendrik, Dipl. Theol., Arbeit an einer fundamentaltheologischen Dissertation an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Theologie des Messianischen, theologische Ästhetik, Neue Musik. Sauter, Caroline, Dr. des., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Arbeitsschwerpunkte: Übersetzungstheorie, Literaturtheorie, Sprachphilosophie, Walter Benjamin, Theologie und Literatur, Liebe und Wahnsinn. Schlette, Magnus, PD Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Theologie und Naturwissenschaft an der FEST Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Individualiserungstheorie, Sozialphilosophie, Wahrnehmungsphilosophie und Anthropologie. Schnell, Rebekka, M.A., Doktorandin im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Französische und deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Bild-Text-Relationen/Bildtheorien, Nachleben der Religion in der Literatur der Moderne. Schott, Hans-Joachim, Dr. phil., Habilitant an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur der Weimarer Republik, Geschichtsphilosophie, ästhetische Theorie, Arbeit als kulturelles Phänomen. Zambon, Nicola, M.A., Doktorand beim Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft (ProLit) und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sprachund Literaturwissenschaft an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Metaphorologie, Mythen- und Rezeptionstheorie, Deutsche und Französische Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zorn, Daniel-Pascal, M.A., Lehrbeauftragter an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Theoriestrategien und -architekturen, Philosophie der Philosophie, Phänomenologie und französische Philosophie des 20. Jahrhunderts.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Januar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, 226 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2422-9
Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
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Kultur- und Medientheorie Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information
Januar 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
November 2013, 334 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1983-6
Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer (Hg.) Digitale Subjekte Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart
Jan Henschen Die RAF-Erzählung Eine mediale Historiographie des Terrorismus
Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2252-2
Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten
September 2013, 276 Seiten, kart., 33,90 €, ISBN 978-3-8376-2390-1
Juli 2013, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2
Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Özkan Ezli, Performatives Selbst und Andreas Langenohl, Valentin Rauer, biographische Narration im Claudia Marion Voigtmann (Hg.) 20. und 21. Jahrhundert Die Integrationsdebatte zwischen Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, Assimilation und Diversität ISBN 978-3-8376-2215-7 Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft Bastian Lange, September 2013, 376 Seiten, kart., 32,80 €, Hans-Joachim Bürkner, ISBN 978-3-8376-1888-4 Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Beate Flath (Hg.) Wertschöpfung in Musik/Medien/Kunst der Musikwirtschaft Wissenschaftliche und künstlerische August 2013, 360 Seiten, kart., 29,80 €, Perspektiven Oktober 2013, 198 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2346-8
ISBN 978-3-8376-2256-0
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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