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German Pages 312 [307] Year 2023
S T U D I E N Z U R P H I LO S O P H I E D E S 2 0 . U N D 2 1 . J A H R H U N D E R T S
Steffen Kluck
Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert
Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts Reihe herausgegeben von Matthias Wunsch, Rostock, Deutschland Michael Großheim, Rostock, Deutschland Heiner Hastedt, Rostock, Deutschland Martin Lemke, Rostock, Deutschland Beiratsmitglieder Christoph Demmerling, Jena, Deutschland Gerald Hartung, Wuppertal, Deutschland Annika Schlitte, Greifswald, Deutschland Christian Thies, Passau, Deutschland
Die „Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts“ stellen ein Forum für ausführliche Auseinandersetzungen mit aktuellen philosophischen Fragestellungen sowie mit Positionen und Debatten der jüngeren Philosophiegeschichte dar. Das Anliegen der Buchreihe ist in doppelter Weise integrativ. Zum einen stammen die in den Bänden verfolgten und thematisierten philosophischen Zugänge aus der ganzen Bandbreite von Denkrichtungen des Referenzzeitraums. Zum anderen verknüpft die Reihe systematische und historische Perspektiven auf in dieser Zeit bestehende philosophische Problemlagen. Auf diese Weise liefert sie Beiträge zu einer systematisch orientierten Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und zum gegenwartsphilosophischen Diskurs vor dem Hintergrund seiner jüngeren philosophiehistorischen Quellen.
Steffen Kluck
Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert
Steffen Kluck Institut für Philosophie Universität Rostock Rostock, Deutschland
ISSN 2731-5487 ISSN 2731-5495 (electronic) Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts ISBN 978-3-662-67831-2 ISBN 978-3-662-67832-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © enjoynz/Getty Images/iStock Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
Danksagung
Die vorliegende Studie ist im Rahmen meiner Habilitation an der Universität Rostock entstanden. Daher bin ich vor allem Michael Großheim und Matthias Wunsch für rege Anteilnahme und Impulse verbunden. Ohne sie hätte dieses Werk seinen Abschluss nicht gefunden. Weiterhin bin ich allen Rostocker Kollegen zu Dankbarkeit verpflichtet, die in unterschiedlicher Weise dem Entstehen Hilfestellungen gaben – namentlich möchte ich mindestens Henning Nörenberg, Jonas Puchta, Martin Lemke, Christian Klager, Heiner Hastedt, Wolfgang Bernard und Hanno Depner nennen. Auch einigen Freunden hat das Projekt wichtige Bausteine zu verdanken, wofür stellvertretend Steffen Kammler und Richard Pohle benannt sein sollen. Schließlich danke ich Annalena Hagenbrock für schnelle und wertvolle Editionshilfe. Zudem fühle ich mich den Herausgebern der Reihe für ihre Bereitschaft, die vorliegende Studie in ihr Programm aufzunehmen, sehr zu Anerkennung verpflichtet. Ich hoffe, das Werk leistet seinen Beitrag im Sinne der erstrebten und wünschenswerten Vertiefung der philosophiehistorischen Reflexionen auf das 20. Jahrhundert. Abschließend möchte ich aber vor allem meiner Familie danken, die oft genug ganz oder partiell auf mich verzichten musste während der intensiven Arbeitsphasen. Es steht zu hoffen, dass die so nicht gemeinsam verlebte Zeit aufgewogen wird durch den Nutzen der Ergebnisse. Rostock im März 2023
Steffen Kluck
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Ambivalenzen der Tradition – oder: der „schillernde“ Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufbau und Methode der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken . . . . . . . . . . . . 2.1 Begriffsgeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Sokrates als Traditionskritiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Tradition in theologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Scholastische Argumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos . . . . . . . . . . . . . 2.7 Romantische Traditionszuwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 12 15 25 35 41 53 61
3 Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Traditionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Max Weber und die frühe Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Anthropologische Überlegungen in der Philosophie . . . . . . . . . . 3.4 Kritische Theorie über Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Nicolai Hartmann und der objektive Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Karl Jaspers – Tradition trotz existentieller Freiheit . . . . . . . . . . 3.7 Tradition als Schutzraum – Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Bundesdeutsche christliche Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer im Widerstreit . . . 3.10 Traditionskompensationsdenken in der Ritter-Schule . . . . . . . . . 3.11 Karl Popper, Hans Albert und der rationalistische Traditionsblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 85 90 102 134 139 146 152 159 167 177
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Inhaltsverzeichnis
3.12 Eine exegetische Stimme – Otakar Nahodil . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.13 Moderne und Tradition – Edward Shils, Anthony Giddens und David Gross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.14 Tradition und planende Vernunft – Friedrich August von Hayek und Michael Oakeshott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.15 Die Tradition als narrative Argumentation – Alasdair MacIntyre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.16 Tradition als Basis von Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.17 Genealogische Brüche und vertikale Spannung – Peter Sloterdijk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.18 Jan und Aleida Assmann und die Tradition als Gedächtnis . . . . 3.19 Eric Hobsbawm und die Erfindung von Traditionen . . . . . . . . . . 3.20 Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.21 Biologische Perspektiven auf Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.22 Tradition als kulturwissenschaftlicher Leitbegriff – Siegfried Wiedenhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.23 Tradition als kommunikatives Verfahren – Karsten Dittmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.24 Tradition als strukturierte Sinngabe – Thomas Arne Winter . . .
188 192 207 218 222 230 236 243 246 254 260 264 268
4 Über Traditionen nachdenken – ein forschungsethisches Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
1.1
Die Ambivalenzen der Tradition – oder: der „schillernde“ Luther
Wer in der Gegenwart sich auf Traditionen beruft, steht in Gefahr, sich wissenschaftlich wie politisch zu desavouieren. Tradition ist in vielen Diskursen semantisch eng verknüpft mit Rückständigkeit, Fortschrittsfeindlichkeit, Antimodernität und Unterdrückung. Völlig zutreffend hat man den Begriff daher als eine „Verdächtigungsvokabel“ (Hacke 2006, 243) charakterisiert, als eine Vokabel also, deren Verwendung suspekt scheint und deren Verwender als potentiell problematisch angesehen werden muss. Man kann, so die neutrale Beobachtung, nicht wertfrei mit dem Terminus operieren. Dieser normative Einschlag verstärkt sich noch dadurch, dass insbesondere im gesellschaftlich-politischen Kontext Traditionen eindeutig konnotiert scheinen. Sie werden mit dem rechten oder konservativen Lager und mit einer rückwärtsgewandten Ausrichtung assoziiert.1 Diese begriffspolitischen Bahnungen stehen allerdings in einem starken Kontrast zu zwei auffälligen Beobachtungen – erstens der sowohl alltagssprachlich wie auch fachwissenschaftlich hohe Verbreitungsgrad des Begriffs, zweitens der mitunter prominent affirmative Rekurs auf ihn von normativ unverdächtigen Standorten und Positionen aus. Die starke Präsenz des Begriffs in unterschiedlichen Zusammenhängen ist vielfach festgestellt worden.2 Auch die in diesem Werk versammelten Stimmen aus Philosophie, Soziologie, Theologie oder Biologie belegen eindrücklich diesen Umstand. Wenn der Begriff daher so breite, normativ unverdächtige Verwendung gefunden hat, sollte das Anlass genug sein, 1 2
Vgl. dazu die überzeugenden Differenzierungen bei Winter 2017, 3–16. Vgl. in diesem Sinne Assmann 1999, 63 sowie vor allem Wiedenhofer 1990, 645.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Kluck, Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9_1
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Einleitung
seinen Gehalt nachzuvollziehen. Erst von daher lässt sich die gegenwärtige Einordnung als Verdächtigungsvokabel verstehen und redlich bewerten. Dafür spricht zudem zweitens, dass es prominente Verfechter der Tradition gegeben hat. Drei solcher Stimmen seien exemplarisch angeführt. Odo Marquard meint zum Beispiel: Unser Leben ist zu kurz, um uns aus dem Üblichen – den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen – ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen. […] Usancen […] [werden] als „mœurs“, als Sitten, als Üblichkeiten und Traditionen […] gerade modern unverzichtbar; denn je mehr sich – im Zeitalter der tachogenen Weltfremdheit – dauernd alles ändert, um so mehr braucht man Lebensroutinen, die durch Usancen gesteuert sind als das, was man macht, weil man es immer schon so gemacht hat […]. (Marquard 2008, 8, 94)
Traditionen sind demnach positiv zu begrüßende Lebensweltbestände, die in der Moderne nicht, wie gemeinhin im aufklärerischen Gestus angenommen, zu überwinden sind, sondern sie sind gerade in der beschleunigten Gegenwart unverzichtbar. Sie sind ein nicht zu ersetzendes Komplement der Moderne. Hannah Arendt wiederum, obwohl sie vor einem ganz anderen Theoriehintergrund operiert, schreibt ähnlich affirmierend von Tradition als einem „Schutzraum des Aufwachsens“ (Arendt 1994, 267), den es bedarf, um ein humanes Leben zu sichern. Damit wird sie sogar als specificum humanum deutbar. Und schließlich hat Theodor W. Adorno gemeint, mit dem unkorrigierbaren Verschwinden der Traditionen in der Gegenwart sei die Gefahr eines „Einmarsches in die Unmenschlichkeit“ (Adorno 1977, 315) unmittelbar gegeben. Selbst ein Kritiker des faktisch Etablierten wie Adorno erkennt daher gewisse Leistungen von Traditionen an, die so etwas wie Humanität ermöglichen, und schlägt damit in eine Kerbe, die nicht weniger die ihm sachlich ganz fern stehenden Hans Freyer oder Arnold Gehlen ebenfalls theoretisch bearbeiteten.3 Damit zeigt sich deutlich, dass Tradition doch mehr Relevanz zu besitzen scheint, als das gemeinhin ablehnende wissenschaftliche Votum suggeriert. Ursächlich dafür scheint ein sehr changierender Gebrauch des Wortes bzw. eine sehr variable Semantik zu sein. Dies lässt sich an der Figur Martin Luthers exemplarisch vorführen. Luther wird, wenn man populären Medienformaten glauben darf, als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Personen der Geschichte betrachtet. Ohne Zweifel ist daran viel Wahres, die geistesgeschichtlichen, kulturellen und sozialen Folgen der Reformation, die es ohne Luther in der bekannten 3
Vgl. zu den beiden letztgenannten Autoren Abschn. 3.5 (Freyer) und 3.3 (Gehlen) der vorliegenden Arbeit.
1.1 Die Ambivalenzen der Tradition – oder: der „schillernde“ Luther
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Form nicht gegeben hätte, sind kaum zu bestreiten. Aber in Anbetracht einer Reflexion auf das Traditionsverständnis fängt Luther an zu „schillern“. Wofür trat er ein? Er sprach sich – rein formal genommen – gerade gegen die Traditionen aus, um sogleich fundamentalistisch für die Tradition zu sein. Was paradox klingen mag, ist leicht erklärt. Luther opponierte gegen das, was die römische Kirche als „Traditionen“ neben der Schrift akzeptierte, das heißt etablierte Verfahrens-, Verhaltens-, Auslegungsweisen usw.4 Diese galten, nochmals bestätigt beim zu größten Teilen dem Traditions-Komplex gewidmeten Konzil von Trient, abgehalten von 1545–1563 (vgl. Deneffe 1931, 62–73), als neben der Bibel gleichberechtigte theologische Gehalte.5 Gegen diese meist sogar auf konkrete Figuren – etwa Kirchenväter – oder Zeiten zurückgehenden Praktiken setzte Luther einzig die eine Tradition, die sich auf die eine heilige Schrift, die Bibel, gründet – sola scriptura. In diesem Sinne war er womöglich ein gleichsam pedantischer Fundamentalist, denn er bestand auf der Einhaltung der und nur der Normen, die sich unmittelbar aus der Schrift ableiten ließen bzw. auf sie zurückführbar waren. Im Kontext der mohammedanischen Religion werden heute solche Denker zu Recht als höchst problematisch angesehen, Luther hingegen erfährt Wertschätzung. Luthers reformatorische Neuerung bestand unter anderem in der Restitution der einen, maßgeblichen Tradition und der Kritik abweichender Traditionen. Die über Jahrhunderte etablierten anderen Praktiken und Lehren aus einer eher pragmatischen Abstammungssphäre wurden rigoros diskreditiert und ignoriert. Doch gilt Luther gemeinhin als positive Figur – warum? Was 4
In der verkürzten „Alltags“-Version der Ereignisse wird für eine solche als Tradition zulässige Praxis der etablierten Kirche zumeist der Ablasshandel angeführt. 5 Es ist sicher ein Sonderfall, dass ein philosophisch thematisierter Begriff Gegenstand einer formal-kirchlichen Beratung und Regelung geworden ist. Das zeigt aber vor allem, dass der Begriff etwas lebensweltlich Relevantes mindestens früher einmal getroffen hat. Im Rahmen der einschlägigen theologischen Beiträge zum Begriff spielen das Konzil und dessen Entscheidungen oft eine wichtige Rolle (vgl. als Auswahl Hauschild 2002, 714–718; Müller 1953, 165 f.; Ratzinger 1966, 296). Auch im 20. Jahrhundert hat das Verhältnis der vielen Traditionen, die nachweislich auf Kirchenväter oder spätere Figuren zurückgehen, zu der einen christlichen Tradition seit Urzeiten immer wieder theologische Beachtung gefunden (vgl. dazu Deneffe 1931; Cullmann 1954 und Congar 1965). Zudem ist die Kirche auch heute immer noch aufgefordert, ihren Traditionsbegriff zu verteidigen. Ein Zeugnis dieser Selbstverteidigung und Selbstreflexion ist Wendebourg/Brandt 2001. In ähnlicher Richtung wie das Konzil, aber in gewissem Sinne außerhalb der institutionalisierten kirchlichen Theologie operierend, daher „esoterisch“, arbeitet sich ab an einem vergleichbaren Gedanken der Unterscheidung der einen Tradition von vielen Erscheinungsformen Guénon 2020. René Guénons Denken war prägend etwa für Leopold Ziegler. Zu Guénon und dem größeren Themenkreis des sogenannten „Traditionalismus“ vgl. wesentlich Sedgwick 2019.
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Einleitung
unterscheidet sein Rückgriff auf Etabliertes, Althergebrachtes von dem problematischen Rückgriff anderer Denker oder Theorien? Entscheidet am Ende gar nicht die Traditionalität per se, sondern nur der je konkrete Inhalt einer Tradition darüber, ob der Rekurs auf sie legitim bzw. angemessen war oder nicht? Wie immer man den Fall Luther entscheiden mag,6 es zeigt sich an ihm und den Möglichkeiten, ihn progressiv als Kulturbringer oder regressiv als Fundamentalisten zu lesen, die Ambivalenz des Umgangs mit bzw. des Bezugs auf Traditionen. Um im Angesicht dieser Deutungs- und Interpretationsvielfalt gleichsam „festen Boden“ zu erreichen, ist eine Besinnung auf den Begriff daher offensichtlich unabdingbar. Was ist Tradition eigentlich? Der ins Auge springende uneinheitliche Gebrauch des Wortes ist vielfach bemerkt und beanstandet worden.7 Otakar Nahodil, der im 20. Jahrhundert wesentliche Studien zum Begriff der Tradition lieferte,8 hat in einem ersten Annäherungsschritt mindestens 17 verschiedene Bedeutungen unterschieden (vgl. Nahodil 1971, 10–21), während in einem methodisch spiegelsymmetrischen Schritt János Nyíri nicht weniger als 29 verschiedene, mit einander nicht in Deckung zu bringende familienähnliche Begriffe entdeckt haben will (vgl. Nyíri 1992, 55, 63). Die weite alltagswie fachsprachliche Verbreitung hat daher zu keiner Etablierung einer allgemein akzeptierten Definition geführt. Dies erweist sich übrigens auch daran, dass es ebenso wenig einen Kanon etablierter Autoren gibt.9 Im Befund zeigen sich daher eine weite Verbreitung des Begriffs, eine normative Einseitigkeit, die durch prominente Gegenthesen in Frage gestellt ist, und eine semantische Vagheit. Dies ist, wenn man bedenkt, dass das Wort als lateinische Prägung10 bereits auf gut zwei Jahrtausende der Verwendung zurückblicken kann, vielleicht nicht völlig überraschend, aber doch irritierend. Eine stärkere Konsensbildung scheint nicht unmöglich, weshalb eine Zuwendung geboten ist. Es gilt, was zuletzt Thomas Arne Winter richtig feststellte, dass nämlich das Thema Tradition „bislang nicht die wissenschaftliche und schon gar nicht die philosophische Aufmerksamkeit erhalten hat, die es verdient.“ (Winter 2017, 5) 6
Freilich war Luther zugleich „progressiv“, etwa mit der Bibelübertragung, liturgischen Anpassungen usw. Anliegen dieser einleitenden Überlegungen ist kein vollständiges oder auch nur annäherndes Lutherbild, sondern ein Aufweis der ambivalenten Thematisierung von Traditionen und deren nicht minder ambivalente Bewertung. 7 Aus der großen Liste derartiger Diagnosen sei exemplarisch verwiesen auf Shils 1981, VII; Wiedenhofer 2005, 253; Thompson 1996, 90 f. 8 Vgl. dazu Abschn. 3.12. 9 Die vorliegende Arbeit versteht sich daher auch als Angebot, einer solchen wünschenswerten Etablierung eines thematischen Kanons Material zu liefern. 10 Vgl. dazu die Hinweise in Abschn. 2.1.
1.1 Die Ambivalenzen der Tradition – oder: der „schillernde“ Luther
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Es ist nach dem knapp Aufgezeigten notwendig, das Feld der Tradition noch einmal in möglichst großer Breite aufzusuchen, die verschiedenen Perspektiven nachzuvollziehen und zu analysieren. Nur so kann ein umfassendes Verständnis erreicht werden, das zugleich erklären hilft, warum der angedeutete Zustand eingetreten ist, und das es gestattet, viele (wenn nicht alle) Aspekte des Phänomens Tradition in den Blick zu nehmen und theoretisch fassbar zu machen. Das bedingt eine – trotz guter Vorarbeiten etwa Nahodils oder Siegfried Wiedenhofers – erneute und umfangreiche Sichtung der Literatur, was im Interesse gründlichen und redlichen wissenschaftlichen Vorgehens unvermeidlich ist. In der Arbeit wird daher ein historisch-hermeneutischer Zugang zum Begriff der Tradition verfolgt. Dieser Terminus ist zwar sicher für kultur- und geisteswissenschaftliche Diskurse nicht von herausgehobener Stellung, aber ein genauerer Blick zeigt, dass er bei vielen zentralen Dissensen erhebliche Bedeutung hat. Er strahlt aus in epistemologische, ethische, politische, anthropologische oder auch sozialontologische Bereiche, so dass die durch seine Semantik gebahnten Wege zwar subtil, aber doch nachhaltig und weitreichend prägend sind. Dabei ist auffällig, dass gerade das 20. Jahrhundert reich an Reflexionen auf den Begriff ist. Das Nachdenken über Traditionen berührt zentralste philosophische und soziologische Denker dieser Zeit – um neben Adorno, Arendt und Marquard nur einige zu nennen: Jürgen Habermas, Karl Jaspers, Hans-Georg Gadamer, Karl Raimund Popper, Friedrich August von Hayek, Jan und Aleida Assmann, Georg Simmel oder Max Weber. Indem so divergente wie prominente intellektuelle Vertreter des Jahrhunderts zur Sprache kommen, bildet sich ein bisher nicht beachteter „roter Faden“ durch diese Zeit am Leitfaden eines Begriffs. Es werden neue und ungewohnte Konstellationen sichtbar. Gepaart ist diese Verbreitung des Traditionskonzepts mit einer unbemerkten Virulenz desselben. Schon der Umstand, dass der Traditionsdiskurs als solcher erst sichtbar gemacht werden muss in seinem Zusammenhang, verdeutlich dies. Um vor diesem Hintergrund das „verborgene Wirken“ des Begriffs zu thematisieren, werden die entscheidenden Bezugnahmen und Semantiken im Folgenden ausführlich vorgestellt und strukturiert. Auf diese Weise wird zweierlei erreicht, einerseits eine Explikation dessen, was in der alltagssprachlichen wie terminologischen Verwendung oft vage bleibt, zum anderen die Chance, durch Verortung in dem disparaten Diskursfeld einer stringenteren oder jedenfalls reflektierteren Verwendung den Weg zu bereiten. Es sollen Bausteine für eine umfassende
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Einleitung
begriffs- und ideengeschichtliche Rekonstruktion, die noch immer Desiderat ist, bereitgestellt werden.11 Interessant ist der sich um den Begriff der Tradition entspannende Diskurs dabei auch noch deshalb, weil er dezidiert interdisziplinär ist. Das Konzept ist sachlich von hoher Relevanz nicht nur in der Philosophie (und dort sowohl in der praktischen als auch der theoretischen Philosophie), sondern gerade in der Theologie, Ethnologie, Geschichte und Soziologie. Zudem zeigen die Naturwissenschaften ebenfalls – vor allem die Biologie – den Befund einer Omnipräsenz des Begriffs bei gleichzeitig naiver Selbstverständlichkeit der Semantik. Indem das Feld des Diskurses, der als zusammenhängender den Protagonisten wie der Rezeption in der Regel nicht klar war, strukturiert und pointiert wird, gewinnt die wissenschaftliche Besinnung auf Tradition einen neuen – um nicht zu sagen: erstmaligen – Ausgangspunkt für vertieftes Bedenken dieses Terminus‘. Die folgenden umfangreichen Darlegungen der wesentlichen Stationen des Diskurses über Tradition im 20. Jahrhundert dienen auf diese Weise der Etablierung eines Problembewusstseins und der Chance, das Problem zugleich produktiv anzugehen.
1.2
Aufbau und Methode der Arbeit
Die Arbeit geht im Folgenden in zwei Schritten vor, um das Ziel einer Darstellung der komplexen Bezugnahmen auf den Traditionsbegriff zu erreichen. Zunächst werden als Vorgeschichte des Traditionsdenkens im 20. Jahrhundert ein kurzer begriffsgeschichtlicher Abriss (Abschn. 2.1) geboten, der die historisch-etymologischen Wurzeln erläutert, sowie einige relevante Wegmarken (Abschn. 2.2–2.7) vorgestellt. Dabei ist festzuhalten, dass es eine umfassende begriffsgeschichtliche Analyse – mit einer partiellen Ausnahme (vgl. Wiedenhofer 1990) – noch nicht gibt. Ausgehend von dem begriffsgeschichtlich gewonnenen Fundament wird der eher kursorische Gang durch Antike und Mittelalter zeigen, welche allgemeinen philosophischen Vorstellungen sich über Tradition vor dem 20. Jahrhundert entwickelt und etabliert hatten. Auf diese Weise erhellt sich zumindest ansatzweise der geistesgeschichtliche Hintergrund, 11
Zur Begriffsgeschichte vgl. maßgeblich Wiedenhofer 1990. In systematischer Hinsicht bieten die Arbeiten von Karsten Dittmann (Dittmann 2004), Winter (Winter 2017) und Steffen Kluck (Kluck 2023) die zuletzt entwickelten theoretischen Versuche. Die hier vorgelegte historische Studie bildet gleichsam den Reflexionshintergrund für die letztgenannte Schrift, die es von phänomenologischer Warte aus unternimmt, eine Neubestimmung des Traditionsbegriffs zu leisten.
1.2 Aufbau und zur Methode der Arbeit
7
der für die Überlegungen in der Gegenwart in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzen ist. Die Auswahl an Bezugspunkten ist nicht willkürlich – insbesondere der Fokus aus Theologie, Scholastik und Aufklärung ist alternativlos –, erstrebt jedoch keine Vollständigkeit. Hauptaugenmerk der Studie liegt allerdings zweitens auf der Darstellung und Explikation des Denkens über Tradition im 20. Jahrhundert (Kap. 3).12 Es werden die verschiedenen Deutungsangebote vorgestellt und kritisch betrachtet. Wo es sich anbot, wurden die Querverbindungen und diskursinternen Bezüge verdeutlicht. Generell gilt es aber festzuhalten, dass es den Traditionsdiskurs nicht gegeben hat. Wiewohl einige Denker miteinander über die Schriften hinweg in einer Art Kommunikationsbeziehung standen – etwa Gadamer mit Habermas oder Edward Shils mit Weber –, so zeigt sich insgesamt eher das Bild vieler Einzelstimmen, denen der Zusammenhang gerade fehlt. Indem all die Theorieangebote in der vorliegenden Arbeit gemeinsam auftreten und in Beziehung gesetzt werden, besteht nun, so steht zu hoffen, die Möglichkeit der Entwicklung eines kohärenteren Diskurses.13 Die ausgewählten Autoren sind, wie schon erwähnt, potentielle Kandidaten, wenn es darum geht, die kanonischen Positionen für den Traditionsdiskurs zu bestimmen. Von den versammelten Theorien ist in jedem Fall auszugehen, wenn es aktuell wieder darum gehen soll, Tradition philosophisch zu erhellen. Neben dieser eher vorbereitenden Funktion für systematische Interessen14 erfüllt die vorliegende Arbeit allerdings noch eine wichtige Funktion für die Philosophiegeschichtsschreibung. Der Diskurs über Tradition bietet die seltene Gelegenheit, einmal quer zu etablierten historischen Blickachsen zu denken. Die üblichen Oppositionen – etwa zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie – erweisen sich dann als weniger stabil als zu erwarten wäre. Denn in gewisser Weise zeigen sich so divergente Denker15 wie Arendt, Gehlen, Adorno, Popper oder Erich Rothacker einig, wohingegen andere, die man eher 12
Die letzten dort verhandelten Autoren – Dittmann, Wiedenhofer und Winter sowie einige Autoren aus der biologischen Forschung wie Eva Jablonka oder Michael Tomasello – gehören selbstverständlich eigentlich schon mit in das 21. Jahrhundert, stehen aber ganz unmittelbar unter den Einwirkungen ihrer Vorgänger, woraus sich ihre Mitverhandlung legitimiert. 13 Nahodil hatte bereits früher versucht, den Diskurs in seiner Vielfältigkeit zu sammeln (vgl. Nahdoil 1971). Er unterließ jedoch die Kontextualisierung und Systematisierung, was möglicherweise die Wirkungslosigkeit dieses damaligen Vorhabens erklären kann. 14 Vgl. als aktuellsten solchen Versuch Kluck 2023. 15 Wenn nur „Denkern“ oder „Autoren“ im Vorstehenden die Rede war, so ist das jeweils immer als generisches Maskulinum zu lesen, welches in dieser Arbeit aus stilistischen Gründen Anwendung findet. Dieses grammatische Geschlecht ist selbstverständlich vom sozialen, biologischen etc. unbedingt zu unterscheiden.
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Einleitung
als miteinander einig wähnt – zum Beispiel Gehlen und Max Scheler –, sich als Antipoden erweisen. Zudem ist nicht nur diese Reperspektivierung etablierter philosophiegeschichtlicher Grenzziehungen auffällig und verspricht, produktiv zu werden, sondern auch der Umstand, dass Tradition ein eminent interdisziplinäres Thema ist. Wie schon erwähnt, ist sie kein ausschließlich philosophisches Thema. Tradition entstammt terminologisch dem juristischen Bereich, ist dann lange im theologischen Kontext beheimatet, um erst mit Beginn der Neuzeit und virulent in der Aufklärung zu einem philosophischen Begriff sui generis zu werden. Von dieser Stätte aus zieht er dann aber zugleich ein in die Soziologie, wo er in deren Gründungsphase als eines der zentralsten Konzepte gelten muss, ebenso aber auch in die Ethnologie und zuletzt verstärkt in die Biologie und Ethologie. Aufgrund dieser Tatsachen ist von einer Zuwendung zum Konzept nicht nur ein neuer, fruchtbarer Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu erwarten, sondern es bieten sich Anknüpfungspunkte an andere disziplinäre Diskurse, die hier freilich nur angedeutet werden können. Methodisch orientiert sich die vorliegende Studie an einem hermeneutischphänomenologischen Vorgehen. Das heißt genauer, dass die Textzeugnisse so weit als nötig kontextualisiert werden, um sie dann aus sich heraus zu erschließen. Leitperspektive ist dabei die Frage, was unter Tradition jeweils verstanden wird. Zugleich aber werden Traditionen hier implizit aus der Perspektive desjenigen betrachtet, der in ihnen ist, also gleichsam aus der Erste-Person-Perspektive, wofür im weitesten Sinne die phänomenologische Methode Rückhalt bietet. Freilich steht der hermeneutische Zugang im Vordergrund. Im Wesentlichen fokussiert sich die Arbeit im Einzelnen auf den deutschsprachigen Raum, wo das Thema, wie die verhandelten Autoren zeigen, am umfänglichsten verhandelt wurde. Gleichwohl wird es auch Bezugnahmen auf frankophone und anglophone Autoren geben. Das wirft die Frage auf, wie mit dem Problem der Übersetzung umzugehen ist. Hier jedoch kommt der Umstand zu Hilfe, dass es Ableitungen von der lateinischen Wurzeln in nahezu allen Sprachen Europas und der westlichen Welt gibt (vgl. Nahodil 1971, 26 ff.). Es scheint plausibel anzunehmen, dass diese weite Verbreitung über Sprachfamiliengrenzen hinweg belegt, dass das Phänomen, auf welches der Begriff verweisen will, kulturinvariant ist. Daher kann den Übersetzungen selbst dort, wo im Original kein sprachliches Derivat von „traditio“ bzw. „tradere“ aufzufinden ist, vertraut werden. Allerdings ist es selbstverständlich, dass die hier vorgelegte Studie der Ergänzung durch Arbeiten aus anderen Kulturkreisen – folgt man Nahodil (vgl. Nahodil 1971, 28) und Klaus Müller (vgl. Müller 2005, 95 f.), verspricht vor allem der slawische Sprachraum relevante Einsichten – kritisch zu ergänzen ist.
1.2 Aufbau und zur Methode der Arbeit
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Diese methodische Verortung soll in ihrer Allgemeinheit darauf hinweisen, was durch die Studie zu erwarten ist. Sie versteht sich selber als ein Vorspiel zu sich anschließenden systematischen wie begriffs-, ideen- oder dezidiert philosophiegeschichtlichen Arbeiten. Indem der Diskurs aufbereitet und sortiert wird, stehen für derartige Vorhaben Materialien und Zugänge bereit. In jedem Fall aber wird die Lektüre zeigen, dass mit dem Thema Tradition ein Aspekt menschlicher und womöglich tierischer Lebenswirklichkeiten zur Verhandlung steht, der von eminenter philosophischer Relevanz ist.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Was ist Tradition? – dieser Frage soll im Folgenden anhand einer umfangreichen Quellensichtung der maßgeblichen theoretischen Stationen nachgegangen werden. Der jeweilige Begriffsgebrauch bzw. gegebenenfalls auch der nur implizite, nicht terminologische Bezug auf Traditionen wird expliziert und reflektiert. Das ZurKenntnis-Nehmen der theoretischen Angebote gerade in ihrer Vielfalt ist – wie erläutert – essentiell, um den vielgestaltigen Diskurs in seiner Fruchtbarkeit und Repräsentativität würdigen zu können. Die historischen und aktuellen Bezugspunkte, die nachfolgend ausgelegt werden, haben ihren sachlichen Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Dies legitimiert sich daher, dass erst in diesem – bedingt durch die zunehmende Rationalisierung, wenn man den üblichen Deutungen glauben mag1 – Traditionen im Moment ihres Verschwindens thematisch vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben. Es ist ohne Weiteres zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über ein Säkulum nach den für die Tradition als Prinzip so einschneidenden Verwerfungen durch die Aufklärung, noch möglich, die Suche nach einer Tradition als sinnvolle intellektuelle Aufgabe zu verstehen.2 Von daher begründet sich dieser Fokus, obgleich selbstverständlich auch und zunächst frühere geschichtliche Epochen in den Blick kommen, um dem im Mittelpunkt stehenden Jahrhundert seinen relevanten sachlichen Hintergrund zu geben. Insgesamt wird eine grobe, im Detail aber nicht konsequente 1
Besonders intensiv ist dieser Topos in der Soziologie im Anschluss an Weber (vgl. dazu die Tendenz des zunehmenden Übergangs von der traditionalen zur rationalen Herrschaftsform, die im Ausgang von Weber, WuG, 159 aufstellbar ist) und im Kontext des Motivs der posttraditionalen Gesellschaft (vgl. dazu im Überblick und mit kritischen Einwendungen Heelas 1996) entwickelt worden. 2 Vgl. exemplarisch etwa Guénon 2020, 21, 24 und Foerster 1911, 12. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Kluck, Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9_2
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Chronologie eingehalten, gelegentlich leiten sachliche statt zeitliche Zusammenhänge die gewählte Gruppierung. Die Abfolge ist jedoch nicht so zu verstehen, als bauten die Autoren immer aufeinander auf. Der Diskurs über Tradition ist vielsprachig und eher ein Durcheinander denn eine Stufenleiter zum Ausstieg aus den begrifflichen „babylonischen Verhältnissen“.
2.1
Begriffsgeschichtlicher Überblick
Man könnte erwarten, dass die Begriffsgeschichte eines, gemessen an seiner Verbreitung und seinem Gebrauch, „erfolgreichen“ Wortes wie Tradition längst vorliegt. Dem ist allerdings nicht so. Es gibt zu einer solchen Arbeit zwar einige Ansätze, insgesamt ist sie aber noch Desiderat.3 Als Kern der Begriffsgeschichte lässt sich festhalten, dass den Ausgangspunkt bildet „die Interaktion und Kommunikation von Handlungsträgern im Zusammenhang der Übermittlung eines Gegenstandes oder einer Person.“ (Wiedenhofer 1990, 607) Dabei geht dieses Verständnis zurück auf das griechische Wort παραδιδόναι, welches im Lateinischen „tradere“ als Zusammenziehung von „trans-do“ praktisch nachgebildet wird (vgl. Wiedenhofer 1990, 608).4 „Traditio“ bedeutet dabei sowohl eine spezifische Form der – juristisch relevanten – sachenrechtlichen „Eigentumsübertragung“ als auch das „übliche Übereignungsgeschäft des Alltags.“ (Wiedenhofer 1990, 609) Dieser Sinn wird im Laufe der Zeit zunehmend spezieller, nämlich durch die jüdisch-christliche Religion, in welcher der Begriff „seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. zu einem zentralen theologischen Begriff“ (Wiedenhofer 1990, 613) avanciert. Besonders das Judentum hat ein differenziertes Verständnis von Tradition entwickelt, was vor dem Hintergrund der historischen Geschehnisse – insbesondere der sich verfestigenden Diaspora-Situation – zu lesen ist. Das jüdische Volk war gezwungen, gerade in der Verbannung und Zerstreuung das gemeinsame
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Die beste Arbeit ist in dieser Hinsicht Wiedenhofer 1990. Einige weitere Hinweise zu begriffsgeschichtlichen Aspekten liefert Nahodil 1971, ein Werk, das gleichsam unzählige Bestimmungen sammelt, aber kaum sinnvoll systematisiert, sowie Assmann 1999, wenn auch mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Der Artikel im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ bleibt dahingehend letztlich hinter Wiedenhofer und auch Assmann zurück (vgl. Steenblock 1998). 4 Auch die deutschen Wörter „über-geben“ und „über-liefern“ sind ihrer Bildungsweise nach noch daran orientiert.
2.1 Begriffsgeschichtlicher Überblick
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religiöse Erbe umso vehementer zu verteidigen und zu erhalten.5 Noch Paulus ist als konvertierter Jude geprägt vom jüdischen Traditionsgedanken.6 Das Besondere ist dabei in zwei Hinsichten zu sehen, nämlich einmal der Betonung der Rolle der Tradition und Traditionskette einerseits, der Differenzierung zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition andererseits. Aufgrund vor allem der besonderen historischen Umstände, der Wechsel des Lebens- und Kulturraums, sind die Rabbiner gezwungen, die Thora fortwährend neu zu lesen und anzupassen. Die dabei entstehenden Werke – zunächst mündlich, später dann trotz Kritik verschriftlicht – gelten als legitime Tradition neben der Thora. Eine solche Parallelität setzt freilich gedankliche Begründungs- und Legitimierungsarbeit voraus. Wenn daher Paulus darauf besteht, nur das Erhaltene überliefert zu haben (vgl. 1 Kor. 15.3), darf dies auch als Kritik am weiteren jüdischen Traditionsverständnis gelesen werden.7 Das Judentum erweist sich insofern als hermeneutisch begabt, als es Tradition anpassungsfähig und auslegbar versteht. Dabei konfligiert dies keineswegs mit dem Grundimpuls einer diachronen Stabilisierung des räumlich zerstreuten und exilierten Volkes. So ist es erstaunlich zu hören, dass der Titel „Rabbi“ nur demjenigen verliehen wird, dessen Schüler selbst wieder Schüler haben, andernfalls findet nur sein Name Erwähnung (vgl. Stemberger 2011, 14).8 Durch diese subtile Bindung der Ehrerweisung an die Aufrechterhaltung der Traditionskette wird das Ziel erreicht. Der jüdische Traditionsgedanke wird im Christentum übernommen und verfeinert, das Wort bleibt aber auch bis ins 12. Jahrhundert ein „häufig gebrauchter terminus technicus im Liegenschaftsverkehr, der wahrscheinlich in dieser Zeit auch den häufigsten Rechtsakt darstellt.“ (Wiedenhofer 1990, 618) Die Scholastik weicht dahingehend nicht wesentlich vom etablierten Gebrauch ab, das Konzept wird genutzt, aber nicht sonderlich prominent reflektiert. Erst die Reformation liefert den Anstoß, über Tradition genauer nachzudenken, wobei nicht das Prinzip der Weitergabe durch die Zeit überhaupt angegriffen wird, sondern nur bestimmte als Tradition akzeptierte Bestände an Praktiken, Ritualen usw. Das berühmte Konzil von Trient ist für diese Besinnung der äußere, geschichtlich auffällige Höhepunkt. Während die katholische Kirche weiterhin neben der heiligen
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Vgl. dazu Stemberger 2011, 1–5 und Lohse 1962, 969 f. Vgl. zu dieser Paulus-Deutung Cullmann 1954, 8 ff. und Congar 1965, 22 f. 7 Vgl. zu Differenzen zwischen Judentum und Christenheit gerade hinsichtlich des Traditionsverständnisses Kümmel 1934, v. a. 121–126. 8 Ein ähnliches Motiv scheint es im Buddhismus zu geben. 6
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Schrift nicht minder heilige Traditionen anerkennt,9 die in der Regel auf die Apostel zurückzuführen sind, orientierte sich der Protestantismus allein an der Schrift und diskreditiert historisch gewachsene Traditionen als normativ nachrangiges Menschenwerk.10 Zudem hat, wie allgemein bekannt ist, der Protestantismus darüber hinaus Fragen des Glaubens viel stärker an das Individuum gebunden als der kollektiver orientierte Katholizismus,11 die Abkehr von der überindividuellen Tradition ist in dieser geistesgeschichtlich nicht zu unterschätzenden Entwicklung immerhin ein markanter Nebenschauplatz. Aber parallel zu diesen theologischen Verwerfungen kommt es im deutschen Sprachraum zur Etablierung der Rede von Tradition. Das Wort ist sicher nicht zufällig gerade seit dem 16. Jahrhundert nachzuweisen, wie das Grimmsche Wörterbuch festhält (vgl. Grimm/Grimm 1935, 1022). Auch der, wie zu erwarten, vornehmlich theologische Gehalt überrascht nicht. Folgt man den Ergebnissen der Gebrüder Grimm, so wird das Wort vor allem ab Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend verbreitet und enttheologisiert, das heißt profanisiert, wobei der französische Sprachraum dazu den Anstoß gegeben haben soll (vgl. Grimm/ Grimm 1935, 1023). Dieser war freilich auf Tradition, wie zu vermuten steht, im Kontext der durch die Aufklärung vollzogenen Kritik an etablierten Institutionen gekommen. Soweit mag ein kurzer Abriss gewisser allgemeiner Erkenntnisse zur Begriffsgeschichte genügen. Insgesamt ist daraus zwar historisch Interessantes abzuleiten, in der Sache aber bleibt vieles unklar, etwa der Umfang des Begriffs, seine zeitliche Erstreckung, die Wandelbarkeit der Gehalte usw. Die folgenden Analysen einzelner Quellen mögen einer zukünftigen ausführlichen Begriffsgeschichte daher als Material hoffentlich gute Dienste leisten können.12 Die selektierten, aber durchaus repräsentativen Stationen der Reflexion auf bzw. der Thematisierung 9
Vgl. die fünf möglichen Quellen legitimer Gottestraditionen, die August Deneffe ausgehend vom Konzil und seinen Akten herausstellt, bei Deneffe 1931, 72. 10 Deshalb, so Martin Rösel, habe der Traditionsbegriff im Protestantismus auch lange keine größere Rolle gespielt (vgl. Rösel 2002a, 734). 11 Vgl. dazu die Deutung des Wirken Luthers in diesem Sinne bei Schmitz 1999, 49 f., 199– 209. 12 Eine letzte Auffälligkeit verdient aber noch Erwähnung. Tradition wird zumeist mit der getreuen, ggf. im Sinne übertrieben „beckmesserischer“ Ideale (zur ambivalenten Figur des Beckmesser vgl. Kluck 2023, Abschn. 1.1) sogar pedantischen Weitergabe und Einhaltung des Übernommenen verbunden. Sprachlich hat sich aber genau ein gegenteiliges Wort aus „Tradition“ heraus im Englischen und Französischen entwickelt, nämlich „traitor“, der Verräter (vgl. dazu Deneffe 1931, 6 und Jaucourt 1765a). Traitor ist derjenige, der die heiligen Gehalte an die Falschen weitergibt. Das ist insofern interessant, als der Akt der Weitergabe offensichtlich vorliegt und durch die Sprachgemeinschaft auch bemerkt wird, aber
2.2 Sokrates als Traditionskritiker
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von Traditionen der anschließenden Kapitel sind als kursorische Blicknahmen relevant, weil sie für die Entwicklungen im 20. Jahrhundert und darüber hinaus in der aktuellen Gegenwart den Hintergrund abgeben. Man kann den Diskurs nicht verstehen und sinnvoll bewerten, wenn man diese vorgängigen Wegmarken nicht kennt. Etwa die Aufklärung oder das Christentum haben entscheidende Prägungen vorgenommen, zu denen sich – abweisend oder affirmierend – die späteren Autoren verhalten. Dabei waren diese sich selbst über diese Hintergründe nicht immer ganz im Klaren. Die Auswahl der Wegmarken – Sokrates, Christentum, Scholastik, Rationalismus, Aufklärung und Romantik – erstrebt, wie gesagt, Repräsentativität, aber keineswegs Vollständigkeit.
2.2
Sokrates als Traditionskritiker
Auch wenn der zur Verhandlung anstehende Begriff lateinischen Ursprungs ist, kann ein Blick in die griechische Antike hilfreich sein, und zwar nicht nur, weil es sprachlich eine Verbindung zwischen παραδιδόναι und „tradere“ gibt, sondern ebenso deshalb, weil schon dort einiges über die Sache zu lernen ist. Das Folgende beansprucht freilich keineswegs Vollständigkeit, sondern dient einer Perspektivöffnung. Immer wieder diskutiert wird in der Literatur13 der Fall Platons, der bekanntlich in seinen Dialogen häufig auf mythische Figuren – am bekanntesten sicher die Priesterin Diotima (vgl. Platon, Symp., 201d–212c)14 – zurückgreift, die an Sokrates bestimmte Wissensbestände weitergeben, und der zudem auch ein Vorrecht der älteren und vorbildlicheren ägyptischen Kultur einräumt. Letzteres geschieht mehrfach im überlieferten Werk Platons, in den „Nomoi“ (vgl. Platon,
eine wesentliche Eigenschaft für „echte“, „richtige“ Tradition zu fehlen scheint, nämlich die Weitergabe an die zur rechtmäßigen Gemeinschaft Gehörenden. 13 Vgl. zum Beispiel Assmann 2005, 271 f.; Pieper 1970, 46, 74 und Gerschenson/Iwanow 1948, 19. 14 Für eine Deutung der Diotima-Rede als Akt der Tradition vgl. Pieper 1970, 24. Als formaler Hinweis: Für die platonischen Texte wurde als Übersetzung herangezogen Platon 2011, alle wörtlichen Zitate stammen im Folgenden daraus. Für klassische Texte, die nicht wörtlich zitiert werden, erfolgt kein bibliographischer Nachweis.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Nom., 656d–657c),15 aber auch im „Timaios“ (vgl. Platon, Tim. 22e–25d). Zentral ist vor allem der Solon zugeschriebene Bericht über die Äußerung eines alten ägyptischen Priesters, der qua Solon sich insgesamt an die Athener wendet und sie einer ihrer Jugend geschuldeten Naivität und Unkundigkeit bezichtigt. Solon hatte zuvor, um von den Ägyptern Berichte aus deren früheren Zeiten zu erhalten, die ältesten ihm bekannten Sagen des hellenistischen Kulturraums wiedergegeben. Daraufhin erhob der Priester das Wort: Ach Solon, Solon! Ihr Hellenen seid doch immer Kinder, einen hellenischen Greis aber gibt es nicht. – Wie meinst du das? habe er [Solon; S.K.], als er das hörte, gefragt. – Jugendlich seid ihr alle, habe jener erwidert, in euren Seelen; denn ihr hegt in ihnen keinerlei alte, auf altertümliche Überlieferung gegründete Meinung noch ein durch die Zeit ergrautes Wissen. (Platon, Tim., 22b)16
Der Priester begründet die Jugendlichkeit der Athener, die ihrerseits durch Solon immerhin soeben vorzeitliche Sagen zu Deukalion und Pyrrha berichtet hatten, mit fehlenden Meinungen, also wohl Berichten, die gehört und übernommen sind von den Früheren. Ursache dafür ist ein – vom Priester auch auf geographisch-klimatische Bedingungen zurückgeführter – Abbruch des Überlieferungszusammenhangs, die Ägypter aber hätten gerade Kontinuität bewahrt.17 Warum ist Kontinuität relevant? Offensichtlich besteht eine wesentliche Qualität des Wissens und der Praktiken, um die es der Autor Platon der Figur Solon gehen lässt, in der Nähe zu einem fernen Anfang und der für die Qualität bedeutsamen Dauer. Wenn die kontinuierliche Verbindung abreißt, so der Priester, dann beginnt jedes Mal auf ein Neues der Bildungsprozess:
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Dort wird die Vorbildhaftigkeit des ägyptischen Kunstverständnisses betont wird, dessen Vorzug gerade daher stammt, sich fest an die vor zehntausend Jahren entwickelten Formen zu halten. Jan Assmann hat Platon hier dezidiert als Verteidiger des ägyptischen Traditionalismus gegen die griechische Neuschöpfungstendenz gelesen (vgl. Assmann 2005, 272). 16 Die für das Traditionsproblem entscheidende originalsprachliche Passage lautet: οὐδεμία ν γὰρ ἐν αὐταῖς ἔχετε δι᾽ ἀρχαίαν ἀκοὴν παλαιὰν δόξαν οὐδὲ μάθημα χρόνῳ πολιὸν οὐδέν. 17 Vgl. Platon, Tim., 22d–23b. Es sei erwähnt, dass Alfred Taylor in seinem Kommentar zwar die Ernsthaftigkeit des Priesters eingesteht, dessen Aussagen aber auch als ironisch zu nehmen einordnet und Platon an dieser Stelle einen gewissen Sarkasmus unterstellt, wenn er die Reichweite der griechischen Vergangenheit thematisiert (vgl. Taylor 1928, 53 f.). Wiewohl die Stelle sicher auch dadurch Humorqualität hat, dass sie mit dem attischen historischen Selbstverständnis spielt vor dem Hintergrund der urhistorischen Ägypter, so scheint Taylor dennoch den sachlichen Ernst an dieser Stelle zu gering anzusetzen. Platon verweist auf ein entscheidendes Problem, nämlich die Frage der Anfänglichkeitsnähe, der Dauer und damit Wahrhaftigkeit der griechischen Überlieferung.
2.2 Sokrates als Traditionskritiker
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[W]as sich aber, sei es bei euch [den Hellenen; S.K.] oder hier oder in einer der anderen Gegenden, die wir vom Hörensagen kennen, Schönes und Großes oder in einer anderen Beziehung Besonderes begab, das alles ist von alten Zeiten her hier in den Tempeln aufgezeichnet und bewahrt. Bei euch und den andern dagegen ist man jedesmal eben erst mit der Schrift und allem andern, dessen die Staaten bedürfen, versehen, dann bricht nach Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine Krankheit eine Flut vom Himmel über sie herein und läßt von euch nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten zurück, so daß ihr wiederum vom Anbeginn gewissermaßen zum Jugendalter zurückkehrt, ohne von dem etwas zu wissen, was sowohl hier als auch bei euch zu alten Zeiten sich begab. (Platon, Tim., 23a–b)
Wenn nicht mehr auf das Alte gehört werden kann, setzt erneut eine Phase kultureller Jugendlichkeit ein, die hier gleichwohl nicht, wie später bei Friedrich Nietzsche und in der Lebensphilosophie, mit Vitalität und Schaffenskraft positiv assoziiert ist,18 sondern mit Unwissenheit und Rückschritt. Die Alten, die Früheren sind daher positiv konnotiert bei Platon und ebenso diejenigen, die wie Diotima das Band der Überlieferung am Leben halten. Es kommt dabei jedoch nicht nur auf die Kontinuität des Weitergebens an, sondern je weiter das Wissen zurückreicht, um so näher ist es auch einem mit größerer Wertigkeit aufgeladenen Anfang. So spricht Sokrates im „Philebos“ von den „Alten, Besseren als wir und den Göttern Näherwohnenden“ (Platon, Phil., 16c),19 die eine bestimmte Sage übergeben20 hätten. Warum sind οἱ παλαιοί, die Alten, besser als Sokrates und seine Zeitgenossen? Offensichtlich deshalb sind sie es, weil sie näher am Ursprung und damit näher an den Göttern „wohnen“. Ihre Geschichten sind schlicht zutreffender, die Späteren wie Sokrates haben immer schon mit dem Defizit zu kämpfen, eine solche Nähe nicht mehr zu besitzen. Bliebe es bei diesem Bild, erschiene Platon als gleichsam vergangenheitsfixierter Denker, dem es um die Aufrechterhaltung eines uralten Überlieferungszusammenhangs ginge. Doch eine solche Charakterisierung wird den Schriften nicht gerecht, denn sie lässt sich kaum mit dem Sokrates vereinbaren, der in den Dialogen als Typus21 erkennbar wird. Er erscheint viel eher geradezu als 18
Exemplarisch findet sich diese Verbindung von Jugendlichkeit, Schaffenskraft und Befreiung vom Alten, von der kulturellen Last durchgespielt in Friedrich Nietzsches zweiter unzeitgemäßen Betrachtung. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 1, 249–254, 322 ff., 329. 19 Es heißt dort im Original: οἱ μὲν παλαιοί κρείττονες ἡμῶν καὶ ἐγγυτέρω θεῶν οἰκοῦντες. Zu den „Alten“ bei Platon vgl. auch Pieper 1970, 50. 20 Dort steht (vgl. Platon, Phil., 16c) παρέδοσαν da, also eine Aorist-Form von παραδίδωμι, dem Verb, zu welchem das lateinische „tradere“ etymologisch Bezug hat. Dies macht diese Stelle besonders bedeutsam. 21 Vgl. zu Sokrates als neuem Typus Böhme 1988, v. a. 19–48.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Traditionszerstörer, wenn er sich zum Beispiel nicht an die Gepflogenheiten der Prozesse22 oder die übliche Weise des Lehrens23 hält. Ebenso widerlegt er fortwährend renommierte Personen und vermeintliche Wissende oder gar Experten, so dass von einer autoritäts- oder ansehensfixierten Haltung nicht gesprochen werden darf. Wie passt das aber zum Lob der Alten? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt eine sicher unorthodoxe, vielleicht provokante, aber in der Sache weiterführende Reinterpretation der Umstände des Prozesses gegen Sokrates. Bekanntlich wurde er wegen Asebie angeklagt,24 behauptet aber selber in seiner Verteidigungsrede, die attischen Götter gar nicht entehrt zu haben (vgl. Platon, Apol., 26b–28a).25 Worin liegt dann die Verfehlung bzw. das Spezifische des sokratischen Agierens, welches eine solche Anklage und sogar Verurteilung möglich machte? Auf der Makroebene mag es so scheinen, als habe Sokrates sich im Hinblick auf Kritik an attischen Kernwerten, Kernpraktiken und wichtigsten Göttern nichts zuschulden kommen lassen. Begibt man sich jedoch in den mesokosmischen Bereich, also den öffentlichen, menschlichen Raum des unmittelbaren Miteinanders, stellen sich die Dinge anders dar. Hier erweist sich Sokrates eben doch als der Zerstörer des Üblichen, des Gewöhnlichen, des Immer-so-Gemachten. Zwei Beispiele verdeutlichen dies, erstens Sokrates‘ Umgang mit Laches, zweitens seine Replik auf eine These Anytos‘, der einer seiner Ankläger war. 22
Dies zeigt die Reaktion der Richter, die auf seine völlig ungewöhnliche (genauer: wider-konventionelle, provozierende) Strafmaßzumessungsrede hin das knappe Ergebnis der grundsätzlichen Verurteilung in ihrer zweiten Abstimmungsrunde wesentlich eindeutiger ausfallen lassen (vgl. Platon, Apol., 35e–36b). Es ist allgemein anerkannte Hypothese, dass die in der „Apologie“ geschilderten Abstimmungsergebnisse zutreffend sind, so dass man in dieser Hinsicht den literarischen Sokrates und sein Agieren mit hoher Wahrscheinlichkeit als dem historischen nahestehend ansehen kann. 23 Sokrates kokettiert sehr oft mit seiner Unfähigkeit, Reden im üblichen und von seinen Gesprächspartnern oft erwarteten Sinne halten zu können bzw. zu wollen (vgl. z. B. Platon, Alk. 1, 106b; Ders., Gorg., 449b, 461d–e oder Ders., Phaidr., 262d). Damit drückt er zugleich aus, sich nicht an diese etablierte Form der Interaktions- und Bildungskultur halten zu wollen. 24 Es wird im Folgenden nicht darauf ankommen, weiterführende Hintergründe der Anklage – etwa auf persönlicher oder struktureller Ebene (z. B. das Sykophantentum) – zu thematisieren, sondern es geht um die Explikation einer bestimmten Dimension der vielschichtigen Situation, die zur Anklage und Verurteilung Sokrates‘ geführt hat. 25 Sokrates‘ Treue gegenüber Athen und dessen maßgeblichen Aspekten belegt eindrücklich auch der fiktive Dialog zwischen Sokrates, der dabei die Position seines Freundes Kriton vertritt, und den attischen Gesetzen selbst, bei dem sich zeigt, dass den Gesetzen zuwiderzuhandeln illegitim ist (unter bestimmten Bedingungen, die aber für Athen als gegeben angesehen werden). Vgl. dazu Platon, Krit., 50a–54d.
2.2 Sokrates als Traditionskritiker
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Zunächst ist auf Laches zu kommen, einen Feldherrn, der in Athen, soweit dies die Quellen zu beurteilen gestatten, hoch angesehen war. Er war erfolgreich in Schlachten gewesen und handelte den Nikias-Frieden mit aus.26 Dieser Laches wird im Rahmen der Diskussionen, wie und wozu man Kinder erziehen und ausbilden sollte, nach dem Wesen der Tapferkeit befragt (vgl. Platon, Lach., 190d–194b). Wie vielen Gesprächspartner des Sokrates, so ergeht es auch ihm, er scheitert letztlich bei der Bestimmung der Tugend.27 Das Besondere und für die Traditionsproblematik Entscheidende zeigt sich jedoch, wenn man die Perspektive wechselt und diejenige eines fiktiven attischen „Normalbürgers“ einnimmt. Für ihn ist Laches als erfolgreicher Feldherr jemand, der im Hinblick auf die Kampf- oder Fechtkunst, die im Dialog den Aufhänger bildet, ebenso Experte ist wie im Hinblick auf die Frage nach der Tapferkeit. Anders formuliert: Wer, wenn nicht ein gestandener Kriegsteilnehmer, kann wissen, was es bedeutet, tapfer zu sein? Das Scheitern Laches‘ muss für den fiktiven Athener gleichsam irritierend sein, denn Sokrates rüttelt an dem gemeinsamen Hintergrund der attischen Gemeinschaft, dem „common sense“, den jede Menschengruppe notwendig ausbildet. Dieser regelt – oft eher implizit – zum Beispiel, wer in welcher Hinsicht ein geeigneter Ansprechpartner ist. Laches ist in Kriegs- und Tapferkeitsdingen bis zum Gespräch ein Experte, danach ist er es nicht mehr. Bedenkt man, dass Sokrates so oder so ähnlich mit allen derartig vom „common sense“ ausgezeichneten Personen verfährt, lässt sich verstehen,28 dass eine Polis im Interesse des notwendigen, durch Sokrates und seine Invektiven aber immer wieder gefährdeten tragfähigen gemeinsamen Regelungshintergrundes Intoleranzen entwickelt. Verstärkt wird diese Tendenz noch dadurch, dass Sokrates die entstehenden Leerstellen nicht mit neuen Experten füllen kann, gerade auch nicht durch sich selbst, wie seine viel zitierte Nicht-Wissens-Behauptung (vgl. Platon, Apol., 26
So spricht Thukydides von ihm als demjenigen, der vor dem Demos einen Antrag zur Annahme eines mit Sparta ausgehandelten Waffenstillstandes stellte (vgl. Thukydides IV.118.11) und der eben mit Nikias und anderen an der Aushandlung des Vertrags über den Frieden von 421 v. Chr. beteiligt war (ebd., V.19.2). Beide Ereignisse belegen den hohen Stellenwert Laches‘ in Athen. 27 Vgl. dazu Platon, Lach., 194a–b, wo Laches seinen eigenen seelischen Zustand nach dem Feststellen der Aporie im insgesamt freundlich und wohlwollend verlaufenen Gespräch so beschreibt: „Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte, und ich bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe, so gar nicht imstande bin zu sagen. Denn in Gedanken glaube ich es doch zu haben, was die Tapferkeit ist; ich weiß aber nicht, wie sie mir jetzt entgangen ist, daß ich sie nicht ergreifen konnte in der Rede und heraussagen, was sie ist.“ 28 Damit ist wohlgemerkt ein motivationales Nachvollziehen, kein Dulden oder gar Legitimieren gemeint.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
21d–22a) begründet. Sokrates raubt den Athenern ihre allgemein anerkannten Orientierungsstrukturen, ohne neue zu stiften. Ganz ähnlich zeigt sich dies an einer kleinen Stelle aus dem Dialog „Menon“, der insbesondere für die Erläuterung der Anamnesis-Lehre bekannt ist. Dort diskutiert Sokrates mit dem namensgebenden Menon über die Tugend, inwiefern sie lehrbar ist und was sie eigentlich auszeichnet. Anytos, der, wie erwähnt, einer der drei Ankläger des Sokrates wird, kommt nur kurz ins Spiel,29 nämlich als die These diskutiert wird, man könne Tugend von den unmittelbaren Mitmenschen lernen (vgl. Platon, Men., 92d–e). Sokrates ist skeptisch, woraufhin sich auf die Nachfrage, wer denn genau Lehrer der Tugenden sei, folgender Wortwechsel entspinnt: Anytos: Was braucht er [Menon; S.K.] dazu den Namen eines einzelnen Menschen zu hören? Denn auf welchen guten und rechtschaffenen Athener er auch treffe, da ist wohl keiner, der ihn nicht besser machen sollte als die Sophisten, wenn er ihm nur folgen will.
Sokrates: Sind denn aber diese Guten und Rechtschaffenen es von selbst so geworden, ohne bei jemand gelernt zu haben, und doch imstande, andere dasjenige zu lehren, was sie selbst nicht gelernt haben?
Anytos: Auch sie, denke ich, haben es von den Früheren gelernt, die auch gut und rechtschaffen waren. (Platon, Men., 92e–93a)
Sokrates weist im Anschluss an diese These Anytos‘ das Naheliegende nach, nämlich das auch die Früheren30 keine guten Lehrer gewesen sind und demnach die ihnen zugedachte Wirkung nicht haben. Dazu wird an im attischen Kontext angesehenen Personen der Geschichte – Themistokles, Lysimachos, Perikles und dem Politiker Thukydides – gezeigt, dass diese nicht einmal ihre eigenen Söhne haben zu guten Menschen erziehen können (vgl. Platon, Men., 93e–94e). Somit sind weder die unmittelbaren Zeitgenossen noch historisch herausragende Persönlichkeiten als Tugendlehrer geeignet. Es findet sich im Ergebnis dieselbe mesokosmische Destruktion, wie sie sich schon im Hinblick auf Laches und 29
Dabei zeigt sein Verhalten, wie wenig er charakterlich zur Philosophie geeignet ist und deutet die kommenden Verwerfungen mit Sokrates an (vgl. Platon, Men., 94e–95a). 30 Sprachlich sind das nicht οἱ παλαιοί, sondern οἱ πρότεροι, die dem Anfang näher als man selbst stehen, aber nicht im echten Sinne qualitativ anfänglich sind.
2.2 Sokrates als Traditionskritiker
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dessen vermeintliches Tapferkeitsexpertentum zeigte. Und genau diese Zersetzung des Mittleren scheint eine wesentliche Dimension zu sein, von der her die Anklage und ja letztlich die durch eine (wenn auch knappe) Mehrheit der Volksrichter gestützte Verurteilung verständlich zu machen sind. Das historische Recht der Anklage liegt in einem bestimmten Interesse der Gemeinschaft, das gegen Sokrates‘ philosophische Kritik sich zur Wehr setzt.31 Wie passen nun jedoch diese beiden Befunde – Lob Ägyptens und der παλα ιοί einerseits, Kritik an zeitgenössischen und früheren Personen, die gemeinhin als gut, vorbildlich, bewandert usw. gelten, andererseits – zusammen? Die beste Erklärung liefert die schon implizit vorgenommene Differenzierung des Bereichs, über den Platon hier Aussagen trifft. Während er die Sphäre des Mesokosmischen, also der menschlichen, gemeinsamen und historischen Sphäre, im Hinblick auf deren Wissens- und Praxisbestände kritisch betrachtet, lässt er zugleich in makrokosmischer Perspektive die Möglichkeit gottnaher, wenn nicht gar göttlicher Bestände zu.32 Nur Letztere scheint uneingeschränkt akzeptabel, aber sie ist, hat der ägyptische Priester recht, für die Hellenen ohnehin längst verloren. Wenn das stimmt, ließe sich ableiten, dass zwar im Prinzip eine echte, wahre Tradition für Platon nach ägyptischem Vorbild möglich wäre, de facto jedoch nicht besteht, weshalb seine Kritik auch dahingehend keine Konzessionen zu machen braucht.33 31
Um es noch einmal zu betonen, es geht nur um die motivationale Beurteilung, nicht um die sachliche. Rezeptionsgeschichtlich ist zudem festzustellen, dass die Ankläger gerade nicht so wahrgenommen wurden, wie das hier erfolgt ist, sondern eher als Pedant. 32 Das übersieht Josef Pieper, wenn er meint, bei Platon sei das objektiv stärkste Argument die von alters her kommende Überlieferung (vgl. Pieper 1970, 74). In manchen Kontexten greift Platon als Autor darauf zurück, aber in je spezifischen und die Sphäre des MenschlichMesokosmischen transzendierenden Zusammenhängen. Ganz sicher ist in vielen anderen Diskussionen die Berufung auf Tradition als Argumentationsstrategie ganz unplatonisch, zumal die Stellen, an denen auf einen Mythos rekurriert wird (Pieper bezieht sich zum Beispiel auf den Totengerichts-Mythos aus dem „Gorgias“ (vgl. Platon, Gorg., 523a–524a)), immer mit besonderen Umständen und gewissen Skrupeln seitens Sokrates‘ verbunden sind, was darauf hinweist, dass sich Platon als Autor der Problematiken bewusst ist. Vor diesem Hintergrund wie Pieper abzuleiten, mythische Überlieferung sei sein stärkstes Argument, übergeht diesen Befund. Es sei hier angemerkt, dass vielleicht auch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen Platon und Sokrates sowie zwischen verschiedenen Werkphasen Platons zu machen möglich sein könnte. Das mag einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben, in der vorliegenden Untersuchung spielt diese Perspektive keine Rolle. 33 Dem entspricht vielleicht als Parallele, dass die Sphäre der νόμοι der der φύσις entgegengesetzt wird (Platon kommt darauf z. B. in Platon, Prot. 337c–e), insofern die eine menschengemacht und veränderlich ist, die andere nicht. Platons Kritik betrifft immer die Menschensphäre, das Gesetzte. Generell zu dieser wichtigen Antithese vgl. Heinimann 1945.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Darum ist mit Sokrates wohl zu Recht von einer ersten Aufklärung zu sprechen, wenn denn Aufklärung schrankenlose Kritik bedeutet. Bevor der Ertrag, den man aus Platons Dialogen – in der Kürze, in der sie hier in den Blick genommen wurden34 – ziehen kann für die Frage nach der Tradition, pointiert werden soll, ist noch beachtenswert, wie es Sokrates eigentlich in den Gesprächen gelingt, das Mesokosmische zu destruieren. Von Interesse ist freilich nur die allgemeine Strategie, nicht jedes Detailargument, denn dieses ist immer vom empirischen Kontext – Was ist der verhandelte Gegenstand? Wer sind die Gesprächspartner und was zeichnet sie aus? Was ist das dramatische Setting? usw. – abhängig. Im Wesentlichen scheint eine Strategie entscheidend, die man explikativen Konstellationismus35 nennen kann. Der Grundgedanke lässt sich so fassen: Jedes beliebige Vorkommnis in der Welt mit Ausnahme der kleinsten Bestandteile kann verlustfrei in eine Struktur von Bestandteilen zerlegt werden. Dieses heute aus der Physik bekannte Modell wird im Rahmen des Konstellationismus universell angewendet, unter anderem – durch Platon – auch auf Wissensbestände. Wenn dieser Sokrates behaupten lässt, wer etwas wisse, müsse notwendig auch ein (guter) Lehrer seines Wissens sein,36 suggeriert dies, dass diese Person ihr Wissen in propositionaler Form, also in Form einzelner Sätze, verlustfrei ausdrücken und weitergeben kann; genauer sogar: ausdrücken muss, explizit machen muss, um es weiterzugeben. Die Lebenserfahrung zeigt jedoch oft, dass weder die verlustfreie propositionale Fixierung gesichert oder überhaupt möglich, noch dass die propositionale Weitergabe hinreichend für Lehrerfolg ist. Zu Platon als Kritiker des Menschlichen und Wiederentdecker des Natürlich-Kosmischen vgl. Braque 2006, 44–50, der Platon so als Überwinder einer sokratischen Revolution liest. 34 Das Wenige, das über den Gehalt der platonischen Dialoge gesagt wurde, reicht bei Weitem nicht hin für eine seriöse Deutung. Auch ist eine weitergehende Differenzierung der Dialoge nach Skopos, Entstehungszeit, ebenso im Hinblick auf die Dialogteilnehmer u. v. m. für eine hermeneutisch belastbare Interpretation notwendig. Eine solche ist hier freilich aber nicht erstrebt, sondern es soll nur um eine systematisch wie heuristisch fruchtbare Exegese im Hinblick auf Tradition gehen. Gleichwohl sei die Hypothese gewagt, dass mittels der aufgemachten Perspektive eine wichtige, oft nicht ausreichend gewürdigte Dimension platonischen Denkens sichtbar wird. 35 Der Begriff „Konstellationismus“ geht zurück auf Hermann Schmitz. Vgl. dazu z. B. Schmitz 2005, 10 ff., 27–32, 136 f. Das Wort „explikativ“ soll anzeigen, dass (Ver-) Äußerungen – seien sie schriftlich oder mündlich – unabdingbar sind. Schmitz selbst hat einen anders gelagerten, positiven Explikationsbegriff als terminus technicus, der hier aber dahingestellt bleibt (vgl. zu diesem Ders. 1994, 215–222). 36 Diese These etwa bei Platon, Alk. 1, 32e oder Ders., Men. 89d. Für Platon ist Wissen (ἐ πιστήμη) der Sache nach lehrbar, wenn daher kein Lehrerfolg nachzuweisen ist (und andere Hinderungsgründe ausscheiden), handelte es sich um kein Wissen.
2.2 Sokrates als Traditionskritiker
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Richard Sennett hat anhand des Beispiels Antonio Stradivaris zu zeigen versucht, inwiefern oft gerade Nicht-Expliziertes und grundlegend Nicht-Explizierbares Wissen37 sein kann: Seit nahezu dreihundert Jahren versuchen Geigenbauer, […] die Geheimnisse um Stradivari und Guarneri del Gèsu zu lüften, die mit deren Tod starben. […] Was in diesen Analysen fehlt, ist eine Rekonstruktion der Werkstätten dieser Meister – oder genauer, es fehlt ein Element, das unwiederbringlich verloren ist: die Allgegenwart des stillschweigenden, unausgesprochen und nicht in Worte gefassten Wissens, das dort zur Gewohnheit wurde und in den tausend alltäglichen Bewegungen steckte, die in ihrer Summe eine bestimmte Praxis ausmachen. […] In einer Werkstatt, in der die Individualität und das herausragende Können des Meisters den entscheidenden Faktor darstellen, besitzt auch das stillschweigende, implizite Wissen die größte Bedeutung. (Sennett 2008, 108 f.)38
Stradivari hätte den sokratisch-platonischen Test auf Wissen nicht bestanden, denn er hatte nur mäßig erfolgreiche Schüler in seinen beiden Söhnen, vor allem aber konnte er sein Wissen nicht in explikative Konstellationen umwandeln. Und dieser Test wird auch den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Experten im attischen Kontext zum Verhängnis.39 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das, was da im mesokosmischen Bereich übergeben wird, in einem Spannungsverhältnis zu explikativen, vereinzelnden Zugriffen steht. Sokrates kann das rhetorisch wie philosophisch nutzen, da sein Wissensverständnis daran gekoppelt ist. Seine Ankläger wiederum bemerken vermutlich nur dumpf, aber nicht gänzlich unberechtigt, dass dort etwas Wesentliches beeinträchtigt wird, ohne jedoch das philosophische wie rhetorische Rüstzeug – und übrigens oft auch nicht die charakterliche Eignung – zu haben, um Sokrates standzuhalten. Was ist nun mittels dieses knappen Exkurses in den platonischen Gedankenkosmos für die Frage nach der Tradition gewonnen? Es sind vier Aspekte beachtenswert. Zum einen ist Platon sensibel für unterschiedliche Reichweiten von historischen Überlieferungszusammenhängen, und die Reichweite dient ihm zur (auch normativen) Differenzierung. Was älter ist, ist hochwertiger. Damit 37
Dahinter steht auch eine Veränderung dessen, was als Wissen gilt. Diese Begriffsverschiebung muss aber im Rahmen des hier verfolgten systematischen Interesse unberücksichtigt bleiben. 38 Generell zur Stradivari-Deutung vgl. Sennett 2008, 104–112. Zu diesem Hinweis auf den Instrumentenbau als einen Bereich, in dem sich die Wirkung von Traditionen besonders gut studieren lassen, lieferte zuletzt Matthew Crawford weitere Überlegungen, wenn er auch im Rahmen seiner pragmatistisch und phänomenologisch operierenden Arbeit den Begriff „Tradition“ nicht in den Mittelpunkt stellt (vgl. Crawford 2016, z. B. 303–358). 39 So auch der Sache nach die Interpretation bei Schmitz 2014, 28.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
geht zweitens einher die Reflexion auf die Bedeutung der Qualität der Quelle einer solchen diachronen Kette. Wenn sie zeitlich nicht weit entfernt ist oder ohne Kontakt zu einer anderen als bloß „normal-menschlichen“ Entität – seien es Götter, Halbgötter oder wenigstens Heroen –, dann gilt sie wenig(er). Drittens kann man am Dargelegten lernen, dass die Machbarkeit, gezielte Veränderbarkeit und überhaupt die menschenbezogene Genese an der Werthaftigkeit des Bestandes, der als Tradition imponieren soll, Zweifel säen. Vielleicht nicht ohne Grund sprechen eben ein Priester und eine Priesterin und an anderen Stellen Mythen bestimmte Zusammenhänge aus. Schließlich muss viertens das problematische Verhältnis der Geltung von etwas im mesokosmischen Bereich und der propositionalen, wissensmäßigen Explikation desselben betont werden. Die durch Sokrates in den Dialogen vollzogene Destruktion der vermeintlichen Experten zeigt, dass diese dem Explikationswunsch Sokrates‘ nicht nachkommen können, obwohl sie es mitunter sogar wirklich wollen40 und obwohl sie in praktischen Zusammenhängen sehr wohl richtige Handlungen vollziehen mögen. Gleichwohl schließt das Scheitern der Explikation ein fortgesetztes Gelten aus. Dieses Motiv wird bei Platon zwar zumeist von konkreten Menschen her gedacht, lässt sich aber ohne Weiteres auf Praktiken, Gewohnheiten und eben auch Traditionen ausdehnen. Insgesamt liefert sein Werk damit vier bedeutende Hinsichten, die in verschiedenen Variationen auch andere Denker beschäftigt haben, bleibt aber hinsichtlich des Traditionsthemas mehr Fundgrube als systematische Erörterung.41 40
Dafür ist Laches ein schlagendes Beispiel, seine Unzufriedenheit mit sich selbst ob des Scheiterns, die schon zitiert wurde, kann als ernstgemeint und aufrichtig gelten. 41 Es dürfte überraschen, dass kein Kapitel zur lateinischen Philosophie – etwa Cicero, Lukrez, Seneca und anderen – in einer Arbeit zu finden ist, die ihren Fokus auf einen genuin lateinischen Begriff legt. Dies ist aber dadurch legitimiert, dass augenscheinlich der Quellen abgesehen vom schon geschilderten juristischen Gebrauch keine nennenswerte und philosophisch relevante Erweiterung des Begriffs passiert. Erst mit dem jüdisch-christlichen theologischen Denken kommen neue Dimensionen ins Spiel. Wiedenhofer betont in diesem Sinne, dass das Wort eher auf eine ganz alltägliche, keine besondere Sache verweist und zudem im römischen Kulturkreis eben nur im juristischen Bereich strenge Gebrauchsnormierung erfährt, ansonsten nicht technisch wird (vgl. Wiedenhofer 1990, 609–613). Auch die von Peter G. W. Glare versammelten zehn semantischen Pointierungen verweisen zwar auf eine Differenzierung des Feldes, auf dem etwas übergeben wird, auch desjenigen, an den oder an das übergeben werden kann, sowie dessen, was als Tradierens-Objekt in Frage kommt, aber einen Niederschlag einer inhaltlich vertiefenden semantischen Reflexion stellt das wohl nicht dar (vgl. Glare 2010, 1956). Folgt man der Interpretation Arendts, ist Tradition neben Autorität einer der entscheiden Faktoren des römischen politischen Lebens. Dabei gilt, nach Arendt, Tradition als „die Vorstellung von der Heiligung der Vergangenheit durch Überlieferung“, und sie sicherte Autorität, sofern „der Faden dieser Überlieferung nicht abbrach“ (Arendt 1994, 190; vgl.
2.3 Tradition in theologischer Perspektive
2.3
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Tradition in theologischer Perspektive
Für den westlichen Kulturkreis sind die semantischen Bahnungen, die durch die jüdisch-christlichen theologischen Reflexionen entstanden, in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Den Ausgang nimmt das theologische Verständnis vom jüdischen Rekurs auf Tradition.42 Dieser ist zwiespältig, insofern neben die mit der Thora unmittelbar verbundene Überlieferung die zunächst mündliche43 rabbinische Auslegungstradition tritt. Ursache für diese Doppelstruktur ist das Bestreben der Religionshüter, die alten, heiligen Schriften an neue Umstände anzupassen (vgl. Stemberger 2011, 26). Mit der Zeit wurden diese Kommentare dann selbst kanonisch, wobei beachtenswert ist, dass das Judentum einen starken Fokus auf die Kontinuität der Überlieferungskette legte. Der Titel „Rabbi“, der in etwa „Lehrer“ oder „Meister“ meint, ist unmittelbar an das Bestehen einer fortgesetzten Schüler-Lehrer-Kette gebunden, wie schon erwähnt wurde. Die besondere Beachtung des Ketten-Motivs44 im Judentum beleuchtet auch eindrucksvoll folgende Erzählung über den Rabbi Hillel, der um Christi Geburt herum lebte: generell zum römischen Traditionskonzept ebd., 187–192). Auch dies bleibt sehr allgemein und unspezifisch. Der These, die Begriffe „Autorität“ und „Tradition“ seien aus Rom kommend „maßgeblich für den größten Teil der Geschichte des abendländischen Denkens und westlicher Kultur“ geworden (ebd., 191), ist jedoch für den Begriff „Tradition“ überzogen, denn zum einen wird dieser erst prominent thematisch in viel späteren Zeiten, ist lange ein eher alltägliches Konzept mit geringerer theoretischer „Schwere“, und zweitens erfährt er die für die westliche Kultur vielleicht wirklich prägende Spezifizierung viel stärker durch christliche und später romantische Deutungen sowie aufklärerische Kritiken. 42 Im Hebräischen scheinen nach Auskunft von Paul Mendes-Flohr (vgl. dazu die Diskussion des Beitrags in Wiedenhofer 1990, 267) am ehesten „masoret“ („weitergeben“) und „kabbalah“ („empfangen“) semantisch das einzufangen, was lateinisch „traditio“ genannt wird. Auch Theodore Kwasman hält „masoret“ für den hebräischen Entsprechungsterminus: „Für den Begriff Tradition wird im rabbinischen Judentum als genereller Terminus in der Regel masoret benutzt. Der Begriff wird zum einen von der Wurzel ‘sr ‚binden, fesseln, halten‘ abgeleitet […], zum anderen aber auch von der Wurzel msr ‚übergeben, weitergeben‘.“ (Kwasman 2002, 701). Mit „masoret“ sei aber nur die mündliche Überlieferung gemeint, nicht die schriftliche der Thora (vgl. ebd., 703). Abweichend davon meint Rösel wiederum, es gebe im Hebräischen überhaupt kein traditio-entsprechendes Lexem (vgl. Rösel 2002b, 691). 43 Deren Verschriftlichung war freilich nicht unumstritten (vgl. Stemberger 2011, 50). 44 Die Kette verbürgt dabei nicht nur historische und personelle Kontinuität, sondern vor allem die Güte des Gehalts. Vgl. z. B. Jer. 6.16, wo es heißt: „Stellt auch an die Wege und haltet Ausschau, fragt nach den Pfaden der Vorzeit, fragt, wo der Weg zum Guten liegt; geht auf ihm, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“ Zu dieser Stelle vgl. auch Gross 1992, 15. Alle wörtlichen Zitate aus der Bibel sind entnommen aus (Die) Bibel 1999.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Die Frage, ob man das Pesachopfer an einem Sabbat zubereiten darf, der mit dem 14. Nisan zusammenfällt, beantwortet Hillel positiv. Er begründet dies mit einem Schluss vom Leichteren auf das Schwerere […], mit einem Analogieschluss […] und mit einer Sachanalogie […]. Alle logischen Ableitungen Hillels können seine Zuhörer, die Sippe von Batyra, nicht überzeugen, bis er sich dafür auf seine Lehrer Schemaja und Avtaljon beruft, also die Tradition für sich in Anspruch nimmt. (Stemberger 2011, 28)
Die eigentlich zwingenden rationalen Argumente der hermeneutischen Auslegung der religiösen Gebote werden erst akzeptiert, als sich Hillel in die Lehrer-SchülerKette reiht. Dass ein so großer Fokus auf das Fortbestehen der Kette gelegt wird, ist angesichts der Geschehnisse des mehrfachen Exils und der Diaspora der Juden historisch wie motivational leicht nachzuvollziehen. Man kann es geradezu als Aufgabe der Religion des Judentums sehen, den lebensweltlich nicht mehr gegebenen Zusammenhalt der Juden als Volk durch generationelle Treue zu sichern.45 Vor diesem Hintergrund hat Jan Assmann gute Gründe, die Mose-Religion gegen den Monotheismus Echnatons als eine Religion der Treue zu stellen. Assmann sei klar geworden, dass eine […] Konzentration oder Reduktion der Religion auf die Wahrheitsfrage in Bezug auf das vorexilische Israel ein Anachronismus ist. Hier geht es um etwas ganz Anderes, das als höchster Wert ins Zentrum gestellt wird: Treue. Nicht zwischen wahr und falsch gilt es zu unterscheiden, sondern zwischen Treue und Verrat, und zwar in Bezug auf den Bund, den JHWH mit den Kindern Israels schließt […]. „Glaube“ heißt im Alten Testament dasselbe wie „Treue“ […]. Der „Monotheismus der Treue“ ist das weltverändernd Neue, das mit der biblischen Religion in die Welt kommt. (Assmann 2015, 11 f.)46
Was so in theoretischen Worten ausgedrückt wird, liest sich als paradigmatische Deutung der Hillel-Erzählung. Nicht, ob eine Sache wahr oder falsch ist, ist entscheidend, sondern die Frage, ob sie in treuer Fortsetzungsbeziehung zum Vorherigen steht. Werner Kümmel fasst dies so:
Parallel zur zitierten Bibelsentenz ist vielleicht ebenso der Kirchenvater Johannes Cassian im 4./5. Jahrhundert zu lesen, der meint: „Keiner nämlich kann getäuscht werden, der nicht nach seinem eigenen Urteil, sondern nach dem Beispiel der Vorfahren lebt.“ (Cassian 2011, 97 (collatio 2.10)). 45 Es ist sicher zutreffend, von der Weitergabe der religiösen Gehalte im Judentum als einer väterlich-elterlichen Verpflichtung zu sprechen (vgl. Kwasman 2002, 702). 46 Zwar spricht Assmann hier vom vorexilischen Judentum, der Fokus auf die Treue bleibt aber insgesamt wesentlich.
2.3 Tradition in theologischer Perspektive
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Nicht darauf kam es also den Juden an, daß sie ein Gesetzbuch hatten, sondern daß Gott durch seine einmalige Offenbarung den Vätern seinen Willen gezeigt hat, und daß diese Offenbarung weitergegeben wurde und wird. […] [D]ie ganze Gesetzesanschauung des Judentums [ist] vom Traditionsgedanken beherrscht […]. (Kümmel 1934, 117)
Kontinuität der Weitergabe wird zur obersten Pflicht, wobei aber der Inhalt der Tradition im Interesse anwendungsbezogener und hermeneutischer Flexibilität undogmatisch verstanden wird. Nur ein solcher „Traditionsglaube garantierte die Lebendigkeit der einmaligen Offenbarung und die Gegenwärtigkeit des den Vätern offenbarten Willen Gottes.“ (Kümmel 1934, 118) Die Tradition begleitet gleichberechtigt die Schrift (vgl. Kümmel 1934, 112 ff.). Folgt man Kümmels Analysen, zeigt sich gerade am Umgang mit Tradition der Bruch zwischen Judentum und Christenheit. Jesus wird dieser zu der Person, die sich von der Tradition als einer menschengemachten, aktualisierenden Schriftparallele abkehrt: Aber nun ist das Merkwürdige, das für den Rabbinen Erschreckende […], daß Jesus d[as] tiefere Verständnis des Willens Gottes nicht durch genauere Auslegung des Gesetzeswortes und auch nicht durch Anschluß an die Tradition findet, sondern einfach erklärt: „Ich aber sage euch“. […] Warum aber wagt es Jesus, so die Wurzel des jüdischen Gesetzesglaubens abzuschneiden? Weil er den Anspruch erhebt, unmittelbar Gottes Willen zu wissen […]. Wer aber von Gott einen solchen besonderen Auftrag erhalten hat, wer den Gotteswillen für die Menschen der Endzeit verkündet hat, der braucht keine Tradition mehr. Denn gerade darum war der Traditionsglaube entstanden, weil man sich den Willen Gottes für die Gegenwart nur sichern konnte, wenn man streng an der einmal in ferner Vergangenheit geschehenen Offenbarung festhielt und sie weitergab. Und gerade das brauchte Jesus nicht. (Kümmel 1934, 126 f.)
Jesus hat unmittelbaren Zugriff auf das, was im Judentum nur mittels Tradition hat lebendig gehalten werden können. Deshalb ist er gegen die jüdische Tradition kritisch, wie deutlich die auch von Kümmel angeführte Stelle aus dem MatthäusEvangelium zeigt: „Da kamen die Jünger zu ihm und sagten: Weißt du, dass die Pharisäer über deine Worte empört sind? Er antwortete ihnen: Jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden.“ (Mt. 15.12) Was ändert sich hier genau? Die Tradition wird als legitime Glaubensquelle negiert, es gelten fortan nur das geschriebene Wort und die Weisungen Jesu. Noch Paulus bereits zitierte Bekundungen, nichts als das weitergegeben
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zu haben, was er empfing (vgl. 1 Kor. 15.3),47 sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Als Konvertit war Paulus vermutlich besonders sensibel für die Verschiebungen im Hinblick auf das Traditionsverständnis. Kern dieses Wandels ist, so kann man zusammenfassend sagen, eine Wendung gegen die als arbiträr und menschengemacht, das heißt unheilig erkannten Anpassungen und Aktualisierungen der rabbinischen Sphäre.48 Gleichwohl wandelt sich dieser jesusbezogene Rigorismus alsbald, denn auch das Christentum sieht sich vor die Herausforderung gestellt, bis auf Weiteres die Lehren des verstorbenen Gottessohnes bewahren zu müssen.49 In diesem Sinne wird „traditio“ zunehmend zu einem Leitbegriff auch des genuin christlichen theologischen Denkens. Zwar zeigen die Evangelien rein sprachlich keine weite Verbreitung des „tradere“-Lexems, aber die Sache selbst ist zweifellos präsent (vgl. Congar 1965, 29).50 Ab dem 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert tritt der Rekurs auf Tradition deutlich hervor, das heißt, auch das Christentum sieht sich nun gezwungen, wie zuvor das Judentum, auf eine Form menschenbedingter diachroner Stabilisierung zu setzen. Dafür scheint als erster Kirchenvater wohl Irenäus sensibel gewesen zu sein.51 Kehrt damit aber schlicht das alte, vorjesuitische und vorpaulinische Denken zurück? Das ist nur oberflächlich betrachtet der Fall, eine genauere Analyse zeigt, dass mindestens ein wesentlicher Unterschied besteht. Während die jüdische Tradition als erklärende, auslegende mit den Schriftzeugnissen zunächst mündlich, später verschriftlicht einherging, stets Bezug nahm auf konkrete Rabbiner und damit „normale“ Menschen, besteht der Kern des christlichen Traditionsgedankens darin, dass es Traditionen immer auf 47
An dieses Verständnis glauben manchen Theologen, heute wieder anknüpfen zu können (vgl. Wendebourg/Brandt 2001, 1 f.). 48 Vgl. dazu Congar 1965, 20 f.: „Jesus hat sich, wenigstens formal, oft jener Methode bedient, die in der Tradition üblich war, das heißt der treuen Wiedergabe der Lehre eines Meisters, wie es im Judentum gebräuchlich war. […] Jesus verwirft nicht das Prinzip der Tradition, sondern deren Mißbrauch, der mit ihr getrieben wurde, indem man eine Überlieferung, die von Menschen stammte, höher achtete als das, was Gott selbst ihnen anvertraut hatte mit dem Auftrag, es weiterzugeben. Deshalb findet man im Munde Jesu selbst das Wort Tradition nur mit negativem Vorzeichen.“ 49 Dabei ist es bekanntlich so, dass das kommende Weltende (und damit das Ende des Überliefern-Müssens) anfangs in unmittelbarer zeitlicher Nähe terminiert wurde, jedoch der Zeithorizont immer weiter ausgedehnt werden musste. Vgl. dazu einige Bemerkungen auch bei Koselleck 2020, v. a. 19–28. 50 Etwas anders schätzt die Sachlage Deneffe ein, der für die Vulgata fast 500 Stellen mit Formen von tradere, 14 mit traditio und eine mit traditor angibt (vgl. Deneffe 1931, 5). 51 Vgl. zum beginnenden Traditionsdenken ab dem 2. Jahrhundert Deneffe 1931, 29 und Kasper 1985, 377.
2.3 Tradition in theologischer Perspektive
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die Apostel zurückführt. Apostel aber sind ihrem Wesen nach gerade nicht eigenständige Ausleger, sondern Boten von etwas anderem, das ihnen nur übergeben wurde. Insofern hat Oscar Cullmann recht, wenn er aussagt, „daß eine Tradition, nämlich als Überlieferung der Apostel, besteht, über die sich das Neue Testament sehr positiv ausspricht, während es die sogenannte erklärende Tradition, welche die Rabbinen neben oder sogar über die Schrift gestellt haben, bewußt ablehnt.“ (Cullmann 1954, 7) Es wird damit die Gottesnähe der Tradition zum entscheidenden Merkmal. Sofern etwas als von den Aposteln herkommend klassifiziert werden kann (worüber freilich nicht selten Streit bestand), erfüllt es das Merkmal des Traditionellen. Die Kirche als Institution wiederum schwang sich mehr und mehr – und im Hochmittelalter geradezu dogmatisch – dazu auf, die Güte der Tradition zu bewahren,52 in Streitfällen zu entscheiden usw., weshalb es zum Beispiel möglich war, dass das Konzil von Trient von sich selbst aussagte, es tradiere (vgl. Deneffe 1931, 62). Bedeutsam ist neben dieser Verbindung von Validität und Gottesnähe auch, dass der Tradent als Medium gedacht wird. Das, was übergeben wird, ist nicht Eigentum einer Person, sondern ist ihr zur Vermittlung bloß (vorübergehend) überlassen. Der Tradent wird mediatisiert, die Überlieferung, insbesondere der Überlieferungsgehalt, selbst aufgewertet. Symptomatisch dafür ist die von Cullmann gemachte Beobachtung, dass schon Paulus an die Stelle von παράδοσις („Überlieferung“) das Wort κύριος, also „Herr“, setzt (vgl. Cullmann 1954, 8). Der Gehalt wird selbst zum bestimmenden Gott, der Tradent zu einem primär passiven Mittler. Ein solches Verständnis unterscheidet sich grundlegend vom jüdischen, zumal noch deshalb, weil die Rolle des einzelnen Menschen hinter dem Depositum, dem überlieferten Gehalt, still verschwindet. Das „anvertraute Gut“ wird zum Dreh- und Angelpunkt des christlichen Traditionsdenkens53 . Diese Betonung der medialen Funktion des Tradenten hat zudem wichtige Folgen im Hinblick auf Ethik, wenn man darunter im weiten, antiken Sinne die Suche nach der guten Lebensweise bzw. Lebensführung versteht. Wenn es um die möglichst unversehrte Weitergabe geht, setzt dies voraus, dass der Einzelne sich zurücknimmt. Dies muss als einer der Gründe gesehen werden, warum die Demut als
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Vgl. dazu Müller 1953, 172 und Deneffe 1931, 160. Vgl. dazu Congar 1965, 36. Dort wird auch richtig festgestellt, dass schon die Apostel auf diese Weise zu bloßen Mittlern werden. Diese verfügen, muss man sagen, über keine besondere exegetische oder hermeneutische Kompetenz, sondern es ist allein die Gottesnähe, die sie auszeichnet. Das unterscheidet sie von Rabbinen. Der enge Depositumsgedanke wird in der einen oder anderen Weise maßgeblich auch für moderne Traditionstheorie, etwa bei Guénon 2020, 41, 48, 145; Ziegler 1936, 341, 376 oder Pieper 1970, 58 ff., 71, 82–90.
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eine der zentralen christlichen Tugenden zu gelten hat. Schon Johannes Cassian, ein Kirchenvater des 4./5. Jahrhunderts, hat die Funktion der Demut beim Tradieren gesehen und betont: Die erste Bewährungsprobe der Demut wird es sein, wenn wir nicht nur all unser Vorhaben, sondern auch all unsere Gedanken der Prüfung durch die Älteren unterziehen, damit jeder, der seinem eigenen Urteil nicht traut, in allen Dingen durch die Bestimmung jener zur Ruhe komme und durch ihre überlieferte bewährte Lehre erkenne, was er als gut und böse beurteilen soll. (Cassian 2011, 96 (collation 2.10))
Das gute Leben wird erreicht, indem man demütig54 sich an das hält, was auf einen überkommen ist, und indem man dies tut, tradiert man es weiter. Dieser Gedanke, der sich bei vielen weiteren Denkern finden lässt und hinter der christlichen Kritik auch an der modern positiv konnotierten Tugend der Neugier steckt,55 verweist auf das im theologischen Denken wichtige Motiv, dass sich die Tradition und der aktive Zugriff durch beliebige Individuen in einem konfliktträchtigen Spannungsverhältnis befinden. Gerade deshalb hat die katholische Kirche vehement den Individualismus der Reformation kritisiert, weil sie in diesem einen Feind der Tradition sah.56 Zusammen jedoch mit dem Denken an das Depositum und die Demut kommt ein anderer Aspekt des jüdischen Verständnisses gleichsam unbemerkt wieder stärker in den Blick, nämlich das Motiv der ununterbrochenen Traditionskette. Wenn es ein Depositum gibt, welches unbedingt diachron zu erhalten ist, muss das Abreißen des Überlieferungsstranges unter allen Umständen verhindert werden. Und andersherum: Was nicht in dieser Kette steht, kann prima facie keine Tradition sein. Gregor von Nyssa scheint darauf zunächst hingewiesen zu haben (vgl. Deneffe 1931, 45), besonders deutlich wird dies aber im durch den Protestantismus herausgeforderten Katholizismus des 16. Jahrhunderts. Das bereits 54
Demut ist in aktuellen Diskursen oft unterkomplex als Unterwerfung gedacht, was der Sache aber nicht gerecht wird, denn Demut setzt richtige Einsicht in die eigene Weltposition voraus (vgl. so etwa Aquin, Summa, II.II.161.6). Sie ist zum Beispiel falsch, wenn sie einem Niederen gegenüber an den Tag gelegt wird. Viele differenzierende und kluge Beobachtungen in dieser Sache sind zu entnehmen Puchta 2021. 55 Vgl. dazu wichtige Hinweise bei Bös 1995; Braque 2006, 160; Marrou 1982, 297. Auch Hans Blumenberg verweist ähnlich darauf, dass die Kirchenväter (bei ihm in der Person Tertullians) Neugierde für „stumpfsinnig“ hielten (vgl. Blumenberg 1987, 49). 56 Als sehr spätes Zeugnis davon noch Guénon 2020, 90: „[…] man kann unschwer feststellen, dass es sich dabei [beim Protestantismus; S.K.] um eine Manifestation des Individualismus handelt, was so sehr zutrifft, dass man sagen könnte, dies sei nichts anders als der Individualismus selbst, wenn man ihn in seiner Anwendung auf die Religion betrachtet.“
2.3 Tradition in theologischer Perspektive
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erwähnte Konzil von Trient nennt explizit fünf Bedingungen, die Lehren als Traditionen auszeichnen: Sie [die Lehren; S.K.] sind von Gott offenbart. […] 2. Sie sind den Aposteln übergeben und von ihnen entgegengenommen […]. 3. Sie sind von den Aposteln her bis zu uns gelangt […]. 4. Sie sind durch die ununterbrochene Sukzession, d.h. durch die Reihe der Nachfolger der Apostel, bewahrt worden […]. 5. Sie sind als göttlich offenbarte Lehren mit gleicher Ehrfurcht vom Konzil aufgenommen, wie die Bücher der Hl. Schrift […]. (zitiert nach: Deneffe 1931, 72)
Die Punkte 1 bis 4 sichern die Kette der ununterbrochenen Herkunft der Tradition von Gott ab.57 Punkt 5 betont deren Gleichwertigkeit mit der Bibel, was insofern konsequent ist, da nun beide – Tradition wie Schrift – göttlichen Ursprungs sind. Daraus wird aber ersichtlich, dass der Tradent notwendig verschwinden muss hinter dem Depositum, diesem darf er eigentlich nichts hinzufügen.58 Originalität und Genialität des Tradenten stehen im Widerspruch zur Aufgabe, das heilige Depositum weiterzugeben. Mit dem Konzil von Trient ist jedoch eher das Ende denn der Beginn der katholischen Reflexion auf Tradition thematisiert. Es fehlt ein Blick auf das Jahrtausend davor. In den ersten Jahrhunderten nach Irenäus sei, so August Deneffe, keine theoretische Arbeit am Begriff festzustellen (vgl. Deneffe 1931, 39). Diese setzt erst ein mit zwei wesentlichen intellektuellen Bewegungen, einerseits der Scholastik,59 andererseits dem Entstehen des Protestantismus. Letzterem muss sich noch zugewendet werden, auch wenn einiges Relevantes schon in der Exposition zur Sprache kam. Bereits die französischen Enzyklopädisten haben den Streit zwischen Katholizismus und Protestantismus – auf einer intellektuellen Ebene jenseits der politischen Dimensionen – in Verbindung gebracht mit der Tradition, insofern zur Disposition steht, ob es eine auf Gott zurückführbare Tradition außerhalb der Schrift gibt oder nicht (vgl. Jaucourt 1765b, 508). Das sola scriptura-Prinzip verneint dies, das Konzil von Trient will es dagegen begründet bejahen (vgl. Ratzinger 1966, 296). Was Luther und andere aber durch ihre Kritik an bestehenden Praktiken, von denen der Ablasshandel nur die bekannteste darstellt, ungewollt leisten, ist ein Reflexionsschub. Die katholische Kirche 57
Es ist Peter Sloterdijk, der das Wesen der Moderne gerade in dem bewussten Abbrechen solcher diachronen Ketten gesehen hat. Vgl. Sloterdijk 2014 und Abschn. 3.17 dieser Arbeit. 58 Viele theologische Diskurse des Mittelalters sind vor diesem Hintergrund zu lesen als Versuche, eine vermeintliche Neuerung gerade als von den Aposteln herkommend zu erweisen, indem etwa die neue Auslegung als in den früheren Texten implizit enthalten erwiesen wird. 59 Zu dieser vgl. das folgende Abschn. 2.4.
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sieht sich gezwungen, genau anzugeben, unter welchen Bedingungen etwas als genuine, traditionelle Praxis gelten kann, wann nicht. Mit dem Konzil liegen die wesentlichen Ergebnisse der durch Luther ausgelösten Reflexionsnötigung vor. Damit kann, über den theologischen Kreis hinaus, gegen den verbreiteten Topos argumentiert werden, erst die Aufklärung habe den Traditionsbegriff hervorgebracht (vgl. Litt 1951, 311). Das theologische Denken war lange zuvor schon selbst auf den Begriff gestoßen und hat ihn thematisiert. Der Protestantismus wendet sich von den nur qua Kirchenlehre oder qua (mitunter zweifelhafter) apostolischer Herkunft legitimierten Praktiken und Dogmen ab, der Schrift zu. Diese freilich muss ausgelegt werden, denn sie ist nicht mehr direkt auf die Welt des 16. Jahrhunderts beziehbar. Auf diese Weise jedoch fängt auch der Protestantismus an, Auslegungstraditionen zu entwickeln, die freilich immer an Geltung und Validität hinter der Schrift zurückbleiben. Im Hinblick auf Traditionen kann man daher festhalten, dass die Reformation schriftfundamentalistisch und antitraditionell war.60 Das Konzept der Tradition bleibt im theologischen Rahmen die nächsten Jahrhunderte relevant (vgl. Müller 1953), rückt jedoch nun verstärkt in andere Diskursbereiche ein. Was es – abstrakt verstanden – eigentlich ist, bleibt keine theologische Frage mehr, sondern wird von generellerem Interesse. Um den Gang durch die Theologie abzuschließen, sei aber noch ausblickhaft gezeigt, dass auch in der Gegenwart die theologische Besinnung auf den Traditionsbegriff angewiesen ist.
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Eine in Teilen andere Perspektive bietet Ebeling 1962, 978 f., wo der Protestantismus wie folgt verstanden wird: „Nicht T[radition]alismus, sondern ‚Enthusiasmus‘ […], Nichtachtung des verbum externum […] wird deshalb reformatorischerseits dem kath. T[raditions]verständnis vorgeworfen. Gerade um der Wiederherstellung und Reinhaltung der wahren Ü[berlieferung] willen schließt das ‚Sola Scriptura‘ die Beiordnung der T[radition] aus. Insofern wäre das ‚Schriftprinzip‘ gerade ein streng gefaßtes T[raditions]prinzip, für das jedoch diese Bezeichnung nicht beansprucht wird […]. Das ‚Sola Scriptura‘ ist darum – entsprechend der hermeneutischen Funktion der T[radition] im kath. Verständnis – nur als hermeneutische These […] reformatorisch verstanden.“ In deskriptiver Hinsicht hat Gerhard Ebeling sicher recht mit dem, was er beschreibt, aber er unterschlägt mit der Behauptung, die Reformation habe nur nicht auf den Begriff bestanden, die Sache aber sogar „eigentlicher“ beibehalten, gerade einen wichtigen sachlichen Unterschied. Schon seit der jüdischen Tradition ist der Begriff für eine jenseits der Schrift stehende Überlieferung genutzt worden, die eben durch die Reformation in ihrer Berechtigung bestritten wird. Wenn daher gemäß dem sola scriptura-Prinzip allein die Schrift maßgeblich wird, bedeutet dies zugleich einerseits eine Absage an die über 1500 Jahre alte Begriffsgeschichte, zum anderen aber auch eine semantische Verschiebung.
2.3 Tradition in theologischer Perspektive
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In einer Ende der 1990er Jahre durchgeführten Studie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands wird die Situation der christlichen Institutionen in der pluralistischen Gesellschaft thematisiert. Eine die Studie einleitende Stimme bekennt sich zum grundlegend traditionskritischen Moment der reformatorischen Theologie, erlebt zudem in der Gegenwart ein allgemeines Traditionsüberwindungsinteresse (vgl. Knuth 2001, Vf.). Weiter aber wird behauptet, dass die evangelische Kirche sich im pluralistischen Wettbewerb der Traditionen (vgl. Wendebourg/Brandt 2001, 62–69) – offensichtlich gibt es deren also viele und vielfältige – behaupten muss, was in Konsequenz bedeutet, sich an anderen und anderem statt nur an sich selbst zu orientieren. Nur gelegentlich kommt dabei noch der lutherische Impuls zur Geltung, dass es gerade um die Bewahrung einer ganz bestimmten, besonderen, letztlich einzigen Tradition gehe: „Anpassung läge dort vor, wo sich die Überlieferung der eigenen Tradition orientiert an dem, was gesellschaftlich akzeptabel erscheint, wo also in der Gesellschaft virulente Faktoren zum Kriterium des Überlieferungsgehaltes würden.“ (Wendebourg/Brandt 2001, 88)61 Es wird vorgeschlagen, an der christlichen Tradition – worin auch immer deren Gehalt bestehen mag – auch unter modernen Umständen festzuhalten, sie aber im Rahmen der Möglichkeiten pragmatisch zu nehmen. Ob das ein realistisches und zudem theologisch noch vertretbares Theorem sein kann, mag hier dahingestellt bleiben, wichtig ist allein die Beobachtung, dass es offensichtlich möglich ist und zudem hilfreich erscheint, Religion über den Traditionsbegriff zu reflektieren und religionspraktisch zu realisieren. In terminologischer Hinsicht ist jedoch eine normative Entladung zu konstatieren, die zwar in der Anpassungs-Verweigerung noch einmal zurückgenommen scheint, aber in der Parallelisierung mit weltlichen Traditionen doch auffällig wird. Damit kann der Parforce-Ritt durch theologische Gedanken zur Tradition zu einem Ende kommen. Wie schon bei Platon gilt auch hier, dass für ein vollständiges, historisch akkurates Bild eine wesentliche Erweiterung nötig wäre, die aber in diesem Rahmen unterbleiben muss. Als wichtigste Erträge des theologischen Diskurses haben sich fünf Motive herausgestellt. Einerseits ist das Motiv der Kette in den Vordergrund gerückt worden. Es ist Platon in seiner Relevanz bereits aufgefallen – der Priester spielt geradezu argumentativ mit der hellenischen Diskontinuität als Verfallszustand –, aber erst das Judentum und in dessen 61
Insgesamt kann diese Publikation als das Gegenteil dessen gelten, was ihr Titel suggeriert, denn es ist weniger ein Aufbruch denn ein theoretisches Rückzugsgefecht, wenn auch insbesondere die Hinweise auf die Traditionsbehaftetheit vieler weltlicher Ideologien (vgl. Wendebourg/Brandt, 80–86) sicher stichhaltig ist. Aber indem so argumentiert wird, ist der ehemals normative Traditionsbegriff des Mittelalters bereits aufgegeben und eine insgesamt nivellierende und verbeliebigende Tendenz gesetzt.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Fortsetzung auch die Christenheit betont die Bedeutung dieser Kette sowohl für die Dignität der Gehalte als auch im Hinblick auf die Verpflichtungen, die sich für Lehrer und Eltern einerseits, Schüler und Kinder andererseits daraus ergeben. Diese Verpflichtung wiederum bedingt die Aufwertung der Demut als wesentlicher Tugend im Umgang mit Überliefertem. Es kommt darauf an, sich zunächst hinnehmend und angemessen selbstverortend dem Depositum gegenüber zu verhalten. Damit einher geht drittens das Aufkommen spezifischer Traditionsexperten und Traditionshüter, denn weder ein solches Verhalten noch die Dauer der Kette sind ohne intendiertes Zutun wahrscheinlich. Herausgehobene Menschen – etwa die Rabbiner – oder Institutionen – die (katholische) Kirche – stehen zur Tradition in einem besonderen Verhältnis, da sie diese pflegen, schützen, auslegen, verteidigen usw. Es ist keineswegs selbstverständlich, so auf Tradition zu blicken, denn wenn man sie als das allgemeine Hintergründige versteht, sozusagen als den latenten objektiven Geist hinter allem, braucht es keine Hüter und kann es diese auch gar nicht im eigentlichen Sinn geben. Weiterhin ist viertens hervorzuheben, dass der Bezug der Traditionen zur Quelle ein besonderes Gewicht erhält. Nicht das bloße Alter macht etwas traditionell, sondern die Abstammung von einer ganz spezifischen Quelle, im Regelfall Gott selbst. Je näher eine Tradition zu dieser Quelle zurückverfolgt werden kann, desto besser. Die Reformation wäre daher zu lesen als das Bestreben, nur das als Tradition zuzulassen, was vollständig aus dieser besonderen Quelle hervorgegangen ist, während der Katholizismus dahingehend geringere, aber nicht beliebige Grade der Nähe ebenfalls zu akzeptieren geneigt ist. Schließlich ist fünftens ein Motiv wichtig, dass realhistorisch für zahlreiche Auseinandersetzungen und erhebliche menschliche wie materielle Verluste gesorgt hat,62 nämlich die Bindung der (Gruppen-)Identität an eine spezifische Tradition. Es hat sich gezeigt, dass zum Beispiel die Trennung zwischen Judentum und Christentum, ebenso zwischen Protestanten und Katholiken in Teilen auf ein anderes Verständnis dessen zurückzuführen ist, was als Tradition – inhaltlich wie formell – gelten kann. Tradition und Abgrenzung – räumlich, personell sowie identitätslogisch – sind in dieser Hinsicht eng aneinander gebunden.
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So meint Rainer Specht historisch sicher nicht unzutreffend, man könne plausibel machen, „daß Auseinandersetzungen zwischen Innovation und Tradition gar nicht verheerender sind als Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern der Tradition, die in der Deutung der Tradition verschiedener Meinung sind.“ (Specht 1972, 104).
2.4 Scholastische Argumentationen
2.4
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Scholastische Argumentationen
Das Auslassen der Scholastik im vorhergehenden Kapitel legitimiert sich daher, dass diese geistesgeschichtliche Strömung es verdient, als genuines theoretisches Angebot ernstgenommen zu werden statt als vermeintlich bloß „pseudowissenschaftliches“ Anhängsel der christlichen Religion. Damit ist nicht bestritten, dass die Scholastik auf theologischen Prämissen aufruht, denn das tut sie ganz dezidiert,63 aber davon zu trennen ist ihr philosophisch-sachlicher Gehalt. Nur diesem soll im Folgenden in Sachen der Traditionserhellung nachgegangen werden. Die Scholastik, vor allem in ihrer späten Phase, kann als „Beispiel einer betont traditionsfreundlichen Gruppe“ (Specht 1972, 103) gelten. Sie orientiert sich sowohl inhaltlich als auch methodisch und formal an feststehenden Gehalten, Formen, Strukturen. Aber diese Festlegungen sind keineswegs bloß bedenkenlos Übernommenes. Der oft aus Unkenntnis unterstellte naive Rekurs auf die Tradition als hinzunehmende und unhinterfragt geltende Autorität ist in Wirklichkeit viel differenzierter. Dies soll im Folgenden an zwei ausgewählten Autoren – Thomas von Aquin als Vertreter der Hochscholastik und Robert Bellarmin als Vertreter der Spätscholastik – aufgezeigt werden, um so Rückschlüsse auf das Traditionsverständnis zu gewinnen.64 Hinter beider Autoren Denken steht, dies ist mit zu beachten, die im vorhergehenden Kapitel behandelte theologische Entwicklung, sie sind ohne diese nicht recht zu verstehen. Thomas soll in zweierlei Hinsichten über Tradition zu Worte kommen, nämlich erstens im Kontext des Autoritätsbeweises und zweitens in dem des Bewährungsgedankens. Das Autoritätsargument spielt in der Scholastik deshalb eine Rolle, weil mit der heiligen Schrift und ggf. der auf die Apostel zurückreichenden Tradition sowie der kirchlich akzeptierten Dogmatik gewisse Wissensund Lehrsatzbestände vorliegen, die im Streitfall eine Entscheidung qua ihrer Autorität herbeiführen können und sollen. Oft wird die Scholastik in diesem Sinne verkürzt verstanden als eine letztlich irrationale Unternehmung. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass es nicht um die bloße Autorität geht, sondern diese wird qualifiziert65 . Thomas schreibt an einer häufig diskutierten Stelle: 63
Dabei aber sind diese Prämissen nicht willkürlich gesetzt, sondern – wenn auch, aus heutiger Sicht, nicht überzeugend – argumentativ begründet. 64 Damit soll nicht behauptet sein, es gebe nur ein konstantes Traditionsverständnis in der Scholastik. Dies ist genauso wenig der Fall, wie es dies im Hinblick auf das theologische Denken ist. Im Interesse des in der hiesigen Untersuchung verfolgten Erkenntnisziels muss eine genaue Analyse der innerscholastischen Differenzen jedoch nicht geleistet werden. 65 Das unterscheidet die Scholastik von späteren Formen eines Dezisionismus, wo Autorität oft einfach durch die Fähigkeit, etwas eben zu können, bestimmt wird.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Das Beweisverfahren aus der Gewährschaft ist dieser Wissenschaft im höchsten Grade eigentümlich, indem ja ihre Ursätze durch die Offenbarung gegeben sind. Und also gehört es sich, daß der Gewährschaft derer geglaubt wird, denen die Offenbarung geworden ist. Dies tut auch der Würde dieser Wissenschaft keinen Abbruch, denn obgleich der Beweis aus einer Gewährschaft, die auf der menschlichen Vernunft beruht, der schwächste ist, so ist doch der Beweis aus der Gewährschaft, die auf göttlicher Offenbarung beruht, der allerstärkste. (Aquin, Summa, I.I.1.8)66
Generell bekennt sich Thomas zur Zulässigkeit des Autoritätsarguments, aber zum einen lässt er erkennen – und hat es auch diskutiert (vgl. z. B. Aquin, Summa, I.I.1.2, I.I.1.5, I.I.1.8) –, dass er sich der im Hinblick auf rationale Überzeugungskraft offensichtlich nicht unmittelbar evidenten Stellung desselben klar ist, zum anderen vor allem jedoch, dass aus seiner Perspektive etwas Begründendes anführbar scheint. Welche Stützung liefert er für das Argument? Im Wesentlichen beruft er sich auf die Qualität der Quelle und die Nähe der Zeugen. Nicht irgendetwas ist Urheber der Ursätze, sondern Gott, die höchste Entität. Was von dieser Quelle herkommt, ist normativ nicht mehr zu überbieten, ebenso nicht epistemisch. Und insofern die Zeugen dieser Quelle nahe stehen, sind sie legitimiert. Dabei bleibt aber ein prinzipieller Unterschied zwischen Gott und den Menschen bzw. der menschlichen Vernunft erhalten. Dies belegt auch die Unterscheidung, hierin übrigens, abstrakt betrachtet, Platons Liniengleichnis parallelgehend, der Quellen im Hinblick auf die mit ihnen verbundene Begründungsfähigkeit. Aber die heilige Wissenschaft gebraucht dergleichen Gewährstellen [von Philosophen; S.K.] doch nur wie fremde und bloß wahrscheinliche Beweisgründe. Hingegen gebraucht sie die Gewährstellen der kanonischen Schrift als ihre eigentlichen, im Beweisverfahren aus dem Zwingenden. Die andern Gewährstellen aus den Kirchenlehrern aber gebraucht sie als Gründe aus dem Eigenen zwar, doch nur wahrscheinliche. (Aquin, Summa, I.I.1.8)
Überträgt man diese Gedanken, ist nicht alles Althergebrachte per se als Autorität legitimiert, sondern nur das, was entweder von Gott selbst gekommen ist oder auf nachweislichem Weg bis nahe an ihn zurückverfolgt werden kann. Solche Überlegungen zeugen von einem epistemologischen Gewissen Thomas‘, der keineswegs unkritisch eine jedwede Sentenz, sofern sie sich als christlich gibt, hinnimmt, 66
Mit „dieser Wissenschaft“ ist die heilige Wissenschaft, die Theologie, gemeint im Unterschied zur beweisführenden Philosophie. Thomas zeigt im Kontext der Stelle, dass auch die Theologie gewisse Beweise führt. Mit „Beweisverfahren aus der Gewährschaft“ ist übersetzt „argumentari ex auctoritate“.
2.4 Scholastische Argumentationen
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sondern Kriterien der Validität angibt. Diese überzeugen heute nicht mehr, aber formal gesehen belegen sie doch die prinzipielle Vernünftigkeit scholastischen Denkens. Mit Ernst Simon kann man sagen: „Scholastik ist kein Schimpfwort, sondern eine Denkart. Ihre Hauptmerkmale lassen sich bestimmen als Forschung innerhalb eines vorgegebenen, beschränkten Horizontes bei ständiger Wahrung des kontinuierlichen Zusammenhangs mit ihren Urquellen.“ (Simon 1970, 85)67 Zudem ist Thomas‘ Begründung für die Tragfähigkeit des Arguments aus der Tradition nicht nur, wie gezeigt, differenziert, sondern auch selbst aus anderer Perspektive als rational verstehbar, worauf insbesondere Specht hingewiesen hat. Er macht zum einen darauf aufmerksam, dass die westliche Philosophie erst mittels der Wiederaufnahme griechischen Denkens durch islamische Überlieferer – man denke an Averroes und andere – überhaupt ein bestimmtes Niveau erreichen hat können, hier also Rezeptivität und Erkenntnisgewinn verbunden waren, zum anderen darauf, dass dieses Wiedergewonnene als Schatz gegen eigene, niveauärmere Neuerungen der Zeit verteidigt werden musste: Unterdessen sprach alles dafür, daß selbstgemachte Neuerungen unter dem Niveau des Rezipierten lagen. Dieser Situation wurde das Wahrheitskriterium der Scholastik vollkommen gerecht. Es garantierte den rezipierten Fundus und schützte die Gesellschaft vor jedem Rückfall in den Zustand der Vorrezeption. Der Traditionalismus der Scholastik war also zunächst die Garantie des zivilisatorischen Status quo. (Specht 1972, 103 f.)68
Das Festhalten Thomas‘ an der alten Autorität dient nicht allein – und vielleicht nicht einmal in der Hauptsache – dieser Autorität selbst, sondern vielmehr gerade Thomas und seiner Zeit. Tradition wird auf diese Weise mit dem Erhalt des erreichten Niveaus an Einsicht verbunden. Ergänzt werden diese Überlegungen Thomas‘ noch durch das schon zitierte Argument aus der Bewährung (vgl. Aquin, Summa, I.II.97.3). Eine Sache, die gewohnheitsmäßig oft ausgeführt wird, gewinnt dadurch, vor allem wenn die 67
Ob der Horizont wirklich „beschränkter“ war als andere Horizonte anderer Zeiten, mag hier dahingestellt bleiben. Mit Rothacker könnte man zumindest sagen, es handle sich um einen anderen Horizont, keinen notwendig engeren: „Die vorübergehende Niederlage der Scholastik am Ende des Mittelalters beruhte keineswegs nur auf sachlichen Widerlegungen, sondern auf einer Abwendung des Interesses von Themen, welche gleichgültig wurden und dadurch sich verdunkelten […].“ (Rothacker 1966, 21). Ebenfalls auf die „auffallende Rationalität theologisch-religiöser […] Theorien, d. h. den formallogisch konsequenten Gebrauch des Denkens und zugleich den grundsätzlichen Glauben an den Wert des Gebrauchs des Denkens“, verweist Kondylis 1986, 43. 68 Ähnlich positiv auch Blumenberg 1961, 98.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Gewohnheit sehr lange schon andauert, an Validität. Was alt ist, hat sich oft der Praxis aussetzen müssen und erhöht durch Alter seine Autorität. Dieses für das Traditionsdenken insgesamt bedeutende Argument wird von Thomas nur en passant gestreift, ist das Sache nach aber erkennbar. Man kann es leicht mit Josef Piepers späterer, moderner Analyse verbinden (vgl. z. B. Pieper 1970, 65), nach der das Neue die Bewährung noch nicht nachgewiesen haben kann. In diesem Sinne war die Scholastik „klug“, da sie, ihrer eigenen Logik zufolge, das Bewährte gegen das Unbekannte verteidigte, was zumal in Zeiten (auch politischer) Unsicherheiten eine nachvollziehbare Strategie scheint. Am Ende der gemeinhin als scholastisch bezeichneten Geistesepoche steht Bellarmin. Dieser hat, bereits geprägt durch die Erfahrungen der Reformation, versucht, die ungeschriebene Überlieferung („traditio“) gegen Kritik zu verteidigen. Seine pro-katholischen Argumente zeugen von seinem hohen hermeneutischen Bewusstsein, denn für die Tradition (und gegen das sola scriptura-Prinzip) verweist er darauf, dass es Textverluste geben hat, so dass „die Schriften nicht alles so enthalten, um an sich, ohne andere Überlieferung, hinzureichen“ (Bellarmin, Disputationen, 171 (Buch IV, Abschnitt IV)). Zudem verweist er, lange vor Friedrich Schleiermacher, auf die Notwendigkeit einer Hermeneutik, die hier mit Tradition identifiziert wird: […] [Es] ist […] nötig, dass man die Schrift nicht bloß lesen kann, sondern auch verstehen. Aber sehr oft ist die Schrift zweideutig und uneindeutig, so dass man sie nicht erfassen kann, wenn sie nicht von einem erklärt wird, der nicht irren kann. Sonach reicht sie allein nicht hin. […] [Wir] können auch an sehr vielen Stellen keine Gewissheit […] erlangen, außer es trete die Überlieferung hinzu. (Bellarmin, Disputationen, 174 (Buch IV, Abschnitt IV))
Tradition wird verstanden als der flexible, auslegende und notwendige Begleiter der heiligen Schrift. Was aber ist Tradition selber? Bellarmin ist sich der Begriffsbestimmungsnotwendigkeit klar, weshalb er einerseits Tradition sachlich differenziert, sie andererseits aber auch mit Echtheitskriterien versieht. Die Differenzierungen, die er anbietet, bestehen in Hinsicht auf den Urheber und den Stoff. Bellarmin kennt drei Urheber von Traditionen: Gott, Apostel und Kirche (vgl. Bellarmin, Disputationen, 164 (Buch IV, Abschnitt II)). Wieder hat die Nähe zur eigentlich einzigen Quelle Legitimierungsfunktion, wobei er wie Thomas die kirchlichen Traditionen als legitime Gewohnheitsrechte versteht. Dem Stoff nach unterschiedet er Traditionen hinsichtlich der Zeit und des Umfangs. Es gibt Überlieferungen „über den Glauben und […] über die Sitten. Und diese sind entweder ewige oder zeitliche
2.4 Scholastische Argumentationen
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und bald allgemeine, bald besondere, bald notwendige, bald freistehende.“ (Bellarmin, Disputationen 165 (Buch IV, Abschnitt II)) Ohne im Einzelnen hier die Kriterien für diese Unterscheidungen referieren zu wollen, zeigt Bellarmins System, dass Traditionen in vielen Formen auftreten können, also sowohl als zeitlich begrenzte und im Geltungsbereich beschränkte, als auch als umfassende. Manche Traditionen können Vorschriften sein, andere bloße Ratschläge. Alles das hält Bellarmin gleichermaßen für „traditio“. Entscheidend ist nicht der Erstreckungsraum, der ist räumlich wie zeitlich wie geltungsmäßig flexibel, sondern vor allem die Echtheit. Und auch für diese liefert er Kriterien. Man kann fünf solcher Echtheitsanhalte am Text ausmachen. Eine Tradition ist echt und wahr, wenn sie von der gesamten Kirche akzeptiert wird als schriftexterner Glaubenssatz, wenn die ganze Kirche etwas als von Gott stammend annimmt, sagten die Schriften dazu auch gar nichts, wenn etwas von der Kirche zu allen Zeiten auf die Apostel rückdatiert wurde, wenn die Kirchenlehrer übereinstimmend es lehren oder wenn es eine ununterbrochene Kette seit den Aposteln gibt (vgl. Bellarmin, Disputationen 191–194 (Buch IV, Abschnitt IX)). Man bemerkt, dass Bellarmin verschiedene Sekundärquellen als legitime Ursprünge für Traditionen zulässt, wenn auch formal gesehen der Bezug zu Gott einzig echte Quelle bleibt. Der Pluralismus ist nicht zu verleugnen. Über Tradition als Begriff sagt das zweierlei, nämlich dass sie dem Gehalt und dem Ursprung nach als plural verstanden wird, zugleich aber andererseits hinsichtlich der Validität doch an die höchste, menschentranszendente Entität gekoppelt bleibt. Schließlich weist Bellarmin noch – ganz pragmatisch – darauf hin, dass Traditionen auf vier „Unterstützungsursachen“ ruhen, die (neben Gott selbst) dafür Sorge tragen, dass sie weiterbestehen. Es handelt sich um die Verschriftlichung, den ununterbrochenen Gebrauch, äußerliche, langlebige Denkmäler wie Bauten, Bücher usw. und die abwehrende, damit implizit selbstversichernde und selbststärkende Auseinandersetzung mit Ketzereien, das heißt Irrlehren (vgl. Bellarmin, Disputationen, 207 f. (Buch IV, Abschnitt XII)). Traditionen werden durch eine fortgesetzte Praxis, durch Bewährung in der (intellektuellen) Auseinandersetzung und durch Denkmäler69 gestärkt in ihrem Bestand. Was sagt das aber über sie selbst aus? Bellarmin zeigt durch seine Überlegungen mindestens implizit, dass Traditionen keine praxis- und gesellschaftsfernen Vorkommnisse darstellen, sondern in diesen und durch diese zu denken sind. Wenn Veräußerlichungen in Schrift, Architektur usw. Traditionen stützen können, dann deshalb, weil jene
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In der Gegenwart taucht diese Idee im Kontext der auf Pierre Nora zurückgehende Theorie von Gedächtnis- oder Erinnerungsorten wieder auf. Vgl. Nora 1990, z. B. 17–28.
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einerseits – und ganz trivialerweise – die materielle Dauer sichern helfen, andererseits aber, weil sie auf die Traditionen hinweisen, sie thematisch werden lassen. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit Irrlehren, denn dadurch wendet sich die Tradition auch immer auf sich selbst. Sie stärkt sich durch Thematisierung, wobei man diese Gedanken parallel lesen kann zu Thomas‘ Bewährungsgedanken. Insgesamt stellt Bellarmins Text ohne Zweifel einen Konkretisierungsschub des christlichen Traditionsdenkens zur Schau. Aus der sich über Jahrhunderte erstreckenden Geschichte der Scholastik sind im Vorhergehenden nur zwei einzelne Stimmen zu Wort gekommen. Doch schon dieser begrenzte Einblick zeigt, dass beide, die pars pro toto zu nehmen sind, über einen differenzierenden Blick auf die Sache verfügen. Für eine systematisch interessierte Aufklärung dessen, was Tradition ist, sind folgende Aspekte an Thomas und Bellarmin besonders hervorzuheben. Zum einen bestehen beide auf der epistemischen Legitimität der Traditionen. Sie sind rational und wirken begründend. Die epistemische Legitimität wird durch zwei wesentliche Eigenschaften bedingt, einerseits die mehrfach erwähnte Quellennähe mit den behandelten Abstufungen, andererseits durch die mittels Alters sichergestellte Bewährung. Weiterhin wird Tradition besonders bei Bellarmin als eine Praxis verstanden, als eine Tätigkeit von Menschen, die etwas tun, zum Beispiel Texte auslegen.70 Nur wenn diese Tätigkeit dabei dauerhaft erfolgt und sich behauptet, liegt etwas Traditionelles vor71 . Behaupten meint in diesem Zusammenhang Dauerhaftigkeit in der Zeit und Bestand gegenüber Ketzereien. Bedingt durch diesen Fokus auf den Vollzug kommen zwei letzte Eigenschaften in den Blick, nämlich die Pluralität und die Einbettung in äußere Umstände. Pluralität ist freilich cum grano salis zu nehmen, denn rein begriffslogisch müssen alle Traditionen auf Gott bezogen sein, aber Bellarmin und – mit Abstrichen – auch Thomas anerkennen solche Traditionen, die nur mittelbar auf diesen zu beziehen sind oder manche Praktiken, die auf Völker, Menschengruppen, ggf. Experten und deren Urteil zurückgehen. 70
Deneffe hat kritisch gegen Bellarmin angemerkt, dieser unterscheide nicht zwischen Tradition als Gehalt und Tradition als Akt (vgl. Deneffe 1931, 96). Das ist zutreffend, da sich im Text das Verständnis der Tradition als spezifischer Glaubenslehre (also als katholisches Dogma) nicht unterschieden findet von dem Verständnis der Tradition als Praxis. Es steht zu vermuten, dass Bellarmin – auf seinen „Pluralismus“ war hingewiesen worden – weniger um den konkreten Inhalt und dessen Bestimmung sich gedanklich sorgte, sondern um das Prinzip Tradition selbst, weshalb das Akthafte implizit als vordergründig anmutet. 71 Diese Konsequenz zeigt Bellarmins Changieren zwischen Inhalt und Akt, denn was sich behauptet, ist wohl eher ein ganz bestimmter Gehalt der Auslegung, während zwar auch die Auslegung weiterbesteht, aber ja ohnehin nie so umstritten wird wie der je spezifische Gehalt.
2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus
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Ein solcher Pluralismus der zeitlichen, räumlichen, genealogischen oder geltungsmäßigen Erscheinungsformen ist unbestreitbar, wenn es auch ein Monismus im Hinblick auf die Quelle bleibt. Eingebettet sind Traditionen (gerade als Praktiken) in gesellschaftliche Situationen, die diesen hilfestellend oder auch hinderlich begegnen können. Bellarmins Hinweis auf die äußeren Stützen deutet dies an. Man kann Traditionen demnach als situierte Praktiken, Lehren usw. verstehen.
2.5
Erkenntnistheoretischer Rationalismus
Die Scholastik endet mit dem Aufkommen neuartiger erkenntnistheoretischer Reflexionen. Auch diese wiederum wenden sich dem Traditionsbegriff zu, verstehen und bewerten ihn aber anders. Am Beispiel Francis Bacons, René Descartes‘ und John Lockes soll einigen solcher Motive gefolgt werden. Vorweg ist gleichwohl anzumerken, dass diese Autorenliste selbstverständlich keine Vollständigkeit, vielleicht noch nicht einmal Repräsentativität in einem starken Sinne beanspruchen kann. Noch wichtiger aber ist, dass die hier unter einer allgemeinen und nicht streng terminologisch zu verstehenden Kategorie versammelten Denker in vielerlei Hinsicht uneins waren. Ihre Zusammenstellung ist vor allem pragmatisch motiviert und ergibt sich aus dem Umstand, dass alle – ihrem Selbstverständnis nach – sich als Vertreter einer allein an Vernünftigkeit orientierten Lehre des richtigen, fehlerfreien Erkennens verstanden.72 Bacons „Novum Organon“ wird gelegentlich als Initiationsbuch für das neue, rationale Zeitalter nach dem theologisch-scholastischen Mittelalter verstanden. Nicht ganz unpassend trägt das eigentlich viel größer angelegte Gesamtwerk, von dem das „Organon“ nur einen Teil darstellt, den Titel „Instauratio magna“ (vgl. Bacon, Organon, 1 f.),73 denn Bacon will eine solche große Erneuerung. Er sieht viele Irrtümer der Menschen, für die „Abhilfe nur so kommen [konnte], 72
Wenn von „Rationalismus“ gesprochen wird, soll das nur diese Konnotation der vermeintlichen „Vernünftigkeit“ gegenüber dem unvernünftigen Alten abbilden, wie sie das Selbstverständnis der verhandelten Autoren prägte. Explizit nicht gemeint ist damit die klassische Gegenüberstellung im Sinne der Opposition von Rationalismus und Empirismus, denn dann viele etwa Locke freilich in eine andere Kategorie. Als Überblick zu diesem modernen Rationalitätsstreben und seinem Kontext vgl. v. a. Kondylis 1986. Weitere Hinweise aber auch in Taylor 1996a, z. B. 269–290, 406 f., 579, 593 und Oakeshott 1966, z. B. 9–13, 22 ff. sowie als allgemeine Geschichte des Verständnisses von Rationalität und Theorie Blumenberg 1987, z. B. 71–86. 73 Interessant ist dabei, dass „instauratio“ aber insofern keine bloße Neuerung meint, als damit eigentlich eine Wiedereinsetzung, das heißt Erneuerung, von etwas Verschüttetem, Verlorenen angezeigt ist. Bacon deutet auch an (Bacon, Organon, 253 (Aph. A122)), dass
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daß man an die Dinge mit neuen Methoden in der lauteren Absicht heranging, zu einer vollständigen Erneuerung der Wissenschaften und Künste, überhaupt der ganzen menschlichen Gelehrsamkeit, auf gesicherten Grundlagen zu kommen.“ (Bacon, Organon, 5) Ein solches, keineswegs bescheidenes Fundierungsunternehmen kann, zumal vor dem Hintergrund der negativen Gegenwartsdiagnose, kein affirmatives Verhältnis zu Traditionen aufbauen. Und tatsächlich werden Traditionen entsprechend kritisch gesehen. Sie brächten, heißt es, nur „Lehrer und Schüler hervor, aber keinen Erfinder und keinen, der den vorhandenen Erfindungen etwas Nennenswertes hinzufügen könnte.“ (Bacon, Organon, 15) Unproduktivität und bloße Rezeptivität werden mit „traditio“ verbunden. Dies geschieht deshalb, weil wenn erst einmal die Menschen vom Urteil eines anderen abhängig geworden sind und auf die Ansicht eines Mannes – gleich den Senatoren ohne Stimmrecht – schwören, dann mehren sie die Wissenschaft nicht mehr, sondern beschränken sich darauf, gewisse Schriftsteller zu rühmen und sie in sklavischer Weise zu umkreisen. (Bacon, Organon, 17)
Ob Bacon ein zutreffendes Bild einer jemals bestanden habenden Praxis zeichnet, ist fraglich, aber darauf kommt es auch nicht an. Entscheidend ist der Gedanke, der die Neuzeit prägt, dass der Rückgriff auf fremde Ansichten und deren Achtung dazu führe, unproduktiv und – die Wortwahl „sklavisch“ („servili“) zeigt es deutlich – nicht-autonom, unmündig zu werden. Das Frühere gilt Bacon, ganz anders als bei Thomas, nicht als Hort einer zu verteidigenden Wahrheit, sondern als eine junge, unkundige Zeit, die hinter der erfahrenen und daher in diesem Sinne „reifen“, „alten“ Gegenwart zurücksteht (vgl. Bacon, Organon, 179 (Aph. A84)). Das wiederum ist zwiespältig, denn einerseits akzeptiert Bacon prima facie das Bewährungstheorem Thomas‘, die Gegenwart hat historisch Erfahrung kumuliert, andererseits aber negiert er die Rolle der fernen Quelle und der Vergangenheit. Bacon gibt diese Doppelstrategie offen zu, wenn er schreibt, es sei „ratsam, bei dem, was überkommen ist, ein wenig zu verweilen, weil um so leichter dem Alten seine Vollendung und dem Neuen der Eintritt bereitet wird. Ein gleicher Eifer treibt mich, das Alte zu pflegen, wie das Neue zu erwerben.“ (Bacon, Organon, 37, 39) Und doch, insofern das Überkommene immer durch die reife Gegenwart beurteilt und genutzt werden soll, verliert die Überlieferung ihren intrinsischen Wert. Der Fokus liegt auf produktiver Schaffenskraft im Hier und
er dies so meint, insofern er auf die vorgriechischen Jahrhunderte – wenngleich mit Reserviertheit – zurückweist.
2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus
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Jetzt.74 Tradition verdirbt den Geist, es kommt darauf an, ihn in der Gegenwart zu schöpferischem Tun zu befreien: Der Verstand ist bereits durch die tägliche Gewohnheit von schädlichen Überlieferungen und Lehrmeinungen verdorben und leeren Hirngespinsten unterlegen. […] Wirkliches Gedeihen liegt einzig darin, das umfassende Werk des Geistes von neuem aufzuarbeiten. Der Geist darf von Anfang an nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern muß ständig gelenkt werden. (Bacon, Organon, 71)
Erneuerung der dem Menschen möglichen Vernunfttätigkeit setzt Freiwerden von den durch die Überlieferung auf ihn gekommenen Beständen voraus. Die Hirngespinste („idola“) erweisen sich als solche durch mangelnden Nutzen.75 Tradition wird zum Erkenntnishindernis und zu einer Ursache misslingenden Lebens, insofern der Mensch zu passivem Sklaventum und epistemischen Misserfolg verdammt scheint. Bacon vertieft seine Kritik in zwei Hinsichten, einerseits durch die bekannte Idolen-Lehre, andererseits durch Konsens-Feindlichkeit. Idole, also irreführende Vorstellungen, sind von viererlei Art, solche des Stammes, der Höhle, des Marktes und des Theaters (vgl. Bacon, Organon, 101–105 (Aph. A39–A44)). Stammesidole werden durch Natur und Gruppe bestimmt, das heißt, sie liefern kollektive Fehlvorstellungen, Höhlenidole sind idiosynkratische Verfehlungen, die auf dem je eigenen Bildungs- und Sozialisationsgang, Interessen usw. beruhen, Marktidole entstammen dem unmittelbaren Zusammensein der Menschen in Interaktionsgemeinschaften, während die Idole des Theaters in den Geist des Menschen aus den verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen wie auch aus den verkehrten Gesetzen der Beweisführung eingedrungen sind […]. Und ich beziehe dies wiederum nicht bloß auf die allgemeinen philosophischen Systeme, sondern auch auf Prinzipien und auf eine große Auswahl von Lehrsätzen der Wissenschaft, welche durch Tradition, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit Geltung erlangt haben. (Bacon, Organon, 105 (Aph. A44))
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Blumenberg hat gezeigt, dass Bacon als ein Theoretiker der kurzen Zeitspanne anzusehen ist. Ihm wird, da die Gegenwart und deren Produktivität (was auch immer das genau meinen soll) das Zentrum bilden, jeder diachron erstreckte (Erkenntnis-)Vorgang unerträglich. Die Früchte der Erkenntnis erst über Jahrhunderte einholen zu können, wie es Blumenberg an den astronomischen Forschungen bis Kopernikus und Kepler zeigt, musste Bacon ein Gräuel sein. Vgl. dazu Blumenberg 1986, 100–130 (zu Kopernikus und zur Astronomie), 156–160 (zu Bacon). 75 Bacon macht empirischen Erfolg als Wahrheitskriterium stark (vgl. Bacon, Organon, 157 (Aph. A73)).
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Traditionen werden als Quellen der Irrtümer klar herausgestellt und gegen eigenes Denken, Prüfen und Erfahren ausgespielt. Interessant ist, dass in gewissem Sinne Tradition ein Prinzip ist, welches wohl bei allen vier Idolen zum Tragen kommt, denn nicht nur in den Wissenschaften wirken sie, sondern auch in der „Höhle“ (qua Bildung), dem „Stamm“ (qua Kollektivgeschichte) oder dem Markt, wenn auch hier vielleicht am wenigsten. Diese Idolen-Lehre wird in ihrer Traditionskritik noch gestützt von Bacons Angriff auf den Konsens als Gütekriterium. Als ein solches hatte, wie gezeigt, Bellarmin die Übereinstimmung der Kirchenlehrer durch die Zeiten verstanden. Bacon vollzieht dahingehend eine Umwertung: „Das Schlimmste von allem ist ein Fürwahrhalten, welches in Sachen des Geistes infolge von Übereinstimmung gekommen ist.“ (Bacon, Organon, 165 (Aph. 77)) Konsens, so Bacon, müsse vielmehr misstrauisch machen. Wer so auf Überlieferung blickt, kann für Tradition – auch wenn Bacon prima facie (vielleicht mit bloß rhetorischen Konzessionen) vermittelnder spricht – keinen Raum lassen. Diese wird als Hindernis, Entmündigung und Passivierung aufgefasst. Es ist daher konsequent, dass Bacon für seine Instauration eine tabula rasa anstrebt. Der Ungeheuerlichkeit dieses Zieles ist er sich bewusst: Man mag auch entgegnen, es sei etwas Unerhörtes und Hartes, wenn ich alle Wissenschaften und Autoren zugleich und wie mit einem Schlag und einem Angriff beseitige, und dies ohne Hilfe und Unterstützung von einem der Alten, sondern aus eigenen Kräften. […] Allein ich vertraue auf die Anschaulichkeit und Wahrheit der Dinge und verwerfe jeglichen Anflug von Erdichtung und Betrug. […] Denn neue Entdeckungen muß man vom Licht der Natur, nicht aber von der Finsternis der alten Zeiten erwarten. (Bacon, Organon, 253, 255 (Aph. 122))76
Bacon spielt argumentativ mit einer Opposition von natürlicher Wahrheit und künstlicher (Er-)Dichtung, wobei Letzteres der Sphäre der menschlichen Kultur zufällt. Die Wahrheit, die die Natur selbst offenbart, wenn man ungestört durch „Dichtungen“ darauf blickt, ist dem Menschen zugänglich. Die Leistung der Alten besteht für Bacon nur oder jedenfalls in der Hauptsache darin, den unmittelbaren Zugang zum Licht der Natur durch falsche Überlagerungen verschüttet zu haben. Er gibt zwar im selben Aphorismus die Möglichkeit zu, dass wohl auch die Alten gelegentlich das Wahre in der Natur entdeckt haben könnten, aber sofern dies in der Gegenwart ebenfalls geschehe, ist das unerheblich. Blickt man so auf das Althergebrachte, wird Tradition fast zwangsläufig zu einem epistemischen Hindernis, das es zu überwinden gilt.
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Zu Bacon als tabula rasa-Denker vgl. auch Oakeshott 1966, 22 ff.
2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus
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Historisch operiert Bacon mit seiner Argumentation vor dem Hintergrund der Scholastik, die, wie gezeigt, ein sachlich begründetes Festhalten an den Traditionen vertreten hatte. Dies mag sein Aufbegehren verständlich werden lassen, es steht für den Wunsch nach einem Neubeginn.77 Gleichwohl fällt auf, dass Bacon nicht scharf genug zwischen konkreten Traditionen – etwa der des Aristotelismus oder der Scholastik – und Tradition allgemein unterscheidet. Denn während die zitierte Stelle Aphorismus 122 nahelegt, es könne immer wieder unmittelbar auf die Wahrheit in der Natur rekurriert werden, deutet Aphorismus 84 an, dass Bacon anzunehmen scheint, jede spätere, „reifere“ Zeit habe gegenüber der früheren bereits in größerem Maße Erfahrungen kumuliert (vgl. Bacon, Organon, 181 (Aph. 84)). Wie aber ist das anders zu erklären als durch eine diachrone Summierung? Bacon hätte strenger unterscheiden müssen zwischen Traditionen, die gar keine Erfahrungsmehrung gewährleisten, und solchen, die dies tun und die seinem Projekt folglich gar nicht im Wege stehen. Und eine zweite Beobachtung lässt sich an Bacons Traditionskritik noch machen, die in der Folge, ähnlich wie die erste, wirkmächtig geworden ist. Wenn man, wie geschildert, das Alte im Interesse einer neuen, wahrhafteren Unmittelbarkeit zu streichen geneigt ist, setzt das als Komplement ein Vertrauen in die Gegenwart, die Menschen und ganz konkret das Individuum voraus. Dieses muss prinzipiell in der Lage sein, richtige Erkenntnis trotz oder gegen die Vergangenheit zu gewinnen. Schon Gian Battista Vico hielt Bacons Ansatz für eine Hybris, insofern menschenunmögliche Erkenntnisfähigkeiten unterstellt würden (vgl. Vico, WuW, 13). Zudem ist es womöglich auch zu unkritisch dem jeweiligen Individuum selbst gegenüber. Wenn Bacon meint, „keinem Vorbild und keinen Spuren“ (Bacon, Organon, 237 (Aph. 113)) zu folgen, ist er sich der bahnenden Wirkungen der Vergangenheit noch in der Ablehnung nicht klar genug. Gerade seine ganz grundsätzliche Kritik an Tradition überhaupt ist bedingt durch die Spuren, denen er – in der Negation – folgt. Hätte seine Vorgängerzeit sich flexibler, kritischer zur Vergangenheit verhalten, wäre auch Bacon in seiner Kritik womöglich differenzierter gewesen. Er unterschätzt somit einerseits die Schwierigkeiten, eine tabula rasa zu erreichen, und er überschätzt womöglich die Früchte, die eine tabula rasa zu ernten gestattet. Mit Vico wäre zu sagen: Ist doch alles, was der Mensch wissen kann, begrenzt und unvollkommen, wie der Mensch selbst. Wenn wir unsere Zeit mit der alten vergleichen und auf beiden Seiten die Vorzüge und Nachteile der Wissenschaftspflege gegeneinander abwägen, so wird vermutlich das Ergebnis bei uns dasselbe sein wie bei den Alten. Denn vieles haben 77
Die zeigt sich auch an seiner Kritik an den bestehenden Wissenschaftsinstitutionen, die er für verfehlt hält (vgl. Bacon, Organon, 201 f. (Aph. 90)).
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wir entdeckt, was den Alten völlig unbekannt war, und vieles wußten die Alten, das uns gänzlich verborgen […]. (Vico, WuW, 13, 15)
Durch Bacon ist die enge Verbindung von Gegenwart und Fortschritt sowie Vergangenheit und Rückschritt für die wissenschaftliche Sphäre fest etabliert. Mit seiner Neuausrichtung des Erkenntnisstrebens wird Tradition als Fiktion verstanden, die den Zugang zu den Wahrheiten in der Natur verstellt. In der Sache ähnlich, aber noch um einiges einfluss- und folgenreicher hat Descartes gedacht. Seine Wirkung auf das moderne Selbstverständnis der Menschen ist oft und ausgiebig untersucht worden,78 sie zeigt sich im Kontext der Frage nach der Tradition besonders darin, dass praktisch keine Literatur zum Thema ohne irgendeine Bezugnahme auf ihn auskommt. Typischerweise wird gerade die Abkehr von der Tradition mit dem Denken Descartes‘ verbunden, was paradigmatisch Claudia Bickmann formuliert hat, wenn sie davon spricht, dass mit Descartes der Traditionsbruch die Philosophie als Methode erreicht habe (vgl. Bickmann 2006, 1). Mit ihm, so Bickmann weiter, „ist die okzidentale Philosophie den Schritt vom vormals vernehmenden, sich selbst relativierenden Denken zu einem sich nun selbst verabsolutierenden Denken gegangen […].“ (Bickmann 2006, 9 f.) Worin aber besteht genau Descartes‘ argumentativer Beitrag? Im Wesentlichen drückt sich in seinem epistemologischen Ansatz ein Absicherungsstreben aus, das Irrtümer und bloße Wahrscheinlichkeiten zugunsten sicherer Erkenntnisse hinter sich lassen will. Wie Bacon vor ihm beobachtet Descartes in seiner Zeit viele Verirrungen des Denkens allgemein und der Wissenschaften im Besonderen, gegen die er angeht. Diesem Interesse dient sein methodischer Zweifel, der in Form eines Stufengangs all die Quellen ausscheidet, die falsche oder unsichere Ergebnisse zeitigen. Der Wunsch nach tabula rasa wiederholt sich, da in den Prägungen durch andere, frühere Menschen eine der Irrtumsursachen vermutet wird.79 Aber nicht allein die Suche nach Gewissheit, die sich auch im berühmten Kriterium des „clare et distincte“ (Descartes, Meditationen, III.2) äußert, sondern vor allem in der streng individualistischen Konzeption des „mens“, des Geistes, liegt Descartes‘ wesentlicher Beitrag zur Traditionskritik.
78
Um nur einen Hinweis in dieser Sache zu geben, sei verwiesen auf Taylor 1996a, z. B. 260–288, 325 f., wo Descartes als Urheber des „desengagierten“ modernen Individuums erhellt wird, welches sich aus allen kollektiven Sphären auf sich selbst zurückzieht, wodurch dann auch Tradition unmöglich scheint. 79 Vgl. dazu Descartes, Meditationen, I.3, wo alles über die Sinne Vermittelte – also auch das von anderen Vernommene – als nicht täuschungssicher herausgestellt wird. Vgl. auch ebd., I.1, an welcher Stelle das seit Jugend her gelten Gelassene als fehlerhaft betont sich findet.
2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus
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Der Geist wird allein als individueller verstanden, der nur aus sich heraus epistemisch agieren soll.80 Sofern er sich an sich selbst und seine Vermögen hält sowie diese in der richtigen Weise gebraucht, kann es keinen Irrtum geben: Denn mit dem Verstand für sich genommen nehme ich die Vorstellungen nur wahr, über die ich dann ein Urteil fällen kann, und so schlechthin betrachtet, findet sich in ihm kein eigentlicher Irrtum. […] [I]n diesem unrichtigen Gebrauche meiner Wahlfreiheit liegt der Mangel, welcher den Begriff des Irrtums ausmacht. […] [W]enn ich nur den Willen beim Urteilen immer so in Schranken halte, daß er sich auf das allein erstreckt, was ihm der Verstand klar und deutlich vorzeigt, so kann es keinesfalls geschehen, daß ich irre. (Descartes, Meditationen, IV.8, IV.12, IV.17)
Durch den Fokus auf den individuellen Verstand und dessen Grenzen bzw. richtigen Gebrauch aber ist jedwede Form überindividuellen Wissens und Könnens, das womöglich durch die Form der Tradition weitergegeben wird, diskreditiert oder gar in ihrem bloßen Vorkommen bestritten. Zudem verbindet sich dieser cartesische Geistindividualismus noch mit einem zweiten Theorem, dem des Konstruktivismus. Abgesehen von Gott muss alles andere, will es Geltung haben, auf rationale Weise (im Sinne Descartes‘) auf den (individual-)menschlichen Geist zurückgeführt werden können.81 Dieser Aspekt stellt für die scholastische Traditionsauffassung, gegen die Descartes der Sache, wenn auch nicht dem Worte nach argumentiert, ein Problem dar, weil diese erstens nicht unbedingt an die zurechenbare Abstammung von konkreten Menschen (abgesehen von Aposteln) zu denken bereit war, zweitens aber vor allem deshalb, weil in dem Wort „rational“ eine entscheidende Bahnung passiert. Indem Descartes mit Rationalität etwas ganz Bestimmtes meint, orientiert an Geometrie und Mathematik, wird unterstellt, alles das, was nicht auf diese Weise zustande gekommen ist, sei irrational. Ohne 80
Philosophiehistorisch ist, folgt man Theodor Litt, Hegel derjenige, der diese falsche Individualisierung des Geistes bei Descartes durch ein Traditionsdenken kritisiert (vgl. Litt 1951, 313). Für die moderne Individualismus-Konzeption auch jenseits der epistemischen Sphäre zeigt die Folgen Descartes‘ Taylor 1996a. 81 Vgl. die richtige Analyse bei Hayek 1996a, 19 f., wo es heißt: „Was Descartes zunächst gelehrt hat, war, daß wir nur das glauben sollen, was wir beweisen können. Angewandt auf den Bereich der Moral und der Werte überhaupt hieß dies, daß wir nur das als bindend anerkennen sollen, was wir als rationale Zweckschöpfung erkennen können. Wie weit er selbst sich aus der Affäre zog, indem er den unergründlichen Willen Gottes als den Schöpfer dieser Zweckmäßigkeit betrachtete, will ich dahingestellt sein lassen. Bei seinen Nachfolgern wurde es jedenfalls ein menschlicher Wille, den sie als den Schöpfer aller gesellschaftlichen Bildungen betrachteten und aus dessen Absichten sie ihre Rechtfertigung ableiten mußten.“
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
dieses weite Feld hier umfassend thematisieren zu können, sei auf die Forschungen Panajotis Kondylis‘ hingewiesen, der gezeigt hat, wie differenziert das Feld des Rationalismus war, in dem Descartes‘ Position keineswegs unumstritten blieb. Kondylis schreibt, dass „der jeweilige Rationalismus im Zeichen einer weltanschaulichen Grundhaltung oder -entscheidung steht, die ihrerseits ultra rationem liegt und auf letzten Wertungen beruht […].“ (Kondylis 1986, 40) Descartes‘ Norm des „clare et distincte“ fächert sich insbesondere dahingehend auf, dass der Geist entsituiert verstanden wird.82 Geist ist weder kollektiv, noch zeitlich, noch räumlich eingebunden zu denken, sondern ganz fundamental tabula rasa. Ein Denken der Tradition, sofern diese entweder konkret oder doch mindestens abstrakt auf den Geist situierend wirkt, muss sich vor Herausforderungen gestellt sehen. Mit Descartes wiederholt sich das Motiv Bacons, dass ein befreiter (Individual-)Geist am besten dazu in der Lage sei, aus sich selbst allein durch Befolgen einer gewissen rationalen Methode wahre Erkenntnisse zu generieren. Wenn das stimmte, ist kein Platz für das Althergebrachte, denn es ist weder vom Individuum selbst aktiv gemacht, noch ist es – im erläuterten Sinne – rational. Dass hierin die wesentlichen Impulse des Denkens Descartes‘ zu sehen sind, hat schon früh Blaise Pascal bemerkt und kritisiert. Er betont sowohl die Macht der Gewohnheit als auch die Grenzen der Vernunft. Indem er auf die Gewohnheit abzielt,83 wird die Idee des selbstschöpferischen Geist à la Descartes attackiert, indem er auf die Grenzen der Vernunft hinweist (vgl. Pascal, Gedanken, 32 (Aph. 52, 55)), angedeutet, dass die Merkmale der Rationalität nicht den gesamten Bereich dessen abdecken, was es in der Welt für den Menschen zu entdecken gibt. Insgesamt kritisiert Pascal auf diese Weise die Vorstellung eines aktiven, ausschließlich selbstschöpferischen Geistes, die jedwede Unter- oder Einordnung für unzulässig hält. Geist ist immer nur Geist in einer und durch eine Situation.84 82
Vgl. dazu weiterführend Kondylis 1986, 421–471, wo verschiedene zeitgenössische Kritiken an Descartes in diesem Sinne erläutert werden. 83 Vgl. dazu Pascal, Gedanken, 23 (Aph. 25 nach der dortigen Zählung), 28 (Aph. 43), 56 (Aph. 115). Eine interessante vermittelnde Position im Hinblick auf die Gewohnheit hat zeitlich vor Pascal Michel de Montaigne entwickelt. Er hielt diese für einerseits tyrannisch, andererseits betrachtete er sie als das Gemeinwohl und den Zusammenhalt sichernd. Der Weise soll sich von Gewohnheiten zwar in Teilen freimachen, sie aber nicht öffentlich attackieren, worin man schon eine Vorwegnahme der kantischen Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft sehen kann. Montaigne zeigt ein zwiespältiges und von im weitesten Sinne utilitaristischen Erwägungen geprägtes Verständnis. Vgl. zu diesem Gewohnheitsdenken Montaigne, Essais, 60–68 (Buch I.23). 84 Auch Montesquieu wäre als Denker einer solchen anticartesischen Situierung zu lesen. Vgl. dazu Kondylis 1986, 453.
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Zwar war gesagt worden, auf Descartes nehme jedes Traditionsdenken in irgendeiner Weise Bezug, ein genauerer Blick zeigt aber, dass es dabei zumeist weniger um dezidierte Aussagen Descartes‘ selber zur Tradition geht – solche gibt es eigentlich kaum85 –, sondern um die Wirkungen, die sein Ansatz bei späteren Denkern in Folge der Rezeption hat.86 Deshalb kann die Auseinandersetzung mit ihm hier eingeschränkt bleiben, der Blick vielmehr auf seine Nachfolger gerichtet werden. Unter ihnen ist Locke für das Problem der Tradition der wichtigste. Dieser folgt einerseits dem epistemischen Sicherheitsmotiv Descartes‘, insofern er Irrtümer durch Aufweis des rechten Zustandekommens von wahren Einsichten zu verhindern sucht, ist aber andererseits für die Rolle von Traditionen sensibler.87 Beide Aspekte, sowohl die Kritik an der Tradition wie deren teilweise Rechtfertigung, sollen im Folgenden erläutert werden. Lockes kritische Auseinandersetzung mit dem Althergebrachten speist sich, das war schon gesagt worden, aus dem Kampf gegen Irrtümer. Gegen diese und für den Erkenntnisfortschritt fordert er eine Orientierung an unmittelbaren Erfahrungen. Sein Vorgehen versteht er daher so: This I am certain, I have not made it my business, either to quit, or follow any Authority in the ensuing Discoures: Truth has been my only aim […]. Not that I want a due respect to other Mens Opinions; but after all, the greatest reverence is due to Truth; and, I hope, it will not be thought arrogance, to say, That, perhaps, we should make greater progress in the discovery of rational and contemplative Knowledge, if we sought it in the Fountain, in the consideration of Things themselves; and made use rather of our own Thoughts, than other Mens to find it. For I think, we may as rationally hope to see with other Mens Eyes, as to know by other Mens Understandings. (Locke, Essay, I.IV.23)
Wieder wird mit der Opposition von Wahrheit und fremden Meinungen argumentativ operiert, wobei Locke insbesondere mit der Analogie zwischen dem Sehen mit den Augen anderer und dem Verstehen durch das Verstehen anderer ein starkes Bild formt. Während es einsichtig unmöglich ist, mit den Augen anderer zu 85
Pieper verweist auf einen ambivalenten Umgang Descartes‘ mit Traditionen (vgl. Pieper 1958, 8), wobei er aber richtig sieht, dass das von Descartes selbst unbemerkt bleibt, dieser prinzipiell die Traditionen ablehnt. 86 Als Beispiel dafür Wiedenhofer 1990, 627 f., wo zwar Descartes dem Namen nach vorkommt, aber ohne direkten Werkbezug, und wo die Sache, für die er stehen soll, im Grund an den Schriften Lockes erläutert wird (ebd., 630 ff.). 87 Es sei hier angemerkt, dass Lockes Sensibilität für das Thema in der Rezeption oft nicht oder kaum zur Kenntnis genommen wird. Zur Einordnung Lockes als „Entwerter“, aber eben nicht als „Vernichter“ der Tradition vgl. Specht 1972, 105. Zu Locke als Kritiker sowohl subjektivistischer Schwärmerei als auch der Traditionsautorität vgl. zudem Russell 2002, 20.
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sehen, scheint das aber, bedenkt man es genauer, im Hinblick auf das „understanding“ nicht ganz so einfach zu sein. Denn während man gut sehen kann, ohne dass je ein anderer Mensch gesehen hat (oder überhaupt Augen gehabt haben muss), greift die Analogie im zweiten Fall nicht, denn für das Denken ist das Denken Früherer nicht irrelevant. In negativer, verfälschender, irreführender Hinsicht gibt Locke das auch unumwunden – mindestens implizit – zu, aber den Schritt, es auch positiv zu denken, unterlässt er im „Essay“. Vielmehr wird die Rolle des autark Denkenden zentral, auch für die Wissenschaften: „In the Sciences, every one has so much, as he really knows and comprehends: What he believes only, and takes upon trust, are but shreads […].“ (Locke, Essay, I.IV.23) Es kommt allein auf „Mens own unprejudiced Experience and Observation“ (Locke, Essay, I.IV.25) an. Diese eigene Erfahrung verhindert Verirrungen durch falschen Sprachgebrauch, falsche Autoritäten usw. Gegen den Rekurs auf Althergebrachtes, Nichteigenes bringt Locke dabei prominent eine ideologiekritische Perspektive ins Spiel. Einerseits nämlich kann das Geglaubte so selbstverständlich werden – gerade dann, wenn es von vielen oder gar allen geteilt wird –, dass es hinter dem Schleier völliger Unauffälligkeit unsichtbar wird.88 Das ist freilich eine Gefahr, wenn Geglaubtes und Gewohntes dazu dienen sollen, die Menschen vom eigenständigen Vernunftgebrauch abzuhalten, weil solche Menschen leichter zu beherrschen sind (vgl. Locke, Essay, I.IV.24). Tradition, verstanden als die auf Glauben erfolgte Übernahme des Früheren, wird als Entmündigung gedacht, die der politischen Unterwerfung nützlich ist. Dieser Gedanke, der auf Motive der Aufklärung verweist, dreht die normative Wertung der Tradition im Vergleich etwa zu Thomas oder Bellarmin um. Während dort Demut gelobt und Neugier beanstandet wurde, werden mit Locke und anderen die Eigentätigkeit, Aktivität und Kritik neue Fixpunkte des ethischen Ideals. Der herrschende Tugendkatalog verschiebt sich. Dass es Locke um eine auch ethische Dimension geht, zeigt seine Kritik an solchen Menschen, die an (unbemerkt) übernommenen Gehalten sich weiterhin orientieren wollen, notfalls sogar gegen das Zeugnis der Sinne (vgl. Locke, Essay, IV.XIX.9 f.).89 Der redlich Denkende akzeptiert nur, was er selbst erfahren bzw. geprüft hat. Wenn man so wie Locke und Descartes die Eigentätigkeit betont, besteht für frühere Einsichten, alte Texte, überkommene Dogmen usw. nur noch eine Chance 88
Locke verweist auf Gewohnheiten, die sich durch Wiederholung der Beobachtung entziehen wie der Lidschlag (vgl. Locke, Essay, II.IX.10). 89 Locke hat dabei explizit die Religionen (insbesondere den Katholizismus) vor Augen. Sein Traditionsbegriff ist von diesem Fall her zu lesen. Sein so geprägter Blick vermischt daher gelegentlich den inhaltlich-konkreten Traditionsbegriff (das heißt: katholische Kirche oder Glaubenslehre) mit dem formalen (Tradition als Prinzip).
2.5 Erkenntnistheoretischer Rationalismus
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des Fortexistierens, und zwar durch (immer wieder neu zu vollziehende) Aneignung seitens der Lebenden. Die Idee der Aneignung ist eine Spielart der Betonung der Aktivitätsseite des Menschlichen. Was Locke allerdings nicht diskutiert, ist die Frage, wie eine solche Aneignung vonstattengehen soll und ob sie eigentlich überhaupt möglich ist. Lässt sich jede einmal gemachte Erfahrung für jedes Individuum wiederholen? Und falls nicht, woraus folgt, dass die gegenwärtige Nichterfahrbarkeit höher zu werten ist als die ehemals gemachte, auf die Heutigen nur per Bericht gekommene? In dieser Hinsicht liegt eine Leerstelle vor, die sich, so steht zu vermuten, daraus speist, dass es Locke – jedenfalls im Umfeld der erkenntnistheoretischen Grundlegung – zunächst und zumeist gerade um das Machen neuer Erfahrungen ging, nicht um die Aneignung oder den Nachvollzug vergangener. Im Kontext seiner früheren Überlegungen zur Philosophie90 allerdings hat Locke sich Traditionen gegenüber konzilianter und differenzierter gezeigt. Dort geht er unter anderem der Frage nach, ob die Vernunft die Gesetze der Natur eigentlich überhaupt erkennen könne. Im Rahmen dieser Untersuchung, an deren Ende eine Bejahung stehen wird, unterscheidet Locke drei Arten des Wissens („knowledge“), und zwar „inscription, tradition, and sense-experience“, wobei er Tradition genauer als „second-hand knowledge by way of information or instruction“ (Locke, Nature, 123) definiert. Anders als man vom bekannteren und späteren Essay her denken könnte, wird den Traditionen gegenüber zwar kritisch, aber nicht fundamental ablehnend argumentiert. Einerseits nämlich setzt Vernunft immer schon das Übernehmen von etwas voraus: „Nothing indeed is achieved by reason, that powerful faculty of arguing, unless there is first something posited and taken for granted.“ (Locke, Nature, 125) Und andererseits kann Tradition in gewisser Hinsicht den Menschen sinnvolle Orientierung geben: […] tradition is a primary and certain way of knowing the law of nature. For what we take over from other people’s talk, if we embrace it only because others have insisted that it is good, may perhaps direct our morals well enough and keep them within the bounds of dutiful action, yet it is not what reason but what men tell us. (Locke, Nature, 129)91
90
Nicht thematisiert wird hier das Verhältnis der beiden „Essays“ zueinander. Dass die spätere Schrift weniger von Traditionen her argumentiert als die frühere, wird nur zur Kenntnis genommen. Zu Lockes Traditionsdenken in den Naturgesetz-Essays vgl. mit knappen Hinweisen Kondylis 1986, 332 f. 91 Hervorh. S.K.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Es gibt eine durch die Tradition mögliche Lebens- und Wahrheitsorientierung, die aber defizitär bleibt, insofern nicht die Vernunft die Einsicht gewonnen hat, sondern nur dem Urteil anderer Menschen gefolgt wird. Locke gibt im Folgenden drei wesentliche Gründe dafür an, warum Tradition nicht unmittelbar das Gesetz der Natur übermittelt, sondern nur menschliche Vorstellungen von diesem (vgl. Locke, Nature, 129–133). Diese sind erstens die Varianz unter den Traditionen und deren Konflikte miteinander, das heißt der Widerstreit zwischen vielfältigen Ansichten und der einen (Natur-)Wahrheit, zweitens wäre ein qua Tradition übernommenes Naturgesetz ein geglaubtes, kein gewusstes, beruhte also auf Autorität statt auf Vernunftbeweis, und schließlich drittens verweist jede Tradition auf einen Menschen als ihre Quelle, so dass zumindest dieser wissende Mensch das Naturgesetz nicht wieder aus der Tradition erhalten haben kann. Die in den „Essays on the Law of Nature“ immerhin diskutierte Relevanz der Tradition wird in dem späteren Essay nicht mehr eingeräumt. Dort fehlt es Locke am Verständnis für die Orientierungsleistung, seine Perspektive ist rigoroser. Ursache dafür könnte womöglich die Eigenart Lockes sein, Traditionen fast ausschließlich als Wissensbestand oder Weltdeutung nach dem Vorbild der Religion zu denken. Versteht man Traditionen auch als Praktiken, käme der Orientierungsfunktion eine größere Rolle zu. Mit den drei Autoren Bacon, Descartes und Locke sind, das sei hier nochmals betont, Denker zusammen verhandelt worden, die nicht in jeder Hinsicht einer Meinung sind. Auch steht hinter ihnen ein je anderer hermeneutischer wie realhistorischer Kontext. Und doch, denkt man von Traditionen her, bilden sie eine Einheit. Diese werden nämlich primär als potentiell irreführende Glaubenssätze aus der Vergangenheit verstanden, die die gegenwärtigen Menschen mindestens vom Denken abhalten, unter Umständen sogar der politischen Unterdrückung zuführen. Sie entautonomisieren. Gegen sie werden Verstandestätigkeit und Erfahrung ins Spiel gebracht, somit zugleich implizit das Individuum, welches diese beiden Vermögen je selbst realisieren soll. Umgekehrt gedacht, werden viele92 Traditionen zu erfahrungsfernen, vielleicht erfahrungswidersprechenden Kollektivphänomenen gemacht. Musterfall dafür bildet die scholastisch geprägte Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters. Mit spätestens Bacon beginnt die Abwertung des Alten als unreif, unwissend und die Aufwertung des
92
Weder Descartes noch Locke behaupten explizit, dass notwendig alle Traditionen falsch sind. Sie zeigen aber, dass die Traditionen nicht genuin vernünftig im jeweiligen Sinne sind, weshalb sie generell unter Verdacht stehen. Wenn eine Tradition doch Richtiges, Wahres übermittelt, ist das freilich keine intrinsische Eigenschaft von Traditionen, sondern ganz kontingent.
2.6 Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos
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Neuen als erfahrener, klüger, weiser oder reifer, während zugleich tugendmäßig an die Stelle von „cura“ jetzt „curiositas“ tritt.93
2.6
Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos
Indem im vorhergehenden Kapitel bereits von Descartes, vor allem aber von Locke die Rede war, ist der Brückenschlag zur weltgeschichtlich wohl prägendsten Entwicklung für das Traditionsverhältnis von Menschen bereits vollzogen. Die Aufklärung wird unisono als entscheidende Entwicklungsphase für das moderne Denken über Traditionen verstanden. Manch ein Theoretiker behauptet, erst mit der Aufklärung habe es überhaupt Traditionen als Traditionen gegeben (vgl. Litt 1951, 311). Dies ist zwar unzutreffend, aber die Bedeutung der Verwerfungen im 18. Jahrhundert ist zweifellos fundamental. Nun ist die Rede von der Aufklärung in mehrfacher Hinsicht irreführend. Es handelt sich um eine Bewegung, die in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten stattfand, die dann auch noch jeweils in spezifischer Weise sich vollzogen hat und die in ihren nationalen und kulturellen Konkretisierungen nie homogen war.94 Das stellt eine Annäherung an die Position der Aufklärung vor erhebliche Probleme. Allerdings wird diese Vielgestaltigkeit konterkariert vom Rezeptionsbild der Aufklärung. Diese wird oft undifferenziert als eine einheitliche Bewegung betrachtet, die bestimmte Dinge – Mündigkeit, Selbst-Denken, Kritik, Religionsabstinenz usw. – angestrebt habe. Aus der Aufklärung wird so in der Rezeption ein Topos. Nach dem an der Antike entwickelten „Vom Mythos zum Logos“ wird „Von der Tradition zur (mündigen) Vernunft“ gleichsam das neue Leitmotiv. Auf dieses beziehen sich dabei nicht nur die Kritiker, sondern oft auch diejenigen, die im Sinne des Topos selbst argumentieren. Anhalt findet dieser Topos sicher im Selbstverständnis der Enzyklopädisten um Denis Diderot. Über ihr Projekt sagt dieser, es sei nur einem besonderen, einem „philosophischen Jahrhundert“ vergönnt gewesen, ein solches zu wagen. Dabei müsse man alles prüfen, alles ausnahmslos und schonungslos in Frage 93
Vgl. dazu die weiterführende Analyse in Kluck 2023, Abschn. 3.2 und die wichtige Studie Bös 1995. 94 Ernst Cassirer hat angesichts dieser Vielschichtigkeit den interessanten Versuch unternommen, ein dahinterliegendes inneres Prinzip zu suchen (vgl. dazu Cassirer 2007, IX). Das ist ein zweifelsohne heuristisch wie hermeneutisch sinnvolles Unterfangen, ändert aber nichts daran, dass die Rede von der einen Aufklärung am Ende auf keine historisch konkrete Erscheinung passt, sondern, wenn man über bestimmte Personen, Theorien usw. reden möchte, der Konkretisierung bedarf.
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stellen, den ganzen alten Unfug ausrotten, die Schranken umstoßen, die nicht die Vernunft gesetzt habe (vgl. Diderot 2013a, 141 f.).95 Die neue Zeit, die sich selbst gerade als neue verstand und verstanden wissen wollte,96 ist bestrebt, das Alte, das offensichtlich aus schlechteren Zeiten stammte als die philosophische Gegenwart, durch kritische Prüfung hinter sich zu lassen. Wenn die Aufklärer von der Prüfung, dem In-Frage-Stellen reden, besteht zwar rein sachlogisch die Möglichkeit, dass etwas dieses Tun erfolgreich übersteht, aber eigentlich zielt dieses Vorgehen auf die Überwindung. Es handelt sich um ein pragmatisches Entgegenkommen in der Sprache, nicht der Sache. Dies wird dadurch deutlich, dass der Begriff „Philosophie“ wieder den Aspekt des Prüfens und Überwindens des Alten aufnimmt: Charakteristisch für den Philosophen […] ist, daß er nichts ohne Beweis anerkennt, daß er sich keinesfalls mit trügerischen Begriffen zufriedengibt und daß er die Grenzen des Gewissen, des Wahrscheinlichen und des Zweifelhaften genau festlegt. […] Ein wahrer Philosoph sieht die Dinge nie durch fremde Augen, sondern ergibt sich nur der Überzeugung, die der Evidenz entspringt. […] Diese gründlichen und abgewogenen Reflexionen sollten uns von den lächerlichen Vorurteilen heilen, die wir zugunsten der Alten hegen. (Anonym 2013, 273 f.)
Die Aufklärung als Zeitalter des Aufbruchs weg vom Alten hin zu unverstellter und auf unmittelbarer empirischer Evidenz beruhender Vernunfterkenntnis – so sehen es schon die Enzyklopädisten. Wenn daher im Folgenden eine Analyse des aufklärerischen Denkens über die Tradition erfolgen soll, steht dieser Topos im Fokus. Inwieweit sehen Vertreter der Aufklärung Traditionen als unvernünftig und entmündigend an? Warum? Was wird eigentlich als Tradition verstanden? Gibt es auch eine aufgeklärte Traditionsverteidigung?97 Einer der am stärksten ins Zentrum der Aufklärung führenden Begriffe ist sicher der der Vernunft, welcher wiederum eng an den der Rationalität gebunden ist. Was soll die Vernunft eigentlich leisten und wie verhält sie sich zur Tradition? Ernst Cassirer hat darauf hingewiesen, dass die Vernunft im Kontext 95
Als eine extreme Position in dieser Hinsicht kann Étienne-Gabriel Morelly gelten, der meinte, man müsse Vorurteile, gewöhnliche Moral usw. niederreißen, vielmehr die Stärke aufbringen, alles selbst mittels der Vernunft naturgemäß einrichten (vgl. Morelly 1964, z. B. 83–102). Zu ihm und gleichartigen Bestrebungen zur Zeit der Aufklärung – gefasst als „Physiokratismus“ – vgl. kritisch Tocqueville 1978, 159–165. 96 Vgl. dazu Koselleck 2020, z. B. 369 und Blumenberg 1961, 81. 97 Aufgrund der Orientierung am Topos ist es notwendig, vermehrt rezipierende Texte statt der Originalquellen heranzuziehen. Für ein aussagekräftiges Bild im Sinne der hier verfolgten systematischen Perspektive ist das jedoch hinreichend und im Grunde zwingend.
2.6 Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos
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der Aufklärung zwei wesentliche Ziele verfolgen sollte, nämlich Zerlegung des faktisch Gegebenen und daran anschließend ein selbstgeleiteter Neuaufbau (vgl. Cassirer 2007, 13). Durch diesen Zug würde die Vernunft zum Urheber alles Vorliegenden – der Kenntnisse vor allem, aber auch der politischen Ordnung oder der Gesetze –, was zugleich bedeutet, dass das so Geschaffene „richtig“, „gut“ bzw. „wahr“ ist, denn wenn die Vernunft ungestört walten kann, kommt es zu keinen Fehlern. Hans Blumenberg hat in diesem Sinne die Aufklärung auf den Nenner gebracht, es gehe ihr gegen das Motiv der Fremdstützung, also des ErhaltenWerdens, um Selbsterhaltung (vgl. Blumenberg 1970, 11). Selbstermächtigung der Vernunft bedeutet, Ablehnung aller heteronomen, vernunftfernen Kräfte. Als eine solche Kraft kommt die Tradition zuerst (und oft auch ausschließlich) für die Aufklärung in den Blick. Dies lässt sich gut an der Rezeption des sogenannten Vico-Axioms zeigen, welches lautet: „Man erkennt nur, was man selbst geschaffen hat“, denn diese These „ist der feste Archimedische Punkt der Gewißheit, um den die Welt der Erkenntnis gedreht wird.“ (Vico, WuW, 174) Vicos Gedanke ist, dass das, was der Verstand selbst hervorgebracht hat, ihm auch klar durchsichtig sein muss. Dingen oder Zusammenhängen, die nicht von diesem stammen, haftet etwas Verworrenes und Undurchsichtiges an. Man erkennt leicht, dass ein solches Verständnis von Erkenntnis diese ganz im Sinne der zerlegenden und (re-)konstruierenden Vernunft denken muss. Locke zum Beispiel nennt als die drei wesentlichen Tätigkeiten des Verstandes Kombinieren, Zusammenstellen und Abstrahieren (vgl. Locke, Essay, II.XII.1), die allesamt darauf hinauslaufen, dass der Verstand etwas – bei Locke Ideen – in bestimmter Weise bildet. Erkennen wird so Teil eines Konstruktionsprozesses, der ganz in die Hände des Individuums gelegt scheint.98 Vico selbst hat das allerdings keineswegs so stark gemeint, er war sich der notwendigen Bedingtheit des Verstandes sicher.99 Zudem bleibt er, wie Karl Löwith gezeigt hat, theologischen Voraussetzungen treu, die die radikalkonstruktivistische Rezeption, die das Axiom erfahren hat, als übertrieben erweisen (vgl. Löwith 98
Zu den Folgen des Vico-Axioms in der Erkenntnistheorie, vor allem bei Kant, vgl. Schmitz 1989, 345 ff. 99 So sagt er: „[…] [Wir] beginnen […] heute die Studien mit der Erkenntniskritik, die, um ihre erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdachte des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit, sowie alles Wahrscheinliche genau so wie das Falsche aus dem Denken entfernt wissen will. Das ist nicht unbedenklich; denn bei den jungen Leuten ist so früh wie möglich der natürliche Allgemeinsinn (sensus communis) auszubilden, damit sie nicht im Leben, wenn sie völlig erwachsen sind, auf Absonderlichkeiten und Torheiten verfallen. […] Während man sich also alle Mühe geben müßte, bei den jungen Leuten den natürlichen Allgemeinsinn zu entwickeln, ist zu befürchten, daß unsere kritische Wissenschaft ihn erstickt.“ (Vico, WuW, 27).
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
1968, 15 f.). Doch gerade aus dieser Interpretationsgeschichte lässt sich etwas lernen. Zwar blieb das Vico-Axiom bis zu Johann Gottfried Herder hin relativ wirkungsarm, jedenfalls auf der sichtbaren Oberfläche,100 aber sein paradigmatisches Einstehen für das Vernunftdenken der Aufklärung in späterer Zeit passt in den Topos, um den es gehen soll. Vernünftig ist nur, was die (individuelle) Vernunft selbst – beeinflusst nur von unmittelbarer Empirie – hervorgebracht hat. Ein solcher Ansatz verträgt sich nicht mit dem Rekurs auf Tradition, wenn diese – was hier offensichtlich der Fall ist – als fremde, unvernünftige oder jedenfalls im Hinblick auf ihre Vernünftigkeit fragwürdige Entität verstanden wird. Das Herausgestellte ist im Detail ungenau oder übertrieben. Gotthold Ephraim Lessings bekannte Sorge, ob mit der aufgeklärten Vernunftkritik nicht dem Menschen mehr genommen werde, als richtig oder sinnvoll sei (vgl. Lessing 1904, 365),101 zeugt von aufklärungsinternen Zweifeln. Auch sein Briefpartner Moses Mendelssohn war sich dieser Problematik bewusst. Mehrfach hat er darauf hingewiesen, dass die Vernunft mitunter auch zu schweigen habe, hielt es gar für zulässig, zu lügen oder gewisse Wahrheiten nicht bekannt zu machen. Es sei wahr, so Mendelssohn, „dass gewisse Vorurteile, die national geworden, den Umständen nach von jedem rechtschaffenen Menschen verschont werden müssen […].“ (Mendelssohn 1981a, 111) Er sorgte sich um die zersetzende Wirkung der Vernunft auf Sitte und Gemeinschaft,102 und dennoch war er dem Selbstbild nach überzeugter Aufklärer. Rezeptionsgeschichtlich hat Julius Ebbinghaus das einseitige Bild, das der Topos zeichnet, kritisiert: Gegen [die] Forderung eines blinden Glaubens an eine von Menschen abhängige Tradition hat nun die sogenannte Aufklärung einen Aufstand erregt. Sie ist dadurch in den schlechten Ruf gekommen, als habe sie alle mögliche Anhänglichkeit der Menschen an Traditionen für ein Vorurteil erklären wollen. In Wirklichkeit wollte sie nur den menschlichen Verstandesgebrauch als solchen von der Vernichtung durch die Autorität irgendwelcher Traditionen befreien. (Ebbinghaus 1969, 9)103
100
Dazu vgl. Cassirer 2007, 219 und Kondylis 1986, 439. Diesen Umstand und den theologischen Hintergrund Vicos übersieht Schmitz im Rahmen seines Rekurses auf das Vico-Axiom (vgl. Schmitz 1989, 345 ff.). 101 Dort schreibt Lessing in einem Brief 1771 an Mendelssohn: „Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen.“ 102 Zu diesen Gedanken vgl. Mendelssohn 1981b, 117 f. und Ders. 1974, 79 f. 103 Ähnlich verteidigend blicken an diesem Punkt auf die Aufklärung Teichert 1991, 94 f. und Jauß 1964, 54.
2.6 Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos
57
Ebbinghaus hat insofern Recht, als es, wie die Beispiele Lessings und Vicos zeigen, abwägende Autoren an diesem Punkt gegeben hat.104 Wirkmächtig wurde der einseitige Topos dennoch, und er ist keineswegs falsch, nur übermäßig zugespitzt. Dies soll im Folgenden an Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant belegt werden. Rousseau, wie er hier betrachtet wird, hat im Rahmen seiner politischen Philosophie ein Bild der Kultur gezeichnet, welches diese mit Verstellung, Verblendung und mit Verfall in Verbindung brachte. Dagegen wird das Motiv einer natürlichen Unverdorbenheit und Reinheit gestellt, die der Menschen der Kultur – das heißt insbesondere auch der Wissenschaft – verloren habe.105 Für ein Nachdenken über Tradition ist der wesentliche Punkt dabei, dass es einer diachronen Vermittlung gerade nicht bedarf, sondern eigentlich, im Idealzustand, jeder Mensch selbst schon gut und ausreichend habituell wie intellektuell vermögend ist.106 So betrachtet ist Tradition gleichsam der perpetuierte und wiederholte Sündenfall. Rousseaus „Natur“-Denken ist keineswegs typisch für die Aufklärung, aber seine implizite These, dass mit dem Übernommenen die alten Verfehlungen weitergetragen werden, passt gut in den allgemeinen Diskurs. Noch deutlicher lässt sich die Berechtigung des Topos‘ an Kant aufzeigen. Von ihm stammt die einfachste Formel für das Ethos der Aufklärung, jenes bekannte „sapere aude“ (Kant, Aufklärung, 20). Der wesentliche Gedanke besteht darin, dass derjenige aufgeklärt ist, der seine Vernunft ohne Rekurs auf andere Menschen und Institutionen zu nutzen versteht. „Oberaufsicht“, das heißt also
104
Man könnte sogar sagen, dass eine Teilströmung der Aufklärung, nämlich die schottische, sich besonders durch Festhalten dieses Gedankens auszeichnet. Einige Hinweise zu Aufklärungsdenkern, die sich der notwendigen Schonung gewisser Traditionsbestände bewusst waren, liefert Schröder 2014, 188 ff. Generell bleibt aber Schröder im Recht – und auch der hier verhandelte Topos – damit, dass der Begriff „Radikalaufklärung“ eigentlich ein Pleonasmus ist (ebd., 187). 105 Vgl. z. B. Rousseau, KuW, 9, 11: „Während die Regierungen und die Gesetze für die Sicherheit und das Wohlergehen der zusammenwohnenden Menschen sorgen, breiten die weniger despotischen und vielleicht mächtigeren Wissenschaften, Schriften und Künste Blumengirlanden über die Eisenketten, die sie [d. h. die Menschen; S.K.] beschweren. Sie ersticken in ihnen das Gefühl jener ursprünglichen Freiheit, für die sie geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Knechtschaft lieben und machen aus ihnen, was man zivilisierte Völker nennt. […] Der Tugend, die Kraft und Stärke der Seele ist, ist der Putz völlig fremd. Der tugendhafte Mann ist ein Athlet, der nackt zu kämpfen liebt. Er verachtet all die eitele Kleiderzier, die bloß den Gebrauch seiner Kräfte hemmen würde und größtenteils nur erfunden wurde, um irgendeine Mißbildung zu verdecken.“ 106 Vgl. z. B. Rousseau, KuW, 15: „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.“ Rousseau deutet an dieser Stelle den Fortschritt explizit als einen geschichtlichen, also diachronen.
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2
Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Fremdbestimmung, wird folgerichtig mit Unterdrückung und intellektueller Verarmung verbunden (vgl. Kant, Aufklärung, 20 f.), Mündigkeit wird zum neuen Ziel erhoben. Was aber verhindert das Erreichen dieses Ziels? Kant blickt auf zwei wesentliche Hindernisse, solche individueller und solche institutioneller Art; erstere bestehen in Faulheit oder Bequemlichkeit zum Beispiel, letztere in staatlicher oder religiöser Bevormundung. Gegen sie muss der Mensch als Individuum frei seine Vernunft gebrauchen können und dürfen, sofern er dies im öffentlichen Rahmen, also als konkretes Individuum jenseits der Verpflichtungen qua Amt usw., tut (vgl. Kant, Aufklärung, 22). Traditionen nun stehen in einem Spannungsverhältnis zum erstrebten mündigen Vernunftgebrauch. Kant argumentiert in verschiedenen Schriften so, als denke er vom individuellen Geist und dessen Vermögen her, in der Aufklärungsschrift wohl am deutlichsten. Es geht ihm um das ganz autonome Selbermachen.107 In diesem Sinne muss alles bloß Rezipierte defizitär erscheinen. Wenn man Traditionen, wie es die Aufklärung zumeist tat, als hinzunehmende Vergangenheitsbestände an Theorien, Dogmen, Lehrsätzen usw. versteht, widersprechen sie der Mündigkeit. So gesehen wird Aufklärung eben die Bewegung heraus aus der (unter anderem) durch Traditionen bedingten unvernünftigen Unmündigkeit. Kant hat allerdings, dies sei hier noch angedeutet, sehr wohl um die Begrenztheit des menschlichen Individuums in lebenszeitlicher wie intellektueller Hinsicht gewusst: „Am Menschen […] sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ Deshalb bedarf die Vernunft „einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endliche ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist.“ (Kant, Idee, 5)108 Wenn die Entfaltung der Vernunft qua Gattung der diachronen Überlieferung bedarf, so scheint es einerseits eine Kumulation geben zu können, andererseits aber es für den rechten Vernunftgebrauch jedenfalls phasenweise notwendig, rezeptiv etwas von anderen zu übernehmen. Dieses differenzierte Denken Kants hat aber nicht verhindert, dass der allgemeine Topos nur den ersten Teilaspekt betont, das Beharren darauf, aufgeklärt und vernünftig sei nur, wer
107
Schmitz hat Kant in diesem Sinne als Prototyp eines um das Selbstgemachte besorgten Aufsteigertypus interpretiert. Er schreibt: „Die Aufsteiger-Gesinnung an der Wurzel des Kant’schen Tugendideals erweist sich ebenso in Kants primärer und begeisterter Hochschätzung des Selbsttuns, der aktiven und spontanen Selbsttätigkeit im Gegensatz zum Hinnehmen und Empfangen […].“ (Schmitz 1989, 150). 108 Hervorh. S.K.
2.6 Die Aufklärung und die Entstehung eines Topos
59
ganz selbständig denke, insbesondere unter Absehung von den Meinungen der Früheren. Dass der so verstandene Topos nicht bloß ein spätes Rezeptionsprodukt ist, sondern schon in der Aufklärungszeit selbst wahrgenommen wurde, zeigt neben den bereits an Lessing nachgewiesenen Bedenken vielleicht besonders deutlich das erkenntnistheoretische Werk Thomas Reids, der dahingehend als eine Stimme an Stelle von mehreren gelten darf.109 Mit ihm wäre die Frage zu stellen, ob nicht die Aufklärung im Interesse der Vernunft die Grundlagen der Rationalität selbst zerstört, indem sie Tradition diskreditiert. Reids Grundimpuls ist, gegen „geniale“ Subjektivität (vgl. Reid 1782, 5 f., 11) darauf zu bestehen, das Wesentliche richtigen Denkens liege in der Prägung durch Gewohnheit, Nachahmung, Belehrung, nicht in Selbstschöpfung ausgehend von einer tabula rasa: Das Geschäft des Geistes wird nicht vermöge eines überlegten Vorsatzes der reinen Vernunft, dessen wir uns wieder erinnern könnten, sondern vermittelst des Instinktes, der Gewohnheit, der Assoziation, und anderer Prinzipien ausgeführt, welche wirken, ehe wir zu dem Gebrauch der Vernunft gelangt sind. (Reid 1782, 9)
Gegen die Aufklärer, namentlich Descartes, Malebranche und Locke, führt er an, dass deren Philosophie das Denken mit Beweisen und Gründen für das versorge, was „das ganze Menschengeschlecht geglaubt hat, ohne daß es im Stande gewesen wäre, Gründe dafür anzuführen.“ (Reid 1782, 15) Mittels seiner These will Reid verdeutlichen, dass der Menschenverstand, der einfach übernommen und geglaubt wird, in der Sache nicht unvernünftig ist, sondern oft richtig liegt. Insbesondere das Zeugnis der anderen Menschen, zumeist gerade der Älteren, erfährt durch Reid eine Rehabilitierung, denn der „weise und wohlthätige Urheber der Natur, welcher wollte, daß wir gesellschaftliche Geschöpfe seyn, und den größten Theil unserer Kenntniß durch den Unterricht von andern erhalten sollten […]“ (Reid 1782, 349),110 hat zwei Prinzipien in der menschlichen Natur zu diesem Zweck angelegt: den Hang zum Aussagen der Wahrheit und den Hang zum Vertrauen in das von anderen Gesagte. Reid teilt die von Bacon oder Descartes formulierte prinzipielle Kritik am Früheren ob dessen Unsicherheit nicht, sondern argumentiert genau umgekehrt, indem er das Vertrauen in das Überlieferte starkmacht.111 Dann aber ist, gegen den Topos, Aufklärung nicht der Weg 109
Vgl. weitere zeitnahe Kritiken in Abschn. 2.7. Zu dem Folgenden über die Prinzipien vgl. Reid 1782, 349 ff. 111 So wird Reid in der gegenwärtigen sozialepistemologischen Diskussion auch als Ahnherr derjenigen Ansätze betont, die dem Zeugnis anderer eine legitime epistemische Rolle zuschreiben. Vgl. so z. B. Lackey 2011, 73. 110
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
von der Tradition zur Vernunft, sondern Vernunft fußt selbst auf Tradition.112 Und insbesondere versucht Reid, die mit dem Topos verbundene individualistische Perspektive zu hinterfragen, indem er das Genie – und nicht den Mangel an Genialität – für die entscheidenden Irrtümer verantwortlich macht (vgl. Reid 1782, 11). Wenn aber Reid als Zeitgenosse und Vertreter der Aufklärung selbst solche Korrekturen anzumerken sich genötigt sieht, zeigt dies, dass ein wesentlicher Teil der wirkmächtig gewordenen Ansätze offensichtlich das Gegenteil, also die Vorherrschaft der individuellen und ungebundenen, freien Vernunft zu stärken suchten zu Lasten der als irregehend, unvernünftig, entmündigend verstandenen Tradition. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich bei der Aufklärung um ein Abstraktionsprodukt aus Systematisierungs- und Strukturierungsinteressen, im Detail ist die Bewegung vielgestaltig und keineswegs einheitlich. Im Rahmen des wenigen Gesagten ist daher an eine philosophiehistorischen Interessen genügende Annäherung nicht zu denken. Dennoch hat sich gezeigt, dass ein bestimmter Topos erkennbar ist, der den Diskurs über Tradition wesentlich prägte, was sich in der Gegenwart noch darin offenbart, dass das Festhalten an der Tradition oft als rückständig, unvernünftig, wenn nicht gar „dumm“ gilt. Quelle dieser Wertung ist der aus der Aufklärung herkommende Topos. Ist man versucht, den Blick der verschiedenen Aufklärungsdenker auf Tradition auf einen Nenner zu bringen, so muss der primär kritische und oft unverhohlen negative Blick auf diese zuerst genannt werden. Traditionen gelten als in Vernunfthinsicht defizitär, insofern sie nicht dem rationalen Ideal einer bestimmten Herkunft oder eines bestimmten Herstellens genügen. Damit ist implizit klar, dass Traditionen im Wesentlichen als epistemische oder ideologische Entitäten verstanden werden. Nur indem sie als solche gelten, können sie ja der Vernunft zur Konkurrenz gereichen, was dann die Angriffe der Aufklärer verstehbar macht. Die Aufklärung fordert die Tradition im Hinblick auf ihre Rationalität heraus (vgl. dazu Schreiter 1998, 90 f.). Wenn die Traditionen dieser Herausforderung nicht gewachsen sind, bedingt dies Kritik. Diese wiederum operiert nach dem Maßstab der Rationalität, der die Traditionen schon vorab nicht gewachsen waren. Insbesondere die Idee einer lückenlosen und autonomen (Re-)Konstruktion durch den zusammensetzend-kombinierenden Verstand erweist sich oft als den Traditionen unangemessen, weshalb diese verworfen werden. Dass damit gleichwohl Probleme verbunden sein könnten, ist, wie gezeigt, machen Autoren früh aufgefallen, neben Lessing und Mendelssohn auch Christoph Martin Wieland, der auf die Frage, wo die Grenzen der Aufklärung 112
Reid zeigt deutlich, dass er Tradition und Vernunft nicht identifiziert, letztere geht über diese hinaus, bedarf ihrer aber als Fundament (vgl. Reid 1782, 367).
2.7 Romantische Traditionszuwendung
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seien, antwortet: „Wo, bei allem möglichen Lichte, nichts mehr zu sehen ist […]“, um sogleich zumindest die Möglichkeit zu bedenken, „es gebe Fälle, wo zuviel Licht schädlich sei, wo man es nur mit Behutsamkeit und stufenweise einfallen lassen dürfe.“ (Wieland 2006, 25 f.)113 Die kritische Explikation der überlieferten Bestände auf ihren Gehalt, ihre Herkunft, ihre Begründungsfähigkeit usw. hin zeitigt womöglich Probleme, hat vielleicht Grenzen. Gleichwohl ist die zumindest gelegentlich angedeutete Zulässigkeit von Traditionen oder deren legitime Schonung nahezu ausnahmslos instrumentell motiviert. Schon bei Mendelssohn hatte sich das gezeigt, der auf die Abhängigkeit der Gemeinschaft, der Sitte und des Friedens von ihnen hinwies, und auch Kants Überlegungen kann man so verstehen. Nicht aus intrinsischen Gründen – weil Traditionen eine andere Form von Rationalität darstellen zum Beispiel – sind sie partiell zu tolerieren, sondern weil ihr Fortsein im gegenwärtigen Gesellschaftszustand oder wegen der gegenwärtig vorhandenen (ungebildeten und wenig aufgeklärten) Menschen zu negativen Erscheinungen führt. Insgesamt lässt sich aus der Aufklärung und dem sich aus ihr im Laufe der Rezeption schnell entwickelnden Topos ableiten, dass Traditionen somit oktroyierte, heteronome, entmündigende Entitäten sind, die zumeist nach dem Vorbild der (katholischen) Religion gedacht werden.114
2.7
Romantische Traditionszuwendung
Nicht nur innerhalb des geistesgeschichtlichen Aufklärungszusammenhangs ist Kritik formuliert worden, sondern aus solchen Absetzungs- und Differenzierungsbewegungen entstand mit der sogenannten Romantik die vielleicht wichtigste Strömung, welche sich der Verteidigung der Tradition explizit verschrieben hat.
113
Wieland akzeptiert diese Bedenken nur auf abstrakter Ebene und folgt ihnen nicht auf den philosophischen Grund, sondern begegnet ihnen dadurch, dass er die Situation Deutschlands für so dunkel hält, dass jedes mögliche Licht per se gerechtfertigt ist. 114 Ein Aspekt, der in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter thematisch werden kann, aber doch erwähnt zu werden verdient, ist die Frage, ob das Agieren der Aufklärung den Traditionen gegenüber wirklich genuin neu ist (wie die Aufklärer selbst gemeint zu haben scheinen), oder ob nicht nur eine Radikalisierung früherer Denkformen vorliegt. Schon die Scholastik hat Traditionen kritisiert, indem sie nach deren Quellen, nach deren Gültigkeit usw. fragte, wobei selbstverständlich bestimmte theo-ontologische Prämissen ausgenommen waren. Es wäre vielleicht zu überlegen, ob die Aufklärung derartige Überlegensprozesse nicht doch übernimmt und radikalisiert, statt zu sagen, wie Cassirer (vgl. Cassirer 2007, z. B. XI) es andeutet, es liege ein radikal neuer Zugang vor.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Wie schon für die Aufklärung, so gilt auch für die Romantik, dass diese eine vielgestaltige und facettenreiche Epoche bildet.115 Im Hinblick auf die Verteidigung dessen, was man Tradition nennen kann, ist eine gewisse Einheitlichkeit oder unmittelbare Nähe der Denker zueinander jedoch schwer von der Hand zu weisen. Michael Landmann schreibt der allgemeinen Tendenz nach zutreffend, dass erst „Herder und die Romantik […] die Tradition als ein Positivum zu würdigen gewußt [haben]. Seit der Romantik steigert sich die naive Traditionsverhaftetheit zum bewußten Traditionalismus.“ (Landmann 1961, 159)116 Historisch stimmt das nicht vollauf, denn schon die katholische Kirche hat Tradition gegen die Reformation zu würdigen und verteidigen versucht, aber freilich kommt – bedingt durch den dargelegten argumentativen Angriff der Aufklärung – mit der Romantik eine prinzipiellere Verfechtung ins Spiel. An den Überlegungen dreier Denker, die in diesem Sinne zusammenzustellen möglich ist, nämlich Edmund Burke, Herder und Alexis de Tocqueville, soll das im Folgenden explorativ dargelegt werden. Burke wird nicht immer als Theoretiker erster Güte erachtet, was sicher mit dem Umständen seines Schreibens zu tun hat. Viele seiner Werke dienen mindestens nebenbei auch dezidiert politischen Interessen, seien es seine eigenen oder
115
Wenn hier von „Romantik“ die Rede ist, so versteht sich das als ein sehr weiter Begriffsgebrauch. Gemeint sind damit all die aufklärungskritischen (nicht notwendig aufklärungsablehnenden) Positionen, die einer Erweiterung des Rationalitätsverständnisses und einer Aufwertung der Sphäre des Kollektiven das Wort reden. So weit gefasst, fallen zum Beispiel manche Denker der schottischen Aufklärung eher der Romantik in diesem Sinne zu. Da es auf die Systematisierung nur aus heuristischen Gründen ankommt, erscheint das zulässig, wenn auch nicht letztbegründet. Der auf diese Weise verstandene Romantik-Begriff überschneidet sich in nicht wenigen Teilen mit dem des Konservatismus, so dass das Kapitel ebenso von „romantisch-konservativer Traditionszuwendung“ hätte sprechen können. Gegen eine Einordnung der Autoren unter den Begriff „konservativ“ spricht sachlich nichts, jedoch ist erstens dieser Begriff selbst unklar und umstritten (vgl. G.-K. Kaltenbrunner 1978, 38 ff.), zum anderen ist er stark politisch konnotiert, was es als sinnvoll erscheinen ließ, auf den unverfänglicheren Romantikbegriff auszuweichen. Zudem schwingt in der Vorstellung von der Romantik immer die Aufwertung affektiver Bindungen mit, was angesichts eines teilweise emphatischen Traditionsbegriffes einen Widerhall findet. Gleichwohl, dies muss zugestanden werden, weicht das hier an den Tag gelegte Romantikverständnis vom literaturgeschichtlichen ab, und auch philosophisch gibt es relevante Unterschiede, denn etwa die Frühromantik mit ihrer starken Betonung des freien, sich selbst schaffenden Individuums (vgl. Großheim 2002a, 28–35), erfüllt die zweite genannte Bedingung gerade nicht. 116 Landmann erklärt dort Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald zum eigentlichen Urheber des bewussten Traditionalismus. Zu diesem vgl. auch die Hinweise in Dittmann 2004, 24. Insgesamt wäre gegen Landmann aber darauf hinzuweisen, dass mit Burke und anderen bereits frühere Traditionsverteidiger (wenn auch nicht bewusste Traditionalisten) auf den Plan getreten waren.
2.7 Romantische Traditionszuwendung
63
die bestimmter Gruppen.117 Doch seine Gedanken sind zum einen sehr wohl gehaltvoll, wie das Folgende zeigen wird, zum anderen sind sie wirkmächtig geworden gerade im Feld des politischen Konservatismus, was eine Thematisierung als um so notwendiger erscheinen lässt. Burkes Blick auf die Tradition ist historisch geprägt durch den Umstand, dass er die Französische Revolution miterlebt (aus der Distanz), diese mit der Aufklärung im Hintergrund liest und zudem bestrebt ist, in England ähnliche Entwicklungen möglichst zu verhindern. Dabei spielt der Bezug auf Traditionen eine wesentliche Rolle. Ganz grundsätzlich betont Burke, dass das Modell der tabula rasa abzulehnen sei. Er findet dafür empirische Bestätigung in der „Glorious Revolution“ von 1688, die, anders als ihr französisches Pendant 100 Jahre später, einen guten Verlauf nahm, für welchen Burke gerade in dem teilweisen Beibehalten von Bestehendem die Ursache sieht (vgl. Burke, Betrachtungen, 66 ff.). Er unterscheidet drei allgemein mögliche Handlungsoptionen118 des Menschen: absolute Ausrottung, unveränderte Beibehaltung und den Weg der, wie man sagen könnte, behutsamen Verbesserung. Letzteres ist der Königsweg: Spartam nactus es, hanc exorna – dies ist, meiner Meinung nach, eine Regel voll tiefer Weisheit, die einem redlichen Verbesserer unablässig vor dem Gemüt schweben sollte. […] Neigung zum Erhalten und Geschicklichkeit zum Verbessern sind die beiden Elemente, deren Vereinigung in meinen Augen den Charakter des großen Staatsmannes bildet. (Burke, Betrachtungen, 295)119
Verbesserung an etwas, an das man dennoch möglichst schonend anknüpft, das entwirft Burke als Gegenmodell zur Französischen Revolution. Warum aber? Was sind die Gründe für dieses Anti-tabula rasa-Denken? Man kann mit Burke drei Argumente entwickeln, die aus seiner Sicht begründen, warum in das Bestehende jedenfalls prima facie nicht grundsätzlich beliebig verändernd eingegriffen werden darf. Ein Motiv stellt der Kumulations-Gedanke dar. Hat etwas eine gewisse Dauer, ist es eine Klugheits-Regel, mit Eingriffen vorsichtig zu sein. Dauer verbürgt die Qualität des Bestehenden. Burke wendet diese Idee direkt gegen den Geist der Neuerer, denn diese begeben sich seiner 117
Einige Hinweise zur Ambivalenz Burkes und derjenigen der Rezeption finden sich in Zimmer 1995, 7–14. 118 Burke denkt vom Feld des Politischen her, gleichwohl ist er an diesem Punkt wohl verallgemeinerbar. 119 Dieses Denken (auch das zu Burke im Folgenden noch Herausgestellte) hat eine Parallele bei Adam Müller (vgl. dazu Müller 1922, 4 f., 19, 28 f., 39, 45). Müller hat sich selbst affirmativ auf Burke bezogen.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Ansicht nach auf unsicheres, gar gefährliches Gelände, wenn sie das unbekannte Neue nur um des Neu-Seins willen vorziehen, denn während das Alte sich immerhin durch seine Beständigkeit als nicht ganz sinnlos erwiesen hat, spricht für das Neue nur eine Sache, nämlich das bloße, teils hybrisartige Selbstvertrauen der Konstrukteure: Sie [die Neuerer; S.K.] haben keine Achtung für die Weisheit anderer: aber, was ihnen daran abgeht, ersetzen sie reichlich durch ein volles Maß von Vertrauen auf ihre eigene. […] Dauerhaftigkeit ist kein Verdienst in den Augen dessen, der da glaubt, daß vor seiner Zeit wenig oder nichts geschehen ist, und der alle seine Hoffnungen auf Entdeckungen gründet. (Burke, Betrachtungen, 180)120
Gegen den Fokus auf ein so verstandenes ungeprüftes Mögliches setzt Burke auf die durch die Dauer erfolgte Kumulation von Erfahrung, Wissen und Prüfungen,121 es gibt für ihn eine „Traditionsweisheit“ (Burke, Betrachtungen, 62). Diese Weisheit ist notwendigerweise keine, die einer einzelnen Person zuzurechnen ist, sondern sie besteht in der gesellschaftlichen oder institutionellen Ordnung selbst, ebenso in den Sitten und Tugenden usw. Das Kumulative, um das es Burke geht, steht im Gegensatz zu den Aufklärungstheoremen, die ihren Ausgang vom vermeintlich mündigen Subjekt nehmen. Gegen sie wäre zu sagen, folgt man Burke, dass sie die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Einzelnen zu hoch ansetzen. So kann es Werke geben, die mehr „Verstandeskräfte [fordern], als vielleicht eine Generation liefern kann.“ (Burke, Betrachtungen, 320) Und allemal steht der Einzelne, will er etwas verändern, in einer epistemisch defizitären Position, da er im Hinblick auf Erfahrung den auf ihn überkommenen Praktiken, Dogmen usw. gegenüber immer im Nachteil ist.122 Das kumulativ diachron Entstandene und 120
Dieses Motiv, nach welchem die größere Last der Begründung bei dem liegt, der Neues bewerkstelligen will, insofern das Alte durch seine Bewährung über die Zeit schon etwas geleistet hat, taucht im 20. Jahrhundert prominent im Umfeld der Ritter-Schule mit dem Motiv der Beweislastumkehr wieder auf. Vgl. dazu z. B. Lübbe 1978, 156; Marquard 2008, 88 und Hacke 2006, 14. Es spielt aber auch andernorts eine Rolle, z. B. bei Hayek 1996b, 17. 121 So fragt er rhetorisch: „[W]as anderes als der Zufall entscheidet die Tauglichkeit eines Entwurfs, welcher durchaus keine Erfahrung aufzuweisen hat, die für ihn Bürgschaft leisten könnte?“ (Burke, Betrachtungen, 314). 122 Dieses Argument verdeutlicht Burke am Beispiel der Staatskunst wie folgt: „Da also die wahre Staatskunst eine an sich so praktische, so ganz auf praktische Zwecke gerichtete Wissenschaft ist, da sie Erfahrung und so viel Erfahrung fordert, als der schärfste und unermüdlichste Beobachter im Lauf eines ganzen Lebens nicht erwerben kann: so sollte wohl niemand ohne unendliche Behutsamkeit ein Staatsgebäude niederzureißen wagen, das jahrhundertelang den Zwecken der gesellschaftlichen Verbindung auch nur leidlich entsprochen
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so der je gegenwärtigen Kultur Erworbene gleicht insgesamt zwei Defizite aus, nämlich das der begrenzten individuellen Erfahrung und das der begrenzten individuellen Zeit. Tradition ist insofern Weisheit, da sie als altes Bestandsgut durch ihr faktisches Überleben als aggregierende epistemische Institution gelten kann. Ein zweites Argument neben der Kumulation zielt auf die Wirkung der Tradition, insofern durch den Traditionsabbau unmittelbar Orientierungsverlust und Unsicherheit aufkommen würden: Das Unternehmen, alte Meinungen und Lebensregeln auf einmal auszurotten, ist allemal ein gewagtes Spiel, wobei der Verlust gar nicht zu berechnen ist. Der Mensch wird dadurch augenblicklich in ein unbekanntes Meer geworfen, wo er ohne Kompaß umherirrt, wo er nicht Klippe, nicht Hafen mehr unterscheidet. (Burke, Betrachtungen, 163)
Ein solcher Gedanke ist insofern interessant, als er Rückschlüsse auf das erlaubt, was als Althergebrachtes, Traditionelles anzusehen ist. Offensichtlich sind das im weitesten Sinne verstandene epistemische Gehalte, die Aussagen machen oder implizit Wege und Regeln vorgeben, was etwas ist, wie etwas gemacht wird usw. Diesen erkennt Burke eine lebensorientierende und lebensstabilisierende Funktion zu. Wenn sie verschwinden, drohen Orientierungsverlust, Unbeständigkeit, Unsicherheit. Anders herum gedacht wird dadurch die diachrone Zivilisationsleistung in den Blick genommen. Die Vorfahren, die Früheren haben kumulativ etwas aufgebaut, dessen Rolle eine Neukonstruktion keineswegs sicher übernehmen kann. Hinter den Traditionen lauert, mit Burke gesprochen, das Feld möglicher Barbarei.123 Abkehr vom Überlieferten heißt offenbar, die Gefahr eines Kulturabbaus mitdenken müssen.124 Wenn man von dieser Warte her sich Tradition nähert, wird zudem wieder über Tugenden nachzudenken sein. Burke weist darauf hin, dass es angesichts der großen Verlustgefahr durch Hergabe des Kumulierten auf Zurückhaltung, Vorsicht und Ehrfurcht ankommt. Dem Staat, der bei Burke gelesen werden kann als ein Beispiel für eine traditionelle Regelungsweise, darf der Einzelne nur so begegnen,
hat, oder es neu zu bauen, ohne Grundrisse und Muster von entschiedener Vollkommenheit vor Augen zu haben.“ (Burke, Betrachtungen, 135). 123 Man kann daher Burke zu Recht als Denker der historischen Zivilisierung betrachten (vgl. so Zimmer 1995, 48). 124 Dabei steht dahinter nicht ein Notwendigkeitsgedanke, sondern eine praktische Klugheitsüberlegung.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
daß niemand seine Gebrechen anders als mit schüchterner Ehrfurcht enthülle, auf daß es keinem träume, seine Verbesserung mit seiner Zerstörung zu eröffnen, auf daß jeder Bürger zu den Fehlern desselben herannahe, wie man zu den Wunden eines Vaters tritt: mit frommer Zärtlichkeit und zitternder Besorgnis. (Burke, Betrachtungen, 194)
Was so in ein intensives sprachliches Bild gepackt ist, meint in der Sache eine Umgestaltung des Tugendkatalogs. Es geht um Sorge, Demut, Zurückhaltung, Hinnahme, während Gestaltungswillen, forciertes Engagement usw. negativ gesehen werden. Damit einher kommt durch Burkes Bild auch die soziale und geschichtliche Dimension in den Blick (vgl. auch Tielsch 1962, 188). Das Geschichtliche steht schon hinter dem Kumulationsgedanken, taucht aber im Verlustmotiv insofern wieder auf, als Burke darauf hinweist, dass das, was verloren geht, nicht in kurzer Zeit – und vielleicht überhaupt nicht mehr – zurückgewonnen werden kann (vgl. Burke, Betrachtungen, 297 f., 319 f.). Es ist selbst historisch geworden, die Dauer ist nicht etwas, was zufällig mit der Sache verbunden ist, sondern dessen notwendige Voraussetzung. Erfahrungen und Erkenntnisse lassen sich nicht willentlich beschleunigen. Mit dem Geschichtlichen steht zugleich das Soziale des Menschlichen überhaupt und des Traditionellen zumal im Raum. Im Unterschied zum mündigen Individualgeist der Aufklärung kommt mit Burke der soziale situierte Denker als entscheidende Figur hervor. Der Gebrauch der Vernunft setzt eine geregelte Sozialsphäre voraus, wenn nicht Unordnung, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit die Folge sein sollen. Dies leitet bereits zum dritten Argument über, welches besagt, Traditionen sind gerade Versicherungen zur Mündigkeit. Ein solcher Gedanken mag zunächst überraschen, insofern Bacon, Descartes und andere sicher zu Recht darauf hingewiesen haben, inwiefern Fremdbestimmung – etwa durch die Religion – den Menschen unmündig macht. Das ideologische Verführungspotential von Traditionen steht Burkes Gedanken offensichtlich im Wege. Aber dieser nutzt die „blutigen“ Erkenntnisse, die man aus der Französischen Revolution ziehen kann, um differenzierter zu denken. Er schreibt: „Das stete Andenken an die Vorfahren, die uns wie Heilige umschweben, hält den Geist der Unabhängigkeit, der an und für sich nur zu gern in Wildheit und Ausschweifungen leitet, in den Schranken einer ernsten Würde zurück.“ (Burke, Betrachtungen, 87) Die Traditionen bahnen den Gestaltungswillen des freien, unabhängigen Willens, verhindern auf diese Weise, dass der Mensch zum Spielball kurzweiliger, vorübergehender, oft unverstandener Interessen wird.125 Dahinter steht bei Burke vermutlich die Annahme, 125
Die These, dass solche vor allem affektiven Impulse heteronom sind, teilt Burke mit Kant (vgl. Kant, GMS, AA 398 f., 405, 413), aber während dieser glaubt, die Vernunft könne Autonomie sichern, indem sie dem Menschen den kategorischen Imperativ zur Prüfung jeweiliger
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dass der Mensch qua Vernunft nicht adäquat, vor allem nicht schnell genug auf alle an ihn herangetragenen Impulse autonom reagieren kann. Zudem macht ein auf Traditionen fußendes Handeln die Reaktionen vorhersehbar und zugleich intersubjektiv belastbar. Mündigkeit bleibt daher in gewissem Sinne auch Burkes Ziel,126 nur wird diese – je nach den Prämissen über das Wesen und das Vermögen von Mensch und Vernunft – realistischer oder pessimistischer verstanden. Die Opposition aber, Tradition sei ein Hindernis für eine mündige Vernunfttätigkeit, kann, von Burke aus gesehen, als unzutreffend abgelehnt werden.127 Die genannten drei Argumente zeigen, dass Burke Traditionen für epistemisch gehaltvoll, empirisch gesättigt und ebenso sozial wie historisch bedingt versteht. Aus diesen drei Eigenschaften erwächst seine Achtung vor dem Überkommenen, was sich in der erwähnten Veränderung des Tugendkatalogs zeigt. Ehrfurcht, Demut, Bedenken des möglichen Verlustes, Anerkennung der kumulativen Arbeit – mit Burke wird der Blick auf Traditionen an seine eigene Zeitlichkeitsstruktur erinnert. Der Veränderer hat immer einen kurzen Zeithorizont,128 insofern er das Alte „dem Gefühl des kleinsten gegenwärtigen Vorteils und jeder augenblicklichen Lieblingsneigung aufzuopfern bereit ist.“ (Burke, Betrachtungen, 72) Ein so an Traditionen Herantretender lebt in einem sehr kleinen Zeithorizont. Gegen diesen verweist Burke darauf, dass der Mensch sich eher als in einen umfassenden Zeithorizont eingebettet verstehen sollte, was er an der für ihn zentralen Entität Staat erläutert:
Handlungsvorsätze gibt, ist Burke skeptischer. Er weist darauf hin, dass mit Traditionen und den von ihnen ausgehenden Regelungen eine stabilere, weil immer schon internalisierte „Pufferzone“ geschaffen ist, die den Ansturm der Impulse filtert. Damit nimmt er, ohne dies vielleicht selbst zu wissen, bestimmte Aspekte der ἕξις-Lehre Aristoteles‘ wieder auf (vgl. dazu v. a. Aristoteles, NE, 1103a, 1105b–1107a), der den Vorteil einer solchen ἕξις darin liegen sah, dass sie von augenblicklichen Entscheidungen entlastet, indem sie immer schon entschieden hat, was wiederum für den Menschen Freiraum zu expliziter Vernunfttätigkeit (gerade auch im Sinne Kants) schafft. 126 Zimmer ist daher zuzustimmen, wenn er sagt, Burke sei ein konservativer Aufklärer (vgl. Zimmer 1995, 8). 127 Burke diskutiert diese Standardvorwürfe, die aus dem Topos der Aufklärung erwachsen sind, selbst. Vgl. Burke, Betrachtungen, 298 f. 128 Mit Zeithorizont ist gemeint die „Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus“ (Großheim 2012, 22). Man kann anhand des durch einen Menschen, eine Theorie oder auch eine Kultur in den Blick genommenen, im Rahmen der Überlegungen und Entscheidungen bedachten Zeithorizonts Aussagen über das jeweilige Verhältnis zur Zeit überhaupt, zur Geschichte, zur Zukunft, aber ebenso zu Traditionen aufstellen.
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Er [der Staat; S.K.] ist nicht bloß eine Gemeinschaft in Dingen, deren die grobe tierische Existenz des vergänglichen Teils unseres Wesens bedarf, er ist eine Gemeinschaft in allem, was wissenswürdig, in allem, was schön, in allem, was schätzbar und gut und göttlich im Menschen ist. Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen. (Burke, Betrachtungen, 195)129
Der Mensch als das Wesen, das zwischen den Früheren, den Jetzigen und den Späteren aufgespannt ist, der Mensch als intergenerationelles Wesen ist es, der Traditionen achtsam bedenken muss. Der revolutionäre Neuerer beginnt immer damit, mindestens nach hinten, für Burke auch nach vorne130 die Zusammenhänge abzubrechen, seinen Zeithorizont zu verkürzen. Damit aber wirft er die kumulierten Gehalte von sich und gerät in Verlustgefahr. An Burke ist zu lernen, dass man am Impuls einer Aufklärung des Menschen festhalten kann, ohne zugleich generell mit Traditionen brechen zu müssen. Jedenfalls schien dies für ihn kein Widerspruch zu beinhalten, und zwar nicht nur aus instrumentellen Gründen, wie das bei Wieland aufleuchtete, sondern aufgrund intrinsischer Eigenschaften der Traditionen selbst. Im deutschen Sprachraum wird annähernd zeitgleich Herder wesentlicher Vertreter eines solchen Ansatzes.131 Für ihn sind Traditionen, anders als größtenteils bei Burke, expressis verbis ein Humanum.132 Ihre generelle und nicht nur einzelfallbezogene Negation ist folglich inhuman. Wie kommt Herder auf diesen Gedanken? Es lassen sich zwei entscheidende Motive herausstellen, die für die Entwicklung des genannten Ansatzes die Voraussetzung bilden. Zum einen ist Herders Denken von 129
Burkes etatistisches Denken bleibt hier umthematisiert, es wird stillschweigend davon ausgegangen, dass der Staat durch andere Formen traditionell etablierten Zusammenlebens ersetzt werden kann. 130 Vgl. Burke, Betrachtungen, 85: „Leute, die nie hinter sich auf ihre Vorfahren blickten, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen.“ Das ist sicher fraglich, denn viele Revolutionen werden gerade um eine (manchmal erhofft nahe, manchmal ferne) Zukunft willen getan. 131 Es mag überraschen, dass hier ein Zeitgenosse Burkes, Adam Ferguson, keine Rolle spielt. Sein Denken enthält vergleichbare Ansichten, aber bringt in der Sache nichts wesentlich Neues. Elfriede Tielsch behauptet generell, Ferguson sei ein nicht-origineller Epigone (vgl. Tielsch 1962, 208), was, wenn es stimmt, das Übergehen legitimiert. Freilich wäre er im Rahmen einer vollständigen Geschichte der Traditionstheorie sicher zu bedenken. 132 Vgl. das parallele Motiv bei Herder, Ideen, 227: „Bleibt der Mensch unter Menschen, so kann er […] [der] bildenden oder mißbildenden Kultur nicht entweichen; Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist und diese sich bilden lassen, so wird der Mensch, so ist er gestaltet […].“
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einer bestimmten anthropologischen Perspektive abhängig,133 zum anderen hat er eine spezifisch von Descartes abweichende, nämlich situierende Konzeption der Vernunft. Herder und sein anthropologisches Denken sind folgenreich gewesen, haben die spätere philosophische Anthropologie mit geprägt.134 Will man es auf einen Nenner bringen, so kann man wohl sagen, dass der Mensch ihm primär ein rezeptives Wesen ist, weil er defizitär ausgestattet auf der Welt erscheint. Der Mensch ist nicht schon an sich gut oder vollkommen, sondern muss es immer erst noch werden, was wiederum nur durch andere Menschen und die Kultur möglich wird. Insofern ist der Mensch anfänglich – und im Hinblick auf eine zu erreichende Vollkommenheit wohl zeitlebens – ein Rezeptionswesen: Es ist befremdend und doch unleugbar, daß unter allen Erdbewohnern das menschliche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fern bleibt. Jedes Tier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreichts nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist, und er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von außen und innen anfängt. Dem Tier ist die Muttergabe der Natur, sein Instinkt, der sichre Führer; es ist noch als Knecht im Hause des obersten Vaters und muß gehorchen. Der Mensch ist schon als Kind in dem selben und soll außer einigen notdürftigen Trieben alles, was zur Vernunft und Humanität gehört, erst lernen. (Herder, Ideen, 143)135
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Als Überblick zu Herders anthropologischem Denken und seine damit verbundene Abgrenzung von Kant vgl. Landmann 1962, 277–312. 134 Vgl. zu Herders Stellung in der philosophischen Anthropologie z. B. Landmann 1976a, z. B. 35, 97, 100 f., 128 f. oder Habermas 1973, 92 f. Gehlen hat – sicher etwas überspitzt – gemeint, die philosophische Anthropologie habe seit Herder keinen Schritt vorwärts getan (vgl. Gehlen, Mensch, 90). 135 Der Mensch als defizitäres Tier ist ein Motiv, dass schon bei Giovanni Pico della Mirandola eine Rolle spielt (vgl. Mirandola 1990, 7), später über Nietzsche (der Mensch als das nicht festgestellte Tier) und Gehlen (der Mensch als Mängelwesen) breiter Wirkung entfaltete. Der Zusammenhang der philosophischen Anthropologie mit Vico und dem Humanismus wird meistens gar nicht thematisiert, der mit Herder oft nur am Rande. Exemplarisch dafür vgl. Wöhrle 2009, v. a. 75 f. Auch in der aktuell maßgeblichen Einführung in die philosophische Anthropologie finden weder Vico noch Herder Erwähnung (vgl. Thies 2009).
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Diese durch den Mensch-Tier-Vergleich entwickelte These besagt, dass der Mensch minderbemittelt in die Welt kommt136 und dort phylo- wie ontogenetisch Leistungen erbringen muss, um in gewissem Sinne sich zu dem überhaupt erst zu machen, was er als Mensch sein soll. Das wiederum bedingt einerseits, worauf es für Traditionen insbesondere ankommt, eine zunächst und zumeist einzunehmende rezeptive Haltung, zum anderen die notwendige Einbindung in sozial-kollektive Situationen: […] kein einzelner von uns [Menschen; S.K.] ist durch sich selbst Mensch worden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das irgend in einem Gliede eine seiner Seelenkräfte berührte. (Herder, Ideen, 226)
Nun hatten freilich weder die Aufklärung noch Herders großer Antipode Kant behauptet, der Mensch könne – einem Kaspar Hauser gleich – ohne Menschen auskommen. Aber insbesondere Rousseaus zivilisationskritisches Denken, jedoch auch Kants dominanter Autonomiefokus haben der Sphäre des Kulturellen und Zwischenmenschlichen in grundlegenden Hinsichten Geltung abgesprochen, ja oft gerade deren Wirkungen als schlecht und unannehmbar herausgestellt.137 Herder dreht diese Wertung gleichsam um, indem er die Unausweichlichkeit und Sinnhaftigkeit der bildenden Kulturtradition betont. Und dies dient nicht nur dem Kind bis zum Erwachsensein als Stütze, sondern es handelt sich um eine individuell wie kollektiv immer fortwährend nötige Arbeit (vgl. Herder, Ideen, 395). Da sich dies so verhält, wird das Kollektive des Menschen von Herder nicht nur synchron gedacht, sondern insbesondere diachron. Wie vielleicht kein anderer hat 136
Dieser These ist durch Biologen (namentlich nicht primär gegen Herder) widersprochen worden (vgl. dazu Karneth 1991). Sie krankt zum Beispiel daran, auch bei Gehlen noch, dass alle Tiere mit nur einer Tierart, dem homo sapiens, verglichen werden. Ein solcher Vergleich kann für die allen anderen Tierarten gegenübergestellte einzelne Tierart kein anderes Ergebnis zeitigen. 137 Eine partielle Verteidigung Rousseaus gegen Herder und andere bietet Thies: 2018, z. B. 120. Thies‘ Bestimmung dessen, was Rousseauismus ist (ebd., 117), übersieht aber eine wesentliche Nuance, dass nämlich Rousseau implizit davon auszugehen scheint, dass der Mensch auch außerhalb von Kultur und fernab von Mitmenschen wissen könne, was er selbst ist oder sein will, dass er also von sich aus schon immer etwas ist. Dies ist fraglich, denn um z. B. sich als jemanden (als guten Sportler, tollen Freund) zu verstehen, braucht man nicht nur die Kontrastfolie der anderen, sondern auch deren Hilfe in Form von Kritik, Lob usw., und ganz grundlegend die explizierende Sprache. Niemand kann, so muss man mit Herder gegen Rousseau sagen, etwas ohne andere sein.
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er das Motiv der Kette stark gemacht, jener Kette, die die Menschen durch die Zeiten de facto bilden und auch weiter bilden sollen: Was also jeder Mensch ist und sein kann, das muß Zweck des Menschengeschlechts sein; und was ist dies? Humanität und Glückseligkeit auf dieser Stelle, in diesem Grad, als dies und kein andres Glied der Kette von Bildung, die durchs ganze Geschlecht reichet. Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist du, der du sein solltest; verlaß die Kette nicht, noch setze dich über sie hinaus, sondern schlinge dich an sie! (Herder, Ideen, 228)
Das Eintreten in die Kette wird als Weg zur eigentlichen Menschwerdung und gar zum Erreichen der ethischen Vollkommenheit verstanden, weshalb die Orientierung an ihr geradezu zwingend ist. Herder denkt die Kette dabei national und in gewissem Sinne „kulturexklusiv“, was sicher zu kritisieren wäre, hier aber unterbleiben kann, weil es allein um das dahinterstehende abstrakte Motiv geht. Der Mensch als defizitäre Erscheinung bedarf der Arbeit der Früheren, die ihm qua Tradition zuteil wird, um sich zu bilden, zu bessern, und er muss selbst für die nach ihm Kommenden an dieser Kette mitwirken. Während, wie gezeigt, Bacon und seine Nachfolger in der Orientierung am Früheren gerade ein Fehlverhalten ausmachten, insofern dadurch die kritische Prüfung, die eigene Beobachtung usw. verhindert würden, will Herder darauf hinweisen, dass der Einzelne nur dank der Einordnung in die Tradition überhaupt bestehen kann. Dies wäre übrigens missinterpretiert, wenn man darin allein die These finden wollte, dass der Mensch eben zum Aufwachsen auf andere Menschen angewiesen sei. Herders Hinweis auf die Angewiesenheit ist viel grundsätzlicher gemeint, betrifft den Menschen überhaupt, nicht nur eine Phase seines Daseins und auch nicht nur konkrete historische Zeiten oder gesellschaftliche Zustände. Der Vorwurf, durch Herders anthropologisch fundiertes Theorem des sinnvollen „Ankettens“ würde jeder Mensch dazu verleitet, das aktuell Bestehende als zu Akzeptierendes hinnehmen zu müssen, liegt freilich unmittelbar nahe. Herder scheint Apologet des je immer faktisch Vorhandenen zu sein, und es ist klar, dass es viele historische Zustände gegeben hat und noch gibt, deren Fortbestehen in vielerlei Hinsicht nicht wünschenswert ist. Doch ein solcher Einwand übersieht, dass Herder den Menschen in seiner Mangelhaftigkeit ernstnimmt, die Traditionsangewiesenheit folglich ambivalent bleibt: Was ists für ein armes Geschöpf, das nichts aus sich selbst hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Übung bekommt und wie ein Wachs deren Gestalten annimmt! […] Welche törichte Einbildung wäre denkbar, die die erbliche Tradition nicht hie und da wirklich geheiligt hätte. Niedriger also kann kein vernünftiges Geschöpf stehen, als der
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Mensch steht; denn er ist lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, sondern sogar ein Zögling der Vernunft anderer. In welche Hände er fällt, darnach wird er gestaltet […]. (Herder, Ideen, 228)
Qua seines Wesens auf Tradition angewiesen, wird er zu deren „Spielball“. Das heißt, wer an eine weniger gute Position in der Kette oder die womöglich schlechte Kette eines Volkes geraten ist, hat kaum Chancen, aus diesem Zustand ganz grundsätzlich auszubrechen. Aber Herder deutet an, dass es sehr wohl, jedenfalls gelegentlich, Momente der Besserung geben kann: „Alle Laster und Greueltaten erschöpfen sich in der Geschichte, bis endlich hie und da eine edlere Form menschlicher Gedanken und Tugenden erscheinet.“ Und diese Momente müssen im Durcheinander der Katastrophen bewahrt werden, damit insgesamt die Menschheit voranzuschreiten vermag: „Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich fortwirket und fortwirkend lebet.“ (Herder, Ideen, 229)138 Nicht jede Tradition ist folglich gut, vielleicht sind es die meisten gerade nicht, aber als Einzelner ist der Mensch hoffnungslos verloren, vielleicht gar kein Mensch, und nur durch sein Mitwirken an der Kette ist für die Menschheit insgesamt ein Fortkommen möglich.139 Die Lage des Menschen ist ambivalent, er ist defizitär, aber ungemein bildungsfähig,140 und ebenso sind die Traditionen zu sehen, insofern sie oftmals schlecht sind, aber letztlich
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Dahinter stehen ersichtlich geschichtsphilosophische Erwägungen, die sich mit teleologischen Fragen beschäftigen, die hier dahingestellt bleiben sollen. Dass das Kettenmotiv derartiges Nachdenken evoziert, hat auch Herders Gegenspieler Kant gesehen, der – wohl „zähneknirschend“ – zugestehen musste, dass es „befremdend bleibt […], daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diese eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten […].“ (Kant, Idee, 6 f.). Damit ist gezeigt, dass Kant um den generationellen und kumulativen Aspekt wusste. Er hat dennoch – insbesondere im Rahmen seiner Vernunftkritiken – an einem individualistischen und somit anti-herderschen Ansatz festgehalten. Das angedeutete Problem der Mediatisierung der Früheren wird von ihm gelöst, indem er einen gattungsspezifischen Blick vorschlägt. 139 Und übrigens ist für Herder so auch dem Einzelnen ein posthumes Fortleben in der bildenden Tradition möglich (vgl. Herder, Ideen, 229). 140 Die entsprechende Überlegung ist berühmt in der früheren Formulierung Mirandolas: „Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich [Gott; S.K.] dich anvertraut habe, selber bestimmen. […] Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ (Mirandola 1990, 7).
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den diachronen – und einzig menschenmöglichen – Weg zur Vollkommenheit darstellen. Der zweite erwähnte Aspekt, den man mit Herder in den Blick nehmen muss, um sein Traditionsverständnis nachzuvollziehen, ist die Idee einer situierten Vernunft. Bereits das angeführte Kettenmotiv war konkret verortet worden. Diese gedankliche Operation wird auch im Hinblick auf Vernunft durchgeführt: Wir sind da als Teile der Welt; niemand von uns ist ein isoliertes Weltall. Menschen sind wir, im Leibe einer Mutter empfangen, und als wir in die größere Welt traten, fanden wir uns sogleich mit tausend Banden unsrer Sinne, unsrer Bedürfnisse und Triebe an ein Universum geknüpft, vom welchem sich keine spekulierende Vernunft trennen mag. Ohne dies Allgemeine, dem wir angehören, ist nichts in uns anwendbar oder erklärlich; wir selbst sind nur als Glieder einer großen Kette da, ohne welche so wenig unser Verstand als unsere Vernunft stattfände. (Herder, Metakritik, 211 f.)
Herders Kritik richtet sich an dieser Stelle gegen Kant und dessen Vorstellung einer reinen Vernunft, die zu betrachten wäre ohne Rücksicht auf das, was im Zitat als das „Allgemeine“ angesprochen wird. Das Allgemeine darf nicht im Sinne eines Abstrakten, womöglich im Sinne der Anschauungsformen a priori kantscher Denkart aufgefasst werden, sondern meint eine Sphäre des konkreten Menschen Gemeinsamen. Ohne diese ist Vernunft nicht denkbar. Vernunft ist immer situiert, sie ist in dieser Hinsicht, nimmt man sie analytisch aus ihrer Konkretion heraus, leer. Damit wendet sich Herder gegen einen nur formalen Begriff der Vernunft, dem er einen, wie man sagen könnte, explikativen entgegenstellt. Vernunft ist immer schon sekundär zu etwas Vorgegebenem, mit dem sie und von dem her sie tätig wird: […] unsre Vernunft kann nichts bearbeiten, als was ihr an Materialen das Universum zuführt. Das Zugeführte kann der Verstand sich nur klarmachen, die Vernunft nur läutern; die Möglichkeit einer Erfahrung des Universums kann sie sich so wenig schaffen, daß sie vielmehr an ihm sich erst als Vernunft, der Verstand als Verstand erkennen lernt. (Herder, Metakritik, 212)
Vernunft „läutert“ das Vorgegebene, das meint wohl, sie klärt es auf, etwa indem sie Begriffe bildet, Zusammenhänge erkennt usw. Nicht aber schafft sie das Vorgegebene selbst und – noch wichtiger – keineswegs ist die Vernunft als Vernunft jenseits der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen denk- oder auffindbar. Vernunft muss sich etwas geben lassen, um zu sich selbst zu kommen, was wiederum heißt, dass es sie ohne das, woran sie zu sich kommt, gar nicht gibt.
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So gesehen wird Vernunft zu einem Explikationsorgan, welches sich und Weltbestände nur aus etwas immer schon Vorgängigem herauszubilden vermag.141 Doch nicht nur ist die Vernunft als inhaltsfern-formale missverstanden,142 wobei neben Kant sicher auch Descartes und vor ihm Bacon so gedacht zu haben scheinen, sondern die Relevanz des Vorgegebenen wird von Herder insofern noch weiter konkretisiert, als er meint, Vernunft sei „nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden ist.“ (Herder, Ideen, 119)143 Situiert ist die Vernunft nicht nur in abstracto, wie die Kant-Kritik nahelegt, sondern historisch. Damit steht freilich die Frage der Relativität im Raum. Ist jede Vernunft nur relativ zu ihrem Entstehungskontext? Die Aufklärung war gerade angetreten, gegen die bloß partiell zuerkannte Vernünftigkeit – etwa für und durch Priester oder Aristokraten – die allgemeine Vernünftigkeit der Menschen nachzuweisen bzw. einzufordern.144 Herder betont dagegen, dass ein solcher Blick die traditionsspezifische Prägung von Vernünftigkeit übersieht. Dies kann er deshalb tun, weil er eine menschheitsgeschichtliche Perspektive verfolgt, in der es über die Nationen und Völker hinweg Aufstiege und Verbesserungen festzustellen gibt.145 Wenn die Vernunft als situierte verstanden wird, kommt der Bildungstradition eine besondere Relevanz zu. Sie wird, wie Herder andeutet, zur Lehrerin der Menschheit (vgl. Herder, Ideen, 242). Sie ist das Organ der Vernunft.146 Nur vor 141
Zum Vorrang des vernünftigen und verstandesmäßigen Findens vor dem Schaffen vgl. auch Herder, Ideen, 120. 142 Um noch durch eine andere Stelle zu verdeutlichen, was Herder meint: „Wer mir die Welt der Gegenstände, an denen ich die Vernunft erprobe, entwendet, hat mir die Vernunft selbst entwandt […]. Die Vernunft kann und darf nur sich selbst, nicht aber ohne Gegenstände, sondern anerkennend die Gegenstände glauben.“ (Herder, Metakritik, 305). 143 Vgl. zu diesem Gedanken auch Herder, Ideen, 225. 144 Dass sie dabei historisch oft hinter diesem Ideal zurückblieb, was etwa den Umgang mit Frauen, Nicht-Europäern usw. anging, steht auf einem anderen Blatt und ändert an der Idee nichts. 145 Inwiefern das eine konsistente Position ist, mag dahingestellt bleiben. 146 Vgl. Herder, Ideen, 417: „Da […] alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungsstande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht […] Kräfte der Fortpflanzung in sich […]. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hin. […] Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander: nicht, als ob sie in jedem Einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgends existieret, folglich auch nicht der Zweck der Schöpfung sein konnte, sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte.“
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dem Hintergrund der beiden geschilderten Aspekte – anthropologische Prämisse und Vernunftbegriff – wird angemessen verständlich, wie Herder zu der Umwertung der topostypischen Antithese von Vernunft und Tradition kommt. Weil der Mensch defizitär ist und weil Vernunft nur konkret situiert gedacht werden kann, bedarf es der sich diachron erstreckenden Tradition, denn diese liefert Material, Wissen usw., das ein individuelles wie kollektives Vervollkommnen ermöglicht, ganz unabhängig davon, ob man diese Steigerung mit Herder nun absolut oder relativ lesen muss. Bedenkt man dies genauer, wird auch verständlich, warum Herder Tradition vom Paradigma der Sprache her denkt. Zwar kennt er wohl auch lebendige mimische Traditionen, aber die Vernunft, als deren Organ die Tradition nun einmal gilt, ist notwendig an Sprache gebunden, man kommt zur ihr nur durch diese (vgl. Herder, Ideen, 230). Gesteigert wird das noch durch einen Fokus auf Schrift, denn diese wird Herder zur „Tradition der Traditionen“, weil wenn „Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unsres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bildung.“ (Herder, Ideen, 235)147 Man wird daher nicht fehlgehen, wenn man Herders Traditionsbegriff so deutet, dass es ihm um den Bestand an in der Hauptsache vermittels (ggf. verschriftlichter) Sprache weitergegebenem Wissen geht. Dieses formt dann Vernunft, Individuen und Kollektive. Freilich ist Wissen hier weit zu nehmen, es dürfte um so etwas wie allgemeine Weltdeutungen gehen. Herders Bindung der Tradition an die Sprache – vielleicht sogar ausnahmslos, in jedem Fall in der Hauptsache der Bildungstradition – ist insofern überraschend, als er der Vernunft ihre übermäßig zerlegende Arbeit mitunter zum Vorwurf macht. Gegen einen, wie man sagen könnte, „Hyperexplikationismus“ gelte es, die Vernunft zu zähmen, denn diese schaffe durch ihre Wortspaltereien „Schatten“, gehe in das „Zufeine“ (vgl. Herder, Metakritik, 214). Es gibt offensichtlich Grenzen, an denen die Vernunft im Rahmen ihres dialektischen Tuns haltmachen soll. Folglich, sofern das zu Schützende selbst bewahrenswert ist, müsste es mittels Tradition weiterzugeben sein, die dann aber nicht nur sprachlich zu denken wäre. Herder ist über diese Brücke nicht gegangen, auch wenn es der Sache nach möglich scheint. Grund dafür dürfte sein, trotz der angeführten Reserviertheit gegenüber dem zu weiten Explizieren, dass er an die vollumfängliche Versprachlichung aller Traditionsbestände glaubt, denn es lasse sich „durch Sprache und Zeichen alles Denkbare ausdrücken“ (Herder, Metakritik, 301).
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An anderer Stelle betont Herder die Identifizierung von Tradition mit Überlieferung überhaupt, allerdings ohne die Schrift herauszustellen (vgl. Herder, Ideen, 227).
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Wie dem aber auch sei, festzuhalten bleibt, dass Traditionen im Rahmen der Überlegungen Herders eine vernunftleitende und vernunftermöglichende Funktion zukommt. Sie helfen, menschliche Defizite, die anthropologisch bedingt sind, zu überwinden. Dabei wird dem Einzelnen vor dem Hintergrund dieser theoretischen Annahmen und Einsichten eine primär dienende Rolle zugedacht. Er soll nicht Schöpfer, sondern Bewahrer sein, die Kette hinnehmen und weitergeben – oder allgemeiner, wie es Herder den fiktiven, spähenden Gedanken „Hugo“ einem vor dem Eingang zur akademischen Weisheit eingeschlafenen Jüngling sagen lässt: „Es ist eine Welt, mein Sohn, die du weder erschaffen hast noch erschaffen kannst und sollst; lerne sie kennen, werde ihr brauchbar!“ (Herder, Metakritik, 18) Als letzter der drei Zuwender zur Tradition, welche als auf die Aufklärung und dem von dieser ausgehenden Topos Reagierende zum Thema werden sollten, ist Tocqueville zu analysieren. Sein wesentlicher Beitrag besteht darin, das noch relativ junge, demokratische Amerika bereist und kritisch reflektiert zu haben. Das Spannungsfeld von Tocquevilles eigener, gemäßigt aristokratischer Position148 und seinen offenen Augen für die Vor- und Nachteile der amerikanischen Demokratie liefert für das Traditionsdenken wichtige Impulse. Seine im Fokus stehende Schrift149 liefert zwar keine systematische Theorie, aber einzelne Hinweise und Ideen, welche die Reflexion auf Tradition bereichern. Vier solcher Motive sollen verhandelt werden. Zunächst kann man von Tocqueville lernen, dass den Traditionen eine allgemeine Schutzfunktion eigen zu sein scheint. Im Amerika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet er, dass dort kaum lange historische Zusammenhänge bestehen, vieles ad hoc und pragmatisch gelöst wird. Aber andererseits wird dadurch gerade der Bereich auffällig, in dem Traditionsresiduen zu finden sind und in welchem diese spezifische Leistungen übernehmen. Ein solcher Bereich ist die Familie, deren generationelle Kette – als ein Beispiel für Tradition – vor Eigensucht schützt (vgl. Tocqueville, Demokratie, 58).150 Der amerikanische Egoismus, so muss man Tocqueville hier verstehen, resultiert seiner Ansicht nach aus der Entbindung aus dieser Tradition. Egoismus und Tradition stehen umgekehrt proportional zueinander. Eine Schutzfunktion besteht ebenso im Hinblick auf politische Unterdrückung. In der Aufklärung war die ideologiekritische These 148
Tocqueville, dies ist für eine Bewertung seines Blicks auf Amerika sehr wichtig, erlebt seine eigene Zeit als Verlustepoche, insofern die Aristokratie samt ihren Vorzügen aufgegeben worden sei, ohne freilich daraus Gewinn gezogen zu haben (vgl. Tocqueville, Demokratie, 13). 149 Die jüngere Parallelschrift zur Französischen Revolution und deren Vorbedingungen und Konsequenzen (vgl. Tocqueville 1978) liefert allerdings ganz ähnliche Thesen. 150 Vgl. dazu auch Tocqueville 1978, 14 f.
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vertreten worden, Tradition diene der Unterdrückung, insofern wegen vermeintlicher alter oder gar heiliger Regeln bestimmte Personen oder Institutionen gewisse Rechte oder Privilegien genießen dürfen. Dieser Zusammenhang ist unmittelbar evident. Und dennoch vertritt Tocqueville, ohne den genannten Gedanken zu bestreiten, eine anders gelagerte Position. Er beobachtet, dass die Idee der prinzipiellen Gleichheit, wie sie die amerikanische Demokratie leitet, die Menschen einander angleicht, indem sie differenzierende und unterscheidende Merkmale wie zum Beispiel Familien-, Standes-, Lokal- oder Berufstraditionen abbaut. Dann aber werden die Menschen zu einer homogeneren und dadurch viel leichter verfüg- und verführbaren Masse151 : Als die Provinzen und die Städte ebenso viele verschiedene Nationen im gemeinsamen Vaterlande bildeten, hatte jede ihren besonderen Geist, der sich dem allgemeinen Geist der Knechtschaft widersetzte; heute aber, da alle Teile des gleichen Reiches nach dem Verlust ihrer Freiheiten, ihrer Bräuche, ihrer Vorurteile und sogar ihrer Überlieferungen und ihrer Namen sich gewöhnt haben, den gleichen Gesetzen zu gehorchen, ist es nicht schwieriger, sie alle zusammen statt eine von ihnen einzeln zu unterdrücken. (Tocqueville, Demokratie, 362)152
Traditionen werden zu einem politischen Widerstandsreservoir in dem Moment, da die Gesellschaft homogener wird. Wer in einer Tradition verwurzelt ist und sich dahingehend von anderen unterscheidet, wird weniger schnell unterdrückt bzw. es werden nicht viele oder alle gleichermaßen unterdrückt.153 Diese Schutzfunktion der Tradition ist mit Tocqueville nur vor dem Hintergrund einer Pluralität verstehbar, eine allein dominante Tradition wäre vermutlich per se unterdrückend, womit der von der Aufklärung geschilderte Zusammenhang sein Recht behielte. 151
Einen ähnlichen Gedanken entwickelt ohne Bezugnahme auf Tocqueville später der amerikanische Soziologie David Riesman, wenn er auf die homogenisierende Wirkung des außengeleiteten Menschentypus verweist (vgl. Riesman et al. 1958, z. B. 38). 152 Vgl. dazu auch die parallelen Analysen zur Französischen Revolution bei Tocqueville 1978, z. B. 114 ff., 159. 153 Man kann manche Entwicklungen in der Gegenwart des 20. und 21. Jahrhunderts lesen als eine solche Wiederaufnahme von Traditionen im Sinne des Widerstands. So hat die UNESCO 1972 im „Übereinkommen zum Schutz des Natur- und Kulturerbes der Welt“ den Verfall und die Zerstörung auch des Kulturerbes festgestellt, beklagt und zum Anlass genommen wurde, dieses unter besonderen Schutz zu stellen. Damals wurde das Kulturerbe allerdings streng materiell (Denkmäler, Stätten, Ensembles) verstanden. Später erst wurde es erweitert auf orale Traditionen zum Beispiel (vgl. dazu Schäfer 2016, 195 f.). Im Rahmen heutiger identitätspolitischer Diskurse wird die bedeutende Rolle der je eigenen Tradition in Abgrenzung von der unterstellten Majorität betont. Vgl. dazu kritisch Fukuyama 2018, 73 f., 104, 110; affirmativ Hall 1994a, 15 und Ders. 1994b, 61 f.
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Wenn das stimmt, ist aber festzuhalten, dass die Eigenschaft des Unterdrückens bzw. der Schützens keine intrinsische, sondern nur eine relationale ist. Ein zweiter Impuls Tocquevilles, der auf Denker wie Hayek oder Michael Oakeshott vorausweist,154 besteht darin, die konstruktionskomplementäre Funktion der Tradition zu beachten. Die Idee, die durch Tocqueville im Ausgang von amerikanischen Gesetzgebungsprozessen entwickelt wird, besteht darin, die Voraussehungskraft der Planenden als begrenzt zu markieren.155 Deren Defizite wirken sich aber nur dann ungefiltert und durchschlagend aus, wenn es keine puffernde Tradition mehr gibt. Als eine solche Dimension, die die geschaffenen Gesetze gleichsam unterfüttert und deren Probleme abfedert, gilt Tocqueville die Sitte (vgl. Tocqueville, Demokratie, 137, 332). Es gibt etwas vor und unter den Konstruktionen – den Gesetzen, Regeln, Normen, die explizit von der demokratischen Gesellschaft erlassen werden –, das deren Leerstellen und Defizite korrigieren hilft. Dabei kommen diese Entitäten nicht nur nachträglich ins Spiel, idealerweise werden sie schon bei der Planung und Konstruktion bedacht. Der ideale Gesetzgeber, so Tocqueville, „gleicht einem Manne, der sich seinen Weg durch die Meere bahnt. Er kann das Schiff, das ihn trägt, steuern, seinen Bau aber kann er nicht ändern, er kann weder die Winde erzeugen noch den Wogengang des Ozeans hindern.“ (Tocqueville, Demokratie, 185) Mit diesem Gedanken verbunden ist, wie schon bei Burke und Herder, eine Betonung des Hinnehmens, der Hinhörens, vielleicht – am Ende – der Demut. Besonders relevant sind drittens auch die Überlegungen, die auf das problematische Verhältnis von Demokratie und Tradition abzielen. Diese fußen auf dem Grundgedanken, dass Demokratie Gleichheit mit sich führe sowie eine Orientierung am Wählerwillen. Das bedingt jedoch zwei Entwicklungen, die Traditionen gegenüber negative Folgen haben, nämlich eine Kürzung des Zeithorizontes sowie eine Ablehnung epistemischer Rangunterschiede. Die Kürzung des Zeithorizontes insbesondere auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sieht Tocqueville besonders durch die kurzen Amtszeiten bedingt. Der häufige Wechsel der Mandatsträger wegen der begrenzten Legislaturperioden erzeugt eine hohe Fluktuation und eine zeitlich kurzsichtige Perspektive. Sicher übertrieben, aber zur Erläuterung seines Gedankens in der Pointierung hilfreich ist seine These, „[d]ie einzigen Denkmäler der Vereinigten Staaten sind die Zeitungen. Geht eine Nummer verloren, so 154
Vgl. zu diesen Abschn. 3.14. Schon vor Tocqueville findet sich dieser Gedanken etwa bei Justus Möser (vgl Möser 1978). Möser als Traditionsdenker streift auch Rothacker, Altertum, 3. 155 Vgl. auch die Kritik an der Überschätzung der menschlichen Gestaltungkräfte und Vorsehungsmöglichkeiten währen der Umwälzungen nach 1789 in Frankreich bei Tocqueville 1978, 157 f.
2.7 Romantische Traditionszuwendung
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ist die Kette der Zeiten wie unterbrochen: Gegenwart und Vergangenheit sind nicht mehr miteinander verknüpft.“ (Tocqueville, Demokratie, 238) Die Orientierung auf Wahlperioden hin sorge dafür, dass sich keiner um das kümmere, was vor ihm getan worden sei (vgl. Tocqueville, Demokratie, 238). Insgesamt sorge ein Zeitalter der Gleichheit für einen Mentalitätswandel, insofern gar nicht mehr die Erwartung bestehe, wie noch in aristokratischen Zeiten, dass etwas Dauer haben könne oder solle. Unbeständigkeit ist das Normalniveau (vgl. Tocqueville, Demokratie, 678). Es ist hier unerheblich, ob der von Tocqueville unterstellte Zusammenhang zwischen Demokratie, Gleichheit und Verkürzung des Zeithorizontes richtig gesehen ist, entscheidend ist nur, dass Traditionen mit einer Mentalität in Konflikt geraten müssen (wie auch immer diese entstanden sein mag), deren Erwartungshaltung auf Unbeständiges, Verändertes und Neues geeicht scheint. Der zweite Aspekt, den die Gleichheit bedingt, ist die abnehmende Akzeptanz epistemisch höherwertiger Personen und Institutionen, seien es Experten, Wissenschaftler oder gar Traditionen. Tocqueville spricht davon, dass in „dem Maße wie die Menschen sich ähnlicher werden, […] [das] Dogma von der Gleichheit in ihren Glauben [einsickert]“ (Tocqueville, Demokratie, 750). Im Hinblick auf Traditionen verweist das auf deren Anspruch, über Individuen und Kollektive Geltung haben zu dürfen, oder, wie es oft heißt, Autorität zu besitzen. Indem Tocqueville zeigt, dass eine Nivellierung von interpersonellen sachlich-normativen Differenzen Traditionen abträglich ist, legt er somit implizit ein von ihm erfahrenes Merkmal von Traditionen frei. Diese sind mit erhöhtem normativem Status verbunden, andernfalls gehen sie zugrunde. Ein letzter Gedanke, den man aus den Beobachtungen über die amerikanische Demokratie zu ziehen vermag, ist ein Hinweis Tocquevilles, der freilich in offensichtlicher Spannung mit der eben genannten Ablehnung von epistemischen Sonderstellungen steht. Er betont nämlich, hierin Herder parallelgehend, die anthropologische Notwendigkeit von Dogmen: Müßte sich der Mensch alle Wahrheiten selber beweisen, die er täglich verwendet, er käme zu keinem Ende; er bliebe in vorbereitenden Beweisführungen stecken; da ihm angesichts seiner kurzen Lebensdauer die Zeit dazu fehlt und die Begrenzungen seines Geistes es nicht zulassen, ist er gezwungen, eine Menge Dinge und Ansichten als gesichert hinzunehmen, zu deren Untersuchung und Überprüfung er weder die Muße noch die Kraft besitzt, die aber von Befähigteren gefunden oder von der Menge angenommen wurden. […] Nicht sein Wille läßt ihn so vorgehen; das unbeugsame Gesetz seiner Daseinsform zwingt ihn dazu. (Tocqueville, Demokratie, 492)
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Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken
Indem Tocqueville die existentielle Situation des Menschen in den Blick nimmt, will er zeigen, dass die traditionsnegierenden Folgen der Demokratie ggf. inhumane Konsequenzen haben können. Seiner Logik nach wäre es ein Verbrechen am Menschen und eine Überforderung desselben, ihm traditionelle epistemische Bestände vorzuenthalten. Freilich wird mit Tocqueville ebenso die Idee einer völlig autarken Individualvernunft zurückgewiesen. Für die Tradition aber, das sei als positiver Ertrag hervorgehoben, verweist er auf deren anthropologische Funktion und ihren Wert. Die Reaktion auf die Aufklärung, insbesondere im Hinblick auf den sich entwickelnden Topos, Vernunft müsse Traditionen überwinden, zeigt sich bei allen drei verhandelten Denkern. Mit der vorliegenden Auswahl ist freilich nur ein sehr unvollkommenes Bild gezeichnet, viele Autoren, die man vielleicht erwarten könnte, fehlen, auch manch wichtige Themen sind womöglich unterbelichtet oder unbesprochen geblieben.156 Dennoch glaubt die vorliegende Untersuchung, die wesentlichen Motive benannt zu haben. Mit den in den Abschn. 2.2–2.7 dargestellten Spuren steht der Hintergrund für das, was im 20. Jahrhundert über Tradition gedacht und gesagt wird, im Grunde fest. Vor dieser „Theaterrückwand“ spielt sich der intellektuelle Diskurs ab, der im Folgenden detaillierter in den Blick genommen wird.
156
Ein Thema – und damit zugleich ein Autor – sei in seiner Auslassung noch motiviert, nämlich der Begriff der Autorität. Dieser spielt schon in der französischen Aufklärung eine wichtige Rolle (vgl. etwa die Überlegung in der Enzyklopädie zur politischen Autorität und deren Legitimation (vgl. Diderot 2013b)), wird aber auch in der schottischen Aufklärung bedacht. So schreibt David Hume über die Ansicht der Mehrheit der Menschen: „Eine etablierte Regierung hat einen unendlichen Vorteil eben dadurch, daß sie etabliert ist, zumal der Großteil der Menschheit durch Autorität und nicht durch Vernunft regiert wird und keiner Sache Autorität zusteht, die sich nicht durch ihre Tradition empfiehlt.“ (Hume 1988, 339). Dennoch wird über Autorität hier nicht weiter nachgedacht, weil es der Frage nach dem, was Tradition ist, keine Nuance hinzufügt. Entweder nämlich gibt es Autorität im Sinne Humes nur durch Tradition, dann wird man sich fragen müssen, was Tradition ist und wie sie das bewerkstelligt. Oder aber Tradition hat Autorität, was eine ebenfalls gängige Annahme ist, dann wäre ebenfalls zu klären, wie Tradition denn Autorität besitzen kann (vgl. so die Perspektive bei Carr 1926, 110 f.). Beide Begriffe erforderten eine Klärung, sind nicht aufeinander rückführbar. Damit steht fest, dass in jedem Fall der Traditionsbegriff erhellt werden muss, ganz unabhängig davon, was man über Autorität denkt. Der Autoritätsbegriff selber ist dabei philosophisch ebenfalls umstritten. Vgl. einige Überlegungen bei Arendt 1994, 159–192. Für die Trennbarkeit beider Begriffe plädiert auch Dittmann 2004, 38.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Wenn nun auf die Diskussionen im 20. Jahrhundert in umfänglicher Breite eingegangen wird,1 fällt freilich vorab auf, dass der Sprung von Tocqueville zu den Traditionalisten gut ein halbes Jahrhundert unberührt lässt. Dieses ist aber weder in philosophischer Hinsicht gedankenarm noch in realhistorischer folgenlos gewesen. Daher seien einige Bemerkungen zu ausgewählten Denkern des 19. Jahrhunderts vorangestellt, die die Lücke motivieren und partiell schließen mögen. Eine wichtige Person ist zweifellos Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der sich sehr wohl mit Tradition beschäftigt hat, wenngleich der Begriff bei ihm nicht systematisch oder terminologisch wird. Bedenkt man aber, dass Sitten oft als ein Musterfall von Tradition gelten, sieht die Sache anders aus. Insbesondere in seiner Rechtsphilosophie kommt ihnen bekanntlich eine herausgehobene Stellung zu, sie bilden den Lebensinhalt des Staates.2 Auch in der Geschichtsphilosophie gibt es Überlegungen zu Traditionen (vgl. Hegel, Geschichte, 21 f.). Warum aber wird Hegel dann in der vorliegenden Arbeit nicht breiter verhandelt? Dafür gibt 1
Dieser Schwerpunkt rechtfertigt sich insbesondere dadurch, dass, so Wiedenhofers Beobachtung, im 20. Jahrhundert der Traditionsbegriff zum einen inflationär verbreiteten historisch-literarischen Grundbegriff werde (vgl. Wiedenhofer 1990, 645). Ob die Kategorisierung als Grundbegriff stimmt, ist aber sicher diskutabel, denn der richtig gesehenen häufigen Verwendung korreliert gerade keine intensive Grundlegung desselben. Wiedenhofer möchte selbst, dass „Tradition“ zum kulturwissenschaftlichen Grund- bzw. Leitbegriff werde (vgl. Ders. 2004, 229), so dass er hier eine bestimmte Deutung des inflationären Auftretens verfolgt. Es scheint dagegen angebrachter, von „Tradition“ als einem weit verbreiteten Allgemeinplatz in den Diskursen zu sprechen, statt sie als irgendwie theoretisch klar gefassten Grundbegriff oder überhaupt als explizit thematisiertes Konzept zu sehen. 2 Vgl. dazu etwa Hegel, Grundlinien, 301–306 (§§ 151–157), 398–403 (§§ 257 f.). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Kluck, Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9_3
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
es einen wesentlichen Grund, dass nämlich seine Theorie durch einen späteren Denker direkt und unmittelbar auf Tradition bezogen wurde, Nicolai Hartmann.3 Systematisch ist das bei diesem Entwickelte, so die These, der Kern dessen, was produktiv mit Hegel zu sagen wäre. Zudem, dies ist selbstverständlich nur eine Legitimierung nachrangiger Validität, liegt mit der Arbeit Theodor Litts (vgl. Litt 1951)4 eine profunde Studie über Hegels Traditionsverständnis vor. Ein Adept Hegels, der aber zugleich in gewisser Hinsicht dessen Überwinder wurde, fehlt hier ebenfalls, nämlich Karl Marx. Auch dieser hat gelegentlich über Traditionen nachgedacht, etwa in seiner Analyse des Agierens Napoleons III. und des ihm gegenüberstehenden Parlaments im Rahmen des Endes der Zweiten Republik. Dort findet sich ein vielzitierter Satz Marx‘, der die heteronome Wirkung der Tradition betont: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ (Marx 1969, 115)5 Traditionen erscheinen als entfremdende Mächte, die die Lebenden bedrücken. Die besondere Nuance liegt für Marx zudem darin, dass solche Traditionen während revolutionärer Zeiten wieder aufleben – und zwar gerade im Sinne der revolutionären Partei. Wie sich auch an realsozialistischen Autoren zeigen ließe, spielt also der Bezug auf Traditionen im Marxismus eine gewisse Rolle. Doch weder bei Marx noch seinen intellektuellen wie politischen Nachfolgern gewinnt der Begriff erkennbar Prägnanz oder Dominanz. Deshalb darf auch Marx beiseite gelassen werden. Ganz anders verhält es sich mit Nietzsche. Dessen Denken ist, seinen Ursprüngen nach, gelegentlich sogar als der Frage nach dem Anfang der Traditionen gewidmet interpretiert worden (vgl. Reibnitz 1992, 3 f.).6 Das greift nicht zu weit, da bei Nietzsche eine Unterscheidung von Werkphasen und mit diesen verbundenen Intentionen angebracht scheint, weshalb spätere, noch grundlegend kulturkritischere und methodisch freie Werke der These nicht widersprechen 3
Zu diesem vgl. Abschn. 3.5. Vgl. zudem einige Hinweise zur Gewohnheit als Motiv im Denken Hegels bei Schüz 2021, 93–96. 5 Man kann Marx‘ als Musterfall eines Denkers sehen, der um die Ideologisierbarkeit von Traditionen weiß (vgl. dazu Wiedenhofer 1990, 641). 6 Übrigens ist im Hinblick auf das Gesamtwerk ebenso die Gegenthese vertreten worden, insofern Nietzsche als Denker des Außergewöhnlichen, Elitären, Übermenschlichen mit der Tradition als dem Herkömmlichen gerade auf Kriegsfuß habe stehen müssen (vgl. etwa Nyíri 1992, 62). Das stimmt aber sicher nicht, Nietzsches Traditionsverständnis beinhaltet nur eben starke normative Wertungen. 4
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
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müssen. Ganz sicher zählt seine zweite „Unzeitgemäße Betrachtung“ zu den wichtigen Bezugstexten im Rahmen des Diskurses über Tradition. Doch der Begriff spielt dort expressis verbis keine Rolle, wiewohl Nietzsche durchaus sachlich gehaltvolle Einsichten entwickelt. An einer anderen Stelle aus einem späten Notizheft, die in korrumpierter Form Aufnahme in die problematische Edition „Der Wille zur Macht“ gefunden hat (vgl. Nietzsche 1926, 56),7 heißt es immerhin deutlich: Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt u Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkte ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geist wider den Geschmack… Im Grunde denkt u thut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit der Wurzel heraus zu reißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität; man studirt sie, man erkennt sie an (als „Erblichkeit“ –), aber man will sie nicht. Die Ausspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände u. Werthungen welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. (Nietzsche 2008, 57)
Nietzsche erweist sich als Zeitdiagnostiker und zugleich Traditionsdenker. Er hält der Moderne eine Verlustbilanz vor,8 erkennt ihre Traditionsfeindlichkeit, bemerkt aber ebenso die mit der Tradition verbundenen Wirkungen, zum Beispiel die Ausdehnung des Zeithorizontes. Gleichwohl ist Nietzsche selbst nicht unwesentlich an manchen solcher modernen Bewegungen beteiligt gewesen, was sich vor allem am bei ihm bereits vorfindlichen und mit der Lebensphilosophie besonders wirksam gewordenen Motiv der Last der Kultur zeigt.9 Insgesamt bleibt er im Hinblick auf Traditionen so letztlich unscharf und ambivalent, was seine periphere Position im Rahmen der vorliegenden Arbeit legitimieren mag. 7
Das Problematische an der Edition ist nicht die Transkription, die vielmehr zutreffend erfolgte, sondern einerseits der Kontext, denn die allgemeine Zusammenstellung der Sentenzen ist nicht von Nietzsche so angedacht gewesen, andererseits das Übergehen des Umstandes, dass Nietzsche den Eintrag im Arbeitsheft durchgestrichen hatte. 8 Das zeigt auch eine andere Sentenz aus einem Notizheft, die betont, dass nichts kostspieliger sei als neue Anfänge, weshalb die Traditionen in gewissem Sinne (geistes-)ökonomischer wären (vgl. Nietzsche 1970, 127). 9 Bei Nietzsche vgl. dazu Nietzsche, KSA 1, 249, 253. Zu diesem Gedanken bei Nietzsche erfolgt eine Einordnung in den Traditionsdiskurs bei Windelband 1924, 246. Michael Großheim erläutert am Beispiel Ernst Jüngers treffend, dass es sich dabei um eine „kulturelle Gepäckerleichterung“ (Großheim 2012, 87 f.) handelt, wodurch das Überkommene, das Traditionelle im Interesse einer Gegenwarts- oder Zukunftszuwendung – zumeist mit Vitalität, Leben, Schaffenskraft usw. assoziiert – aus dem Mittelpunkt gerückt wird. Weitere Hinweise dazu auch in Ders. 2015.
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Angesichts des Gesagten kommt der Schritt direkt ins 20. Jahrhundert verständlicher daher. Im Folgenden werden die wichtigsten Autoren und Positionen vorgestellt. Da es aber gar keinen Konsens über den Kanon gibt,10 muss die Auswahl sich allein an das redliche Urteil des Autors halten und kann – mit Revisionsbedürftigkeit – als Angebot der Etablierung eines Kanons gelesen werden. Die Sortierung erfolgt grob chronologisch. Da jedoch nicht immer nach Autor, sondern gelegentlich auch nach Sachgebiet bzw. Disziplin gruppiert wurde, ist diese Reihung cum grano salis zu nehmen. Dies zumal deshalb, weil viele der Autoren in denselben Jahrzehnten dachten und publizierten. Mit der Reihung ist zugleich keine Aussage dahingehend getroffen, dass die Positionen aufeinander aufbauen würden. In der Regel, das kann man sagen, ist dies gerade nicht der Fall. Die Stimmen im Traditionsdiskurs gleichen eher Monaden, die jede für sich etwas herausstellt, ohne dass sich – von gelegentlichen Ausnahmen wie zwischen Habermas und Gadamer abgesehen – ein echter Dialog entwickelte.11 10
Der Kanon ist übrigens selbst ein Phänomen, das man als Traditionsreflexion verstehen kann. Einige kluge Überlegungen dazu stellt Christa Bürger an, die in den 1970er Jahren eine zunehmend scheiternde Integration der Nachwachsenden in einen gemeinsamen Wertehorizont beobachtet. Eine der Ursache liegt, ihrer Analyse nach, die sich besonders auf die Literaturdidaktik fabriziert, in einer frei agierenden Rezeptionsästhetik, bei der alles auf die subjektiven Wertmaßstäbe des Rezipienten heruntergebrochen werde. Die Tradition, so Bürger, „gerät […] in Gefahr, liquidiert zu werden zugunsten einer scheinbar unbeschränkten Freiheit des rezipierenden Subjekts, das die für seinen affektiven und normativen Haushalt notwendigen Traditionsstücke ebenso frei wählt wie die ihm zur Verfügung stehenden Aneignungsweisen. Damit wird jedoch die Forderung einer kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition, die im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen erhoben worden ist, subjektivistisch unterlaufen.“ (Bürger 1980, 44). Vor diesem Hintergrund allein subjektiver Bestimmbarkeit wird ein Kanon freilich unwahrscheinlich, ebenso wie Tradition generell (vgl. ebd., 125 f.). 11 Vorab sei auf vier Auslassungen hingewiesen. Nicht thematisiert wird zum einen die Postmoderne, die zwar über Tradition viel sagt, dabei aber bewusst keinen fest umrissenen Begriff verwendet, sondern alles das, was aus einem Früher auf das jeweilige Heute überkommen ist, als eine solche nimmt und nach eigenem Belieben damit rearrangierend verfährt. Dazu vgl. Welsch 1988, 443 f.: „Elemente von Tradition sind also sehr wichtig für diese Postmoderne; sie haben vorbildlichen Charakter, und das nicht bloß in formaler, sondern vor allem in inhaltlicher Hinsicht […]. Aber der Rückgriff auf diese Gehalte der Tradition geschieht nicht imitativ, sondern transformativ. […] Verwandlung und moderne Artikulation sind die Bedingungen ihrer Aktualisierung von Tradition. […] [Die Postmoderne] sucht die Potentiale der Tradition gerade für eine Transformation der Moderne nutzbar zu machen. […] Zeitgenossenschaft ist also für diese Postmoderne so verbindlich, wie sie es für die Moderne war, nur sind in ihr die Schwellen zur Tradition wie zur Innovation niedriger und damit überschreitbarer geworden […].“ Was Wolfgang Welsch hier am Beispiel der Architektur ableitet, zeigt den unscharfen Begriff der Tradition in der Postmoderne. Einerseits
3.1 Traditionalismus
3.1
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Traditionalismus
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt in Frankreich, mit Verzögerung auch in Deutschland die Bewegung des Traditionalismus auf. Maßgebliche Vertreter dieser Strömung sind vor allem Guénon und Ziegler. Wie Mark Sedgwick jüngst in einer umfangreichen Studie gezeigt hat, kann man weiterhin Mircea Eliade und Julius Evola dieser Bewegung zurechnen (vgl. Sedgwick 2019, 13).12 Im Kern dieses Ansatzes steht die These, dass es eine einheitliche und hintergründige eigentliche Tradition gibt, die sich in bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten spezifisch zeigt, die aber in der westlichen, modernen Welt vom völligen
soll Tradition vorbildhaft wirken, andererseits aber immer im Interesse der gegenwärtigen Innovation genommen, genutzt und modifiziert werden. Abstrakter formuliert, Tradition soll normativ wirken, wobei diese Normativität abhängt von den Normen, die die Gegenwart setzt. Dass damit womöglich gerade der Kern dessen, was eine Tradition ist – ein nicht leicht abweisbares Angesprochenwerden aus der Vergangenheit –, negiert ist, wird von Welsch gar nicht bedacht. Eine zweite Auslassung betrifft die Philosophie Ludwig Wittgensteins. Dieser nutzt den Begriff „Tradition“ zwar gelegentlich, jedoch nicht in systematischer Weise. Der Sache nach aber sind Überlegungen, die er in „Über Gewissheit“ (vgl. Wittgenstein 1984, z. B. 139 (§§ 94 f.), 200 (§ 410)) anstellt, einschlägig, da er auf hintergründige, unexplizierte Bestände menschlicher Lebens- und Weltorientierung verweist, die andere Denker oft der Tradition zuschreiben. Diesen Gedanken berühren sicher ebenso einige Aspekte des bekannten Sprachspiel-Theorems. Gelegentlich wird zudem in der Literatur eine Sentenz zitiert, in der Wittgenstein auf die Unverfügbarkeit der Tradition verweist. In Wittgensteins Worten: „Tradition ist nichts, was Jeder aufnehmen kann, ist nicht ein Faden, den Einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; sowenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen. Wer eine Tradition nicht hat & sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.“ (Wittgenstein 1994, 145). Zu Wittgenstein als Traditionsdenker vgl. auch Nyíri 1992, 28, 48 und Dittmann 2004, 344. Weiterhin wird nicht berührt der kleine, durchaus gelungene Beitrag von Carl August Emge (Emge 1942). Dies deshalb, weil er in der Sache zwar pointiert, aber nicht weiterführt. Er darf aber als gelungene Darstellung des Traditionsdenkens zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges gelten und war als ein solcher durchaus in der Rezeption erfolgreich. Schließlich spielt auch der Beitrag Leszek Kolakowskis keine Rolle in der vorliegenden Studie. Er hat bestimmte Argumente, die im Folgenden eine Rolle spielen, aufgegriffen, weshalb er sich problemlos historisch integrieren ließe, jedoch den Gang durch das 20. Jahrhundert nicht bereichert. Zu seinen Ideen vgl. v. a. Kolakowski 1969 und Ders. 1970. 12 Sedgwick zählt Ziegler nicht dazu, was überrascht. Im Folgenden wird dieser als Vertreter eines solchen Traditionalismus verstanden, da er sich selbst affirmativ auf Guénon bezieht (vgl. Ziegler 1936, 440) und jüngst eine Forschungsarbeit eine solche Einordnung nahegelegt hat (Jongen 2009).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Untergang bedroht ist.13 In Zieglers Worten: „Ritus, Mythos und Doxa haben […] als gleichzeitige Verwirklichungsweisen der eigentlichen Überlieferung zu gelten […].“ (Ziegler 1936, 11) Es gebe aber leider eine „schmähliche Kapitulation der gesamten Tradition vor dem Ungeist einer allgemeinen und unterschiedslosen Verwissenschaftlichung […].“ (Ziegler 1936, 422) Die eine Tradition in ihren vielgestaltigen Manifestationen geht in der Moderne unter dem Druck der Wissenschaft in den Niedergang über (vgl. ähnlich Guénon 2020, 35 f., 41, 123). Auf die genaue Begründung für diese offensichtlich in der Hauptsache zivilisationskritische Perspektive kommt es hier nicht an. Wichtig ist, was man daraus über den Traditionsbegriff lernen kann, denn sicher bildet diese geistesgeschichtliche Strömung14 einen Extremfall, der gerade in der Überspitzung lehrreich ist. Guénon bietet ausgehend von der angedeuteten historischen (Verfalls-) Perspektive einen prägnanten Traditionsbegriff. Er setzt sich mit dem inflationären Gebrauch des Wortes auseinander, woraus sich implizit eine Reihe von Merkmalen ablesen lässt. So ist Tradition seiner Ansicht nach bedeutend, von alter Herkunft, steht außerhalb der rationalen Ordnung, ist antikonstruktivistisch und antiindividualistisch zu verstehen und beruht auf Offenbarung oder Inspiration (vgl. Guénon 2020, 46). Diese Aspekte lohnen einen genaueren Blick. Wenn Guénon von der Bedeutung der Traditionen spricht, will er darauf hinweisen, dass nicht jede Praxis und nicht jede Lehre, nur weil sie von früher kommen oder weil sie angeordnet werden, Traditionen darstellen. Solche haben vielmehr große Tragweite. Traditionen sind normativ bedeutsam, sie rühren an die Grundlagen der Existenz. Damit geht einher, was Guénon an anderer Stelle betont, dass es nicht jedermanns Sache ist, sich um Traditionen zu bemühen, sondern diese sind einer „geistigen Elite“ (Guénon 2020, 49) als Werk anheimgestellt. Die alte Herkunft grenzt Traditionen von dem ab, was andere Denker Mode nannten, und sichert so Werthaftigkeit durch Dauer. Besonders an Guénons These ist nicht dieser Gedanke selbst, der vielmehr weit verbreitet scheint, sondern der zugrunde gelegte Zeithorizont. Dem historisch wohl bewandertsten Zeitalter der westlichen Kultur, dem 19. Jahrhundert, immerhin das Zeitalter des historischen Bewusstseins und des Historismus par excellence, wirft er vor, noch viel zu kurzsichtig zu sein. Unter Rekurs auf das hinduistische „Manvantara“ versucht er zu zeigen,
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„Die traditionalistische Bewegung […] versteht ‚Tradition‘ hauptsächlich als seit undenklichen Zeiten überlieferten Glauben und Brauch bzw. Glauben und Brauchtum, die dem Westen im Laufe des 16. nachchristlichen Jahrhunderts abhandengekommen sind.“ (Sedgwick 2019, 43). 14 Sedgwick weist darauf hin, dass man sich den institutionellen Zusammenhang der Traditionalisten nicht zu eng denken darf (vgl. Sedgwick 2019, 44).
3.1 Traditionalismus
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dass die westliche Fokussierung auf das klassische Altertum kaum ein Zwanzigstel des wahren Altertums umfasse (vgl. Guénon 2020, 21).15 Hier überholt Guénon die westliche Kultur auf dem Boden, den diese als einen ihrer sichersten Besitze glaubte, dem historischen Bewusstsein. Mit der Feststellung der Tradition als super- oder überrational greift Guénon, ohne derartige Texte explizit zu nennen,16 die Kritik am einseitigen Rationalitätsverständnis der Aufklärungszeit auf. Er unterstellt, wie auch Ziegler, einen Konflikt der Tradition mit Philosophie und Wissenschaft. Argumentativ funktioniert sein Vorgehen so, dass er spezifische Weisheits-Vorstellungen und Methoden gegeneinanderstellt: So entstand, was wir die „profane“ Philosophie nennen können, das heißt eine vermeintliche, rein menschliche Weisheit, die somit zum lediglich rationalen Bereich gehört und die wahre traditionelle, überrationale und „nichtmenschliche“ Weisheit verdrängt. […] Die Tendenzen […] und die übermäßige Bedeutung, die sie [die Modernen; S.K.] dem rationalen Denken zuerkannt hatten, verstärkte sich noch weiter und gelangte somit schließlich zum „Rationalismus“, einer genuin modernen Haltung, die darin besteht, alles, was zu einer überrationalen Ordnung gehört, nicht einfach mehr zu ignorieren, sondern ausdrücklich zu verneinen. […] Die geistige Intuition, durch die allein man die wahre metaphysische Erkenntnis erlangt, hat absolut nichts mit dieser anderen Intuition gemein, von der gewisse zeitgenössische Philosophen sprechen – diese gehört zum sinnlich wahrnehmbaren Bereich, sie ist eigentlich infrarational, während die andere, die reiner Verstand ist, hingegen suprarational ist. (Guénon 2020, 24 f., 63)17
Derweil die Argumentationsstrategie offensichtlich ist, indem behauptet wird, es gebe verschiedene Wege zu – dann selbst auch wieder differenzierter – Weisheit, ist der genaue Inhalt der metaphysischen und eigentlichen Weisheit nicht klar. Es findet sich dahingehend nur ein Hinweis, der sich gegen die Orientierung der Wissenschaften am Modell des Messens, insbesondere des Messens von materiellen Objektteilen, wendet.18 Somit bleibt es an dieser Stelle theoretisch unterbestimmt, 15
Die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der in den hinduistischen Quellen aufgemachten Zeitspannen kann dahingestellt bleiben, denn es geht allein um Guénons Traditionsbegriff, nicht die Validität seiner Thesen. 16 Guénon hatte Philosophie studiert, so dass eine Kenntnis einschlägiger Texte zumindest nicht unwahrscheinlich ist. 17 Der zeitgenössische Intuitionsphilosoph, auf den Guénon hier abzielt, ist Henri Bergson. 18 Vgl. dazu die Aussage in Guénon 2020, 123 f.: „Die Modernen begreifen im Allgemeinen keine andere Wissenschaft als die der Dinge, die sich messen, zählen und wiegen lassen, das heißt im Grunde auch: der materiellen Dinge. […] Schließlich versteht man gar nicht mehr, dass die Möglichkeit des Maßes nur auf einer der Materie inhärenten Eigenschaft beruht, nämlich ihrer unendlichen Teilbarkeit, sofern man nicht annimmt, dass sich
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was die eigentümliche Traditionsweisheit denn ausmache, Guénon rekurriert zum Beispiel, anders als Locke, nicht auf das Argument der empirischen Bestätigung durch Dauerhaftigkeit. Was man vielleicht ableiten darf, ist die These, dass es einen Bestand an Weisheit in der Tradition geben soll, der mit den aus dem westlichen Rationalismus – den Guénon namentlich an Descartes bindet (vgl. Guénon 2020, 63) – kommenden Methoden und Kriterien nicht einzufangen ist. Korreliert mit der besonderen Weisheitsdimension ist die Behauptung, Tradition sei an Inspiration oder Offenbarung gebunden. Ihr Ursprung, ihre Quelle wird auf diesem Weg in eine transhumane Sphäre verlegt, die dem rationalen Zugriff unerreichbar bleibt. Dass Guénon und Ziegler religiös denken, ist klar, aber auch jenseits theologischer Auslegung lässt sich die These fassen, insofern es eben schlicht um eine Verschiebung ins Vor- oder Nichtmenschliche geht.19 Das ist deshalb wichtig, weil Traditionen schlicht keine von Menschen hervorgebrachten Konstruktionen sein dürfen. Insofern sie als gemachte Entitäten erkannt sind, sind sie schon dadurch als Nicht-Traditionen markiert. Für Guénon ist es offensichtlich, dass „man sich nur auf das stützen kann, was tatsächlich existiert, und dass es dort, wo die Kontinuität fehlt, nur künstliche und nicht lebensfähige Nachgestaltungen geben kann.“ (Guénon 2020, 43)20 Entweder ist etwas transhuman offenbart und überliefert, oder es ist eben menschengemacht und dann keine Tradition. Besonderen Wert legt Guénon schließlich auf die Feststellung, Traditionen seien niemals etwas, was auf Individuen zurückführbar oder auf diese zugeschnitten sei. Dieser Individualismuskritik widmet er in seinem Werk den größten Raum (vgl. Guénon 2020, 82–118), wobei sehr deutlich ist, dass er damit besonders stark die Wirklichkeit seiner Zeit, wie er sie wahrzunehmen glaubte, anging. Der Individualismus ist für ihn in dreierlei Hinsicht defizitär, denn er negiere ein überindividuelles Vernunft- oder Autoritätsprinzip (vgl. Guénon 2020, 82, 90), fördere den Naturalismus (vgl. Guénon 2020, 85 f.) und erweitere den Bereich des diskursiv Hinterfragbaren ungehindert (vgl. Guénon 2020, 98). Es ist hier nicht wichtig, die Begründung im Einzelnen nachzuvollziehen, sondern ex negativo lässt sich anhand dieser Motive Guénons Traditionsbegriff weiter schärfen. Dieser versteht als Traditionen anscheinend überindividuelle, nicht-materielle,
diese Eigenschaft auf alles Existierende erstrecke, was soviel bedeutet, wie alle Dinge zu materialisieren.“ 19 Selbstverständlich hängt dieser Offenbarungs-Gedanke auch damit zusammen, durch ihn die besondere Heiligkeit und Validität der Tradition erklären zu können. 20 Vgl. auch Guénon 2020, 46: „Wir persönlich lehnen es rundheraus ab, diesen Namen [d.i. Tradition; S.K.] allem zu geben, was zum rein menschlichen Bereich gehört.“
3.1 Traditionalismus
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unbestritten geltende Lebensweltbestände, die zudem gerade in ihrer transindividuellen Verfasstheit Anteil an Vernunft haben sollen, denn es gibt für Guénon überindividuelle (geistige) Fähigkeiten (vgl. Guénon 2020, 63, 83). Das traditionalistische Traditionsverständnis zeichnet ein sicher pointiertes Bild von Traditionen, aber darin liegt seine philosophische Relevanz.21 In der Maximierung des begrifflich Möglichen wird manches deutlicher erkennbar. Viele der Eigenschaften, die Guénon herausstellt, prägen die Diskussionen – und sei es in der Ablehnung. Leider erfährt man jedoch wenig, was genau den Inhalt der Tradition ausmachen soll.22 Sie ist in gewissem Sinne als sie selbst sogar unerkennbar, denn dem Menschen begegnet sie ja primär nur in Form realer Konkretionen. Was die Wirkungen angeht, die sich Guénon von der Rückkehr zur Tradition verspricht, so stehen ein Wiedererstarken einer bestimmten intuitiven Nachdenklichkeit bzw. Kontemplation, damit verbunden eine Einheit der Wirklichkeits- und Erkenntnisbereiche, eine „Gesamtsynthese“, eine Ordnung der Gesellschaft, Abwendung von der technisch bedingten Zerstörungskraft der Menschen und eine Abkehr vom ökonomischen Materialismus im Raum (vgl. Guénon 2020, 77, 103, 132 ff.). Wenn Tradition das vollbringen soll, kann sie eigentlich nur eine allesdurchdringende, omnipotente, fast totalitäre Macht sein.23 Diese zeigt sich dann fast überall, ist nicht streng an die Schrift oder Sprache gebunden, wird nahe an das gerückt, was man mit Hegel den objektiven Geist nennen könnte (vgl. Guénon 2020, 42).
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Was im Rahmen dieser Arbeit nicht angesprochen werden kann, sind die methodischen wie erkenntnistheoretischen Defizite des Werkes Guénons. So kann man Zweifel daran haben, ob es für ihn überhaupt intersubjektive Wahrheitsbedingungen gibt (vgl. Guénon 2020, 148), es gibt beschwörende, teils auch verschwörungstheorieartige Passagen (vgl. ebd., 31, 40) und zudem erliegt er einer eigenen Erkenntnishybris (vgl. ebd., 71). Manch Defizit lässt sich auf Ziegler übertragen. 22 Man kann an der Gegenüberstellung des kontemplativen Ostens bzw. Orients und des tatorientierten Westens bzw. Okzidents sehen, dass die Tradition etwas mit Besinnung, Nachdenken usw. zu tun zu haben scheint, aber viel konkreter wird es bei Guénon nicht außer dem Bekenntnis zur Welt des Ostens und – als einziger Quelle im Westen – der katholischen Kirche. 23 Dem entspricht, dass man sensu stricto eigentlich von der Tradition bei Guénon nur im Singular reden dürfte, denn sie ist es, die hinter allen erscheinenden echten Traditionen als die eigentlichste steht.
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3.2
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Max Weber und die frühe Soziologie
Mit Weber tritt nicht nur die Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin im deutschen Sprachraum markant hervor, sondern der enttheologisierte Begriff „Tradition“ wird zu einem anerkannten Forschungsgegenstand. Webers Wirkung ist dabei weitreichend, so greifen noch die Soziologen am Ende des 20. Jahrhunderts auf seine Überlegungen affirmativ zurück.24 Doch nicht nur Weber, sondern seine Zeitgenossen und intellektuellen Mit- wie Gegenspieler Ferdinand Tönnies und Georg Simmel haben sich ebenfalls dem Phänomenbereich Tradition gewidmet. Webers Stimme kann zwar als die dominanteste gelten, insgesamt aber gehört das Traditionsdenken in das Zentrum der frühen deutschen Soziologie.25 Warum dies der Fall ist, ist vielleicht nur spekulativ zu erhellen, es steht jedoch zu vermuten, dass mit der Zuwendung der Soziologie zu den gesellschaftlichen Realitäten der Blick frei wurde für die besondere Rolle der Traditionen im Hinblick auf das Zusammenleben der Menschen. Bei Weber jedenfalls kommt die Tradition als Begriff hauptsächlich in zwei Kontexten vor, dem der sozialen Handlungsmotive und dem der Herrschaftslegitimationsweise.26 Handeln im sozialen Raum kann in vierfacher Hinsicht motiviert sein, nämlich zweckrational, wertrational, affektuell oder traditional (vgl. Weber, WuG, 17). Letztere Motivation besteht darin, Dinge einfach aus eingelebter Gewohnheit zu tun, was aber sachlich bedeutet, dass das „streng traditionale Verhalten […] ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen [steht], was man ein ‚sinnhaft‘ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann.“ (Weber, WuG, 17) Weber will herausstellen, dass traditionales Verhalten oft gar keinen gemeinten oder intendierten Sinn mehr hat, sondern schon quasi-automatisch, ohne bewusste Reflexion auf die Intention vollzogen wird. Etwas wird aus Gewohnheit getan, das heißt demnach, es wird getan, weil es eben getan werden muss, immer schon
24
So schreibt Shils am Ende seines Vorwortes, dass er hoffe, der Geist Webers blicke wohlwollend auf seine Schrift hinab, die einige der Implikationen der unfassbaren tiefen Gedanken Webers über Tradition verhandele (vgl. Shils 1981, VII). Auch Gross bezieht sich immer wieder auf Weber (vgl. Gross 1992, z. B. 29 f.). Zu beiden vgl. Abschn. 3.13. 25 Zu Webers Begriff der Tradition und dessen basaler Rolle für eine soziologische Traditionstheorie vgl. die Überlegungen in Oevermann 2005, v. a. 12–17. 26 Es sei nur darauf hingewiesen, was in der Rezeption Webers gelegentlich vergessen wird, dass er dabei von reinen Idealtypen redet, die in Reinform empirisch wohl nie vorliegen, aber doch als Elemente in der Analyse aufscheinen können und jedenfalls der soziologischen Arbeit heuristisch dienen sollen. Zu einigen Hinweisen auf die Relevanz des IdealtypusTheorems für die Rezeption von Webers Traditionsdenken vgl. Dittmann 2004, 69 f.
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getan wurde, „man“ das eben tut usw. Indem Weber traditional motiviertes Verhalten so versteht, nähert er es dem an, was in der Biologie als Instinkt oder Reflex verhandelt wird. Daher trägt der Traditionsbegriff hier keine Züge der Emphase wie bei Guénon, sondern stellt nur das ohne intensive Zuwendung Ablaufende dar. Im Rahmen seiner Überlegungen, aus welchen Gründen Menschen handeln, stößt Weber auch auf den Begriff der Sitte, und zwar dann, als er nach Möglichkeiten sucht, Einstellungen, Motivationen, Intentionen auf Dauer zu stellen, sie zu verregelmäßigen. Sitte soll ihm dabei „eine im Gegensatz zu ‚Konvention‘ und ‚Recht‘ nicht äußerlich garantierte Regel heißen, an welche sich der Handelnde freiwillig, sei es einfach ‚gedankenlos‘ oder aus ‚Bequemlichkeit‘ oder aus welchen Gründen immer, tatsächlich hält.“ (Weber, WuG, 21)27 Man könnte nun denken, mit der Sitte sei die Tradition gemeint, denn das, was als traditionale Verhaltensmotivation beschrieben wurde, deckt sich mit den Eigenschaften der Sitte. Jedoch differenziert Weber weiter, indem er dezidiert die Entstehung von Traditionen im eigentlichen Sinne ausgehend von Sitten erläutert: Konventionelle Regeln sind normalerweise der Weg, auf welchem bloß faktische Regelmäßigkeiten des Handelns: bloße „Sitte“ also, in die Form verbindlicher, meist zunächst durch psychischen Zwang garantierter, „Normen“ überführt werden: der Traditionsbildung. Schon die bloße Tatsache der regelmäßigen Wiederkehr von Vorgängen, und zwar sowohl von Naturereignissen wie von organisch oder durch unreflektierte Nachahmung oder Anpassung an die äußeren Lebensumstände bedingten Handlungen verhilft diesen Vorgängen äußerst leicht zur Dignität von etwas normativ Gegebenem […]. Sobald die Konvention sich der Regelmäßigkeiten des Handelns bemächtigt hat, aus einem „Massenhandeln“ also ein „Einverständnishandeln“ geworden ist – denn das ist ja die Bedeutung des Vorgangs […] –, wollen wir von „Tradition“ sprechen. (Weber, WuG, 246)
Diese Stelle muss als eine der zentralen Bestimmung der Tradition nach Weber gelten. Er macht auf mehrere Aspekte aufmerksam, nämlich erstens, dass zwischen Tradition und Sitte noch ein (wenn auch flüssiger) (vgl. Weber, WuG, 247) Übergang, eine Veränderung liegt, zweitens, dass Tradition einen objektiven Zustimmungscharakter hat und drittens, dass sie Verbindlichkeitscharakter besitzt.28 Der Übergang von bloßer Sitte zu echter Tradition besteht in einer 27
An dieser Stelle wird die Sitte auch von der Mode abgegrenzt, insofern bei dieser „die Tatsache der Neuheit des betreffenden Verhaltens Quelle der Orientierung des Handelns daran wird“, während es sich bei der Sitte genau umgekehrt verhält, also die Nicht-Neuheit Orientierungspunkt ist. 28 Wiedenhofer betont richtig an Webers Traditionsbegriff, dass dieser Verpflichtung und Geltung in den Mittelpunkt stelle (vgl. Wiedenhofer 1990, 646).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Steigerung der Verbindlichkeit. Während Sitte als Massenhandeln zwar von vielen ausgeführt, aber dabei nur zufällig von allen geteilt werden könnte,29 besteht das Wesen der Tradition darin, als verbindlich zu gelten. Im Hinblick auf sie liegt Einverständnis vor, worunter Weber den Zustand festhält, dass „der subjektive Glaube an die objektive Geltung solcher Normen tatsächlich in ihrer [der Beteiligten; S.K.] Umwelt verbreitet ist“ (Weber, WuG, 248). Tradition ist dementsprechend dann gegeben, wenn nicht zufällig viele, im Grenzfall alle Gleiches tun bzw. sich an gleiche Regeln halten usw., sondern wenn alle mit guten Gründen davon ausgehen können, dass auch andere das tun oder befolgen, was sie selber tun oder befolgen.30 Webers so charakterisierter Begriff macht keine Anleihen bei spezifischen Quellen oder Offenbarungen, macht keine Aussagen über Überlieferungsketten usw., sondern sieht den Kern des Traditionellen in einer semi-expliziten, gegenseitigen Verbindlichkeit, was die differentia specifica zu bloßer Sitte, bloßer Gewohnheit darstellt. Es gibt aber, wie erwähnt, einen zweiten Kontext, in dem Weber auf die Tradition zu sprechen kommt, nämlich im Rahmen der Untersuchung der Legitimationsformen von Herrschaft.31 Drei Typen von Herrschaft werden unterschieden, deren Legitimitätsgeltung entweder rationalen Charakters, traditionalen Charakters oder charismatischen Charakters sei (vgl. Weber, WuG, 159). Der traditionale Charakter beruht „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ (Weber, WuG, 159). Eine solche Herrschaft legitimiert sich mittels Tradition, was sie eben von der Legitimation durch persönliche Wirkungskraft, Charisma, oder durch Legalitätsglauben unterscheidet. Interessant ist, wie Weber die traditionale Herrschaft weiter charakterisiert. Er nennt als deren wichtigste Merkmale – neben 29
Weber denkt Massenhandeln von der zeitgenössischen Psychologie der Massen her, etwa von Gustav Le Bon (vgl. Weber, WuG, 16). 30 Freilich kommt diese Bestimmung in einen gewissen Gegensatz zu dem zuvor (vgl. Weber, WuG, 246) Zitierten, denn dort waren ja beliebige Gründe als möglich dafür angeführt worden, warum sich jemand freiwillig an die Sitte genannte Regel hält. Rein begriffslogisch könnten dann auch Traditionen Sitten sein. Vielleicht löst man das Problem, indem man Sitten als den allgemeineren, weiteren Begriff fasst, Traditionen als den spezielleren. 31 Beide Kontexte stehen dabei in einem Zusammenhang, denn auch die Legitimität von Ordnungen kann von Handelnden, wie Weber schreibt, qua Tradition, also qua „Geltung des immer Gewesenen“ (Weber, WuG, 26), diesen zugeschrieben werden. „Die Geltung von Ordnungen kraft Heilighaltung der Tradition ist die universellste und ursprünglichste.“ (Ebd.). Der Gedanke, traditionale Legitimierung sei ursprünglich, prägte zeitgleich und noch lange nach Weber die Ethnologie (vgl. dazu Abschn. 3.20). Der Zusammenhang zwischen Legitimität von Ordnungen und Legitimität von Herrschaftsformen scheint darin zu liegen, dass es schlicht um eine Ausweitung des Geltungsbereiches geht.
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der Heiligkeit alter Ordnungen – die „Eigenwürde“ der Herrscher, die diese qua Tradition erhalten, sowie das Bestehen einer pietätsfokussierten „Erziehungsgemeinschaft“, es gebe eine „pietätspflichtgemäße Obödienz“ (Weber, WuG, 167). Hier wird die Tradition ganz sachlich und funktional als eine bestimmte Weise betrachtet, die – aus einer Außenperspektive – erklären hilft, wieso sich soziale Realitäten (Ordnungen, Verhaltensweisen) auf bestimmte Art gestalten. Indem aber der Gedanke auf Pietät, Erziehung und Gehorsam kommt, deutet Weber an, dass Tradition vermutlich auch im Erlebenshaushalt der von ihr Betroffenen entsprechende Wirkungen zeigt. Wofür Webers Blick allerdings blind bleibt, ist die weitere Vertiefung dieser Perspektive, denn seine Perspektive auf Tradition kann die innertraditionellen Argumente für diese nicht einfangen, sondern beschreibt gleichsam extern, warum Menschen im Angesicht bestimmter sozialer Strukturen und Entitäten handeln. Für den Menschen in der Erste-Person-Perspektive freilich ist die Tradition nicht deshalb wirksam, weil es sich um eine allseits als verbindlich anerkannte Regel handelt, sondern weil sie eben „von Gott“, „vom Vater“, „von den Ahnen“ usw. stammt. Abstrakt bildet Webers Begrifflichkeit dies wohl ab, jedoch nicht konkret, weshalb das, was als Tradition letztlich übrigbleibt, insgesamt eindimensional, oktroyierend, primitiv und unterdrückend scheint.32 Kondylis hat in seiner Analyse des traditionalen Handelns à la Weber darauf hingewiesen, dass dessen Traditionsdenken im Wesentlichen abhängig scheint von Tönnies bekannter Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Kondylis 1999, 595). Indem Weber Tradition mit Gemeinschaft koppelt, wird sie gleichsam zu spezifisch kontextualisiert, wird ihr Wirken in anderen Bereichen, auch den gesellschaftlichen (nach Tönnies) unterbelichtet. Zudem meint Kondylis, Weber lasse wichtige Unterscheidungen vermissen, etwa zwischen individuellen und kollektiven Lebensgewohnheiten oder der einen gegen die andere Tradition oder zwischen traditionalem und gewohnheitsmäßigem Handeln (vgl. Kondylis
32
Als Beobachtung sei mitgeteilt, dass Weber auch in seiner Protestantismus-Analyse nicht den Gedanken entwickelt, dass das Ruhen in bestimmten Traditionen für den (ökonomischen) Erfolg verantwortlich sein könnte, obwohl etwa manche Beobachtungen Tocquevilles an den Calvinisten und Puritanern gerade darauf hinzuweisen scheinen, dass deren erfolgreiches Agieren auf übernommenen Beständen beruht. Dies ist deshalb auffällig, als der Grundgedanke Webers ja darin besteht, das Geistige als ethosartige und hintergründige Basis für die realhistorischen wie ökonomischen oder sozialen Erscheinungen ernst zu nehmen (vgl. zu diesem Aspekt Weber 1934, 33 f.). Traditionen wären eine Möglichkeit gewesen, dieser Spur begrifflich näher zu kommen, aber Webers Traditionsverständnis ist eben eher an anderen Gesellschaftsformen abgelesen und von da her gedacht.
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1999, 595).33 Insgesamt lässt sich sagen, dass der bei Weber entwickelte Traditionsbegriff diesen implizit an sehr spezifische Gesellschaftskonfigurationen bindet, ihn so – unauffällig – mit mehr als nur formalen Eigenschaften belastet, gleichzeitig dabei auch noch die Innenperspektive der Traditionsbetroffenen tendenziell übergeht.34 Das ist insofern entscheidend, als für Soziologie wie teilweise auch Ethnologie viele Impulse gerade auf Weber zurückzuführen sind.35 Wenn Kondylis‘ Analyse zutrifft,36 dann steht das traditionale Handeln sowie die traditionale Legitimierung bei Weber dem Typus der Gemeinschaft bei Tönnies nahe. Diese von Tönnies lange vor Weber entwickelte Dichotomie ist bekanntlich sehr wirkungsreich geworden, insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tönnies setzt zwei Formen des menschlichen Zusammenlebens gegeneinander, Gemeinschaft und Gesellschaft. Erstere wird als „real“ und „organisch“ begriffen, als Sphäre des Vertrauten, des Heimlichen, der Ausschließlichkeit, als dauerhaftes und „echtes“ Zusammenleben, während Gesellschaft der Bereich des Mechanischen, bloß „Aggregierten“ ist, der Bereich der Öffentlichkeit, der nur ideellen Bindung (vgl. Tönnies, GuG, 3 f.). Tönnies betrachtet Gemeinschaften als intensive, „warme“, nahe Verbindungsweisen von Menschen,
33
Der letzte Punkt ist von Kondylis aber falsch gesehen, denn Weber hat, wie dargelegt, zwischen Gewohnheit und Tradition sehr wohl unterschieden. Richtig scheint dagegen erkannt, dass individuelle und kollektive Dimension sowie der Konflikt zwischen Traditionen unterbelichtet bleiben hinsichtlich ihrer Differenzen. 34 In diesem Sinne meint auch Dittmann, Weber betrachte die Tradition sozialfunktionalistisch (vgl. Dittmann 2004, 82). 35 Dittmann hält den Einfluss Webers vor allem auf die gegenwärtige Soziologie für kaum zu überschätzen (vgl. Dittmann 2004, 68). Besonders wichtig ist Weber dabei in der Hinsicht, dass primitives, früheres, eben traditionales Denken und Handeln späterem, rationalem gegenübergestellt wird (vgl. exemplarisch die entsprechenden Diskussionen im Umfeld der Dichotomie von Tradition und Moderne sowie der vermeintlichen Enttraditionalisierung; einen Einblick geben die Beiträge in Heelas et al. (Hg.) 1996). Das ist freilich nicht in Webers Sinne, der zugibt, dass traditionale Elemente noch in der Gegenwart im rationalen Kontext auftreten könnten, insofern die Idealtypen eben nie ganz rein und für sich, sondern konkret in verschiedensten Abstufungen und Mischformen aufzutreten vermögen (vgl. Weber, WuG, 160), aber in der Rezeption ist dies nicht immer entsprechend gewürdigt worden. Gegen die von Weber herkommende Perspektive auf traditionales Handeln als irrational vgl. z. B. Horton 1993, 258. 36 Kondylis‘ Spur scheint durchaus überzeugend, was exemplarisch daran verdeutlicht werden kann, dass die traditionale Herrschaft nach Weber auf Personen, nicht Satzungen geht, und eine Dienens-Gehorsams-Ethik gegenüber der Gemeinschaft entwickelt (vgl. dazu Weber, WuG, 166 f.). Das hat Parallelen in der Theorie Tönnies‘ (vgl. Tönnies, GuG, z. B. 16, 18).
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Gesellschaften als „kühle“, distanzierte37 . Die Gegenüberstellung bringt er so auf den Punkt: Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennung, hier getrennt bleibend trotz aller Verbundenheit. (Tönnies, GuG, 34)
Im unmittelbaren gemeinschaftlichen, nahen Zusammenleben sieht Tönnies viele Vorteile, da hier – mit Marx gesprochen – kaum Entfremdungseffekte auftreten.38 So etwas wie Tradition kommt im Rahmen dieser Überlegungen derart in den Blick, dass sie für Tönnies einen Weg in die Gemeinschaft darstellt. Ein solcher Pfad liegt nämlich in der Gewöhnung (vgl. Tönnies, GuG, 14). Gewöhnung durch Nähe und Häufigkeit dient insgesamt dem mit Gemeinschaft unmittelbar verbunden Ziel der „concordia“, des einträchtigen Verständnisses: Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft, ist das, was […] als Verständnis […] begriffen werden soll. Sie ist die besondere soziale Kraft und Sympathie, die Menschen als Glieder eines Ganzen zusammenhält. […] Verständnis also beruht auf intimer Kenntnis voneinander, sofern diese durch unmittelbaren Anteil eines Wesens an dem Leben des anderen, Neigungen zur Mit-Freude und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert. […] Eine Gesamtform des gemeinschaftlichen bestimmenden Willens, die so natürlich geworden ist wie Sprache selber, daher ein Vielfaches von Verständnissen in sich begreift und deren Maß abgibt durch ihre Normen, nenne ich Eintracht oder Familien-Geist (concordia, als eine herzliche Verbundenheit und Einigkeit). […] Aber Verständnis ist ihrem Wesen nach schweigend: weil ihr Inhalt unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht verabredet werden kann, […] so kann Eintracht nicht gemacht werden. (Tönnies, GuG, 17 ff.)39
37
Tönnies ist damit in die Reihe der Zivilisationskritiker einzuordnen, auch wenn seine Schrift der Sache nach, darin Weber in Ansätzen vergleichbar, der „reinen Soziologie“ wertneutrale heuristische Begriffe zur Verfügung stellen will. 38 An diesem Punkt setzt der „Anti-Tönnies“ Helmuth Plessner an, indem er darauf hinweist, dass distanzlose Nähe und Offenheit keineswegs unter allen Umständen wünschenswert sein können. In der entfremdenden Distanzierung durch Rollen, Ämter, Masken, Stereotype usw. liegt eine (auch) positiv zu würdigende Kulturleistung, für die Tönnies, von Plessner aus gesehen, kein Sensorium hat. Vgl. dazu Plessner, Grenzen, z. B. 11, 40 f., 45, 58 f., 79 f. 39 Der sachliche Zusammenhang mit Webers Begriff des Einverständnishandelns ist offensichtlich.
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Gemeinschaft besteht in einer weitestgehenden Willenshomogenität, jedenfalls im Hinblick auf die überindividuellen Ziele, von denen, nach Tönnies, in der Gesellschaft ohnehin nur sehr allgemeine übrigbleiben. Gemeinschaft kommt durch ein besonderes soziales Band zustande, welches unter anderem mittels Gewöhnung und Wiederholung entsteht. Das, was so als „concordia“ die Gemeinschaft bindet, darf dabei nicht expliziert oder gar vertraglich geregelt werden, sondern soll hintergründig-implizit bleiben. Musteranalogie ist, wie das Zitat verdeutlicht, die Sprache. Das ist insofern bedeutsam, als nicht wenige Denker Sprache als Paradigma der Tradition verstehen (vgl. etwa Herder, Ideen, 231 f., 237). Man kann Tönnies‘ Überlegungen interpretieren als einen Hinweis auf die vereinigende Wirkung von impliziten Traditionen, die, indem sie von vielen oder gar allen Menschen (einer Region, einer Nation usw.) geteilt und akzeptiert werden, diese aneinanderrücken und aneinanderbinden. Dann werden sie zur „Natur“, also dem als nicht-gemacht Imponierenden, ohne dass explizite Thematisierung, Begründung oder Verdeutlichung statthaft wäre. Freilich ist diese Interpretation nur einleuchtend, wenn man schon mit dem späteren Weber auf Tönnies zurückblickt,40 denn auffällig ist das Fehlen des Hinweises auf die Dauer und das Alter der verbindenden Bestände. Tönnies diskutiert zwar die Würde des Alters, aber denkt diese nur von konkreten Personen, nicht Institutionen her (vgl. Tönnies, GuG, 11 f.). Noch eine zweite systematische Stelle verweist – allerdings wieder nicht expressis verbis – auf die Tradition. Tönnies unterscheidet zwei Willensformen, den Wesen- und den Kürwillen.41 Diese nicht ganz einfache Differenzierung bedenkt den menschlichen Willen im Hinblick auf die Herkunft seiner Bestimmung. Kommt diese gleichsam aus ihm als Ganzem, wie man metaphorisch sagen muss, ist es Wesenwille, kommt diese allein aus dem Denken, ist es Kürwille. Das Besondere des Wesenwillen ist dabei, dass er eine andere Ausrichtung und Determinationsdimension hat. Der Kürwille ist auf die Zukunft gerichtet, er will etwas ganz Spezifisches bewusst – eben bedacht – erreichen. Der Wesenwille dagegen „beruhet im Vergangenen und muß daraus erklärt werden“ (Tönnies, GuG, 73). Er ist „seinem Ursprunge nach als ein angeborener und ererbter zu verstehen, welcher jedoch in der Vermischung väterlicher und mütterlicher Anlagen, und zugleich in der Besonderheit umgebender Umstände, welche auf ihn wirken, die Prinzipien hat.“ (Tönnies, GuG, 75) Tönnies denkt hier zwar in Teilen 40
Dass Tönnies aber generell als Traditionsdenker zu gelten hat, betont auch Shils, wenn freilich ohne genauere Arbeit an einem Text desselben (vgl. Shils 1981, 19). 41 Tönnies nennt zwar noch als dritte Form das Gedächtnis, führt dieses jedoch auf den Wesenwillen zurück (vgl. Tönnies, GuG, 82). Es kann daher unberücksichtigt bleiben.
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biologistisch, aber er will auch darauf hinaus, dass der Wesenwille durch die kulturelle Vergangenheit mitbestimmt ist. Was der Mensch qua Menschsein will, dies erfährt seine Konkretisierung durch die Früheren, die insofern nicht vom Heutigen abzutrennen sind.42 Auf diese Weise sichert der Wesenwille Gemeinschaft. Der dritte der Begründer der deutschsprachigen Soziologie, Simmel, ist, wie Tönnies, nur der Sache, kaum dem Begriff nach auf Tradition gestoßen. Man kann bei ihm dennoch drei Motive herausstellen, die in immer wieder neuen Konstellationen fortgewirkt haben, nämlich das des Fremden, das der Zerlegung und das der Tragödie der Kultur. Alle drei haben etwas mit Tradition in einem weiten Sinne zu tun, wobei aber Simmel selbst eine explizite Vorstellung von dieser nicht entwickelt. Der Fremde ist deshalb eine relevante Figur, weil er als der außerhalb der Gemeinschaft und damit der Kulturtradition Stehende zum objektiven Beobachter wird. Auf diese Weise kann er Dinge sehen, die der in der Tradition Befangene nicht sieht (vgl. Simmel 1908, v. a. 509–512). Dahinter steht die implizite These der traditionsinduzierten Selbstblindheit, die nur zu heilen ist durch Distanzierung oder eben den Außenseiter, der im selben Moment durch diese Rolle zugleich integraler Bestandteil wird.43 Mit Zerlegung wiederum kommt Simmel darauf zu sprechen, dass entwickelte Gesellschaften sich durch den Umstand auszeichnen, unmittelbar als Ganzheiten gegebene Bestände in Elemente aufzulösen und neu zu synthetisieren (vgl. Simmel 1989, 688). Dieser von ihm vor allem an der Geldwirtschaft verdeutlichte Aspekt läuft darauf hinaus, die rationale Moderne als – im griechischen Wortsinne – analysierende, das meint auflösende Gesellschaft zu verstehen. Dies gilt dann freilich auch übertragen auf Traditionsbestände. Am bedeutendsten ist jedoch das von Simmel entwickelte und Spuren einer lebensphilosophischen Herkunft tragende Motiv von der Tragödie der Kultur. Die Tragödie besteht in der Tatsache, dass Kultur sich nach außen in die Sphäre des Objektiven begeben muss, andererseits diese Sphäre dann gegenüber der Kultur Autonomie gewinnt, was mitunter problematische Rückwirkungseffekte haben kann. Nach Simmel gibt es eine „tragische Entwicklung, die die Kultur an die Objektivität von Inhalten bindet, die Inhalte aber gerade durch ihre Objektivität schließlich einer Eigenlogik verantwortet und der kulturellen Assimilation durch Subjekte entzieht […].“ (Simmel 1919, 252)44 Kultur, verstanden als „der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit 42
Auch im Rahmen der Überlegungen zum Wesenwillen kommt Tönnies auf die besondere Rolle der Gewohnheit für den Menschen zu sprechen (vgl. Tönnies, GuG, 80 f.), jedoch denkt er hier noch stärker biologistisch, so dass eine Auswertung im Hinblick auf Tradition als Kulturphänomen verhindert ist. 43 Dies zeigt mit Simmel für Traditionen Apitzsch 1999, v. a. 8 f. 44 Zu diesem Motiv vgl. auch Großheim 2021, v. a. 40 f.
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zur entfalteten Einheit“ (Simmel 1919, 225), legt sich in die Welt aus, sei es durch materielle Objekte wie Kunstwerke und Denkmäler, sei es durch geistige Objekte wie Gesetze, Werte, Ideen usw., um zu sich selbst zurückzukommen. Dieser Rückweg aber wird verunmöglicht – und darin liegt die Tragödie –, weil die Objekte ein Eigenleben nach eigenen Logiken haben, die eine einfache Rücknahme in ein „ruhendes Ganzes“ verhindern. So kann ein Gesetz zwar aus einer Kultur kommen, dieser gegenüber dann jedoch als quasi-autonome Entität Forderungen stellen, die bei der Objektivierung gar nicht vorgesehen und unintendiert waren. Was man aus einer Kulturperspektive vielleicht noch – ggf. gelassen – hinnehmen kann, wird für das Individuum freilich grundsätzlicher problematisch, und genau diese Perspektive ist für Simmel die wichtigere. Kultur ist der Weg der einzelnen Seele zu sich selbst (vgl. Simmel 1919, 223). Der Mensch benötigt Kultur, weil Kultivierung nur dann zustande kommt, wenn die aus dem Überpersönlichen aufgenommenen Inhalte wie durch eine vorbestimmte Harmonie nur das in der Seele zu entfalten scheinen, was in ihr selbst als ihr eigenster Trieb und als innere Vorgezeichnetheit ihrer subjektiven Vollendung besteht. […] Kultiviertheit in ihrem reinsten, tiefsten Sinne ist da nicht gegeben, wo die Seele jenen Weg von sich selbst zu sich selbst, von der Möglichkeit unseres wahrsten Ich zu seiner Wirklichkeit, ausschließlich mit ihren subjektiv personalen Kräften zurücklegt. […] Ihr spezifischer Sinn […] ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind. (Simmel 1919, 226 f.)45
Der Mensch will zu sich selbst, kann das aber nur über den Umweg des Bezugs auf objektive, äußere Kulturgüter. Indem er auf diese rekurriert, muss er sich deren Logik jedoch mindestens partiell überlassen, was eine einfache Rückkehr in und zu sich selbst erschwert, im Grenzfall gerade verhindert: „[…] [der] Mensch wird jetzt der bloße Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht und sie wie in der Tangente der Bahn weiterführt, in der sie wieder in die Kulturentwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren würden. Das ist die eigentliche Tragödie der Kultur.“ (Simmel 1919, 248 f.)46 Daraus sind nun drei wichtige Konsequenzen für Tradition zu ziehen – deren Notwendigkeit oder doch mindestens Sinnhaftigkeit, die Zurückhaltung ihr 45
Die normativen Anklänge des Kultur- und Kultivierungskonzeptes bleiben hier unthematisiert, da sie in der Sache irrelevant sind. Allerdings ist festzuhalten, dass die einschlägig konnotierte Rede von einer „Tragödie“ von Simmel nicht schlechthin negativ betrachtet wurde, sondern durchaus in ihrer Ambivalenz. 46 Diese Gedanken haben Parallelen in Sigmund Freuds Idee der Kulturneurosen, insofern Freud meint, die Kultur lege dem Menschen wie dieser sich auch selbst Forderungen
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gegenüber und das Motiv der Vertikalspannung. Notwendig bzw. sinnvoll sind Traditionen, insofern sie als Äußerliches der individuellen Seele das bieten, was diese zu ihrer Kultivierung benötigt. Dabei zeigt das Tragische an, dass zugleich der Tradition entfremdende Eigenschaften zuerkannt werden müssen. Zurückhaltung scheint ihnen gegenüber geboten, ist mit Simmel festzuhalten, weil es gerade gut ist, dass es sie gibt.47 Dieser Konservatismus bezieht sich dabei allein auf das prinzipielle, nicht jedoch jedwedes konkrete Vorhandensein. Und schließlich sorgt der objektive Bestand dafür, dass das Subjekt aus seinen eigenen Horizonten herausgeholt und zu einem Aufstieg, einer Arbeit an sich im Sinne einer Verbesserung oder Vervollkommnung gezwungen wird. Peter Sloterdijk hat für derartige Handlungsimperative die glückliche terminologische Bildung „Vertikalspannung“ (Sloterdijk 2009, 27–31)48 gefunden, womit die Aufspannung einer normativen Differenz angezeigt ist, zu der sich das Individuum verhalten soll. Traditionen mit Ansprüchen, wie man sie sich nach Simmel dann denken muss, stellen an das Subjekt solche Überwindungsforderungen, und im Ergebnis erzeugt dies Kultiviertheit. Damit sind die Kerngedanken der frühen deutschen Soziologie zu Tradition benannt. In der Rezeption, die im Wesentlichen an Webers Theoreme anknüpfte, spielte diese Perspektive eine wichtige Rolle. Kern des soziologischen Blicks ist dabei ein Festhalten der Wirkungen der Tradition – Herstellung von Legitimität, Verleihen von Autorität – sowie Hervorhebung der moderneuntypischen Eigenart des Traditionellen, sei es positiv konnotiert (Weber) oder eher in der Verlustperspektive (Tönnies). Ein randscharfer Begriff „Tradition“ ist dabei freilich nicht entwickelt worden, wiewohl doch einige Bausteine zu diesem sich haben herausstellen lassen. Neben den beiden genannten Wirkungen wäre an die Verbindlichkeit, die Gehorsams- oder Dienstpflicht, die Zerlegungswiderständigkeit oder die Vertikalspannung zu denken. Auch die einheitsstiftende Wirkung, auf die besonders Weber und Tönnies abzielen, gehört dazu.
usw. auf, die ihm zwar helfen mögen, zugleich aber auch – eventuell bis zum KrankhaftNeurotischen – Konsequenzen haben, die mindestens ambivalent zu bewerten sind (vgl. Freud 2009, 86 f., 104–107). 47 Simmel schreibt in diesem Sinn: „[…] es ist eine Direktive in unseren Wertungsprozessen, die an dem Eigenbestand des Geistig-Objektiven halt macht, ohne über das Definitive dieser Dinge selbst hinaus nach ihren seelischen Folgen zu fragen. Neben allem subjektiven Genuß, mit dem z. B. das Kunstwerk sozusagen in uns eingeht, wissen wir als einen Wert besonderer Art, daß es überhaupt da ist, daß der Geist sich dieses Gefäß geschaffen hat.“ (Simmel 1919, 231). 48 Zu Sloterdijks Perspektive auf Tradition vgl. generell Abschn. 3.17.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Das Weiterwirken dieses Denkens soll, bevor in einem späteren Kapitel auch die neueren Soziologen Shils und David Gross sich behandelt finden,49 an einem anderen Autor verdeutlicht werden. In einer kontrovers diskutierten, publizistisch sehr erfolgreichen Studie hat David Riesman zusammen mit Kollegen 1950 versucht, verschiedene Typen sozialer Charaktere zu analysieren, wobei darunter „der Teil des ‚Charakters‘ [zu verstehen ist], wie er bestimmten Gruppen gemeinsam ist und der […] das Produkt der Erfahrungen dieser Gruppen darstellt.“ (Riesman et al. 1958, 21)50 Die zugrunde liegende Hypothese ist, dass bestimmte Eigenarten der gemachten Erfahrungen im sozialen Rahmen auch bestimmte typische Charakterzüge hervorbringen, dass also eine in spezifischer Weise eingerichtete Gesellschaft auch ihr entsprechende Individuen generiert. Die verschiedenen Typen – innengeleitet, außengeleitet, traditionsgeleitet – sind für die vorliegende Studie in ihren Differenzen weniger relevant, aber die Erläuterung des letztgenannten Typus zeigt das Fortwirken weberscher Gedanken. Zum einen bindet Riesman diesen Charakter an einen Bevölkerungszustand, der als eher typisch für frühere oder unterentwickelte Gesellschaften gelten kann, nämlich dem des hohen Bevölkerungsumsatzes.51 Das bedeutet, es herrschen hohe Mortalität, aber auch hohe Fertilität vor. In einer solchen Umgebung, so Riesman, dominiert Traditionslenkung und auf individueller Ebene bildet sich als prägender Typus der traditionsgeleitete Charakter aus (vgl. Riesman et al. 1958, 25, 27). Traditionen bilden den fixen Bezugspunkt in einer personell sich ständig wandelnden Umgebung, sorgen für Stabilität, fordern Verbindlichkeit. Zugleich damit rücken eine bloß äußerliche Verhaltenskonformität und das Fehlen einer selbständigen Persönlichkeit als Defizite in den Blick (vgl. Riesman et al. 1958, 31, 34). Außerdem verdeutlicht Riesman implizit, indem er die Aufsplitterung und partielle Wählbarkeit von Traditionen beim – historisch später sich entwickelnden – innengeleiteten Charakter betont (vgl. Riesman et al. 1958, 32), dass dies für die früheren Zeiten nicht gilt, folglich also Traditionen tendenziell 49
Vgl. Abschn. 3.13. Im Folgenden wird, wie in der Rezeption zumeist geschehen, nur Riesman im Text als Autor angesprochen. 51 Vgl. dazu Riesman et al. 1958, 26, wo als Beispiel genannt werden „Indien, Ägypten, China […] sowie fast alle schriftunkundigen Völker Zentralafrikas, Teile von Mittel- und Südamerika, also fast alle Gebiete der Erde, die bisher verhältnismäßig unberührt von der Industrialisierung geblieben sind.“ Andernorts wird das Mittelalter als für das traditionsgeleitete Existieren exemplarisch benannt (ebd., 29) oder Traditionslenkung mit Bäuerlichkeit korreliert (ebd., 54). Riesmans demographisches Denken ist im Rahmen seiner Theorie malthusianischer Provenienz und insofern – von heute aus betrachtet – unterkomplex, was manche Vereinfachung erklären kann. 50
3.2 Max Weber und die frühe Soziologie
101
umfassend und totalitär daherkommen, keine Frage der Wahl sind, im Grenzfall nicht einmal im Plural zu denken wären. Die mit der Neuzeit historisch korrelierte Hervorbringung des innengeleiteten Typus wird von Riesman daher als Traditionsbefreiungschance gelesen, das Entstehen einer „stark entwickelten charakterlichen Eigenständigkeit“ (Riesman et al. 1958, 31) als Konsequenz herausgestellt. Man kann in dieser Hinsicht Riesmans Theorie gleichsam als Anwendung der weberschen Tradition im Sinne eines Idealtypus lesen,52 wenngleich nicht auf Herrschaftsformen, sondern überindividuelle Charaktertypen geblickt wird. Wesentliche Eigenschaften – Rückständigkeit53 , Unterdrückung, Homogenität (bis hin zur Totalität) – bleiben gleich.54 Riesmans Ansatz bietet keinen neuen Traditionsbegriff, zeigt aber exemplarisch das Fortwirken der hier thematisieren soziologischen Weichenstellungen.
52
Methodisch hält Riesman seine Charaktertypen übrigens explizit für webersche Idealtypen (vgl. dazu Riesman et al. 1958, 255). 53 Wie weit dies führt, zeigt die These, traditionsgeleitete Menschen würden sich „noch keine Sorgen über Zeitvergeudung machen, so daß sie die Kinder für eine Belastung halten könnten; in der Tat werden sie sich selbst kaum sehr viel anders als die Kinder fühlen.“ (Riesman et al. 1958, 59). Zwar deutet Riesman hier eine phänomenologisch interessante These an, dass nämlich die Einbettung der Kinder in die Familiensituation hinsichtlich des Gelingens vom Zeithorizont der Eltern entscheidend abhängt, aber er deutet dies modernitätsfreundlich, denn er unterstellt der Tradition eine gewisse Zeitnaivität, vor allem einen kurzen, durch Beständigkeit und Veränderungsmangel geprägten Zeithorizont. Die späteren Zeiten seien dahingehend fortgeschritten. Das ist typisch für den von Weber herkommenden, von diesem aber so nicht intendierten Rezeptionstopos. In der Sache ist das schon anhand der einfachen Beobachtung bestreitbar, dass viele Kulturen, die mit Riesman als durch den traditionsgeleiteten Charakter geprägt gelten müssten, sehr viel Wert auf Einhaltung bestimmter zeitlicher Rhythmen und das Denken an weit zurückliegende Zeiträume legen. Ihr Zeithorizont ist gerade nicht der eines Kindes, sondern der eines – vielleicht unflexiblen – Alten. Die Verantwortung, die dem Einzelnen in seinen jeweiligen Rollen innerhalb der Rituale, Zeremonien usw. zukommt, ist erheblich und hat – in der Innenperspektive – keinen Raum für unernste Kindlichkeit. 54 Nahodil hat gemeint, Riesman habe die „bekannteste moderne Verzerrung des Traditionsbegriffs“ durchgesetzt (Nahodil 1971, 79). Er leiste in seinem überschätzten Werk eine „antihistorische Abwertung des Traditionsbegriffs“ (ebd., 81). Nahodils harsches Urteil speist sich aus seinem positiven Blick auf Tradition, trifft aber, wie gezeigt worden ist, in der Sache nicht ganz ins Leere. Doch ist Riesman hier nicht – auch nicht in der Abwertung – originell, sondern Adept eines über Ethnologie und Soziologie etablierten Motivs, er entfaltet es nur deutlicher. Zudem sind seine über den innengeleiteten und vor allem den typisch modernen außengeleiteten Charakter noch immer von hoher heuristischer Aktualität.
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3.3
3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Anthropologische Überlegungen in der Philosophie
Neben der Soziologie hat im deutschen Sprachraum ab 1920 vor allem die sich damals etablierende philosophische Anthropologie das Denken über Traditionen ernstgenommen.55 Scheler wies zuerst darauf hin, dass sich hinter dem Begriff ein entscheidendes Phänomen verbirgt, welches der Erhellung der Eigenart des Menschen dienlich sein kann. Dass die philosophische Anthropologie56 den Begriff aufnimmt, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie als – im Sinne Habermas‘ – reaktive Wissenschaft sich von anderen Disziplinen ihr Material geben lassen muss (vgl. Habermas 1958, 20),57 sondern auch dem Fakt, dass Tradition als Phänomen durch das Wesen des Menschen erklärt werden kann. Schon
55
Zur frühen Entwicklung derselben vgl. die Studie Fischer 2008, 19–60. Schelers Denken folgt chronologisch auf dasjenige Webers und Simmels, jedoch werden im vorliegenden Kapitel auch Autoren thematisiert, die erst Jahrzehnte später publizierten, was der zeitlichen Reihenfolge zuwiderläuft. Dies scheint aber, trotz des Bruchs der Chronologie, sinnvoll, weil es einen sehr engen sachlichen Zusammenhang gibt. Interessant ist, dass das anthropologische Traditionsdenken in der Rezeption insgesamt deutlich unterrepräsentiert ist. Weder Wiedenhofer, noch Dittmann, noch Winter beschäftigen sich damit in nennenswerter Weise (um nur die neueste Literatur diesbezüglich zu kritisieren). Gerade das Nicht-Rezipieren Landmanns erstaunt, immerhin ist er einer der wohl prominentesten Verfechter der These der Menschenspezifizität der Tradition. Eine Würdigung seines Traditionsdenkens bietet Levy 2001. Eine mögliche Erklärung für die fehlende Rezeption der philosophischen Anthropologie an dieser Stelle könnte die – vor allem zeitgleich zu Gehlens und Landmanns Arbeiten – dominant rezipierte Hermeneutik Gadamers sein, in der der Begriff „Tradition“ prominent vertreten wurde. 56 Es hat sich in Teilen eingebürgert, eine philosophische Anthropologie als Disziplin von der Philosophischen Anthropologie als Denkschule mit dem Schwerpunkt um Scheler, Plessner und Gehlen zu unterscheiden. Im Folgenden stehen zwar diese drei im Mittelpunkt, aber da Fragen der Zugehörigkeit hier dahingestellt bleiben mögen, wurde auf eine orthographischsemantische Differenzierung verzichtet und folglich immer auf die Disziplin Bezug genommen. Zu der angesprochenen Disziplin-Denkschul-Unterscheidung vgl. Fischer 2008, 14 f. 57 Es ist zudem zu bedenken, dass die Soziologie als junge Disziplin mit der noch jüngeren philosophischen Anthropologie unmittelbar im Anerkennungskampf stand. Sicher gab es auch so etwas wie ein „Besetzen“ von Begriffen. Habermas zum Beispiel betont im Fortgang seiner Reaktionsthese, dass die Soziologie (die hier nur eine bestimmte Form derselben sein darf) der Anthropologie die Begriffe zu geben habe, ihr also sachlogisch vorausgehe (vgl. Habermas 1958, 34 f.). Damit gibt es dann eine doppelte, nämlich (wissenschafts-) historische wie sachlogische Reaktionsreihenfolge. Dass beide Disziplinen nahe beieinander zu denken sind, verdeutlicht vielleicht nichts besser als die schwierige Zuordnung Gehlens, der – je nach Text oder Interpretationsweise – mehr zur einen oder anderen gehören kann. Zu Rothackers Abgrenzung von der Soziologie als einem Beispiel in dieser Sache vgl. auch Plas 2011, 473 ff.
3.3 Anthropologische Überlegungen in der Philosophie
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Herder, in Ansätzen Vico hatten dies, wie gezeigt, so gesehen.58 Im Kern wird Tradition in dieser Perspektive zu einer Praxis, einer abstrakten Handlungsstruktur erklärt, die auf bestimmte biologische Eigenarten zurückzuführen ist. Über die verschiedenen Autoren hinweg, die der philosophischen Anthropologie zuzurechnen sind – neben Scheler, Gehlen und Helmuth Plessner auch Rothacker und Landmann –, offenbart sich im Hinblick auf die abstrakte Struktur der Traditionsverortung ein erstaunlich einheitliches Bild trotz aller Differenzen im Detail.59 Scheler als spiritus rector oder jedenfalls maßgeblich prägende Kraft der philosophischen Anthropologie denkt den Menschen im Unterschied zu Pflanzen und Tieren als ein Wesen, das qua Geistigkeit sich allen quasiautomatischen, instinktiven oder bloß reizbedingten Verhaltensweisen gegenüber frei verhalten kann. Der Geist führt dazu, dass der „Seinskern“ des Menschen, so Scheler, „weltexzentrisch“ (Scheler, Stellung, 90) geworden sei. Jene für Pflanzen wie Tiere selbstverständlichen Einfügungsrelationen in die Welt, genauer – im Anschluss an Jakob von Uexküll – in Umwelten, sind durch die Fähigkeit des Geistes zur Transzendenz gestört.60 Darauf kann der Mensch unter anderem mit dem „Drang nach Bergung“ (Scheler, Stellung, 90) reagieren, etwa in Religion oder Metaphysik. Dies ist die hier nicht weiter zu verhandelnde bekannte These von der Weltoffenheit des Menschen, der Weltexzentrik, die als Kehrseite ein ungeklärtes, unstrukturiertes Verhältnis zur Welt unterstellt. Auf dieses reagiert der Mensch durch Einkehr in bestimmte Traditionsbestände, durch welche die Offenheit wieder geschlossen wird, indem strukturierende Gewohnheiten, regelmäßige Assoziationsverbindungen usw. auftreten. Dabei ist auffällig, dass Scheler, indem er so denkt, zwei verschiedene Argumentationslinien miteinander im Konzept der Tradition verschmilzt. Einerseits sind Traditionen als – durchaus
58
Auch Pascal, auf den en passant bereits Bezug genommen wurde, ist in diese Reihe einzuordnen, denn auch er spricht davon, dass, da „die wahre Natur [des Menschen] verloren ist, […] alles seine Natur [wird]“ (Pascal, Gedanken, 54 (Aph. 109)), wobei diese „neue“, zweite Natur aus der Gewohnheit entspringt, in die man zufällig gerät (vgl. ebd., 54 f. (Aph. 108, 110 f.)). Insofern die kulturerzeugten Traditionen an die anthropologische Instinktleerstelle rücken, denkt er wie die philosophischen Anthropologen. 59 Mit einer gewissen Berechtigung könnte man dazu noch von einer Fortsetzung dieses Denkens in der Ritter-Schule sprechen, die auf bestimmte Theoreme der philosophischen Anthropologie aufbaut. Vgl. dazu Abschn. 3.10 und die profunden Analysen in Hacke 2006, 140–147 (dort zu Gehlen), wo allerdings stärker die soziologischen als die anthropologischen Spuren in den Mittelpunkt gestellt werden, weshalb neben Gehlen nur gelegentlich auf Plessner, gar nicht auf Scheler verwiesen wird. 60 „Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ‚weltoffen‘ verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.“ (Scheler, Stellung, 40).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
ambivalente – Verschlussreaktionen vor der Weltoffenheit zu lesen, insofern partiell auch kritisch, andererseits aber gibt es bei ihm daneben eine Vorstellung, wonach sie die verhaltensspezifischen Vererbungsäquivalente zur rein biologischen Sphäre sind. Letztere Idee ist offensichtlich nicht in gleicher Weise der Kritik am Verfehlen einer menschenmöglichen Offenheit zur Welt ausgeliefert. Das Konzept der Tradition als Vererbung spielt dabei auch schon beim Tier eine Rolle: „Nachahmung“ und „Kopieren“ sind nur Spezialisierungen jenes Wiederholungstriebes, angewandt auf fremdes Verhalten und Erleben, der zunächst eigenen Verhaltensweisen und Erlebnissen gegenüber tätig ist […]. Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der „Tradition“, die zu der biologischen „Vererbung“ eine ganz neue Dimension der Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt, jedoch von aller freibewußten „Erinnerung“ an Vergangenes (Anamnesis) und von aller Überlieferung auf Grund von Zeichen, Quellen, Dokumenten, (allem Geschichtswissen) aufs allerschärfste geschieden werden muß. Während diese letzteren Formen nur dem Menschen eigentümlich sind, tritt die Tradition schon in den Horden, Rudeln und sonstigen Gesellschaftsformen der Tiere auf […]. (Scheler, Stellung, 29)
Der Gedanke, den Scheler entwickelt, ist zwar leicht zu fassen, denn er will auf die intergenerationellen Lern- und Weitergabeeffekte auch schon bei Tieren hinweisen, aber sein Sprachgebrauch ist nicht ganz eindeutig. Er spricht von „Formen“, die nur dem Menschen zukommen – aber Formen von was? Vermutlich muss es Formen der Tradition meinen, aber der letzte zitierte Satz lässt vermuten, dass mit „Tradition“ ganz spezifisch nur das gemeint ist, was zuvor den Tieren zuerkannt wurde. Für die Sphäre menschlicher „Traditionen“ bliebe dann terminologisch noch das Wort „Überlieferung“ übrig. Diese würde sich von der tierischen nicht-biologischen Weitergabeweise – so müsste wohl das genus proximum lauten – durch die bewusste Thematisierbarkeit und die Rolle der Symbole unterscheiden. Demnach sind zu unterscheiden ein Traditionsbegriff im Hinblick auf Tiere und Menschen von einem, der nur auf Menschen und ihre Weltoffenheitsreaktion anzuwenden ist. In seinem Oeuvre unterscheidet Scheler zwischen beiden Verwendungen nicht immer eindeutig.61 61
Um dafür nur zwei Beispiele zu geben, sei eine im Nachlass befindliche Stelle zitiert, die aus dem Jahr 1927 und somit unmittelbar dem zeitlichen Kontext des zitierten Gedankens stammt: „Der Mensch ist durch keine Natur, keine Rasse, kein Klima, keine Landschaft, keine Tradition, keinen Mythos gebunden. Er ist frei – frei zu wollen, was er will, frei zu schauen und zu denken, was er mag.“ (Scheler 1987, 340). Hier meint Tradition wohl eher (speziell wenn man die Reihung beachtet) einen spezifisch symbolisch-kulturellen Gehalt, weniger eine bestimmte nachahmend-kopierende Verhaltensorientierung. In einer früheren
3.3 Anthropologische Überlegungen in der Philosophie
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Beide Begriffsnuancen hängen in der Sache aber miteinander zusammen. Die tierischen Traditionen geschehen ohne explizierende Zuwendung, werden nicht thematisch, und sorgen für feste Bahnungen des Verhaltens, Sehens, Reagierens usw. Das gilt auch für die elaborierteren Formen, die auf Symbole rekurrieren. Da der Mensch, um auf das Motiv der Weltoffenheit zurückzukommen, sich jedoch durch Nicht-Bahnung auszeichnen soll,62 sind solcherart Traditionen (egal welcher Art oder Form) ambivalent, vielleicht gar kritisch zu sehen. Für Scheler jedenfalls, und das scheidet ihn vor allem von Gehlen und Landmann, kommt diese Perspektive primär in den Blick. So operiert er mit zwei Oppositionen, nämlich dem Gegensatz von Tradition und Fortschritt sowie dem von Tradition und Philosophie. Tradition ist dem Fortschritt insofern hinderlich, als sie, verstanden als handlungsbahnende Kraft, Starrheit instanziiert. Dagegen beruht alle echte menschliche Entwicklung wesentlich auf einem zunehmenden Abbau der Tradition. […] Die Abtragung der Traditionsgewalt schreitet in der menschlichen Geschichte zunehmend fort; sie ist eine Leistung der Ratio, die stets in ein und demselben Akte einen tradierten Inhalt objektiviert und in die Vergangenheit, in die er gehört, gleichsam zurückwirft – damit den Boden freimachend für je neue Entdeckungen und Erfindungen. (Scheler, Stellung, 29 f.)
Tradition wird als bedrückende, festhaltende, beschränkende Macht verstanden, da sie die möglichen Freiheiten menschlichen Anders-Handeln-Könnens unterminiert. Scheler denkt an dieser Stelle aber vor dem Hintergrund des Tieres, das heißt, ihm geht es um das Freiwerden vor allem von Instinkt und Trieb. Ob die bahnende Wirkung der Tradition als kulturellem Phänomen ähnlich zu bewerten wäre, lässt sich allein aus dieser Perspektive keineswegs sagen, was jedoch durch das Changieren zwischen beiden Nuancen als Frage gleichsam verdeckt wird. In einem anderen Text wiederum setzt Scheler die Philosophie der Tradition gegenüber, wobei dann freilich nicht das Instinktive oder Triebhafte an ihr der gemeinte Bezugspunkt sein kann, sondern das Weltdeutende, das heißt das Ideologische. Er schreibt: Die meisten Menschen gewinnen ihre Weltanschauung aus einer religiösen oder sonstigen Tradition, die sie mit der Muttermilch einsaugen. Wer aber eine philosophisch Schrift spricht Scheler zudem von der „sprachliche[n] Tradition der Gemeinschaft“ (Scheler 1972, 284), was der oben genannten Abgrenzung natürlich zuwiderläuft. Freilich kann das auch konzeptionellen Veränderungen in Schelers Denken geschuldet sein. 62 Sicher nicht ganz zufällig betont Scheler, dass ältere Menschen dazu neigen, in assoziative Gewohnheiten zu verfallen, also Bahnungen, sogar deren „Sklave“ zu werden. Der traditionsverhaftete Mensch ist ihnen analog zu lesen (vgl. dazu Scheler, Stellung, 28).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
begründete Weltanschauung anstrebt, muß es wagen, sich auf seine eigene Vernunft zu stellen. Er muß alle hergebrachten Meinungen versuchsweise bezweifeln und darf nichts anerkennen, was ihm nicht persönlich einsichtig und begründbar ist. (Scheler 1929, 1)63
An dieser Stelle wird Tradition nicht als tierische Bahnung im Menschen verstanden, die er abbauen kann qua Geist, sondern als eine Form der selbst geistigen Heteronomie, die zugunsten individuellen Nachdenkens zu hinterfragen ist. Das Gemeinsame mit der vorherigen Kritik an der Tradition liegt im Motiv der Unfreiheit, freilich eben in diesem Fall nicht durch verhaltensbiologische Faktoren wie Triebe bedingt, sondern durch kollektiv verursachte Unmündigkeit. Hinter beiden steht als gleichsam gemeinsamer Bezugspunkt das Konzept der Weltoffenheit, das eben nur auf je andere Weise durch (eine je andere Art der) Tradition verfehlt wird. Mit Scheler ist das Motiv des Spannungsverhältnisses zwischen dem nicht festgelegten Menschen und der bahnenden Tradition aber in jedem Fall wieder präsent. Scheler bleibt ambivalent, was die Bewertung der Tradition angeht, oft findet sie sich kritisiert, aber gelegentlich – etwa wenn der Subjektivismus problematisiert wird – auch vermisst.64 Trotz Schelers Lavieren zwischen den zwei Quellen des Traditionsbegriffs – das Tierische, das Weltanschauliche – vermag sein Werk durch weitere, phänomenologische Beobachtungen den Diskurs zu befruchten. Zwei wichtige dieser Aspekte sollen abschließend thematisiert werden, nämlich die Ausweitung des Gegenstandsbereichs und die Neukategorisierung. Beide hängen miteinander zusammen. Scheler weist darauf hin, dass schon Gefühle, auch die, die man unmittelbar für die eigenen und „eigensten“ hält, traditional beeinflusst sind: Wir leben „zunächst“ in den Fühlungsrichtungen unserer Umwelt, unserer Eltern, Familie, Erzieher, ehe wir unsere vielleicht von deren Gefühlsrichtungen abweichenden Gefühlsrichtungen gewahren. Von unseren eigenen Gefühlen gewahren wir zunächst nur diejenigen, die der Gefühlsrichtung unserer engeren und weiteren Gemeinschaft und ihrer Tradition entsprechen. Es bedarf immer eines langen Weges 63
Dieser Text stammt vom Mai 1928 und ist daher in den unmittelbaren Kontext der anthropologischen Hauptschrift Schelers zu stellen, was das begriffliche Changieren nochmals belegt. 64 Vielleicht dafür interessant sind Schelers Auseinandersetzungen mit dem, was man das „ethische Vico-Axiom“ nennen könnte, also der These, ethisch relevant sei nur, was man je selbst hervorgebracht habe. Dadurch werden bestimmte Vorstellungen von Erbe, Tradition überflüssig (vgl. Scheler 1915, 209 f., 216). Freilich, so Scheler an anderer Stelle, führt eine solche individualisierte, selbstgemachte Ethik zur Störung des Wertfühlens, führt zu ethischer „Blindheit“ (vgl. ebd., 74). Es ließe sich überlegen, ob darin nicht ein Plädoyer für die ethische „Vertikalspannung“ der Tradition zu sehen ist.
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der kritischen Auseinandersetzung, bis wir hinter diesen nachgefühlten Gefühlen unsere eigenen Gefühle uns zur Klarheit bringen, und gleichsam unser eigenes geistiges Haupt aus dem Strome der Gefühlstradition der Gemeinschaft herauszustrecken beginnen. (Scheler 1972, 265)65
Tradition ist nicht allein – und vielleicht für Scheler nicht mal in der Hauptsache – ein bestimmtes Dogma, auch wenn die Religion schon gelegentlich das Paradigma bildet, sondern eine auch affektiv, habituell, verhaltensmäßig prägende Kraft unterhalb kognitiver oder symbolischer Sphären. Das ist die angedeutete Neukategorisierung der Tradition, die mit Scheler denkbar wird, insofern er diese nicht als auf Mitteilung von Erlebnissen beruhend versteht, sondern von einer „psychischen Ansteckung“ spricht (vgl. Scheler 1972, 284 f.). Er meint, dass Tradition durch das Mittun, Miterleben zustande kommt, wobei das Fremde, Heteronome gar nicht als solches bemerkt wird, sondern gleichsam in einem psychischen wie praktischen Milieu aufgeht. Erst kritische Arbeit befreit daraus. Man könnte sagen, Scheler schlägt hier, mindestens implizit, ein nicht-kognitivistisches Traditionsverständnis vor. Dieser Gedanke wird von ihm nicht systematisch weiter verfolgt, passt zudem auch nicht gut zu anderen seiner Überlegungen zur Tradition, hat aber in der Folge durchaus Parallelen bei späteren Denkern bis hin etwa zu Pierre Bourdieu und dessen Habitus-Konzept.66 Im selben Jahr, in dem Schelers anthropologische Hauptschrift erschien, veröffentlichte auch der damals wesentlich unbekanntere Plessner sein wegweisendes
65
Übrigens lässt sich von dieser Passage aus sehr deutlich die Verbindung zu Rothackers Philosophie ziehen, der einen ganz ähnlichen Gedanken im Hinblick auf Wahrnehmung entwickelt (vgl. Rothacker, Altertum, 8). Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass Rothacker die Idee einer hinter der traditional beeinflussten Wahrnehmung liegenden eigentlichen, echten Wahrnehmung nicht akzeptiert, während Scheler wirklich eigentliche Gefühle anerkennt. 66 Bourdieu meint zum Beispiel, dass eine Praxis nur beherrschen könne, „wer von ihr vollständig beherrscht wird, wer sie so weit besitzt, daß er von ihr völlig besessen, d. h. enteignet ist. Daß dies so ist, liegt daran, daß es nur ein praktisches Lernen der Wahrnehmung-, Beurteilungs- und Handlungsschemata gibt, die Vorbedingung jeder sinnvollen Praxis und jedes sinnvollen Denkens sind und die ständig durch nach denselben Schemata hervorgebrachte Handlungen und Diskurse verstärkt werden und damit aus der Welt der Denkobjekte ausgeschlossen sind.“ (Bourdieu 2015, 31 f.). Bourdieu geht es selbstverständlich auch um die problematische Dimension dieser habituellen Sphäre, aber seine Überlegungen liefern eine theoretische Reinterpretation des Werkstattgeschehens bei Stradivari. Und Scheler deutet eine solche vorkognitive, praxis- wie affektnahe Dimension mindestens an. Die so thematisierte Parallele ist aber nicht werk- oder denkgenetisch zu verstehen, sondern betrifft allein die Sachebene.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“67 , welches eine „Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte“ (Plessner, Stufen, 30) sich zum Zwecke setzte. Plessner legt dabei noch stärker als Scheler Wert darauf, Natur- und Geisteswissenschaften zusammen zu bringen.68 Er folgt in seinen Analysen der Seinsund Lebensformen allerdings nicht, wie Scheler, spezifischen Vermögensstufen mit dem Geist als lebensfremder Höchststufe, sondern nutzt eine Perspektive, um alle Existenzweisen anhand dieser zu ordnen. Er blickt auf das Verhältnis einer Daseinsform zu ihrer Grenze, das heißt ihrem materiellen, aber auch geistigen Abschluss (vgl. Plessner, Stufen, 99 ff.). Anorganische Objekte haben gar kein Grenzverhältnis, sie besitzen nur einen Rand, der ihnen als solcher nicht irgendwie thematisch wird. Pflanzen besitzen, so Plessner, eine offene Positionalität, Tiere eine geschlossene und der Mensch eine exzentrische (vgl. Plessner, Stufen, 218–245, 288–293). Diese beschreibt er wie folgt: […] [Das lebendige Ding] vermag sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit und so ist es Mensch. […] Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern erlebt sein Erleben. (Plessner, Stufen, 291 f.)
Wie schon bei Scheler und nach ihm Gehlen69 oder Landmann70 spielt auch bei Plessner das Auftreten einer Lücke, einer Unterbrechung eine wichtige Rolle beim Zustandekommen der Eigentümlichkeit des Menschen. In dieser und durch diese Lücke kommt der Mensch zu sich als Mensch. Bei Scheler gelangt dieser Hiat mit dem Geist in die Welt, der eben – wie an der Tradition vorgeführt – instinkthafte Bindungen durchtrennen kann (und soll). Plessner will mit seinem 67
Zu den sich aus der fast zeitgleichen Veröffentlichung ergebenden persönlichen Verwerfungen, Plagiatsvorwürfen usw. vgl. die Darlegungen in Fischer 2008, 80 ff. 68 Plessner meint: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.“ (Plessner, Stufen, 26). Auch Scheler ist die Relevanz der biologischen Forschungen klar, vielleicht lässt sich sein doppelter Traditionsbegriff gerade so verstehen, dass die eine Nuance aus dem naturwissenschaftlichen, die andere aus dem geisteswissenschaftlichen Blick resultiert. Plessner ist die zwiespältige Wurzel der Anthropologie allerdings thematisch deutlicher, jedenfalls widmet er sich ihr ausführlicher. 69 Gehlen fasst dies als „Hiat“ (vgl. Gehlen, Mensch, z. B. 56 ff., 361 ff.) 70 Landmann spricht von der „anthropinen Lücke“ (vgl. Landmann 1979, 122).
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Blick auf den Menschen als exzentrisch positionalisierter Lebensformen verdeutlichen, dass der Mensch nicht „stimmig“, „eingepasst“ inmitten der Umwelt lebt, sondern nie ganz in diese gehört. Der Platz des Menschen ist ein u-topos, ein Nicht-Ort (vgl. Plessner, Stufen, 341 f.). Aus dieser so verstandenen Platzierung des Menschen in der Welt, die hier wieder als offene gedacht wird, werden seine Verhaltensweisen und Erfahrungen verständlich. Schon beim Tier, so Plessner, resultiert aus der gegenüber der Pflanze gesteigerten Variabilität der Umweltbeziehung und der ebenso vergrößerten Interaktionsmöglichkeit – man denke nur an Lokomotion – eine Vermehrung der Unsicherheit und Fehlerwahrscheinlichkeit. Dem Tier helfen angesichts dieses Befundes als Kompensationen Instinkt und Erfahrung (vgl. Plessner, Stufen, 250). Sie schließen die geöffneten Beziehungen wieder durch genetisch verankerte oder habituell erworbene neue Sicherheiten. Für den Menschen sind die beim Tier auftretenden Unsicherheiten noch einmal potenziert, ja, man muss sagen, sie sind für ihn der Standardfall. Unsicherheit ist nur ein anderes Wort für Weltoffenheit, beides sind zwei Seiten einer Medaille. Der als instinktarm und auch anderweitig nicht stark vorbestimmte Mensch hat keine „Natürlichkeit“ wie die anderen Tiere, diese ist ihm wesensmäßig verwehrt. Er ist „von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich.“ (Plessner, Stufen, 310) Kultur wird zum Komplement der Eigenarten der exzentrischen Positionalität: Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, […] konstitutiv heimatlos, muß er [der Mensch; S.K.] „etwas werden“ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es nur mit Hilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen. Anders ausgedrückt: er schafft es nur, wenn die Ergebnisse seines Tuns sich von dieser ihrer Herkunft kraft eigenen inneren Gewichts lösen, auf Grund dessen der Mensch anerkennen muß, daß nicht er ihr Urheber gewesen ist, sondern sie nur bei Gelegenheit seines Tuns verwirklicht worden sind. (Plessner Stufen, 310 f.)
Plessner zeigt, dass der Mensch sich eine zweite Natur geben muss, die die Eigenarten der ersten Natur wenn nicht kompensiert, so doch lebbar gestaltet. Dazu ist es nun entscheidend, dass diese menschengemachten Dinge – wozu auch Nichtmaterielles wie Regeln, Institutionen usw. zu zählen ist – ihren Gemachtheitscharakter verbergen oder verlieren. Genau dieser Funktion entsprechen Traditionen. Aus der eigenen Unbestimmtheit und der Unbestimmtheit der offenen Welt heraus legitimiert sich das Vorhandensein von Traditionen – und gerade auch ihre Pluralität (vgl. Plessner, Macht, 230 ff.). Traditionen bilden dabei keineswegs, wie am Beispiel der Religion verdeutlicht wird, eine Rückkehr in eine irgendwie geschlossene, „sichere“ Position für den Menschen, es sei
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
denn, er ist bereit, auf seinen Geist zugunsten eines Glaubens zu verzichten (vgl. Plessner, Stufen, 342), aber sie stellen eine stabile, überindividuelle Struktur her, die Mensch und Welt ordnet. Plessner sieht den Menschen als den Schaffenden, der qua Natur schaffen muss. Als ein solcher Schöpfer bleibt er aber an seine Schöpfungen gebunden (Plessner, Macht, 151), erfährt von diesen eine Rückwirkung. Indem der Mensch so als Schaffender verstanden wird, der bedingt durch seine natürliche Ausstattung nicht anders kann, als zu erschaffen, kommt den Traditionen anthropologische Notwendigkeit zu. Diese können sie aber nur erfüllen, und damit begibt sich Plessner sachlich bereits in phänomenologische Erwägungen, wenn ihr Geschaffensein, ihre Arbitrarität verborgen bleibt. Sie müssen als überindividuelle Instanzen wirken können, um die gewünschten und human notwendigen Leistungen – Orientierung, Sicherheit usw. – zu erbringen. Werden sie, so muss man wohl weiterdenken, als individuelle Konstruktionen erkannt, fiele das Individuum in den Stand der ungesicherten Exzentrizität zurück. Dagegen bietet die historisch-geistige Welt, verstanden im Sinne der Tradition, eine Sphäre des „Unergründlichen“, welche zu begreifen heißt, „am Ende sich selbst und seine Welt aus der Macht vergangener Generationen geworden erkennen und damit die eigene Gegenwart in der Breite ihrer sämtlichen Dimensionen auf das sie aufschließende menschliche Verhalten zurückzuführen.“ (Plessner, Macht, 182)71 Der Mensch begreift sich – anthropologisch genommen – als Geschöpf der Schöpfung anderer, aber auch als der selbst Schöpfende. Plessner beschränkt sich jedoch nicht nur auf diesen anthropologischen Blick auf Tradition, sondern es gesellt sich dazu ein kulturkritischer. Dieser thematisiert die Leistungen der Tradition stärker in normativer Hinsicht. So wird einerseits die beschränkende Wirkung herausgestellt, andererseits aber auch eine gewisse Achtung vor den Traditionen eingefordert. Plessner spricht davon, dass der „Rahmen der Tradition“ umfangen halte, dass es eine „dumpfe Verlorenheit an irgendeine ungeprüfte Tradition und einseitig fixierte Stellung zu Welt und Leben“ (Plessner, Macht, 187 f.)72 gebe, was eben nicht allein anthropologisch zu lesen ist, sondern eine spezifisch normative Lesart gewisser Aspekte der grundlegend anthropologischen Kategorie liefert. Gegen die Beschränkung und Einseitig hilft die „offene Immanenz“, insofern immer ein Spielraum der Auseinandersetzung zwischen Gegenwart und Vergangenheit bleibt (vgl. Plessner, Macht, 187). Vergangenheit ist zur Gegenwart hin geöffnet, wirkt also in sie hinein, kann durch 71
Wie explizit dieses Begreifensein darf, lässt Plessner an der Stelle offen. Plessner argumentiert in diesem Buch vielleicht so politisch wie in keinem anderen, weshalb der normative Aspekt besonders deutlich hervortritt.
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diese aber auch – etwa interpretativ – verändert werden, während ebenso die Gegenwart sich zur Vergangenheit hin offen zeigt, also von dieser her Impulse empfängt. So gesehen ist die Gefahr der „Verlorenheit“ nur dann gegeben, wenn diese Offenheit erstarrt. Trotz der problematischen Dimension der Tradition ist Plessner aber auch ein Verteidiger dieser gegen falsche Zumutungen. Am Beispiel der philosophischen Tradition etwa fordert er „Achtung vor der Tradition“ ein, selbst dann noch, wenn man das „Wagnis der Bodenlosigkeit“ eingehen will, also tabula rasa erstrebt, denn das Wagnishafte resultiert gerade daraus, dass man die achtenswerten Leistungen aus der Geschichte ignoriert (vgl. Plessner, Macht, 212).73 Insofern sind die Traditionen als geistige Erzeugnisse und Leistungen zwar – ganz im Sinne der offenen Immanenz – kritisierbar, aber nicht leichthin, sondern eingedenk ihrer Geschichts- und Bedeutungsschwere. Der abendländischen Welt wirft Plessner daher vor, die „Weisheit des Verborgenen“ (Plessner, Grenzen, 16) vergessen zu haben. Dieses Motiv, im Kontext der Auseinandersetzung mit sozialen Intimitätsvorstellungen à la Tönnies vorgebracht, will darauf hinweisen, dass nicht jede Form der Explikation, das heißt des bewusst intendierten Hervorholens aus der breiten Sphäre des nur halb oder gar nicht Klaren, Bewussten, Durchdachten per se gutzuheißen ist. Vielleicht, so wäre mit Plessner zu überlegen, verdient manch Tradition schweigende Achtung, weil sie etwas transportiert oder beinhaltet, das auf andere Weise nicht (oder eben noch nicht) kommunizierbar ist.74 Es finden sich entsprechend bei Plessner (wenn auch wenige) Stellen, an der eine Art Klage über den Wertverlust der Tradition im Angesicht des westlichen Individualismus herauszuhören sind (vgl. Plessner, Grenzen, 86 f.). Freilich bleibt dieser Blick auf Tradition im Theoriegebäude eher die Ausnahme. In einer Hinsicht überraschend ist aber noch eine kleine, periphere Beobachtung Plessners, die abschließend in den Blick genommen werden soll. Er diskutiert am Beispiel der blutbedingten Gemeinschafts-Idee die Vorstellungen 73
Hervorh. S.K. Plessner denkt in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ konkreter sozialphilosophisch, insofern er darauf hinweisen will, dass es in vielen Bereichen der Zwischenmenschlichkeit sinnvoll sein kann, nicht alles offen, ehrlich, intim, direkt zu explizieren. Schon die alltägliche Frage nach dem Befinden – „Wie geht es?“ – würde, so kann man an Plessner lernen, ihre Funktion und Leistung gerade verfehlen, wenn die Menschen sie als Aufforderung zur Explikation verstehen würden. Die „Weisheit des Verborgenen“ läge in diesem Fall gerade darin, dass die Menschen – oft ohne das bewusst zu tun – mit dem Nicht-Ernst-Nehmen der Frage sich zwischenmenschlich klüger verhalten als derjenige, der tatsächlich ehrlich und offen antwortet. Dieses Motiv ließe sich, so der hier verfolgte Gedanke, erweitern über die konkret interaktionistische Dimension hinaus auch auf abstrakte Traditionszusammenhänge.
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intimster Kollektivität. Diese beruhen auf einer affektiven Zuwendung der Glieder.75 Eine solche affektive Aufladung kann aber (jedenfalls beim Menschen) nicht auf Dauer bestehen, weshalb „schließlich einmal an ihre Stelle die Tradition [tritt]“, wodurch wenigstens der Gemeinschaftssinn – in einer affektiv geminderten Schwundstufe – symbolisch erhalten bleibe (Plessner, Grenzen, 48). Tradition erscheint so als emotionsgeminderte, auf Dauer gestellte Gemeinschaftsform. Ob sich diese Lesart auf alle möglichen Traditionen übertragen lässt, bleibt fraglich,76 aber mit Plessner wäre zumindest an die Traditionen, die für eine Gemeinschaft als spezifisch und wesentlich zu denken sind, dieser neue Blick anzulegen. Insofern eine affektive Minderung gerade gegen soziale Radikalismen und deren „heißen“, affektiv aufgeladenen Charakter gewendet als Vorteil zu betrachten wären, kann dann Traditionsbildung als ein zivilisatorischer Fortschritt angesehen werden. Der Dritte im Bunde der Hauptfiguren der philosophischen Anthropologie, Gehlen, hat sich Traditionen wieder über deren reaktive Leistung genähert, das heißt über die durch das Wesen des Menschen bedingten Aufgaben und Wirkungen. Eine der wichtigsten, vielleicht sogar die zentrale Perspektive, die Gehlens anthropologisches Denken leitet, ist die Frage, „mit welchen Mitteln es [das Wesen; S.K.] eigentlich existiert.“ (Gehlen, Mensch, 18) Der Mensch hat bestimmte Mittel sich geschaffen oder von Natur aus erhalten, mit denen er sein Dasein fristet, gestaltet, verlängert, verbessert usw. Indem diese Mittel selbst als Ausdruck des Wesens verstanden werden, gelingt Gehlen ein Einblick in den anthropologischen Kern. Ohne die zahlreichen Mittel – etwa Sprache, Bewegungsapparat, extrauterines Frühjahr – im Einzelnen zu thematisieren, leitet sich aus der Vielzahl und der Charakteristik dieser ab, dass das Wesen Mensch durch Weltoffenheit gekennzeichnet ist, „er entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu“, aber freilich muss dann „die bloße Existenzfähigkeit eines solchen Wesens fraglich sein, und die bare Lebensfristung ein Problem, das zu lösen der Mensch allein auf sich selbst gestellt ist, und wozu er die Möglichkeiten aus sich selbst herauszuholen hat.“ (Gehlen, Mensch, 37) Wie bei Scheler und Plessner wird der Mensch hier als ein durch fehlende Einpassungen, Bahnungen, Determinationen problematisches und zugleich chanchenreiches Tier angesehen, dem seine von der eigenen Natur herkommende Offenheit Aufgaben stellt, zu deren Bewerkstelligung es gleichwohl Mittel hat. 75
Dabei sei nur orientierend daran erinnert, dass Plessner als Kritiker solcher Vergemeinschaftungsvorstellungen schreibt. 76 Wenn man Sprache, wie das in der Literatur oft geschieht, als Paradigma der Tradition denkt, dürfte Plessners Gedanke nicht zutreffen, aber für gewisse Normen und Regeln des Zusammenlebens überzeugt er schon eher.
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Die abstrakten Mittel, auf die Gehlen hinweist, sind dabei vor allem Zucht, Kultur und Entlastung.77 Weil der Mensch nicht eingepasst, biologisch unfertig und defizitär ist, muss er sich erst zu etwas machen, er muss sich gleichsam in der iterierten und gemeinsamen Praxis „züchten“: Der Mensch ist das handelnde Wesen. Er ist […] nicht „festgestellt“, d.h. er ist sich selbst noch Aufgabe – er ist, kann man auch sagen: das stellungnehmende Wesen. Die Akte seines Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen, und gerade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung und „macht sich zu etwas“. Es ist dies nicht Luxus, der auch unterbleiben könnte, sondern das „Unfertigsein“ gehört zu seinen physischen Bedingungen, zu seiner Natur, und in dieser Hinsicht ist er ein Wesen der Zucht: Selbstzucht, Erziehung […]. Sofern der Mensch auf sich selbst gestellt eine solche lebensnotwendige Aufgabe auch verpassen kann, ist er das gefährdete oder „riskierte“ Wesen, mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken. (Gehlen, Mensch, 33)78
Diese vielzitierte Stelle beinhaltet in nuce das Grundtheorem der philosophischen Anthropologie (nicht nur) Gehlens. Der Mensch ist nicht, wie Tiere, in spezifischer Weise auf eine bestimmte Umwelt bezogen, sondern er ist selbst unfertig und die Welt ihm gegenüber unstrukturiert.79 Daraus folgt eine Überforderung, der Mensch weiß gar nicht, was er tun soll. Wie ist so ein Wesen überlebensfähig? Nach Gehlen allein durch die Zucht, das heißt die Formung des Menschen (und der Welt) zu etwas Spezifischem. Freilich gelingt solche Zucht – Gehlen nennt nicht umsonst gleich darauf Erziehung als zweites Wort – nur im Zusammenleben mit anderen, denn beim „Menschen [ist] das Problem der Lebensfristung so gestellt […], daß es niemals ein einzelner für sich lösen kann.“ (Gehen, Mensch, 54) Sozialität ist keine fakultative Option, sondern anthropologisch bedingte Notwendigkeit. Die Zucht hin zu einer Überlebensfähigkeit – und womöglich auch zu so etwas wie humaner Vervollkommnung – geschieht im 77
Diese liegen nicht alle auf derselben Ebene und hängen zudem zusammen, aber das kann hier – ebenso wie die Ergänzungsbedürftigkeit der Aufzählung – dahingestellt bleiben. 78 Aus dem Aufgabencharakter folgt, dass eine gewisse „Vertikalspannung“ wieder eine Rolle spielt. Der Mensch ist nicht „an sich“ gut, sondern muss erst zu etwas werden. Eine Dimension der Spannungsgeneration ist qua Tradition denkbar (vgl. zum Motiv der Spannung Gehlen, Mensch, z. B. 65, 335). 79 Gehlen spricht von „Reizüberflutung“, insofern die Welt für den Menschen, anders als für Tiere, noch nicht nach (Über-)Lebensrelevanz gegliedert sei (vgl. Gehlen, Mensch, 38). Gegen diesen Gedanken kritisch vgl. Rothacker 1964, 77, 83. Rothacker betont, dass ein offenes Wesen gar nicht zu viel, sondern im Gegenteil zu wenig, im Grenzfall vielleicht gar nichts wahrnehmen würde, so wie ein Unkundiger beim Hören von Musik viel weniger zu bemerken vermag als ein Kenner.
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sozialen Rahmen, genauer: durch Kultur. Die Kulturwelt wird zur spezifischen Umwelt, zum eigentlichen „Milieu“ des Menschen.80 Indem er sich und die Kultur hervorbringt und bestimmt, entlastet der Mensch sich von den Bedrängnissen, die aus der Weltoffenheit und Nichtfestgestelltheit resultieren. Wenn basale Orientierungen und Strukturen organisiert sind, wird der Mensch stabiler und kann sich höheren Tätigkeiten und Vermögen widmen. Gehlen denkt die Offenheit des Menschen nämlich gegeben bis hinunter auf Trieb- und Instinktebene, insofern beide bei Menschen kaum bzw. gar nicht vorhanden sein sollen (vgl. Gehlen, Mensch, z. B. 27). Durch Übernahme fester Bahnungen erweitert der Mensch den Bereich des Erwartbaren, macht sich selbst und die Welt berechenbar, eröffnet sich Gestaltungsraum.81 Wie passen nun Traditionen in Gehlens angedeutetes anthropologisches Modell? Folgt man dem Dargelegten, wird ersichtlich, dass sie eine der wesentlichen Entlastungsmittel des Menschen sind, denn sie organisieren durch Gewöhnung und Dauer den individuellen wie kulturellen Handlungsrahmen. Gehlen hält sie daher letztlich für in höchstem Maße wertvoll: Es sieht so aus, als ob in dem Element „Tradition“ etwas für unsere innere Gesundheit Unverzichtbares steckte. […] In Traditionen des Verhaltens, des Wertens und Geltenlassens werden doch, in langen Zeiten herausexperimentiert, Fundamente gelegt, die man nicht dauernd in Frage stellen muß, die keine Entscheidungszumutungen stellen, weil sie habitualisiert sind. Und außerdem ist unser Einverständnis mit den anderen im gleichen Traditionsrahmen ja konfliktlos schon gegeben. (Gehlen 1961a, 64)
Indem Traditionen von immer wieder sich aufdrängenden Entscheidungszumutungen entlasten, weil durch sie schon im Vorhinein entschieden ist, geben sie dem Menschen (und der Welt) Struktur, Ordnung, Sicherheit. Der Mensch gewinnt infolgedessen erst überhaupt die Freiheit zu höheren Lebenstätigkeiten, insofern er von ganz banalen, grundständigen Fragen und Problemen durch traditionale Bahnungen befreit wird. Und zudem, darauf weist Gehlen explizit hin, binden Traditionen die Individuen schon immer aneinander, was zumindest in begrenztem Rahmen ein gesellschaftliches Zusammensein sicherstellt. Was das Zitierte
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Vgl. dazu Gehlen, Mensch, 40. Dort wird Kultur folgerichtig definiert als „der Inbegriff der vom Menschen tätig, arbeitend bewältigten, veränderten und verwerteten Naturbedingungen, einschließlich der bedingteren, entlasteten Fertigkeiten und Künste, die auf jener Basis erst möglich werden.“ 81 Der Entlastungsprozess wird von Gehlen als „tätige Umarbeitung des Überraschungsfeldes in eine verfügbare und in verdichteten Andeutungen übersehbare Welt von zu erwartenden Eindrücken und Erfolgen […]“ beschrieben (Gehlen, Mensch, 140).
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auch noch einmal betont, ist die Tatsache, dass in der philosophischen Anthropologie Traditionen nicht primär als Dogmen, Weltanschauungen usw. zu sehen sind, sondern als abstrakte Handlungsmuster oder -strukturen. Gehlen trifft ja nur vage inhaltliche Bestimmung der Tradition, zeigt vielmehr ihre Wirkungsweise auf für ein Wesen, das eben ist, wie der Mensch ist. Von allen Anthropologen in der Philosophie hat Gehlen vielleicht am einseitigsten die Stärken der Tradition in den Blick genommen. Als habitualisierte Entscheidungsentlastungen gestatten erst sie es dem Menschen, frei für das zu werden oder zu sein, was er „eigentlich“ möchte.82 Dieses „Eigentlichere“, „Höhere“, das gleichsam jenseits der Sphäre unmittelbarer Lebensfristung (das heißt Nahrung, Schlaf, Behausung, Fortpflanzung usw.) liegt, fußt darauf, dass für den Menschen wie die Kultur vieles schon immer geklärt ist.83 Traditionen leisten diese Klärung, sie wirken wie Institutionen, insofern für diese gilt, dass „[a]lle Stabilität bis in das Herz der Antriebe hinein, jede Dauer und Kontinuität des Höheren im Menschen […] zuletzt von ihnen ab[hängt].“ (Gehlen 1956, 8) Gehlens auf seiner Anthropologie aufgebaute Institutionenlehre liefert gleichsam die Weiterführung seines Traditionsdenkens.84 Institutionen versteht Gehlen so: […] Institutionen [erscheinen] einmal als die Formen der Bewältigung lebenswichtiger Aufgaben oder Umstände, so wie die Fortpflanzung oder die Verteidigung oder die Ernährung ein geregeltes und dauerndes Zusammenwirken erfordern; sie erscheinen von der anderen Seite als die stabilisierenden Gewalten: Sie sind die Formen, die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affektiv-überlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und um sich selbst zu ertragen, etwas, worauf man in sich und den anderen zählen und sich verlassen kann. (Gehlen 1961b, 71)85
Man sieht leicht, dass Traditionen in einem gewissen Sinne von Institutionen gar nicht mehr zu unterscheiden sind, sollten ihre Wirkungen entsprechend den beiden genannten Hinsichten erfolgen. Und wenn Gehlen, wie zitiert, von der gesundheitsrelevanten Leistung der Tradition spricht, denkt er sie gemäß seinem eigenen Institutionsmodell. Mit diesem ist als besonders wichtige Nuance 82
In diesem Gedanken steckt offensichtlich eine antirousseauistische Wendung, insofern dieser die belastende Rolle von Kultur und Tradition betont hatte. 83 Zu diesem Motiv des Kraftüberschusses durch grundsätzliches Geregeltsein des Basalen vgl. Gehlen, Mensch, 396 oder Ders. 1956, 48, 79. 84 Freilich, dies muss erwähnt werden, scheint Gehlen den Termin „Tradition“ selbst nicht technisch verstanden zu haben, denn in seine Register hat er ihn – trotz Vorkommen im Text – nicht aufgenommen. 85 Andernorts versteht Gehlen Institutionen geradezu als Instinktersatz (vgl. Gehlen 1969, 96 f.).
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die Dauerhaftigkeit verbunden, denn das riskierte Wesen Mensch steht ständig in der Gefahr, seine erworbene und erarbeitete Ordnung und Sicherheit zu verlieren. Gerade weil Kultur das „Unwahrscheinliche“ (Gehlen 1956, 118 f.) ist, wird ihre Erhaltung so wichtig.86 Der Kampf gegen die Vergänglichkeit erscheint als wesentlicher Inhalt des kulturellen Lebens überhaupt (vgl. Gehlen 1956, 99). Dann aber werden Traditionen zum Kern des Kulturellen, denn sie sind ja aufgespannt in der Zeit und bilden eine diachrone Brücke.87 Da Traditionen, verstanden als anthropologisch bedingte grundständige, ggf. institutionsartige entlastende Regelungssysteme,88 einen derart hohen Stellenwert haben, ist Gehlen für ihr Verschwinden besonders sensibel. In zweierlei Hinsicht sollen derartige Krisenphänomene in seinen Schriften kurz zum Thema werden, um sein Verständnis von Traditionen weiter zu schärfen, nämlich einerseits der Konflikt mit explikativer Vernunft, andererseits das Problem des Subjektivismus. Den Widerstreit zwischen Tradition und einer bestimmten Form der Vernunfttätigkeit deutet Gehlen an, wenn er davon spricht, dass erstere „sich nicht erklären, sondern kraft Geltung des immer so Gewesenen respektiert werden.“ (Gehlen 1961a, 64)89 Die so nur implizit erkennbare These verweist darauf, dass Tradition auf eine andere als eine im üblichen Sinne rational begründende Weise Gültigkeit erlangt. Dennoch ist sie deswegen nicht irrational, sondern Gehlen verweist auf die Legitimation „vernünftiger Einrichtungen“ durch „lang[e] Erfolg[e]“ (Gehlen 1969, 101). Dieser empirische Erfolg steht jedoch im Gegensatz zu einer bestimmten Form expliziten Vernünftigkeitsnachweises, der, nach Gehlen, mit der Aufklärung in die Welt gekommen sei: „Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen […]. Sie löst die Treuepflicht 86
Die Dimension der Erhaltung der Kulturleistungen durch die Zeit wird besonders deutlich an folgender Kulturbestimmung Gehlens: „Kultur ist ihrem Wesen nach ein über Jahrhunderte gehendes Herausarbeiten von hohen Gedanken und Entscheidungen, aber auch ein Umgießen dieser Inhalte zu festen Formen, so daß sie jetzt, gleichgültig gegen die geringe Kapazität der kleinen Seelen, weitergereicht werden können, um nicht nur die Zeit, sondern auch die Menschen zu überstehen.“ (Gehlen 1956, 27). 87 Wenn man Traditionen so versteht, könnten sie in Gehlens Modell auch gleichsam die Bedingung der Möglichkeit von Institutionen sein, also diesen noch zugrunde liegen. Wenn es heißt, der „Bestand einer jeden Institution ist nur dann gesichert, wenn ein […] Unterbau gewohnheitsmäßigen […] Verhaltens vorhanden ist“ (Gehlen 1956, 98 f.), so kann diese Gewohnheit selbst – rein begriffslogisch, um einen infiniten Regress zu vermeiden – nicht selbst wieder institutionell bedingt sein. Hier wäre ein möglicher Platz für Tradition im genannten spezifischen Sinn. 88 Diese werden von Gehlen als regional, kulturell usw. differenziert, dezidiert nicht als universell verstanden (vgl. Gehlen 1961c, 101). 89 Er lehnt sich dabei an Nietzsche an.
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zu außerrationalen Werten auf, hebt die Bindungen durch Kritik ins Bewußtsein, wo sie zerarbeitet und verdampft werden […].“ (Gehlen 1969, 102) Es ist keineswegs so, dass Gehlen diese Entwicklung grundsätzlich ablehnt, aber er betont ihre Ambivalenz. Die westliche Kulturtechnik des theoretischen Denkens sei im Laufe eines Prozesses des Verzichts erworben worden, wobei mit „Verzichten, die in die Natur des Menschen tief eingreifen, die ‚unmenschlich‘ und gefährlich sind“ (Gehlen, Mensch, 338), bezahlt worden sei. Dieser Art der Rationalität90 kann aber nicht alle Bedürfnisse des Menschen befriedigen – darin liegt ihre Unmenschlichkeit.91 Das bereits mehrfach berührte Theorem des Konfliktes von Rationalität (im Sinne der Aufklärung) und Tradition findet im Denken Gehlens eine Wiederaufnahme. Das zweite Konfliktfeld betrifft den Subjektivismus. Gehlen hatte dafür argumentiert, dass der Mensch anthropologisch auf andere Menschen und Kultur angewiesen ist. Er sieht nun in der Moderne einen Abbau von Traditionen in der, wie er es nennt, „desintegrierten Gesellschaft“ (Gehlen, Mensch, 411).92 Desintegriert meint dabei, dass es vermehrt der Einzelne ist, der zu agieren hat. Vor dem Hintergrund des geschilderten anthropologischen Modells ist klar, dass Gehlen dies als hochriskantes Unterfangen lesen muss, denn dem auf sich gestellten Menschen fehlt die sichernde Stütze der Geschichte und der Mitmenschen, seine Riskiertheit ist potenziert, insofern es keine über- oder transindividuellen Sicherungssysteme gibt. Der Mensch heute, so heißt es, „experimentiert […] mit sich selbst an einer Stelle, an der er es noch nie tat. Indem er versucht, sich ganz grundsätzlich dem Joch der Umstände zu entziehen, liefert er sich an etwas aus, das er noch zu wenig kennt und wovon er die Meinungen des frivolsten Optimismus hat: das ist er selbst.“ (Gehlen 1961a, 67) Traditionsbefreiung wird demnach zur Einkehr in den hochriskanten Subjektivismus oder Individualismus. Insofern infolge der umfassenden Herstellung einer tabula rasa nichts als der Einzelne 90
Gehlen datiert sie auf die Mitte des 17. Jahrhunderts, was dem Beginn des Aufklärungszeitalters in etwa entspricht. 91 „Aus dem Gesagten folgt, daß die Wissenschaft, die ihrem Wesen nach ‚Aufklärung‘ ist, die fehlenden Führungssysteme oder ‚idées directrices‘ einer Gesellschaft nicht ersetzen kann. Sie kann keine zureichenden Gründe für eine Gesamtorientierung zur Welt, für einen handelnden Glauben schaffen und keine echte Motivationskraft für elementare Entscheidungen bieten, so wenig wie zwingende, allgemeingültige Gewißheiten. […] Ebenso folgt aus dem Gesagten, daß die wissenschaftliche Welt in der Einseitigkeit ihres Ethos nur eine geringe institutionsbildende Kraft hat.“ (Gehlen, Mensch, 339). Führungssysteme im echten Sinne sind nur Institutionen (vgl. ebd., 414), worunter eben auch Traditionen zu fallen scheinen, die daher nach Gehlen in einem Widerspruch zur wissenschaftlichen Rationalität stehen. 92 Zum Traditionsabbau in der Gegenwart vgl. auch die Diagnose bei Gehlen 1961a, 64 ff.
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verbleibt, ist nach Gehlen zugleich der Bereich der Kultur insgesamt zerstört, womit der Mensch wieder auf seinen anthropologischen Urzustand, das heißt eben seinen Vor-Zucht-Zustand, seinen Rohzustand zurückfällt. Dagegen sei es entscheidend, sich nicht primär als Subjekt, sondern als Teil einer generationellen (Kultur-)Kette zu verstehen, durch die sich die Kultur nur überhaupt erhalten kann (vgl. z. B. Gehlen 1969, 101). Rothacker bereichert die bereits an Scheler, Plessner und Gehlen herausgestellte Perspektive auf Tradition im Wesentlichen, wie man sagen kann, durch hermeneutische Überlegungen. Dabei geht auch er von einer vergleichbaren anthropologischen Situation aus, insofern behauptet wird, beim Menschen sind an die Stelle der natürlichen Umwelten der Tiere menschliche Umwelten getreten. An die Stelle der angeborenen tierischen Baupläne, denen die tierischen Umwelten streng korrelativ entsprechen, sind menschliche Berufszweige getreten, Stände, Berufe usw., mindestens anerzogene Einstellungen. […] Dem Tier ist sein Lebensstil, d.h. seine Verhaltensweise mit dem Bauplan angeboren, der Mensch aber kann seinen Lebensstil sozialgeschichtlich erwerben […]. (Rothacker 1964, 74 f.)
Der Mensch ist gekennzeichnet durch eine nicht qua Natur determinierte Orientierung, die er selbst herstellt, dabei zugleich seine Welt mitprägt. In dieser Hinsicht geht Rothacker nicht über seine Vorgänger hinaus, er denkt vom WeltoffenheitsTheorem her, auf das er auch verweist (vgl. z. B. Rothacker 1966, 24 f.). Jedoch ordnet er das Weltoffenheits-Denken anders ein, was ihn auch zu anderen Aussagen über die Stellung des Menschen in der Welt führt. Der weltoffene Mensch ist nämlich, ihm zufolge, eine falsche Vorstellung, wenn man sie mit dem konkreten Menschen im Alltag identifiziert. „Die meisten Philosophen begnügen sich damit, auf der Gleichung Mensch = Weltoffenheit zu bestehen und den konkreten Menschen mit einem Philosophen zu verwechseln.“ (Rothacker 1964, 87) Worauf will Rothacker hinweisen? Er insistiert letztlich darauf, dass der weltoffene Mensch, den aus der Welt alles, was es dort gibt, angeblich ungefiltert anströmt, nicht existiert – oder nur ein Hochkulturprodukt später Zeiten ist. Der weltoffene Mensch ist nach dem Ideal eines naturwissenschaftlichen, allseitigen Detektors gedacht, entspricht aber nicht dem Wesen des Menschen. Dieser ist vielmehr immer schon perspektivgebunden, er kann sich von der „Standortgebundenheit“ nicht lösen, und er sollte es auch gar nicht, denn „er ist an eingeschlagene Wege[,] z. B. Wege der Belehrung und Tradition, vor allen Dingen seiner Gemeinschaft um so enger gebunden, als er diesen ja die Höhe seines geistigen Könnens, seines geistigen
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Niveau[s] verdankt.“ (Rothacker 1964, 185)93 Also keine Orientierung am Modell der Weltoffenheit – jedenfalls nicht prima facie, vielmehr eher als spätere Kulturleistung –, sondern Ernstnehmen der Situiertheit des Menschen. Der Mensch ist immer schon kulturell geformt (vgl. Rothacker 1948, 61). Diese Situierung, diese Formung leistet – zwar unter anderem, aber doch wohl hauptsächlich – Tradition.94 Die so bewerkstelligten kulturellen Prägungen versteht Rothacker als „Zwischenlagen“ zwischen Lebendigkeit und Objekt, die sie miteinander vermitteln. Sie stellen Dauer her, Kontinuität, entlasten von Verantwortung, nehmen Entscheidungen ab, verhindern Einsamkeit, führen, formen Gemeinschaft (vgl. Rothacker 1934, 73 ff.).95 Rothacker denkt die so hergestellte Situiertheit des Menschen dann freilich hermeneutisch, indem er die welterschließende Funktion betont. Kulturen werden zu „Scheinwerfern“, die den Weltstoff konkretisieren. Doch bevor dieses Motiv erläutert wird, gilt es, noch darauf zu reflektieren, was denn Traditionen genau sein sollen. Es lassen sich in den einschlägigen Texten drei Begriffe voneinander unterscheiden, den emphatischen, den geistig-materialen und einen reflexiven. Der emphatische Begriff ist wohl ein werkgenetisch frühes Konzept und betont Traditionen als absolute Maßstäbe für alle Folgezeiten und denkt sie nicht von bloßer Beeinflussung her, sondern nach dem theologischen Motiv einer Offenbarung (vgl. Rothacker 1934, 16). Tradition ist normativ verstanden, soll Orientierungspunkt für lange, vielleicht alle Zeit sein.96 Gleichwohl hat Rothacker dieses Konzept nicht besonders pointiert vertreten, sondern stärker auf Tradition in geistig-materialer Hinsicht geblickt. 93
Es ist nicht ganz klar, inwiefern Rothackers Einwand die drei zuvor behandelten Philosophen trifft, denn diese geben ja zu, dass der Mensch sich an eine Perspektive binden muss, um seine Welt und sich selbst zu „machen“, zu strukturieren usw. Der Dissens entsteht vielleicht dahingehend, als wie real die Weltoffenheit zu verstehen ist – muss sie als etwas genommen werden, was de facto in der Welt vorkommt (was Rothacker dann ablehnen würde), oder kann sie als ein prinzipiell dem Menschen möglicher, aber nie realisierter (und vielleicht nie ganz realisierbarer) Zustand gelten (womit Rothacker wiederum weniger theoretische Probleme hätte). Je nachdem, wie man die Aussagen bei Scheler, Plessner und Gehlen auslegt, kritisiert sie Rothacker an diesem Punkt oder eben nicht. 94 Im geschichtsphilosophischen Zusammenhang spricht Rothacker von der Tradition als einer „der größten historischen Mächte überhaupt“ (Rothacker 1934, 16). 95 Zur Tradition als Kontinuitätssicherung vgl. auch Rothacker 1966, 369. 96 Vielleicht muss auch die Annahme, das „Erfülltwerden von einer Wahrheit, woher sie auch kommen mag, […] ist das eigentliche Herz, der ideale Kern in der Wirkung geistiger Traditionen, auf die, welche sie empfangen“ (Rothacker, Altertum, 10), vor dem Hintergrund des emphatischen Verständnisses gelesen werden. Rein sprachlich ist an dieser Stelle zudem interessant, dass von „geistigen Traditionen“ die Rede ist, was nahelegt, dass es auch nicht-geistige gibt. Dahingehend spart Rothacker aber weitere Hinweise aus.
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Demnach sei „Tradition im eigentlichen Sinne […] das geistige Gut, das sich ein Volk oder ein Kulturkreis […] lebendig einverleibt hat. Was […] sich in seine Substanz verwandelt hat, was naiv geglaubt wird, weil es vom lebendigen Leben in seinen ungestörten Kreislauf aufgenommen worden ist.“ (Rothacker, Altertum, 23) Oder, wie es schon früher hieß: Tradition ist „die Gemeinsamkeit eines mit dem Übertritt aus dem Bewußtsein seines Schöpfers in ein anderes Bewußtsein bereits zur ‚Tradition‘ gewordenen geprägten geistigen Gehaltes.“ (Rothacker 1934, 36) Hier wird Tradition zu einem Bestand in der Sphäre des – nach hegelianischem Vorbild verstandenen – objektiven Geistes. Schließlich findet sich noch ein drittes Verständnis, dass Rothacker sprachlich als „Traditionsbewußtsein“ fasst: Neben […] echten Traditionsfaktoren, den naiven, substantiellen, von Glaubenskräften der Völker getragenen, entwickelt sich […] etwas begrifflich anderes, was man meist Traditionen nennt, was wir aber als Traditionsbewußtsein bezeichnen wollen. Das heißt, jede Kultur hat nicht nur eine Tradition, sondern schafft sich auch, um sich vor ihrem bewußten Selbstverständnis als dieselbe zu fühlen, ein Traditionsbewußtsein. (Rothacker, Altertum, 23)
Rothacker grenzt ein solches reflexiv-intentionales Bezugnehmen auf Tradition ab, insofern gewisse Merkmale – Naivität, Erfüllung im Kern usw. – nicht gegeben scheinen, obwohl zum Beispiel die materiale Komponente vorliegt.97 Folgt man dieser Spur, sind ihm Traditionen ganz fundamental verinnerlichte, habitualisierte Gehalte, die ein Mensch bzw. eine Kultur, eine Nation, ein Volk als leitende Strukturen besitzt, ohne sich dieser notwendig bewusst sein zu müssen. Aus diesen Überlegungen lassen sich auch die Merkmale und Eigenarten verstehen, die Rothacker der Tradition zuerkennen zu können meint. Er hält sie zunächst für spezifisch menschlich (vgl. Rothacker, Altertum, 6),98 wohinter vermutlich die These steht, dass Tiere gar keine Sphäre des objektiv Geistigen haben. Rothacker hat sich insgesamt aber – anders als zum Beispiel Plessner oder auch Gehlen – nur wenig mit biologischen Forschungen auseinandergesetzt, sondern diese eher punktuell herangezogen, dann zumeist auch bloß pauschal rezipiert. Sein Fokus liegt daher nicht auf der Begründung einer solchen These, sondern im Bereich der Kulturhermeneutik. Rothacker meint nämlich, die Welt des Menschen – wobei das im Plural zu denken ist – sei immer „ein Korrelat bestimmter 97
Von Rothacker her wäre daher das, was man in der Nachfolge Eric Hobsbawms als erfundene Traditionen bezeichnet, vielleicht eher als Traditionsbewusstsein zu bezeichnen. 98 Interessant ist, dass Rothacker das Vorhandensein von Traditionen sogar als die differentia specifica von Mensch und Tier interpretiert.
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‚Organe des Gewahrens und Begreifens‘.“ (Rothacker 1934, 110) Die Welt ist ohne solche kulturellen Organe unbestimmt, bloßer Weltstoff. Dieser wird erst strukturiert und geformt durch einen hermeneutischen Vorgriff, den die Kultur liefert.99 Ein solcher, vielleicht der wichtigste Vorgriff ist Tradition. Wer solche Vorgriffe nicht hat, so Rothacker gegen die Reizüberflutungsthese Gehlens, sieht nicht zu viel, sondern nichts.100 „[E]s gilt für alle Gebiete schlechtweg“, so Rothacker, „daß an ihrem Ausbau Traditionen beteiligt sind. Und zwar Augen öffnende und Blicke lenkende Traditionen.“ (Rothacker 1966, 143)101 Traditionen als strukturierende Vorgriffe lassen erst überhaupt etwas sehen, bemerken, sie sind nicht verstellende, verbergende Phänomene. Traditionen sind – wie schon im Hinblick auf Kulturen gesagt – zu verstehen wie „Scheinwerfer“ (vgl. Rothacker 1964, 84), die in einen dunklen, unerkennbaren Raum Licht werfen und diesen somit überhaupt erkennbar machen. Rothacker fasst diesen Gedanken pointiert in seinem Satz der Bedeutsamkeit, wonach „[o]hne biologisch-emotionale, existentielle Beleuchtung […] kein Erkenntnislicht“ (Rothacker 1964, 84) aufgehe. Erst ein solcher auch affektiver, interessegeleiteter „Bedeutsamkeitsbezug macht die faktisch gelebten Welten faktischer menschlicher Gemeinschaften […] zu inhaltlich sinnvollen und verständlichen. […] Erst die Relationen zwischen einem konkreten Subjekt und einem ihm belangvoll werdenden Wirklichen schafft lebendige Anschauungen.“ (Rothacker 1966, 44 f.) Die geschichtlich sich herausgebildet habenden Bedeutsamkeiten, die mindestens kulturell, in Teilen womöglich auch individuell verschieden sein können, gestatten erst eine Bestimmung, eine Explikation des Weltstoffes. Traditionen sind, so gesehen, Reichhaltigskeitsermöglicher, denn nur dank der durch sie vermittelten Vorgriffe – etwa in Form von Begriffen, Theorien, aber auch Verhaltensweisen, Werten usw. – ist das Individuum und ist eine Kultur in der Lage, eine entfaltete, strukturierte, eben reichhaltig gegliederte Welt zu erleben und gleichsam zu besitzen. Traditionen bekommen eine anthropologisch-hermeneutische Funktion, die ihnen ungemein positiven Wert sichert. Wer außerhalb ihrer steht, lebt – muss man im Anschluss an Rothacker sagen – verarmt.102 99
Dieser organisierende Vorgriff wirkt nach Rothacker bis auf die Ebene kulturbedingter Sinnesschwellen hinab (vgl. dazu z. B. Rothacker 1948, 167). 100 Vgl. dazu gerade im auffälligen Kontrast Gehlen, Mensch, 38 und Rothacker 1964, 77, 83. 101 Hervorh. S.K. 102 Daraus speist sich auch Rothackers kritischer Blick auf die Aufklärung, gegen deren Individualismus er mit Rekurs auf die historische Schule das Eingegliedertsein des Einzelnen in große Mächte als sinnvoll und notwendig herauszustellen bestrebt ist (vgl. dazu z. B. Rothacker 1931, 481). Rothacker möchte darauf hinweisen, dass Traditionen als Gegenstück zur
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Gleichwohl gibt Rothacker zu, dass das Hineinkommen in Tradition – trotz der geschilderten Naivität – aus der Perspektive des Individuums nicht problemlos erfolgt. Es hat im Moment des Erwerbs Zwangscharakter, etwas „Aufgenötigtes“ (Rothacker, Altertum, 7). Tradition liegt nicht im bewussten Eigeninteresse etwa der zu erziehenden Kinder, aber freilich sehr im wohlverstandenen Eigeninteresse derselben. Es kommt hier auf die Perspektive an, und Rothackers ist offensichtlich stärker auf kulturell-anthropologischer Ebene angesiedelt, wo der auf phänomenologischer Ebene erkennbare Zwangscharakter irrelevant wird. Auch auf kultureller Ebene sind Traditionen aber nicht konfliktfrei zu denken, denn sie stehen immer unter dem Druck des Andauernmüssens, was jedoch – je nach den Umständen – gelingen oder scheitern kann. Rothacker erkennt daher „Grade der Traditionszähigkeit“ (Rothacker 1966, 33). Derartigen Konfliktdimensionen muss hier jedoch nicht nachgegangen werden, da sie das Verständnis nicht bereichern helfen. Wichtiger ist, welche Oppositionen Rothacker aufmacht, das heißt, welche Gefahren er für Traditionen sieht. Im Wesentlichen lassen sich zwei herausstellen, nämlich die Explikations- oder Formalisierungstendenz und die Machenstendenz. Zunächst zu ersterer, die darin besteht, Traditionen zu explizieren, das heißt bewusst zu machen und in eine Art formalisiertes Gerüst zu transformieren, wodurch sie dann weiterbestehen. Rothacker denkt vermutlich an so etwas wie Regelwerke, Routinen usw., die als verselbständigte Kulturgebilde weitergegeben werden.103 Solche Explikate aber sind keine Traditionen mehr: Er [der Mensch; S.K.] kann […] seinen ganzen geistigen Traditionsboden scheinbar opfern und sogar bekämpfen, indem er das auf diese Weise entstandene Niveau […] noch nicht einmal aufzugeben braucht, sondern formalisiert, d.h. also in concreto aufgibt, als „Extrakt“, als formales Gerüst aber beibehalten kann. (Rothacker 1964, 185)
mangelnden individuellen Begabung, die außer für Genies letztlich für alle Menschen zu attestieren ist, positiv zu denken sind (vgl. Rothacker 1966, 157, 370). Umgekehrt formuliert: Die Aufklärung überschätzt aus seiner Perspektive im Rahmen ihrer Traditionskritik die Fähigkeiten des einzelnen Menschen. Traditionen dienen als Komplement zur individuellen Beschränktheit. Vgl. dazu auch ebd., 251. 103 Man könnte in an Hegel angelegter Sprechweise vielleicht zur Illustration auf die Unterscheidung von objektivem und objektiviertem Geist zurückgreifen, wie sie sich bei Hartmann findet. Vgl. dazu Abschn. 3.5 und Hartmann 1949, z. B. 196 f.
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Die im Sinne Rothackers eigentliche Tradition ist offensichtlich „lebendig“104 , wird mehr gelebt als gewusst, steht nicht in einem theoretisch-distanzierten Verhältnis zu der sie habenden Kultur bzw. den sie habenden Menschen. So gesehen stellt die Formalisierung oder Extrahierung das Gegenstück zur inneren Durchdringung dar, von der bereits die Rede war. Das Wirken der Tradition ist daran gebunden, dass sie nicht vollauf zum Objekt werden kann, sie muss unbemerkter Teil der Kultur und des Menschen bleiben. Damit einher geht die zweite Opposition, denn wenn das Genannte stimmt, steht Tradition in einem Spannungsfeld zum intendierten Hervorbringen, zum Machen (vgl. Rothacker, Altertum, 24). In diesem Fall läge ein Traditionsbewusstsein vor, aber nicht eine Tradition. Diese ist immer schon etwas unterhalb dessen, was man bewusst machen und wollen kann.105 Weil es so in den Bereich des nur indirekt Erzeugbaren und insgesamt wohl Unverfügbaren gehört, wird das Traditionale selbst zu einem schützenswerten Gut, denn der Verlust desselben ist nicht im Rahmen intentionalen Handelns sicher und planbar wiedergutzumachen. Die vorstehenden Darlegungen zum Traditionsbegriff in der philosophischen Anthropologie kulminieren, so kann man vielleicht sagen, ohne allerdings direkt kausale Rezeptionsbeziehungen unterstellen zu wollen, im Denken Landmanns. Dieser ist, was Umfang und Stellenwert des Traditionskonzeptes im Rahmen des anthropologischen Denkens angeht, sicher als herausragend zu bezeichnen. Dies mag daran liegen, dass er von allen verhandelten Philosophen derjenige ist, der am wenigsten biologisch und am stärksten kulturphilosophisch operiert. Wie dem aber auch letztlich sei, Tradition wird für ihn und bei ihm zum Zentralkonzept.106 Seine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen hat dabei zwei Wurzeln, einmal das anthropologische Denken, einmal die kritische Bestandsaufnahme der Aufklärung und ihres Vernunftbegriffs, beide Quellen bestimmen Landmanns Ansicht maßgeblich. 104
Das Motiv der Lebendigkeit der Tradition taucht in Rothacker, Altertum, 21–24 oder Ders. 1966, z. B. 30, 42, 58 auf. 105 Wittgensteins „unglücklich Verliebter“ kommt in den Sinn, denn dieser will auch unbedingt, dass der andere Mensch ihn liebt, aber das Wollen bringt das Gewollte nicht hervor – oder vielleicht noch schlimmer, gerade das bewusste Wollen verhindert das Gewollte. 106 In Rezeptionshinsicht muss man freilich anerkennen, dass Landmann kaum breitere Wirkung entfaltet hat und selbst im Spezialbereich der philosophischen Anthropologie eine Randfigur bleibt. Immerhin ist ihm zuletzt eine neue Bestandsaufnahme zuteil geworden (vgl. Bohr/Wunsch (Hg.) 2015), die neben Festschrift (vgl. Grundner et al. (Hg.) 1974) und Gedenkschrift (vgl. Grundner et al. (Hg.) 2001) die wesentliche Sekundärquelle darstellt. Allerdings ist in der neueren Publikation der Schwerpunkt sowohl im Titel als auch einigen Beiträgen gerade auf das zur Tradition oppositionelle Humanum der Kreativität vereinseitigend gelegt worden. Als Ausnahme davon vgl. aber Schollmeyer 2015.
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Die theoretische Verortung der Traditionen erfolgt bei Landmann nach dem bereits mehrfach verdeutlichten anthropologischen Muster, denn sie füllen die anthropine Lücke auf, die durch den Instinktausfall entstanden ist (vgl. z. B. Landmann 1971, 73). Der Mensch ist gezwungen, selbst Handlungsstrukturen herzustellen, Orientierungen zu stiften usw. Die Tradition tritt an die Stelle des Instinktes (vgl. Landmann 1971, 115). Doch nicht nur in Hinsicht auf quasi-automatische bzw. reflexartige Handlungsbahnung vertreten die Traditionen etwas, das bei Tieren anders geregelt scheint, sondern auch im Hinblick auf die Sicherstellung von Kontinuität, denn während dort die Vererbung dominiert, tritt zu dieser beim Menschen die Tradition als ein weiteres Mittel der Diachronizität (vgl. Landmann 1976a, 195 f.). Sie sichert demnach Orientierung oder Einpassung und Dauer. Insgesamt ist der Mensch bei Landmann als unfertig charakterisiert, und dieser Unfertigkeit begegnet er eben mittels Tradition: „Erst durch die Insichnahme und Darstellung der Tradition wird der Mensch das, was er seiner Bestimmung nach sein soll. Die Tradition ist unsere geistige Mutter, durch die wir erst zuendegeboren werden.“ (Landmann 1961, 156) Der unvollendete, weil formbare und offene Mensch erfährt durch das Hineinkommen in die Kulturtradition seine Bestimmung, gibt sich Bahnungen, prägt sich. Durch diese erfährt der Mensch, was er ist, sein soll, zu tun hat und dergleichen.107 Das schon bei Gehlen und anderen auffindbare Motiv, der Mensch komme unfertig zur Welt,108 wird von Landmann akzeptiert, die Tradition als Überwindung der Unvollständigkeit angesehen. Dass der Mensch allerdings so grundlegend offen und unfestgestellt ist, bemerkt dieser meist gar nicht, was wiederum an der erläuterten Kompensationswirkung der Tradition liegt. Diese hat ihre Arbeit, sofern es de facto keinen kulturfreien Menschen gibt, immer schon getan.109 In dieser Perspektive regelt die Tradition das menschliche Dasein so grundlegend und im Modus des „immer-schon“, dass sie in ihrer Relevanz gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Trotz dieser Leistungsfähigkeit bestreit 107
Landmann sieht dabei Tradition nicht nur kognitivistisch, sondern kennt auch solche etwa des Fühlens. Vgl. so z. B. Landmann 1971, 115. 108 Gehlen greift dazu häufig das auf Adolf Portmann zurückgehende Theorem vom extrauterinen Frühjahr auf (so z. B. bei Gehlen 1961a, 56). Einen ähnlichen Gedanken findet man aber auch schon, freilich noch nicht experimentell gestützt, der Sache nach bei Herder (vgl. Herder, Ideen, 118). 109 „Unsere essentielle menschliche Unfertigkeit greift viel tiefer, als wir es uns im allgemeinen klarmachen, und daß wir es uns nicht klarmachen[,] liegt nur daran, daß für die Grundschichten dieser Unfestgelegtheit die (aber nie definitive) Festlegung immer in der Vergangenheit bereits geschehen, daß sie Erbgut einer ganzen Gemeinschaft geworden und daß sie somit dem Einzelnen durch seine Gemeinschaft schon abgenommen ist.“ (Landmann 1961, 56).
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Landmann aber nicht, dass Tradition dem Einzelnen wie einer Kultur gegenüber unbequeme Ansprüche stellt, sie sich also als Problem erweisen könnte. Das Fordernde wird – anders als vielleicht naheliegend – nun jedoch zu einem positiven Aspekt umgedeutet, wird zum konstitutiven Element des Menschlichen gemacht, denn das, was „das Menschliche in uns voll macht“, ist eben auch, „daß wir die Gängelung und Formung kultureller Traditionen an uns erfahren.“ (Landmann 1979, 63) Im Betroffensein von überindividuellen oder ggf. sogar überkollektiven Traditionsbeständen liegt, so gesehen, zwar eine Nötigung, insofern man unbequemen, nicht einfachen, womöglich unbeliebten Handlungen nachzugehen hat, Werte akzeptieren, Regeln beachten muss usw., aber diese Nötigung ist nicht inhuman, sondern im Gegenteil spezifisch menschlich. Traditionen, von Landmann nach dem Modell des objektiven Geistes deutbar, sind Herr des Menschen, machen ihn zum Menschen, zugleich aber, und darin wird die bloß passiv-dienende Perspektive nochmals deutlich überschritten, sind sie auch dessen Knecht (vgl. Landmann 1961, 9). Tradition dient dem Menschen, indem sie ihm zunutze ist für Erkenntnis- oder Handlungssicherung, Steigerung der Möglichkeiten, Stiftung von lebbaren Welten und dergleichen. Sie dient ihm, weil er durch sie – als Einzelner – seinen Möglichkeitsraum immens erweitert. Landmann weist darauf hin, dass das, was ein Individuum im Laufe seines kurzen Lebens erreichen kann, wenig ist verglichen mit dem, was ihm qua Kultur zur Verfügung steht, auf das er aufbauen kann (vgl. Landmann 1976a, 186). Der Mensch hat demnach nicht nur Tradition, sondern er hat sie notwendig. Sie ist als zusätzliches Organ110 eine Unausweichlichkeit,111 weshalb Landmann sie eben, wie schon zuvor erwähnt, zu den anthropologischen Kategorien, den Anthropina rechnet.112 Der Kern des Anthropinons Tradition liegt in der humanen Fähigkeit, 110
So wird Kultur, die bei Landmann oft synonym zu Tradition zu lesen ist, verstanden. Vgl. dazu Landmann 1979, 68. 111 „Wir können wohl aus der von der Vergangenheit in die Zukunft wandernden Phalanx der Traditionen einzelne Glieder herausreißen, aber den Weitermarsch der Phalanx als ganzer nicht hindern.“ (Landmann 1976b, 175). 112 Dazu vgl. erneut Landmann 1961, 136 f. und aus den zahlreichen weiteren Belegen v. a. Landmann 1979, 146; Ders. 1975, 20 f., 31 und Ders. 1974, 277. Eine Wiederbelebung solcher universellen anthropologischen Kategorien hat zuletzt in kluger und überzeugender Weise Christoph Antweiler versucht, ohne allerdings Landmanns Ansatz zu kennen. Antweiler will zeigen, dass es nicht-genetische Formen menschlicher Universalien gibt, wobei Universalien bei ihm wohl dem entsprechen, was man in der Philosophie einen Typus nennt, also etwas, das zwischen absolut Allgemeinem und ganz Konkretem steht (vgl. dazu Antweiler 2009, 38 f., 108, 115). Wenn Kultur wesentlich um nicht-genetische Informationsweitergabe sich sorgt (vgl. ebd., 131), dann könnten auch Traditionen Universalien im Sinne Antweilers sein, womit er die These Landmanns von anderer
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„Kultur in sich aufzunehmen und sich durch sie prägen zu lassen.“ (Landmann 1961, 93)113 Rezeptivität wird positiv gewendet, weil sie anthropologisch erklärliche und für Individuum wie Kultur vor dem Hintergrund von deren faktischen Beschränkungen – vor allem ihrer zeitlichen wie kapazitären Grenzen – sinnvolle Leistungen erbringt, die anderweitig gar nicht zu bewerkstelligen scheinen. Der Mensch ist ganz Traditionswesen.114 Die anthropologisch bedingte Stellung der Tradition im Hinblick auf Welt und Mensch ist, bei allen feinen Nuancierungen, derjenigen der vorher verhandelten vier Denker sicher vergleichbar. Was aber versteht Landmann unter Tradition selbst jenseits ihrer Funktion und sachlichen Ableitung? Zunächst einmal ist auffällig, dass es zwei nicht klar voneinander unterschiedene Bestimmungen der Tradition in den einschlägigen Texten Landmanns gibt, eine formal-anthropologische und eine historische.115 Erstere liegt in den Spuren, die bereits verdeutlicht wurden, zweitere aber wird viel konkreter gedacht und auch anders kritisiert. Für die vorliegende Untersuchung ist nur der formal-anthropologische Begriff relevant, aber sicher ist es für den Gesamtdiskurs symptomatisch, dass selbst ein Seite her stützen würde. Antweiler thematisiert das Tradieren bei Tieren und Menschen selbst (vgl. ebd., 165 f.). Als einen vor Antweiler ähnlich denkenden Anthropologen vgl. Wernhart 1987. 113 An dieser Stelle wäre gegen Friedrich Schollmeyer zu betonen, dass Landmann Tradition streng anthropologisch denkt (wenn es auch, wie noch gezeigt wird, auch eine andere Spur gibt). Wenn Schollmeyer schreibt, die „Vorstellung des Gebundenseins an Tradition und Innovation“ sei selbst „ein intellektuelles Kulturzeugnis und als solches an entsprechende Entstehungskontexte und deren Bedingungen geknüpft“ (Schollmeyer 2015, 131), das heißt, wenn er Landmann vorwirft, eine selbst kulturbedingte Perspektive anthropologisch zu verabsolutieren, missversteht er den gerade entscheidenden Punkt. Als Beleg führt er die Berichte zum Volk der Pirahã an, von denen behauptet wird, sie hätten keinen Zeithorizont über die unmittelbare Gegenwart hinaus, was bedeuten würde (und von Schollmeyer so interpretiert wird), es fehle ihnen an einer Bewahrensperspektive (ebd., 132). Besieht man sich die ethnologischen Schilderungen im Detail, so fällt bei den Pirahã tatsächlich eine Besonderheit sofort ins Auge, dass sie nämlich Berichten und Schilderungen keine Beachtung schenken, wenn es für diese keine lebenden Zeugen mehr gibt (vgl. so Everett 2010, 196, 199, 202). Aber mindestens in drei Hinsichten gibt es sehr wohl Bewahrenselemente, die an so etwas wie Tradition erinnern: erstens im Hinblick auf die Sprache selbst, zweitens im Hinblick auf konkrete Praktiken (Jagd, Fischen, Hausbau (Everett schildert z. B. im Detail die üblichen architektonischen Typen (vgl. ebd., 114–117)) und drittens eben gerade auch hinsichtlich des verkürzten Zeithorizonts, der selbst auch nur besteht, weil er kulturell gestützt weitergegeben wird. 114 Natürlich ist er auch ganz Spontaneitätswesen, beides macht ihn eben aus, folgt man Landmann. 115 Der ansonsten lesenswerte Artikel Ze’ev Levys bemerkt diese Doppel-Dimension nicht (vgl. Levy 2001).
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sich intensiv mit der Materie befassender Philosoph wie Landmann unbemerkt in eine andere Verwendungsweise rutschen kann. In einigen Bemerkungen zu historischen Zeiten, vor allem zur Epoche der klassischen Griechen, wird behauptet, damals habe – jedenfalls bis zur Kulturleistung der Griechen – eine nur in der Horizontalen, also ohne Steigerung, Fortschritt, Anspruch sich weiterspinnende, gleichsam bedrückende Tradition geherrscht (vgl. Landmann 1971, 76, 133). Erst eine Distanznahmefähigkeit habe es ermöglicht, den Menschen zu Höherem zu treiben und zu vollenden. Sicher möchte Landmann an dieser Stelle auf die Anthropina hinweisen, die mit Schöpfertum, Kreativität, Originalität usw. verbunden sind, dennoch verleitet ihn das dazu, einen Traditionsbegriff zu implizieren, der dem schon Dargelegten widerspricht.116 Hier wird Tradition vielmehr gerade in ihrer unvernünftigen, unterdrückenden Wirkung gedacht, was zu dem ansonsten eher positiven Bild nicht gut passen mag. Sicher geht es, wie gesagt, um eine Kritik an kulturell-anthropologischen Einseitigkeiten, aber dann liegt der Fehler eben – Landmanns eigener Logik nach – nicht bei der Tradition allein, sondern im Verhältnis der Anthropina zueinander. Der wichtigere, grundlegendere Traditionsbegriff ist aber ohnehin der formalanthropologische. Seine Herleitung aus dem Wesen des Menschen wurde bereits erörtert. Im Hinblick auf ihn ist zunächst auffällig, dass verschiedene (manchmal nur sachliche, manchmal wörtliche) Synonyme Verwendung finden, nämlich einerseits „Kultur“ (vgl. Landmann 1979, 104), andererseits „Gewohnheit“ (vgl. Landmann 1979, 101), zudem ließe sich mit guten Gründen auch noch „objektiver Geist“ (vgl. Landmann 1979, 111)117 anführen. Während Kultur und objektiver Geist sicher noch nahe beieinanderstehen, führt Gewohnheit schon in eine etwas andere semantische Richtung. Allen drei Begriffen gemeinsam ist aber zweifellos ein großer materialer Umfang, das heißt, Tradition erfährt eine Ausweitung und zugleich eine Entspezifizierung. Landmanns Traditionsbegriff ist sowohl grundlegend als auch vage, insofern seine Grenzen kaum anzugeben sind.118 Man kommt seinem Verständnis vermutlich besser auf die Spur, wenn man den spezifischen 116
Ob er zudem historisch überhaupt so bestanden hat, steht noch auf einem anderen Blatt, zumal Landmann dahingehend auch keinerlei konkrete Hinweise gibt, die die These empirisch zu überprüfen gestatten würden. 117 Auch Levy deutet eine solche Lesart an (vgl. Levy 2001, 65). 118 Interessant ist sicher auch, welches Synonym Landmann explizit ablehnt, nämlich „Institution“. Diese namentlich gegen Gehlen gewendete Unterscheidung beruht auf dem Gedanken, dass Institutionen sich nur auf den juristisch-soziologischen Bereich bezögen, was zu eng sei, denn Traditionen gebe es in viel mehr Bereichen. Tradition ist folglich der umfassendere, Institution der engere Begriff, so Landmann (vgl. dazu Landmann 1975, 46). Diese These mag für den alltäglichen Sprachgebrauch zutreffen, scheint aber am Institutionenverständnis Gehlens ein wenig vorbeizugehen, denn dieser hat den Begriff durchaus auch
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Leistungen, den Werken im Sinne der griechischen Vorstellung, nachgeht. Es werden vier solcher wesentlichen Hervorbringungen genannt, nämlich Sammlung „generationenlanger Erfahrungen und Erfindungen“, also Kumulation, daneben Sicherung, vor allem gegen Unbilden der Götter und Natur, weiterhin noch die Herstellung von Kollektivität, weshalb Landmann Traditionen als „soziale[n] Kitt“ denkt, und schließlich so etwas wie Entlastung und Verstetigung, insofern „sie uns Überlegung und Entscheidung abnehmen und unserm Leben Kontinuität und Rückgrat geben.“ (Landmann 1961, 154 f.)119 An anderer Stelle wird über die Leistungen des objektiven Geistes, den man, wie angedeutet, als synonymen Begriff verstehen kann, gesagt, diese lägen in dem Heraussetzen und Präzisieren, also in der Explikation, in der Bewahrung, der Entlastung, der Steigerung und der Kumulation (vgl. Landmann 1979, 111), demnach kommen vielleicht die explikative und die steigernde Leistung noch hinzu. Die Explikation geschieht dadurch, dass der Mensch sich in die Traditionen auslegt und diese dann als ein Nicht-Ich gegenüber hat, wodurch er zur Stellungnahme, zur Reflexion aufgefordert ist – Landmann bedient sich hier des klassisch hegelschen Motivs. Steigernd wirkt die Tradition, insofern sie den Menschen auf eine gewisse „seelisch-geistige Höhe“ (Landmann 1975, 77)120 hebt. Dieses ebenfalls nicht neue Theorem weist darauf hin, dass der in einer Tradition Stehende auf die Arbeit vieler Vorgänger zurückgreifen kann – und damit auf Leistungen, die er selbst als Einzelner niemals zustande hätte bringen können. Eine gewisse Antinomie121 liegt freilich darin verborgen, dass die Traditionen einerseits entlastend wirken, andererseits aber
auf manches ausgedehnt, was Landmann darunter verstanden wissen möchte. Eine genaue Definition liefert Gehlen nicht, aber er versteht sie als außenleitende „Systeme verteilter Gewohnheiten“ (Gehlen 1956, 25), wobei er Fälle aus dem Recht, dem Sport, der Religion, der Wirtschaft anführt. Auch die wesentlichen Beschreibungstermini, auf die Gehlen explizit hinweist (ebd., 39), scheinen nicht notwendig an den juristisch-soziologischen Bereich gebunden. 119 Die Entlastung wird auch hervorgehoben bei Landmann 1975, 229, die Rolle der Tradition für Kommunität bei Ders. 1979, 160, die kumulative Funktion bei Ders. 1961, 139. 120 Zum Motiv der Steigerung bzw. der Hebung vgl. auch Landmann 1976b, 123. 121 Überhaupt arbeitet Landmann oft mit Antinomien, eben auch der zwischen Tradition und Kreativität. Schollmeyer meint, es sei noch zu untersuchen, inwiefern Landmann dialektischer oder antinomischer Denker sei (vgl. Schollmeyer 2015, 132). Zu Landmanns Antinomie-Idee vgl. die beispielhafte faktische Hinnahme einer solchen bei Landmann 1979, 90 und Ders. 1976a, 197 f.
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das Individuum zu etwas heben wollen, was im Sinne der sloterdijkschen Vertikalspannung aus der Individualperspektive jedoch zumeist belastend, unbequem, anstrengend usw. wirken dürfte.122 Neben den genannten Leistungen wird die Tradition weiterhin bestimmt durch ihre prägende Kraft, ihre Selbstverständlichkeit und – das betont Landmann vielleicht von allen Anthropologen am stärksten – ihre Flexibilität. Prägend wirkt sie, insofern sich „unser Denken und Tun immer schon in den Vorfurchungen kultureller Traditionen“ bewege, weshalb, so Landmann, die Tradition im Vergleich zu der ihr oppositionellen Bewegung der Philosophie „nicht nur die ältere, sondern […] ewig die stärkere“ bleibe (Landmann 1979, 94). Dass die Philosophie dauerhaft unterlegen sein wird, mag zunächst überraschen, ist aber für Landmann weit weniger dramatisch, als eine solche Aussage für einen Denker wie Bacon oder Locke klingen mag, denn Tradition ist positiv zu sehen. Keineswegs sicher ist es zum Beispiel, ob die genannten Leistungen durch Philosophie oder Wissenschaft überhaupt zu bewerkstelligen sind – die anthropologischen Bedürfnisse, die hinter den Werken der Tradition stehen, bleiben aber in jedem Fall zu befriedigen. Die furchende Macht der Tradition ist in Nuancen ambivalent, wird aber insgesamt als sinnvoll und bewahrenswert erachtet. Die Selbstverständlichkeit der Tradition wiederum ergibt sich daraus, dass sie zwar menschengemacht ist, aber nicht immer – vielleicht meist nie – als solche thematisch wird. Dadurch gewinnt sie den genannten Charakter und muss ihn auch behalten, denn ansonsten droht durch den Bruch die Degeneration zu leerer Routine, weil das Leben, das Spontane sich von der Tradition als Form entfernt hat.123 Einer der interessantesten Aspekte, die Landmann an der Tradition herausstellt, ist schließlich deren Flexibilität. Viele Male in seinen Schriften weist er darauf hin, dass man sich die Traditionen als offen, ergänzungs- und interpretationsbedürftig, reversibel, veränderbar und keineswegs voll determiniert und auch nicht total determinierend zu denken habe.124 Immer bleibt dem Subjekt ein Spielraum gewahrt, den es nutzen kann, obgleich nicht nutzen muss. Dieser Spielraum ist es wohl, den Landmann an der vorgriechischen Kultur vermisst, aber, wie gesagt, der Fehler wäre dann nicht bei der Tradition selbst zu suchen, sondern im Umgang mit ihr. Jedenfalls zeigt das Flexibilitäts-Theorem, dass man Traditionen anthropologisch als wandlungsfähig 122
Diese Spannung deutet Landmann selbst an (vgl. Landmann 1975, 229 f.), ohne sie auflösen zu wollen. 123 So die – von Nietzsche und der Lebensphilosophie offensichtlich abgeleiteten – Überlegungen bei Landmann 1979, 98. 124 Zu derartigen Hinweisen vgl. z. B. Landmann 1976a, 198; Ders. 1961, 23; Ders. 1979, 72 sowie Ders. 1976b, 124.
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denken kann, insofern sie durch Anwendung, Anpassung, Interpretation usw. an konkrete, sich selbst verändernde Umstände gebunden sind. Und doch liegt auch hier, wie öfter im Denken Landmanns, eine zwiespältige, vielleicht antinomische Struktur vor. Einerseits nämlich soll es Flexibilität, Beeinfluss- und Veränderbarkeit geben, andererseits aber liegen Traditionen eigentlich nur dann im engsten Wortsinne vor, wenn zu ihnen keine – reflexive wie thematische – Distanz besteht.125 Setzen nicht ein anpassend-interpretativer und erst recht ein verändernder Zugriff jedoch gerade Distanz voraus? Oder begrifflich strenger gesprochen: Sind es noch Traditionen, die mittels distanzierterer Verhältnisse angepasst werden können? Landmanns Position ist insofern klar, als er auch das Veränderbare Tradition nennen will, aber dann ist seine Behauptung, zur Tradition bestehe eigentlich keine Distanz, sie sei im Modus der unauffälligen Selbstverständlichkeit da, nur cum grano salis zu akzeptieren. Eingangs der Darlegungen zur Anthropologie Landmanns war auf eine doppelte Herkunft seines Traditionsdenkens hingewiesen worden, Anthropologie einerseits, Vernunftkritik andererseits. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem prädominanten Rationalitätskonzept, welches seit der Aufklärung die Vorstellungen und Wertungen leitet, wurde Tradition als Konzept genutzt und geschärft. Dies soll in zwei Hinsichten im Folgenden thematisiert werden, erstens der Vernunfthaftigkeit der Tradition selber und zweitens der Abkünftigkeit der Vernunft. Schon erläutert wurde Landmanns Gedanke, dass die Philosophie, verstanden als Vernunftpraxis, immer schwächer bleibe als die Tradition, was umgekehrt meint, der Mensch bleibt zunächst (und wohl auch zumeist) mehr Traditions- als Vernunftwesen.126 Daraus ließe sich eine Opposition zwischen beiden Begriffen ableiten, doch Landmann ist eher bemüht, nachzuweisen, dass auch Tradition in einem bestimmten Sinne vernünftig ist. Es gibt einen „Niederschlag [der] Vernunft in der Tradition.“ (Landmann 1961, 136) Was spricht für diese Idee? Im Wesentlich greift Landmann auf zwei Argumentationsstrategien zurück, das Motiv der Akkumulation und das der Vernunftdifferenzierung. Insofern Traditionen Erfahrungen und Wissen (vieler) vergangener Zeiten, Begebenheiten, Situationen in sich aufgenommen haben, sind sie Ausdruck von Vernünftigkeit (vgl. z. B. Landmann 1976b, 24). Diese Überlegung ist nicht neu, aber dennoch nicht leicht von der Hand zu weisen. Landmann spezifiziert sie dahingehend, dass diese Vernünftigkeit aus empirischer Sammlung und Bewährung sich selbst 125
So die These bei Landmann 1976a, 196 und Ders. 1979, 98. „An die Stelle der Instinkte treten beim Menschen immer auch von alters überkommene und in der Gemeinschaft gehegte Traditionen des Denkens, Fühlens und Handelns. Diesen Traditionen gehorcht er ebensosehr und ursprünglich noch mehr als seiner Vernunft.“ (Landmann 1975, 115).
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nicht wissend „haben“ muss, sondern man sich das eher nach dem Modell des Impliziten denken sollte (vgl. Landmann 1975, 21). Die zweite Argumentation verweist darauf, dass mit „Vernunft“ Verschiedenes gemeint sein kann, wobei drei Formen herausgestellt werden: erkennende, planende und instituierende Vernunft (vgl. Landmann 1975, 98). Vor allem die letztgenannte Form ist dabei interessant, denn sie wird so beschrieben: In jeder Gemeinschaft bilden sich Sitten und Praktiken heraus, wie man sich verhält, wie man etwas macht. Als Traditionen durch die Generationen weitergegeben, haben sie über die Ziele im Großen immer schon vorentschieden. Das Einzelhandeln mit seinen aktuellen Zielen bewegt sich bereits in ihrem Rahmen. Vernunft schafft […] diese umspannenden Ordnungen. (Landmann 1975, 99)
Gegen einen einseitig auf Planung und Individualperspektive setzenden Vernunftbegriff der Aufklärung127 will Landmann so zeigen, dass es überindividuelle Phänomene gibt (von denen die Tradition eines ist), die selbst Erzeugnisse der Vernunft oder doch mindestens vernünftigen Handelns sind. Der als Topos oft angeführte Widerspruch zwischen Tradition und Vernunft besteht, aus dieser Perspektive, überhaupt nicht: „Als Vernunftwesen ist der Mensch zugleich das Traditionswesen. Vernunft muß nicht immer neu entdecken, entscheiden und erfinden, sondern darf sich auf das stützen, was frühere Vernunft ihr vorgetan hat.“ (Landmann 1975, 155) Jedoch ist nicht nur diese Harmonisierung durch Differenzierung ein wegweisendes Motiv in Landmanns Denken, sondern auch seine ratiogenetische Abkünftigkeitsthese, die im Kern besagt, dass Vernunft sich erst auf der Grundlage von so etwas wie Tradition hat entwickeln können und in gewisser Weise auch dauerhaft auf diese angewiesen bleibt. Vernunfttätigkeit setzt die entlastendorientierende Arbeit der Tradition schon voraus.128 Erst wenn es zu einer Krise kommt, wird die Vernunft in freierer Form möglich und nötig, wofür Aufklärungsbewegungen Landmann das Beispiel geben (vgl. Landmann 1975, 10). Nur nach dem Ende traditionaler Dominanz gewinnt der Mensch „Zutrauen zu seiner eigenen Vernunft“, wobei er, so Landmann, „faktisch […], und mehr als er weiß, nach wie vor [von] den Traditionen gelenkt bleiben [wird]“ (Landmann 1976a, 87). Die Traditionen heben den Menschen empor zu der Vernunft, die später die 127
Gleichwohl spielt hier schon die griechische Kultur eine entscheidend prägende Rolle (vgl. Landmann 1976a, 86–96). 128 Vgl. dazu Landmann 1979, 159, wo behauptet wird, dass eine Vernunftkritik an Traditionen nur möglich wird, wenn Traditionen schon gewirkt haben, damit die Kritik gleichsam als „Luxus“ späterer Zeiten gedeutet, die übersehen, was sie den früheren verdanken.
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Traditionen kritisieren wird, dabei aber – unbewusst – von deren Vorleistungen abhängig bleibt. Um allerdings durch die Abkünftigkeitsthese der vorgestellten Harmonisierung nicht zuwiderzulaufen, scheint es angebracht, Tradition eben als instituierende Vernunft zu denken, die der erkennenden und planenden den Weg bereitet. Was lässt sich aus dem Vorgestellten insgesamt zu Landmanns Traditionsverständnis sagen, wenn man es auf dessen Alleinstellungsmerkmale oder Innovationspotential hin besieht? Sicherlich hervorzuheben ist die Betonung des Menschen als homo passivus, das heißt die Feststellung, erstens, dass der Mensch zu großen Teilen ein empfangendes, ein hinnehmendes Wesen ist, und zweitens, dass das nicht – wie die Moderne zumeist geglaubt zu haben scheint – ein Defizit ist. Mit Landmann ist vielmehr zu fragen: „[…] [W]erden wir nicht wir selbst und erreichen wir nicht unsere Höhe auch durch Rezeptivität?“ (Landmann 1976b, 23)129 Das Bestimmtsein durch Traditionen und die Erfahrung der durch sie kommenden Ansprüche, der Nötigungen, der „Gängelungen“ ist wesentliches Merkmal des Menschen (vgl. Landmann 1961, 16, 136). Daraus folgt die provokante These, dass derjenige, der sich dem Dienst an den Traditionen – der ja immer zwei Seiten hat: die der Weitergabe (meist durch Ältere zu leisten) und die des Empfangens (meist durch die Jüngeren zu realisieren) – verweigert, etwas zutiefst Menschliches verfehlt, vielleicht gar unmenschlich lebt. Dieser Dimension vertieft nachgespürt zu haben, ist ohne Zweifel Landmanns großes Verdienst. Ebenfalls fruchtbar kann zudem seine Unterscheidung zwischen kultureller und individueller Perspektive sein, sie war en passant schon angeklungen, wenn etwa die belastende Wirkung der Tradition (Individualperspektive) der entlastenden (Gattungsperspektive) gegenübergestellt wurde.130 Nicht immer werden beide so trennscharf auseinandergehalten. Für das Traditionsdenken ist das aber unabdingbar und viele Begriffsverwirrungen stammen daher. Landmann bleibt im Wesentlichen der abstrakt-anthropologischen Perspektive treu, aber er hat – und das zeichnet ihn aus – der anderen Perspektive ihr Recht nicht genommen. Schließlich sei drittens auf seine Phänomenologie des Traditionswandels verwiesen. Dass Traditionen flexibel, form- und anpassbar sind, wurde erläutert. Derartige Prozesse vollziehen sich nach Landmann auf zwei Weisen, der heißen und der kalten. Kalter Wandel geschieht dort, wo die Traditionen rigide herrschen, vermeintlich in frühen Menschheitsaltern, und Wandel geschieht nur 129
Ähnlich in der Sache auch Landmann 1976b, 123. Landmann verweist auf die beiden Perspektiven z. B. bei Landmann 1979, 67 oder Ders. 1974, 272.
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3.3 Anthropologische Überlegungen in der Philosophie
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unbemerkt oder unter Verweis auf äußere Umstände, die eine Anpassung unabdingbar machen. Die heiße Form tritt geschichtlich später auf und besteht darin, dass man sich an herausragenden Individuen, den Genies, orientiert und deren Schöpfertum preist, auf Dauer Schöpferkraft und Kreativität selbst zum Wert macht (vgl. Landmann 1979, 91 f.). Wiewohl schon mehrfach Skepsis am ersten Szenario der rigiden Tradition geäußert wurde, bietet die Differenzierung einen wichtigen Einblick in verschiedene Formen des Traditionsumgangs. In früheren Zeiten herrsche Pietät vor, in späteren eher ein nutzenorientierter Blick ohne größere affektive Dimension. Daraus lassen sich, ohne dass Landmann dies sonderlich andeutet, ethische Überlegungen ableiten, wie Traditionen zu begegnen ist. In diesen drei Hinsichten jedenfalls wäre Landmanns Denken zweifellos als selbst schöpferisch zu verstehen.131 Der umfangreiche Einblick in das Traditionsdenken der philosophischen Anthropologie speiste sich aus zwei Motiven. In der bisherigen Rezeption spielte diese Perspektive eine sehr marginale, oft gar keine Rolle,132 weshalb dem entgegengewirkt werden sollte. Außerdem aber bieten diese Überlegungen sachlich gehaltvolle Ansätze, die in manchen Hinsichten einer Auswertung noch harren. Hervorzuheben ist insgesamt die Herleitung der Tradition aus anthropologischen Beobachtungen und Überlegungen, so dass man sie als natürliches Phänomen, keineswegs als ein bloß kontingentes Herrschafts- oder Ideologiekonstrukt verstehen kann. Sie ist ein Anpassungsorgan des Wesens Mensch an seine Umwelt und an sich selbst in seiner Konstitution. Dahingehend herrscht zwischen Anthropologen Einigkeit. Die Anpassungen bestehen dabei sowohl im
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Es ist interessant, dass für Landmann die Frage nach der Tradition nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch von größter Wichtigkeit war. Wenn die Analyse des Zerwürfnisses zwischen ihm und Jacob Taubes stimmt, so ist der auf Bestreben Landmanns nach Berlin berufene Taubes ihm deshalb bald zum erbitterten Gegner geworden, weil dieser sich nicht auf die jüdische (vielleicht auch nur nicht auf eine bestimmte jüdische) Tradition dezidiert hat berufen und festlegen lassen wollen. Vgl. dazu Kopp-Oberstebrink 2015, v. a. 185, 187, 190, 196. 132 Um nur an einem späteren Beispiel zu zeigen, dass anthropologisches Nachdenken über Tradition nicht mit dem Tod der wesentlichen prägenden Figuren dieser Disziplin beendet wurde, sei auf Wilhelm Kamlah verwiesen. Auch dieser räumt in seiner Anthropologie der Tradition Raum ein, denkt sie vom Musterfall innerfamiliärer Prägung her, versteht sie im Wesentlichen als Weitergabe von Normen, Werten, Handlungsschemata und betrachtet den Menschen insgesamt im Kern als Gewohnheitswesen. Vgl. dazu Kamlah 1984, 63 f., 82– 89. Im Übrigen scheint auch der englischsprachige Diskurs, der von der spezifisch deutschen anthropologischen Diskussion wenig aufgenommen hat, Traditionsdenken mit Überlegungen zur Natur des Menschen zu verbinden. Als eine solche Stimme vgl. Rogoff 2003, 3, 64 f., 90.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Hinblick auf Bahnungen, insofern sie den Instinkt vertreten, als auch auf Weitergabe, Kontinuierung, weil Tradition Vererbung ersetzt (oder besser: ergänzt).133 Nicht ganz so einheitlich ist das Bild freilich im Hinblick auf die Bewertung der Tradition, denn die bahnende Wirkung kann einerseits als beschränkend betont (so bei Scheler), andererseits aber gerade auch in ihrer stabilisierenden, sichernden (so bei Gehlen) und weltaufschließenden Funktion (so bei Rothacker und Landmann) hervorgehoben werden. Auch im Hinblick auf den Vernunftgehalt sprechen die Anthropologen nicht mit einer Stimme, der Tendenz nach jedoch neigen alle dazu, in der durch die Geschichte geprüften und Erfahrungen akkumulierenden Tradition eine Form der Rationalität – die sich von der Rationalität im Sinne Bacons, Descartes‘ oder der Aufklärung unterscheidet – zu sehen. Dass Tradition eine Sache der Gemeinschaft ist, wird wiederum von allen akzeptiert, mitunter sogar Kommunität als wesentliche Leistung hervorgehoben, weshalb sie in einer Spannung zu starken, an Originalität und Genialität orientierten Subjektivitäts-Vorstellungen steht. Der machende Zugriff des Individuums wird kritisch gesehen, sogar für unmöglich erklärt. Viel eher solle das Subjekt Achtung, Respekt usw. der Tradition gegenüber an den Tag legen, bevor an Veränderung oder eventuell Stiftung zu denken ist. Schließlich ist die Ausweitung des Gehaltes der Traditionen noch bemerkenswert, insofern auch nicht-kognitivistische Inhalte – etwa Weisen des Fühlens – für möglich erachtet werden. Der Begriff erfährt eine Ausweitung über den Bereich dogmatischer Lehren oder Theorien hinaus, wobei freilich die Gefahren des Inflationär-Werdens und der Unschärfe Kehrseite dieser Entwicklung sind.
3.4
Kritische Theorie über Tradition
Ein Blick, der Tradition gerade nicht als natürliche, quasi-biologische Komplementärentwicklung versteht, sondern sie im Hinblick auf ihre zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Folgen kritisch betrachtet und als Menschenwerk betont, geht auf die Arbeiten vor allem Adornos zurück. Die gesellschafts- und ideologiekritische Perspektive konfligiert mit der anthropologischen, was sich auch an den Überlegungen Habermas‘ zeigt.134 Dieser hatte Gehlen und anderen vorgeworfen, mit ihren Wesensaussagen über den Menschen nur einen kontingenten, womöglich problematischen gesellschaftlichen Zustand zu verstetigen, 133
Neueste Forschungen zeigen, dass eine scharfe Trennung zwischen kultureller und genetischer Vererbung überholt scheint. Vgl. dazu vor allem Jablonka/Lamb 2006, z. B. 109–231. 134 Zu dessen Traditionsdenken vgl. Abschn. 3.9.
3.4 Kritische Theorie über Tradition
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während der Mensch eigentlich ganz anders sein könnte. Insofern käme einer Gesellschaftskritik strenger Vorrang vor einer Anthropologie zu (vgl. Habermas 1958, 34). Was genau aber ist Tradition aus der Sicht der Kritischen Theorie? Adorno denkt sie vom unmittelbaren Generationszusammenhang her, von einer „leibhaften Nähe, Unmittelbarkeit“ (Adorno 1977, 310). Er verbindet sie mit Familie und feudalen Verhältnissen. Diese sind, so muss man wohl annehmen, gedacht als unmittelbare Formen des Zusammenlebens, in denen sich Hierarchien, Wertevorstellungen usw. durch Traditionen ausdrücken und weitergegeben werden. Vermutlich ist – wie schon bei Weber – an eine Lesart zu denken, die das Gemeinschaftsdenken à la Tönnies als Hintergrundfolie mit sich führt. Tradition als ein solches Phänomen zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit stiftet zeitlichen Zusammenhang, wohingegen in traditionslosen Gesellschaften – Adorno führt, gleichsam wie Tocqueville, Amerika als Beispiel an – „für die Menschen der Zusammenhang der Zeit [zerfällt].“ (Adorno 1977, 311) Damit ist schon angedeutet, dass Traditionen keine notwendigen Bestandteile menschlicher Lebenswelten sind, sondern verlorengehen können. Adorno nimmt diese Möglichkeit, wie man sagen kann, mit melancholischem Blick zur Kenntnis, weist auf die Ambivalenzen hin.135 Er behauptet nämlich an einer viel zitierten Stelle, Tradition stehe „heute vor einem unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“ (Adorno 1977, 315) Das liest sich wie eine Parallelthese zur Zentralperspektive der „Dialektik der Aufklärung“, welche darin bestand, zu verstehen, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“ (Horkheimer/Adorno 1987, 16)136 Traditionsabbrüche könnten demnach eine Rolle bei den ungewollten Folgen des aufgeklärten Welt- und Selbstverhältnisses spielen. Diese Diagnose ist nun deshalb um so überraschender, als Adorno Tradition für irrational hält: „Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen […].“ (Adorno 1977, 310) Das Vernunftwidrige der Tradition liegt in ihrer Nicht-Explizitheit, ihrem Verborgensein, was umgekehrt verdeutlicht, dass vernünftig nur ist, was explizit 135
Das Weiterwirken dieses Traditionsdenkens bei Habermas zeigt sich exemplarisch in der vergleichbaren Verlustdiagnose in den einleitenden Worten zur Situation der Zeit: „Der Kapitalismus zehrt seit Jahrhunderten vom Polster vorbürgerlicher Traditionen. […] Aber unter Bedingungen einer weitgehend rationalisierten Lebenswelt lassen sich die aufgezehrten Bestände als Traditionsbestände nicht mehr regenerieren.“ (Habermas 1979, 23). 136 Der Begriff „Tradition“ spielt allerdings in diesem epochalen Werk keine Rolle.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
erfasst, analysiert und kritisiert wurde. Möchte man Adornos Traditionsverständnis auf den Punkt bringen, so versteht er darunter vermutlich nicht rational legitimierte, intime, diachrone Geltungs- und Machtansprüche.137 Unterschieden wird dabei von Adorno zwischen echten und falschen, manipulierten Traditionen. Letztere sind bestimmt durch den bewussten Zugriff auf sie, die Willkürlichkeit, fehlende Substantialität (vgl. Adorno 1977, 312 f.). Auch wenn Adorno empirisch vage bleibt, meint er vermutlich, dass falsche Traditionen bewusst eingesetzte Traditionen zu bestimmten Zwecken – zum Beispiel Legitimation einer Herrschaft oder, banaler, Verkaufserfolg eines Produktes – sind, während die echten sich durch so etwas wie unintendierte Genese auszeichnen. Echte Tradition in diesem Sinne ist nämlich nicht per Appell, per intentionalem Bezug herzustellen, sondern ist wesentlich ein Unverfügbares (vgl. Adorno 1977, 312), falsche Tradition dagegen gibt sich als Verfügbares, während echte dem Verfügen Widerstand leistet (vgl. so Dittmann 2004, 36). Im Unterschied zum zuvor behandelten, in zeitlicher Nähe entwickelten anthropologischen Standpunkt kommt bei Adorno das Phänomen Tradition in der Hauptsache in einer Wirkungsperspektive in den Blick. Was macht sie? Was verhindert sie? Wem nützt sie? Derartige Fragen scheinen leitend zu sein. Besieht man sich die Überlegungen Adornos, wird man in dieser Hinsicht fündig, denn Traditionen dienen herrschafts- und ideologiespezifischen Zwecken. Sie verdecken bestimmte gesellschaftliche Beziehungen in ihrer problematischen Legitimität, sie verstetigen den Niederschlag früherer solcher Verhältnisse in Stilen, Formen, Praktiken usw. Solchen Zwecken vermögen sie nur zu dienen, weil sie, wie erläutert, unreflektiert und unkritisiert bleiben. Ihre Wirkung beruht auf einer Art Unoder auch nur Unterbewusstheit – sowohl beim Individuum als auch beim Kollektiv. Deshalb stehen sie in einem Ausschließungsverhältnis zur Zweckrationalität, die bewusste Mittel-Zweck-Relationen verfolgt (vgl. Adorno 1977, 311). Traditionen können als Traditionen einer solchen intentionalen Nutzenorientierung nicht genügen, denn dann müssten sie sich zweckrational legitimieren, was die verdeckten ideologischen und gesellschaftlichen Hintergründe in das Licht der 137
Dieser sehr formale, abstrakte Begriff ist freilich im Text nicht leicht zu finden. Adorno denkt, wie seine Beispiele zeigen, sehr von der Kunst her. Doch auch Kunst stellt eben – sofern sie etwa einen traditionellen Stil hat, bestimmte Praktiken usw. – Geltungsansprüche, passt also in das genannte Schema. Mit dieser Bestimmung wird die Auslegung der Tradition bei Adorno als Erinnerung, wie sie Aleida Assmann vorgenommen hat, zurückgewiesen. Zwar hat Tradition auch etwas mit Erinnerung zu tun, aber Adornos Konzept würde mittels einer schlichten Identifizierung unzulässig verkürzt, denn Erinnerung hat nicht per se normativen Anspruchscharakter, sondern kann auch ganz gleichgültig daherkommen, wie man z. B. ganz Nebensächliches zu erinnern vermag, das keinerlei (normative, biographische, sachliche usw.) Relevanz hat. Zu Assmanns Auslegung vgl. Assmann 1999, 75 ff.
3.4 Kritische Theorie über Tradition
137
Reflexion ziehen würde. Gerade indem sie verdecken, wirken sie, werden sie aufgedeckt, sind sie verloren. Doch diese Wirkungen führen nicht dazu, dass Adorno ein ganz und gar einseitiges Bild zeichnet, denn auch der Traditionsverlust ist problematisch. Eine verbissen, stur und starr festgehaltene Tradition ist nicht weniger schädlich als der Glaube an absolute Traditionslosigkeit (vgl. Adorno 1977, 314 f.); dies Letzte vor allem deshalb, weil Tradition kumuliert, und zwar nicht nur, wie zumeist herausgestellt wurde, die Leistungen der Früheren, sondern auch ihre Leiden. Wer die Traditionen im Sinne der tabula rasa ablegt, macht sich schuldig, ist naiv, „ohne Ahnung von dem, was an Vergangenem in der vermeintlichen reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird […].“ (Adorno 1977, 315) Mit dieser Perspektive erweitert Adorno den bekannten Kumulationsgedanken sowohl dem Umfang als auch der ethischen Dimension nach erheblich. War bislang immer die Kumulation von Wissen und Erfahrung im Blick, deren Ignorieren hauptsächlich negative Folgen für den gegenwärtig Verzichtenden hatte, kommt nun besonders eindrücklich die qua Tradition bestehende ethische Kette zum Vorschein. Und was, mit der Aufklärung gesprochen, als Befreiung aus Bevormundung gelten konnte, wird zur Einkehr in die Unmenschlichkeit im Angesicht des so dem Vergessen anheimgegebenen kumulierten Leids. Ursächlich dafür, dass Traditionen durch Nicht-mehr-Gelten überhaupt Vergessen werden können und – aus Sicht der Gegenwart – auch dürfen, ist die Vernunft selbst, die an ihren Fundamenten rührt. Diese oft thematisierte dialektische Bewegung lässt sich auf Traditionen und ihr Verhältnis zur Vernunft übertragen.138 Indem die Vernunft Traditionen kritisiert, verunmöglicht sie diese, wodurch aber Vernunft unvernünftig, weil schrankenlos und unkritisierbar wird. Aus dieser Perspektive können Traditionen geradezu als Widerstandsresiduen gegen Vernunftstotalitarismus erscheinen. Wenn dies die – positiven wie negativen – Wirkungen der Tradition und Traditionslosigkeit sind, worauf soll es perspektivisch hinauslaufen? Adorno bemerkt
138
In diesem Sinne vgl. z. B. Horkheimer/Adorno 1987, 116: „[…] [V]or dem Licht der aufgeklärten Vernunft [zerging] jede Hingabe als mythologisch, die sich für objektiv, in der Sache begründet hielt. Alle vorgegebenen Bindungen verfielen damit dem tabuierenden Verdikt, nicht ausgenommen solche, die zur Existenz der bürgerlichen Ordnung selbst notwendig waren. […] Das anti-autoritäre Prinzip muß schließlich ins eigenen Gegenteil, in die Instanz gegen die Vernunft selber umschlagen: die Abschaffung alles von sich aus Verbindlichen, die es leistet, erlaubt es der Herrschaft, die ihr jeweils adäquaten Bindungen souverän zu dekretieren und zu manipulieren.“
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
in der Moderne einen allgemeinen Abbau von Traditionen,139 den er tendenziell beklagt ob der ambivalenten Folgen, gibt zugleich aber zu, dass man neue nicht intentional hervorbringen kann. Welche Alternative benennt er? Er schlägt ein „kritisches Verhältnis“ vor, welches das „Medium der Bewahrung“ von Tradition sein soll (vgl. Adorno 1977, 318). Ein solches zeichnet sich aus durch die Orientierung am Kriterium der „correspondance“ (Adorno 1977, 316) zwischen Tradition und Gegenwart. Durch Distanzierung und kritische Nutzbarmachung für die Gegenwart solle Tradition fortbestehen. Adorno hofft so, sie „ebenso vor der Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.“ (Adorno 1977, 317) Wie aber das Verschwinden durch eine partielle, gegenwartsinspirierte Explikation und Distanzierung gerade verhindert werden soll, bleibt letztlich unklar und steht auch in einem Spannungsverhältnis zu Adornos Insistieren auf der zersetzenden Aufklärungsvernunft (vgl. z. B. Horkheimer/Adorno 1987, 25, 28, 35).140 Offensichtlich denkt sich Adorno, hierin Landmann ähnlich, Tradition als durchaus flexibel und anpassungsfähig, nur deren Stiftung kann nicht beliebig erfolgen. Aber der gegenwarts-korrespondierende Zugriff trägt doch, so muss man festhalten, intentional-konstruktivistische Züge, die mit dem Gedanken der grundlegenden Unverfügbarkeit von echter Tradition nicht leicht vereinbar sind. Es bleibt festzuhalten, dass durch die Kritische Theorie insgesamt die humanisierende Wirkung der Tradition anerkannt wird neben der verblendenden und verdeckenden. Traditionen sind, gerade weil die Vernunft selbst als ungebundene totalitär zu werden droht, ein Mittel, menschliches wie gesellschaftliches Leben zu verbessern oder auch nur zu erhalten. Ein Impuls dieses Gedankens findet sich noch in der Gegenwart bei Hartmut Rosa, der weniger ideologiekritisch, sondern mehr im antiken Sinne eudaimonistisch blickend festhält, dass mit dem Wegfall starker Wertungen und geschichtlicher Einbettungen die Möglichkeit des Menschen, sinnstiftende, positive, tragende Resonanzerfahrungen zu machen,
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Eine gewisse Kritik an der Abbau-These, insofern sie von der global-abstrakten Perspektive Adornos abhängt, formuliert Bürger 1980, 9. 140 Einige Hinweise auf ein ähnliches Spannungsverhältnis bieten Bemerkungen des späteren Max Horkheimer. Dazu vgl. Horkheimer 1991, wo über das Verschwinden von Bräuchen in einem quasi melancholischen Ton reflektiert wird, und Ders. 1988, an welcher Stelle die positiven Leistungen der Gewohnheit betont werden. In einem anderen Text (ders. 1985, 31) wird über Traditionen aber wiederum gesagt, dass sie nicht als Grund für bestimmte positive gesellschaftliche Entwicklungen herhalten können.
3.5 Nicolai Hartmann und der objektive Geist
139
verlorengeht.141 Traditionen können der vermisste Boden für solche Resonanzen sein, der durch die Zersetzungsarbeit einer einseitigen Vernunft unfruchtbar geworden ist.
3.5
Nicolai Hartmann und der objektive Geist
Es war schon verdeutlicht worden, dass das von Hegel herkommende Konzept des objektiven Geistes142 große Nähen (bis hin zur Identität) mit dem der Tradition hat. Die dafür wesentlichste Position hat Hartmann entwickelt. Seine Gedanken zu diesem Zusammenhang sind aber – mit einer Ausnahme143 – noch nicht Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung geworden. Bezug genommen wird auf sie eigentlich nur durch die schon vorgestellten Anthropologen, mit denen Hartmann lose assoziiert war.144 Hartmann selbst entwickelte seine Theorie in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen Hans Freyers,145 konnte aber neben den kurz gestreiften Vorarbeiten Hegels auch diejenigen Wilhelm Diltheys nutzen. Freyer hatte seine Kulturphilosophie auf der These gegründet, dass sich in jeder Kultur und jedem Kulturgebiet ein „charakteristisches geistiges Sein […] schöpferisch ausdrückt.“ (Freyer 1928, 4) Der Geist146 wird daher als eine 141
Als mögliche Bezugspunkte für eine solche Interpretation vgl. Rosa 2017, z. B. 70, 191 f., 278, 297, 314, 327, 500 ff., 506, 605. Auch das Motiv der Unverfügbarkeit wesentlicher Lebensweltbestände, die für den Menschen und sein gelingendes Leben wichtig sind, kehrt bei Rosa prominent wieder. Vgl. dazu Ders. 2019, z. B. 8, 25, 129. 142 Dieses Konzept ist dabei nicht nur und nicht einmal in der Hauptsache von philosophiehistorischem Wert, sondern stellt eine höchst interessante Alternative zum heute verbreiteten individualistischen und konstruktivistischen Modell von Vernunft und Gemeinschaft dar. Vgl. in diesem Sinne die wichtigen Hinweise in Wunsch 2015, 71 und Ders. 2014, 302–305. 143 Diese ist der in der Sache eher exegetische Beitrag Scognamilio 2012, in dem besonderes Augenmerk auf die determinierende Wirkung des objektiven Geistes in der Form von Tradition gelegt wird. 144 So wird auf ihn positiv verwiesen bei Landmann 1961, 35; Ders. 1974, 267 oder Rothacker 1948, 148. Vgl. zu Hartmanns Beziehung zur philosophischen Anthropologie die Hinweise in Fischer 2008, 52–55, 81–84. Generell zur Rezeption von Hartmanns Geist-Denken in der Zeit vgl. Kluck 2019. 145 Zum Verhältnis beider vgl. aus Sicht Hartmanns die Überlegungen in Hartmann 1949, 196 f. 146 Eine immer noch maßgebliche Sammlung der wichtigsten semantischen Dimensionen dieses schwer zu fassenden Wortes liefert Hildebrand 1926. Der von Hegel, Dilthey, Freyer und Hartmann eingeschlagene Weg wird dort als „allgemeiner Geist“ diskutiert (ebd., 198– 223), wobei vor allem Herder eine wichtige vorbereitende Rolle gespielt hat.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
(plurale) Beschreibungskategorie verstanden, die es gestattet, Kulturen und Subkulturen zu erfassen, zu unterscheiden, zu verstehen. Er ist eine Realisierung des Individualgeistes in „Gebilden und Ordnungen der sinnlichen Welt“, in denen der Mensch fortan als einem „Gehäuse“ (Freyer 1928, 16) leben muss. Freyer betont (mit Hegel), dass dieser Geist eminent historisch sei, insofern er Niederschlag aller vorherigen Zeiten ist. Die Erde sei ein krauses Palimpsest, an dem alle Bisherigen mitgewirkt haben (vgl. Freyer 1928, 16).147 Dabei geht Freyer von einer „Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen“ (Freyer 1955, 7) aus, denn immer gibt es auf diesem geistigen Palimpsest ein Nebeneinander aktueller Bestände aus gegenwärtigen und vergangenen Zeiten, noch mehr aber solche Eklektizismen bei potentiellen Gehalten (vgl. Freyer 1955, 161). So sind etwa in der Sprache immer Bedeutungen aktual oder potentiell niedergelegt, die aus verschiedensten Zeiten, sozialen oder auch zum Beispiel geschlechtlichen Kontexten stammen. Sie alle bilden den Text, auf dem die jeweilige Gegenwart ruht, der ihr Gehäuse darstellt. Dieses geistige Gehäuse kumuliert: „Das ist die große […] ökonomische Funktion des objektiven Geistes im Haushalt der menschlichen Geschichte. Er ist vorgetane Arbeit, aufgestapelte Ernte, gesparter Schatz, gebahnter Weg.“ (Freyer 1928, 87) Sein Triumph liegt darin, dass durch ihn „der Kulturmensch von Werken umstellt ist, die unendlich viel mehr sind als er.“ (Freyer 1928, 87) Freyer zielt auf die kumulative und steigernde Leistung des objektiven Geistes ab. Dieser ist dennoch nicht autark, denn er bleibt für seine Realisierung auf den subjektiven Geist angewiesen. Ein Buch etwa kann sich nicht selbst lesen, braucht den Einzelnen dafür. Daher bietet Freyer als Bild an, den objektiven Geist nach dem Muster von Notenblättern, also Partituren zu denken (vgl. Freyer 1928, 84). Als eine solche bestimmt er zwar, was sich realisieren wird, bleibt aber auf die Auslegung und Interpretation durch etwas anderes als sich selbst angewiesen.148 Innerhalb der – nur knapp umrissenen – Theorie des objektiven Geistes finden Traditionen einen hervorstechenden Platz. Freyer versteht sie als „ein Mittel, durch das die Kapazität der objektiv-geistigen Formen für Sinnverschiebungen 147
Vgl. zudem Freyer 1928, 5, wo von einer ununterbrochenen und ununterbrechlichen Kette der Zeiten die Rede ist. 148 Insofern ist der Geist weniger autark gedacht als bei Hegel. Der wesentliche theoretische Unterschied zwischen den Ansätzen Freyers und Hartmanns hat mit diesem Punkt zu tun. Freyer kennt nur zwei Formen des Geistes, den objektiven und den subjektiven. Zwar spricht er auch von Objektivierungen, Objektivationen, Formen usw., diese sind aber als zum objektiven Geist gehörig verstanden. Hartmann dagegen kennt drei – subjektiver, objektiver und objektivierter –, weil er die durch Fixierung, Materialisierung usw. aus dem lebendigen, sich vollziehenden objektiven Geist herausgestellten Objektivationen ontologisch als eigenständig versteht, da sie über andere Eigenschaften verfügen. Zu Hartmanns Theorie vgl. Bollnow 1987.
3.5 Nicolai Hartmann und der objektive Geist
141
in hohem Grade gesteigert werden kann.“ (Freyer 1928, 122) Tradition wird eingeführt gerade nicht als starre Bewahrung, sondern als das flexible Mittel, geistige Gehalte durch die Zeit hindurch mittels Anpassung, aber auch Bewahrung des ursprünglich eigentlich Gemeinten zu erhalten. Als „synthetische Kraft des Verstehens“ verbindet Tradition, indem sie die Differenz zwischen Urgehalt und gegenwärtiger Interpretation offenhält, beide miteinander verknüpft und für Fortbestehen sorgt (Freyer 1928, 122 f.). Was Freyer derart schildert, berührt sich sehr mit dem Modell der Traditionshermeneutik nach Landmann und offenbart ein keineswegs rückwärtsgewandtes Verständnis, sondern denkt Tradition als Vermittlungsprozess, der gerade durch die Vermittlung Dauer sichert.149 Hartmanns Denken speist sich aus einem ähnlichen Impuls, auch er betrachtet den Menschen als geistiges Wesen, welches qua Geist zugleich das geschichtliche Wesen ist (vgl. Hartmann 1949, 1). Der Mensch ist subjektiver Geist, lebt aber immer auch in der Sphäre des objektiven Geistes und ihm begegnet fortwährend objektivierter Geist, etwa in Form von Symbolen, Gebäuden oder Maschinen.150 Wie passt Tradition in diese Kulturphilosophie? Hartmann stellt fest, dass es ein Hineinragen des Vergangenen in die Gegenwart gibt, und zwar auf zwei Weisen, stillschweigend oder vernehmlich. Während das vernehmliche Hineinragen dadurch charakterisiert ist, dass „der Lebende darum [weiß], daß das Vergangene vergangen ist“, es daher „zu ihm wie eine Stimme aus der Vergangenheit [spricht]“ (Hartmann 1949, 36), es – wie man sagen kann – als Vergangenes explizit wird, ist das stillschweigende unbemerkt: Es erstreckt sich auf alles, was noch vom Ehemaligen in uns lebendig ist, uns anhaftet oder uns beherrscht, aber nicht als ein Ehemaliges empfunden wird. So ist es mit der großen Masse dessen, was durch Tradition fortlebt, indem es noch als gegenwärtig empfunden ist, z. B. mit Sitten, Umgangsformen, Gebräuchen, deren ursprünglicher Sinn vergessen ist, den Anschauungen der Gegenwart auch nicht mehr entsprechen würde, die aber dennoch fortbestehen und als „heutige“ empfunden werden, weil jedermann sie als die seinigen aufrechterhält. (Hartmann 1949, 35)
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Freyer ist später als konservativer Kritiker des direkten Machens von Institutionen aufgetreten (vgl. Freyer 1955, 204), was – wenn man Traditionen als solche liest – mit dem genannten Modell in Konflikt geraten könnte. Will man beide (zeitlich durch 30 Jahre geschiedenen) Ansichten kohärent zusammen denken, wird man die Vermittlungsleistung nicht zu intentional auffassen dürfen, sondern als ein kluges, vielleicht „taktvolles“, aber partiell implizites Agieren verstehen müssen. 150 Da im Wesentlichen die Grundzüge der Theorie des Geistigen mit derjenigen Freyers – abgesehen von der Stellung der Objektivationen – übereinstimmen, kann auf eine erneute ausführliche Darlegung verzichtet werden.
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3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Die Wirkungen der Vergangenheit im Bereich des objektiven und objektivierten Geistes bestehen durch ein solches Hineinragen, das einen „Determinationsnexus“ (vgl. Scognamilio 2012, 318, 324) bewirkt. Ermöglicht wird dieses, indem Traditionen für Kontinuität sorgen: „Geist vererbt sich nicht, er ‚tradiert‘ sich nur; er wandert im Übergeben und Übernehmen von Generation zu Generation.“ (Hartmann 1949, 214) Man muss daher bei Hartmann, hierin Freyer vergleichbar, Tradition als den Vermittlungsvorgang verstehen. Dazu passt die Feststellung, dass diese bei ihm als lebendig oder unmittelbar gilt und von der „festgewordenen Überlieferung“ abgegrenzt wird (Hartmann 1949, 33).151 Tradition ist der lebendige intergenerationelle Kontinuierungsprozess im Hinblick auf alles Geistige. Allerdings ist Hartmann in terminologischer Hinsicht nicht konsequent, was eine Analyse seines Traditionsverständnisses etwas erschwert. Erstens nämlich ist das, was er unter Tradition versteht, eigentlich besser gefasst als das Tradieren, also als der Vorgang.152 In seinem Text geht er jedoch bruchlos vom Verb „tradieren“ zum Substantiv „Tradition“ über,153 ohne klar anzuzeigen, was mit dieser grammatischen Veränderung semantisch gemeint ist. Das ist keine bloß oberflächliche Sprachkritik, sondern wenn Tradition hier einfach nur den Akt des Übergebens meint, so passt das zweitens wiederum nicht zu anderen Stellen im Text. Dort spricht Hartmann davon, dass das erzeugte geistige Kontinuum die „Form der Tradition“ habe, was wohl meint, Kontinuität besteht in oder durch das Übergeben, obwohl man dann statt Form besser von Mittel spräche. Aber ganz unabhängig davon heißt es zwei Sätze später: „In dieser Sphäre [der gemeinsamen Geistessphäre; S.K.] lebt so die Tradition fort, und dadurch lebt der objektive Geist in anderen und anderen Individuen fort.“ (Hartmann 1949, 216) Jetzt scheint Hartmann zu sagen, dass im Geist die Tradition fortlebt, aber dies muss dann mit „Tradition“ einen ganz konkreten Gehalt, nicht bloß die „Form“ des Tradierens meinen, denn die soll es ja erst sein, die den Geist kontinuiert. Dass Hartmann auch einen solchen inhaltlichen, nicht bloß medialen Traditionsbegriff hat, zeigt sich ebenso dann, wenn er von Traditionen des Empfindens spricht (vgl. Hartmann 1949, 420). Dennoch kann man festhalten, dass eine Vielzahl der Rekurse auf Tradition im Rahmen seiner Philosophie des Geistes den 151
Vgl. auch Hartmann 1949, 418, wo ein „Kampf“ zwischen „lebender Tradition und festliegendem Gehalt der Urkunde“ verhandelt wird. 152 So ist es vielleicht gemeint, wenn von Hartmann und seinen Studenten Traditionen als „Duktus“ im Sinne eines Gedankengangs oder Ganges einer Argumentation verstanden wird. Vgl. dazu die Hinweise aus dem Diskussionskreis des Sommersemesters 1948 (vgl. Hartmann 2022, v. a. 361–367). 153 Vgl. dazu als eine Belegstelle Hartmann 1949, 215, wo sogar „Tradieren“ und „Tradition“ synonym verwendet zu sein scheinen.
3.5 Nicolai Hartmann und der objektive Geist
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medialen, vermittelnden Begriff im Fokus haben. So gilt bei Hartmann generell, dass der „Geist […] verbindet, das Bewußtsein isoliert.“ (Hartmann 1949, 71) Bewusstsein, der streng individuelle und nur gegenwärtige „Geist“ à la Descartes, bedarf des Geistigen, um mit anderen Menschen, aber auch anderen Zeiten in Kontakt zu kommen. Dafür ist Tradition eine wesentliche Brücke, denn sie hält ja, wie geschildert, frühere Bestände angepasst präsent. Hilfreich ist vor diesem Hintergrund die Eigenart des Geistigen, das heißt hier vor allem der geistigen Gehalte, von der Person ablösbar zu sein (vgl. Hartmann 1949, 179). Dieses „‚Wandern‘ des geistigen Inhalts von Person zu Person […] ist die Grundlage aller lebendigen ‚Tradition‘ […].“ (Hartmann 1949, 181)154 Der Inhalt scheint dabei von Hartmann als nahezu beliebig gedacht zu sein, neben Wissen und Sprache kommen auch Werte, Praktiken oder Empfindungsweisen in Frage.155 Gleichwohl ist der inhaltlich aufgeladene Traditionsbegriff ebenfalls präsent. So wird davon ausgegangen und am Beispiel der Religion verdeutlicht, dass die Macht der Tradition auf der Verleugnung der Geschichtlichkeit beruhe (vgl. Hartmann 1949, 246). Dies kann aber nicht auf das bloße Übergeben gemünzt sein, sondern muss die religiöse Tradition im Sinne eines bestimmten Dogmas meinen. Gleiches gilt für die sachlich weiterführende Beobachtung, dass der Tradition gegenüber eine spezifische, „adäquate“ Einstellung nötig ist, um sie am Leben zu erhalten. Fällt diese Einstellung weg, endet das stillschweigende Hineinragen und die Tradition als Tradition reißt ab, das Vergangene wird als Fremdes thematisch (vgl. Hartmann 1949, 487).156 Auch an dieser Stelle schillert der Begriff zwischen der medialen und der inhaltlichen Dimension. Mit der auf den Gehalt hin orientierten Vorstellung verbindet Hartmann aber, vielleicht so deutlich wie kein zweiter Philosoph, die besondere Kultivierungsleistung. Wenn Tradition inhaltlich verstanden selbst Teil, nicht nur Mittel des objektiven Geistes ist, wird sie (auch) zum Steigerungsanlass für das Individuum: 154
Auch hier zeigt sich noch einmal das Changieren Hartmanns, denn das Wandern – also das Übergeben – kann streng genommen nicht die Grundlage der Tradition (im Sinne des Medialen) sein, sondern wäre dann identisch mit ihr, weshalb Tradition an dieser Stelle wohl inhaltlich zu lesen ist. 155 Es wird von Hartmann zudem behauptet, im Hinblick auf den Inhalt des Geistigen sei es „ganz gleichgültig, ob es sich um bloß Vorgestelltes, Erdachtes, Phantasiertes oder um Erfaßtes und Begriffenes handelt. Ein Einfall, ein Traum, ein Märchen hat dieselbe Objektivität, Geprägtheit, Tradierbarkeit wie eine Einsicht, eine Entdeckung, ein Fund.“ (Hartmann 1949, 180 f.). 156 Übrigens scheint Hartmann diese traditionsadäquate Einstellung nicht nur vom Individuum her zu sehen, sondern auch von Kulturen, insofern er (vgl. Hartmann 1949, 39) traditionsscheue und traditionstreue unterscheidet.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Der Erkenntnisprozeß ist ein gemeinsamer, überindividueller, geschichtlicher, langatmig in geschichtlichen Schritten schreitender. Im Wissensstande eines Zeitalters ist die Erkenntnisarbeit einer ganzen Epochenfolge aufgesammelt. Darum kann der Einzelne das Für-ihn-Sein der Welt auf der Höhe, die seine Zeit erreicht hat, nicht sich selbst geben, er muß es lernend übernehmen. Darum hängt am Lernen und Teilgewinnen, an der Bildung des verarbeitenden Begreifens seine Menschwerdung. Das Individuum wird zum Menschen im Sinne desjenigen Menschentums, dessen Träger und Repräsentant es ist, nur durch sein Heranwachsen an die jeweilige Höhenlage des objektiven Geistes, in den es hineingeboren ist. (Hartmann 1949, 224)157
Der Einzelne steht als beschränktes Wesen der kumulierten Leistung seiner Vorfahren zunächst und zumeist und zu seinem Vorteil rezeptiv gegenüber. Deshalb kommt es eben auf den Einzelnen und seine richtige, adäquate Einstellung an, die Hartmann auch als „Ethos der Persönlichkeit“ tituliert und behandelt hat (vgl. Hartmann 1952, z. B. 8). Mittels seines Sich-Erziehen-Lassens erst kann der einzelne Mensch, gerade in der Form seines persönlichen Mitmachens und Tradierens, selbst gestaltend werden. Tradition wird dann, als Gehalt verstanden, zum Bildungsziel, oder, als Vermittlung gedacht, zur Bedingung der Möglichkeit von Bildung. In jedem Falle ist sie an der Heraufbildung und Menschwerdung beteiligt, ein Gedanke, den Hartmann mit der philosophischen Anthropologie offensichtlich teilt. Dieser kulturelle Formungsprozess fordert aber – Hartmann spricht hier nahezu lebensphilosophisch – Tribut an Vitalität (vgl. Hartmann 1949, 106). Tradition und Geistigkeit sind anspruchsvoll und verlangen „Opfer“, deshalb muss man sich um sie Sorgen machen, sie sind nicht selbstverständlich, auch wenn sie notwendig scheinen. Mit Hartmann wird die Tradition in das Zentrum der geistigen Sphäre gestellt, wahlweise als spezifischer Inhalt, mehr noch aber als deren einzige Kontinuierungsweise. Darin liegt sein wesentliches Verdienst, vielleicht noch neben der Betonung der erzieherischen Bedeutung. Aber, und das ist sicher sein Alleinstellungsmerkmal, Hartmann hat die Sphäre des Geistigen und damit der Tradition nicht nur kulturphilosophisch, sondern ontologisch durchdacht. Das „geistige Sein“ ist kein bloßer Beschreibungsterminus, sondern verweist auf „harte“ Ontologie. Im Rahmen einer Stufenontologie – z. B. Ding, Pflanze, Tier, Mensch, Gemeinschaft (vgl. Hartmann 1948, 232) – unterscheidet Hartmann vier Schichten des Realen,158 nämlich unlebendig, lebendig, seelisch, geistig (vgl. Hartmann 157
Vgl. auch Hartmann 1949, 252: „[…] alle Erziehung ist Erziehung zum objektiven Geist.“ Hartmann verwendet die Begriffe „Stufen“ und „Schichten“ terminologisch-technisch, grenzt diese zudem von dem der „Sphären“ ab. Er spricht deshalb davon, dass bestimmte Schichten keine eigentlichen Stufen sind (vgl. Hartmann 1940, 189). Matthias Wunsch hat maßgeblich auf eine stärkere Beachtung der dreifachen Differenz hingewiesen, die in der
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3.5 Nicolai Hartmann und der objektive Geist
145
1940, 189 f.). Alle diese Schichten folgen bestimmten kategorialen Gesetzmäßigkeiten, das heißt, sie sind zwar in unterschiedlicher Weise voneinander abhängig, aber nie aufeinander zurückführbar. Die ausdifferenzierte und komplexe Tafel der kategorialen Gesetze (vgl. Hartmann 1940, 412–575) mag hier dahingestellt bleiben, es soll nur an einem Beispiel verdeutlicht werden, dass Hartmanns Ontologie dafür herangezogen kann, die ontologische Autarkie der Tradition zu verteidigen. Eines der kategorialen Gesetze, die er ermittelt zu haben glaubt, ist das „Gesetz des Novums“, welches darin besteht, dass zwar „jede höhere Kategorie aus einer Mannigfaltigkeit niederer Elemente zusammengesetzt [ist]“, jedoch „niemals in deren Summe auf[geht]. Sie ist stets noch etwas darüber hinaus: sie enthält ein spezifisches Novum, d. h. ein kategoriales Moment, das mit ihr neu auftritt.“ (Hartmann 1940, 476) Was an moderne Emergenz-Theorien erinnert, will in der Sache besagen, dass höhere Schichten zwar von den niederen abhängig bleiben, aber über diese hinaus eigene Eigenschaften, Vermögen, Fähigkeiten entwickeln, die nicht reduktiv auf niedere zurückgeführt werden können. Dieser Gedanke – er ließe sich mittels anderer kategorialer Zusammenhänge noch weiter plausibilisieren und ontologisch einbetten – ist für das Traditionsdenken insofern einschlägig, als damit der Bereich des Geistigen, zu dem die Tradition nach Hartmann in jedem Falle gehört, nicht auf das Seelische, welches als individuelles zu denken ist, reduziert zu werden vermag. Tradition ist ein ontologischer Weltbestand sui generis.159 Durch die Arbeiten Freyers und Hartmanns wird dem Phänomen Tradition als Bestandteil der Kultursphäre ein breiter Raum eingeräumt. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass mit dem Begriff des objektiven Geistes eine sowohl deskriptive wie – zumindest bei Hartmann – auch ontologische Verortung möglich wird. In der Hauptsache taucht Tradition dabei als Vermittlungsweise im Reich des geistigen Seins auf, sie ist der Weg, durch den Geistiges fortbesteht. Gleichwohl denkt zumindest Hartmann gelegentlich Tradition auch substantiell. Für ein Nachdenken über den Begriff entscheidend ist, dass mit beiden der hegelsche Rezeption übersehen oder verwischt wird. Zu seinen Überlegungen vgl. Wunsch, Standardkritik, 5 und zu Hartmanns begrifflicher Differenzierung vor allem Hartmann 1947, 231–240. Dort heißt es etwa (ebd., 235): „Charakteristisch ist […] für diese vier Hauptschichten des Realen, daß sie nicht nur mit Stufen der Gebilde (Ding, Organismus, Mensch usw.) nicht zusammenfallen, sondern sich geradezu mit ihnen überschneiden. Sie sind nicht nur Schichten der realen Welt als eines Ganzen, sondern auch Schichten der Gebilde selbst. Der Mensch ist z. B. nicht nur Geist, sondern hat auch ein geistloses Seelenleben […].“ 159 Eine Reaktualisierung von Hartmanns Ontologie im Rahmen von Emergenz- und Supervenienztheorien der Gegenwart hat zuletzt Daniel Dahlstrom zu legitimieren versucht (vgl. Dahlstrom 2012, dort zum Gesetz des Novums 354 ff.).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Geistbegriff – und damit sekundär auch Tradition – als philosophisch gehaltvolles, nicht-metaphysisches Konzept160 rehabilitiert werden kann. Und auch die sich aus Hartmanns Ontologie ableitende Reduktionsunmöglichkeit ist für eine Bestandsaufnahme dessen, was Tradition ist (oder nicht ist), von großer Relevanz, um nicht zu leichtfertig Thesen derart zuzustimmen, sie sei nur eine fiktive Entität, „eigentlich“ gäbe es nur individuelle geistige Bestände.
3.6
Karl Jaspers – Tradition trotz existentieller Freiheit
In den letzten beiden Kapiteln wurden Positionen vorgestellt, die im Diskurs über Traditionen zumeist eher randständig blieben, und das gilt auch für das Denken Jaspers‘.161 Dieser hat sich im Rahmen seiner Existenzphilosophie allerdings sehr wohl dem Thema gewidmet, was hier nachgezeichnet werden soll, denn existenzialistisches Denken und Traditionen scheinen in einem Spannungsverhältnis zu stehen, welches darin begründet liegt, dass die Existenz als selbstbestimmende verstanden wird, Tradition aber zumeist als heteronome Determination. Prägnant hat das Jean-Paul Sartre gefasst. Der Mensch sei „anfangs überhaupt nichts […]. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. […] [D]er Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht. […] Der Mensch ist ein Entwurf, der sich subjektiv lebt […].“ (Sartre 1968, 11) Jede Bindung an einen konkreten Entwurf erfordert Rechenschaft, bedeutet Verantwortung (vgl. Sartre 1968, 13). Eine bloße hingenommene, weil eben scheinbar „selbstverständliche“ Traditionsprägung ist das Verfehlen der eigenen Existenz. Was Sartre so später entwickelt hat, besitzt Vorläufer in Sören Kierkegaard und eben Jaspers. Dieser denkt den Menschen als Existenz, was bedeutet, das zur Entscheidung und zur Wahl aufgerufene Wesen zu sein: Existenz ist, was nie Objekt wird, Ursprung, aus dem ich denke und handele […]; Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält. Sein heißt, es ursprünglich entscheiden. […] [I]n aller Abhängigkeit und Bestimmtheit meines Daseins wird mir gewiß, daß etwas zuletzt allein an mir liegt. (Jaspers 1973a, 15)
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Damit soll nicht behauptet sein, dass man Hegel nur oder in der Hauptsache metaphysisch zu rezipieren habe, aber im Kontext gewisser verselbständigter Topoi ist die Leistung von Hartmann und Freyer sicher als Rehabilitierungschance lesbar – vielleicht aus heutiger Zeit noch mehr als in der ausklingenden ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 161 Er wird am Rande gestreift bei Nahodil 1971, 36 und bei Ichii 1970, 125.
3.6 Karl Jaspers – Tradition trotz existentieller Freiheit
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Ohne eine genauere Bestimmung des Existenzbegriffs hier leisten zu wollen, wird klar, dass Existenz als ein bewusstes, wählendes und entscheidendes Verhalten des Menschen zu sich und seinen Möglichkeiten, die sich aus der Situation ergeben, in der er steht, zu verstehen ist. Dabei kommt die „Situation […] aus Früherem und hat geschichtliche Tiefe […]. Sie ist nie etwas nur Unmittelbares. Als geworden trägt sie vergangene Wirklichkeit und Freiheitsentscheidungen in sich.“ (Jaspers 1973a, 3)162 Existenz heißt, sich zu sich und seiner Situation verhalten können – und ggf. müssen.163 Erst in der Wahl bin ich mir […] der Freiheit bewußt, welche ursprüngliche Freiheit ist, weil ich erst in ihr mich eigentlich als mich selbst weiß. Alle anderen Momente der Freiheit scheinen von hier aus gesehen nur wie Voraussetzungen, damit diese tiefste, existentielle Freiheit sich zum Tage bringe. […] Die existentielle Wahl ist nicht das Resultat eines Kampfes der Motive (dies wäre ein objektiver Vorgang), nicht die nur scheinbare Entscheidung nach Ausführung gleichsam eines Rechenexempels, das ein Resultat als das richtige ergibt (dieses wäre zwingend, ich kann es nur als evident anerkennen und mich danach richten), nicht Gehorsam gegen einen objektiv formulierten Imperativ (solcher Gehorsam ist entweder Vorform oder Abgleitung der Freiheit). Vielmehr ist das Entscheidende der Wahl, daß ich wähle. […] Diese Wahl ist der Entschluß, im Dasein ich selbst zu sein. […] Der Entschluß als solcher ist erst im Sprunge. […] Entschluß und Selbstsein sind eines. (Jaspers 1973b, 180 f.)
Nicht der gewählte Inhalt ist es, auf den es für die Verwirklichung der Existenz ankommt, sondern die je eigene Wahl, die selbst wiederum bewusst und mit einem gewissen Einsatz – zum Sprung-Motiv ist gleich zu kommen – verbunden ist. Wenn dies stimmt, dürfte freilich für Tradition im Sinne einer heteronomen und oftmals impliziten, unbemerkten, nicht bewusst ergriffenen Prägung kein positiver Platz im Theoriegebäude sein. Das legt auch Jaspers selbst nahe, wenn er die
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Zu Jaspers Situationsdenken vgl. Großheim 2002b, v. a. 287 f., wo richtig darauf hingewiesen wird, dass es Jaspers und anderen im Grunde zumeist auf die Vereindeutigung und Überwindung des Situativen durch die Entscheidung ankommt. 163 Das „Müssen“ ist hier doppelt zu verstehen, einmal im Angesicht von unvermeidlich zur Entscheidung und Wahl drängenden Situationen, den sogenannten Grenzsituationen (vgl. zu diesen Jaspers 1973b, 203 f.), einmal aber auch angesichts des ethisch-humanistischen Sollens, insofern der Mensch frei sein sollte. Jaspers gibt aber insgesamt zu, dass seine Existenzphilosophie nur ein ethisches wie theoretisches Modell für Wenige ist, daher ergeht der aus seinem Denken folgende Aufruf auch nur an eine Minderheit, was jedoch an der grundsätzlich nachweisbaren normativen Dimension in seinem Werk nichts ändern. Vgl. dazu z. B. Jaspers 1973a, 309: „[…] Philosophieren sieht sich nur als Möglichkeit in allen, aber als Wirklichkeit in wenigen; es muß als Wohltat anerkennen, daß für Menschen, die der Freiheit nicht mächtig oder nicht willens sind, die Ordnungen der Kirche dableiben.“
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
möglichen Legitimationen für eine Unterwerfung unter Autoritäten ablehnt. Er zählt als solche Gründe – die „nicht durchschlagen“ – auf: […] der Mensch sei zu schwach, um auf sich selbst gestellt werden zu dürfen; die Autorität, die ihm den rechten Weg zeige, sei ihm ein Segen; ohne den festen Halt der Autorität verfalle der Mensch einer zufälligen Subjektivität; das Bewußtsein der Nichtigkeit fordere den Menschen auf, durch Unterwerfung diese zu bekennen; die Jahrtausende währende Überlieferung der Autorität gebe eine Garantie für ihre Wahrheit; – jeder dieser Gründe verleugnet die Freiheit. (Jaspers 1973a, 309)164
Eine Unterordnung unter die Überlieferung, eine Bindung an Übersubjektives, die Sicherungsleistung des Gegebenen werden im Namen der existentiellen Freiheit zurückgewiesen. Tradition ist – wie bei Martin Heidegger – scheinbar Verfallenheit.165 Autonomisierung des Menschen, seine Hinwendung zur Freiheit lässt sich mit der bindenden und bahnenden Wirkung der Tradition nicht gut zusammenbringen. Jaspers aber ist ein differenzierender Denker und anerkennt die Leistungen der Tradition und überhaupt der geschichtlichen Prägung. Nicht nur die Tatsache der Geschichtlichkeit und kommunikativen Gemeinsamkeit wird so herausgestellt (vgl. Jaspers 1973a, 16), sondern auch die kumulative Wirkung des generationellen Zusammenhang – etwa in der Philosophie und den Wissenschaften – betont (vgl. Jaspers 1973a, 281).166 Jaspers fordert zu Wahl und Entscheidung, damit zu Freiheit auf, setzt den Menschen aber nicht als tabula rasa: Ich kann mich nicht als absoluten Anfang denken; ich schuf mich nicht selbst; zwar ergreife ich mich als Ursprung, wenn ich ich selbst bin, aber ich bin bestimmt in meiner Herkunft. […] Ich verhalte mich zu meiner Herkunft, wenn ich, durch sie schon geworden, ihrer bewußt werde. In ihr ist etwas unobjektivierbar Unwandelbares, in dem ich durch Treue ich selbst bin oder verleugnend mich selbst verliere […]. (Jaspers 1973b, 215)
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In der Hauptsache scheint sich diese Aufzählung am religiösen Denken abzuarbeiten, es ist aber erstaunlich, wie nahe es auch an die (in der Hauptsache später entwickelten und verbreiteten) Theorem der philosophischen Anthropologie heranreicht. 165 Verfallenheit verstanden als das Verfehlen des Eigentlichen durch Orientierung am Falschen (so zu verstehen bei Heidegger, SuZ, 175 ff.). 166 Jaspers kommt hier auf das Motiv des Stehens auf den Schultern von Riesen zu sprechen, um die Vorleistungen der Früheren zu würdigen. Zu diesem bekannten antiken Motiv vgl. generell Haug 1987.
3.6 Karl Jaspers – Tradition trotz existentieller Freiheit
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Die Situation in ihrer heteronomen, nicht durch das Individuum hervorgebrachten oder gewählten Eigenart wird als Abstoßungspunkt, als – quasi-stoische – Bewährungschance verstanden.167 Existentielle Freiheit besteht dann nicht in einem Freiwerden-von, sondern in einem Verhalten-zu.168 Auf diese Weise kann Tradition integriert werden, aber in einer Weise, die sich wesentlich von den bisher verhandelten Ansätzen unterscheidet. Wie aber lassen sich so prägende Tradition – eingebunden in die Situation – und existentielle Freiheit genau zusammendenken? Der Schlüssel der Verbindung liegt in dem von Jaspers unterstellten anzustrebenden Verhältnis zwischen Existenz und Tradition. Es geht um eine explizite Aneignung. Der Mensch sei „als Geschichtlichkeit nicht erzwungenes Resultat historischer Bedingungen, sondern in der Unabhängigkeit der Wahl des Übernehmens oder Verwerfens.“ (Jaspers 1973a, 308) Existenz kann über das Althergebrachte verfügen. Gerade ein solches explizites, bewusstes Verfügen wird eingefordert im Hinblick auf Tradition: Beim sachlich verstehenden Vergegenwärtigen geht in aller Tradition unbemerkt etwas in mich über. Ich werde, was ich lerne, ohne es ausdrücklich so zu wissen. […] Diese unbemerkte und ungeprüfte Assimilation ist noch nicht das Aneignen, sondern dieses entspringt aus der Unterscheidung. […] [I]ch [scheide] mich von aller Tradition, der ich zunächst schon unbemerkt verfallen war, um nun erst, mit hellem Bewußtsein wählend, sie entweder zu verwerfen oder als mich selbst angehend zu ergreifen und damit selbst werdend anzueignen. (Jaspers 1973a, 285)169
Existenz wählt aus, indem sie sich von der – immer zunächst vorliegenden – Prägung distanziert, diese ausdrücklich thematisch macht. Es geht Jaspers also um eine Explikation des sonst Unbemerkten, um so von dem bloß faktischen Zustand 167
Vgl. so wohl gemeint Jaspers 1973b, 392, wo das Scheiternkönnen der Freiheit, die Gefahr des Verfallens, als conditio sine qua non für Freiheit interpretiert wird. 168 Jaspers argumentiert damit auch gegen Philosophen – er nennt Descartes und Kant, aber sachlich wäre unbedingt an Edmund Husserl mit zu denken (Heidegger hat, was Jaspers gewusst haben dürfte, diesen gerade so attackiert) –, die sich selbst das Freisein von Prägungen, die tabula rasa, attestieren und damit etwas Positives auszudrücken meinen. Damit liegt, folgt man Jaspers, eine Selbsttäuschung vor: „Die Philosophen, die am entschiedensten von neuem und erst eigentlich anzufangen meinten, und sich dabei wesentlich ungeschichtlich verstanden […], sind durchdrungen von einer verwandelten Tradition. Die wirklich ohne Kenntnis der Tradition anfingen, taten es auf Grund trüber und zersplitterter Zuflüsse aus ihr und konnten nicht zu einer wesentlichen Klarheit kommen.“ (Jaspers 1973a, 282). Die positiv orientierende und als Abstoßungspunkt dienende Tradition wird hier der zersplitterten Geschichtslosigkeit und Geschichtsgebrochenheit gegenübergestellt, in die – als tabula rasa – zu geraten gerade nicht der existentiellen Freiheit dient. 169 In der Sache ähnlich vgl. auch Jaspers 1973a, 16; Ders. 1973b, 395 und Ders. 1973c, 207.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
in einen bewusst ergriffenen zu gelangen. Gleichwohl trägt ein solches Verhältnis auch konstruktivistische Züge, denn die Auswahl fällt letztlich allein dem Subjekt zu. Es ist frei, aus dem historischen Bestand das zu übernehmen, was es für sich selbst auswählt. Wahl und Konstruktion scheinen zusammengedacht.170 Woran soll sich Existenz aber orientieren bei der Wahl und dem Entschluss? Jaspers gibt zu, dass hier ein Problem liegt. Um es zu lösen, rekurriert er des Öfteren auf das berühmte Motiv des Sprungs, prominent von Kierkegaard entwickelt, welches die Lücke zwischen dem vorliegenden, aber beliebigen Optionsmaterial und dem Entschluss zu etwas Spezifischem schließen soll.171 Kierkegaard behandelt den Sprung vor dem Hintergrund der historischen Kritik an der Bibel und überhaupt der christlichen Überlieferung. „Kann man“, fragt er, „ewige Seligkeit auf ein historisches Wissen bauen?“ (Kierkegaard 1976, 224) Wie kommt man von einem Wissen zur – mit Jaspers gesprochen – existentiell-freiheitlichen Bindung an dieses? Hier liege ein Übergang vor, der einen kategorialen Wechsel erfordere, eben einen Sprung. Dieser ist eine Sache isolierter Entscheidung, die nicht befohlen, nicht angeordnet und desgleichen nicht begründet werden kann (vgl. Kierkegaard 1976, 229–232). In diesem Sinne versteht auch Jaspers Sprung als etwas „nicht mehr rational einsichtig“ (Jaspers 1973b, 5) zu Machendes. Der Sprung in die Existenz – und damit mittelbar wohl ebenfalls die Wahl im Angesicht des Traditionellen – bekommt so den Anschein eines Dezisionismus, allerdings eben nicht eines absoluten, sondern eines historisch immer situierten. Darin liegt dann freilich Jaspers‘ Innovation im Hinblick auf das Traditionsdenken, insofern er es wie kein Zweiter vor ihm – Max Stirner vielleicht ausgenommen – an die subjektive Entscheidung des Einzelnen, prinzipiell freien Subjektes delegiert, was als Tradition gelten darf. Dass es um keinen radikalen Dezisionismus geht, bei dem allein die Wahl um der Wahl willen verfolgt wird,172 zeigt sich daran deutlich, dass Jaspers mit 170
Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um einen radikalen Konstruktivismus, denn es ist ja immer noch Auswahl aus etwas, das selbst nicht wieder verfügbar ist. Sartres Denken scheint in dieser Hinsicht der Tendenz nach weiter zu gehen („Sie sind frei, wählen Sie, das heißt erfinden Sie.“ (Sarte 1968, 19)), ist sich aber der Problematik von absolut freier Bindung und der Relativität der kulturellen Situation bewusst (vgl. ebd., 28). Arendt hat den französischen Existentialismus in diesem Sinne als „eine Flucht vor den Schwierigkeiten der modernen Philosophie in die unbefragte Handlungsverpflichtung“ nicht unzutreffend beschrieben (vgl. Arendt 1994, 12). 171 Einen Überblick über das Motiv, welches schon vor Kierkegaard philosophisch etabliert war, bietet Scholtz 1967, zu Kierkegaard dort 226–230, zu Jaspers 233 ff. 172 Sartre ist hier vielleicht anders zu lesen, denn wenn es nicht möglich ist, nicht zu wählen (vgl. Sartre 1968, 28), ist das Wählen selbst bloß um des bewussten Wählens willen schon normativ herausgehoben.
3.6 Karl Jaspers – Tradition trotz existentieller Freiheit
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antidezisionistischen Konzepten wie Treue oder Pietät operiert. Sein Denken fordert im Hinblick auf Traditionen ein bestimmtes Ethos ein, welches darin besteht, dass der qua Philosophie zur Existenzerhellung Kommende sich zunächst gerade an Tradition binden soll im Sinne eines „bis auf Weiteres“: Um nicht ins Bodenlose zu gleiten, vertraut sich […] der philosophisch erwachende Mensch als mögliche Existenz der Tradition an, solange nicht ein ihn selbst vernichtender Widerspruch auftritt; er gehorcht der Autorität, wo Prüfung und Entscheidung noch nicht möglich oder nicht notwendig ist; er verwirft eine Opposition gegen das Überkommene, welche sich gegen das Überkommene als solches wendet. […] Er hat Scheu vor der Überlieferung, steht ihr zumal in persönlichen Gestalten, von denen sie kam, mit Pietät gegenüber. […] Entgegen dem bloß rationalen und sophistischen Verneinen aus einem leeren Selbstsein, das sich darin den Schein der Selbständigkeit gibt, ist dem, der wirklich er selbst ist, negative Haltung zur Tradition, wo sie sich ihm als notwendig ergibt, eine Überwindung. […] Wer sich der vollen Unabhängigkeit bewußt geworden ist, wagt sie in stiller Entschlossenheit, ergreift sie nicht in blindem Jubel. Er hat den entschiedensten Sinn für Überlieferung und Autorität, deren mögliches Maximum festzuhalten er gesonnen ist. (Jaspers 1973a, 310 f.)
Hieran zeigt sich zweierlei, erstens, dass Jaspers auf Tradition letztlich aus einer Nutzenperspektive blickt. Sie leistet etwas – Schutz gegen Bodenlosigkeit –, weshalb sie sinnvoll erscheint. Das freie Subjekt soll sie nur dann und dort abstoßen, wo das eigene Interesse mit ihr in Konflikt gerät. Der Vorrang des Subjektes wird damit zweitens explizit auch im ansonsten für eine existentialistische Position mit den dieser oft inhärenten konstruktivistischen Impulsen sicher ungewöhnlichen Gedankengang keineswegs bestritten. Und doch verdeutlicht Jaspers, dass Traditionen für ihn mit einer gewissen – wohl ebenso ethischen wie emotionalen – Qualität beladen sind. Die einschlägigen Worte – „Scheu“, „Überwindung“, „Pietät“, „Vertrauen“ – zeigen dies klar an. Das freie Wesen Mensch ist, zumindest nach Jaspers‘ Theorie, kein kühler Traditionsvernichter, kein kalt kalkulierender Traditionsarrangeur,173 sondern eher der sensibel-taktvolle Traditionshandhabende. Das erweist sich auch dadurch, dass Jaspers nicht nur retrospektiv Scheu, Pietät usw. einfordert, sondern auch Treue, und diese dann zudem noch ebenso prospektiv im Hinblick auf die eigenen Festlegungen durch Entscheidung ausdehnt (vgl. Jaspers 1973b, 135–138). Das vielgestaltige Bild, das sich ergibt, erweist Jaspers als reflektierten Traditionsdenker, einen, den es sonst in der Existenzphilosophie jedenfalls nicht in 173
Dies scheint eher der postmoderne Spieler zu sein (zu dem Motiv des treulosen, flexiblen, ungebundenen Spielers vgl. Bauman 1997, z. B. 130 f., 145 f., 149, 161), gegen den Jaspers als dem „Treulosen“ schon avant la lettre argumentiert hat (vgl. Jaspers 1973b, 136).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
gleicher Weise zu geben scheint. Doch was genau ist Tradition eigentlich dem Begriff nach bei ihm? Eine Definition im expliziten Sinn findet sich nicht, jedoch scheint offensichtlich, dass er sie inhaltlich denkt, als einen irgendwie bestimmten Gehalt aus der Vergangenheit versteht.174 Fragen der Vermittlung, des Ursprungs usw. interessieren ihn nicht. Er merkt nur an, dass Tradition ein Gehalt ist, dem gegenüber besondere (affektive) Einstellungen angemessen sind, allen voran Pietät, was sicher zeigt, dass Jaspers Tradition nach dem christlichen Paradigma betrachtet. Insgesamt ist der Begriff jedoch kein elaborierter,175 es kommt Jaspers viel mehr auf das Verhältnis des existentiellen Wesens zu dem Phänomen an, und darin liegt, wie hervorgehoben worden ist, sein wesentlicher Beitrag zum philosophischen Diskurs.
3.7
Tradition als Schutzraum – Hannah Arendt
Nach und neben Jaspers hat sich auch dessen langjährige philosophische Weggefährtin Arendt mit dem Begriff „Tradition“ beschäftigt. Sie ist dabei wesentlich als Verteidigerin der Tradition hervorgetreten, und zwar deshalb, weil sie diese als Bedingung gelingenden Zusammenlebens verstand, die als solche vor allem gegen den Ansturm der Jugend und den des Theoretischen geschützt werden müsse. Ihr Ausgangspunkt, wie er im Folgenden rekonstruiert werden soll, kann im weiten Sinne ebenfalls als anthropologischer gelten, wenn man sich verdeutlicht, dass ihre Sozialphilosophie auf Prämissen ruht, die den Menschen in seinem Wesen betreffen. Mit Arendt lässt sich dieses in mindestens vier Hinsichten spezifizieren, nämlich als geschichtlich, aktiv, gemeinschaftlich und geboren. Der Mensch als geschichtliches Wesen kommt in den Blick, weil er aufgespannt ist zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese drei Aspekte sind im Alltag nie scharf geschieden (wenn auch sich die Gegenwart besonders abhebt), nur in der Theorie voneinander klar getrennt (vgl. Arendt 1998, 174
Einer Definition am nächsten kommt noch folgende Aussage: „Da Gesellschaft ein Zusammenleben ist, dessen Formen und Gehalt durch eine Vergangenheit bestimmt sind, sich ständig wandeln, sei es unmerklich mit der Zeit, sei es in plötzlichen Krisen, ist sie nicht wie aus dem Nichts in bloßer Gegenwart, sondern durch eine Tradition. Die geschichtliche Substantialität des gesellschaftlichen Daseins ist daher in Verhältnissen der Pietät, Ehrfurcht, Unantastbarkeit gegenwärtig.“ (Jaspers 1973b, 395). 175 Hingewiesen sei noch darauf, dass Jaspers auch explizit von einer „Tradition der Freiheit“ spricht (im Unterschied zur objektiven Tradition, die als äußere nicht freiheitlich ergriffen ist), was zeigt, dass er für die Existenz selbst Traditionsbildung für möglich und richtig hält. Vgl. dazu Jaspers 1973c, 28.
3.7 Tradition als Schutzraum – Hannah Arendt
153
200 f.). Die Gegenwart wird als Auseinandersetzung geschildert, durch die sich der Mensch entfaltet, immer in Konfrontation mit dem Früheren und dem Kommenden, und sie ist dabei, so Arendt, eigentlich richtig verstanden nur als „lebenslanger Kampf gegen die Last der Vergangenheit“ (Arendt 1998, 201). Eine Prägung und Belastung durch das, was früher getan, gedacht, entschieden wurde, wird in der Gegenwart als Widerstand, Hindernis usw. auffällig. Gleichwohl ist dieses Erbe nicht nur (und vielleicht noch nicht einmal in der Hauptsache) als Belastung zu verstehen, sondern neutral als für den Menschen charakteristische Situierung. Das Weiterwirken der Vergangenheit ruht nach Arendt in der Tradition, während die Gegenwart als Auseinandersetzungspunkt gerade nicht tradierbar scheint, sondern jeder kommenden Menschheit als je eigene Aufgabe bevorsteht: Dieses kleine zeitlose Gebiet mitten im Herzen der Zeit läßt sich, anders als die Welt und die Kultur, in die wir hineingeboren sind, nicht vererben und in der Tradition weitergeben […]. Jede neue Generation, jedes neue Menschenwesen muß, indem ihm bewußt wird, daß es zwischen eine unendliche Vergangenheit und eine unendliche Zukunft hineingestellt ist, den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen. (Arendt 1998, 206)
Worauf Arendt hinweisen will, ist nicht, dass Menschen immer wieder als tabula rasa neu beginnen müssen. Das stimmt im Hinblick auf Wissensbestände usw. ja auch offensichtlich nicht, sondern was zu leisten ist, ist ein immer wieder neues Herausarbeiten der Gegenwart als einen eigenen Standpunkt zwischen Tradition (als dem Geschichtserbe) und der Zukunft (als dem Gewünschten, Erhofften, Befürchteten usw.). Tradition ist, vor diesem Hintergrund verstanden, die kulturelle Variante biologischer Vererbung, die sicherstellt, dass Vergangenes in die Gegenwart reicht. Als solche, so Arendt zeitkritisch, ist sie in der Gegenwart nicht mehr nur bedroht, sondern ihr Bruch bereits „vollendete Tatsache“ (Arendt 1994, 35).176 Eine Regeneration schließt sie aus (vgl. Arendt 1994, 18). Die Moderne habe Traditionen – die Kontinuitäten mit Vergangenheit – verloren. Dafür macht Arendt in der Hauptsache die Fokussierung auf die Gegenwart und das isolierte denkende Ich verantwortlich (vgl. z. B. Arendt 1994, 7). Ihre Analyse dieses Verfalls koppelt sie jedoch nicht an den Traditionsbegriff direkt, sondern vor allem an den der Autorität, der mit dieser aber – ebenso wie Religion (vgl. Arendt 1994, 160) – eng zusammengehört. Exemplarisch kann 176
Arendt geht es an dieser Stelle konkret um die abendländische (politische) Geschichte, die hier aber wohl pars pro toto genommen werden kann, was die Parallelstelle legitimiert bei Arendt 1998, 208.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
dafür die von Arendt bereits Ende der 1950er Jahre ausgebildete Kritik an der antiautoritären Erziehung herangezogen werden. Diese pädagogische Entwicklung liest sie als symptomatisch für die Moderne und behauptet, dass indem die älteren Generationen darauf verzichten oder sich aktiv weigern, die „Welt, in die […] die Kinder hineingeführt werden, […] eine alte, das heißt vorgegebene, von den Lebenden und Toten erstellte Welt“ (Arendt 1994, 258), an die Kinder weiterzugeben, der Gemeinsinn verlorengehe, der die Grundlage einer gemeinsamen Welt überhaupt sei (vgl. Arendt 1994, 260). Was dabei geschieht, analysiert Arendt in mehreren Hinsichten, die hier jedoch nicht alle von Bedeutung sind. Wichtig ist, dass sie glaubt, durch das Verweigern der gezielten Einordnung der Kinder in eine vorgegebene Welt – was sie als rousseauistisches Bildungsideal interpretiert – werde einer zweifachen Verantwortung nicht nachgekommen, sowohl dem Kind als auch der Welt gegenüber: Die Verantwortung für das Werden des Kindes ist in einem gewissen Sinne eine Verantwortung gegen die Welt: Das Kind bedarf einer besonderen Hütung und Pflege, damit ihm nichts von der Welt her geschieht, was es zerstören könnte. Aber auch die Welt bedarf eines Schutzes, damit sie von dem Ansturm des Neuen, das auf sie mit jeder neuen Generation einstürmt, nicht überrannt und zerstört werde. (Arendt 1994, 267)177
Die so entstandene doppelte Krise hänge eng mit der Traditionskrise in der modernen Welt zusammen (vgl. Arendt 1994, 274), denn der problematisch gewordene Bezug zur Vergangenheit, das gebrochene Verhältnis zur Tradition, verhindert sowohl eine Verteidigung der Welt als auch die Stiftung eines autoritativ geordneten Erziehungsvorgangs für das Kind. Dann aber verliert man, so wohl Arendts Hauptsorge, das Gemeinsame, das Fundament des Zusammenlebens. Tradition wird daher lesbar als ein Puffer, ein Schutzraum, in dem zum einen das Kind erfolgreich in eine gemeinsame Kulturwelt hineinwachsen kann, andererseits die Tradition jedoch zugleich der Welt gegenüber die Veränderungsimpulse der neuen Menschen abfedert und moderiert.178 177
Vgl. auch Arendt 1994, 273. Arendt denkt diese Sphäre, in der der Schutz wegbricht, als die Öffentlichkeit (in Abgrenzung vom Privaten, Intimen). 178 Gegen Arendts Kritik am antiautoritären Modell hat vehement Micha Brumlik Einwände erhoben. Er will unter anderem darauf hinweisen, dass das fehlende Weltvertrauen und die fehlende Weltkenntnis weit mehr auf Seiten der Erwachsenen zu suchen seien, die gerade in der fragmentierten und kapitalistischen Gegenwart längst als gebrochene, zynische zu denken sein könnten, als auf Seiten der Kinder. Vgl. Brumlik 1995, z. B. 44 f. Daher kann Autorität gerade nicht mehr geboten werden durch die, denen sie nach Arendt zukäme. Brumlik fordert ein ausgeglicheneres Generationenverhältnis, wobei vorrangig die sozialen,
3.7 Tradition als Schutzraum – Hannah Arendt
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Der Mensch ist neben seiner Geschichtlichkeit weiterhin charakterisiert durch Aktivität, sein Handeln-Können, Handeln-Müssen. Auf diese Weise erzeugt er eine Art zweite Natur, denn seine Handlungen bringen seine Welt hervor: Die Menschen leben […] nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur. (Arendt 1981, 16)
Durch Aktivität stiftet der Mensch selbst – keineswegs immer intentional – Rahmen für sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen. Diese Arbeit nun sichert erst überhaupt menschenmögliche Dauer über die Grenzen des Natürlichen hinweg, sie sichert […] das Am-Leben-bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit Geschichte. (Arendt 1981, 15)
Vita activa ist die menschenmögliche Weise, gegen Verfall und Tod anzugehen und Dauer zu stiften. In diesem Rahmen kommt der Tradition dann, als Vererbungsäquivalent, eine besondere Rolle zu. Sie ist die vom Menschen durch Tätigkeit hervorgebrachte Kontinuierung. Bricht sie ab, fehlt ihm Dauer. „Traditionsverlust […] [kann] den Verlust der Vergangenheit bedeuten“, womit sich die Menschen „selber einer Dimension berauben würden, der Tiefendimension im menschlichen Dasein.“ (Arend 1994, 161) Ohne hier intentionales Agieren primär im Blick zu haben, kann man an Arendt lernen, dass Tradition wesentlicher Bestand des aktiven, handelnden Lebens des Menschen ist, und indem neue Generationen in diese nicht eingeführt werden, bricht etwas Entscheidendes weg, nämlich die Tiefe im Sinne der Reichhaltigkeit, aber eben auch der Dauer. Das ist schon kollektiv problematisch, jedoch auch besonders aus individueller Perspektive, denn, so Arendt, der Einzelne habe nur qua Unsterblichkeit seiner Taten
nicht die machtspezifischen Verhältnisse in den Blick zu kommen haben (vgl. ebd., 46). Zu Brumliks Arendt-Interpretation vgl. ebd., 18, 24 ff.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
die Chance, der Sterblichkeit zu begegnen.179 Mit dem Ende von Tradition, damit von Erinnerung und Geschichte, wie Arendt glaubt, nimmt sich der Mensch selbst eine wesentliche Möglichkeit, nämlich durch Taten, Handlungen und Erzeugnisse gleichsam unsterblich zu werden. Tradition öffnet überindividuelle Zeithorizonte, ihr Ausfall verschließt sie. Doch nicht nur menschliche Dauer ist von dem Bestehen der Traditionen abhängig, sondern auch Gemeinsamkeit, was schon im Kontext des durch bestimmte Erziehungsmethoden womöglich unterminierten Gemeinsinns sich andeutete. Arendt sieht den Menschen als das Wesen, welches notwendig – wie mittelbar auch immer – in einer gemeinsamen, geteilten Welt existiert. „Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt.“ (Arendt 1981, 27)180 Dieses Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst, wir treten in es ein, wenn wir geboren werden, und wir verlassen es, wenn wir sterben. Es übersteigt unsere Lebensspanne in die Vergangenheit wie in die Zukunft; es war da, bevor wir waren, und es wird unseren kurzen Aufenthalt in ihm überdauern. Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren und denen, die nach uns kommen werden. (Arendt 1981, 54)181
Der Mensch als das Wesen in Gemeinschaft weiß vielleicht nicht immer um die Anwesenheit der anderen – und zumeist denkt er nur an gegenwärtige andere –, aber sie sind immer schon in seinen Praktiken, seinen Wörtern, seinen Ideen usw. da. Was Arendt so aufzeigt, ist der weite Zeithorizont, den die Sphäre des 179
„Durch unsterbliche Taten, die, so weit das Menschengeschlecht reicht, unvergängliche Spuren in der Welt zurücklassen, können die Sterblichen eine Unsterblichkeit eben menschlicher Art erlangen […].“ (Arendt 1981, 24). Arendt orientiert sich hier an antiken Gedanken, da etwa schon Platon im „Symposion“ eine menschenmögliche Unsterblichkeitsform durch eine bestimmte Art der tätigen Hervorbringung im Sinn hatte (vgl. Platon, Symp., 207a– 209d). Zu Arendts Fokussierung auf individuelle Unsterblichkeit durch große Taten vgl. auch Großheim 2012, 159, wo gezeigt wird, dass die Voraussetzung für diesen Fokus eine Kultur mit weitem Zeithorizont ist, die also mehr als nur die unmittelbare Gegenwart für relevant hält. 180 Arendt greift hier (mindestens nebenbei) auf Überlegungen Heideggers zum Verweisungszusammenhang des Zeugs zurück. 181 Auch hier wird das Gemeinsame als Öffentlichkeit verstanden. Dieser Begriff liegt sicher auf einer anderen Ebene als der der Tradition, dennoch spielt die Tradition als Bindeglied zwischen den Zeiten und Generationen offensichtlich bei Arendt eine wichtige, wenn auch nicht klar thematisierte Rolle.
3.7 Tradition als Schutzraum – Hannah Arendt
157
Gemeinsamen hat. Im Rahmen ökologischer oder moralischer Besinnungen in der Gegenwart kommt dieser Gedanke wieder zum Vorschein, wenn auch zumeist gerade an den als negativ empfundenen Abwesenden, etwa den früheren Umweltsündern oder den Kolonialherren.182 Insofern Tradition Generationen verbindet, stellt sie Gemeinsamkeit her – inter- wie intragenerationell. Dass überhaupt solche Arbeit am Gemeinsamen und an der Kontinuität nötig ist, hat freilich mit dem Aspekt des Menschen zu tun, den Arendt in Abgrenzung gegen Heideggers „Sein-zum-Tode“ (vgl. Heidegger, SuZ, 260–267) entwickelt hat, nämlich dem der Natalität, also dem Umstand, „daß wir alle durch Geburt in die Welt gekommen sind und daß diese Welt sich ständig durch Geburt erneuert.“ (Arendt 1994, 276) Ständig kommen neue Menschen in die Welt, Geborenwerden ist ein nur zu menschlicher Zustand. Ihn gilt es zu bedenken, denn er erfordert eben Hervorbringungsarbeit nicht bloß zur, sondern auch nach der Geburt. „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ Aber indem der Mensch so in eine Welt kommt, die vor ihm da war, ist diese „Einschaltung […] wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“ (Arendt 1981, 165 f.) Der anfangende Mensch ist zunächst der anfängliche Mensch, muss in etwas hineinkommen, das ihm die Tradition stellt. Durch die Übernahme erfährt er eine zweite Geburt und anerkennt damit seine Natalität als Mensch, was heißt – und hier wird Arendts scheinbar konservative Erziehungskritik anthropologisch lesbar –, dass er auch anderen dies ermöglichen muss oder jedenfalls sollte. Natalität macht auf Tradition in gewissem Sinne angewiesen. Welchen Begriff von Tradition legt Arendt ihren vorgestellten Überlegungen aber zugrunde? Sie verwendet als Metapher für diesen „Testament“, wobei das Entscheidende nicht allein die Vererbung ist, sondern der mit einem Testament verbundene Selektionsgedanke. Die wichtigsten testamentarischen Funktionen der Tradition beschreibt sie als Auswählen, Benennen, Übergeben, Bewahren, Anzeigen der Schätze, Anzeigen des Wertvollen (vgl. Arendt 1994, 9). Insofern wird wieder, parallel zum Puffer- oder Schutzraum-Motiv, die vermittelnde Funktion hervorgehoben, die allerdings nicht in der bloßen Übergabe, sondern vor allem in der normativen Orientierung und Selektion gesehen wird. Verliert man Tradition, verliert man, so Arendt, „den Ariadne-Faden […], der uns durch die 182
Arendts weiter Gemeinsamkeitsbegriff findet darüber hinaus explizit Wiederaufnahme in Judith Butlers Idee der Kohabitation, also der Feststellung, dass Menschen sich die Mitlebenden (man muss mit Arendt ergänzen: auch die vorher Lebenden) nicht aussuchen können. Vgl. dazu Butler 2012, z. B. 699 f., 703.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
ungeheuren Reiche der Vergangenheit sicher geleitete, der sich aber auch als die Kette erweisen könnte, an die jede Generation neu gelegt wurde und durch die ihr die Vergangenheit in einem vorhinein vorgezeichneten Aspekt erschien.“ (Arendt 1994, 161) Als Faden, an dem man durch die Vergangenheit immer wieder zu sich – das heißt wohl: in die Gegenwart – findet, wird Tradition in ihrer Orientierungsleistung betont. Doch diese Orientierung ist nicht nur hilfreich, sondern verschafft dem Menschen auch etwas anderes, nämlich geschichtliche Reichhaltigkeit und Tiefe (vgl. Arendt 1994, 161). Man kann darin eine Parallele zu Rothacker sehen, indem Arendt wie dieser verdeutlicht, dass Tradition als hermeneutischer Vorgriff, als explikatorischer Aspekt erst überhaupt Sinn, Zusammenhang usw. in den historischen „Stoff“ bringt.183 Dabei ist Arendt aber keineswegs Radikalkonstruktivistin, sie behauptet nicht, dass Tradition ein beliebig herzustellender „Faden“ in der Geschichte sei. Vielmehr vertritt sie sogar die umgekehrte These, dass das Machen-Können – sie deutet sachlich, nicht begrifflich auf das Vico-Axiom – zum Niedergang und Verlust der Tradition in der Moderne geführt habe (vgl. Arendt 1994, 51). Nur deshalb kann vermutlich auch Tradition überhaupt herausgehobene Autorität zukommen, denn als dezidiert beliebig Herstellbares wäre das ausgeschlossen. Arendt versteht Tradition aber notwendig als autoritativ (vgl. Arendt 1994, 160 f.). Wesentliche Traditionsdenker in ihrem Sinne waren daher die Römer und die Romantiker,184 Letztere, weil sie Vergangenes als an sich normativ wertvoll erachteten, Erstere, weil diese, so Arendt, die Ersten waren, „denen das Faktum der Tradition als solches sich in das Bewußtsein drängte und die demzufolge Alter und Autorität bewußt identifizierten.“ (Arendt 1994, 34) Folgt man diesem Verständnis, wird Tradition somit zu einem selektiven, normativen Vergangenheitsbestand, der die immer wieder neu in die Welt tretenden Menschen orientiert, sie – mitunter autoritativ – führt und prägt, 183
Hermeneutisch unterkomplex, im Grunde sogar höchst fraglich, ist ihre Idee, der moderne, mit den Namen Kierkegaard, Marx und Nietzsche verbundene Traditionsbruch offeriere die „große Chance, auf die Vergangenheit mit einem von keiner Überlieferung getrübtem Blick zu schauen […].“ (Arendt 1994, 37 f.). Der Blick ohne Standpunkt ist eine hermeneutische Unmöglichkeit – jedenfalls für die Lebensformen, denen der Mensch bisher begegnete. Ursache für diesen falschen Gedanken bei Arendt scheint ein ihr nicht völlig klares Changieren zwischen einem konkret politisch und historisch verorteten Traditionsbegriff und einem anthropologischen zu sein (vgl. dazu z. B. Arendt 1994, 35, 38). Ihre Aussage lässt sich auf Ersteren beziehen (und in der Fortführung des Zitats spricht sie dann auch von Römern und Griechen als prägenden Blickpunkten), ist aber im Hinblick auf den Zweiten sehr problematisch. Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass Arendt in dem zitierten Text vor konkreten politischen Hintergründen philosophiert, insofern ist ihr die anthropologische Perspektive vermutlich zweitrangig. 184 Vgl. zur vor allem römischen Traditionsaffinität Arendt 1994, 187 ff.
3.8 Bundesdeutsche christliche Philosophie
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auf diese Weise zudem jedoch auch die Welt vor leichthin vorgenommenen Veränderungen schützt. Tradition darf dabei mit Arendt aber nicht als totalitär verstanden werden, sondern eben als puffernde Begegnungszone zwischen den Neuen und der bestehenden Welt, wobei beide zu ihrem Recht kommen sollen. Ein unterlassener Schutz der bestehenden Welt ist ebenso ethisch und eudaimonistisch zu kritisieren wie andererseits eine übermäßige Beschränkung der neuen Menschen in ihren Möglichkeiten. In diesem Sinne lässt sich Arendts Traditionsdenken vielleicht gut pointiert aus ihrem pädagogischen Leitbild herauslesen: […] [I]n der Erziehung entscheidet sich […], ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten. (Arendt 1994, 276)
3.8
Bundesdeutsche christliche Philosophie
Seit den 1950er Jahren entsteht im deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund einiger der schon vorgestellten Autoren, die freilich zum Teil auch wiederum von den so ausgelösten Entwicklungen selbst geprägt wurden, ein christlich inspiriertes Traditionsdenken. Wesentliche Figuren sind dabei Gerhard Krüger und Pieper.185 Ihr Rekurs auf Tradition erfolgt immer schon aus einer defensiven Position heraus, sie erleben ihre Gegenwart als traditionsfeindlich, wozu neben zunehmenden atheistischen Bewegungen sicher auch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und dessen Folgen beigetragen haben dürften. Wenn hier eine Einordnung der beiden Denker unter „bundesdeutsch“ und „christlich“ erfolgt, so erfordert das eine zweifache Legitimierung. „Bundesdeutsch“ soll anzeigen, dass 185
Mit einigen Abstrichen wäre vielleicht auch Specht als später Vertreter dieser Gruppe lesbar, denn immerhin verteidigt er die traditionsfreundliche Einstellung der christlichen Scholastik, wie erläutert, als sinnvoll (vgl. dazu erneut Specht 1972, 103 f.). Sein Traditionsdenken ist aber letztlich stark säkular orientiert (vgl. dazu etwa die völlig theologiefreie Bestimmung der Traditionen als „Bestände von theoretischen Annahmen und praktischen Regeln, die menschlichen Generationen von ihren Verbänden überliefert werden.“ (Specht 1992, 88)), so dass er nicht zur hier verfolgten Sache gehört. Da er zudem stark entlastungstheoretisch denkt (vgl. ebd., 90), ist er mindestens ebenso, wenn nicht noch mehr in den sachlich-gedanklichen Zusammenhang der Ritter-Schule zu stellen (vgl. Abschn. 3.10). Dass Pieper und Krüger ähnliche Ideen vertreten oder jedenfalls auf gemeinsamen Pfaden unterwegs sind, verdeutlicht die Übernahme eines Zitates von Krüger (vgl. Krüger 1948, 28) als Motto im Werk Piepers (vgl. Pieper 1970).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
beide vor dem – wie angedeutet – Hintergrund der Erfahrungen Zentraleuropas allgemein, Deutschlands im Speziellen situiert sind, und es soll darauf hinweisen, dass der Begriff der Tradition in dieser Zeit zunehmend politisch verortet wird, eine Entwicklung, die wohl bei Habermas ihren Höhepunkt findet. „Christlich“ wiederum will vor allem meinen, dass das Paradigma für Tradition das christliche Verständnis, wie es schon erläutert wurde, darstellt. Damit wird jedoch dezidiert nicht behauptet, dass Krüger und Pieper nur theologisch zu lesen seien oder ihre Argumente außerhalb des rationalen philosophischen Diskurses stünden. Vielmehr entwickeln sie ein philosophisch relevantes Traditionskonzept, welches sie am Musterfall des Christentums ablesen.186 Pieper hat in einer sehr klaren Analyse des Traditionsphänomens vor dem doppelten geschichtlichen wie theologischen Hintergrund ein Raster von wenigstens acht Merkmalen oder Elementen erstellt (vgl. dazu Pieper 1958, 13–20), welches unmittelbar Rückschlüsse auf sein Verständnis gestattet. So behauptet er, Tradition zeichne sich dadurch aus, dass mindestens zwei Subjekte beteiligt sind, ein Überliefertes vorhanden ist, die beiden Subjekte in keinem streng wechselseitigen, symmetrischen Verhältnis stehen, es eine zeitliche Aufeinanderfolge gibt, das Überlieferte sich durch das Kommen aus einem Anderswoher auszeichnet, eine Annahme seitens des Traditionsrezipienten erfolgt, das Überlieferte durch Vernunft oder Erfahrung uneinholbar ist und der tradierte Bestand unveränderlich bleibt. Tradition wird durch Pieper auf den Kern gebracht, dass „von Anfang an ausschließlich das Empfangene und also ein uranfänglich Empfangenes weitergegeben werde […].“ (Pieper 1958, 19) Ein bestimmter Bestand, auf dessen Gehalt gleich noch zu kommen ist, wird in einem nicht-egalitären Verhältnis aus einem unsituierten Früher durch einen Tradenten an einen Empfänger weitergegeben, 186
Dass dabei Pieper offensiver theologisch ableitet als Krüger, ist sicher zuzugestehen, aber dieser sagt selbst, dass „religiöse Grunderfahrung“ einen Ausweg aus der einseitig traditionszersetzenden Vernunft sei (vgl. Krüger 1951, 327), was ihn als im erläuterten Sinne „christlichen“ Philosophen ausweist. Auch die Bindung der „Tradition andauernden Menschseins“ an die „natürliche Offenbarung Gottes“ (Krüger 1948, 25) zeigt, dass man Pieper und Krüger heuristisch zusammenstellen kann. Während in der Sekundärliteratur Krüger praktisch keine Rolle spielt (erwähnt wird er jedoch – außer bei Nahodil – positiv von Pieper (vgl. Pieper 1958, 18)), wird Pieper als besonders zuspitzender Traditionsdenker immerhin gelegentlich verhandelt. Vgl. so z. B. bei Dittmann 2004, 56–60 und Wiedenhofer 1990, 646 f. Nahodil, der bekanntlich eine umfassende Belegsammlung vorgelegt hat, geht auf beide häufiger ein, allerdings ohne systematischen Mehrwert (vgl. Nahodil 1971, z. B. 22, 55, 72 f., 83, 96, 127) und sogar mit gelegentlichen Missverständnissen (vgl. ebd., 18, wo Krüger als „Ballast“-Denker unzutreffend eingeordnet wird, oder ebd., 79, wo Pieper ohne Kontextualisierung in einem soziologischen Referat auftaucht).
3.8 Bundesdeutsche christliche Philosophie
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damit dieser selbst den Prozess wiederholt. In diesem Sinne ist es wohl sprachlich nur konsequent, dass Pieper „Tradition“ und „Überlieferung“ für synonym nimmt (vgl. z. B. Pieper 1970, 29). „Überlieferung, Tradition also heißt nicht einfach hin: etwas aushändigen, sondern: etwas zuvor Eingehändigtes wiederum aushändigen.“ (Pieper 1980, 23) Auf diesen starken Beharrungsgedanken zielt Krüger nicht in gleicher Weise direkt ab, jedoch versteht er Tradition „als Wiederholung des Gleichen in […] [der] ganzen Zeit“ (Krüger 1951, 321),187 was der Tendenz nach in eine ähnliche Richtung weist. Die bei Pieper wie Krüger auffindbare Grundidee besteht darin, dass Tradition die unverändernde Weitergabe eines Bestandes ist, der von einem ahistorischen, unbestimmten Irgendwo, welches durch Gottesnähe gekennzeichnet ist 188 und somit gleichsam Offenbarungswert hat, auf das Heute überkommen ist und nun weiter zu bewahren ist. Die Nähe zur christlichen Vorstellung eines durch Offenbarung den Menschen überlassenen Geschenkes, das es zu erhalten und zu schützen gilt, liegt auf der Hand. Folglich spielen Nutzenerwägungen nur eine zweitrangige Rolle,189 denn die Tradition ist selbst schon gut und wichtig, nicht um eines anderen willen. Folgt man der so gelegten Spur, die gleichsam alle Tradenten in eine Kette bis zurück zu den Aposteln verwandelt, so ergeben sich daraus mehrere Nuancierungen, und zwar im Hinblick auf den Inhalt der Tradition, das Verhältnis zu ihr sowie das Verhältnis der Tradition zur Vernunft und zum Wissen. Alle drei Aspekte sollen im Folgenden verhandelt werden, denn gerade durch ihre pointierte Begriffsbildung bieten Krüger wie Pieper Einblicke in das Phänomen Tradition. Dem Inhalt nach, so Pieper, beziehen sich Traditionen mit ihrem spezifischen „Verbindlichkeitsanspruch […] nicht auf belanglose Inhalte […]. Es wäre dem Menschen als personalem Wesen einfach unzumutbar, ohne die Möglichkeit kritischer Nachprüfung sagen zu sollen: so ist es und nicht anders – beträfe nicht das Zu-Glaubende die Mitte der Welt und den Kern der eigenen Existenz.“ (Pieper
187
Andernorts spricht Krüger von der Tradition als dem „Prozeß […] [des] Dauerns, das Beharren […] [des] immer schon vollendeten Wesens […].“ (Krüger 1948, 14; vgl. dazu auch ebd., 22). Wenn man sich dieses Wesen als überzeitlich denkt, dann entsprich das in etwa Piepers These. 188 Echte Tradition im engsten Sinne genommen hat göttliche Autorität nach Pieper (vgl. Pieper 1970, 57). 189 Gleichwohl gibt es diese. Krüger verweist auf die Tradition als „Bürgschaft“, die Sicherheit und Orientierung im Angesicht individueller Unsicherheit und Begrenztheit garantiert (vgl. Krüger 1951, 321), und Pieper verweist zum Beispiel darauf, dass Traditionen gegen totalitäre und ideologische Zugriffe ein Widerstandsreservoir bilden (vgl. Pieper 1958, 51) oder die grundlegendsten Einheitsstifter zwischen Menschen sind (vgl. Ders. 1970, 107 f.).
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1970, 58)190 Traditionen betreffen solche Gehalte, die in das Wesen der Existenz zielen, nicht bloße Nebensächlichkeiten. Für eine Differenzierung zwischen diesen beiden Möglichkeiten bietet Pieper kein Kriterium, aber immerhin lässt sich sagen, dass er auf diese Weise Traditionen von Gewohnheiten oder Routinen abgrenzen kann, denen vermutlich die existentielle Schwere abgehen dürfte. Die Tradition, die dem inhaltlichen Kriterium genügt, bezeichnet Pieper als „heilige Überlieferung“ (Pieper 1970, 71),191 Krüger als „Urtradition“ (vgl. Krüger 1948, 25–28). Diese ist jeweils nur im Singular anzusprechen – damit folgen beide einer Spur, die die Traditionalisten um Guénon gelegt hatten.192 Daneben aber erkennen beide in Form von geschichtlichen oder weltlichen Traditionen193 auch solche an, die im Plural und mit vermindertem Belang auftreten können, freilich dann jedoch mit ebenso vermindertem Anspruch auf Verbindlichkeit (vgl. Pieper 1958, 27 f.). Solche weltlichen, pluralen Traditionen sind nicht bloß akzidentell, sondern für den Menschen notwendig, von „lebenswichtiger Bedeutung“ (Pieper 1970, 63),194 aber sie bleiben von letztlich untergeordnetem Rang, es gibt einen qualitativen Graben zwischen der singulären heiligen Tradition und den pluralen menschlichen.195 Die so herausgehobene heilige Überlieferung hat also einen ins Zentrum von Welt und Selbst führenden Gehalt, der aus göttlicher Offenbarung stammt. Das heißt aber dann auch, dass der Inhalt höchsten normativen Anspruch stellt 190
Diese Stelle steht in gewisser Spannung zu Pieper 1958, 13, wo das Überlieferte als prinzipiell jedem Bereich zugehörig gedacht wird, so kann es eben eine Erkenntnis, „aber auch eine Fertigkeit, eine Lebensregel, ein Brauch, ein Rechtssatz, ein Lied, ein Gebet, eine Institution“ sein. Abgesehen davon, dass eigentlich nicht die Fertigkeit, sondern nur die Anleitung zum Erwerb einer Fertigkeit tradiert werden kann, ist nicht gleich ersichtlich, ob in allen Fällen wirklich immer die zitierte Mitte der Welt oder der eigenen Existenz getroffen wird. Freilich ist das wohl nie ganz ausgeschlossen, so dass vielleicht kein echter Widerspruch besteht. 191 Vgl. auch Pieper 1958, 25. 192 „Heilig“ ist die Überlieferung aufgrund ihrer göttlichen Abkunft, wobei das dezidiert nicht christlich gemeint ist, denn Pieper sieht diese auch schon bei Platon (vgl. Pieper 1963b, 104 f.) gegeben, sie ist somit – wie bei Guénon – unabhängig von der jeweiligen theologischen Auslegung, sie liegt aller Theologie zugrunde. Ganz ähnlich, wenn auch säkularer formuliert, behauptet Krüger, die Urtradition liege aller Geschichte zugrunde (vgl. Krüger 1948, 26 f.). 193 Vgl. dazu beispielsweise Krüger 1948, 26 f. und Pieper 1970, 63. 194 Pieper nennt (Pieper 1970, 63 f.) als Beispiele das Grüßen auf der Straße, Vorstellung gegenüber einem Unbekannten, Danksagung, Entschuldigungs- und Anredeformen. 195 Vgl. dazu Pieper 1970, 71 und ähnlich, wenn auch mit anderer Terminologie, Krüger 1948, 26 f.
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und folglich nicht durch den – normativ niederen – Menschen verändert werden darf. Es kommt auf das Bewahren des Gehaltes an.196 Demnach wird, auf der Oberfläche, für ein statisches, rein auf unverändertes Bewahren plädierendes Traditionsverständnis optiert (vgl. Pieper 1970, 1). Doch Pieper glaubt, nicht derart verstanden werden zu müssen, denn er gibt zwar zu, dass es entscheidend sei, nichts dem Gehalt von sich aus hinzuzufügen,197 jedoch bedeute dies nicht Starrheit, sondern Dynamik: Wer etwas überliefern will, muß nicht von „Tradition“ reden, sondern er muß dafür sorgen, daß die zu überliefernden Inhalte, die „alten Wahrheiten“, wenn sie wirklich wahr sind, tatsächlich präsent gehalten werden – zum Beispiel durch eine lebendige Sprache, durch schöpferische Verjüngung und „Häutung“ sozusagen […]. […] [Es] zeigt […] sich […], wie wenig wirkliches Tradieren etwas rein Statisches ist und wie falsch es ist, den Begriff „Tradition“ zusammenzudenken mit Beharrung oder gar mit Stagnation. In Wahrheit ist der Vorgang der lebendigen Übermittlung eines traditum eine höchst dynamische Sache. (Pieper 1970, 31)198
Der eine, ewige Gehalt muss immer wieder auf die jeweilige Gegenwart und deren jeweilige Zukunft bezogen werden. Was ausgeschlossen werden soll, ist folglich nicht die hermeneutische Arbeit, Interpretation, Auslegung oder Anwendung, sondern intentionale Veränderung. Tradition ist ihrem Gehalt nach zu bewahren – das heißt, man füge nichts hinzu, gestatte aber am sicher und unverändert Überlieferten Aktualisierungsarbeit. Gemäß dem Gesagten ist einsichtig, dass mit Pieper und Krüger ein besonderer Fokus auf das Verhältnis des Einzelnen zur Tradition gelegt werden muss. Die heilige, unverändert zu bewahrende Überlieferung steht diesem als autoritativ und existentiell bedeutsam gegenüber. Daraus erhellt bereits, dass sie den Menschen nicht „kalt“ lassen kann. Es herrscht in mehrfacher Hinsicht ein asymmetrisches Verhältnis. Zwischen Einzelnen und Tradition gehe es nicht, wie Pieper verdeutlicht, um Dialog oder Diskussionen, sondern um ein Hören, Empfangen, Sich-sagen-Lassen.199 Der Einzelne ist der Empfangende, der weitergeben soll und muss, und darin besteht seine ganze Aufgabe, weshalb für Pieper die Kundgabe neuester Forschungsergebnisse durch einen Lehrer keine Form von Tradition 196
Hieraus legitimiert noch einmal die Sonderstellung Spechts im Vergleich zu Krüger und Pieper, da er Traditionen als „offene Systeme“ mit hoher inhaltlicher Flexibilität verstand (vgl. Specht 1992, 88). 197 Vgl. in diesem Sinne Pieper 1970, 39; Ders. 1958, 19 und Ders. 1963a, 22. 198 Für Pieper ist folglich Theologie nichts anderes als der fortwährende Aktualisierungsvorgang der heiligen Überlieferung (vgl. Pieper 1970, 75). 199 Vgl. dazu Pieper 1970, 22 f. und Ders. 1963a, 22.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
ist, denn dieser hat ja nicht hörend empfangen, was er nun weitergibt (vgl. Pieper 1970, 29). Der Überlieferungsakt ist „erst darin voll realisiert, daß der Letzte in der Reihe, die jeweils junge Generation, das tradendum wirklich akzeptiert und empfängt. Wenn das, aus welchen Gründen auch immer, nicht geschieht, dann hat eben, genaugenommen, Tradition gleichfalls überhaupt nicht stattgefunden.“ (Pieper 1970, 30)200 Diese Sentenz führt in das Herz des hier zu verhandelnden Modells. Es hat nämlich eine wesentliche Implikation, die gleichsam kontraintuitiv anmutet, aber nur folgerichtig ist. Wenn es stimmt, dass das Vorliegen von Tradition immer am erfolgreichen Tradieren durch die jeweils Letzten der Reihe hängt, dann kann man ausgehend von Pieper sagen, dass die Verantwortung und der Druck, die Tradition am Leben zu erhalten, mit vergrößerter Entfernung vom Offenbarungskontext gerade nicht ab-, sondern zunimmt (vgl. Pieper 1970, 43).201 Die Verantwortung, die der Einzelne hat, ist von seiner Stellung in der Kette bedingt, und je länger die Kette ist, desto größer somit die moralische Verantwortung. Zeitliche Entfernung erhöht den Druck der Tradition, mindert ihn gerade nicht, wie man mit historischem Blick vielleicht gewöhnt wäre zu sagen. Und noch ein Zweites lässt sich aus Piepers Aussage ableiten, nämlich die starken normativen Implikationen seines Konzeptes. Offensichtlich liegt doch ein begriffslogisches Problem vor. Es lässt sich nämlich immer nur gleichsam unter Vorbehalt von Tradition sprechen, diese kann durch eine Art retrospektiven negativen Regress jederzeit rückwirkend verloren werden. Wenn in einer bestimmten Epoche der Traditionsstrang abbricht, wird die von Pieper genannte Bedingung für das Vorliegen von Tradition ja nicht erfüllt, wie er selbst zugibt, folglich hat es auch in den vorausgehenden Zeiten diese Tradition gar nicht gegeben, denn ihr Bestehen wird immer an das letzte Glied gekoppelt. Das ist sicher ungewöhnlich und nur verständlich, weil Pieper auf diese Weise einen normativ herausragenden Begriff entwickeln kann, dessen Kern besagt, dass mit jeder Gegenwart die gesamte Vergangenheit, die gesamte Kette zur Disposition steht.202 200
Dazu vgl. auch Pieper 1958, 18. Krüger vertritt eher die Gegenthese, der zufolge mit zunehmender Entfernung ein steigender Druck des schöpferischen Denkens gegen die Tradition vorliegt (vgl. Krüger 1951, 323). Gleichwohl lassen sich beide Perspektiven vereinen, wenn man sich klarmacht, dass die steigende ethische Forderung (Pieper) die Voraussetzung ist für den steigenden reaktiven Befreiungsdruck des schöpferischen Denkens (Krüger). 202 Vielleicht hat Pieper das schon geschilderte jüdische Motiv des Rabbinertums vor Augen, nach dem, wie gesagt, jemand nur als Rabbi („Gelehrter“) gelten kann, wenn er Schüler hatte – also ein Tradieren stattfand. Gibt es keine Schüler (ergo keine Tradition), gibt es auch keinen Rabbi. Vgl. dazu erneut Stemberger 2011, 14. 201
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Durch Betonung des Empfangen- und Weitergeben-Müssens kommt das Ethos des Traditionsübernehmenden in Blick. Am Leitmotiv des Hörens wird schon ersichtlich, dass es um eine passiv verstandene Art des Hinnehmens geht. Die Beschreibungen, die Pieper gibt, sind semantisch auffällig. Neben der hörenden Verbundenheit mit den Alten (vgl. Pieper 1970, 57) spricht er davon, dass „eine besonders glückliche und vielleicht sehr seltene Verknüpfung von Besonnenheit und Mut“ (Pieper 1970, 73)203 vonnöten sei, eine „selbstlos[e] Bereitschaft, etwas zu empfangen, ohne es aus Eigenem entgelten zu können, und […] Demut, sich verschuldet zu wissen und zugleich außerstande [zu sein], die Schuld zu bezahlen.“ (Pieper 1970, 94)204 Rücknahme des Eigenen, insbesondere des eigenen Gestaltenwollens, zugunsten eines Übernehmens erfordert Besonnenheit205 und Selbstlosigkeit, während Mut und Demut zusammengehören, insofern es in der Moderne – wie Pieper weiß206 – sicher eine Kraftanstrengung erfordert, dem unmittelbaren Selbstgestaltungsimpuls gerade nicht nachzugeben, sondern sich besprechen zu lassen, die Höherwertigkeit von Fremdem sich einzugestehen, etwas Altem „Vertrauen“ und „Glauben“207 zu schenken. Darin ist er sich mit Krüger einig, der meint, in der Moderne sind Menschen „in einem solchen Maße Herren der Dinge, daß wir einen wesentlichen Anspruch von ihnen selbst, nach dem wir uns mit unserer Stellungnahme richten müßten, faktisch gar nicht mehr kennen.“ (Krüger 1948, 24) Eine Stimme, die als quasi-gottnahe autoritäre Stimme aus der Vergangenheit den Einzelnen anspricht und ihn verpflichtet, das Gehörte unverändert an den Nächsten weiterzugeben – das wird zum Leitmotiv des Traditionsdenkens bei Pieper und Krüger. Schuld lädt der Einzelne sich dabei insofern auf, als er der Tradition etwas verdankt. Pieper präzisiert die Leistung der Tradition nicht genau, versteht sie aber als Schatzhaus, als humanen „thesaurus“ (Pieper 1963a, 17).208
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Hervorh. S.K. Hervorh. S.K. 205 Besonnenheit hier verstanden im platonischen Sinn als Wissen um den eigenen rechten Platz im Gesamtkontext einer Relation. 206 Er meint, die ethosmäßigen Voraussetzungen für Tradition seien im modernen Bewusstsein in der Regel nicht mehr realisiert (vgl. Pieper 1970, 57). 207 Zu „Vertrauen“ und „Glauben“ als den Relationen des Einzelnen zur Tradition vgl. Pieper 1970, 35 und Ders. 1963a, 24. 208 Dieses Motiv findet sich auch bei Wjatscheslaw Iwanow (vgl. Iwanow 1954, 147), von dem ein Gedanke Piepers Werk das Motto liefert, so dass eine Verbindung denkbar ist. Die Tradition als Schatzhaus hat essayistisch-literarisch verwertet Hillard 1966, v. a. 17 f. 204
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Der zu dem genannten Modell „passende“ Mensch ist in der Moderne nicht mehr selbstverständlich (wenn er es denn je war), was am problematischen Verhältnis von Tradition und Vernunft liegt. Pieper ist keineswegs, wie eine verkürzte und voreilige Rezeption nahelegen könnte, Antirationalist. So gibt er zum Beispiel zu, dass Tradition kein Wissen sei (vgl. Pieper 1970, 32),209 und ebenso räumt er offen ein, dass da, „wo immer es sich um Wahrheiten handelt, die durch Erfahrung und Vernunft zu fassen sind, die Berufung auf Tradition einfach kein Argument ist […].“ (Pieper 1963a, 21)210 Es wird ein spezifischer Bereich für die heilige Tradition reserviert, der jedoch keine Überschneidung mit dem der Vernunft haben soll, weshalb Pieper davon spricht, dass das, was er unter Tradition versteht, besser als „Weisheitstradition“ (Pieper 1970, 55) betitelt wäre. Wenn eine solche Trennung aber bestehen soll, ist es klar, dass beiderseitige Grenzverletzungen Folgen haben müssen. Der Übertritt der Tradition in den Bereich der Vernunft ist ebensowenig legitim wie derjenige der Vernunft in den der Tradition – und speziell die letztere Übertretung thematisiert Pieper. Seiner Meinung nach ist der in seiner Gegenwart beobachtbare Traditionsverlust Folge des historischen Bewusstseins.211 Der Grund dafür, dass die historische Kritik, Verortung usw. diese Folge hat, liegt darin, dass damit eine bestimmte Vernunfttätigkeit – Explikation, Zurechnung usw. – auf die außervernünftige Traditionssphäre übertragen wird. Solch eine explizite (und explizierende) Zuwendung „tötet“ freilich die Tradition: Ein […] Hindernis, das aber durch die ältere Generation […] immer wieder aufgerichtet zu werden pflegt, ist gerade die Nennung des Namens „Tradition“. Etwas Hoffnungsloseres kann man kaum tun, als einem jungen Menschen, auf dessen kritische Frage, warum und auf Grund von was etwas Überkommenes auch weiterhin gelten solle, die Antwort zu geben: daß es nun einmal „Tradition“ sei. […] Tradition verschwinde, sobald man sie beim Namen nenne, gerade diese Ausdrücklichkeit mache sie zunichte. Das ist natürlich eine überspitzte Formulierung; aber sie deutet auf einen wichtigen Punkt. (Pieper 1963a, 25)212
209
Pieper spricht dort davon, dass Tradition keine Information sei. Hierin folgt ihm Krüger nicht, denn für diesen bedeutet der Verlust von Tradition die Gefahr des Wissensverlustes (vgl. Krüger 1951, 323). Allerdings hat Pieper die heilige Tradition vor Augen, während Krüger im angeführten Beitrag spezifisch auf eine ganz konkrete geschichtliche Tradition (die der Philosophie) blickt. 210 Dazu vgl. sachlich auch Pieper 1970, 44. 211 Vgl. dazu Pieper 1970, 32 f.; Ders. 1958, 43 und sachlich ähnlich Krüger 1951, 325 f. 212 Hervorh. S.K. Ähnlich meint Krüger, seit man konservativ von Tradition spreche, habe man sie schon nicht mehr (vgl. Krüger 1951, 325).
3.9 Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer im Widerstreit
167
Worauf Pieper hinweisen will, ist, dass Tradition in seinem Sinne nur dort bestehen kann, wo sie subthematisch bleibt und gleichsam nur als „gelebte“ vorkommt. Sobald sie angesprochen, nach ihren Gründen befragt und kritisiert wird, ist es bereits um sie geschehen. Dann endet eine Tradition – bzw. gemäß dem negativen Regress hat dann nie eine bestanden. Pieper reiht sich somit in die Reihe derer ein, die die Tradition gegen einen solchen explikativen, vernünftigen Zugriff dadurch zu verteidigen suchen, dass sie darauf verweisen, inwieweit die phänomenalen Eigenschaften der Tradition nicht mit den methodischen Vorentscheidungen des explizierenden Vernunftzugriffes übereinstimmen.213 Wer expliziert, hört schon nicht mehr hin. Wenn aber, wie Pieper meint, Hören die Einstellung ist, der erst Tradition im eigentlichen Sinne begegnen kann, verfehlt ein solcher Zugriff sie notwendig.
3.9
Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer im Widerstreit
Während das vom Paradigma des Christlichen herkommende Traditionsdenken in der Rezeption randständig blieb, gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen prominenten Verteidiger der Tradition gegen ihre Kritiker, Gadamer, der dafür nicht weniger prominent kritisiert wurde durch Habermas. Ihr Disput prägte im Wesentlichen den philosophischen Diskurs, wobei man allerdings einräumen muss, dass Tradition insgesamt wenig Beachtung fand als Thema und zudem mit dem Ansatz der Ritter-Schule, die übrigens wie Gadamer durch Habermas an diesem Punkt kritisiert wurde, immerhin einen zweiten auffälligen Schwerpunkt besaß. Im Kern besteht der an sich vielschichtige Einwand, den Habermas gegen Gadamers Ansatz erhebt, darin, dass, wenn man von einer an Tradition orientierten Perspektive her blickt, die Hermeneutik nicht bedenkt, dass ein kritisches, reflexives Verhältnis zu Traditionen kein unbefangenes Verhalten zu ihnen mehr gestattet. Eine Rückkehr in die unmittelbare Autorität der Tradition sei unter den Bedingung der Moderne unmöglich geworden (jedenfalls für ein sich als rational oder gar wissenschaftlich-methodisch vorgehend verstehendes Subjekt) (vgl. Habermas 1970, 282 f.).214 Wahrheit, so ließe sich mit Habermas sagen,
213
Autonomie der Vernunft und Anerkennung von Tradition schließen sich, wie Pieper sagt, aus (vgl. Pieper 1970, 44). 214 Auch Gadamer hat in dieser Frage einen zentralen Aspekt des Dissenses gesehen (vgl. dazu Gadamer 1993a, 244).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
gibt es nur durch Methode, das Unmethodische besitzt sie nicht, während Gadamer sie auch vormethodisch gewonnenen Einsichten und Praktiken in Form von Vorurteilen und Traditionen zuerkennen wollte.215 Was zunächst wie eine Wiederaufnahme des eher toposartigen Streits um das vor- und nachaufklärerische Verhältnis zur Tradition aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch lesbar als ein Streit darüber, was Tradition eigentlich ist und was sie macht.216 Gadamers Theorie ist in seinem epochalen Werk „Wahrheit und Methode“ entfaltet,217 welches sich einer philosophischen Hermeneutik widmet,218 die darauf abzielt, zu erklären, wie Verstehen möglich ist (vgl. Gadamer, WuM, XV). Diese Frage, die sehr an die klassische Perspektive Friedrich Asts erinnert, ist ungünstig formuliert, denn sie suggeriert, dass eine Methodenlehre folgt, die erläutert, wie man verstehen könne. Doch die eigentliche Blickrichtung von Gadamer ließe sich besser in der Formulierung fassen, dass er untersuchen will, wie es möglich ist, dass Menschen verstehen. Mit anderen Worten: Was muss eigentlich der Fall sein, um erklären zu können, dass Menschen sich de facto verstehen? Dazu passt die Feststellung, in „Wahrheit und Methode“ gehe es nicht um das, „was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht […].“ (Gadamer, WuM, XIV) Gadamer verweist auf etwas, das mit Menschen geschieht (und vielleicht immer schon geschehen ist), wenn sie verstehen oder verstanden werden. Dass je bereits etwas mit dem Menschen geschehen ist, ergibt sich aus dem trivialen Umstand der Geschichtlichkeit des humanen Daseins. Kein Mensch ist eine tabula rasa, sondern jeder ist historisch wie kulturell situiert. Verstehen wird vor diesem Hintergrund konzipiert als ein Hineinkommen in das je spezifisch historisch Überkommene: „Das Verstehen ist nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“ (Gadamer, WuM, 274 f.) Als Mensch ist 215
Er opponiert gegen einen falschen Objektivismus, den er vor allem auf naturwissenschaftlichem Feld beobachtet und der sich seiner Rückgebundenheit an Hermeneutik nicht gewahr ist (vgl. Gadamer 1993a, 241). 216 In Ansätzen vergleichbar blickt auf den Diskurs zwischen Habermas und Gadamer die Studie Hong 1995, z. B. 14 f., 26 f. Insgesamt ist Ki-Su Hongs Arbeit aber kaum mehr als eine – mitunter sprachlich holprige – Exegese, die zu dem für das Traditionsdenken relevanten Kern nicht wirklich vorstößt. 217 Freilich speist sich mancher Traditionsgedanke Gadamers aus der Phänomenologie. So hat Gadamer etwa den einzigen Lexikonartikel zur Tradition aus phänomenologischer Sicht verfasst (vgl. Gadamer 1962). Zu diesem Hintergrund vgl. die Hinweise in Kluck 2023, v. a. Abschn. 2.1, wo auch die Bezüge zu Husserl und Heidegger erläutert werden. 218 Gadamer fußt dabei stark auf Überlegungen Heideggers, was hier jedoch unthematisiert bleiben soll. Vgl. dazu aber die einführenden Hinweise bei Grondin 2003.
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der Mensch notwendig das Wesen mit Geschichtlichkeit, was wiederum bedeutet, dass er in eine bestimmte historische Situation geworfen ist, die ihm qua Sozialisation und Erziehung zuteil wird, in die er faktisch hineingerät. Gadamer gibt zu, dass es zum Wesen des Verstehens gehört, sich zum Überlieferten auch kritisch-prüfend zu verhalten (vgl. z. B. Gadamer, WuM, 250), jedoch bleibt dies – im Großen und Ganzen betrachtet – marginal im Vergleich zu dem, was ein Einzelner als Einzelner eben ungeprüft durch seine Zeit, seine Kultur, seine Familie usw. an- und aufnimmt.219 Weil auf diese Weise viel Ungeprüftes – und das heißt zunächst vor allem: nicht methodisch Geprüftes – zu unmittelbarer Wirkung gelangt, gibt es für jeden Menschen immer schon etwas, das seinem prüfenden Erkennen, seinem wissenschaftlichen Arbeiten vorausgeht. Zwei solcher vorgängigen Phänomene sind die von Gadamer besonders herausgestellten Vorurteile und eben Traditionen. Er sagt innerhalb seiner Theorie folgerichtig, dass „die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins [sind].“ (Gadamer, WuM, 261) Worauf es also ankommt, ist einzusehen, dass Verstehen im Grunde das Einrücken in den historisch überlieferten Verstehenszusammenhang ist. Nicht originäre neue Einsichten, sondern ein Hineinkommen in das immer bereits Vorgedachte ist der wesentliche Schritt, was Gadamer im Bild der Horizontverschmelzung fasst (vgl. Gadamer, WuM, 289 f., 375). Was aber sind Vorurteil und Tradition? Gadamer versteht Vorurteile in Anlehnung an einen alten juristischen Sprachgebrauch als „eine […] Vorentscheidung vor Fällung des eigentlichen Endurteils“, ein Urteil, welches „vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird.“ (Gadamer, WuM, 255) Es ist eine Entscheidung (in Bezug worauf auch immer), die zustande kommt unter der Bedingung mangelnden Wissens, mangelnder Information, mangelnder Zeit, und die im Modus des „Vorerst“ zu lesen ist. Gadamers Pointe ist nun aber, dass der Mensch immer und notwendig unter solchen Bedingungen 219
Es ist offensichtlich, dass Gadamer hier mindestens implizit auf bestimmte Überlegungen auch der philosophischen Anthropologie rekurriert. Dass er dies nicht offensichtlicher tut, hat vielleicht damit zu tun, dass sein Bezugspunkt Heidegger eine – sachlich nicht immer gut begründete – Ablehnung der philosophischen Anthropologie verfochten hat. Vgl. einige Hinweise zu Heideggers Abgrenzungsbestreben in dieser Sache bei Großheim 2003. Gegen Franck Delannoy (vgl. Delannoy 2011a, v. a. 333, 358 sowie Ders. 2011b) wäre zu sagen, dass Gadamer mindestens untergründig – vielleicht gerade in der heideggerschen Vermittlung – von Theoremen der philosophischen Anthropologie beeinflusst ist. Er hat zwar selbst keinerlei biologische Literatur rezipiert, aber die Parallelen, auf die Delannoy selbst hinweist, sind sehr offensichtlich. Und in jedem Fall ist festzuhalten, dass die implizite Anthropologie in Gadamers Werk, selbst wenn sie nicht naturwissenschaftlich-empirisch gestützt daherkommt, derjenigen etwa Plessners oder Rothackers sehr ähnelt.
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lebt, er ist das Wesen, das konstitutionell zu wenig Zeit und zu wenig Wissen hat. Es bedürfe folglich „einer grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffs des Vorurteils und einer Anerkennung dessen, daß es legitime Vorurteile gibt, wenn man der endlich-geschichtlichen Seinsweise des Menschen gerecht werden will.“ (Gadamer, WuM, 261)220 Und nicht nur rehabilitiert Gadamer auf diese Weise die Vorurteile als für den Menschen erforderlich, sondern darüber hinaus versucht er dafür zu argumentieren, dass sie nicht bloß ein eben notwendiges Übel, sondern – mindestens gelegentlich, vielleicht aber auch grundsätzlich – ein Gut sind. Ein vorurteilsloser Blick ist ein gestörter, ein sinnloser Blick, nur wer einen – durch Herkommen mitbestimmten – Horizont hat, sieht etwas221 : „Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist. […] Wer Horizont hat, weiß die Bedeutung aller Dinge innerhalb dieses Horizontes richtig einzuschätzen nach Nähe und Ferne, Größe und Kleinheit.“ (Gadamer, WuM, 286) Oder um diese wichtige Rolle der Vorurteile noch einmal anders zu verdeutlichen: In Wahrheit liegt es in der Geschichtlichkeit unserer Existenz, daß die Vorurteile im wörtlichen Sinne des Wortes die vorgängige Gerichtetheit all unseres ErfahrenKönnens ausmachen. […] Die hermeneutische Erfahrung ist nicht von der Art, daß etwas draußen ist und Einlaß begehrt: Wir sind vielmehr von etwas eingenommen und gerade durch das, was uns einnimmt, aufgeschlossen für Neues, Anderes, Wahres. (Gadamer 1993b, 224 f.)
Die Horizontgebundenheit qua Vorurteil, also durch geschichtlich auf den Einzelnen überkommene Ansichten, Entscheidungen usw., ist nicht – oder jedenfalls nicht primär – sichtverschließend, sondern entdeckend. Selbstverständlich behauptet Gadamer damit nicht, dass jedes historische Vorurteil zutreffend ist, denn das ist faktisch schlicht nicht der Fall und er weiß das. Aber gegen die im Zuge der Aufklärung aufgekommene Diskreditierung des Vorurteils will er 220
An Gadamers Bestreben, den Begriff „Vorurteil“ zu rehabilitieren, hat es immer wieder Kritik gegeben. Exemplarisch dafür vgl. Teichert 1991, 96, wo es heißt, Gadamer blende mit seiner Wortverwendung den Bedeutungswandel des Begriffs aus. Das ist nun aber in der Sache ganz falsch gedacht, denn Gadamer ist sich der pejorativen Konnotationen sowie der Relevanz des Begriffs in anderen Feldern (Politik, Psychologie, Soziologie) bewusst, will jedoch gerade deshalb den ursprünglich neutralen, quasi-anthropologischen Begriff wieder zu seinem Recht kommen lassen. Es ist gleichsam ein Rückeroberungsfeldzug, den er anstrebt, freilich, wie dann Teicherts Kritik implizit belegt, vergebens, insofern das Wort „Vorurteil“ in der Gegenwart unaufhebbar negativ konnotiert ist. 221 Dieses Modell hat große Ähnlichkeiten mit dem parallel entwickelten Denken Rothackers.
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auf dessen prinzipielle Neutralität hinweisen (vgl. Gadamer, WuM, 255); manche sind falsch, aber andere sind zutreffend und enthüllen Wahrheit.222 Man versteht Gadamers Ansatz nur, wenn man sich verdeutlicht, gegen welche Ansicht er eigentlich argumentiert. Sein „Gegner“ ist in diesem Fall die einseitige Vernunftauslegung, die sich in Folge der Aufklärung – mindestens als Topos im zuvor erläuterten Sinne – durchgesetzt hat.223 Diese konnte mit Vorurteilen gar nichts anfangen, denn ihr Credo sei gewesen, so Gadamer, dass nicht „Überlieferung, sondern die Vernunft […] die letzte Quelle aller Autorität dar[stellt]. Was geschrieben steht, braucht nicht wahr zu sein. Wir können es besser wissen.“ (Gadamer, WuM, 257) Gegen diese Perspektive betont Gadamer die Nicht-Autonomie der Vernunft, die selbst immer auf Gegebenheiten (und somit auf Situierung in der Überlieferung) angewiesen bleibt (vgl. Gadamer, WuM, 260),224 und die Nicht-Autonomie des Subjektes, denn: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben.“ (Gadamer, WuM, 261) Die einseitige Aufklärung kann nicht sehen, dass Befangenheit in Vorurteilen und Horizont ermöglichend ist, sie sieht darin nur noch eine „individuelle Schranke des Verstehens“ (Gadamer, WuM, 263). Im Hinblick auf Tradition argumentiert Gadamer vor demselben aufklärungskritischen Hintergrund. Auch sie war, wie gezeigt, diskreditiert worden, denn sie ist weder durch eine bestimmte Form von Rationalität zustande gekommen, noch vom Subjekt autonom übernommen. Gadamer spricht Traditionen als eine „Form der Autorität“ (Gadamer, WuM, 264) an. Autorität, sofern sie sich nicht rational ausweisen kann, gilt wie Vorurteile als problematisch, wenn nicht gar anstößig. Gegen diese Perspektive – und im expliziten Anschluss an die Romantik – meint Gadamer nun, dass „außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt.“
222
Wahrheit gibt es für Gadamer eben auch da, wo der „Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik“ überstiegen wird (vgl. Gadamer, WuM, XXV), wozu der Bereich der Vorurteile sicher gehört. 223 Albrecht Wellmer hat Gadamer an dieser Stelle – ihn zudem repräsentativ nehmend für eine deutsche Fehlentwicklung – kritisiert für sein unterkomplexes und letztlich falsches Bild von der Aufklärung und deren Bezug zur Tradition (vgl. dazu Wellmer 1969, v. a. 45– 58). Es scheint aber doch zumindest möglich, Gadamer insofern zu rehabilitieren, dass es den Topos genau so in der Rezeption gegeben hat, wie er ihn (womöglich fälschlich für die Primäransicht haltend) schildert. 224 Zu Gadamer als Denker der situierten Vernunft vgl. auch Delannoy 2011a, v. a. 334.
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(Gadamer, WuM, 265)225 Autorität – sie mag hier verstanden sein als Weisungsvermögen, also die Fähigkeit, Menschen anzuleiten zu etwas – ist für Gadamer selbst eine mögliche Wahrheitsquelle und sie kann nicht einfach, wie man ideologiekritisch oft unterstellt, beliebig erzeugt werden und verträgt auch nicht die explizite Berufung auf sie (vgl. Gadamer 1983, 12).226 Autorität wird nicht konstruiert, sondern, so jedenfalls Gadamers Perspektive, erwerbend verdient (vgl. Gadamer, WuM, 264). Tradition ist demnach das als Autorität daherkommende, durch „Überlieferung und Herkommen Geheiligte“ (Gadamer, WuM, 264),227 welches selbst wiederum gerade dadurch, dass es das Alte bewahrt, vernünftig ist: Sie [die Tradition; S.K.] ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist. Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft, freilich eine solche, die durch Unauffälligkeit gekennzeichnet ist. Darauf beruht es, daß die Neuerung, das Geplante, sich als die alleinige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Aber das ist ein Schein. (Gadamer, WuM, 266)
Der Sinn der so verstandenen, unbemerkt bewahrenden Tradition liegt letztlich in der Stiftung von „Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile.“ (Gadamer, WuM, 279) Prägung des Horizonts, Ausbildung von Gemeinsamkeit – beides stellt die Tradition sicher. Gadamer versteht Tradition dabei sowohl prozessual – als Bewahren – wie inhaltlich – als einen bestimmten Horizont (zum Beispiel als Tradition des Christentums) –, ohne an jeder Stelle beide Verwendungen scharf zu trennen. Das scheint aber kein echter Widerspruch wie bei anderen Autoren zu sein, sondern nur ein Wechsel zwischen konkreter und abstrakter Perspektive. Was den möglichen Gehalt der Tradition angeht, bleibt Gadamer auffällig vage, aber es steht zu vermuten, dass er aufgrund seines Sprachuniversalismus228 primär vom Wort her denkt. Er sagt explizit, dass „das Wesen der Überlieferung durch Sprachlichkeit charakterisiert ist“ (Gadamer, WuM, 367), was bedeutet, man muss wohl auch Tradition als eine solche sprachliche Prägung und Bewahrung denken. Ihr Inhalt steht aber jedenfalls in einem zwar spannungsreichen, aber nicht völlig exkludierenden Verhältnis zur 225
Hier wäre als eine Parallele, die Gadamer als großer Kenner der antiken Philosophie sicher bewusst war, die besondere Rolle des Vorbilds in der antiken Ethik anzuführen, die eine ähnliche Funktion innehatte. In der Gegenwart hat im Kontext des Traditionsdenkens Alasdair MacIntyre aus diesem Motiv Kapital zu schlagen versucht. Vgl. dazu Abschn. 3.15. 226 Vgl. auch Gadamer, WuM, 263. 227 Hervorh. S.K. 228 Gegen den freilich Habermas argumentierte, denn wenn Hermeneutik an Sprache gebunden ist, es aber Vorsprachliches gibt, wäre die Hermeneutik nicht als universell anzusehen. Vgl. in diesem Sinne Habermas 1971, 130 f.
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Vernunft. Einerseits nämlich gibt Gadamer zu, dass „Tradition […] kein Ausweis ist, jedenfalls nicht dort, wo Reflexion einen Ausweis verlangt.“ (Gadamer 1993a, 244)229 Sie genügt folglich nicht den Ansprüchen einer bestimmten Vernunft, ist aber, wie schon dargelegt, in anderer Hinsicht sehr wohl vernünftig. Wenn die Vernunft als „Ausweis“ bestimmte Gründe, rationale Legitimationen usw. fordert, kann die Tradition diese nicht geben. Jedoch meint Gadamer, dass die – unter anderem von Habermas – unterstellte Opposition von kritischer Aneignung und „naiv-natürlicher“ Tradition übertreibt (vgl. Gadamer 1993a, 240). Auch die Explikation der Hintergründe einer Tradition befreit nicht von der grundsätzlichen Verstricktheit in die Überlieferung, in die Geschichtlichkeit, in die – wie man sagen kann – existentielle Situation des Menschen. Gadamer gibt sogar zu, dass erst im Modus der Defizienz überhaupt eine bewusste Aneignung der Tradition beginnt (vgl. Gadamer, WuM, XIX), aber das ist für ihn vereinbar mit dem Drinstehen in Tradition, er sieht kein Problem der Wiedereinbindung, weil Tradition eben hermeneutisch unhintergehbar, nur partiell aufklärbar bleibt. Damit ist in Grundzügen verdeutlicht, worum es Gadamer ging. Gegen eine einseitige Vernunftidee der Aufklärung, die vor allem in den methodisch fixierten Naturwissenschaften dominant geworden war, verteidigt er Formen der Wahrheit, die sich aus der geschichtlichen Verfasstheit menschlicher Existenz notwendig ergeben. Diese sind zwar fehleranfällig,230 aber nicht per se falsch oder negativ 229
Die Stelle wird so fortgesetzt: „Aber das ist der Punkt: Wo verlangt sie ihn? Überall? Dem halte ich die Endlichkeit des menschlichen Daseins und die wesenhafte Partikularität der Reflexion entgegen.“ 230 Hier hat Sloterdijk im Rahmen seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen vehement Einspruch gegen Gadamer erhoben, insofern der die negativen Folgen falscher, illegitimer Vorurteile zugunsten der Vorteile der wahren unterrepräsentiert gelassen habe. Sloterdijk meint, „daß Mutter Geschichte ihre Kinder oft genug erbärmlich im Stich gelassen hat. […] Es mag schon sein, daß nicht wir die Tradition haben, sondern die Tradition uns, aber oft hat sie uns so, wie eine zerstörte Stadt ihre Einwohner hat oder wie der vitiöse Zirkel seine Spieler festhält, die in ihm dem Ruin entgegenrennen. […] In einer solchen Situation, wo man die Wüste erbt, erlangt das Vermögen, selber anzufangen, eine unerwartete neue Bedeutung. […] Was für geglückte Traditionen richtig sein kann – das Sichtragenlassen vom Strom guter Überlieferung –, ist für mißglückte Traditionen selbstmörderisch und falsch.“ (Sloterdijk 1988, 44). Wiewohl man Sloterdijk wohl empirisch zustimmen muss, kann man für Gadamer den Umstand ins Feld führen, dass der auch den Neuanfangenden für eine traditionsverhaftet bleibende Figur halten muss. Einer Kritik einzelner Tradition hat Gadamer zudem keineswegs den Riegel vorgeschoben, wie schon gezeigt. Interessant ist im Übrigen, dass Sloterdijk das Motiv des Neueinsetzens in jüngeren Publikationen inzwischen anders bewertet und eher im Sinne Gadamers zu argumentieren scheint. Vgl. dazu als Beleg v. a. Sloterdijk 2014, z. B. 26 f., insofern dort als Kennzeichen der „schrecklichen Kinder“ das Ausschlagen jedweden Erbes benannt wird.
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zu sehen, sondern sie haben ebenso erkenntnisermöglichende Funktion. Gadamer will auf die verborgenen Leistungen solcher fast selbstverständlichen und gerade darum unbemerkten historischen Vorbedingungen hinweisen, die in der Gegenwart seiner Meinung nach nur noch einseitig in ihren beschränkend-verbergenden Folgen in den Blick kommen. Dahinter steht freilich im Grunde auch der Vorwurf, die Gegenposition habe ein falsches Bild vom Menschen, denn wenn Gadamer recht hat mit seiner Annahme, dass Tradition und Vorurteil für den Menschen notwendig, sinnvoll und (in gewissem Sinne) unhintergehbar sind, dann kann mit dem Gegenbild des autonomen, schöpferischen Subjekts etwas nicht stimmen. Habermas hat auf Gadamers Modell reagiert und ihm, wie schon erwähnt, vorgeworfen, „romantisch“ zu denken, insofern er im Zeitalter kritischer Prüfung und Aneignung eine Rückkehr zu einem naiven, unkritischen Traditionsverhältnis erstrebe. Eigentlich geht es Habermas dabei, ohne dies im Folgenden in aller Breite auszuführen, darum, den Vorrang einer kritischen Kommunikationstheorie zu belegen, die noch vor der Hermeneutik, deren Universalitätsanspruch Gadamer vertreten hatte, zu bedenken wäre. Habermas versucht zu zeigen, dass es einen Standpunkt jenseits der Hermeneutik gibt (vgl. Habermas 1971, 129 ff.). Dabei kommt es vor allem darauf an, einzusehen, dass die Hermeneutik keine Möglichkeit habe, „Pseudokommunikation“ zu erkennen (vgl. Habermas 1971, 134, 152 f., 156). Eine solche liegt vor, wenn der Konsens, die durch Überlieferung und Hineinwachsen hergestellte Übereinstimmung, illegitim ist oder auf systematisch verzerrter Kommunikation beruht. Etwas konkreter formuliert: Insofern die Hermeneutik nur auf Sprache blickt, entgehen ihr andere Einflussfaktoren, die aber auf das sprachlich Geäußerte unmittelbar Einfluss haben, zum Beispiel Machtdifferenzen, soziale Hierarchien usw. Dies könne nur eine „kritisch über sich aufgeklärte Hermeneutik“, der zufolge „Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealen Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre […].“ (Habermas 1971, 154) Statt den Fokus auf das Hineingelangen in die Horizontverschmelzung zu legen, will Habermas gerade durch Kritik noch den historisch überkommenen Konsens auf seine Legitimität prüfen. Er glaubt, dies sei möglich durch das regulative Prinzip der idealen Diskurssituation (vgl. Habermas 1971, 155), die einen Maßstab ahistorischer, ideologiefreier Art liefere.231 231
Gadamer hat dies bestritten, er wies darauf hin, dass es eine Grenze der auflösenden, kritischen Vernunft geben müsse. Für ein Auf-Dauer-Stellen dieser Reflexionsweise „scheint sich die unausbleibliche Konsequenz zu ergeben, daß dem prinzipiell emanzipatorischen Bewußtsein die Auflösung alles Herrschaftszwangs vorschweben muß – und das hieße, daß die anarchistische Utopie ihr letztes Leitbild sein muß.“ (Gadamer 1993a, 250). Wenn es keinen Konsens mehr gibt – und Gadamer glaubt, dieser könne gerade nicht durch Vernunft
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Abseits von diesem sachlichen Disput zeigt sich aber im Hinblick auf Tradition ein zumindest im Detail überraschend anderes Bild, denn Habermas stimmt Gadamer im Grundsatz zu, dass es eine fundamentstiftende vorgängige Funktion der Tradition gibt.232 So zehre noch der Kapitalismus vom „Polster vorbürgerlicher Traditionen“, die „unter Bedingungen einer weitgehend rationalisierten Lebenswelt […] sich […] als Traditionsbestände nicht mehr regenerieren [lassen].“ (Habermas 1979, 23)233 Habermas betont, er sei sich mit Gadamer über die Rolle des tragenden Einverständnisses einig, jedoch „nicht […] darüber, wie dieser vorgängige Konsensus zu bestimmen ist.“ (Habermas 1971, 151) Welche Möglichkeiten des Konsenses Habermas kennt, ergibt sich aus seiner Reaktion auf das Verschwinden der Traditionen. Diese fallen einer übergriffigen Rationalisierung zum Opfer, die er als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1979, 28)234 beschreibt. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass vor allem ökonomische und bürokratische Kategorien- und Begriffssysteme (und damit mittelbar Welt- und Selbstdeutungen) in Sphären eindringen, die nach anderen immanenten Logiken funktionieren.235 Ist das geschehen, missverstehen sich diese Bereiche und leisten nicht mehr das, was sie eigentlich sollten oder jedenfalls können. Wie aber ist auf das Verschwinden der Traditionen angesichts der Kolonialisierung zu reagieren? Habermas kennt drei Wege der Reaktivierung von Traditionskräften, nämlich reaktionäre Abschirmung, dezisionistisches Gewissheitswollen und schließlich die öffentliche Beratung (vgl. Habermas 1991, 122 f.). Die Abschirmung, die er als Modell Gehlen zuschreibt, will Traditionen und hergestellt werden –, dann endet Habermas‘ Modell in Anarchie, da es nichts mehr gibt, was Autorität und somit Weisungs-, Regelungs- und Gemeinschaftsstiftungsleistung erbringen kann. 232 Auch im Hinblick auf den Begriff „Tradition“ bekundet er keine von Gadamer abweichende Tendenz, er bewertet in der Hauptsache den Umgang mit dem lebensweltlichen Phänomen anders. 233 Vgl. zur Einordnung des Zitats in den Kontext von Adornos Theorie Abschn. 3.4 der vorliegenden Arbeit. 234 Eine kritische Perspektive auf Habermas‘ Lebenswelt-Begriff entwickelt Ulf Matthiesen in einer Studie. Er versucht nachzuweisen, dass Habermas den epistemischen wie eudaimonistischen Gehalt, wie man sagen könnte, der Lebenswelt nicht gut zur Kenntnis nehmen kann. Vgl. dazu Matthiesen 1983, 25, 41, 76 und passim. In der Sache ist Matthiesen zuzustimmen, gleichwohl aber muss man vielleicht sagen, dass Habermas immerhin sich der Rolle der Lebenswelt jenseits transzendentalpragmatischer Überlegungen bewusst ist. Eine positive Lesart der konstitutiven Rolle der Lebenswelt bei Habermas bietet Dittmann 2004, 184–187. 235 Eine solche Verarmung der Lebenswelt sieht Habermas als Folge der Moderne. Vgl. dazu Habermas 1990a, 40.
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Institutionen von der Begründungs- und Legitimierungsanforderung befreien. Das wäre eine Rückkehr in vorkritische Naivität. Der Dezisionismus – nicht namentlich zugeordnet, aber neben Carl Schmitts Theorie wäre auch womöglich an das schon erläuterte Modell des Sprungs bei Kierkegaards zu denken – wiederum kann nicht leisten, was er vorgibt, denn der Wille, alle (Selbst-)Zweifel zu stoppen, alle Kritik verstummen zu lassen, bleibt angewiesen auf ein passives Moment des Überzeugt-Werdens, das unverfügbar ist. Somit verweist Habermas auf die Idee der öffentlichen Beratung,236 in der sich ein Kollektiv bzw. dessen Mitglieder vertrauensvoll zu einer öffentlichen Beratung zusammenfinden, um sich einzig durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments über ihre gemeinsame Lebensform und ihre Identität zu verständigen. In solchen […] ethisch-politischen Diskursen können sie sich darüber klar werden, wer sie als Angehörige einer Familie, als Bewohner einer Region oder Bürger eines Staates sind und sein wollen. (Habermas 1991, 123)
Statt des Eintretens in den Horizont, der immer geschichtlich bedingt ist und nur peu à peu kritisch thematisch werden kann, entwickelt Habermas die – mindestens regulative – Idee einer kommunikativ-expliziten Einigung auf das, was in einem Kollektiv als leitend gelten soll. Auf diese Weise kommen Traditionen wieder zu ihrer Macht, aber sie sind dann keine Traditionen mehr, sondern rationale Einigungsprodukte. Habermas ist insofern konsequent, als er ja die Wiederbelebung der Tradition als Tradition für unmöglich erklärt hatte. Und doch bleibt unklar, wie genau auf diese Weise der lebensweltliche Verlust bekämpft werden soll, denn das Moment des Unverfügbaren spielt doch auch für die Beratungen in der Öffentlichkeit eine Rolle. Man darf sich die Beratung nicht als ins Kollektive verschobenen Dezisionismus vorstellen, sondern noch unterhalb der Beratungen verläuft ein Konsens: Freilich wird auch eine […] prozeduralisierte „Volkssouveränität“ nicht ohne die Rückendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gewöhnten Bevölkerung operieren können; keine vernünftige politische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt. (Habermas 1990b, 208)
236
Es sei darauf hingewiesen, dass Habermas an der angeführten Stelle sich mit der Theorie Bernard Williams‘ auseinandersetzt, aber im Wesentlichen dürfte hier Übereinstimmung bestehen.
3.10 Traditionskompensationsdenken in der Ritter-Schule
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Worauf Habermas hier hinweist, und man möchte sagen: fast ein wenig überraschend hinweist, ist die Rolle der durch Tradition vermittelten Aspekte als Grundlage für den öffentlichen Entscheidungsfindungsprozess.237 Der an dieser Stelle verwendete Traditionsbegriff ist neutral und funktional zu lesen und in dieser Hinsicht nähert er sich demjenigen Gadamers an.238 Auch der Umstand, dass ein freies, selbstschöpferisches Subjekt kein angemessenes Verhältnisses zu Traditionen finden kann und deshalb defizitär bleibt (vgl. Habermas 1990b, 212), sowie die Beobachtung, dass man Traditionen nicht dadurch wiederbeleben kann, dass man auf ihren Nutzen hinweist (vgl. Habermas 1990c, 102), sind Habermas nicht weniger klar als Gadamer. Und doch bleibt ein wesentlicher Dissens, denn die Konsensfindung qua Tradition kann für den einen nur in Form des primären (und immer schon geschehenen) Hineingeratens und bloß ebenso nachträglicher wie partieller Kritik erfolgen, während der andere für eine der Idee nach streng rationale und möglichst freie Deliberation optiert,239 wobei unklar bleibt, ob die so gewonnenen Ergebnisse eigentlich funktional wirkliche Äquivalente für Traditionen liefern können.
3.10
Traditionskompensationsdenken in der Ritter-Schule
Habermas hat aber nicht nur, wie dargelegt, mit Gadamer über Wesen und Funktion der Traditionen einen Disput geführt, sondern nicht minder intensiv mit der Schule um Joachim Ritter, in der Hauptsache Marquard und Hermann Lübbe. Diese hielt er für „Neokonservative“, was vor allem meint, dass sie die Moderne 237
Bourdieu hat – vielleicht gegen Habermas – auf die Vorgängigkeit des Habitus vor der öffentlichen Deliberation, den Praktiken der Abstimmung, hingewiesen (vgl. dazu Bourdieu 2015, 111). Wenn man Tradition als Habitus liest, wäre die zitierte Stelle eine Möglichkeit, Habermas hier zu rehabilitieren. 238 Daneben gibt es aber auch Stellen, an denen ein pejorativ-negativer Gebrauch dominiert. Vgl. dazu einige Hinweise bei Matthiesen 1983, 36 f., der zeigt, dass Habermas im Anschluss an Weber das Gewohnte auch als „dumpf“ versteht. 239 Um es in Habermas eigenen Worten zu sagen: „[…] [I]ndem die Reflexion jenen Weg der Autorität erinnert, auf dem die Sprachspielgrammatiken als Regeln der Weltauffassung und des Handelns dogmatisch eingeübt wurden, kann der Autorität das, was an ihr bloße Herrschaft war, abgestreift und in den gewaltlosen Zwang von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst werden.“ (Habermas 1970, 285). Wenn man Autorität mit Gadamer als Form der Tradition ansieht (und Habermas tut dies), dann soll sich Tradition, befreit von sachfremden Machtinteressen, rational etablieren können. Aber es bleibt zumindest fraglich, ob damit dem, was Tradition als Tradition ist, wirklich ein lebensweltlich tragfähiges Äquivalent geliefert ist.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
nur kompromisshaft haben akzeptieren können, insofern sie die gesellschaftlichen, nicht aber die kulturellen Bedingungen positiv aufnahmen. Es bleibt, so Habermas‘ Lesart des deutschen Neokonservatismus, (mindestens) ein Rest Anti-Liberalismus (vgl. Habermas 1990c, 86–91).240 Besonders kritisch hervorgehoben wird, dass die Kultur als das Ökonomie- und Naturwissenschaftsferne in der Theorie gleichsam stillgestellt oder gar restaurativ gewendet scheint: Theoretiker wie Ritter, Forsthoff und Gehlen hatten sich gerade auf der Basis einer stillgestellten kulturellen Moderne mit der gesellschaftlichen Moderne versöhnt. […] Nach der Aufklärung sollen sich wissenschaftliche Erkenntnisse nur noch für die ökonomische und die administrative Planung gebrauchen lassen. Handlungsorientierende Kraft wird allein historischen Wissensformen zugestanden, die mit erzählerischen Mitteln Traditionen vergegenwärtigen und Kontinuitäten sichern. (Habermas 1990c, 91, 95)
Habermas tritt für die kulturelle Moderne ein, die gegen restaurative oder konservative Orientierungen am Vergangenen (oder auch nur am Bestehenden) in ihrem Recht auf Neuschöpfung, Kreativität usw. zu verteidigen sei. Er sieht hinter dem Rückgriff auf Traditionen im Umfeld der Ritter-Schule einen Angriff auf die Errungenschaften der Aufklärung, insofern Schutzreservate im kulturellen Bereich geschaffen würden, in denen bestimmte rationale und kritische Verfahren illegitim erscheinen. Eine solche Schonung hatte sich schon im Rahmen der drei Möglichkeiten der Traditionsreaktivierung als problematisch erwiesen.241 Wieder also zeigt sich Habermas als Verteidiger von Reflexion und Kritik – letztlich den Errungenschaften der Aufklärung –, wobei aber im Unterschied zum Dissens mit 240
Neben Ritter (und seiner Schule) und Gehlen gilt als dritte Figur dieser Strömung Schmitt. Habermas glaubte, wie er Ende der 1970er Jahre schrieb, es gebe seit einem halben Jahrzehnt einen militanten Angriff auf die Errungenschaften der linken Politik und Kultur durch eine Neue Rechte (vgl. Habermas 1979, 8), in deren Kontext er auch die Ritter-Schule zu stellen scheint bzw. vor deren Hintergrund er sie jedenfalls liest. Dass die Ritter-Schüler sich selbst als Verfassungs-Patrioten und Verteidiger des politisch in Deutschland Erreichten verstanden, übergeht Habermas. Vgl. dazu die Analyse in Hacke 2006, z. B. 13 und vor allem ebd., 22, an welcher Stelle Hacke verdeutlicht, dass die Ritter-Schule nicht anti-liberal eingestellt sei, sondern eine liberale Umdeutung des deutschen Anti-Liberalismus vornehme. 241 Hinter der Schonungsfeindlichkeit Habermas‘ – die Matthiesen aber als ambivalent kennzeichnet, denn auch Habermas weiß um die Relevanz einer funktionierenden, einbettenden Lebenswelt (vgl. Matthiesen 1983, 168) – steht der Vorwurf, eine Hegung der Kultur verdecke die wahren Problemen und Krisenherde, die gerade im Bereich von Ökonomie und Administration lägen (vgl. Habermas 1990c, 102), die Neokonservativen würden so zur Bewahrung der problematischen Aspekte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gerade als Quietiv beitragen.
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Gadamer verstärkt eine politische Konnotation Einzug hält. Tradition wird sofort mit Konservatismus und dem politisch rechten Spektrum identifiziert. Das ist insofern frappierend, als ja Habermas selbst um die politische Neutralität weiß, spricht er doch davon, dass er und seine Mitautoren an der Analyse der geistigen Situation der Zeit „für jene Traditionen einstehen, gegen die 1933 ein deutsches Regime angetreten ist.“ (Habermas 1979, 8) Warum dann der massive – oft mit impliziten Wertungen und persönlichen Angriffen einhergehende – Widerspruch gegen vor allem Marquard und Lübbe? Welche sachliche Differenz speist den Disput?242 Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, in Grundzügen das Theoriegebäude der Ritter-Schule nachzuzeichnen. Dass es einen solchen sachlichen Zusammenhang gibt – insbesondere zwischen Lübbe und Marquard –, stellt dabei eine heuristische Hypothese dar, die nicht weiter begründet wird, sich aber gerade im Hinblick auf Tradition als evident erweist.243 Ausgangspunkt der Arbeiten von Lübbe und Marquard ist eine ganz spezifische Zeitdiagnose, wonach es in der Gegenwart eine zunehmende Beschleunigung, einen Traditionsabbau und ein Anwachsen des Bereichs des Machbaren (oder kritisch: des Zu-Machenden) gibt.244 Ursächlich dafür sind moderne Phänomene wie Vernunftgebrauch, Ökonomisierung oder Versachlichung. Angesichts dieser Entwicklung beklagt prominent Lübbe die insgesamt ungünstige Gewinn-Verlust-Bilanz, hält es eher mit einer „Kultur der Trauer über schätzenswerte Unwiderbringlichkeiten“ (Lübbe
242
Die persönlichen Verwerfungen sowie problematischen Argumente ad hominem werden hier nicht thematisiert. Es ist aber sicher festzuhalten, dass Habermas seine Sachargumente von Anfang an politisch eingefärbt vorträgt, was dem rationalen Austausch wenig förderlich gewesen sein dürfte. 243 Zur Legitimität der Hypothese vgl. auch Hacke 2006, 14 f. Dort werden die entscheidenden „Glaubenssätze“ der Ritter-Schule verhandelt, wobei „Tradition […] versus idealisierte Vernunft“ ebenso als gemeinsame Ansicht benannt wird wie „Fortschritt verlangt nach Kompensation“. Dass die Ritter-Schüler Lübbe und Marquard gerade im Hinblick auf das Traditionsdenken eng zusammenhängen, behauptet implizit auch Assmann 2013, 210–238, wo beide im Rahmen einer Perspektive zusammengedacht werden. 244 Zu dieser Zeitdiagnose vgl. z. B. Marquard 1977, 7; Ders. 2008, 27; Lübbe 1981, 9 f. und Ders. 1998, 264. Die aktuell prominenteste Beschleunigungsanalyse rekurriert wohl daher auch auf (immerhin) Lübbe (Marquard kommt nicht vor), es bestehen sachlich viele Gemeinsamkeiten (vgl. Rosa 2005, z. B. 131 f.). Sogar die Tradition als Kompensationsmechanismus taucht bei Rosa in gewisser Weise auf, denn wenn er – ganz wie die Ritter-Schule – den Verlust beklagt, denn das Omnipotent-Werden des selbstgestaltenden Menschen bewirkt hat (vgl. Rosa 2019, 133), sucht er nicht-gemachte, unverfügbare Antwortbeziehungen mit oder zu etwas, die wieder Tiefe und Reichhaltigkeit stiften. Traditionen sind für Lübbe und Marquard genau so etwas.
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1981, 67).245 Die sich beschleunigende Moderne führt zum Verlust von Traditionen im Interesse des Fokus auf Autonomie und Selbstgestaltung. Folgt man dieser Diagnose, wird das Problem der Moderne nicht mehr darin zu sehen sein, was den Menschen noch belastet und beschränkt (also klassischerweise toposgemäß die Tradition), sondern in dem, was in seinem Fehlen und seiner Unwiderbringlichkeit zur Belastung wird (für Lübbe und Marquard gerade die richtig verstandene Tradition): „Nicht ein Ballast residualer Traditionen drückt uns, vielmehr unsere Unfähigkeit, unter beschleunigt sich verändernden Lebensverhältnissen entlastende Traditionen überhaupt ausbilden zu können.“ (Lübbe 1981, 14)246 Folglich sind nicht „für den Fortschritt […] Kräfte zu mobilisieren, sondern für die Sicherstellung, ja Konservierung seiner durch ihn selbst bedrohten Bedingungen.“ (Lübbe 1975, 55) Der zunehmende Abbau der Traditionen247 und anderer Systeme führt in eine problematische Situation, da einige der Leistungen, die bisher von solchen Lebensweltentitäten übernommen wurden, nicht ersetzt werden können. Problematisch ist diese Entwicklung aber nicht nur, weil sie entsprechende lebensweltliche Folgen zeitigt, sondern gerade auch wegen falscher Annahmen über den Menschen.248 Ein Mensch, der von allem Überkommenen Abstand nimmt und einen neuen Anfang setzen will, der alles selbst und sicher schaffen möchte, ist kein Mensch mehr. Für Marquard ist ein Mensch immer ein „Zoon hypoleptikon“ (Marquard 2008, 68), also ein Lebewesen, dass an Vorhergehendes anknüpfen muss, oder, wie er auch sagt, ein „Interim“: „Kein Mensch ist der absolute Anfang: jeder lebt mit unverfügbaren Vorgaben. Wer nach dem Anfang fragt, will der Anfang sein; und wer der Anfang sein will, will kein Mensch sein, sondern das Absolute.“ (Marquard 1977, 14 f.) Warum kann der Mensch kein absoluter Anfang sein? Anders als Rothacker oder Gadamer argumentieren die Ritter-Schüler nicht primär hermeneutisch, indem sie auf die aufschließende 245
Ähnlich auch Lübbe 1978, 155, wo eine „Kultur der Trauer über die Verluste an unwiderbringlich Gutem, die der Fortschritt kostet“, angemahnt wird. 246 Ganz ähnlich vgl. auch Lübbe 1981, 37 und Ders. 1978, 134. 247 Es sei darauf hingewiesen, dass zumindest Marquard meint, mit der Beschleunigung gehe parallel auch eine Erhöhung der Traditionsreaktivierungschancen einher (vgl. Marquard 2008, 69). Fraglich ist allerdings, ob das so reaktivierte Alte als Altes reaktiviert wird oder schon bewusst als bloßes Mittel zur Modernekomplementierung. Zuletzt hat eine Reaktivierung von Traditionen im Einklang mit der Moderne für möglich erachtet Gross 1992, 6. 248 Es war schon gesagt worden, dass die Ritter-Schüler auf gewisse anthropologische Prämissen rekurrieren, die aus dem Umfeld der philosophischen Anthropologie stammen (und insofern rückt Habermas sie sachlich zutreffend in die Nähe Gehlens). Vgl. dazu z. B. Marquard 2008, 64 f.
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Funktion der Situierung hinweisen, sondern skeptisch, indem sie die Überlastung des Menschen durch die mit dem Anfangen gestellte Aufgabe hervorheben. Der Mensch ist schlicht aufgrund seiner Lebenslänge (und weiterer Eigenarten) gar nicht in der Lage, tabula rasa zu machen und einen neuen Anfang zu stiften: […] [F]ür absolute Orientierungen (für die absolute richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht) leben wir nicht lange genug: unser Tod ist stets schneller als diese absolute Orientierung. Darum bleiben wir unvermeidlich überwiegend […] das, was wir schon waren: also unsere Vergangenheit, zu der das Übliche gehört, das, was gilt, weil es schon galt. Unser Leben ist zu kurz, um uns aus dem Üblichen – den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen – ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen. (Marquard 2008, 8)249
Der Mensch ist somit, durch die Brille Marquards gesehen, mehr das durch das Übliche und Traditionelle bestimmte Wesen als das sich selbst autonom setzende. Wieder wird, wie schon bei Herder oder Gehlen, ein Menschenbild mit Traditionsanerkennung verflochten, welches auf die Beschränkungen hinweist und das Hinnehmen, Übernehmen, Einwachsen als positive oder jedenfalls sinnvolle Leistung betont. Vor dem Hintergrund der beiden Überlegungen – zeitdiagnostisch und anthropologisch – kommen die Traditionen für die Ritter-Schule in den Blick. Sie erweisen sich als Kompensationen für die Folgen hochdynamischer Kulturen: Dynamische Kulturen gefährden sich selbst durch die komplementär zu ihrer Dynamik hohe Traditionsveraltensgeschwindigkeit, und um mit der Herausforderung dieser Veraltensgeschwindigkeit von Traditionen fertig zu werden, werden die anteilmäßig gewiß rückläufigen traditionalen Bestände um so wichtiger, deren Geltung Konstanzen aufweist. (Lübbe 1998, 288)250
Wenn es stimmt, dass die Moderne Traditionen abbaut, diese aber wichtige und womöglich unersetzliche Funktionen für das Individuum wie die Gesellschaft innehaben, dann wird ihr Bewahren gerade als Therapie der Fehlentwicklungen oder wenigstens als Gegengewicht zu diesen zentral. Traditionen sind, wie Marquard es nennt, „Usancen“, also angewöhnte Alltäglichkeiten, wobei diese Üblichkeiten als unvermeidlich hingenommen werden (vgl. Marquard 2008, 249
Zum Motiv der Angewiesenheit auf das Übliche und Nicht-Absolute vor dem Hintergrund humaner Endlichkeit vgl. Marquard 2008, 67 und Ders. 1987, 344. 250 Der schon angesprochene Specht gehört in diesem Sinne ebenfalls zu den Kompensationstheoretikern, denn er liest Traditionen wie sie. Vgl. dazu Specht 1992, 90.
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7). Solche Usancen regulieren das Leben und sie tun dies um so auffälliger, je dynamischer die Umstände sind: „[…] je weniger Kontinuität durch Usancen, desto mehr Flucht in die Illusion. Ihr gegenüber haben Usancen, d. h. Traditionen, Desillusionierungswert: sie sind Ernüchterungsgrößen.“ (Marquard 2008, 95) Orientierung im Hier und Jetzt, nicht Abkehr von diesem, sondern Zuwendung – das sind die Leistungen, um die es geht. Dabei versichern die „geschichtlich wandlungsträgen Verfassungen“, die Marquard gegen einen „Beschleunigungskonformismus“ anbringt, das Menschliche. Es gibt eine „humane Bonität des geschichtlich Wandlungsträgen“ (Marquard 2008, 64 f.). Menschlichkeit wird häufiger durch Wandlungsträgheit als durch Vorlaufen in die Veränderung bewahrt, wofür vermutlich die Erfahrungen aus der europäischen Geschichte seit dem ausgehenden Mittelalter Anhalt bieten können. Traditionen werden, so gesehen, zu Sicherungsinstanzen der Menschlichkeit. In diesem theoretischen Kontext attackieren die Ritter-Schüler die Traditionsfeinde interessanterweise gerade mit einem ideologiekritischen Argument. Oft wird ja – so bei Habermas, aber auch Marx – behauptet, Tradition verdecke und stütze somit illegitime Herrschaftsstrukturen, was bedeutet, sie steht der politischen Unterdrückung hilfreich zur Seite. Lübbe jedoch weist darauf hin, dass man Traditionen vielmehr auch gerade als – ideologiekritisches – Widerstandsreservoir betrachten könne: Vollendete Emanzipation aus allen Herkunftsgeschichten macht nicht kritisch, sondern im Gegenteil zeitgeistkonform. Nicht im Grad unserer jeweiligen Emanzipiertheit sind wir kritisch und im Extremfall zum Widerstand totalitärer Zustände befähigt. Was uns zu solchem Widerstand befähigt, sind vielmehr Herkunftsprägungen, die sich kritisch vielleicht auf lange Sicht auflösen, aber niemals akut, wenn es darauf ankommt, herstellen lassen. (Lübbe 1981, 21)251
Wer in Traditionen verwurzelt ist qua Herkommen, der wird für Manipulationen in einem pluralistischen gesellschaftlichen Kontext gerade weniger anfällig, wohingegen der Traditionslose gar kein Fundament hat, auf das er sich zurückziehen könnte, um dem auf ihn Anstürmenden evaluierend zu begegnen. Aufgrund der so in den Blick gekommenen Leistungen der Tradition – Kompensation, Orientierung,252 Alternativenreservoir – wird verständlich, warum es innerhalb der 251
Vgl. auch dazu Specht, der ähnlich denkt, insofern „gerade Abwendung von der Tradition […] gewöhnlich die Kritiklosigkeit [verursacht]“, wohingegen Traditionen selbst als „Arsenal von Alternativen“ totalitären ideologischen Zugriffen zuwiderlaufen (Specht 1972, 106 f.). 252 Teichert weist darauf hin, dass hier ein wesentlicher Unterschied zwischen Gadamer und der Ritter-Schule besteht, insofern dieser Tradition als auf die Gegenwart und Zukunft hin
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Ritter-Schule als ausgemacht galt, dass nicht die Veränderung und Erneuerung von Hause aus Zustimmung verdienen, sondern – gegen den seit der Aufklärung dominanten Vorrang des revolutionären Blicks – Bewahrung als das „Normalnull“ zu gelten habe, die Beweislast nicht bei denen liege, die behalten, sondern bei denen, die verändern wollen.253 Auffällig an Lübbes und Marquards Umgang mit Traditionen ist, wie sich schon implizit gezeigt hat, dass sie diese primär funktionalistisch betrachten. Es gibt eigentlich keine echte Bestimmung des Begriffs, sondern dieser wird über die unterstellten oder beobachteten Wirkungen umrissen. Lübbe betont dies auch selbst (vgl. Lübbe 1975, 38), weshalb seine Erläuterung von Traditionen explizit so gebaut ist: „Traditionen sind orientierungssichernde, handlungs- und verhaltensleitende kulturelle Selbstverständlichkeiten von generationenübergreifender Geltung.“ (Lübbe 1981, 14)254 Was genau darunter fallen soll, wird nicht deutlich diskutiert, aber es steht zu vermuten, dass der Begriff sehr weit gefasst ist und Rituale nicht weniger meinen muss als Normen, Werte, Praktiken oder Theorien. Leitend bleiben immer die Funktionen, die Traditionen erfüllen müssen, um als solche gelten zu können. Vor diesem Hintergrund wird die mögliche Neustiftung von Traditionen – wie schwer das auch unter den Gegebenheiten der Moderne sein mag – verständlich, denn sobald ein funktionales Äquivalent vorliegt, muss es als Tradition angesprochen werden. Überhaupt hat Marquard zum Beispiel ganz dezidiert festgehalten, dass man sich Traditionen nicht zu starr denken darf, denn „Üblichkeiten sind durchaus änderbar, reformierbar“, es gilt nur: „stets müssen mehr Üblichkeiten aufrechterhalten werden als verändert, sonst ruiniert man unser Leben […].“ (Marquard 2008, 125) Die Veränderbarkeit ist aber wiederum nicht nur durch die grundlegende Lebenserhaltungspflicht begrenzt, sondern auch dadurch, dass Traditionen etwas Unverfügbares anhaftet, denn sie sind Schicksalszufälliges. Anders als das Beliebigkeitszufällige ist dieses zentrierten Orientierungsprozess verstand, während diese allein in der Kompensation die maßgebliche Wirkung erkannte. Vgl. dazu Teichert 1991, 105 f. 253 Vgl. zum Motiv der Beweislastumkehr Marquard 2008, 88, 125 sowie Lübbe 1978, 156 und Ders. 1975, 43. Eine phänomenologisch interessante Beobachtung hat dazu Specht gemacht, der darauf hinweist, dass der fortgesetzte Zwang zur Veränderung nicht weniger unangenehm ist als der zur fortgesetzten Traditionsbefolgung (vgl. Specht 1992, 92). Folgt man diesem Gedanken, kann man mit ihm und der Ritter-Schule darauf verweisen, dass die eudaimonistische Bilanz der Traditionsbefreiung vielleicht weniger eindeutig positiv ausfällt, als das gemeinhin angenommen wird. 254 Hervorh. S.K. Vgl. auch Lübbe 1981, 65. Die Legitimierung von Tradition beruht im genannten funktionalistischen Sinn dann auch auf der „praktisch wirksame[n] Vermutung ihrer Richtigkeit“ (Lübbe 1975, 42).
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nämlich nicht durch den Menschen veränderbar, sondern eine Art Widerfahrnis (vgl. Marquard 2008, 128 f.).255 Menschen sind immer von solchem Schicksalszufälligen betroffen – sie wissen, es könnte anders sein, aber sie können es nicht ändern. Im Verhältnis zu diesem gilt es nun, gegen den etablierten Diskurs, die Wertung zu ändern: Wir kommen mehr als durch Wahl – also über Pläne – durch Zufall durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht – wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will, ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine mißlungene Absolutheit, sondern – sterblichkeitsbedingt – unsere geschichtliche Normalität. (Marquard 2008, 31)
Es wird ein ernüchtertes Bild gezeichnet, das von radikalaufklärerischen Selbstgründungsideen Abstand hält und auf die sinnvollen Funktionen der Usancen, darunter maßgeblich die Tradition, hinweist. Diese leisten dem Menschen Dienste, die er in der Moderne nicht weniger als früher braucht, für die er aber weniger Usancen als früher zur Verfügung hat, weshalb es ein Klugheitsgebot ist, die verbliebenen Bestände zu schonen. Vor diesem Hintergrund ist die zuvor erläuterte Opposition zwischen Habermas einerseits und Lübbe wie Marquard andererseits zu verstehen. Habermas liest das Festhalten an Traditionen als Ausdruck einer nur bedingt kaschierten Modernitätsfeindlichkeit, damit gegen die Bekundungen der Ritter-Schüler, fest auf dem Boden der Aufklärung zu stehen (vgl. z. B. Marquard 2008, 94). Ihr Insistieren auf dem Wert der vermeintlichen außer-, vor- oder irrationalen Tradition konfligiert mit Habermas‘ kritischem, selbstermächtigendem Impuls. Zudem steht das Theorem in einem Spannungsverhältnis zur Annahme, eine ideale Diskurssituation sage etwas über den Menschen aus. Mit der Ritter-Schule wäre die ideale Diskurssituation vermutlich als ein Heischen nach Absolutem zu lesen – etwas menschlich Unmögliches. An Habermas richten sich zudem zwei weitere Vorwürfe, den des unzulässigen (oder wenigstens übertriebenen) Verdachts und den der Homogenisierung.
255
Es besteht hier eine sachliche Nähe zu Heideggers Konzepten der „Faktizität“ und der „Geworfenheit“. Vgl. zu diesen Heidegger, SuZ, 55 f., 179 f. Zudem drängt sich die Parallele zur von Niklas Luhmann stammenden Unterscheidung von Risiko und Gefahr auf, wobei Gefahr (wie Schicksalszufall) nicht dem Menschen zuzurechnen ist (er also auch keine Verantwortung dafür trägt), Risiko aber (wie das Beliebigkeitszufällige) sehr wohl. Insofern die Moderne zunehmend Gefahren in Risiken umdeutet (oder eben Schicksal in verfügbare Beliebigkeiten), deutet sich eine gleichlautende Gegenwartsdiagnose an. Vgl. dazu Luhmann 1991, z. B. 25–31.
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Mit dem Verdachts-Moment ist gemeint, dass nach Habermas „alles, was nicht (durch Konsens des herrschaftsfreien Diskurses) erwiesenermaßen, d. h. absolut, gut ist und also böse sein könnte (das sind alle vorhandenen Handlungsorientierungen), […] so zu behandeln [ist], als ob es wirklich böse ist […].“ (Marquard 2008, 122 f.) In einer fast ironischen Wendung könnte man meinen, Marquard greift ein von Habermas gegen Gadamer angebrachtes Argument gegen diesen selbst auf. Habermas hatte nämlich behauptet, Gadamer habe unzulässigerweise aus der „Einsicht in die Vorurteilsstruktur“ insgesamt gleich den Schluss gezogen, es gebe „legitime Vorurteile“ (Habermas 1970, 283). Marquard nun wirft, mit Umkehr der Vorzeichen, Habermas vor, dieser ziehe aus der Einsicht in die gelegentliche Bösartigkeit nicht konsensuell hergestellter Einsichten oder Übereinstimmungen den (nicht zwingenden) Schluss, das Nicht-Konsensuelle sei insgesamt abzulehnen. Dagegen verweisen Lübbe wie Marquard auf die positiven Wirkungen von so etwas wie Tradition. Eine Homogenisierung schließlich erkennt Marquard darin, dass der herrschaftsfreie Diskurs in eine Monokultur und – ohne dies so direkt zu sagen – in totalitäre Tendenzen führe. Im idealen Diskurs ist Buntheit nur als Anfangskonstellation gestattet, Bewegung nur als Buntheitsabbau gerechtfertigt, und sein Endzustand – der universalistische Konsens – ist einer, in dem niemand mehr anders ist als die Anderen, so daß dort im Grunde alle Teilnehmer überflüssig werden bis auf jenen einen, der genügt, um jene Meinung zu hegen, die dann sowieso als einzige herrscht. (Marquard 2008, 73)
Gegen diese Homogenisierung qua Rationalität und Diskurs setzen die RitterSchüler auf die Traditionen als Hort der Alternativen, um so Widerstandsreserven gegen vereinheitlichend-totalitäre Zugriffe zu haben. Wieder kehrt sich somit ein Argument, dass ideologiekritisch gegen Konservative gewendet war, um, insofern nun die „Neokonservativen“ kontra Habermas die politischen Ambivalenzen und Verführbarkeiten seines Modells in Anschlag bringen. Dass der Dissens zwischen Habermas auf der einen, Lübbe, Marquard und auch Gadamer auf der anderen Seite so grundlegend wirkt, hat aber, wie vielleicht deutlich geworden ist, weit weniger mit der inhaltlichen Vorstellung darüber, was Tradition ist und was sie macht, zu tun, als mit deren politischer Instrumentalisierung. Auch Habermas ist, wie gezeigt, auf sie als Lebensweltbestand letztlich verwiesen. Was er aber als notwendiges Übel oder gar Skandal wahrnimmt, wird von Gadamer ganz und gar positiv betont, von Lübbe und Marquard „gelassen“ hingenommen.
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Karl Popper, Hans Albert und der rationalistische Traditionsblick
Ein wesentliches Motiv im Rahmen der fortgesetzten Reflexion auf Tradition ist das Spannungsverhältnis zwischen ihr und Vernunft oder Rationalität. Je nach Autor wird Tradition als vernünftig, übervernünftig („weise“), als transzendentale Vernunftbedingung oder eben – wie zumeist im Rahmen der Kritik – als irrational bzw. vorrational charakterisiert. Daher lohnt ein (wenn auch kurzer) Blick auf zwei Vertreter einer gemeinhin als rationalistisch verstandenen Denkrichtung,256 da man an ihnen lernen kann, dass der vermeintliche Gegensatz nicht nur von romantischen oder hermeneutischen Denkern als unzutreffend charakterisiert wird. Popper hat in einem kleinen Beitrag versucht, die „traditionelle Feindschaft zwischen Rationalismus und Traditionalismus“ (Popper 1994, 176) zu hinterfragen. Er gibt zu, dass es nicht verpflanzbare und kostbare, kaum wiederherzustellende Traditionen gibt (vgl. Popper 1994, 177). Soweit besteht mit den irrationalistischen Traditionsverteidigern – Popper nennt namentlich Oakeshott – Einigkeit, doch es seien zwei Einstellungen zu Traditionen zu unterscheiden, nämlich eine unkritische und eine kritische. Letztere, auf die es Popper allein ankommt, besteht darin, dass sich aus ihr „Annahme, Ablehnung oder auch ein Kompromiß ergeben kann.“ (Popper 1994, 178) Urheber dieser neuen Einstellung seien die Griechen gewesen (vgl. Popper 1994, 184), indem sie Dinge diskutabel machten, die vorher tabuisiert waren. Durch eine kritische Einstellung zu den Traditionen, so kann man von Popper lernen, die offen diesen gegenübertritt, kommt Ordnung und „rationale Vorhersagbarkeit“ in die Welt des Menschen (vgl. Popper 1994, 190). Eine solche Aussage hätte – ebenso wie die These der engen Bindung von Tradition an Institutionen (vgl. Popper 1994, 193 f.) – gleichlautend von Gehlen, Rothacker oder auch Herder stammen können. Es zeigt sich, dass im Hinblick auf die Leistungen der Tradition Popper keine große Differenz zu den „Irrationalisten“ aufweist.257 Auch seine anthropologische Situierung des erkennenden Menschen greift gerade nicht auf die Idee der freien, übersituativen Vernunft zurück, sondern macht klar, dass Menschen „nicht ganz neu anfangen können, daß wir das 256
Über die etwaigen Unterschiede zwischen Poppers und Hans Alberts Ansatz soll keine Erörterung stattfinden, da dies im Rahmen der vorliegenden Fragestellung irrelevant ist. Beide sind unstrittig Teil dessen, was man „kritischen Rationalismus“ nennt. 257 Das gilt auch für die Feststellung, Traditionen lassen sich nicht (oder nur sehr schwer) bewusst hervorbringen (vgl. Popper 1994, 182), oder für die These, dass Wissenschaften selbst durch Traditionen geprägt seien (vgl. ebd., 185, 188).
3.11 Karl Popper, Hans Albert und der rationalistische Traditionsblick
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benutzen müssen, was andere vor uns in der Wissenschaft vollbracht haben.“ (Popper 1994, 187 f.) Keine tabula rasa, sondern kritischer Anschluss an das Bestehende – so kann man Popper hier verstehen. Er fordert in der Hauptsache dazu auf, Traditionen nicht passiv hinnehmend, unkritisch zu rezipieren. Das scheint der einzig relevante Unterschied zu denen zu sein, die er als Irrationalisten sieht. Gleichwohl ist Popper diesen gegenüber unterkomplex insofern, als diese ja gerade oft deshalb eine Schonung vor der kritischen Vernunft einforderten, weil Traditionen als Traditionen dann nicht bestehen, sondern verwandelt werden in etwas anderes, das nicht in jeder Hinsicht die gleichen Funktionen übernehmen und identische Eigenschaften haben kann. Zudem scheint Popper Tradition streng zweckrational anzusehen (vgl. O‘Hear 1992, 65, 67), womit wiederum ein spezifischer Vernunftzugriff gewählt wurde, vor dessen kritischer Prüfung wohl zwar prinzipiell Offenheit herrschen mag, aber – aus Sicht der meisten Traditionen – nicht in concreto. In der Sache also führt Poppers Ansatz, der aber immerhin im englischsprachigen Raum nicht unbekannt geblieben ist,258 kaum weiter. Sein wesentlicher Ertrag besteht wohl darin, die Vereinbarkeit von Rationalismus, Kritik und Tradition propagiert zu haben und den extremen Rationalismusformen mit dem folgenden Zitat einen Spiegel vorgehalten zu haben: „[…] [E]s ist […] klar, daß die Rationalisten auf einem Irrweg waren, als sie sich von […] [den] Erscheinungen dazu verleiten ließen, Traditionen als solche zu bekämpfen.“ (Popper 1994, 193)259 Für den kritischen Rationalismus hat nach Popper auch Hans Albert das Wort ergriffen und die Traditionen in dessen Theorierahmen verteidigend eingeordnet. Er unterscheidet dabei zunächst Tradition – als Überlieferung von Wissensund Glaubensbeständen, Normen und Werten – von Traditionalismus – als einer Einstellung, die das Überlieferte per se als heilig hinstellt (vgl. Albert 1971, 30). Traditionen sind positiv zu werten, Traditionalismus negativ, denn erstere erscheinen als die „soziale Gewohnheit […], immer wieder auf frühere Problemlösungen bestimmter Art zurückzugreifen, also als eine Erweiterung der Verfahrensweise, die auch schon in einmaligen Rückgriff auf einen Präzedenzfall zum Ausdruck kommt.“ (Albert 1971, 33) Sie sind ein sinnvolles Verfahren, sie entlasten, leisten exosomatische Evolution und geben so insgesamt Informationen weiter – sind 258
So wird er erwähnt in der „Routledge Encyclopedia“ (vgl. O’Hear 1998). Derselbe Autor hat in der schon zitierten interessanten Studie zum Traditionsdenken bei Popper, Oakeshott und Hayek (vgl. O’Hear 1992) nochmals die Relevanz von Poppers kleiner Arbeit verdeutlicht, umgekehrt aber vielleicht auch implizit gezeigt, dass der deutschsprachige Traditionsdiskurs in mancher Hinsicht mehr Breite und Differenzierung besitzt. 259 Hervorh. S.K.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
letztlich rational (vgl. Albert 1971, 34). Albert nimmt eine über Popper hinausgehende Differenzierung dessen vor, was Traditionen sein können – Prozess oder Produkt, langfristig oder kurzfristig, starr oder flexibel, speziell oder allgemein (vgl. Alber 1971, 35) –, was zeigt, dass er sich der uneinheitlichen Begriffsverwendung klar ist. Abgesehen davon aber führen seine Überlegungen auf denselben abschließenden Gedanken wie diejenigen Poppers, wenn er schreibt: „Man kann zwar den Tatbestand der Tradition akzeptieren und die bedeutende Rolle von Traditionen im sozialen Leben anerkennen, aber sich dennoch jeder einzelnen gegenüber seine relative Freiheit wahren, indem man bereits ist, sie kritischer Prüfung zu unterwerfen.“ (Albert 1971, 41) Nicht nur diese These ist gleich, sondern auch die offensichtliche Beschränkung des Ansatzes – denn zweierlei wäre sofort zu fragen: Ist eine kritisch geprüfte Tradition noch eine Tradition? Pieper und andere, übrigens auch Habermas, haben darauf verwiesen, dass eine explizite Thematisierung schon das Ende der jeweiligen Tradition darstellt. Wie soll daher eine kritische Prüfung sicherstellen, dass es nach der Prüfung noch eine Tradition ist – und nicht etwa eine aufgeklärte Historie –, was vorliegt? Dazu sagen weder Popper noch Albert etwas. Zweitens suggeriert Albert, man könne die Traditionen einzeln auswählen und zur Prüfung bringen, aber auch das ist problematisiert worden, zum Beispiel von Gadamers Horizontdenken, denn in wie vielen Traditionen steht ein Mensch denn? Sind diese als Einzelne eigentlich leicht thematisierbar? Auch dazu müsste eine rationalistische Traditionstheorie mehr sagen. Im Endeffekt, und darin besteht ihre Relevanz, zeigen beide Autoren aber, dass die leichthin behauptete Rationalitätsfeindlichkeit der Tradition keineswegs gegeben scheint oder jedenfalls begründungspflichtig ist.
3.12
Eine exegetische Stimme – Otakar Nahodil
Während der deutschsprachige Diskurs über Tradition in den 1970er Jahren stark von den drei Fixpunkten Habermas, Gadamer und Ritter-Schule geprägt war, deutete sich mit den Arbeiten Nahodils bereits eine Entwicklung an, die bis in die Gegenwart zu Wiedenhofers Überlegungen hin wirkmächtig blieb. Nahodil war völlig richtig aufgefallen, dass der Traditionsbegriff vielfach Verwendung fand, der Sache nach jedoch ganz ungeklärt blieb. Aus diesem Grund betrieb er eine Sammlung von Belegen, die noch heute ihresgleichen sucht. Ausgehend von dem
3.12 Eine exegetische Stimme – Otakar Nahodil
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so gewonnenen Überblick260 unternimmt er es, Tradition zu bestimmen. Sein Ausgangspunkt ist dabei – und darin liegt das Neue, das mit ihm und seiner Zeit aufkommt –, dass Tradition als „das ewig heteronome Fundamentalphänomen der gesamten Kulturentwicklung“ (Nahodil 1971, 7)261 verstanden wird. Mit ihm wird der Begriff zum Mittelpunkt der Kulturwissenschaften erklärt. Alle Kultur ruht auf Tradition.262 Was aber sind Traditionen als so thematisiertes Grundphänomen aller Kultur? Nahodil definiert: „Die Tradition ist eine spezifisch menschliche und historisch notwendige Art der selektiven Weitergabe von akkumulierten kulturellen Werten, die die Kontinuität aller Kulturentwicklung ermöglicht.“ (Nahodil 1971, 158)263 In dieser Bestimmung stecken mehrere wichtige Aspekte. Zum einen ist die Tradition specificum humanum (vgl. Nahodil 1971, 6, 33, 36), Tiere besitzen sie nicht, was Nahodil vor allem dadurch legitimiert, dass Tradition an Symbolsysteme und allen voran die Sprache gekoppelt ist (vgl. Nahodil 1971, 35, 46, 69). Es handelt sich zudem um eine Selektion, das heißt, Traditionen wählen aus. In diesem Sinne kumulieren sie, denn sie sammeln das Bewahrenswerte aus dem Gesamtbestand des je Gegenwärtigen für die Zukunft heraus (vgl. Nahodil 1971, 51 f.). Kumuliert werden dabei Werte.264 Was genau Nahodil hier meint, ist nicht leicht zu ermitteln. Er verweist darauf, dass Tradition als „Speicher und Weitergabe von Werten“ (Nahodil 1971, 110) zu denken ist, aber wie sollen Werte 260
So nennt er etwa einmal mindestens 17 verschiedene Deutungen des Begriffs (vgl. Nahodil 1971, 10–21). 261 Vgl. auch Nahodil 1971, 25, 30. 262 Wie schon erwähnt, hat zuletzt Wiedenhofer ganz ähnlich Tradition zum Zentralbegriff aller Kulturwissenschaft machen wollen. Vgl. dazu Wiedenhofer 2004, 229 f. Ein solches Unterfangen birgt jedoch immer ein wenig die Gefahr, den Begriff so weit zu überdehnen, dass er keinerlei Signifikanz mehr besitzt (vgl. dazu entsprechende Vorwürfe an Wiedenhofer in der Diskussion ebd., 247, 252 f., 257, 263, 275). Bei Nahodil zeigt sich dies deutlich, denn so schreibt er etwa, dass er Tradition als „cultural memory (Kulturgedächtnis)“ versteht (Nahodil 1992, 189). Wenn Kultur nicht identisch sein soll mit Gedächtnis, dann kann Tradition als das Gedächtnis der Kultur nicht zugleich das Fundamentalphänomen sein, denn Kultur legt sich ja ein Gedächtnis zu, ist also vor dem Gedächtnis. Solcherlei begriffliche Unsauberkeiten finden sich bei Nahodil öfter, weil er dazu neigt, sehr integrativ zu operieren und eben einen Grundbegriff für alle Kulturen und alle Kulturbereich zu erarbeiten, was solche Effekte vermutlich begünstigt. Bezüglich Nahodils ist zudem festzustellen, dass seine Arbeiten praktisch keinerlei Echo gefunden haben. Weder Dittmann noch Winter oder Wiedenhofer greifen auf sein Werk zurück. 263 Vgl. auch ganz ähnlich Nahodil 1992, 195, wo aber nicht nur „stereotyped values“, sondern auch „patterns of behaviour“ weitergegeben werden. 264 Vgl. dazu Nahodil 1971, 109 und Ders. 1992, 188.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
kumuliert werden? Sicher ist es möglich, Werte – also normativ selektive Heraushebungen von Objekten, Praktiken, Einstellungen usw. aus dem „Dickicht der Lebenswelt“ – weiterzugeben in Form von Ratschlägen, Anleitungen, auch durch Erziehungsstrafen und -belohnungen etwa, aber die Rede von kumulierten Werten hat außerhalb der ökonomischen Sphäre, wo man Finanzwerte in einem Depot zum Beispiel durchaus kumulieren kann, nicht leicht Sinn. Wenn man nicht nur weiß, dass Michelangelos „David“ wertvoll ist als Kulturgut, sondern auch das „Mara“ genannte Cello von Stradivari, inwiefern hat man dann Werte kumuliert? Ebenfalls nicht leicht verständlich, weil unklar ausgedrückt, ist die Behauptung der „historisch notwendigen Art“ der durch Tradition dargestellten Weitergabe. Nahodil hält Tradition, wie er explizit sagt, für anthropologisch notwendig (vgl. Nahodil 1971, 126)265 – was also besagt dann das Wort „historisch“ hier? Soll es die je konkret situierte Auslegung des anthropologischen Geschehens anzeigen? Und wenn es das tut, soll das „notwendig“ behaupten, je Epoche oder Zeit gebe es genau eine spezifisch „richtige“ Form der Tradition? Vieles bleibt an dieser Stelle unklar. Aber im Grundzug lässt sich verstehen, worum es Nahodil geht, denn der letzte in der Definition genannte Aspekt – die Kontinuierungsleistung – verweist darauf, dass Kulturen ohne die Übernahme von Beständen aus der Vergangenheit weder Dauer haben noch einen über verbesserte Augenblicksbeherrschung hinausreichende Entwicklung nehmen können. Nahodil hat, ausgehend von der oben genannten Definition, charakteristische Merkmale des Traditionsprozesses herausgestellt.266 Dieser sei dynamisch, gemeinsam bzw. sozial, adaptiv, kumulativ und selektiv, innovativ und kreativ (vgl. Nahodil 1992, 191–194).267 An ihnen erkennt man, dass er Tradition im Wesentlichen als Vorgang in den Blick nimmt, der Inhalt – die Werte – letztlich zweitrangig bleibt.268 Traditionen sammeln in der Kultur gewonnene normative Differenzierungen, selektieren diese, geben sie weiter, wobei im Prozess der Weitergabe eine Art Anpassung und kreatives Beziehen auf die neuen Gegenwartsumstände geschieht. Der so recht flexible Traditionsbegriff bei Nahodil lässt es auch zu, von bewusster Traditionsstiftung zu sprechen (vgl. Nahodil 1971, 54). Doch nicht nur aus der Sicht der Kultur erfüllen die Traditionen gewisse Aufgaben. Seinem panoptischen Blick geschuldet, nimmt Nahodil auch die 265
Dort übrigens argumentiert er im Anschluss an Landmann. Er selbst zählt nur von a bis e, aber der Aspekt des Sozialen oder Gemeinschaftlichen, den er nennt, scheint doch sachlich so bedeutsam, dass er hier als zusätzliches Merkmal extra genannt wird. 267 Vgl. zu diesen Merkmalen auch Werz-Kovacs 1983, 33. 268 Genau genommen denkt er Gehalt und Prozess immer zusammen, sieht dies als eine Einheit (vgl. Nahodil 1992, 189). 266
3.12 Eine exegetische Stimme – Otakar Nahodil
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anthropologische Perspektive ein und beleuchtet, was Traditionen von ihr aus gesehen sind. Dann nämlich liefern Traditionen dem instinktverunsicherten Menschen sowohl Kontinuität als auch Sicherheit, zudem die Chance auf Weiterentwicklung (vgl. Nahodil 1971, 67, 98). Dieses Motiv ist der philosophischen Anthropologie abgelauscht, die Nahodil rezipiert hat.269 Traditionen werden zum Instinktersatz für den Menschen. Wie allerdings beide Perspektiven – anthropologische und kulturwissenschaftliche – integriert werden können, bleibt offen. Denn die Sicherungsleistung für das Individuum kann doch wohl im Einzelfall mit der Gewährleistung kulturellen Fortschritts oder kultureller Dauer gerade in Konflikt geraten. Und die Idee einer Stiftung von Tradition lässt sich ebenfalls anthropologisch und kulturell nicht gleichermaßen verfolgen. Hier macht sich Nahodils Integrationstendenz wieder negativ bemerkbar, insofern er Differenzierungen einreißt, die sachlich geboten scheinen. Wenn man, jenseits dieser fraglichen Aspekte, mit Nahodils Ansatz auf die Gegenwart schaut, ist klar, dass es eigentlich immer noch Traditionen geben muss. Wenn sie das specificum humanum sind und es noch Menschen gibt, existieren auch sie. So behauptet denn auch Nahodil, dass es in der Gegenwart gar keinen Traditionsverlust gebe, sondern was er konstatiert, ist nur ein Umbruch, den man als Selektion lesen kann. Es ändern sich die Traditionen, aber Tradition geht nicht verloren (vgl. Nahodil 1971, 126–129).270 Freilich klingt das wiederum sehr quietistisch, denn weder gibt es eine Verlustgeschichte, noch können Traditionen, da sie menschennotwendig sind, je verschwinden. Eigentlich müsste Nahodil seine Arbeit daher als schlichte Beschreibungsarbeit verstehen, doch der Tenor seines Textes ist gleichwohl im typischen Duktus des Sich-um-TraditionenSorgens gehalten. Ursächlich hierfür könnte sein, dass er nicht genau differenziert zwischen dem Grundtatbestand des notwendigen Erhaltenbleibens von Tradition überhaupt und dem möglichen Verschwinden bestimmter Formen. Dass gewisse Inhalte untergehen, ist evident, aber vielleicht gehen auch bestimmte Formen – etwa besonders große, besonders eindringliche, besonders affektiv aufgeladene usw. – verloren, die nicht wiederzubringen sind. Ein letzter Aspekt, den Nahodil betont, ist die falsche Gegenüberstellung von Tradition und Rationalität. Zwar enthalte Tradition auch Irrationales, aber nicht minder ebenso Vernünftiges, und wenn es sie gar nicht gäbe, „rationality could not have developed at all.“ (Nahodil 1992, 188) Indem Tradition kumulativ und weitergebend wirkt, sichert sie erst die Bedingungen für die (Weiter-)Entwicklung 269
Von ihr her stammt vermutlich auch die Einsicht in die wesensmäßig heteronome Verfasstheit des Menschen (vgl. Nahodil 1971, 80). 270 Vgl. auch Nahodil 1992, 195.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
von Rationalität. Damit wird sie als conditio sine qua non benannt, aber dennoch leistet das Argument nicht das, was es soll, denn eine historische Kondition ist sie vielleicht, aber die einmal entwickelte und freigesetzte Vernunft mag im Folgenden auch ohne sie auskommen. Nahodil würde wohl darauf verweisen, dass die Vernunft immer auf die Verstetigung der Kultur – ihrer Kultur – angewiesen bleibt, was alleine Tradition leisten kann. Ob das aber im Zeitalter zunehmend automatisierter und autoselektiver Archive noch greift, wäre zu überlegen.
3.13
Moderne und Tradition – Edward Shils, Anthony Giddens und David Gross
Im englischsprachigen Raum hat sich die Diskussion um den Traditionsbegriff schwerpunktmäßig in Auseinandersetzung mit der Bestimmung dessen entwickelt, was Moderne sein soll. Es gab dazu freilich immer auch Parallelstränge, die Tradition mehr als Oppositionsbegriff zu einem bestimmten Vernunftbegriff sahen,271 doch breitenwirksamer war der erstgenannte Zusammenhang. Im Folgenden soll an drei Autoren – Shils, Anthony Giddens und Gross – gezeigt werden, was anhand ihrer Ansätze über Tradition zu lernen ist. Die Zusammenstellung der drei Denker ist dabei hauptsächlich heuristischen Gründen geschuldet, sowohl disziplinär als auch zeitlich gibt es Differenzen. Doch da eine systematische Perspektive leitend ist, mag eine solche historische Ungenauigkeit zulässig erscheinen. Um die Autoren aneinander anschlussfähig zu machen, wird an alle drei derselbe Fragenkatalog gelegt: Wie lautet die Diagnose der Moderne? Wie passen Traditionen (nicht) in die Moderne? Was sind Traditionen? Bei Shils, dessen Publikation für die nicht nur englischsprachige Soziologie noch immer als maßgeblich gelten kann,272 ist die wesentliche Modernediagnose derart, dass ihr ein per se traditionsablehnender Grundzug attestiert wird (vgl. Shils 1981, 288 f.). Dafür lassen sich Ursachen anführen, auf die gleich noch zu sprechen kommen sein wird. Wichtig ist für Shils, dass aus diesem Grundzug folgt, dass der Begriff – und damit mittelbar die Sache – in einen normativen Rückständigkeitsverdacht gerät. Wer sich ihr zuwendet, läuft immer Gefahr, als gestrig, konservativ usw. normativ in die Defensive zu geraten (vgl. Shils 1981, 1–6). Dagegen will Shils im Sinne einer begrifflichen Rückbesetzungskampagne 271
Vgl. dazu z. B. das folgende Kapitel 3.14. Dittmann behauptet, Shils Ansatz sei in seinem Hauptanliegen, der Wiederaneignung eines nicht negativ konnotierten Traditionsbegriffs, wirkungslos geblieben (vgl. Dittmann 2004, 89). Hinsichtlich der Wirkung mag das stimmen, hinsichtlich der generellen Rezeption aber weniger (vgl. dazu z. B. Thompson 1996, 91).
272
3.13 Moderne und Tradition – Edward Shils …
193
Tradition rehabilitieren, denn es gebe ein großes Bedürfnis nach einem besseren Verständnis und einer besseren, weil angemesseneren Wertschätzung derselben (vgl. Shils 1981, VII). Dieses Anliegen scheint heute nicht weniger nötig als vor gut 40 Jahren. Warum aber ist die Moderne gemäß Shils ihrem Grundsatz nach antitraditionell eingestellt? Aus der Vielzahl der Faktoren – Shils verhandelt zum Beispiel die Aufklärung und Rationalisierung – seien zwei herausgegriffen, nämlich die Emanzipation des Selbst und die Schaffung historischer Ungebundenheit. Die Moderne mit ihrer fortschrittsorientierten Ausrichtung habe Emanzipation verabsolutiert, nicht nur, wie die Aufklärung es zunächst wollte, die Emanzipation von einigen hinderlichen Lebensweltbeständen. Es gehe um „emancipation from all restraints.“ (Shils 1981, 7) Konsequent zu Ende gedacht, führt dies zur Freisetzung des radikal ungebundenen Selbst. Und tatsächlich, so Shils, trete dieses an die Stelle der Tradition: „To be ‚true to oneself‘ means, […] discovering what is contained in the uncontaminated self, the self which has been freed from the encumbrance of accumulated knowledge, norms, and ideals handed down by previous generations.“ (Shils 1981, 11)273 Ein verabsolutierter Selbstgestaltungsanspruch wird durch die Moderne in die Welt gebracht, der der heteronomen Beeinflussung durch Tradition zuwiderläuft. Die Moderne agiert in dieser Hinsicht entbettend.274 Doch nicht nur die übersteigerte Emanzipation wirkt gegen Tradition, sondern auch eine kollektive Bewegung gleicher Art. Shils beobachtet, dass es die Moderne sich zur Aufgabe gemacht habe, überhaupt alle Bedingungen ihres Daseins – inklusive der historischen – in ihren Griff zu bekommen: „Modern culture is in some respect a titanic and deliberate effort to undo by technology, rationality, and governmental policy the giveness of what came down from the past.“ (Shils 1981, 197) Individuelle wie kulturelle Selbstdetermination werden von Shils als charakteristisch für die Moderne verstanden, weshalb ein Bejahen der Tradition notwendig als antimodern, irrational und rückständig gelten muss. Das Bild, welches er von der Moderne zeichnet, ist freilich noch differenzierter, kann hier aber dahingestellt bleiben, da die beiden Aspekte zeigen, worum es ihm grundsätzlich geht. Shils beobachtet eine sehr einseitige Bezugnahme auf Tradition vor dem Hintergrund eines pejorativ orientierten Blicks, der zum einen qua Einstellung schon gar nicht den Traditionen gemäß erkennen kann, 273
Gegen dieses Denken wendet Shils ein, dass zwar die Entdeckung des selbstbestimmten Menschen eine herausragende Kulturleistung sei, diese aber Grenzen habe, die vergessen wurden (vgl. Shils 1981, 43 f.). Was Shils schildert, hat seine breitere Ausfaltung (ganz unabhängig von Shils) gefunden bei Taylor 1996a, z. B. 54 f., 69, 80, 83 f., wo auf die Rahmung jedes Sich-Bestimmens hingewiesen wird. 274 Dies hebt so auch Giddens hervor (vgl. Giddens 1984, 33).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
denn diese erfordern ein passendes Ethos, zum anderen die wichtigen Leistungen der Tradition übersieht. Wie nun verortet Shils Traditionen in das so angedeutete Bild? Man kann sagen, dass eine zweigleisige Strategie erkennbar wird. Einerseits werden Traditionen anthropologisch gegründet, andererseits ihre subtile Wirkung auch unter den Bedingungen der Moderne aufgezeigt. Die anthropologische Verortung kommt nicht, wie etwa bei Nahodil oder Landmann, so zustande, dass von der wesensmäßigen Notwendigkeit der Traditionen die Rede ist, sondern mittels eines „Zunächst“ und „Zumeist“. Das heißt, Shils hält Traditionen für eine kontingente, aber für viele Menschen unerlässliche Stütze: „Substantive traditions continue, however, not because they are exterior manifestation of still unbroken habits and superstitions but because most human beings constituted as they are cannot live without them.“ (Shils 1981, 304)275 Insofern sind sie für viele Menschen eine sozialisations-, wesens- oder kulturbedingte Notwendigkeit, aber nicht für alle. Das reicht jedoch nicht hin, sie für ungefährdet zu halten, denn: „Traditions may be unavoidable but they are not always strong.“ (Shils 1981, 315) Shils scheint zuzugeben, dass ein Leben ohne Traditionen zwar prinzipiell denkbar ist, aber sicher nicht ein Lebensweg für viele werden kann. Doch auch wenn viele sich an ihnen orientieren, garantiert das keineswegs das Blühen der Traditionen, sondern diese können durch bestimmte Zugriffe und Praktiken marginalisiert werden. Immerhin jedoch verweist diese empirisch gesättigte Überlegung darauf, dass die Vorstellung des radikal emanzipierten Subjektes in der Wirklichkeit der Menschen nicht angekommen ist. Auch ein Blick auf die Leistungen der Tradition unter den Bedingungen der Moderne offenbart, dass die Traditionsfeindlichkeit derselben nicht zu einem Aussterben geführt hat. So weist Shils etwa darauf hin, dass nur der Kontakt mit dem fremden Früheren, der Tradition, einen Weg heraus aus dem Gefängnis der je eigenen Gegenwart darstellt (vgl. Shils 1981, 327). Wenn Moderne also Offenheit, Pluralität usw. sichern will, bleibt sie auf die Tradition eminent angewiesen. Zudem betont Shils auch, dass – betrachtet man die geschichtliche Entwicklung der Menschheit – die oft stereotyp verbreitete These, Tradition habe dem Vorwärtskommen geschadet, ganz sicher falsch ist, vielmehr sogar das Gegenteil gelten müsse (vgl. Shils 1981, 328). Auch übergebe Tradition vieles, was
275
An anderer Stelle (Shils 1981, 41) hält Shils „traditions of belief and action“ abkünftig aus bestimmten Bedürfnissen des menschlichen Geistes. Hier denkt er vermutlich an so etwas wie Sinnfragen, die durch religiöse oder andere weltanschauliche Traditionen beantwortet werden. Dort spricht Shils wirklich anthropologisch, nicht nur über (große) Teile der Menschheit.
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gar nicht in anderen – sprachlichen, materiellen – Formen weitergereicht werden könne, empirisch-praktisches Wissen zum Beispiel (vgl. Shils 1981, 83 ff.). Und – um ein letztes Beispiel zu referieren – selbst so etwas wie Schöpfertum und Erfindungsgeist hat traditionale Anteile und wird selbst zu einer Tradition (vgl. Shils 1981, 86 f.). Blickt man so mit Shils auf die Welt der Menschen, zeigt sich die Diskrepanz zwischen normativer Konnotation des Begriffs und dem Selbstverständnis der Moderne und ihrer Subjekte auf der einen, den Wirkungen und Leistungen der Tradition auf der anderen Seite. Gegen diesen Befund startet Shils eine Neubesinnung auf den Traditionsbegriff. Was Tradition eigentlich ist, gilt es gegen die erläuterte pejorative Voreingenommenheit des „üblichen“ Blicks wieder zu bedenken. Shils ist klar, dass der Begriff sehr viele Bedeutungen hat. Im Kern ist damit aber alles gemeint, was weitergegeben wird. Es sind alle Inhalte möglich, es gibt dahingehend keine einschränkenden Festlegungen. Einzige Einschränkung bildet die Tatsache, dass die Weitergabe über mindestens drei Generationen erfolgt sein muss.276 Zudem gilt, dass mit Tradition ein normativer Anspruch verbunden ist, weshalb man ihr gegenüber nur im Fall eines defizienten Zustandes Gleichgültigkeit an den Tag legen kann.277 Shils denkt Traditionen wesentlich als Gehalt, wenn er diesen auch nicht benennt, weniger als den Prozess des Tradierens, der jedoch freilich in den Bedingungen der Dauer, Intergenerationalität usw. implizit enthalten ist. Weiterhin sind, folgt man ihm, Traditionen selektiv (vgl. Shils 1981, 26) und keineswegs fest bestimmt, sondern eine Art Amalgamierung: „At every point in time in the course of its growth, a tradition of belief or rules of conduct is an amalgam of persistent elements, and increments and innovations which have become a part of it.“ (Shils 1981, 44)278 Traditionen stellen keine Monolithe dar, sondern vielgestaltige Zusammenstellungen, die historisch geworden sind und auch immer wieder einer Veränderung unterliegen. Die Idee einer heiligen, unveränderten Tradition à la Guénon oder Ziegler liegt Shils fern. Im Hinblick auf ihren rationalen Gehalt ist seine Auskunft zwiespältig. Einerseits gibt er zu, dass man im Bestehen ein implizites Argument für das Bestehenlassen von etwas sehen kann: „Being there is an ‚argument‘ – unspoken – for not doing anything to change the already existent, unless considerations of convenience and profitability become very acute and the costs of retention and maintenance become too heavy.“ (Shils 1981, 67) Das 276
Shils legt viel Augenmerk auf die Dauer von Tradition, was sie zum Beispiel von der bloßen Mode unterscheidet (vgl. Shils 1981, 16), weshalb er die nur einmalige intergenerationelle Weitergabe für nicht ausreichend hält. 277 Zu all diesen Merkmalen und Bestimmungen vgl. vor allem Shils 1981, 12, 15 f., 24, 44. 278 Vgl. auch sachlich parallel Shils 1981, 45, 96 f.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
wirkt wenig überzeugend, denn auf diese Weise ließe sich vieles als bewahrenswert allein dadurch herausstellen, dass es eben ist. Doch hinter dem Argument steckt eine zweite, bereits bei anderen Autoren vorgefundene Überlegung, nämlich die der empirischen Bestätigung durch die fortgedauert habende Existenz: „No tradition could long be sustained if it brought about obvious and widespread misfortunes to those who practice it; a tradition has to ‚work‘ if it is to persist.“ (Shils 1981, 203) Insofern etwas über eine längere Dauer erhalten worden ist, muss es ein Bedürfnis befriedigt, eine Aufgabe erledigt, eine Leistung erbracht haben – oder im Minimalfall immerhin keine „Kosten“ erzeugt haben – für die Menschen, so dass es in dieser Hinsicht als „erfolgreich“ gelten kann. Dann liegt eine Form empirischer Vernünftigkeit im Sinne von Passigkeit zur Welt vor. Andererseits aber lässt Shils an einem Beispiel – dem der Universität – erkennen, dass die Rationalität der Tradition entfernt steht von dem prädominanten zweckrationalen Zugriff. Als Tradition könne sich die Universität nämlich nur dank Respekt seitens ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit erhalten, weil ihre Leistungen auf keine Weise exakt erfasst werden könnten (vgl. z. B. Shils 1981, 183) – und damit potentiell irrational wären. Daraus lässt sich ableiten, dass Traditionen sinnhafte und erfahrungs- wie bestätigungsgesättigte Phänomene darstellen können, die aber doch bestimmten Vernunftzugriffen gegenüber notwendig in der Defensive sind. Besonderes Augenmerk hat Shils schließlich noch darauf gelegt, wie schon einmal en passant angedeutet, dass Traditionen auch abhängig sind von einer ihnen gemäßen Einstellung. Diese ist in der Moderne nicht mehr gegeben. Shils‘ Arbeit kann in Teilen als ein Versuch gelesen werden, für eine notwendige Einstellungsänderung zu werben. Das Ethos, welches verschiedentlich zur Sprache kommt, wird gekennzeichnet durch Respekt, einen Sinn für Verbundenheit mit den Früheren, Wachsamkeit und einen zarten Takt (vgl. dazu Shils 1981, 27, 165, 330). Wieder fällt auf, dass dies allesamt Eigenschaften scheinen, denen ein rezeptiver Grundzug oder jedenfalls eine gewisse Selbstrücknahme zu eigen sind. Shils deutet somit an, gleichsam als Negativ zu diesem Positivbild, was er glaubt, dass die Moderne an Haltungen fordert und fördert. Wenn aber Traditionen erst dank einer solchen speziell gearteten Sensibilität und Einstellung richtig in den Blick kommen können – und nur dann als hilfreich, sinnvoll, vernünftig erscheinen –, ist die Aufklärung und die ihr nachfolgende Moderne durch systematisch bedingte Wahrnehmungsverzerrung den Traditionen gegenüber gekennzeichnet. Insgesamt besticht Shils‘ Auseinandersetzung durch viele wertvolle Einzelbeobachtungen, die hier nicht im Einzelnen erschöpfend verhandelt werden konnten. Sein Vorhaben einer Rehabilitierung der Tradition gegen ein erzkonservatives,
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aber auch einseitig kritisches Bild ist überaus sinnvoll. Aber ein scharfer, konturierter Begriff wird im Endeffekt nicht recht erkennbar. Shils zeigt gewisse Vermögen von Tradition auf und denkt sie im Wesentlichen inhaltlich, darüber hinaus jedoch bleibt er vage. Gleichwohl legt er insbesondere mit dem Fokus auf das rechte Ethos eine wichtige und tragfähige Spur. Shils betont nämlich die Relevanz von Tradition für ein gelingendes Leben, zu dem das Ethos dann die Vorbedingung wäre: I wish to stress that traditions should be considered as constituens of the worthwhile life. A mistake of great historical significance has been made in modern times in the construction of a doctrine which treated traditions as the detritus of the forward movement of society. It was a distortion of the truth to assert to this and to think that mankind could live without tradition […]. (Shils 1981, 330)
In einer vergleichbaren Ausgangskonstellation hat sich knapp zehn Jahre nach Shils Giddens den Traditionen zugewendet im Rahmen der berühmten Auseinandersetzung mit Scott Lash und Ulrich Beck über die reflexive Modernisierung. Wieder wird im Zuge dessen Tradition vor der Kontrastfolie der Moderne betrachtet. Unter der für die Moderne charakteristischen Reflexivität versteht Giddens dabei eine ohne Grenzen – „in Bausch und Bogen“ – angewandte Reflexivität, die ständig alle Prozesse begleitet, somit aber dafür sorgt, dass es kein „unumstößlich sicheres Wissen“ mehr geben kann (vgl. Giddens 1984, 54 f.). An allem nagt die Reflexivität mittels Nachfragen, Reperspektivierung, fortgesetzter Überprüfung usw., es gibt keine Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten mehr. Liest man die Moderne so, ist es fast zwangsläufig, dass man von der Enttraditionalisierung oder der vollständigen Auflösung der Tradition sprechen muss (vgl. z. B. Giddens 1996, 137). Wenn die Reflexivität überall präsent ist, können Bestände, die allein aufgrund ihres Alters oder ihrer Autorität Geltung beanspruchen, sich nicht erhalten. Vielmehr wird, da alles sich reflexiven Perspektivierungen ausgesetzt sieht, in posttraditionalen Kontexten jede Bindung an etwas zu einer Wahl (vgl. Giddens 1996, 142),279 die man mindestens sich selbst, wenn nicht auch anderen gegenüber begründen muss. Mit Giddens kann man dann aber darüber nachdenken, inwiefern die selektive Zuwendung zu […] Überlieferungen […] nicht die Wiederbelebung von Tradition [bedeutet], sondern etwas Neues. Tradition wird hier übernommen infolge 279
Andernorts meint Giddens, aktuell sei nicht die Phase der Posttraditionalität, sondern nur der ins Äußerste geführten Moderne (vgl. Giddens 1984, 11). Diese Unterscheidung ist hier aber irrelevant.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
einer Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil; und kein Versuch, die Natur wiederherzustellen, kann sie zu dem manchen, wie sie einmal war. (Giddens 1996, 148)
Unter den Bedingungen der Moderne erfordert das Eingehen von einbettenden Bindungen einen bewusst-willentlichen Akt, der aber zugleich das, was er herstellt bzw. hervorbringt, dadurch so ändert, dass es dem „Urbild“, dem ehemals Naiv-Natürlichen, nicht mehr entspricht. So gesehen gibt es, mit Giddens gesprochen, von außen auch in der Zeit vermeintlicher Posttraditionalität oder Reflexivität noch Traditionen, aber diese sind es nur noch dem Namen nach, weil ihnen bestimmte Eigenschaften nicht mehr zukommen. Wenn es stimmt, wie Giddens sagt, dass Tradition „ihre größte Wirkung [entfaltet], wenn sie nicht als solche verstanden wird“ (Giddens 1996, 128), dann muss ihr Einfluss in der modernen Gegenwart minimal bleiben. Es gilt somit: „Die Moderne zerstört die Tradition.“ (Giddens 1996, 169) Jedoch ändert sich nach Giddens‘ Diagnose nicht radikal und vielleicht nicht einmal primär der Lebensweltbestand – auch wenn dieser sich mittelbar verändern mag –, sondern vielmehr der Bezug auf ihn, weshalb folglich Giddens zwei neue Formen des Bezugs herausgestellt hat. Traditionen passen in die so angedeutete reflexive Moderne nur noch auf zwei Wegen, dem des Diskurses oder dem des Fundamentalismus: Traditionen, gleich, ob alte oder neue, können nur noch im Rahmen zweier alternativer Auffassungen existieren. Traditionen können diskursiv artikuliert und verteidigt – mit anderen Worten, als Werte gerechtfertigt werden in einem Universum mit einer Vielzahl konkurrierender Werte. […] Andernfalls wird Tradition zum Fundamentalismus. […] „Fundamentalismus“ wird erst vor dem Hintergrund einer Vorherrschaft radikalen Zweifels zu dem, was er ist; denn er ist nichts anderes als „Tradition im traditionellen Sinn“ […]. (Giddens 1996, 183)280
Während der fundamentalistische Bezug darin besteht, eine bestimmte Tradition als wahr zu setzen, ohne diese Setzung zu legitimieren, wird im Rahmen des Diskurses die Tradition als begründungspflichtig verstanden. Giddens ist sich des Problems aber klar, dass dann das Wesen der Tradition „im traditionellen Sinn“ verändert wird, denn „eine gerechtfertigte Tradition ist eine kostümierte Tradition“ (Giddens 1984, 54). Ein Fortbestehen der Traditionen in der Moderne setzt demnach einen Wandel ihres Wesens voraus, man müsste folglich den Begriff je
280
Vgl. zur modernen diskursiven Gründung von Traditionen auch Giddens 1996, 190 f.
3.13 Moderne und Tradition – Edward Shils …
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nach Zeitkontext indizieren.281 Giddens‘ Sensibilität für diesen Wandel zeichnet ihn aus, lässt zudem auch Rückschlüsse auf seinen Traditionsbegriff zu, denn dieser muss – in seiner ersten, früheren Form – offensichtlich einen unmittelbaren, für andere quasi-evidenten legitimierenden Wahrheitsbezug gehabt haben. Giddens fasst dies in der sehr an Pascal Boyer282 angelegten Wendung, ursprünglich seien Traditionen formelhafte Wahrheiten, die auf einer Art nicht-referentiellen Sprachgebrauch beruhen, also keinen unmittelbar legitimierenden Weltbezug haben, sondern allein durch einen bestimmten performativen Zusammenhang gerechtfertigt sind (vgl. Giddens 1996, 126). Die neuen, „modern-reflexiven“ Traditionen dagegen müssen sich explizit als sinnvoll, weltbezogen, daher in gewissem Sinne als empirisch zutreffend erweisen. Gegeben hat es die Traditionen in der Moderne fortwährend, sie vergingen und wurden ebenso massenhaft geschaffen (vgl. Giddens 1996, 113 f.), aber in der nun umfassend reflexiv gewordenen Moderne wird der Schöpfungsprozess verändert. Bevor im Anschluss der Traditionsbegriff selbst genauer beleuchtet werden soll, ist noch zu klären, wie die so verstandenen Traditionen in die Moderne passen, womit gemeint ist, wie sie dort wirken. Mit Giddens kann man drei wesentliche Faktoren herausstellen, die aber durch die Reflexivität freilich problematisch geworden sind: Zusammenhalt, Identität und ontologische Sicherheit.283 Während die Betrachtung der Tradition als sozialer „Kitt“ in früheren Gesellschaften von Giddens aus der Wiederholungsstruktur her verstanden wird (vgl. 281
Diese These entwickelt Giddens deshalb, weil er Tradition als Tradition, d. h. die bewusste thematische Blicknahme, als eine Hervorbringung in Reaktion auf die universal werdende Moderne versteht (vgl. Giddens 1996, 114). Allerdings kann man derartige Reflexionen sehr wohl schon früher – etwa in der Scholastik oder im Rahmen des Trienter Konzils – finden. Keineswegs ist die Idee einer Begründungspflicht der Tradition modern oder gänzlich neu, was allerdings ein Novum zu sein scheint, ist die Weise der Begründung. Aber zu behaupten, Thomas und andere hätten auf nicht-reflexive oder irrationale Weise über Traditionen nachgedacht (was Giddens nicht tut), geht in der Sache völlig fehl. Die Indizierung sollte daher eher cum grano salis genommen werden. 282 Dieser hatte über Tradition gesagt, dass deren Gehalte weder explanatorischen noch deskriptiven Wert haben, sondern nur in einer Art performativen Zusammenhang stehen und bestimmte Funktionen erfüllen müssten (dazu vgl. Boyer 2006, z. B. 59, 79, 90, 109, 130). Vgl. zu diesem Ansatz die Hinweise in Abschn. 3.20. 283 Diese Auswahl ist selektiv, versucht, die abstrakten Hintergründe der im Detail pluraleren Leistungen zu erfassen. Giddens selbst schreibt zu den Funktionen der Tradition (Giddens 1996, 53): „Die Tradition ist ein Verfahren, das reflexive Registrieren des Handelns mit der raumzeitlichen Organisation der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Sie ist ein Mittel für den Umgang mit Zeit und Raum, das jede einzelne Tätigkeit oder Erfahrung in das Kontinuum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einbringt, die ihrerseits durch immer wieder eingesetzte Praktiken strukturiert werden.“
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Giddens 1996, 122), ist die identitätsstiftende Dimension dadurch ableitbar, dass Traditionen exkludieren, das heißt Grenzen ziehen zwischen den Dazugehörenden und den anderen oder auch zwischen Eingeweihten und Unkundigen usw. (vgl. Giddens 1996, 150, 174). Auf diese Weise bilden sich Gruppenidentitäten, aber ebenso Individualidentitäten, insofern ja auch innerhalb von Traditionsgemeinschaften eine Differenzierung nach Rollen erfolgt – der Priester und der Laie seien als paradigmatische Fälle genannt. Die ontologische Sicherheit, die Traditionen stiften – jedenfalls in der vorreflexiven Zeit –, besteht in „Vertrauen in die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ sowie die Verbindung dieses Vertrauens mit „routinemäßigen sozialen Praktiken“ (Giddens 1984, 133).284 Ein Vertrauen auf die Stabilität und Angemessenheit der Seinsgefüge – sowohl die der (diachron sich erstreckenden) Lebenswelt als auch der sozialen Sphäre (Hierarchien usw.) – ist es, was Traditionen stiften oder herstellen helfen. Wohlgemerkt: es ist fraglich, ob dies für die diskursiv begründeten Traditionen noch in gleicher Weise zutreffen kann. Die ontologische Unsicherheit in Folge der traditionslosen Unbehaustheit – um es im Anschluss an Georg Lukács zu formulieren – wird schwerlich aufzuheben sein, wenn doch Reflexivität die Ausbildung dauerhaft gesicherter Wahrheiten systematisch verhindert. Was aber sind Traditionen im eigentlichen, gleichsam vormodernen Sinne für Giddens? Wie Boyer auch, fragt er sich, warum Menschen eigentlich Praktiken, Wertungen usw. wiederholen. Traditionen als in irgendeiner Weise wiederholende Vollzüge müssen motivational-funktionalistisch erklärt werden.285 Giddens nennt acht Merkmale von Traditionen, die helfen sollen, das Wiederholungshafte verständlich zu machen. Diese sind Orientierung an der Vergangenheit, erheblicher Einfluss auf die Gegenwart, Organisation der Zukunft, fortwährender Wandel, Dauerhaftigkeit, Integrität, Kontinuität sowie organischer Charakter (das heißt Entwicklung, Reifung) (vgl. Giddens 1996, 123). Giddens siedelt sein Traditionsverständnis in einer Mischung aus inhaltlicher und formaler Perspektive an, insofern manches eindeutig auf den Gehalt abzielt (zum Beispiel Integrität oder auch der Entwicklungs- und Wandlungsgedanke), manches auf die prozessuale Dimension (zum Beispiel die Dauerhaftigkeit oder Kontinuität). Da er der Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit besondere Beachtung schenkt, ist es nur folgerichtig, dass er Tradition als aktiven interpretatorischen Prozess versteht (vgl. Giddens 1996, 125). Sie ist nicht ein starrer Bestand im Rahmen eines immer
284 285
Vgl. parallel auch Giddens 1984, 118. Vgl. dazu Giddens 1996, 122 und Boyer 2006, 2 f.
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gleichen Aktes, sondern situativ angepasst.286 Insgesamt – vor dem Hintergrund der genannten Merkmale – bestimmt Giddens Tradition so: Tradition […] ist eng mit Gedächtnis verknüpft, insbesondere mit dem, was Maurice Halbwachs „kollektives Gedächtnis“ nennt; sie enthält das Element des Rituals; sie hat mit dem zu tun, was ich einen formelhaften Wahrheitsbegriff nennen möchte; sie hat ihre „Hüter“; und sie besitzt, anders als bloße Gewohnheit, eine bindende moralische wie emotionale Kraft. (Giddens 1996, 124)287
Zwar versteht Giddens das Zitierte explizit als semantische Bestimmung des Wortes „Tradition“, jedoch ist einsichtig, dass gewisse Vagheiten bleiben. Was genau hat Tradition mit dem Gedächtnis zu tun? Giddens meint, so wenig wie eine Privatsprache existiert, existiere eine Privattradition, Tradition sei vielmehr ein „Medium für die Organisation kollektiven Gedächtnisses“ (Giddens 1996, 125). Das heißt, in ihr bildet sich das kollektive Gedächtnis, was dann Tradition eher als Prozess in den Blick nimmt, der im – wohl noch vorselektiven – Weitergabeverfahren besteht. Jedoch kann das Gedächtnis so nicht Definiens für Tradition sein, weil eine Weitergabe auch dann bestünde, wenn nicht kollektiv selektiert würde. Der Hinweis auf das Ritual dient dem Herausstellen des praktischen Anteils an Traditionen, diese sind oft mit bestimmten Handlungen nach festgelegten Regeln verbunden.288 Dass Traditionen wiederum Hüter haben sollen, betont Giddens häufiger,289 und verweist auf den Umstand, dass sie als soziale Praktiken auf 286
Eine kluge Abgrenzung nimmt Giddens vor, indem er – gerade weil sie Anpassungen involvieren – Traditionen von Zwangshandlungen unterscheidet (vgl. Giddens 1996, 132). Von Ferne, gleichsam aus der Perspektive eines Außerirdischen, dürfte es tatsächlich mitunter schwer sein, zu unterscheiden, ob eine Person zwanghaft (im klinischen Sinne) handelt oder eben durch Traditionen bedingt. Giddens will darauf hinweisen, dass Zwangshandlungen keinerlei Situationssensibilität zeigen, während Traditionen diese besitzen. 287 Zur Theorie Maurice Halbwachs‘ vgl. Halbwachs 1985. Halbwachs‘ Ansatz will nachzeichnen, wie auch das individuelle Gedächtnis erheblich von sozialen Faktoren geprägt wird. Was der einzelne Mensch erinnert, ist an einen sozialen Rahmen gebunden (vgl. z. B. ebd., 2, 10, 16). Giddens liest, so steht zu vermuten, Traditionen als eine solche Rahmung. Die Wendung „formelhafter Wahrheitsbegriff“ referiert auf Boyers Theorie. 288 Daran zeigt sich eine Eigenart der Perspektive Giddens‘, der Tradition – ohne sich das vielleicht völlig klar zu machen – nach dem Paradigma des Religiösen denkt (vgl. in dieser Richtung Giddens 1996, 126 f., 151 und die ähnliche Lesart bei Dittmann 2004, 90 ff., der diese Einseitigkeit noch mit dem Fortwirken von Webers Ansatz erklärt). Es ließen sich leicht Praktiken mit weit geringerem Ritualisierungsgrad denken, die dann aber vermutlich auch nicht als „heilig“ gelten würden und für Giddens womöglich keine Tradition bilden. 289 Vgl. z. B. Giddens 1996, 126 f., wo als Beispiel für solche Traditionseliten genannt werden die Ältesten, Heiler, Magier und religiöse Funktionsträger. Auch hier ist das paradigmatische implizite Leitbild offensichtlich Religion. Es steht zu vermuten, dass ihm dafür
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
eine ausdifferenzierte Realisierung mit entsprechenden Rollen angewiesen sind. Schließlich benennt Giddens den „affektiven Unterbau“ (Giddens 1996, 128) der Tradition als wesentlich. Traditionen haben emotionale Macht, werden nicht im Modus des neutralen Registrierens bemerkt, sie sind affektiv auffällig eingebettet, was sie eben von Gewohnheiten und Routinen unterscheiden soll. Dieser für sich genommen phänomenologisch interessante Aspekt müsste jedoch ebenfalls weiter präzisiert werden, denn ohne Frage können Menschen höchst affektiv erregt reagieren, wenn ihre Routinen und Gewohnheiten gestört werden. Wenn dies Derartiges nicht zu Traditionen machen soll, muss der Hinweis, den Giddens geben will, so zu verstehen sein, dass Traditionen immer – also auch im Falle des „normalen“ Funktionierens – affektiv beladen sind (was für Gewohnheiten sicher nicht gilt). Demnach sind sie aber das immer und notwendig Auffällige,290 was freilich wiederum lebensweltlich schwer zu verorten sein dürfte, denn selbst die heiligen Messen werden durch die Wiederholung für den Gläubigen – zumindest gelegentlich – Routine. Was man daher vermuten kann, ist, dass Giddens die noch nicht reflexiv gebrochenen Traditionen als sehr besondere, normativ, praktisch sowie affektiv herausgehobene Vorkommnisse versteht. Wie jedoch unter den Bedingungen der reflexiv gewordenen Moderne derartige Traditionen zustande kommen können, bleibt auch mit Giddens fraglich. Er erkennt ihre Funktionen an, sieht aber zugleich ein, dass in der „posttraditionalen Gesellschaft […] soziale Bindungen eingegangen und nicht mehr von der Vergangenheit übernommen werden müssen“ (Giddens 1996, 193), was zum Beispiel mit „formelhaften Wahrheiten“ schwerlich in Einklang zu bringen sein dürfte. Aber diese Probleme mögen hier dahingestellt bleiben, denn der Fokus liegt ja auf der Frage, was Traditionen eigentlich sind. Und neben den erläuterten Bestimmungen Giddens‘ ist dabei von ihm eine Sache abschließend zu lernen, dass nämlich sein Versuch der Wesensfindung zugleich mehrere Perspektiven beinhaltet. Wenn er von der affektiven Kraft spricht, verweist das auf die Innenperspektive des von dieser Getroffenen, wenn er vom Aspekt des kollektiven Gedächtnisses spricht, ist dies allein von einem soziologischen Standpunkt aus erkennbar (dem Individuum als Individuum wird das keineswegs thematisch und kann es vielleicht auch gar nicht), während die Erkenntnis, dass traditionelle Sprachhandlungen gar keine Referenz haben, einen kosmologisch-epistemologischen Blick voraussetzt. Was man sich im Anschluss an Giddens fragen muss, ist, inwiefern alle diese wieder Boyers Theorie den Hintergrund bildet, der solche herausgehobenen Traditionsexperten intensiv bedacht hat (vgl. Boyer 2006, 34 ff., 100–106). 290 Auch diese These hat ihre Parallele bei Boyer. Vgl. dazu Boyer 2006, 1, wo von der psychologischen Auffälligkeit der Traditionen die Rede ist.
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Perspektiven eigentlich gut zusammenkommen können. Um dies nur an einem Beispiel zu erläutern, die Schaffung ontologischer Sicherheit ist völlig unabhängig davon, ob der Traditionsexperte wirklich nicht-referentiell spricht oder ob der Zuhörer ihn so versteht. Aus wessen Perspektive aber wird dieser Aspekt zum Bestimmungsmerkmal von Tradition gemacht? Ebenfalls unter Zuhilfenahme der Moderne als Kontrastfolie hat sich Gross der Tradition zugewendet, um – darin Shils vergleichbar – „advocate a return to tradition, but only if done in the right way.“ (Gross 1992, 6) Er will sich gegen die simplifizierende Opposition von Moderne und Tradition wenden, die nicht stimme, und zeigen, dass Traditionen in der Gegenwart als eine Mittel „to disturb, not affirm, the clichés and complacencies of the present“ (Gross 1992, 6) zu sehen sei. Eine Rückkehr zu Traditionen ist möglich als kritischen Traditionen, so werden sie zum Organ der Modernekritik. Die Moderne selbst wird im Hinblick auf ihre Traditionsfeindlichkeit, die für Gross aber nur oberflächlich wirkt, unterschwellig nicht ohne Weiteres zutrifft (vgl. Gross 1992, 3, 63), durch drei Tendenzen gekennzeichnet: Empirismus, Rationalismus und das Denken in Anfängen (vgl. Gross 1992, 24 ff.). Der Empirismus fordert deduktiv-empirische Legitimation, die die dogmatisch-induktive Tradition nicht liefern könne. Am Rationalismus scheitere die Tradition, weil dieser die sicherste (ggf. allein maßgebliche) Erkenntnis an den Vernunftgebrauch koppelt, nicht an Sinneswahrnehmungen, die aber eben die Basis allen Traditionsbegegnens sind. Schließlich besteht das Anfangs-Denken in der im 17. Jahrhundert aufkommenden Idee, man könne – wie etwa bei Locke oder Descartes vorgeführt – tabula rasa machen im Geist, aber auch in der Kultur, um so ganz neu (und das heißt dann immer: besser) zu schöpfen. Tradition als das aus der Vergangenheit kommende Hinzunehmende steht diesem Anfangen-Wollen offenkundig im Weg. Dies ist die sicher nicht originelle Lesart, die Gross leitet. Er will nun, wie angeführt, zeigen, dass dennoch auch in der Moderne Raum für Traditionen ist und sein sollte,291 sofern man diese neu interpretiert.292 Platz sollen Traditionen demnach finden können in der Gegenwart. Dass sie überhaupt nötig sind, deutet Gross anthropologisch, er versteht sie demgemäß als 291
Er versteht seine Arbeit als Rettungsmission (vgl. Gross 1992, 77). Zuletzt hat Yvonne Niekrenz Gross‘ Ansatz auf Beispiele gegenwärtiger Traditionen bezogen und so zumindest die Praktikabilität belegt. Wenn sie von Post-Traditionen spricht (vgl. Niekrenz 2014, 157), handelt es sich um solche, die, wie auch bei Gross und Giddens, an die Moderne angepasst erscheinen. Was aber das Gemeinsame von Tradition und PostTradition sein soll, das es gestattet, beide als „Tradition“ zu bezeichnen, bleibt unklar, da bis auf wenige allgemeine Merkmale (zum Beispiel Vergangenheitsbezug) weder Wesen noch Wirkung identisch sind.
292
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Instinktersatz und zweite Natur (vgl. Gross 1992, 3). Doch in gewisser Weise – als bloß rezeptiv Hingenommenes – sind sie nicht mehr zulässig, was aber den anthropologisch geerdeten Bedürfnissen nach Orientierung und Regelung des Selbst und der Welt gleichwohl keinen Abbruch tut. Wie also Traditionen retten? All traditions today exist in one of the three following conditions. First, there are traditions that have been destroyed or dismantled as active processes, but which continue on as fragments of value or behavior outside their original contexts. Second, there are traditions that persist at the center of social life, but at the price of being rationalized by the state or commercialized by the market. Last, there are traditions that endure more or less intact, but primarily at the margins of society. (Gross 1992, 77)
Gross beobachtete, dass Traditionen – und hier rekurriert er anscheinend auf ein vormodernes Paradigma – aktuell nur noch fragmentarisch und entkontextualisiert, rationalisiert und ökonomisiert oder peripher fortdauern. Wenn zum Beispiel Urlaubsregionen oder Biermarken mit bestimmten Traditionen – von Schuhplattlern über Trachten, von Reinheitsgeboten über alte Herstellungsweisen und -geräte – für sich werben, ist das ein Fall der zweiten Gattung, wenn die postmoderne Architektur eklektizistisch Formelemente unterschiedlichster Epochen zusammenbringt, einer der ersten. Das ist, wohlgemerkt, nach Gross der aktuelle Ist-Zustand, in dem sich Traditionen halten. Nicht jede dieser Weisen ist dabei per se zu loben. Insbesondere die erste und zweite Form beschreibt Gross als manipulativ.293 Das zeigt sich darin, dass er es für Traditionen zumindest problematisch hält, sie zu wählen. Aber – und das ist gleichsam ein starkes „Aber“ – die sachlich unangebrachte Wahl kann auch als Fortschritt gelesen werden: To be sure, there is something problematic about the notion of choosing to become involved in a tradition. […] Yet ironically there is a gain in this loss, for to choose to adhere to a tradition, and to remain consciously and witfully committed to it, may represent something qualitatively higher than merely being in a tradition by accident. (Gross 1992, 129 f.)
Einerseits stellt Gross den Verlust fest, der mit dem Unmöglichwerden eines vorbewussten Traditionshabens oder -übernehmens verbunden ist, andererseits jedoch – und das ist ein interessanter und weiterführender Gedanke – sieht er auch die Chance einer Vertiefung des Eingebundenseins in Tradition durch die bewusste Wahl. Üblicherweise wird die Explikation als „Tod“ der Tradition gedacht, wie
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Hierin erinnert er argumentativ an Adorno, der ebenfalls meinte, man könne die verlorenen Traditionen nicht ästhetisch surrogieren (vgl. Adorno 1977, 311).
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schon mehrfach an verschiedenen Autoren gezeigt, aber mit Gross wäre zu überlegen, dass eine explizite Aneignung auch Gelegenheit bietet, mehr an dieser zu entdecken.294 Er empfiehlt den (noch) nicht-manipulierten, nicht-beliebigen Traditionen, die in gewisser Weise als „unbeschädigt“ gelten können müssten und aktuell noch bestehen, mehrere Überlebensstrategien: „tactic of evasion“, „tactic of disguise“, „tactic of inversion“, „tactic of playing dead“, „changes in content“, „changes in form“, „retreating“ (Gross 1992, 127). All diese möglichen Reaktionsweisen sollen dazu dienen, die Traditionen vor allem vor manipulativen, im Interesse des Bestehenden vollzogenen Zugriffen zu bewahren.295 Immer verstellt, verbirgt, verändert sich die Tradition, um nicht im Rest – dem Üblichen, Alltäglichen – aufzugehen. Mit Gross stößt man somit auf Traditionen als Weisen der Distanznahme: „We need to recuperate past traditions not to restore a previous set of norms, as traditionalism tries to do; and not to impose new forms of social integration, which tradition is now incapable of achieving in any case; but to gain access to what might be called the unheimisch.“ (Gross 1992, 86) Traditionen werden zur Befreiung vom Hier und Jetzt, öffnen den Horizont in eine Anderswelt, die als Korrektiv und kritisches Gegenwicht zur Gegenwart wirken kann.296 Gerade deshalb ist Gross an ihrer Rettung interessiert.
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Man kann hier sowohl an Kierkegaards Sprung-Motiv denken, welches ja auch eine mindestens affektiv intensivierte Relation zum Bezugsobjekt darstellt, aber – und im Sinne Gross‘ noch einschlägiger – auch an den bekannten Effekt, dass Konvertiten die neue Weltanschauung oder Religion oft viel intensiver realisieren (sich strenger an die Vorschriften, Werte usw. halten). Mit Gross könnte man dies als eine Vertiefung durch Explikation verstehen. 295 Diese Rettungstaktiken sind zwar verständlich, tragen aber selbst Züge der intentional herbeigeführten Manipulation und Wahl. Gross möchte Traditionen nicht als geschichtliches Warenhaus verstanden wissen, in dem man sich nach Belieben bedienen könne (vgl. Gross 1992, 42), aber wenn Traditionen unter dem Druck der Moderne fortwährend gezwungen sind, sich zu verstellen, zu verändern, zu verbergen usw., scheint das doch letztlich auch ein gewisses intentionales Machen – wenn vielleicht auch ein Machen mit „Bauchschmerzen“, mit begleitendem „Schwermut“ und mit „Melancholie“ – zu sein. Musterfall einer Perspektive, die Traditionen als Warenhausgüter versteht, ist die Postmoderne, von der Welsch behauptet, ihr „Rückgriff auf […] Gehalte der Tradition geschieht nicht imitativ, sondern transformativ.“ (Welsch 1988, 443). Damit aber stehen sie interessegeleitet zur Wahl, wie legitim das Interesse auch immer sein mag. 296 Es wird darüber hinaus noch angedeutet, dass Traditionen Reichhaltigkeit und Tiefe der (Lebens-)Erfahrung sichern. Sie seien wichtig, „because tradition is the locus of wealth of nonrenewable, nonrepeatable values […]. And […] tradition is important because it lends depth and richness to experience.“ (Gross 1992, 83). Sie befreien den Menschen aus den
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Was aber sind Traditionen für ihn genau? Es werden für authentische Traditionen drei Bedingungen genannt: es müssen mindestens drei Generationen verbunden werden,297 es muss nicht nur überhaupt Altes als Altes übergeben werden, sondern Tradition muss auch ein gewisses moralisches oder spirituelles Gewicht haben, und es muss drittens ein Sinn von Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestehen (vgl. Gross 1992, 10).298 Schon diese drei Eigenschaften machen deutlich, dass Gross in Richtung umfassender kosmologisch-religiöser Weltdeutungen denkt.299 Mit ihnen ist daher ein entsprechender normativer Gehalt, eine Wertigkeit verbunden, was sich in starker präskriptiver Macht niederschlägt, wodurch sie von bloßen Gewohnheiten unterschieden sind (vgl. Gross 1992, 12). Traditionen sind auffällig – sowohl normativ wie affektiv. Man kann ihnen nicht mit Gleichgültigkeit begegnen (vgl. Gross 1992, 59), was umgekehrt gleichsam einen Lackmus-Test auf Traditionalität andeutet, denn was einem Menschen gleichgültig ist, ist folglich keine Tradition (mehr). Gross versteht Traditionen als Weltdeutungen oder Deutungsperspektiven jedoch nicht starr, sondern als „adapted to a situation“ (Gross 1992, 14). Traditionen sind selbst historisch gewordene Reaktionen auf sich je anders gebende Umstände. Im Kern liefern sie Inhalte zur Selbst- und Weltperspektivierung, die aus der Vergangenheit stammen, normativ aufgeladen sind, aber in der Gegenwart nur noch durch besondere Strategien fortbestehen können, aufgrund ihres kritischen Potentials aber gerade fortbestehen sollten. Insgesamt liefern alle drei Autoren Theorien, die im Angesicht einer traditionsfeindlichen modernen Atmosphäre sich um eine neue Platzanweisung für Traditionen bemühen. Sie eint der korrektive Blick auf das Phänomen, insofern sie bemerken, dass die einseitig negativ-kritische Perspektivierung seit der Aufklärung unzutreffend ist. Auf je verschiedene Weise versuchen sie, neue Formen der Tradition in einem vor allem durch rationale Explikations- und Begründungspflicht gekennzeichneten Umfeld zu denken. Dies tun sie deshalb, weil Traditionen auch – man kann stärker sogar sagen: besonders – in der Moderne Funktionen übernehmen können, auf die der Mensch im Interesse eines individuell wie gemeinschaftlich gelingenden Lebens nicht verzichten kann. Beschränkungen seiner Faktizität, womit sie – in gewissem Sinne – quasi utopisches Potential erhalten. 297 Das ist den Überlegungen Shils‘ entnommen. 298 Dass Tradition nicht nur überhaupt Altes, sondern Altes, gerade weil es alt ist, übergibt, betont Gross, um es von bloß automatischen oder gewohnheitsmäßigen Übertragungen zu unterscheiden (vgl. Gross 1992, 8). 299 So sieht er entsprechend frühere Traditionen als „framework for meaning or purpose: it told people what they should do in order to be in harmony with the world.“ (Gross 1992, 10).
3.14 Tradition und planende Vernunft …
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Tradition und planende Vernunft – Friedrich August von Hayek und Michael Oakeshott
Mit Oakeshott und Hayek sind zwei Denker hier zusammengestellt, die scheinbar nicht gut zusammenpassen, Hayek als liberaler Theoretiker, Oakeshott als konservativer. Doch der Grund, warum sie sehr wohl in einen Umkreis gehören, zeigt sich an ihrem Traditionsbegriff besonders eindrücklich, beide verteidigen nämlich Formen vor- oder transrationaler Vernünftigkeiten gegen den Zugriff einer planend-gestaltenden Rationalität.300 Traditionen sind vor diesem Hintergrund Fälle von historisch gewachsenen, nicht intentional hervorgebrachten Ordnungen, die gegen eine explizit ordnende Vernunft ein Eigenrecht zuerkannt bekommen. Man versteht Hayeks Überlegungen wohl am besten, wenn man sie von dem argumentativen Gegenpol her erschließt. Die Position, die er kritisiert, ist treffend beschrieben als konstruktivistischer Rationalismus (vgl. Hayek 1986, 24), womit nicht nur Philosophen – allen voran Descartes –, sondern auch politische Strömungen gemeint sein können, sofern sie die wesentlichen Prämissen des so verstandenen Weltzugangs teilen. Leitende Idee des konstruktivistischen Rationalismus, wie Hayek ihn deutet, ist, dass der Mensch eigentlich alles durch Vernunftplanung selbst bewusst hervorbringen kann – insbesondere im Bereich des Wissens und des Sozialen. Machbarkeit und Planbarkeit betrachtet Hayek als die modernen Formen eines Aberglaubens, worunter ein Zustand zu verstehen ist, in dem man mehr zu wissen meint, als man eigentlich weiß.301 Das, was die gegenwärtigen Abergläubigen nicht wissen, ist, dass der Rationalismus Grenzen hat, dass insbesondere Planen und zielorientiertes, bewusstes Machen notwendig limitiert sind. Wenn nämlich der Mensch anfängt, Dinge intendiert und vernünftig anzustreben, also zu organisieren, und insofern dies bedeutet, „Teile nach einem vorgefaßten Plan in Beziehung zueinander […] [zu bringen]“ (Hayek 1963, 6), setzt das einen ungeheuren Bestand an Wissen voraus, speziell dann, wenn es um Hervorzubringendes von großem Umfang und langer Dauer geht. Nicht nur muss man wissen, welche Teile überhaupt einzubeziehen sind, sondern auch deren Relationen in all ihrer Komplexität synchron und diachron bedenken. Hayek hält dies für eine „Anmaßung“ und letztlich für inhuman, denn der Mensch ist damit notwendig überfordert. Er mahnt daher an, sich der 300
Popper hat Oakeshott in diesem Sinne als Antirationalisten rezipiert (vgl. Popper 1994, 176). Die Gegenüberstellung von Oakeshott und Hayek gegen Rationalisten wie Popper nimmt in Teilen auch Anthony O’Hear vor, allerdings betont er zugleich die Unterschiede zwischen Oakeshott und Hayek sowie die Gemeinsamkeiten wiederum zwischen Hayek und Popper (vgl. O’Hear 1992, z. B. 65, 67, 73 f.). 301 Vgl. dazu Hayek 1977, 91 und Ders. 1996a, 70.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
notwendigen Unkenntnis des Menschen von vielem, das ihm seine Ziele zu erreichen hilft, bewußt [zu] werden. Die meisten Vorteile des sozialen Lebens, insbesondere in seiner fortschrittlicheren Form, die wir ‚Zivilisation‘ nennen, beruhen darauf, daß der Einzelne aus viel mehr Wissen Nutzen zieht, als ihm bewußt ist. (Hayek 1991, 30)
Worum es Hayek gegen den konstruktivistischen Rationalismus geht, ist ein Hinweisen auf die Komplexität des Bestehenden wie des Geplanten, die epistemische Situation des Wesens Mensch und die „blinden Flecke“ der Vernunft. Seine Komplexitätstheorie entwickelt Hayek vor allem am Modell des Marktes, den er als Wissenskumulations- und Wissensdistributionsinstitution versteht.302 Der Markt ist als Form einer sogenannten spontanen Ordnung dazu in der Lage, mehr Wissen zu versammeln und den in ihm Befindlichen zur Verfügung zu stellen, als ein planendes Gestaltung solcher Ordnungen zu bewerkstelligen vermag.303 Ursächlich für dieses Defizit des bewusst Hergestellten ist neben der Komplexität der Sache und dem Umstand, dass Rationalität selbst auf etwas fußt, das sie nicht herstellte, vor allem die epistemische und zeitliche Beschränktheit des Menschen. Der Einzelne (und ebenso eine einzelne Kultur) vermag angesichts der gewachsenen Ordnungen immer weniger als diese, jedenfalls wenn man auf das Ganze blickt, nicht nur auf kleine Verbesserungen oder Anpassungen. Hayek arbeitet mit der grundlegenden Opposition von bewusst gemachter und historisch gewachsener Ordnung. Der Rationalismus aber in seinen theoretischen wie politisch-praktischen Formen, so seine Beobachtung, denkt den Menschen als homo creator, der um so besser schaffen kann, je freier er ist, weshalb auf Dauer unkontrolliert und intendiert Gewachsenes dem Machbarkeitsimpetus zuwiderläuft. Folglich ist der „rationalistischen Denkungsart“ die „Ehrfurcht vor dem Traditionellen“ ganz fremd (Hayek 1991, 79). Gegen den verabsolutierten homo creator setzt Hayek darauf, die Dimension des Übernehmens des Vorgefundenen in ihrer Berechtigung zu betonen. Die Situation der Menschen sei so, dass diese grundsätzlich bemüht sein sollten, ihre Einrichtungen zu verbessern, sie diese aber nie insgesamt neu herstellen könnten. In ihrem Streben nach Verbesserungen müssten sie vielmehr „vieles hinnehmen […], wie es ist, ohne daß [sie]
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Zu Hayeks zentraler Orientierung am Marktbegriff vgl. Hastedt 2019, 167. Die Vorteile eines solchen Markt-Modells vor explizit deliberativen Wissens- und Konsensmodellen wie demjenigen Habermas‘ thematisiert auch Sunstein 2011, z. B. 314, 329. 303 Zum Begriff der spontanen Ordnung vgl. z. B. Hayek 1963, 6 und Ders. 1986, 60 ff. Man kann Hayek als Informationstheoretiker ansehen, insofern bei ihm die Frage, wie möglichst viel Wissen an viele Menschen und Orte und Zeitpunkte gebracht werden kann, ein zentrales Problem darstellt. Vgl. in diesem Sinne Vanberg 1981, 24.
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es verstehen.“ (Hayek 1991, 80) Es ist ein konstruktivistisches MünchhausenSyndrom, meint Hayek, zu glauben, der Mensch könne sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Traditionen ziehen (vgl. Hayek 1996a, 95). Gegen den so verstandenen Rationalismus, der, wie erwähnt, für Hayek nicht nur eine Frage der Theorie ist, sondern etwa in Form des realen Sozialkonstruktivismus planwirtschaflicher Systeme wie dem Kommunismus auch eine der – freiheitsbedrohenden – Praxis,304 setzt er auf einen Aufweis der Bedeutung der vermeintlich irrationalen Traditionen als einer Form gewachsener Ordnung.305 Was zeichnet sie aber aus? Hayek versteht sie als erfolgreiche evolutionäre kulturelle Selektionsprozesse. Seine Hochhaltung von Traditionen und Gebräuchen, von gewachsenen Einrichtungen und von Regeln, deren Ursprung und Berechtigung wir nicht kennen, […] gründet sich […] auf die Einsicht, daß das Ergebnis des Experimentierens vieler Generationen mehr Erfahrung verkörpern kann, als der einzelne Mensch besitzt. (Hayek 1991, 78)
Im Konzept der kulturellen Evolution306 , deren je aktuelles Ergebnis die Traditionen sind, wird Wissen akkumuliert und selektiert. „Tradition ist nicht etwas Unveränderliches, sondern das Ergebnis eines Auswahlprozesses, der nicht vom Verstand, sondern vom Erfolg gelenkt wird.“ (Hayek 1996a, 57)307 Die Tradition als Ordnung ist nicht bewusst hervorgebracht worden, denn dagegen sprächen dieselben Gründe wie gegen eine vernünftige Neuschaffung einer Gesellschaftsordnung, sondern sie ist durch die Prüfungen der Zeiten unintendiert, aber erfolgreich bewährt erwachsen. Und in diesem Prozess ihres Herkommens liegt 304
Als Auseinandersetzung mit diesem politisch relevanten Sozialkonstruktivismus vgl. Hayek 1994, z. B. 40, 46, 57 f., 119–124 und passim. 305 Der Rationalismus hatte die menschheitshistorisch frühere Voreingenommenheit für die Tradition geradezu in die umgekehrte Voreingenommenheit gegen sie verwandelt, wie Hayek – wohl zutreffend – sieht (vgl. Hayek 1986, 26). 306 Heiner Hastedt hat dafür argumentiert, dass nicht natürliche Evolution das Leitbild Hayeks sei, sondern vielmehr eine Theorie der im dargelegten Sinne komplexen Systeme, wovon Gesellschaft und Natur Sonderfälle seien (vgl. Hastedt 2019, 165). Das trifft die Sache, denn Hayek legt z. B. Wert darauf, zu betonen, dass das Evolutionskonzept eigentlich geschichtlich zunächst ein kulturwissenschaftliches war, bevor es auf die Biologie übertragen wurde (vgl. z. B. Hayek 1996a, 39), was verdeutlicht, dass er den Evolutionsbegriff nicht von der Natur her denkt, sondern bereichsunabhängig. 307 Dieser Gedanke einer kulturellen Evolution des Überlieferten hat in der Gegenwart durch die Mem-Theorie im Anschluss an Richard Dawkins wieder größere Verbreitung gefunden. Vgl. dazu Blackmore 2000, z. B. 103, wo Meme als Replikatoren verstanden werden, die sich erfolgreich weitergegeben haben (oder inzwischen verschwunden sind). Dazu auch Dennett 1997, v. a. 468–512 und Lynch 1996.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
gleichsam das Besondere und so Wertvolle verborgen, die kumulierte Arbeit der Generationen und Zeiten. Dabei sind die Traditionen, richtig verstanden, gar nicht primär als Wissensspeicher zu sehen, sondern als Wissensorganisatoren, denn die „Summe des Wissens aller Einzelnen existiert nirgends als integriertes Ganzes. Das große Problem ist, wie alle von diesem Wissen profitieren können, das nur verstreut […] existiert.“ (Hayek 1991, 33) Eine Lösung für dieses Problem stellt eben Tradition dar, denn indem es die Erfahrungen vieler in seinen Bahnungen bündelt, so der Gedanke Hayeks, organisiert es das zeitlich wie personell verstreute Wissen. Die so in den Blick gekommenen Traditionen sind sehr abstrakt. Hayek kommt es nur darauf an, dass sie nicht bewusst gemacht sind und aus einer – unbestimmten fernen – Vergangenheit stammen. Inhaltlich gibt er keine Hinweise auf Limitationen. Sein sehr abstrakter Zugang erweist sich auch dadurch, dass er sie anthropologisch – oder genauer: evolutionsbiologisch – deutet. Er hält Gewohnheiten und Fertigkeiten, Einrichtungen und „gefühlsmäßig[e] Einstellungen“ allesamt nämlich für „Anpassungen an die vergangene Erfahrung, die sich durch selektive Ausmerzung weniger geeigneten Verhaltens ergeben haben.“ (Hayek 1991, 34)308 Sie sind des Menschen Organe, um sich an die Umwelt anzupassen, womit sie zwischen dem Instinkt und der Vernunft liegen.309 Traditionen haben sich bewährt, sind empirisch erfolgreich gewesen, sind das kumulierte Ergebnis generationenlanger Erfahrungen und Testungen und gestatten dem einzelnen Menschen somit, sein Leben – wahrscheinlich – erfolgreich zu gestalten.310 Und nicht nur für den Einzelnen stellt die Tradition ein Lebensbewältigungsorgan erster Güte dar, denn mit Hayek ließe sich überlegen, ob nicht aus dem von ihm selbst betonten Umstand, dass es heute keine Zivilisation ohne Tradition gibt, folgt, dass auch ein kollektiver evolutionärer Vorteil in ihnen liegen könnte. Wenn es womöglich einmal traditionslose Menschengruppen – rein
308
Shils liest Traditionen bei Hayek daher richtig als evolutionäre Erfolge oder Stabilisierungen (vgl. Shils 1981, 205). 309 Vgl. zu diesem Gedanken Hayek 1991, 35 und Ders. 1996b, 6. 310 Die Vorteile des Individuums sind nicht primär Hayeks Perspektive, da Evolution, auch die kulturelle, selbstverständlich Gruppen, nicht Einzelne selektiert (vgl. dazu Hayek 1996a, 85). Aber freilich lassen sich Rückschlüsse für den Einzelnen ziehen, wie hier vorgeführt. Hayek spricht übrigens an mehreren Stellen (z. B. Hayek 1996a, 79 und Ders. 1996b, 13) auch von Tradition bei Tieren, er zieht keine speziesistische Grenze, gleichwohl soll der Stellenwert von Traditionen bei Menschen qualitativ herausragend sein.
3.14 Tradition und planende Vernunft …
211
fiktiv angenommen – gegeben haben sollte, so wären deren Reproduktionschancen nach Hayeks Modell geringer als die anderer Gruppen, ihr Aussterben daher wahrscheinlich (vgl. Hayek 1996b, 12 f.).311 Mit dem Vorgestellten sind die Grundzüge dessen, was Hayek unter Traditionen versteht, aufgedeckt. Er betrachtet sie als evolutionäre Produkte, die Erfahrungen und Entscheidungen vieler Menschen vieler Zeiten in komprimierter Form bereithalten. Daher sind sie so wertvoll und die rationalistische Kritik an ihnen gefährlich. Das Paradox der Tradition liegt nämlich, frei nach Hayek formuliert, darin, dass sie den Menschen Dinge und Tätigkeiten ermöglicht, die dann wiederum genau das verunmöglichen, was diese Dinge und Tätigkeiten überhaupt erst hervorgebracht hat – die Tradition.312 Das Werk der Traditionen, ihre spezifischen Leistungen, sieht Hayek als grundlegend für die gesamte gegenwärtige Zivilisation an, nur wissen die rationalistisch blickenden Menschen darum nicht mehr,313 was die Grundlagen ihres eigenen – von Hayek geschätzten – Daseins gefährdet. In zwei Hinsichten sollen wesentliche Traditionsleistungen verdeutlichend in den Blick genommen werden, nämlich ihre Vernunftermöglichung und ihre Freiheitsermöglichung. Die starke, sicher für einen Rationalisten provokante These zum ersten Aspekt, die Hayek formuliert, lautet, dass der Mensch „ohne jene kulturelle Entwicklung, die zwischen Instinkt und der Fähigkeit zu rationalem Entwurf liegt“, – also Tradition – „gar nicht […] Verstand erworben hätte […].“ (Hayek 1996a, 52) Es gibt eine kulturelle Emergenz der Vernunft, insofern die „Vernunft wohl nicht vor der Kultur da [war], sondern […] mit ihr gewachsen [ist].“ (Hayek 1996a, 18)314 Wenn dieser Gedanke stimmt, ist die Vernunft hervorgegangen aus der Tradition, insofern diese kumulierte Erfahrungen zur Verfügung gestellt hat, die den Gruppen ein besseres Leben und Überleben sicherte. Zudem sind Rückwirkungen der Tradition auf die menschliche Umwelt wahrscheinlich, welche Ausbildung und Anwendung der Vernunft positiv beeinflusst haben. Wohlgemerkt: Hayek spricht von einer allgemein menschlichen Vernunft, 311
Damit kann gleichwohl kein traditionsdarwinistischer Kampf zwischen Zivilisationen mit solchen Wissensorganisationsformen begründet werden, denn ob eine bestimmte Tradition besser als eine andere ist, darüber finden sich bei Hayek keine Aussagen, seine Perspektive ist allgemein menschlich, nicht konkret kulturell. 312 Dieses Paradox lässt sich cum grano salis entwickeln im Anschluss an die Hinweise bei Hayek 1996a, 10. Man könnte es auch als Dialektik der Tradition bezeichnen. 313 Menschen wissen „meist nicht […], wovon sie fett werden“, so Hayek (Hayek 1996a, 18). Zur ermöglichenden Rolle der Tradition für den Fortschritt vgl. ebd., 58, 61. 314 Vgl. auch Hayek 1996a, 91: „Es hat die kulturelle Entwicklung das gebildet, was wir heute Vernunft nennen, und nicht die Vernunft die kulturelle Entwicklung gelenkt.“ Ebenso zu diesem Gedanken vgl. Ders. 1991, 31 f.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
nicht von einer kulturrelativen Form, die zu einem Wahrheitsrelativismus führen würde. Eine humane Vernunft ist nur entstanden auf dem Boden der und gestützt durch die Tradition. Und sie bleibt, das ist der entscheidende Punkt in Hayeks Argumentation an dieser Stelle, fortwährend auf die Bereitstellung dieses sie ermöglichenden kulturellen Rahmens angewiesen: Die Vernunft ist zweifellos des Menschen wertvollster Besitz. Unser Argument sollte bloß zeigen, daß sie nicht allmächtig ist und daß der Glaube, daß sie ihr eigener Meister werden und ihre eigene Entwicklung lenken kann, zu ihrer Selbstzerstörung führen kann. […] Es ist ein Appell an die Menschen zu erkennen, daß wir unsere Vernunft sinnvoll gebrauchen müssen; und daß wir dazu jenen unentbehrlichen Rahmen des Nicht-willkürlichen und Nicht-rationalen erhalten müssen, das die einzige Umgebung ist, in der die Vernunft sich entwickeln und erfolgreich wirken kann. (Hayek 1991, 86 f.)
Wenn die Zivilisation an die Traditionen grundsätzlich und im Ganzen rührt,315 die sie hervorgebracht haben, spielt sie mit der Bedingung ihrer fortdauernden Möglichkeit. Der Rationalismus, wie ihn Hayek versteht, glaubt an die freischwebende Vernunft, die keinen konkreten historischen, gesellschaftlichen oder individuellen Ort benötigt. Hayek dagegen will darauf verweisen, dass nicht in den Traditionen die Irrationalität ruht, sondern dass diese gerade hinter diesen liegt. Wenn die Zivilisation zu tief an ihren Fundamenten gräbt, holt sie am Ende nicht die Vernunft, sondern die Unvernunft hervor. Neben der Ermöglichung und dauerhaften Gewährleistung von Vernunft ist es Hayek zudem wichtig, im Rahmen politischer Überlegungen zu zeigen, dass auch Freiheit und Demokratie – letztlich der von ihm favorisierte Liberalismus – auf dem Bestehen von Traditionen fußen. Seine These lautet: „So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer eine im hohen Maße traditionsgebundene Gesellschaft sein.“ (Hayek 1991, 78) Diese stärker politikphilosophische Aussage weist auf die Voraussetzungen von Freiheit hin, von denen eine die Tradition ist. Aber wieso soll sie das sein? Was leistet sie für diese? Man kann Hayeks Überlegungen so zusammenfassen, dass er das umfassende planerisch-intentionale Verhalten des Menschen (vor allem im Hinblick auf die Gesellschaft) nach dem Bild einer schiefen Ebene denkt. Einmal in das Planen und Machen im genannten Sinn eingestiegen, gesellen sich unintendierte 315
Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Hayek partielle Anpassungen und sinnvolle Modifikationen nicht nur für möglich, sondern für nötig erachtet. Keineswegs fordert er die bedingungslose Anerkennung alles de facto Bestehenden (vgl. dazu Hayek 1996b, 17, 25). Sein Blick richtet sich bei der Verteidigung von Tradition immer auf das Ganze, welches er gefährdet sieht.
3.14 Tradition und planende Vernunft …
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Folgen, Unbedachtes, Unvorgesehenes dazu, was eine Erweiterung des Machens und Planens zur Folge hat und so ad infinitum. Indem aber der Mensch mehr und mehr selbst regulieren und organisieren muss, vermindert er mehr und mehr den Spielraum freier Gestaltung und Entfaltung. Der Weg in die Knechtschaft, also in die Unfreiheit, beruht wesentlich auf der Idee, alles zielorientiert hervorbringen zu können oder gar zu müssen.316 Freiheit wird jedoch nicht hergestellt, sondern gerade durch das Herstellen verhindert. Sie fußt vielmehr darauf, dass es einen Raum des Wachsens, Bewährens, des offenen Geschehens gibt, in dem der Mensch gerade nicht weiß und grundsätzlich gar nicht vollauf wissen kann, warum bestimmte Dinge geschehen oder da sind. Tradition ist als kumulatives Produkt dieses Raumes Voraussetzung für Freiheit. Das sich daraus ergebende Modell stellt praktisch das Gegenstück zum Modell deliberativen Beratens à la Habermas dar. Letzterer hatte, wie erläutert, angenommen, eine ideale Diskurssituation werde dazu führen, das bestmögliche „Ergebnis“ für alle Beteiligten im Hinblick auf politische wie moralische Zustände zu realisieren. Hayek nun verweist darauf, dass die epistemische Beschränktheit der Menschen genau das verhindert, wenn sie im Rahmen ihrer Deliberationen auf Traditionen verzichten wollen.317 Gegen diesen Verzicht gewendet, heißt es bei Hayek: „Der Selektionsprozeß, in dem sich Sitten und Moralvorstellungen ausprägten, konnte mehr Tatsachen berücksichtigen, als der Mensch wahrnehmen konnte, und infolgedessen ist die Tradition in mancher Hinsicht dem menschlichen Verstand überlegen, ‚weiser‘ als dieser […].“ (Hayek 1996b, 80)318 Tradition liefert einerseits als Wissensorganisator mehr Erfahrung und Wissen, als die Einzelnen im Diskurs zusammenbringen können, zum anderen aber ist sie selbst – wie am Vernunftbegriff gezeigt – Voraussetzung von Rationalität überhaupt.319 Die Vorstellung, man solle, um in den idealen Diskurs einzutreten, 316
Zu diesem Modell vgl. z. B. Hayek 1994, 5, 36 f.; Ders. 1986, 79–85, 190 ff. und Ders. 1996b, 65–68. Hayek geht soweit, dass er, wie Hastedt richtig sagt (vgl. Hastedt 2019, 171), um der Freiheit willen alle anderen Werte – etwa auch Gerechtigkeit oder Gleichheit – im Konfliktfall zurückstellt, wenn deren Realisierung umfangreiche planerische Eingriffe in die soziale Sphäre erfordert. 317 Habermas ist sich, das war bereits gesagt worden, der vielleicht diskursermöglichenden Rolle der vorgängigen Traditionen wohl klar, baut dies jedoch nicht vollumfänglich aus. Einige Hinweise zu diesem Punkt liefert Matthiesen 1983, 41 f., 76–84. 318 Vgl. auch Ders. 1996a, 49: „Was den Menschen gut machte, war weder die Natur noch die Vernunft, sondern eine sich langsam entwickelnde moralische Tradition.“ 319 Um dies noch einmal zu verdeutlichen, vgl. auch Hayek 1996a, 92, denn dort wird gezeigt, dass Vernunft und Verstand selbst Muster oder Organisationsformen von Wissen sind, daher letztlich selbst Tradition.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
sich seiner traditionellen Voreingenommenheiten entledigen, führt nach Hayek gerade in die Unvernunft. Folglich wird Nicht-Expliziertheit, also das unthematisiert Gebliebene, positiv gewürdigt (vgl. Hayek 1996b, 75), eine Vorstellung, die der um unbewusste, damit irrationale Beeinflussungen besorgte Habermas ablehnen muss.320 Dabei läuft die Anerkennung von spontan gewachsenen Ordnungen bei Hayek nicht, wie ideologiekritisch vielleicht zu vermuten stünde, auf eine Anerkennung des Gegebenen per se hinaus, denn nicht nur sind partielle Anpassungen und Verbesserungen möglich, sondern er plädiert für eine Homöostase der Veränderung (vgl. Hayek 1996a, 33, 93). Nie ist alles auf einmal zu verändern oder zu zerstören, immer muss es darum gehen, die Bedingungen der Fortexistenz auf dem bestehenden kulturellen und politischen Niveau zu gewährleisten. Gegen den Impuls, das Neue als Neues, die Veränderung um der Veränderungen willen gutzuheißen, betont Hayek die Relevanz des auch immer in den Blick zu nehmenden Erhaltens dessen, was nicht bewusst menschengemacht ist,321 was gewachsen ist. Dieses liberale und doch traditionsfreundliche Modell, das Hayek entwickelt, ist, so muss man zusammenfassend sagen, durch zwei Eigenarten gekennzeichnet, nämlich seinen sowohl abstrakten wie funktionalistischen Blick.322 Abstrakt ist es insofern, als Hayek aus einer sehr von konkreten Interaktionen entfernten Perspektive auf Traditionen sieht. Sie sind nicht lebensweltlich verortet thematisiert, auch spielt die Perspektive der von ihnen Betroffenen keine Rolle. Sie kommen eben, zweitens, primär in ihren positiven Funktionen in den Fokus. Das hat zur Folge, dass sich von Hayek aus gar nicht genau sagen lässt, was Traditionen sind. Die wesentlichen Eigenschaften sind klar – ungemacht, gewachsen, überindividuell –, aber weiterführende Hinweise gibt es nicht. Bedarf es, wie bei anderen Autoren, mindestens dreier Generationen oder denkt Hayek, wie man vermuten 320
Zu diesem Modell, wonach eine grundlegende Fundierung deliberativer (vor allem ethisch-politischer) Prozesse in historisch Überkommenem notwendig ist, vgl. auch die Analyse bei O’Hear 1992, 70 ff., wo Hayeks anti-diskursethischer Ansatz mit Wittgensteins Sprachspiel-Überlegungen verbunden wird, denn diese Sprachspiele liefern ähnliche Hintergrundleistungen für Vernunft. 321 Hayek differenziert klug zwischen „menschengemacht“ und „geplant“ (vgl. dazu Hayek 1991, 31), denn in gewissem Sinne ist alles, auch die Tradition, selbstverständlich von Menschen gemacht, aber der wesentliche Unterschied besteht darin, dass das Geplante gezielt hervorgebracht wird und daher mit den Mängeln begrenzter menschlicher Fähigkeiten behaftet ist, während das Gewachsene gerade dadurch, dass es unbewusst entstanden ist, akkumulierte Erfahrungen und dauerhafte Bewährung als Ausgleichsfaktoren gegen die Mängel mit sich führt. 322 Den primär funktionalistischen Zugang Hayeks zu Traditionen betont auch O’Hear 1992, 65.
3.14 Tradition und planende Vernunft …
215
könnte, in noch größeren Zeiträumen? Ist jede gewachsene Form eine Tradition – von der Weise politischen Zusammenlebens bis hinab zur Zubereitungsweise von Lebensmitteln? Gibt es Unterschiede zwischen Traditionen und Gewohnheiten? Solcherlei Fragen ließen sich an Hayek noch viele weitere stellen. Sein wesentliches Verdienst ist aber, dass er die Rolle der Traditionen so stark wie kein anderer für das Entstehen und das Erhalten der rationalen und demokratischen Gesellschaftsform der Gegenwart betont hat. Von einer bloßen Traditionsrehabilitierung bei ihm zu sprechen, wäre eine Untertreibung, denn nicht geht es darum, wie bei Giddens oder Gross, ein gewisses kritisches Potential wachzuhalten, sondern überhaupt um die Existenz desjenigen Menschen, wie er aktuell lebt. Einen Mitstreiter im Kampf gegen den rationalistisch-planerischen Zugriff und den damit verbundenen Traditionsabbau hat Hayek in Oakeshott. Dieser ist ebenfalls ein entschiedener Kritiker eines übertriebenen Machbarkeitsgestus.323 Hinter den als problematisch wahrgenommenen gegenwärtigen Zuständen steht bei ihm wieder der „Rationalismus“, den Oakeshott so näher zu fassen sucht: Im Grunde tritt er stets für die Unabhängigkeit des Geistes in allen Situationen ein […], für ein Denken, das von der Verpflichtung gegenüber jeder Autorität mit Ausnahmen der Autorität der „Ratio“ befreit ist. […] Er ist der Feind des Achtungheischenden, des Glaubens an die Verbindlichkeit des Althergebrachten, der Feind der bloßen Tradition, des Nur-Üblichen oder der einfachen Gewohnheit. (Oakeshott 1966, 9)
Ein solcher rationalistischer Weltzugriff kann das Faktische gar nicht würdigen, sondern steht ihm immer schon im Modus der Skepsis gegenüber (vgl. Oakeshott 1966, 10). Es kommt auf die Herstellung einer tabula rasa an, auf der aufruhend dann rational geschaffen werden soll: „Jede Generation, ja jede Regierung sollte das unbeschriebene Blatt unbegrenzter Möglichkeiten vor sich liegen sehen; und falls es zufällig durch die irrationalen Kritzeleien traditionsbeladener Vorfahren entstellt worden ist, muß der Rationalist als erstes die tabula rasa wiederherstellen.“ (Oakeshott 1966, 13) Während ein Traditionsdenker wie Oakeshott es für ein Verbrechen hält, den nachfolgenden Generationen die Arbeit der Jahrhunderte nicht zu überliefern, ist es für den Rationalisten genau umgekehrt. Immer solle ein offener Horizont gesichert werden, der von Vorprägungen durch Traditionen
323
Großheim spricht von Oakeshotts ernüchtertem Blick auf den Machbarkeitswahn (vgl. Großheim 2012, 73).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
freizuhalten sei. Dabei zeichnet den Rationalismus noch zusätzlich ein enger Wissensbegriff aus, denn dieser ist technisch-explikativ orientiert, übersieht somit die Sphäre der Praxis (vgl. Oakeshott 1966, 16–20).324 Gegen einen derart verkürzenden und problematischen Zugriff auf die Welt wendet sich Oakeshott, indem er das Anknüpfen an das Überlieferte in seiner Sinnhaftigkeit betont. Man hat ihn daher treffend als „hypoleptischen Denker“ kategorisiert. Dieser Denkertypus ist „nicht der Auffassung, daß das vorhandene Wissen, Denken, Meinen beseitigt werden müßte, sondern weist nach, daß jeder Erkenntnisgewinn an Vorliegendes anknüpft und in dieses integriert wird.“ (Großheim 2013, 129) Traditionen sind derartige „hypoleptika“, an sie muss der Mensch anknüpfen, um überhaupt rational zu sein. Oakeshott behauptet nicht nur, wie Hayek, dass Vernunft aus Tradition hervorgegangen ist, sondern spezifischer, dass es ausschließlich situierte Vernunft gibt. Die neutrale, standortfreie Vernunft ist eine Illusion: „Keine Handlung ist ‚rational‘ an sich oder ‚rational‘, weil etwas vorhergegangen ist. ‚Rational‘ wird sie dadurch, daß sie ihren Platz in einer lebendigen Affinität, in einem Strom sittlichen Handelns hat.“ (Oakeshott 1966, 120)325 Rationalität besteht nicht per se, sondern ist Teil einer Lebensform, an die sie anknüpfen muss und an die sie gebunden bleibt.326 Was aber ist Tradition bei Oakeshott? Sie ist selbst eine Form praktischen Wissens.327 Sie stellt eine auf Vertrauen328 beruhende, überlieferte Weise des Tuns und Handelns dar, deren Gehalt aber gleichwohl nicht explizit vorliegt und auch auf diese Weise gerade nicht thematisch werden kann. Der Rationalismus begegnet ihr deshalb so feindlich, weil er einem „Mißverständnis über die Eigenart 324
Dieser Hinweis auf implizites, praktisches Wissen spielt eine große Rolle im Umfeld bestimmter wissenschaftstheoretischer Überlegungen (vgl. dazu Abschn. 3.16) und zuletzt empirisch reichhaltig gesättigt bei Crawford 2016. Der Rationalismus kann zudem nicht akzeptieren, insofern er Wissen für propositional jederzeit vermittelbar ansieht, dass manches Wissen sich erst über die Zeit entwickeln muss: „[…] [D]er Rationalist versteht niemals, daß ein Beruf durch zwei Generationen hindurch ausgeübt werden muß, bevor man ihn wirklich beherrscht.“ (Oakeshott 1966, 43). 325 Zur Kritik an der entsituierten Vernunft vgl. auch Oakeshott 1966, 97–102. 326 Dieser Gedanke weist voraus auf Überlegungen MacIntyres (vgl. dazu Abschn. 3.16). Zudem liegt in diesem Beispiel eine Differenz zwischen Oakeshott und Hayek verborgen, denn, wie O’Hear richtig sieht, während dieser einen funktionalistisch-zweckrationalen Blick auf Traditionen wirft, ist jener eher lebensformholistisch orientiert, weshalb er nicht von einer übergeordneten Perspektive aus Zweckhaftigkeit attestieren kann. Vgl. dazu O’Hear 1992, 65. 327 So auch die Lesart bei Großheim 2013, 131. 328 Das ergibt sich daraus, dass Oakeshott Traditionsabbruch als Vertrauensverlust interpretiert (vgl. dazu Oakeshott 1966, 118).
3.14 Tradition und planende Vernunft …
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menschlichen Wissens“ (Oakeshott 1966, 40) unterliegt: Der philosophische Irrtum des Rationalismus liegt in der Gewißheit, die er dem methodisch geregelten Verfahren zuschreibt, und in der Lehre von der Herrschaft der Methode; sein praktischer Fehler ist die Überzeugung, es könne nur zum Guten gereichen, sich das eigene Verhalten bewußt zu machen. (Oakeshott 1966, 29) Gegen einen methodengeleiteten Explikationsbegriff von Vernunft und dem daraus resultierenden Wissen weist Oakeshott auf Formen impliziten Wissens hin, die in vermeintlich vagen, unklaren oder unbewussten Praktiken stecken. Diese kommen auf die Menschen als Tradition. Daher handelt es sich bei Traditionen um Inhalte, es kommt Oakeshott weniger auf den Prozess des Tradierens an. Dasjenige, was da als Tradition aus der Vergangenheit kommt, ist nicht fest bestimmt oder starr (vgl. Oakeshott 1966, 39 f., 74, 137 ff.). Vielmehr ist eine „Tradition […] weder festgelegt noch abgeschlossen. Sie besitzt kein unveränderliches Zentrum, […] kein alles beherrschender Zweck ist wahrzunehmen, keine unveränderliche Richtung ist auszumachen […].“ (Oakeshott 1966, 139) Es kommt auf die Auslegung der Traditionen an, sie müssen handelnd angewendet werden. Dadurch – und nicht durch planerischen oder methodischen Zugriff – werden sie interpretiert. Freilich darf diese Auslegung nicht zu weit führen, eine einmal zu weit ausbuchstabierte Tradition ist gleichsam „tot“, wie Oakeshott wohl meint, wenn er darauf hinweist, dass explizites Wissen die ohnehin schwierige Revitalisierung von Traditionen verunmögliche (vgl. Oakeshott 1966, 119). Mit der Opposition von Methode und Tradition steht Oakeshott terminologisch wie sachlich in der Nähe von Gadamers Ansatz, beide sehen Traditionen als etwas, in das Menschen eingebunden sind und aus dem sie nur partiell und – zu ihrem Vorteil – nie ganz herauskommen, wobei dieses Eingebettetsein selbst vernünftig und erkenntnisermöglichend ist.329 Die Bereicherung des Traditionsdiskurses durch Hayek und Oakeshott liegt insgesamt in der Betonung der kumulativen, komplex-regulierenden Funktion und dem Aufmerksam-Machen auf den einseitigen Wissens-Begriff dessen, was sie Rationalismus nennen. Tradition erweist sich als eine Struktur, die Erfahrungen, Entscheidungen und Wissen kumulieren und über Zeiten, Menschen und Orte hinweg zur Verfügung stellen kann. So ist sie in der Lage, etwas zu tun, was Menschen gar nicht bewusst tun können (jedenfalls nicht auf eine gute Weise können), nämlich komplexe, unüberschaubare Zusammenhänge regulieren. Dieser Funktion können Traditionen aber nur dann nachkommen, wenn sie nicht 329
Zur Parallele zwischen Oakeshott und Gadamer vgl. McIntyre 2003, v. a. 177 ff. Eine Parallele besteht zudem zum Explikationismus-Modell von Schmitz, der Erkenntnis als Herausholen aus unhintergehbaren Situationen versteht (vgl. dazu Großheim 2013, 135 ff.).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
dem Verdikt des Rationalismus anheimfallen, der gegen ein hypoleptisches Denken ein anfängliches setzt, das mit dem Leitbild der fehlerverhindernden tabula rasa operiert. Gleichwohl gilt es zu attestieren, dass weder Hayek noch Oakeshott jenseits der Rehabilitierung und Funktionsanalyse sich grundlegende Gedanken über das Wesen der Tradition als Tradition gemacht haben. Ihre Begriffsverwendung wird nicht explizit zum Thema, sondern greift den Terminus auf im Sinne einer unterstellten Selbstverständlichkeit.
3.15
Die Tradition als narrative Argumentation – Alasdair MacIntyre
Oakeshott hat den Gedanken entwickelt, dass man Vernunft oder Rationalität eigentlich nicht außerhalb des Rahmens verstehen kann, in dem sie beheimatet, aus dem sie hervorgekommen sind. Gegen den Individuum wie Vernunft entsituierenden Rationalismus brachte er eine Rückbindung an Tradition ins Spiel. Im Rahmen seiner eigenen Überlegungen zum moralischen Zustand der Gegenwart und dessen Korrektur kam Alasdair MacIntyre auf ähnliche Überlegungen. Seine komplexen und werkgeschichtlich sich wandelnden Überlegungen können hier nicht in aller Breite verhandelt werden, sondern es soll ein Fokus auf seinen Traditionsbegriff gelegt werden.330 MacIntyre beobachtet in der Moderne einen zunehmenden Verfall der bindenden Kraft von moralischen Normen, gepaart mit einem weit verbreiteten rationalen, aber folgenlosen Diskurs über Moral. Diese Diskrepanz rühre daher, dass man seit der Aufklärung vergessen habe, dass es einer bestimmten Art von Grundlage brauche, um überhaupt moralisch und vernünftig zu sein (vgl. MacIntyre, Verlust, 10–15). Jede Handlung, sei sie moralisch, sei sie rational, sei sie eine wissenschaftliche Praxis, ist nach MacIntyre notwendig in einen Kontext, einen historisch-sozialen Rahmen eingebettet. Das gilt insbesondere auch für Tugenden, die eine Art moralische Praxis darstellen. An ihnen kann man den Einbettungsgedanken MacIntyres gut illustrieren. Er sagt: „Eines der Merkmale der Vorstellung einer Tugend […] besteht darin, daß sie zu ihrer Anwendung stets der Annahme einer vorgängigen Darstellung bestimmter Merkmale des sozialen und moralischen Lebens bedarf, in dessen Sinn sie definiert wird.“ (MacIntyre, Verlust, 250) Dieser notwendige Hintergrund, vor dem eine Tugend erst bestimmt 330
Eine ausführliche Analyse von MacIntyres Traditionsdenken liefert Dittmann 2004, 93– 112. Dort (ebd., 95) wird richtig auf die werkgeschichtlichen Veränderungen hingewiesen, was einen einheitlichen Blick auf Tradition bei MacIntyre erschwert.
3.15 Die Tradition als narrative Argumentation – Alasdair MacIntyre
219
werden kann und als sinnvoll erscheint, wird dreifach ausgelegt, nämlich als Praxis, als narrative Ordnung und als moralische Tradition (vgl. MacIntyre, Verlust, 250 f.). Alle diese drei Aspekte verorten die Tugend und machen sie so erst zu dem, was sie eigentlich ist. Außerhalb des Rahmens verliert sie ihren Sinn, weshalb MacIntyre, indem er den aristotelischen und christlichen Hintergrund des Tugendkonzepts beleuchtet, der Ansicht ist, dass es in der Moderne nur noch dem Namen, aber nicht mehr der Sache nach Tugenden im Sinne dieser beiden Kontexte gibt (vgl. z. B. MacIntyre, Verlust, 85 f.).331 Der Mensch ist bei MacIntyre nicht weniger als bei Gadamer332 oder auch Oakeshott das eingebettete Wesen. Indem die Moderne aufgrund vor allem des Rationalismus und des Individualismus333 den Menschen entbettet, fördert sie zunehmenden Pluralismus und zerstört die Fundamente des Gemeinsamen, auf denen jeder Kontext ruht oder in denen er sogar besteht (vgl. z. B. MacIntyre, Verlust, 301, 325). Traditionen kommen vor diesem Hintergrund in wesentlich zweifacher Hinsicht in den Blick, sie werden zum einen identitätslogisch verstanden, zum anderen epistemologisch.334 Identitätslogisch funktionieren sie so, dass Traditionen den Menschen immer zum Teil einer Geschichte machen (vgl. MacIntyre, Verlust, 295). Insofern das menschliche Leben nach MacInytre seine Einheit in der Form einer „narrativen Suche“ (MacIntyre, Verlust, 292) nach dem guten Leben hat, bedeuten Traditionen Identitätsstiftung, egal ob gewollt oder nicht gewollt, gemocht oder verabscheut. Sie verorten den Menschen in einer Geschichte, erklären und ermöglichen ihm Praktiken usw. Dittmann hat dies den Kern des Traditionsgedankens bei MacIntyre genannt, der eben in der in „erzählter Geschichte gründende[n] Identität“ (Dittmann 2004, 98) bestehe. Dieses
331
MacIntyre spricht davon, dass aufgrund der Wirkung der Aufklärung heute eine inkohärente Mischung aus Altem und Neuem bestehe (vgl. MacIntyre, Verlust, 66). 332 MacIntyre gibt an, von Gadamer viel gelernt zu haben (vgl. MacIntyre/Borradori 1994, 151), und auch Gadamer gesteht eine sachliche Nähe zu (vgl. Gadamer 1985, 1–7). 333 MacIntyres Analysen haben Parallelen zu denjenigen Taylors. So sagt auch dieser, man könne sich nur innerhalb eines Rahmens verstehen (vgl. Taylor 1996a, 55 ff.), während die eigene Identität durch das narrative Herkommen bestimmt wird (vgl. Taylor 2009, 56 f.). Zu Taylors Perspektive auf MacIntyre vgl. Taylor 1996b. 334 Dittmann hat, wie erwähnt, auf die werkgeschichtlichen Veränderungen des Traditionsbegriffs bei MacIntyre hingewiesen (vgl. Dittmann 2004, 95, 107 f.) und ihm insgesamt Vagheit vorgeworfen. Auch andere haben ein ähnliches Votum abgegeben (vgl. so Porter 2003, 39 und Knight 2008, 39, 48). Der zutreffende Befund hindert die vorliegende Annäherung jedoch nicht, denn hier steht ein systematisches Interesse im Mittelpunkt, und tatsächlich lassen sich die beiden genannten Aspekte fruchtbar machen, ganz unabhängig davon, ob sich die Verwendungen des Traditionsbegriffs bei MacIntyre als kohärent darstellen oder nicht.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Verständnis des Menschen als narrativ-hypoleptisch erläutert MacIntyre implizit, indem er aus der Perspektive der klassisch griechischen Kultur, die er als heroische qualifiziert, auf die moderne Kultur blickt, in der alles eine Frage der bewussten Wahl geworden sei. Er schreibt: „[…] [D]ie Freiheit zur Wahl von Werten erschiene vom Standpunkt einer Tradition aus, die letztlich in heroischen Gesellschaften wurzelt, eher als Freiheit von Gespenstern, deren menschliche Substanz sich dem Verschwinden nähert, als von Menschen.“ (MacIntyre, Verlust, 170). Es geht MacIntyre nicht darum, die Rückkehr zur Antike zu forcieren, denn jede Tradition besitzt bei ihm Eigenrecht.335 Aber dennoch steht ihm die antike Sicht insofern nahe, als der sich frei wählende, nicht eingebettete Mensch auch nach MacIntyre nur noch vage das Menschenangebrachte realisiert. Traditionen stiften den Rahmen, stiften die Verbindungen durch die Zeit, in denen der Mensch zu sich findet. Diese identitätslogische Funktion der Tradition spielt aber, anders als Dittmann meint, nicht die „Hauptrolle“, sondern diese fällt der epistemologischen zu. Mit epistemologisch ist dabei angezeigt, dass Traditionen Ergebnisse von rationalen Einzelvorgängen sind. In diesem Sinne meint MacIntyre: A tradition is an argument extended through time in which certain fundamental agreements are defined and redefined in terms of two kinds of conflicts: those with critics and enemies external to the tradition who reject all or at least key parts of those fundamental agreements, and those internal, interpretative debates through which the meaning and rationale of the fundamental agreements come to be expressed and by whose process a tradition is constituted. (MacIntyre 1988, 10)336
Traditionen stehen immer in einem Spannungsfeld, insofern sie von innen heraus – im Streit um Auslegung oder Anwendung etwa – und von außen – durch Konkurrenten, Häretiker usw. – herausgefordert werden. Sie passen sich an, da sie fortwährend in Konflikten stehen.337 Indem sie dies tun, versteht sie MacIntyre als Argumente, denn fortwährend wird um Auslegung, Umfang und vieles mehr 335
Hong sagt richtig, dass MacIntyre jede Tradition als in sich geschlossene mit je eigenen Rationalitätsmaßstäben versteht (vgl. Hong 1995, 76). Daraus könnte leicht ein Relativismusproblem resultieren, wenn denn zwischen den Traditionen gar nicht mehr nach Rang, Vernünftigkeit, Sinnhaftigkeit usw. differenziert werden könnte. Zur Diskussion dieses Problems vgl. Carson 2014, 28 ff., wo dafür argumentiert wird, dass MacIntyre zwar „rationaler Partikularist“ sei, aber kein Relativist. 336 Zur Herleitung dieses Begriffverständnisses vgl. MacIntyre 1988, 7–12. 337 Zur Anpassung vgl. auch MacIntyre 2012, 150, zum Motiv der Konflikte vgl. Ders., Verlust, 296.
3.15 Die Tradition als narrative Argumentation – Alasdair MacIntyre
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gestritten. Keineswegs ist dabei von einer kontinuierlichen Kumulation zu sprechen, diese kann, muss aber nicht auftreten.338 Mittels ihrer Erstreckung durch die Zeit werden sie narrativ und zugleich von den Individuen getrennt. MacIntyre hält Traditionen daher für „eine historisch erweiterte und sozial verkörperte Argumentation“ (MacIntyre, Verlust, 296 f.). Er legt, anders als zum Beispiel Hayek, keinen Wert darauf, die kumulative Komponente hervorzukehren, weil dazu immer schon ein traditionsexterner Maßstab oder Standpunkt zur Verfügung stehen müsste. MacInytre betont in der Hauptsache, dass sich Traditionen als durch die Zeiten ziehende Auseinandersetzung über Werte, Güter, Praktiken usw. verstehen lassen, in denen und durch die überhaupt die jeweils relevanten Maßstäbe erst entwickelt werden. „Der Begriff der Tradition verkörpert […] eine […] Erkenntnistheorie, derzufolge jede Theorie oder jeder Bestand an moralischen oder wissenschaftlichen Überzeugungen nur als Glied einer historischen Reihe verstandesmäßig faßbar und zu rechtfertigen ist […].“ (MacIntyre, Verlust, 198) Nicht die Kumulation ist hier das Entscheidende, sondern die Rahmung durch historische Erstreckung. Werden Bestände aus diesen Rahmen entfernt, verlieren sie ihre Bedeutung und ihren Wert.339 Die Rationalität der Traditionen, die, wie erläutert, nicht primär im Fortschritt oder in Kumulation liegt, speist sich dennoch aus einem am szientistischen Modell orientierten Gedanken, dass nämlich die Annahmen, Praktiken usw. adäquater werden,340 dass vielleicht sogar die pluralen Traditionen in einer universalen Form aufgehen werden (vgl. MacIntyre 1988, 354–363).341 So gesehen erweisen sich Traditionen bei MacIntyre als die identitätsstiftenden narrativen Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die als konfliktreiche Anpassungsvorgänge einen kollektiven Rahmen für Praktiken wie Theorien stiften. Aufgrund dieser Leistung sind sie für die in der von Zersplitterung und Zerfall bedrohten Moderne so wichtig. Abhängig erweisen sie sich dabei von einer Art Meta-Tugend, denn wenn alle Traditionen die Tugenden als spezifische Moralpraktiken erst rahmend ermöglichen, ist die Tugend, welche Tradition ermöglicht, übergeordnet. MacIntyre spricht von der „Tugend, 338
Vgl. dazu MacIntyre, Verlust, 198 und Ders. 2012, 180 f. Dies illustriert das Beispiel der beiden Formen des Tabus (vgl. MacIntyre, Verlust, 152 f.), von denen das kontextualisierte als sinnvoll und notwendig von den Menschen akzeptiert, das entkontextualisierte aber als fremd, oppressiv usw. abgelehnt wird. 340 Zu den szientistischen Tendenzen bei MacIntyre an dieser Stelle, die doch nach dem klassischen Motiv des empirischen Erfolgs oder der besseren Bewährung zu funktionieren scheinen, vgl. MacIntyre 1988, 358, 360. 341 Der epistemologische oder wissenschaftstheoretische Blick auf Tradition geht später bei MacIntyre zugunsten des narrativen Blickwinkels zurück. 339
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
das adäquate Gefühl für die Traditionen zu haben, denen man angehört oder die einem gegenübertreten.“ (MacIntyre, Verlust, 297)342 Dabei geht es nicht um bloße Demut vor dem Alten, sondern um einen adäquaten „Zugriff auf jene Zukunftsmöglichkeiten […], die die Vergangenheit für die Gegenwart verfügbar gemacht hat.“ (MacIntyre, Verlust, 298) Sensibilität für die Zugehörigkeit und ein Verständnis für die Möglichkeiten, das ist der Kern dieser Tugend. Dahinter steht ein von MacIntyre verfochtenes Bild vom Menschen, der gerade durch das adäquate Hineinkommen in gelingende Abhängigkeit ein gutes Leben führen kann (vgl. MacIntyre 2001). Es ist wenig überraschend, dass genau diese Tugend nach MacIntyres Beobachtung in der Moderne am Verschwinden ist, weil sie einem nach Autonomie strebenden Subjekt wenig sinnvoll scheinen muss.343 MacIntyres Traditionskonzept hat seine wesentliche Stärke, so muss man wohl sagen, im Gedanken der durch die Traditionen hergestellten narrativen wie rationalen Rahmungen. Wer aus einem solchen Kontext hinaustritt, verliert viel von dem, was er diesem Kontext verdankt. Auch der Hinweis darauf, dass Traditionen vielleicht davon abhängig sein könnten, dass Menschen ihnen in gewisser Weise sensibel und adäquat begegnen, verdient Beachtung, verweist er doch, wie MacIntyres Werk insgesamt, auf eine Ethik der Tradition, die eine sensiblere praktische Vernunft auszubilden bestrebt ist. Gleichwohl liefert sein Werk keinen pointierten Traditionsbegriff, dieser bleibt unterbestimmt. Dittmann hat in seiner schon erwähnten Kritik zu Recht darauf hinwiesen, dass der Gehalt unklar scheint. Auch wird die inhaltliche Lesart nicht klar von der prozessualen unterschieden. Und doch bleibt sein Ansatz gerade im Hinblick auf das moderne wie vielleicht noch zu verbessernde zukünftige Verhalten zu Traditionen – im Sinne einer Ethik – relevant.
3.16
Tradition als Basis von Wissenschaft
Sowohl bei den Theorien Hayeks und Oakeshotts als auch derjenigen MacIntyres344 kam das Motiv unartikulierten, impliziten, zumeist praktischen Wissens zur Sprache, aber auch ältere Positionen haben, wie gezeigt, gelegentlich über
342
Zu dieser Tugend vgl. auch Goldstein 2012, 172. Hierin sind sich MacIntyre und Taylor wieder sehr nahe. 344 Dieser hat sich übrigens explizit auf seine Anleihen bei Michael Polanyi und Thomas S. Kuhn berufen (vgl. dazu MacIntyre 2008, 278), Hayek immerhin Polanyis Theorie zur Kenntnis genommen (vgl. Hayek 1991, 33). 343
3.16 Tradition als Basis von Wissenschaft
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die Frage nachgedacht, ob Traditionen nicht in einer anderen als der dominanten expliziten, propositional vermittelnden Form Wissen beinhalten. Die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie hat im 20. Jahrhundert eine solche Spur verfolgt und ist dabei durch die Autoren Ludwik Fleck, Thomas S. Kuhn und Michael Polanyi auf Tradition als Thema gestoßen.345 Bei allen Unterschieden, die zwischen diesen Denkern mitunter in nicht unerheblichem Maße bestehen, eint sie doch die positive Bezugnahme auf Traditionen im epistemologischen Kontext.346 Fleck wie Kuhn möchten beide zeigen, dass man Erkennen, vor allem wissenschaftliches Erkennen, nur als soziale Praxis richtig versteht. Es gibt keine radikal individualisierten Erkennenden, diese sind immer schon eingebunden in ein Kollektiv und in eine diesem Kollektiv spezifische Art und Weise der Praxis. Und diese Einbindung ist nicht zu ihrem Nachteil: 345
Nicht immer, vor allem bei Fleck nicht, wird der Begriff „Tradition“ terminologisch verwendet. Da der epistemologische Zusammenhang aber im 20. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewann (wie schon Hayeks und Oakeshotts Überlegungen verdeutlichen), kann der Rückgriff auf diese Positionen selbst bei nicht immer gegebenem wörtlichen Rekurs nicht ausbleiben, dies zumal deshalb, weil bei Kuhn und besonders Polanyi der Begriff häufiger wird. Auf die Relevanz dieses Denkkomplexes für den Traditionsdiskurs verweist auch Shils 1981, 100–140. In aktuellen sozialepistemologischen Diskursen taucht der Begriff ebenfalls auf. Vgl. dazu als ein Beispiel Goldman 1999, 354. Ein weiterer wirkungsreicher Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts wird hier ausgespart, Paul Feyerabend, weil er mit seinem Ansatz weniger gut zu den genannten drei passt. Gleichwohl spielt auch bei ihm Tradition eine essentielle Rolle. Er hält Geschichte, Vernunft, Rationalität selbst nur für bestimmte Traditionen (vgl. Feyerabend 1980, 39). Er entwickelt dabei die Idee, dass man seine eigenen Traditionen wie ein Beobachter wahrnehmen und zwischen Traditionen wählen kann (vgl. ebd., 41–45). Damit aber wird sein Begriff sehr weit, läuft darauf hinaus, mit dem der Praxis (im Unterschied zu anderen Formen des Handelns) identisch zu werden (vgl. z. B. ebd., 40). Feyerabend sortiert letztlich alle Formen der Handlungs- und Wissensorganisation unter den Oberbegriff „Tradition“, wie es scheint. Ein so ausgeweiteter Begriff verspricht wenig, zumal er die Möglichkeiten der Wahl und der Distanznahme – beides für Kuhn gar nicht, für Fleck nur sehr bedingt möglich – nicht begründet, sie werden eher gesetzt. Ob etwa gewählte oder neutral beobachtete Traditionen noch als Traditionen gelten können (und ggf. wieso), kommt Feyerabend als Frage gar nicht in den Sinn. 346 Die Arbeiten Flecks und Kuhns bilden dabei freilich einen engeren Zusammenhang. Auf die Unterschiede zwischen beiden soll hier wie schon bei anderen Autoren nicht eingegangen werden. Der wesentliche Unterschied, soviel sei jedoch gesagt, liegt wohl darin, dass Fleck einen Pluralismus von synchronen Denkstilen zulässt, wohingegen Kuhn Paradigmen je Zeit eher im Singular zu denken scheint (jedenfalls der Tendenz nach). Der Hinweis ist angebracht, dass Flecks Theorie in der Rezeption hinter derjenigen Kuhns zurücksteht, was aber sachlich nicht gerechtfertigt scheint, viel eher muss man Flecks Arbeit als differenzierter und empirisch gesättigter ansehen.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Unmöglich ist ein wirklich isolierter Forscher, unmöglich ist eine ahistorische Entdeckung, unmöglich ist eine stillose Beobachtung. Ein isolierter Forscher ohne Vorurteile und ohne Tradition, ohne auf ihn wirkende Kräfte einer Denkgesellschaft und ohne Einfluß der Evolution dieser Gesellschaft wäre blind und gedankenlos. (Fleck 1983a, 81)347
Erkennen bedeutet, so Fleck, „bei gewissen gegebenen Voraussetzungen die zwangsläufigen Ergebnisse feststellen.“ (Fleck 1980, 56) Nicht Originalität ist der Kern des Wissenschaftlers, sondern im Gegenteil das Festverwurzeltsein in seiner „scientific community“. Diese Forschergruppe nennt Fleck „Denkkollektiv“, worunter er die „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“, versteht. An dem Denkkollektiv, so Fleck weiter, haben Menschen „den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.“ (Fleck 1980, 54 f.)348 Indem ein Forscher – noch als „Mensch“, bevor er qua Mitgliedschaft eigentlich erst zu einem Forscher wird – in ein solches Kollektiv eintritt, übernimmt er dessen Begriffe, Ansichten, Hypothesen usw., was sich auswirkt bis hinunter auf die elementare Basis des Wahrnehmens. Das Hineintreten in ein solches Denkkollektiv versteht Fleck ganz dezidiert nach dem ethnologischen Muster einer Einweihung (vgl. Fleck 1980, 73, 137). Man wird in die Weltsicht eben des spezifischen Kollektivs mit seinen spezifischen Stileigenarten – worunter Praktiken, Begriffe, aber auch Wahrnehmungsweisen fallen können – eingebunden. Insofern knüpft „jedes Lernen einer Tradition und einer Gesellschaft an; Worte und Sitten verbinden bereits zu einem Kollektiv.“ (Fleck 1980, 58)349 Erkennen bedingt daher weitestgehendes Involviertsein mit dem eigenen Denkkollektiv, tiefes Beherrschen des Denkstils,350 denn erst dann kann man das sich aus diesem fast zwangsläufig Ergebende bemerken. Erkenntnis wird zur Explikation aus dem kollektiv Geteilten. Deshalb ist das von früher Herkommende gerade nicht Erkenntnishemmnis, sondern Erkenntnisvorbedingung.351 Welche Rollen spielen Traditionen in diesem Modell? Wiewohl das Wort 347
Der Gedanke, den Fleck dort formuliert, ist ein hermeneutischer und so mit den Ansätzen Gadamers und Rothackers parallel zu sehen. 348 Zum Denkstil vgl. weiterhin Fleck 1980, 85, 130 f. 349 An dieser Stelle macht Fleck deutlich, dass seine Aussagen auf Natur- wie Geisteswissenschaften zutreffen sollen. 350 Dieses Motiv hat übrigens Parallelen bei Vico, der auch Wert darauf legte, dass die jungen Menschen zunächst nicht in der Kritik, sondern im Hineinkommen in den „sensus communis“ auszubilden seien (vgl. Vico, WuW, 27). 351 Folglich lehnt Fleck das tabula rasa-Modell als unzutreffend ab (vgl. Fleck 1983b, 46).
3.16 Tradition als Basis von Wissenschaft
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durchaus fällt (vgl. z. B. Fleck 1980, 6, 58, 188), wird es, wie gesagt, nicht terminologisch verwendet. Der Sache nach aber stellen Traditionen zum einen die Kontinuierung des Denkstils und damit des Denkkollektivs sicher, zum anderen ist die Basis derselben vermutlich inhaltlich als Tradition beschreibbar. Kuhn, der in der Sache nur im Detail, nicht im Grundansatz über Fleck hinausgeht, hat Tradition häufiger und zentraler bedacht, wobei hypothetisch unterstellt sein soll, dass sich seine Einsichten auf die Theorie seines Vorgängers übertragen lassen. Bei Kuhn wird das, in was ein Erkennender eingebunden ist, als Paradigma betitelt und als das definiert, „was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist“, wobei vor allem an „die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw.“ zu denken sei (vgl. Kuhn 1976, 186 f.). Dieses so verstandene, durch gemeinsame Elemente zusammengebundene Kollektiv von Menschen352 bildet in der Wissenschaft zwei Zustände aus, den der „normalen“ und den der problematisch gewordenen und zur Revolution neigenden Wissenschaft.353 Die normale Wissenschaft ist „eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.“ (Kuhn 1976, 25) Wissenschaft kann dann gut und sinnvoll funktionieren, wenn es einen – aus der Vergangenheit herkommenden – Gehalt zur allgemein akzeptierten Basis hat. Diese Basis entscheidet zum Beispiel über die relevanten Forschungsprobleme, die anzuerkennenden oder abzulehnenden Methoden usw. Daher ist gerade, wie auch bei Fleck, konvergentes, nicht dissonantes oder originelles Denken für den Fortschritt hilfreich (vgl. Kuhn 1992, 308). Fortschritt erfolgt nur innerhalb des akzeptierten Paradigmas, und er erfolgt um so besser, je fester akzeptiert das Paradigma ist. Verwurzelung wird von Kuhn als Vorbedingung für Neuerung gedacht (vgl. Kuhn 1992, 310, 319), auch für revolutionäre, denn dazu muss das bestehende Paradigma erst von innen heraus an seine Grenzen – unauflösbare Widersprüche etwa – geführt werden, bevor ein Wechsel (oder auch eine erhaltende Modifikation) erfolgt: „Immer wieder hat der fortgesetzte Versuch, eine anerkannte Tradition zu verdeutlichen, schließlich zu einer jener Wandlungen der grundlegenden Theorien, der Problemgebiete und der wissenschaftlichen Maßstäbe geführt, die ich als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnet habe.“ (Kuhn 1992, 318) 352
Der Paradigma-Begriff betont mehr das, was bei Fleck der Denkstil war, aber ein Paradigma ohne Kollektiv ist keines, weshalb es auch die Menschen umfasst. 353 Es gibt zudem auch noch einen vorparadigmatischen Zustand, in dem noch keine Einheitlichkeit erzielt wurde (während im revolutionären keine mehr besteht), er kann hier aber unthematisiert bleiben.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Traditionen – von Kuhn gedeutet als das anerkannte Sammelsurium aus der Vergangenheit übernommener Ansichten, Methoden, Wahrnehmungsweisen usw. – werden durch die normale Wissenschaft immer weiter expliziert, wodurch dann Situationen des Scheiterns auftreten können. Diese revolutionären Zeiten sind Traditionsmodifikationszeiten. Wissenschaftliche Revolutionen deutet Kuhn als „die traditionszerstörenden Ergänzungen zur traditionsgebundenen Betätigung der normalen Wissenschaft.“ (Kuhn 1976, 20)354 Der Paradigma-Begriff scheint hier geradezu ersetzt worden zu sein durch den der Tradition, wie auch die Aussage andeutet, die „naturwissenschaftliche Ausbildung […] bleibt eine dogmatische Einführung in eine vorgegebene Tradition, die der Student nicht bewerten kann.“ (Kuhn 1992, 313) Dass, worin ein Student einer Wissenschaft offensichtlich eingeführt wird – und zwar, wie Kuhn verdeutlichen möchte, nicht als Gleicher, sondern als zunächst Minderer –, ist eine Tradition,355 die an dieser Stelle sprachlich das Paradigma vertritt. Kuhn wie Fleck verstehen Traditionen, wenn die vorstehenden Auslegungen zutreffen, als aus der Vergangenheit kommende und in der Gegenwart von einer Gemeinschaft akzeptierte Verhaltensanweisungen und theoretische Deutungen. Diese haben eine fortschrittsförderliche Wirkung, insofern sie die in sie hineinkommenden Menschen an sich heranbilden, ihnen es so ermöglichen, innerhalb der Tradition weiterführende Explikationen vorzunehmen. Gelegentlich führt das zu Zuständen, in denen eine Tradition grundlegend modifiziert oder sogar verlassen werden muss. Traditionen, so verstanden, stellen die Basis aller (wissenschaftlichen) Erkenntnisoperationen der Menschen dar, und sie allein ermöglichen Fortschritt. Ein traditionsloser Erkennender ist ein Hilfloser, kein glücklich Befreiter. Am vehementesten auf Traditionen als legitimen epistemologischen Entitäten hat aber Polanyi bestanden, und zwar in zwei Kontexten, nämlich der Frage nach der Explizitheit von Wissen und der Frage nach der Gebundenheit des Wissens an die Person.356 Für das Theorem des impliziten Wissens ist die These zentral, „daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.“ (Polanyi 2016, 14) Diese Behauptung wird von Polanyi vor allem an Beispielen der Praxis erläutert, etwa dem des Handwerks, es wäre aber auch an Körperpraktiken wie Sport oder Musizieren zu denken, und richtet sich insgesamt gegen einen als „Objektivismus“ markierten 354
Vgl. für ähnliche Ansichten auch Kuhn 1976, 124, 152. Eine Auslegung der Wissenschaft als eine solche historische Tradition, die durch ein Kollektiv gelebt wird, bietet Heisenberg 1975. 356 Man kann persönliches Wissen selbstverständlich als Spezialfall impliziten Wissens lesen, aber im Interesse der Heuristik sollen beide getrennt behandelt werden. 355
3.16 Tradition als Basis von Wissenschaft
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Gegner.357 Objektivismus meint für Polanyi im Kern die These, dass es einen von allen Umständen und Einbettungen freien Standpunkt gibt, das heißt ein Absehen von „passionate, personal, human appraisals of theories“ (Polanyi 2015, 15),358 aber man darf sicher auch kulturelle und andere Einbettungen mitdenken. Jedoch, so die Gegenthese, alles Denken geht aus einer „Unterlage, die gleichsam ein Teil unseres Körper ist, hervor[…].“ (Polanyi 2016, 10) Polanyi verweist auf das implizite Wissen als nicht-thematisch verkörperter Wissensteil des Menschen. Der Mensch weiß qua dieses Bestandes viel mehr, als er explizit zu sagen weiß.359 Traditionen stellen die Weitergabe solchen impliziten Wissens einerseits sicher, andererseits sind sie es selbst – Polanyi unterscheidet zwischen Prozess und Gehalt nicht. Wesentlich für Tradition ist es, dass man ihr glauben muss, bevor man sie explizit „weiß“, worin aber gerade auch das Wesen des Wissens besteht (vgl. Polanyi 2016, 58 f.). Der Mensch muss in etwas eingeführt werden und es – zumindest zunächst und zumeist – glaubend übernehmen. Hier folgt Polanyi den Gedanken Flecks und Kuhns, insofern das Hineinkommen in eine Tradition die Vorbedingung für Wissen und emanzipatorische Kritik ist (vgl. z. B. Polanyi 2015, 164, 377). Er hält es, gegen den ungezügelten Aufklärungsgeist, für essentiell, dass es einen Rahmen von Traditionen gibt (vgl. Polanyi 2016, 59). Das Problem, welches er in der Gegenwart sieht, besteht darin, dass „ungetrübte Klarheit“ angestrebt werde, welche jedoch gerade den grundlegenden Wissensanteil, den impliziten, zerstört (vgl. Polanyi 2016, 25).360 Gegen eine verabsolutierte und radikalisierte Aufklärung verweist er darauf, dass ein Raubbau am impliziten Wissen das Wissen insgesamt zerstöre:
357
Dieser wird erwähnt z. B. bei Polanyi 2016, 31 und Ders. 2015, 267. In diesem Werk ist der Objektivismus stärker als Gegner präsent und meint dort so etwas wie Ent-Personalisierung der Wissenschaft. Im Werk „Implizites Wissen“ muss der Objektivismus eher als übermäßiger Explikationismus verstanden werden (vgl. dazu Polanyi 2016, 25). Beide Formen sind jedoch verwandt, immer geht es um eine Entbettung aus Situationen – wahlweise der der Person oder der des unthematisierten (kollektiven) Hintergrunds. 359 Generell für diese Differenzierung immer noch von großer Relevanz ist die Unterscheidung von „know how“ und „know that“, die auf Gilbert Ryle zurückgeht. Vgl. dazu dessen bekannten Aufsatz Ryle 1945/46. Ryle wendet sich gegen einen platonischen Rationalismus und will praktische, inkorporierte Intelligenz verteidigen. Es sei ein Fehler der Philosophie, so Ryle (ebd., 4), anzunehmen, dass Intelligenz identisch sei mit dem propositionalen Denken. 360 Er spricht an dieser Stelle davon, dass Klarheit mit komplexen Sachverhalten unvereinbar ist, was für etliche (wenn auch sicher nicht alle) Fälle impliziten Wissens zutrifft. 358
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Denn wenn man implizites Denken als unentbehrliches Moment allen Wissens und als grundlegendes geistiges Vermögen anerkennt, das allem expliziten Wissen erst seine Bedeutung verleiht, so muß man die Hoffnung fahren lassen, daß jede nachfolgende Generation – oder gar jeder Einzelne einer solchen – alle überkommenen Lehren einer kritischen Prüfung unterziehen könnte oder sollte. (Polanyi 2016, 57 f.)
Im Namen der Vernunft wird auf die Einhaltung der Kritikgrenzen gepocht, denn das implizite Wissen, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird (vgl. Polanyi 2016, 58), ist die Vorbedingung für die als eigentlich rational geltende Explikation. Wenn diese Grundlage zerstört ist, sind es auch das Wissen und die Vernunfttätigkeit.361 Doch nicht nur implizites Wissen ist traditionell, insofern es auf eine nichtpropositionale Weise von früher übernommen werden muss und sich die neu Hineinkommenden ihm gegenüber rezeptiv verhalten müssen, sondern das gilt auch für Wissen, das einen personalen Charakter hat. Solches Wissen gibt es etwa bei Experten oder Könnern einer Sache, sofern dieses eben nicht qua propositional verfasster „Anleitungen“ weitergegeben werden kann.362 Sicher stellen bestimmte Handwerksmeister – man mag sich wieder an Stradivari erinnert fühlen – oder Künstler – vielleicht ja Geigenvirtuosen – dafür gute Beispiele dar. Sie verfügen, mit Polanyi gesprochen, über ein Wissen, dass sie nicht einfach auf sprachliche oder andere regelgeleitete Weise vermitteln können. Es ließe sich sagen, sie haben es auf besondere Weise verinnerlicht bis hinein in Bewegungsformen. Wenn dieses Wissen bewahrt werden soll, so die These, müsse es eine Unterwerfung geben: „These hidden rules [d.i. also implizites Wissen; S.K.] can be assimiliated only by a person who surrenders himself to that extent uncritically to the imitation of another. A society which wants to preserve a fund of personal knowledge must submit to a tradition.“ (Polanyi 2015, 53) Während das Wissen eines Könners nur durch Nachahmung von und Lehre bei ihm weitergegeben werden kann, wofür die Praxis der noch heute etwa in der Musikausbildung üblichen Meisterkurse exemplarisch stehen mag, ist die Übernahme des impliziten Wissens der Gesellschaft nur möglich – so scheint Polanyi zu analogisieren –, wenn auch diese zu einem Nachahmer (eben der früheren Zeiten) wird, indem sie sich einer Tradition unterwirft. Damit ist klar, dass der Traditionsbegriff mit Autorität verkoppelt wird.363 Der besondere Aspekt an Polanyis Blick auf Traditionen als 361
Polanyi deutet (vgl. Polanyi 2015, 204) das Modell einer Homöostase der Explikation an. Vgl. dazu z. B. Polanyi 2015, 50, 53. In der Sache ganz ähnlich denkt Crawford 2016. 363 Polanyi scheibt an anderer Stelle (vgl. Polanyi 2015, 160), Tradition sei immer die eigene Interpretation der Vergangenheit, was freilich – sollte das bewusst vor sich gehen – dem Autoritätsmotiv seine Überzeugung nehmen könnte. 362
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den Formen, in denen nicht-propositionales Wissen überleben kann, liegt jedoch darin, dass er die Rezipienten-Seite betont. Von dieser erwartet er nicht nur, wie zitiert, Unterwerfung, sondern ebenso Vertrauen, aber auch Leidenschaft (vgl. Polanyi 2015, 208 f.). Über den Lernenden sagt er in diesem Sinne: The learner, like the discoverer, must believe before he can know. But while the problem-solver’s foreknowledge expresses confidence in himself, the intimations followed by the learner are based predominantly on his confidence in others; and this is an acceptance of authority. Such granting of one’s personal allegiance is – like an act of heuristic conjecture – a passionate pouring of oneself into untried forms of existence. (Polanyi 2015, 208)364
Der Lernende unterwirft sich nicht nur, sondern er ergreift die Tradition leidenschaftlich. Implizites Wissen benötigt eine energische Zuwendung, um weiterbestehen zu können, wobei diese sich aus dem Vertrauen auf das Vorbild bzw. den Lehrer und Meister speisen muss. Gerade deshalb, so könnte man überlegen, ist die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz des Traditionskonzeptes – ganz jenseits vom konkreten Inhalt – entscheidend. Eine solche Akzeptanz aber ist in der Gegenwart nicht mehr gegeben, seit die Aufklärung Kritik und Mündigkeit zum Maß erhoben hat. Polanyi nun will deshalb eine postkritische Wende vollführen. Er sagt: „We must now recognize belief once more as the source of all knowledge. Tacit assent and intellectual passions, the sharing of an idiom and of a cultural heritage, affiliation to a likeminded community: such are the impulses which shape our vision of the nature of things on which we rely for our mastery of things.“ (Polanyi 2015, 266) Es gibt etwas der Kritik Vorgelagertes (zu dem man die Tradition zählen muss), das in seinen Leistungen als so grundlegend anzuerkennen ist, dass Fundamentalkritik unmöglich wird. Es soll keinen umfassenden Zweifel mehr geben (vgl. Polanyi 2015, 295 ff.).365 Was dogmatisch daherkommt, speist sich aber – neben den vorgestellten epistemologischen Überlegungen – aus einer Art postkritischer Selbsterkenntnis. Der Mensch, so deutet Polanyi an, ist eben ein Wesen, das nicht als radikal kritisches leben kann. Sein Wissen und seine Überzeugungen kann es nur innerhalb eines Rahmens haben, mit dessen kritischer Zersetzung 364
Hervorh. S.K. Interessant ist, dass Polanyi von „untried forms“ spricht, was aus der Perspektive des Lernenden sicher stimmt (er kennt sie ja noch nicht), aber keineswegs aus historischer oder kollektiver Perspektive, denn da sind die traditionellen Gehalt gerade „erprobt“. 365 Es bleibt hier ganz unthematisiert, inwiefern Polanyis postkritischer Impetus eine sinnvolle Position sein kann, nicht vielmehr in Dogmatismus enden muss, insofern die Auswahl dessen, was zu schützen sein soll, wohl nur auf Dezision beruhen kann.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
auch diese fallen (vgl. Polanyi 2015, 267). Wer wissen will, muss Grenzen der Kritik akzeptieren. Bei allen drei vorgestellten Autoren spielt die Tradition – wie thematisch auch immer – eine vergleichbare Rolle. Sie steht für eine Form vorgängigen, basalen Wissens (bzw. manchmal auch als die Form, in der dieses Wissen durch die Zeit geht), die höhere Erkenntnisweisen erst ermöglicht und nicht ohne Verluste expliziert werden kann. Der Erhalt einer bestimmten historischen Erkenntnispraxis ist dabei an die Fortdauer der sie gründenden Tradition gebunden, weshalb man wahlweise (wie Polanyi) einen Kritikschutzraum andenkt oder (wie Kuhn) den revolutionären Wissenssystemwechsel als vorübergehenden Niveauverlust ansieht. Einen ausformulierten Traditionsbegriff hat gleichwohl keiner entwickelt, jedoch gerade mit dem Hinweis auf die wissenschaftsermöglichende Funktion noch einmal den stereotypen Gegensatz von Vernunft und Tradition durch Differenzierung unterlaufen, denn dieser Gegensatz besteht, wenn überhaupt, nur zwischen den Traditionen und einer ganz spezifischen Vernunftform.
3.17
Genealogische Brüche und vertikale Spannung – Peter Sloterdijk
Ein in der Gegenwart sich viel mit Tradition – jedenfalls der Sache nach – beschäftigender Philosoph ist Sloterdijk. Seine Verhandlung bedarf allerdings zweierlei Legitimationen, einerseits im Hinblick auf das Thema, andererseits im Hinblick auf seine Arbeitsweise. Sloterdijk ist aufgrund seines „blumigen“, bildund anspielungsreichen Schreibstils in der Gegenwartsphilosophie so solitär wie umstritten. Dennoch rechtfertigt das nicht, ihn per se zu übergehen. Es mag im Hinblick auf konsistente Begriffsarbeit Defizite geben, im Detail erweist sich sein Werk jedoch als reich an Einsichten. Dass dabei der Begriff „Tradition“ eher unterminologisch Verwendung findet, ist zu konstatieren, hält aber nicht von einer an der Sache orientierten Zuwendung ab. Tradition als Thema ist in den Texten
3.17 Genealogische Brüche und vertikale Spannung – Peter Sloterdijk
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präsent, wie etwa die Definition von Kulturen bezeugt.366 Diese versteht Sloterdijk als „traditionstüchtige Menschengruppen mit einem hohen Dressur- und Kunstfertigkeitsfaktor“ (Sloterdijk 2009, 188). Sie bestehen für ihn, dieser Auskunft nach, in einer Orientierung an Tradition (bzw. der Fähigkeit zu dieser) und einem normativen Anspruch, der im Dressur-Motiv aufleuchtet. Insofern Kultur in ihrer Bedeutung für den Menschen schwerlich zu hoch zu schätzen ist, verweist Tradition in einen sachlich zentralen Bereich von Sloterdijks Denken. In seinen Schriften hat sich Sloterdijk immer wieder mit dem beschäftigt, was man allgemeinsprachlich Traditionen nennen könnte. Dabei ist eine gewisse Verschiebung wahrnehmbar. Zunächst nämlich erkannte er an, dass der Mensch nie wirkliche Anfänge habe, sondern der „wirkliche Anfang […] nie anders da [ist] als in den Resultaten des Schonangefangenseins.“ (Sloterdijk 1988, 12) In diesem Sinne denkt auch Sloterdijk den Menschen also hypoleptisch. Aber solche „Tätowierungen“ (Sloterdijk 1988, 16), die von früher her eingeschriebenen Texte auf den Häuten der Menschen, sind nicht hinzunehmen, sondern umzugestalten, „wo Tätowierung war, soll Kunst werden […].“ (Sloterdijk 1988, 17) Und nicht nur eine Umgestaltung deutet er an, sondern sieht in dem Umstand, dass der Mensch immer schon durch ein „Weitergabeapriori“ (Sloterdijk 1988, 154) gekennzeichnet sei, offensichtlich primär eine Beschränkung. Weitergabeapriori ist wohl als Gegenmodell zur tabula rasa zu sehen, der Mensch ist nie ohne schon von anderswoher Übernommenes zu denken. Sloterdijk versteht dies aber politisch, indem er sich am Fall der Nationalstaaten orientiert. Seine Begriffswahl an dieser Stelle, bei einem Autor mit so hoher Sprachsensibilität wie ihm sicher alles andere als zufällig, ist einschlägig konnotiert. Nationen „enteignen“, man sei ihnen „totalitär ausgeliefert“, sei ein „Staatsgefangener“, Nationalsprachen seien „Hexenküchen“, machen die sie Sprechenden zu „Drogenabhängigen“ (Sloterdijk 1988, 155 ff.). Der gemeinsame Nenner all dieser sprachlichen Bilder liegt in der Abhängigkeitsdimension und der Verruchtheit. Es steht sicher zu vermuten, dass das Weitergabeapriori – als eine Form des Bemerkens traditionaler Zusammenhänge – nicht positiv gelesen wird.
366
Auch eine von Sloterdijk selbst betreute, sein eigenes Denken zum Thema habende Dissertation (vgl. Jongen 2009) stellt zumindest dem Titel nach Tradition in den Fokus. Leider ist die Arbeit insgesamt – und sie rechnet sich das als positive Hermetik an (vgl. ebd., 33) – schwer nachzuvollziehen. Insbesondere vermisst man eine Klärung dessen, was Tradition eigentlich sein soll. Sie wird identifiziert mit „Wirkungsgeschichte“ (ebd., 35), also im Sinne Gadamers gelesen. Es ist aber auch von geheimen Traditionen als dem „Konsensus aller Weisen“ (ebd.; zu dieser vgl. auch Sloterdijk 1988, 171) die Rede, was sicher über der Wirkungsgeschichte verortet werden müsste.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
In anderen Texten jedoch zeigt sich eine andere Konnotation.367 So heißt es etwa: „Seit dem Neuen ohnehin die Welt gehört, ist der Moment gekommen, sich nach den Chancen des Alten als Alten zu erkundigen.“ (Sloterdijk 1989, 93)368 Die Moderne, in der das Neue uneingeschränkt begrüßt wird, gäbe es aber nicht, „wenn diese sich nicht, als Benutzerin und Verbraucherin vormoderner Ressourcen, auf etwas stützen könnte, was von ihr, auf letztlich selbstdestruktive Weise, nur ausgebeutet, nicht regeneriert wird […].“ (Sloterdijk 1989, 93)369 Liest man diese Stelle als Kommentar zum Vorherigen, dann muss das Abbauen des Weitergabeaprioris zum Problem werden. Und tatsächlich beklagt Sloterdijk, dass es in der Moderne eine „Getragenheitsvergessenheit“ gibt, „die die Voraussetzung jeder Selbständigkeitswut ist.“ (Sloterdijk 1989, 199) Anders formuliert: Der moderne Aufbruch zu Autonomie und zum Ideal der umfassenden Selbstgestaltung aller Dinge fußt darauf, dass der Mensch das Weitergabeapriori vergessen hat. In zwei wesentlichen Hinsichten nun ist Sloterdijk im Rahmen einer Reflexion über Tradition zu bedenken. Er entdeckt die Moderne als das Zeitalter des genealogischen Bruchs, der Weitergabe- und Vererbungsunterbrechung, womit er die bekannte Diagnose der Traditionsfeindlichkeit auf ein abstrakteres, zugleich aber vereinheitlichenderes Niveau hebt. Sein Blick ist eines Nachdenkens wert. Andererseits ist er derjenige Philosoph, der eindringlich auf Kultur – und damit mittelbar Tradition – als Vertikalspannungsunternehmen hinweist. Der Mensch ist das Tier, das sich zu etwas machen muss. Diese anthropologische These wendet Sloterdijk kulturkritisch normativ, indem der Mensch als das übende, sich und andere dressierende Tier gedacht wird. Im Rahmen solcher Überlegungen finden auch Traditionen Beachtung, insofern sie Ansprüche an den Menschen stellen, die Vertikalspannungen aufbauen. Beide Motive sollen erläutert werden im Hinblick auf eine Weitung des Verständnisses davon, was Tradition sein kann. Sloterdijk denkt den Menschen als ein Wesen, dass sich selbst formen kann und muss. Der Mensch bringt den Menschen durch Askesen – Übungen – hervor. Er schafft sich mittels dieser Selbstarbeit ein Leben „in symbolischen Immunsystemen und rituellen Hüllen […].“ (Sloterdijk 2009, 13) Der in der 367
Vielleicht ist diese Veränderung Aleida Assmann entgangen, denn mit ihrer Behauptung, Sloterdijk haben den Traditionen sein Misstrauen ausgesprochen (vgl. dazu Assmann 1999, 67 ff.), trifft sie wohl seine Kritik an Gadamer, aber nicht spätere Überlegungen. Insgesamt – vor allem im lange nach Assmanns Werk erschienenen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ – ist Sloterdijk ein Denker, der um die Funktion der Tradition sehr genau weiß und sie in gewissem Sinne gegen die Moderne einfordert. 368 In dem genannten Text entwickelt Sloterdijk eine Form der Beschleunigungskritik, die diejenige Rosas sachlich vorwegnimmt. 369 Im Satz klingt vermutlich absichtlich ein wenig das berühmte Böckenförde-Diktum an.
3.17 Genealogische Brüche und vertikale Spannung – Peter Sloterdijk
233
philosophischen Anthropologie oft diskutierte Weg zur zweiten Natur erfolgt demnach über Übungen, die Sloterdijk als Anthropotechniken versteht, insofern an ihrem Ende eben ein (veränderter, neuer) Mensch steht. Vermittels solcher Übungen und den Anlässen, die die Befolgung der Übungsriten einfordern, wird dem Menschen gegenüber ein Anspruch bekundet. Es öffnet sich eine normative Differenz zwischen Ist- und Sollenszustand, es entsteht eine vertikale Spannung (vgl. Sloterdijk 2009, 27). Eine derartige Anspruchsinstanz und differenzeröffnende Entität können – inhaltlich verstanden – Traditionen sein. Wenn man Traditionen als Habitus liest, insofern sie die anthropologische Funktion der dispositionellen Orientierung des Menschen übernehmen können, dann „identifizieren [sie] den Menschen als das Tier, das kann, was es soll, wenn man sich rechtzeitig um sein Können gekümmert hat.“ (Sloterdijk 2009, 289) Indem klar ist, dass der Mensch durch Training gleichsam alles erreichen kann – ein Leitgedanke, der oft in pädagogischen Albträumen enden dürfte –, wird die Ausbildung und Übernahme dispositioneller Grundlagen zum Anspruch mindestens der älteren Generation gegenüber den neueren. Aber selbst wenn man diese Lesart nicht teilt, so verweist Sloterdijks Vertikalspannungs-Theorem darauf, dass Praktiken Aufforderungen zu – unangenehmer, anstrengender – Verbesserung370 sein können. So kann ein Geigenschüler zwar alle üblichen Verfahren des Lernens und Spielens ignorieren, aber die Tradition seines Spieles – in Form von Vorbildern, Aufnahmen, Lehrbüchern – zeigt ihm, was zu erreichen richtig wäre (und sein Instrument sagt ihm fortwährend, dass er es noch nicht erreicht hat). So gesehen liefern Traditionen, wenn man sie inhaltlich denkt, Vertikalspannungsanlässe.371 Das so dargelegte Modell ist freilich nur vom Individuum her entwickelt. Sloterdijk eröffnet jedoch auch die Perspektive, Kulturen als „Ko-Immunitäten“ zu denken. Menschen bilden im Rahmen der Kollektive – etwa qua Steuern, Ritualen, Verträgen usw. – gleichsam eine Form gegenseitiger Immunitätsstützung aus (vgl. Sloterdijk 2009, 710 f.). Derart wären Traditionen überindividuelle Formen von Immunisierungen gegen die Unvorhersehbarkeiten des Lebens. Indem Menschen sich asketisch steigern und verändern, erwerben sie Eigenschaften, die insgesamt der Ko-Immunität ihrer Gruppe zugutekommen.
370
Woher der Maßstab kommen soll, mag hier dahingestellt bleiben. Sloterdijk hat dabei allerdings von Gewohnheiten, die nicht weiter definiert werden, ein überraschend negatives Bild (vgl. dazu Sloterdijk 2009, 266, 300). Er sieht in ihnen Phänomene der Masse, nicht der sich heraufbildenden Elite. Dabei jedoch bedenkt er nicht die grundständig entlastende Funktion der Gewohnheiten, die vielleicht erst Höherbildung möglich machen. Es gibt auch Stellen, an denen er von „guten Gewohnheiten“ (ebd., 714) spricht, aber das Verhältnis bleibt unklar.
371
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Am eindringlichsten auf Tradition ist Sloterdijk allerdings im Rahmen seiner Analyse der Neuzeit als Kampf gegen Erblichkeit gestoßen. Erblichkeit erscheint als ein Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt […]. Daß solche „Versklavungen“ durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten, mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. (Sloterdijk 2014, 24)372
Erblichkeit wird „zur Sünde […], die sich durch Tradition verewigt hat und weiter perpetuieren will.“ (Sloterdijk 2014, 457) Nicht mit etwas, sondern ganz frei anfangen zu können, das wird zum Leitmotiv der Neuzeit, die nun auf allen Feldern derartige genealogische Beziehen abzubrechen sucht.373 Sloterdijk führt dies auf verschiedensten Feldern vor, etwa an Rangfolgen in Königshäusern, aber seine Beobachtung ist als Heuristik abstrakter zu lesen. Was die Neuzeit demnach macht, ist eine Wette abschließen auf die Leistungsfähigkeit und Wertigkeit des freien Neuen gegen die gesamten Erfahrungen und Erzeugnisse der Vergangenheit.374 Wenn der Bruch mit allem Vorherigen zum Wesen der Neuzeit wird, finden freilich Traditionen dann keinen Platz mehr in ihr: Wahrhaft modern ist das von nichts aus dem Bisherigen ganz überzeugte Leben, das im experimentierenden Umgang mit sich selbst den Entschluß verwirklicht, die verblaßte Tradition durch intensive Hypothesen zu ersetzen. Der nach-revolutionäre Hiatus ist in jedem Subjekt, das sein Leben selbst in die Hand nimmt, als eine intim erlebte Herkunftsschwäche präsent. (Sloterdijk 2014, 82)
Traditionsverlust wird ausgeglichen durch revolutionäre Intensität, was, wenn die These stimmt, immerhin darauf verweist, welche gefühlsökonomische Funktion Tradition im Subjekt für gewöhnlich hat – das Motiv der „ontologischen Sicherheit“ taucht hier der Sache nach wieder auf. Die Modernen als „schreckliche Kinder“, die den Kontakt zu Eltern und Großeltern abbrechen, füllen die 372
Diese Stelle bildet einen auffälligen Kontrast zu den vorgestellten kritischen Ansichten zum Weitergabeapriori. 373 Einige ähnliche Überlegungen zum Problematischwerden der Genealogie in der Neuzeit gibt es auch bei Assmann 1999, 67 f., 102 ff. und Dies. 2013, 144 ff. 374 Spätestens in ökologischen Zusammenhängen (aber auch in medizinischen) ist es – zumindest heute noch – aber offensichtlich, dass der Mensch das hypoleptische Wesen bleibt. Freilich gibt es auch dort Entwicklungen, die man als antigenealogische denken kann, etwa die postnatale Veränderung des eigenen Körpers sowie die zunehmende Wählbarkeit von Geschlecht oder Name auch in späten Lebensphasen. All das ließe sich mit Sloterdijks Heuristik einfangen.
3.17 Genealogische Brüche und vertikale Spannung – Peter Sloterdijk
235
dadurch entstehenden Lücken in den genealogischen Zusammenhängen kreativ auf – durch Projekte, Revolutionen, Surrogate, Tricks, ohne allerdings echte Traditionen wieder stiften zu können. Diese sind nämlich für Sloterdijk, wie man ableiten kann, „Weitergabe auf der Basis eines generativen Bandes“ (Sloterdijk 2014, 290). Wenn das Band zerrissen ist, kann es wohl Herkunft usw. noch geben, aber es ist dann qualitativ etwas anderes, weil eine bestimmte – vielleicht affektiv zu deutende – Eigenschaft fehlt. Sloterdijk meint, einst sei Tradition als äquivalent mit Frömmigkeit zu denken gewesen (vgl. Sloterdijk 2014, 314), und wenn man dieser Interpretation folgen mag, heißt das vermutlich, dass der Moderne die Fähigkeit zur gläubigen Hinnahme abgeht. Die frühere, als traditionell zu bezeichnende Kultur hat sich gegen Diskontinuitäten gleichsam „ins Zeug gelegt“, sie hat einen „horror vacui“ (vgl. Sloterdijk 2014, 410). Die Moderne hingegen macht den Abbruch der Kontinuität, das Aufreißen von Lücken, zum Leitmotiv. Was zeigen diese Analysen Sloterdijks im Hinblick auf die Frage nach der Tradition? Zum einen helfen sie zu verstehen, warum Traditionen Kulturleistungen sein können. Indem sie Normen aufstellen, die gerade nicht naheliegend, leicht, bequem sind, fordern und fördern sie das formbare Tier Mensch. Demnach missversteht man Traditionen, wenn man sie als das Alltägliche, das Naheliegende, das Selbstverständliche betrachtet. Andererseits zeigt Sloterdijks Blick auf die Neuzeit, dass diese Diskontinuität zum Prinzip gemacht hat. Auf vielen Feldern erweist sich der Abbruch von denjenigen Zusammenhängen, die eine oder maximal zwei Generationen überschreiten, als gefordert oder längst bewerkstelligt.375 Damit aber wird ersichtlich, als eine Parallele zum Vorherigen, dass Tradition unter diesen Umständen selbst eine nicht einfache Übung wird. Man muss sie bewusst herstellen. Kontinuität ist das Unwahrscheinliche geworden, was sie vielleicht immer war, aber früher nicht sein sollte, jetzt gezwungenermaßen wird. Im Hinblick auf eine Präzisierung des Traditionsbegriffs steuert Sloterdijk somit vor allem das normative Spannungsgefälle bei, ohne allerdings einen klar erkennbaren eigenen Terminus zu entwickeln.
375
Ein einschlägiges Beispiel für den umgekehrten Fall liefert ein von Arthur Imhof untersuchtes nordhessisches Gehöft, für das er im Zeitraum von 1552 bis mindestens 1945 nachweisen konnte, dass der jeweilige Hofbesitzer (fast) immer (Jo)Hannes hieß (vgl. dazu Imhof 1982, 147 ff.). Das setzte nicht nur voraus, dass die Eltern einem Kind den entsprechenden Namen gaben, sondern aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und Nicht-Voraussehbarkeit des Geschlechtes bedingte es fortwährendes Bedenken des Zieles. Man könnte fast sagen, hier standen mehrere Generationenfolgen ganz im Dienste eines – für die Heutigen – völlig belanglosen generativen Bandes. Die von Imhof vorgestellten Personen sind ein Beispiel für die „treuen Kinder des Gestern“.
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3.18
3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Jan und Aleida Assmann und die Tradition als Gedächtnis
Einen wesentlichen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Reaktualisierung des Traditionsbegriffs haben in den letzten drei Jahrzehnten Aleida und Jan Assmann geliefert. Sie haben dafür argumentiert, Tradition im Sinne eines Gedächtnisses zu verstehen.376 Ihre Ausgangsbeobachtung ist, dass das wesentliche Grundproblem menschlicher Gesellschaften das der Kontinuität ist.377 Wie können Menschen Wissen, Normen, Praktiken, aber auch Objekte und deren sinnhafte Nutzung auf Dauer stellen? Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge. […] Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist also der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. (Assmann 2016, 30)378
376
Dass beide Autoren zusammen verhandelt werden, ist gerade vor dem Hinblick des Traditionsthemas begründungsbedürftig. So hat Jan Assmann dafür plädiert, kollektives Gedächtnis bzw. kulturelles Gedächtnis nicht als Tradition zu verstehen, sondern als ein diese rahmendes Phänomen sui generis (vgl. Assmann 2005, z. B. 24, 34). Dieser These aus dem Jahr 1992 widerspricht später Aleida Assmann, wenn sie sagt: „Tradition soll […] als paradigmatischer Fall des kulturellen Gedächtnisses verstanden werden.“ (Assmann 1999, 88). Dennoch erscheint die Zusammenstellung, bei vielleicht weiterbestehenden Detaildifferenzen, aus zwei Gründen vertretbar. Eine schwächere Plausibilisierung liefert der Umstand, dass in der Sekundärliteratur beide Autoren auch sonst durchaus zusammen abgehandelt werden, sich daher eine gewisse Lesart bereits in diesem Sinne etabliert hat (vgl. als Beispiel Dittmann 2004, 136). Gewichtiger ist jedoch die Tatsache, dass beide 1994 einen Aufsatz veröffentlicht haben (vgl. Assmann/Assmann 1994), indem sie eine – übrigens Jan Assmanns 1992er These widersprechende – gemeinsame Theorie der Tradition andeuten, die derjenigen Aleida Assmanns von 1999 in den Grundzügen entspricht, so dass im Interesse eines primär systematischen Zugriffs auf Binnendifferenzierung verzichtet werden kann. Wenn man dennoch eine allgemeine Interpretationsthese zur Orientierung treffen wollte, so scheint der Traditionsbegriff für Aleida Assmann zentraler zu sein als für Jan Assmann. 377 So zum Beispiel im Anschluss an Halbwachs und Carl Gustav Jung bei Assmann 1988, 9. 378 Aleida Assmann legt ihren Überlegungen dabei einen sehr bestimmten Vergessensbegriff zu Grunde (zu den Differenzierungen des Vergessens vgl. Assman 2016, 67), der teilweise den Aspekt des Wählenkönnens (vgl. ebd., 35) zu beinhalten scheint. Assmann weiß, dass das nur einen sehr begrenzten Ausschnitt des Phänomens des Vergessens betrifft, denn vieles vergisst der Mensch, ohne es bewusst gewählt oder gar überhaupt nur in der Hand gehabt zu haben. Die Probleme, die mit Assmanns nicht normfreiem Konzept verbunden sind, sollen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.
3.18 Jan und Aleida Assmann und die Tradition als Gedächtnis
237
Kulturen reagieren auf diesen Befund mit der Ausbildung von Gedächtnisformen. Diese werden als Kontinuierungsphänomene verstanden, mit deren Hilfe sich menschliche Verbände gegen das – immer näher liegende – Vergessen wehren. Aleida Assmann meint daher, Tradition bedeute so etwas wie ein Versicherungssystem gegen die Zeit im Sinne der wahrscheinlichen und immanenten Tendenz des Lebens zum Verfall, Verlust, Abbruch und Vergessen. Naturwüchsig ist allein das Vergessen, nicht die Tradition. Sie bedarf spezifischer Vorkehrungen und Anstrengungen, um eine Kontinuität zu erzeugen und zu stabilisieren, die von sich aus immer unwahrscheinlich ist. (Assmann 1999, 91)
Der ständige – und zudem natürliche – Verlust durch Vergessen (in welcher Form auch immer) wird nur durch Aufwand, durch Arbeit und Engagement sowohl auf kultureller wie individueller Ebene verhindert, dies zudem auch nur immer auf Zeit. Indem so auf Tradition als Verlustantidot geblickt wird, nehmen Assmanns die These vom Menschen (und mittelbar auch der Kultur) als potentiell Riskiertem wieder auf. Nur durch Arbeit am Erinnern kann der Mensch das, was bereits erarbeitet worden ist, retten. Mit dieser Tradierung entwindet er sich erst aus dem, was ihm unmittelbar „naturwüchsig“ eigentlich zukäme, nämlich dem Verweilen im Augenblick, die nicht nur immer wieder neue ontogenetische, sondern auch phylogenetische tabula rasa. Vor diesem Hintergrund übernimmt Tradition die Rolle des paradigmatischen Falls eines überindividuellen Gedächtnisses.379 Dabei unterscheiden Assmanns verschiedene Formen sowohl des Gedächtnisses als auch der Tradition, hinsichtlich des ersteren vor allem das kommunikative vom kulturellen. Das kommunikative Gedächtnis beruht auf unmittelbarer sprachlicher Interaktion, das kulturelle hingegen ist identitätsstiftend, bewahrt Wissen, ist rekonstruktiv, objektiv kristallisiert, verbindlich und reflexiv.380 Der Bruch, der Übergang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis liegt bei etwa 100 Jahren, wenn die letzten Zeitzeugen sterben und unmittelbare Kommunikation über ein Ereignis unmöglich wird.381 Auf die weiteren Differenzierungen – und auch die Kritik 379
Assmanns schlagen explizit vor, „Tradition durch Gedächtnis zu ersetzen“ (Assmann/ Assmann 1994, 117). So werden sie auch in der Sekundärliteratur rezipiert (vgl. z. B. Baumann 2005, 505). 380 Vgl. dazu als kurzer Überblick Assmann 1988, 10–16. Ausführlichere Erläuterungen bietet Ders. 2005, v. a. 48–66. 381 So gesehen kann man die „ludi saeculares“, die es in unterschiedlichen Formen wohl in vielen Kulturen gibt, als implizites Übergangsfest von etwas in Tradition ansehen. Zuletzt hat die westliche Kultur dies prominent erlebt, als um 2020 herum die verbliebenen Zeitzeugen
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3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
daran382 – des Gedächtniskonzeptes kann hier verzichtet werden, da es für den Traditionsbegriff selbst nur als allgemeines Hintergrundtheorem wichtig ist, nicht in seinen Details.383 Tradition nun, so scheint es, wird von Assmanns – vor allem oder sogar nur – als Form des kulturellen Gedächtnisses verstanden. Insofern das kulturelle Gedächtnis als auffällig, mit besonderen Inhalten beschäftigt verstanden wird, kommen auch Traditionen allein dort in Frage, wo es um Herausgehobenes geht. Sie sind von bloßen Gewohnheiten abzutrennen, denn während diese das unauffällige Selbstverständliche darstellen, werden Traditionen aktiv ergriffen gerade dann, wenn es eben nicht naheliegt, ihnen gemäß zu agieren (vgl. Assmann 1999, 72).384 Gleichwohl zeigt dies schon ein Problem auf, denn Assmanns denken Traditionen primär als Kontinuitätssicherungsinstanz,385 andererseits aber auch konkreter, indem sie ihr Identitätssicherungsleistungen zuschreiben oder sie als Selbstvergewisserung verstehen.386 Das sind jeweils andere Nuancierungen, die nicht in jeder Hinsicht als kompatibel gelten müssen, denn während eine davon – Identitätssicherung – zum Beispiel auf spezifische Gehalte abzielt, stellt die andere nur überhaupt die Kontinuität von normativ Bedeutsamem sicher. Aber diese Detailprobleme können zurückgestellt werden, insofern Assmanns
des Ersten Weltkrieges starben. Dass mit den „ludi seaculares“ etwas für Tradition Besonderes verbunden ist, wurde in der Literatur des Öfteren festgestellt. So spricht José Ortega y Gasset davon, dass man an ihnen die primär gesellschaftliche Abstammung der Bräuche ersehen kann (vgl. Gasset 1957, 267 f.), während Manfred Fuhrmann sie als Ausdruck der römischen Orientierung am Vergangenen verstand (vgl. Fuhrmann 1987, z. B. 134, 141). 382 Vgl. dazu als ein Beispiel die These Harald Welzers, man müsse vor allem von einem sozialen Gedächtnis reden, das viel subtiler, weil „en passant“ funktioniere (Welzer 2001, z. B. 12). 383 Wiedenhofer sieht richtig, dass Assmanns einen funktionalistischen Blick auf Traditionen werfen. Sie verstehen sie als Gedächtnisphänomene, die etwas tun, um den humanen, vielleicht sogar naturgeschichtlichen Urtatbestand des Vergehens und Vergessens zu bekämpfen (vgl. Wiedenhofer 2002, 269). Dieser allgemeine Zugang reicht zum Verständnis aus, die Differenzierung der verschiedenen Gedächtnistypen ist irrelevant. 384 Aleida Assmann referiert hier, aber im Gestus der Affirmation, die Theorie Gilbert Murrays. Zu dessen Ansatz vgl. Murray 1927, v. a. 5, wo er Traditionen als bewusstes Ideal deutet. 385 Das heißt, sie folgen, wie Dittmann zutreffend festhält, einem medialen Begriffsverständnis (vgl. Dittmann 2004, 136). 386 Vgl. für solche unterschiedlichen Nuancierungen Assmann 1999, 94, 159. Diese drei Aspekte lassen sich zweifelsohne verbinden, sie sind hier nur deshalb als problematisch herausgestellt, weil Assmanns gar nicht aufklären, dass hier überhaupt ein Problem liegen könnte.
3.18 Jan und Aleida Assmann und die Tradition als Gedächtnis
239
eine Differenzierung des Traditionskonzepts vornehmen, sie unterscheiden nämlich zwischen einem neutralen, deskriptiven und retrospektiven Begriff einerseits, einem emphatischen andererseits. Der erste Terminus beinhaltet schlicht die Feststellung einer – aus Sicht des Betrachters bestehenden – historischen Kontinuität, etwa wie man in der Philosophiegeschichtsschreibung von der „Tradition des Platonismus“ spricht. Der zweite Wortsinn, auf den es Assmanns allein ankommt, ist der emphatische, der sich „ausschließlich auf Formen aktiver Herstellung von Kontinuität aus der Perspektive des Tradenten [bezieht]. Tradieren wird dabei als eine kulturelle Institution aufgefaßt, die sicherstellt, daß Texte, Gedanken, Verhaltensformen, Werte durch die Zeit an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.“ (Assmann 1999, 63) „Emphatisch“ ist die Tradition deshalb, weil sie auf Herausgehobenes abzielt und den Tradenten (anders als im Fall des bloßen Beobachters) etwas angeht, ihn betrifft. Sie spricht ihn mit Autorität an (vgl. Assmann 1999, 64), ist werthaft und kollektiv verbindlich (vgl. Assmann 1999, 88). Dabei hat sie historisch ihre Funktion gewandelt, insofern sie in vormodernen Zeiten auf Legitimitätsgründung abzielte, in nachmodernen hingegen auf Identitätsstiftung und -sicherung (vgl. Assmann 1999, 89).387 In beiden Fällen stellt sie aber Kontinuität sicher, nur in je anderer Hinsicht. Wenn diese Überlegungen stimmen, wird Tradition zu einem normativ selektiven Vorgang,388 der aus der Vergangenheit Relevantes und Verbindliches aussiebt und so für die Nachfolgenden vor dem naturwüchsigen Vergessen bewahrt.389 Die Selektivität ergibt sich vor allem
387
Die Definition, Tradition sei eine „auf Dauer gestellte kulturelle Konstruktion von Identität“ (Assmann 1999, 90), gilt daher nur für die Nachmoderne. 388 Dass die Selektion eine durchaus positive Eigenschaft der Tradition ist, betont Aleida Assmann gerade implizit im Kontrast zu den modernen Archiven, vor allem den digitalen, in denen nichts mehr in Vergessenheit gerät, aber auch folglich nichts mehr selektiert und – gemäß dem emphatischen Traditionsbegriff – eigentlich auch kaum noch etwas wirklich tradiert wird, weil gar kein normativer Bezug mehr vorliegt. Vgl. zur fehlenden Selektion im Zeitalter des Internets Assmann 2016, 212–220. 389 Daher gilt Assmanns gerade der Kanon auch als Extremfall einer Tradition aufgrund seiner inhaltlichen wie formalen normativen Verbindlichkeit (vgl. Assmann 2005, 103). Durch solche selektive Weitergabe diene man übrigens, so die These, gerade nicht egoistischen Zielen (man kann wohl sagen: nicht einmal epochenegoistischen Zielen), sondern altruistischen, denn man erweist anderen einen Dienst. Vgl. zu diesem traditionsethischen Gedanken, der im Anschluss an die altägyptische Vorstellung einer Sozialseele entwickelt wird, Assmann 2009, 111.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
daraus, dass Menschen eben schlicht vergessen, aber auch, dass Kulturen das Vergangene auf ihre jeweiligen Umstände beziehen müssen390 und dass Traditionen in Konkurrenz zu anderen Traditionen stehen.391 Diese Art von Tradition gerät in der Gegenwart unter Druck. Es bilde sich, so die These, in der Neuzeit geradezu eine „Tradition der Traditionskritik“ (Assmann 1999, 69),392 die zu einer Unverbindlichkeit führe (vgl. Assmann 1999, 95).393 Die Mechanismen, die dies bewerkstelligen, sind „Explizitwerden“, „Vergewaltigung“ im Sinne fehl-, weil nur gegenwartsgeleiteter Interpretation und „Entfernung aus der Lebenswelt“ durch Tabuisierung (vgl. Assmann 1999, 98). Hinter diesen drei Mechanismen kann man mit Assmanns ein grundlegendes Gesamtproblem vermuten, nämlich das Brüchigwerden des Generationenpaktes (vgl. Assmann 2007, 31 ff.). Die qua Generationen unterschiedlichen Vergangenheiten stehen in einer Gesellschaft immer notwendig nebeneinander, aber es gibt Aushandlungs- und Interpretationsprozesse, die so etwas wie einen „common“ herstellen. Diese über Arbeit an der Geschichte hergestellte Solidarität fällt in der Gegenwart aus, es bleibt bei einem unvermittelten Nebeneinander der Erfahrungen394 und somit der Traditionen, die freilich dadurch ihre kollektive Verbindlichkeit verlieren, nur noch immer partiellere, sozialspezifischere Wirkungen entfalten, woraus man freilich schließen kann, dass Traditionen für Assmanns 390
Tradition hat etwas von interpretativer Auslegung (vgl. Assmann 2005, 296). In seiner kulturhistorischen Analyse verweist Jan Assmann darauf, dass man die Treue zu Traditionen (in seinem konkreten Fall zur monotheistischen Religion) nur verstehen kann als Reaktion auf Traditionskonkurrenz (vgl. Assmann 2015, 112). Anders und allgemeiner gesprochen: Traditionen werden erst in der Differenz auffällig, sonst sind sie bloße Gewohnheiten. Allerdings bedarf es dazu keineswegs nur synchroner Alternativen, sondern schon der unvermeidliche Generationenwechsel und die Alterung von Traditionen, aber auch Umweltveränderungen bedingen, dass Gewohnheiten „unselbstverständlich“ und damit zu potentiellen Traditionen werden. 392 Vgl. auch Assmann 2013, 141, wo vom Traditionsbruch als moderner Kulturtechnik die Rede ist. 393 Dort im Anschluss an Jonathan Swift. 394 Es ließe sich davon sprechen, dass die Generationen keinen gemeinsamen Zeithorizont haben, sondern inkompatible Eigenzeiten entwickeln. So wäre sicher ein Teil der heutigen ökologischen Diskussionen im Umfeld von „Fridays for Future“ und anderer Bewegungen als ein Kampf um den Zeithorizont verstehbar. Aleida Assmann versucht, Derartiges mit dem Konzept des kulturellen Zeitregimes zu fassen, worunter sie den „Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen [versteht], der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuert […].“ (Assmann 2013, 19). Wohlgemerkt, was Assmann hier in der Definition unerwähnt lässt, es geht bei diesen Steuerungen um solche im Hinblick auf Zeit – was will man für welche Zeit erreichen, welche Zeit ist relevant, welche bedeutet einem etwas usw. 391
3.18 Jan und Aleida Assmann und die Tradition als Gedächtnis
241
nur oder jedenfalls vorrangig auf großkultureller Ebene beheimatet zu sein scheinen. Wie dem aber auch sei, dieser Traditionsverlust bedeute jedoch nicht ein Ende der Tradition überhaupt unter den Bedingungen der Moderne: „Traditionen […] lösen sich mit Eintritt in die Moderne nicht einfach auf, sie verändern vielmehr ihre Bedeutung und werden nicht selten erst im Augenblick ihres Verfalls retrospektiv geschaffen.“ (Assmann 1999, 98) Assmanns behaupten, dass „Traditionen in der Moderne nicht einfach nur aufgelöst, sondern in immer neuen Metamorphosen auch wiedergefunden worden [sind].“ (Assmann 1999, 137) Wie ist das zu verstehen? Leider sind die Angaben dahingehend in den Texten nicht sehr präzise, aber die Formulierungen, die sich finden lassen, deuten an, dass es in der Moderne Traditionen zwar gibt, jedoch als etwas anderes als zuvor. Denn in Zeiten der Postmoderne stellen Traditionen eben – im Vergleich zu früheren Zeiten – nur noch „kulturelle Optionen“ (Assmann 1999, 159) dar. Dabei bleibt allerdings fraglich, wie die von Assmanns zuvor besonders betonte Herausgehobenheit und normative Selektivität jetzt noch verbürgt sein soll. Oder anders gefragt: Sind das nicht ganz grundsätzlich, nicht nur dem Inhalt nach, andere Traditionen? Vielleicht, so steht zu vermuten, reicht allein die Gewährleistung der genannten Funktionen schon hin, um die Parallelisierung zu legitimieren. Jedenfalls heißt es über die Traditionen in der aktuellen Zeit: Das Pendel ist zurückgeschwungen; die ins moderne Zeitregime eingebaute Vergangenheitsvergessenheit und Zukunftsversessenheit sind durch neue Formen der Reaktualisierung der Vergangenheit abgebaut worden. […] Die Teilhabe an […] kollektiven Identitäten muss sich mit der Überzeugung einer freien Individualität längst nicht mehr ausschließen. (Assmann 2013, 277 f.)
Das moderne Individuum kann sich an Traditionen – hier als kollektive Identität mitzudenken – anschließen. Diese werden auch weiterhin aktualisiert, neu entdeckt (etwa durch den Historiker) und stehen den Identitäts- und Kontinuierungsaufgaben zur Verfügung. Ob damit freilich, wie schon gesagt, die von Assmanns in älteren Texten beschriebene Betroffenheitsdimension des Tradenten nicht gerade übergangen wird oder unbedacht bleibt, steht zu fragen. Eine Wahl einer Option im Interesse einer gewissen Funktion kann schwerlich als autoritative Verbindlichkeit gedacht werden. Daher schiene es klug, den Traditionsbegriff entsprechend zu differenzieren. Das Gemeinsame läge dann allein in
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dem Anknüpfen an Vergangenes, aber die Weise, auf die das geschieht, ist je eine andere.395 Der damit geschilderte Versuch, Tradition als Gedächtnisstrategie zu fassen, bereichert die Diskussionen im Wesentlichen in drei Hinsichten. Zum einen verdeutlicht er, dass man Tradition vor dem Hintergrund einer anderen Realität, nämlich der des Vergessens – oder allgemeiner: des Vergehens – sehen kann, vielleicht muss. Tradition ist eine Form des menschenmöglichen Angehens gegen das naturgemäße Verschwinden, was eine der zentralen Bestimmungen von Kultur überhaupt sein könnte.396 Als zweiten Aspekt betonen Assmanns die selektive Funktion der Tradition, was sie vom Archiv – und letztlich auch der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung – unterscheidet. Sie wählt aus, hebt hervor, verdrängt. Auf diese Weise liefert sie aber Identität und Orientierung. Schließlich ist drittens zu betonen, dass Assmanns den besonderen Effekt der Tradition auf den Tradenten sehr in den Mittelpunkt gerückt haben. Zwar operiert ihr funktionalistischer Blick gleichsam „von außerhalb“, ihnen ist dennoch klar, dass die „Innenperspektive“ davon zu unterscheiden wäre. Ob aber nicht gerade im Kontext ihrer These, dass die Moderne fortwährende Traditionsreaktualisierungen vornehme, der erste Blick den zweiten ungerechtfertigt überlagert, gar verdrängt, scheint kritisch bedenkenswert.
395
Dahinter steckt ein Disput darüber, was etwas als etwas ist. Dass es in der Gegenwart viele Wissensbestände über vergangene Zeiten gibt, scheint unbestreitbar. Aber folgt daraus, dass die Gegenwart besonders traditionsaffin ist? Wenn man diese Frage verneint, dann steht zu vermuten, dass Traditionen etwas anderes meinen als das bloße Wissen um historische Begebenheiten und Möglichkeiten. Großheim hat so zum Beispiel behauptet, gerade die Vermehrung der Archive, die Häufung von Gedenktagen und -feiern, die steigende Anzahl von Denkmälern usw. sei kein Beleg für eine besonders intensive Vergangenheitsbezüglichkeit der Gegenwart, sondern es stehe vielmehr als Aufgabe an, zu untersuchen, welches Verhältnis sich darin eigentlich zur Vergangenheit zeige (vgl. Großheim 2012, 192). Das Gleiche wäre auch im Hinblick auf Traditionen zu fragen, die als Optionen für die Erfüllung von Funktionen betrachtet werden – welches Verhältnis liegt diesem Zugriff zugrunde und entspricht er dem früheren? Damit ist nicht gesagt, dass der dann zu entwickelnde frühere Begriff der „richtigere“ ist, was eine normative Frage darstellt, aber was dadurch gewonnen würde, wäre eine Schärfung des Verständnisses von Tradition. 396 Daher sind entsprechende, schon eingangs erwähnte Tendenzen mancher Autoren, Tradition mit Kultur überhaupt zu identifizieren, durchaus verständlich.
3.19 Eric Hobsbawm und die Erfindung von Traditionen
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Eric Hobsbawm und die Erfindung von Traditionen
Wohl kein Name ist stärker mit dem Traditionsdenken der letzten Jahrzehnte verbunden als derjenige Eric Hobsbawms.397 Die von ihm geprägte Wendung „invention of tradition“ hat sich nahezu verselbständigt. Dabei ist jedoch zweierlei auffällig, einerseits die sehr oberflächliche Rezeption des Ansatzes und zweitens dessen theoretische Leerstellen (jedenfalls aus philosophischer Sicht, die freilich nicht diejenige Hobsbawms ist). Bevor diese beiden Kritikpunkte thematisiert werden sollen, muss die Theorie selbst in den Blick kommen. Hobsbawms Ausgangspunkt als Historiker ist die Beobachtung, dass zur Zeit des Entstehens der modernen Nationalstaaten – also seit etwa dem frühen 18. Jahrhundert – und danach zu bemerken ist, dass es eine Vielzahl vermeintlicher Traditionen gibt, die akzentuiert werden, deren scheinbares Alter, Herkunft usw. einer Überprüfung jedoch nicht standhalten. Häufig angeführtes Beispiel ist der Schottenrock, der als identitätssicherndes Symbol par excellence gelten kann, historisch jedoch erst zwischen 1726 und 1746 sich überhaupt breit etablierte (vgl. Trevor-Roper 2012, 21). Er diente einer bestimmten Vergewisserung einer Menschengruppe, die dafür etwas zu nutzen müssen meinte, das historischen Anklang hat. Derartige Phänomene sind durch Hobsbawm – und ihm nachfolgend viele andere – entdeckt worden. Erfundene Traditionen sind Praktiken, Normen, Werte, Symbole, die im Interesse gegenwärtiger Ziele – Etablierung kultureller oder nationaler Identitäten zum Beispiel – gestiftet werden,398 dabei aber bewusst Versatzstücke aus der Vergangenheit aufgreifen und integrieren, um sich eine Patina zu geben. An diese historisch sicher zutreffenden Beobachtungen und Deutungen Hobsbawms schließt sich freilich ein problematischer Rezeptionsprozess an, indem nämlich dazu übergegangen wird, alle Traditionen als derart Gemachtes zu verstehen. Indem man, wie es Hobsbawm für seine Fälle tut, nach den konkreten Interessen und Umständen der Stiftung schaut und folglich die Entstehungsbedingungen aus der Außenperspektive erläutert, glaubt man, alle Bestände als „erfundene“ kategorisieren zu können. Dabei schwingt oft eine ideologiekritische Komponente mit, denn was interessegeleitet hervorgebracht worden ist, dient eben nur denen, die diese Interessen haben oder von ihnen profitieren. Jedoch ist das insofern ganz undifferenziert, denn – das hat Giddens gegen Hobsbawm, bei 397
Es ist nur von Hobsbawm die Rede, da er die grundlegende Theorie entwickelt hat. Die maßgebliche Schrift ist im Rahmen eines von ihm mit Terence Ranger zusammen herausgegebenen Sammelbandes veröffentlicht, weshalb daher manchmal beide Namen genannt werden, was hier jedoch nicht geschieht. 398 Hobsbawm schließt, wie das Beispiel der Pfadfinder belegt, sogar Stiftung durch ein Individuum nicht aus (vgl. Hobsbawm 2012, 4).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
aller sonstigen Zustimmung, richtig herausgestellt – „[…] der Terminus ‚erfundene Tradition‘ […], der auf den ersten Blick eine contradictio in adiecto zu sein scheint und gewiß provozieren soll, stellt sich bei näherer Betrachtung als ein Oxymoron heraus. Denn alle Traditionen, kann man behaupten, sind erfundene Traditionen.“ (Giddens 1996, 172) Insofern Traditionen durch Menschen gemacht werden, ob nun intentional oder nicht, sind sie notwendig erfunden. Gäbe es keine Menschen, wären auch keine Traditionen präsent, so die These. Wer das nicht bedenkt, muss alle Traditionen für erfunden im Sinne Hobsbawms halten. Es werden dann jedoch zwei ganz entscheidende Dinge übersehen, erstens die historische Indizierung und zweitens der Umstand, dass Hobsbawm deutlich zwischen „genuine“ und „invented traditions“ unterscheidet. Hobsbawms Analyse trifft eine bestimmte Zeit und ihren spezifischen Umgang mit Vergangenheit. Es ist keineswegs legitimiert, dieses Traditionsverhältnis zurückzuprojizieren. Denn vielleicht setzt die Erfindung von Traditionen – wie zu vermuten steht – bereits die Distanzierung von den nicht-erfundenen Traditionen voraus, ist selbst schon Ausdruck des Endes der Tradition. Insbesondere die Betroffenenperspektive mag verdeutlichen, dass die „Erfindung“ etwas anderes ist, wenn sie im klassischen Athen oder im England des 19. Jahrhunderts stattfindet, weil das Verhältnis zur Vergangenheit je ein anderes ist. Und zudem bedeutet die Übertragung des Gedankens auf alle Traditionen, dass der von Hobsbawm gemachte und heuristisch wichtige Unterschied zwischen echten und erfundenen Traditionen gerade nivelliert wird. Es ist Aleida Assmanns genereller Einschätzung zuzustimmen, wenn sie über die Schrift Hobsbawms festhält: Der weitreichende Ruhm dieses vielzitierten und weniger oft gelesenen Buches hat dazu geführt, daß die These in der Rezeption oft entstellend generalisiert wird. Sie lautet dann oft postmodern: alle Traditionen sind Erfindungen. Die Differenz zwischen alten und neuen Traditionen wird jedoch von den Autoren genauestens beachtet. (Assmann 1999, 85)399
Während also die Rezeption im Anschluss an – oder verstärkt durch – Hobsbawms Slogan dazu überging, Traditionen als (mindestens wählbare, wenn nicht beliebige) Konstruktionen zu verstehen, zeigt ein Blick in die Theorie, dass diese eben eine Unterscheidung beinhaltet. Hobsbawm sagt, Traditionen seien „sometimes invented“ (Hobsbawm 2012, 1), was heißt, sie sind es nicht immer. Zudem redet er von „genuine traditions“ (Hobsbawm 2012, 8), die offensichtlich von den 399
Neben Assmann ist als positive, weil differenzierte Ausnahme in der HobsbawmRezeption zu nennen Hasselhorn 2015, v. a. 291 f. Einen neutralen Überblick bietet Kaschuba 2012, 169–173.
3.19 Eric Hobsbawm und die Erfindung von Traditionen
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erfundenen abzugrenzen sind. Diese echten, wahren Traditionen sind – vermutlich – die im Text als „old“ angesprochenen, von denen es im Vergleich mit den erfundenen heißt: The former [d.i. old practices; S.K.] were specific and strongly binding social practices, the latter [d.i. invented practices; S.K.] tended to be quite unspecific and vague as to the nature of the values, rights and obligations of the group membership they inculcate: „patriotism”, „loyalty“, „duty“, „playing the game“, „the school spirit“ and the like. (Hobsbawm 2012, 10)400
Hobsbawm nutzt die Differenz zwischen den echten, alten Traditionen, die er anhand ihrer starken Bindungskraft und nicht klar herausstellbaren Zielorientiertheit erkennt, und den neuen, um letztere in ihrer Besonderheit zu markieren. Es ist eben so, dass die neuen Traditionen die Patina der alten benötigen. Wenn alle Traditionen erfunden wären, von wessen Patina sollten diese dann legitimierend zehren? Wolfgang Kaschuba fasst Hobsbawms Ansatz richtig zusammen, wenn er meint, „[d]as Erfundene muß […] die Plausibilität eines ‚Gefundenen‘ erzeugen, indem es an Bruchstücken, Daten und schemenhaften Überlieferungen der Geschichte anknüpft […].“ (Kaschuba 2012, 171) Diese Möglichkeit nimmt sich aber der Rezeptionsstrang, der Hobsbawms Theorie einseitig konstruktivistisch im Sinne bloßer Beliebigkeit interpretiert. Vorschub hat Hobsbawm dem allerdings selbst dadurch gegeben, dass die Unterscheidung zwischen „genuine“ und „invented traditions“ unterbestimmt bleibt. Nirgends findet sich eine scharfe Bestimmung der echten Traditionen,401 dabei wäre doch genau dies eigentlich erforderlich. Sein Ansatz vermag es heuristisch fruchtbar, vor dem Hintergrund eines nicht explizierten Traditionsverständnisses abweichende Phänomene der Moderne als „erfundene Traditionen“ zu markieren, aber solange das den Kontrast bildende Phänomen unterbestimmt bleibt, bleibt es auch die Theorie. Dennoch zeigt gerade Hobsbawms Differenzierungsversuch, dass es theoretisch wie praktisch eine Herausforderung ist, Tradition und bewusstes Hervorbringen, intendiertes Machen, zusammenzubringen. Ist es womöglich Kern der Tradition (im alten, echten Sinne), gerade nicht gemacht werden zu können? Was aber gestattet es dann, die erfundenen Phänomene als Traditionen 400
Die Unterscheidung zwischen alten und neuen Traditionen findet sich auch bei Hobsbawm 2012, 11. 401 Und auch begrifflich ist er nicht immer konsequent, denn während er (vgl. Hobsbawm 2012, 2 f.) Gewohnheit („custom“) klar von Tradition abgrenzt, behauptet er am Ende, die erfundenen Traditionen seien nicht vollständig an die Stelle der Gewohnheiten getreten (vgl. ebd., 11). Wenn es sich aber um kategorial verschiedene Phänomene handelt, wäre das doch auch gar nicht zu erwarten gewesen.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
zu titulieren, abgesehen von einer gleichen (wohlgemerkt: nicht identischen) Funktion? Hier bleibt Hobsbawms insgesamt ohnehin nicht breit ausgeführte Theorie Antworten schuldig, wenn sie auch, wie die Forschungsliteratur zeigt, in geschichts- wie kulturwissenschaftlichem Umfeld heuristisch sehr erfolgreich zu wirken vermochte.
3.20
Ethnologie
Eine Disziplin, die seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert auf den Begriff „Tradition“ häufig zurückgegriffen hat, ist die Ethnologie. Die Bahnungen, die mit der von ihr zuerst etablierten Semantik in die Welt kamen, sind in ihrer Relevanz sicher nicht zu unterschätzen. Weber etwa steht noch ganz in diesem Zusammenhang mit seinem Konzept traditionaler Herrschaft und Gesellschaft. Freilich ist die Ethnologie selbst äußerst binnendifferenziert und hat zudem, wie jede Wissenschaftsdisziplin, im Laufe ihrer Entwicklung Veränderungen durchlaufen. Daher gibt es die Ethnologie nicht. Dennoch muss, wie gesagt, deren Traditionsverständnis als so wichtig gelten, dass ein zumindest kursorischer, an einzelnen Stimmen orientierter Blick auf sie nicht fehlen darf. Im Folgenden werden einige ausgewählte Positionen in dieser Hinsicht beleuchtet, wobei ein weites Verständnis von Ethnologie zugrunde gelegt wird.402 Gleichsam als paradigmatisch und zudem sehr wirkmächtig kann die Perspektive Franz Boas‘ gelten, der vor allem in Amerika die Ethnologie im frühen 20. Jahrhundert geprägt hat. Seine Überlegungen zu Traditionen mögen daher stellvertretend für den Diskurs der Ethnologie um und nach 1900 stehen.403 Typisch in diesem Sinn ist die Behauptung, dass „Bräuche bei Kulturarmen größere verbindliche Kraft haben, als bei den am weitesten fortgeschrittenen Kulturvölkern […].“ (Boas 1922, 120) Wenn auch Boas, wie der Text an vielen Stellen zeigt (vgl. Boas 1922, 120, 123), durchaus gegen eine zu einfache, undifferenzierte Opposition von Kulturarmen und Fortschrittlichen angeht, behält er die übliche Dichotomie bei, die auch Weber aufgriff. So heißt es bei Boas:
402
Dies erfolgt aus heuristischen Gründen, beinhaltet keine wissenschaftskritischen Implikationen. Als Ethnologie soll jede Form empirischer, auf Kulturen sehender wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Menschen und seinem Verhalten gelten. 403 Insbesondere auch die französische Ethnologie hat ähnlich gedacht, was an dieser Stelle jedoch nur angedeutet sein soll. Vgl. für einige Tendenzen in diese Richtung Mauss 1990, 17 f., 22, 39, wo der zwingende, totalitäre Charakter der Gabe in den früheren Gesellschaften betont wird, was man als „gebunden an eine Tradition“ verstehen kann.
3.20 Ethnologie
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Die Individuen unter den Kulturarmen scheinen untereinander gleichartig und die Kulturen selbst stabil im Vergleich zu unserer rasch hinströmenden Zivilisation. […] Die Stabilität der Kultur rückständiger Völker ist […] größer als die der ganz modernen Zivilisation, die planmäßig auf die Weiterentwicklung der meisten Kulturgüter bedacht ist. (Boas 1922, 122 f.)
Die alten, traditionalen Kulturen – zumeist außereuropäischer Provenienz – werden als im Vergleich träger, stabiler, aber zugleich auch weniger fortschrittlich und weniger rational angesehen. Tradition als eine Form der stabilisierenden Bindung kommt so in einen Rückständigkeitsverdacht. Dieser wird noch dadurch verschärft, dass Boas behauptet, die Bindung an das Gewohnte, Überkommene sei keineswegs rational, sondern psychologisch, das heißt gefühlsmäßig. So sagt er von den Tischsitten, dass diese „nur auf der Überlieferung beruhen und ihr Ursprung nicht rationell erklärt werden kann.“ (Boas 1922, 200) Dass Westeuropäer zumeist Messer und Gabel zum Essen verwenden, ist primär ein kontingenter historischer Umstand, keine vernünftige Kulturleistung. Der Mensch gibt sich zwar fortwährend solche retrospektiven Erklärungen, welche aber nur vorgeschoben seien, diese verstandesmäßigen Gründe [dienen] nur dazu […], uns psychologisch unser Unbehagen zu erklären; daß jedoch unser Widerstand gegen das Ungewohnte nicht durch zielbewußtes Denken bestimmt wird, sondern zu allermeist durch die gefühlsmäßige Wirkung des neuen Gedankens, der eine Dissonanz mit dem Gewohnheitsmäßigen schafft, die nur kräftige Naturen überwinden[, ist deutlich]. (Boas 1922, 204)
Deshalb, weil eben das Überkommene – Boas nutzt das Wort „Tradition“ hier nicht explizit404 – wegen gefühlsmäßiger Bindungen an es oder gefühlsmäßiger Abneigung gegen das Neue beibehalten und verteidigt werden, kann es nicht ein Speicher von Erfahrungen und somit rational sein. Als Hauptresultat seiner Untersuchung will Boas gerade festhalten, „daß der Ursprung der Gebräuche der Kulturarmen nicht in rationalen Vorgängen gesucht werden darf.“ (Boas 1922, 210) Folglich besteht Fortschritt im Abbau der emotionalen Bindungen und dem Entwickeln des „logischen Denkens“ (vgl. Boas 1922, 228). Die so entwickelte Perspektive lässt erkennen, dass Traditionen eine Art von stabilisierenden Entitäten sind, an denen Menschen aufgrund psychologischer Bedürfnisse festhalten und die
404
An anderer Stelle kommt es aber vor (vgl. Boas 1922, z. B. 228).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
im Gang der Geschichte hin zur Moderne durch rationale Verhältnisse mindestens partiell ersetzt werden.405 Gegen diese hier angedeutete Lesart von Traditionen und traditionalen Kulturen hat sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine differenziertere Lesart in Stellung gebracht. So wurde betont, dass das Festhalten am Überkommenen keineswegs mit Rückständigkeit oder Irrationalität gekoppelt sein muss, vielmehr kann man darin gerade eine „kluge“ kulturelle Strategie sehen: „Traditionelle Kulturen waren in der Regel an ihre Biotope optimal angepaßt.“ (Müller 2005, 94) Im Angesicht der Umstände, unter denen frühere Menschen und Kulturen existierten, war stabile, feste Traditionsbindung ein kulturevolutionärer Vorteil. Die Kritik an Statik – wobei es ganz statische ebenso wenig wie vollkommen dynamische Kulturen je gegeben hat (vgl. Kaschuba 2012, 165) – setzt, kann man wohl ableiten, den modernen, veränderungsaffineren Zustand implizit als Rationalitätsmaßstab, übersieht aber, dass damit die Eigenart traditionaler Kulturen verfehlt wird. Neben der falschen Rückständigkeitsunterstellung wird ein zweiter Kritikpunkt darin gesehen, dass von der Ethnologie lange Zeit die Relativität des Attributs „traditional“ missachtet wurde. Vor allem die Historische Anthropologie hat „den wertenden Gegensatz von Tradition und Moderne [verworfen], in dem sie die Tradition nicht für ‚minderwertig‘ und die 405
Die hier nur angedeutete ethnologische Perspektive kennt, wie gesagt, Nuancierungen. Aber wie auch im Hinblick auf die Aufklärung hat sich ein Topos entwickelt, der solche Feinheiten übergeht, weshalb das allgemeine Bild hinreichen mag. Es ist damit gar nichts über die Adäquatheit der ethnologischen Analysen Boas‘ und anderer gesagt. Als Hinweis darauf, dass die Beobachtungen Boas‘ nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, was wohl nur unredliche Rezipienten unterstellen würden, sei die sprachliche Eigenartigkeit vermerkt, dass im Babylonischen das Wort für Vergangenheit wörtlich genommen in etwa „im Angesicht Daliegendes“ meinte, während das Wort für Zukunft als „das im Rücken Liegende“ zu übersetzen wäre (vgl. dazu Maul 2010, 73). Wenn Babylonien als traditionale Kultur gelten darf, dann verweist diese Etymologie geradezu paradigmatisch auf eine Orientierung am Vergangenem als dem Sicheren, Bekannten, Werthaften im Unterschied zur immer unklaren und unsicheren Zukunft. Um das Fortwirken des Topos zu belegen, sei Vere Gordon Childe zitiert, der als renommierter Archäologe über Traditionskonservatismus sagen zu können meint, dieser sei eine Sache der Faulheit: „The dead-weight of conservatism, largely a lazy and cowardly distaste for the strenuous and painful activity of real thinking, has undoubtedly retarded human progress even more in the past than today.“ (Childe 2003, 30). Dieses sehr stereotype Bild dürfte der Realität kaum entsprechen und bei Childe mit politischen Subtönen konnotiert sein. Er anerkennt selbst die Rolle der Tradition als Übermittler des kulturellen Erbes (ebd., 15 f.) und verbindet sie mit Innovationsleistungen (ebd.). Dennoch greift er den Topos vom rückständigen, weil wandlungsphoben früheren Menschen (bzw. früheren Kulturen) auf. Gegen Childes Traditionskritik und dessen Fokus auf bewusste, geplante Neuorganisation vgl. Hayek 1996b, 19.
3.20 Ethnologie
249
aufgeklärte Moderne nicht für das Maß aller Dinge hält […].“ (Dülmen 2001, 50) Der Gegensatz von Modernität und Traditionalität ist vielmehr kulturspezifisch, lokal, historisch und auch sozialstratigraphisch zu verorten.406 Damit hängt drittens zusammen, dass die einseitig am modernen Maßstab orientierte Ethnologie selbst einen verengten Blick entwickelte. Sie hat Kulturen immer im Hinblick auf Wandel und Wandlungsfähigkeit bedacht, weniger auf die sie stabilisierenden Faktoren. Es gibt ein methodisches Vorurteil zugunsten der Dynamik (vgl. Müller 2005, 100).407 Insgesamt wird durch derlei Kritik darauf hingewiesen, dass ein ethnologisches Verständnis der Tradition (und der an ihr systematisch orientierten Kulturen) als Verfallsform oder Defizit in die Irre geht. Der Traditionalismus früherer Gemeinschaften „wurde nicht, wie es eigentlich den Ansprüchen der Aufklärung entsprach, ‚objektiv‘ nach wissenschaftlichen Kriterien aus seinen spezifischen Voraussetzungen heraus verstanden, sondern kurzerhand als Deprivationsphänomen begriffen […].“ (Müller 2005, 98) Daher bedürfe es einer Korrektur, denn nicht nur übernimmt die Tradition sinnvolle Funktionen – Stabilisierung, Identitätsstiftung usw. –, sondern es ist schlicht so, dass mit dem negativen Votum ein sachlich falscher Fokus gelegt wurde: Keiner lebt außerhalb von Traditionen und sozialen Kontexten, die ihn verpflichten und einbinden, auch wenn sie sich beträchtlich ändern. Es ist deshalb nicht die Frage, wie stark jemand traditionsverbunden dachte oder handelte, sondern was er aus der traditionellen Vorgabe machte und wie er überhaupt mit seinem sozialen Umfeld umging. (Dülmen 2001, 87)
Die Tradition wird nicht als per se kritisch verstanden, sondern als ein – wichtiger, präsenter – Bestandteil der sozialen Umwelt des Menschen, von dem er etwas erhält und der etwas mit ihm macht, zu dem er sich aber auch verhalten kann (womöglich auf dann selbst wieder kulturell wie individuell bedingte Weise). Der Traditionsbegriff erscheint auf diese Art stärker deskriptiv und funktionalistisch, von den Bindungen an frühere – oft als defizitär angesehene – Zustände befreit.408 406
Vgl. dazu Dülmen 2001, 49 f.; Ders. 1992, 8 und Kaschuba 2012, 165. Gegen diese These vgl. aber andererseits Kaschuba 2012, 168, der Ethnologie zu sehr am Paradigma der Kontinuität orientiert sieht. Eine Kritik an der Rede von traditionalen Gesellschaften mit ähnlichem Einschlag liefert auch Dittmann 2004, 14 f., der auf die unhinterfragte Dominanz des modernen Selbstverständnisses im Hintergrund der Abgrenzung von den früheren Gesellschaften hinweist. 408 Dagegen hat sich freilich ebenfalls Protest erhoben. So wurde angemerkt, der positive Blick auf Traditionen verhindere gerade die eigentliche Analyse, indem Komplexes, gleichsam mit einem Etikett versehen, unentschlüsselt bleibt (vgl. in diesem Sinne Bausinger 1969, v. a. 237, 245, wo die positive Funktionalisierung von Tradition für die als erstrebenswert 407
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
An diesen wenigen ethnologischen Stimmen zeigt sich, dass es innerhalb der Disziplin vor allem um die Frage ging, wie Traditionen normativ zu bewerten sind. Was aber sind Traditionen selbst? Es gibt praktisch keinen Konsens, wenn man Klaus Müller folgen darf, weshalb viele Autoren in rein deskriptive Bestimmungen verfallen seien (vgl. Müller 2005, 95). Einigkeit besteht unter den Experten409 nur dahingehend, dass Traditionen erfahrungsgestützte stereotypisierte Verhaltensweisen sind, die nicht durch Erlernen ihrer grundlegenden Prinzipien und Normen […], sondern ihre formale Reproduktion oder „Kopierung“ […] von Generation zu Generation weitergegeben werden und die Funktion besitzen, die bestehende Sozialorganisation einer Gruppe zu stabilisieren. (Müller 2005, 96)
Dieser Begriff denkt Traditionen inhaltlich und praxeologisch, insofern sie eben bestimmte Verhaltensweisen darstellen, blickt aber gleichsam von außen auf sie, denn die Funktion der Stabilisierung ist keineswegs für jeden Tradenten notwendig evident. Ob sich zudem der gesamte ethnologische Diskurs auf diese Bestimmung herunterbrechen ließe – abgesehen von ihrer fehlenden Präzision –, ist fraglich, wie schon die angeführte Kritik am funktionalistischen Blick und dessen möglicherweise verstellenden Wirkungen belegt. Als eine weitere, aber sehr solitäre Stimme im Traditionsdiskurs kann Boyer gelten, auf den, was schon zuvor deutlich geworden ist, sich Giddens in größerem Umfange stützt410 . Boyers Arbeit ist als sozialanthropologisch oder ethnologisch411 zu lesen und nimmt, das zeichnet sie aus, stärker die psychologischen Kennzeichen von Tradition ernst, wechselt immer wieder in die Perspektive
verstandene Gemeinschaft kritisiert wird). Man könnte auch die spätere Theorie der „dichten Beschreibung“ so lesen, dass sie den Begriff der Tradition zugunsten der Analyse komplexer Interpretationszusammenhänge aufgeben möchte, allerdings findet sich das so nicht explizit bei Clifford Geertz im Text (vgl. zu dieser Theorie Geertz 1987, z. B. 15, 36). Ein anderer Einwand weist darauf hin, dass die Ethnologie bedenken muss, dass sie selbst, indem sie sich Traditionen zuwendet, diese auch erst mit schafft (vgl. dazu Kaschuba 2012, 83). 409 Müller betont, dass dies vor allem sowjetische Ethnologen seien (vgl. Müller 2005, 95 f.). 410 Solitär ist er wegen seines ungewöhnlichen Ansatzes, aber auch deshalb, weil außer bei Giddens sich kaum Bezugnahmen auf ihn finden lassen. Winter und Dittmann zum Beispiel rezipieren ihn gar nicht. 411 Bekanntlich sind die englischen und deutschen Bezeichnungen im Umfeld von Anthropologie und Ethnologie nicht gut kompatibel. Boyer sieht sich selbst als Sozialanthropologen und insofern als jemand, der den Menschen in seinen Interaktionsformen betrachtet. Wenn man Ethnologie als die Verhaltenskunde versteht, ist auch Boyer ein Ethnologe.
3.20 Ethnologie
251
des Betroffenen, womit sie den einseitig soziologischen oder funktionalistischen Positionen eine Alternative zur Seite stellt. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Begriff „Tradition“ in vielerlei Hinsicht äquivok verwendet wird. Es werden sowohl die zugrunde liegenden Aspekte der Kultur als auch die soziale Interaktionsform so benannt, gleichermaßen ebenso die Interaktionsform und die Gesellschaft, in der diese auftritt, oder der Prozess und das Ergebnis des Prozesses (vgl. Boyer 2006, 1, 9).412 Vor diesem Hintergrund versucht er, eine phänomenbezogene Neubestimmung dessen, was Tradition ist, ohne sich am etablierten Sprachgebrauch zu orientieren (vgl. Boyer 2006, 2 f.). Er schränkt seine Perspektive dabei, um den genannten Äquivokationen zu entgehen, auf mündliche Kommunikationsformen ein. Diese hält er für grundlegend.413 Ausgezeichnet sind diese Phänomene durch drei Eigenschaften: Sie sind Instanzen sozialer Interaktion, werden wiederholt und erscheinen psychologisch auffällig (vgl. Boyer 2006, 1).414 Boyers Hauptarbeit besteht darin, sich zu fragen, warum eigentlich wiederholt wird, denn nicht ist etwas eine Tradition, weil es wiederholt wird, sondern weil es eine Tradition ist, wird es wiederholt. Die Wiederholung ist das erklärungsbedürfte Phänomen (vgl. Boyer 2006, 9).415 Im Kern läuft seine Analyse darauf hinaus, den traditionalen Kommunikationsakt genauer zu durchdringen. Es erweisen sich die Traditionen als „a complex form of interaction; they involve a specific distribution of roles between people, a specific type of criteria to evaluate their utterances, a specific kind of representation about certain cultural categories […].“ (Boyer 2006, 114) Tradition ist eine bestimmte Weise, mit Menschen und Objekten in Beziehung zu treten, sie hängt nicht am Objekt – Mensch, Ding, Wert usw. –, sondern besteht in einem spezifischen Kommunikationsprozess (vgl. Boyer 2006, 40). Der so in den Blick genommene Traditionsprozess in der mündlichen Interaktion ist in mindestens drei Hinsichten besonders. Zum einen gibt es in ihm einen nicht-referentiellen Sprachgebrauch, zum anderen eine spezifische Wahrheitskonzeption und drittens eine eigenartige Expertenrolle. Die Traditionskommunikation 412
Boyer hat dabei die Ethnologie vor Augen, in der diese Äquivokationen forschungshinderlich auftreten. 413 Das ist aus ethnologischer Perspektive vielleicht naheliegend, insofern schriftlose Kulturen andernfalls einem auf Tradition fokussiertem Zugriff entgleiten würden. 414 Vgl. auch die ähnliche Bestimmung Boyer 2006, 23. Zum Kriterium der Auffälligkeit vgl. auch ebd., 2. 415 Deshalb sind (vgl. dazu Boyer 2006, 8) die Fragen, die üblicherweise an Tradition gerichtet werden – etwa nach der Stabilität des Gehaltes, der Wandelbarkeit, der Dauer usw. – für Boyer nur zweitrangig, denn dafür spielen externe, heteronome Faktoren eine Rolle, die seiner Ansicht nach an der Traditionalität eines Phänomens nichts ändern.
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3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
funktioniert oft so, dass es Riten gibt, die mit ganz bestimmten aufzusagenden Sprüchen oder vorzutragenden Texten verbunden sind. Was dort vorgetragen wird, ist jedoch häufig weder für den Hörer noch den Sprecher im üblichen Sinne verständlich. Die Worte haben keine Referenz, sind zumeist gar nicht aus dem Wortschatz der Alltagssprache geschöpft, sondern sinnlos (vgl. Boyer 2006, 90– 99). Boyer zeigt das an Initiationsriten, bei denen den zu Initiierenden eigentlich eine Art von „Herrschaftswissen“ zuteilwerden müsste, denn im Anschluss an die Prozedur übernehmen sie hochgestellte Aufgaben. Es realisiert sich jedoch gerade ein kognitives Paradox: „While the ordeals are incomprehensible (and unpleasantly so) the resulting ‚competence‘ is maximal, and confers the capacity of saying the truth on most domains of reality.“ (Boyer 2006, 97) Der Initiierte hat gar kein neues, besonderes, heiliges Wissen gewonnen und wird doch im Nachgang von der Gemeinschaft als Weiser oder Eingeweihter fraglos akzeptiert. Traditionale Kommunikation sagt gar nichts über die Wirklichkeit aus, sie hat eine primär sozialhierarchische Wirkung. Damit hängt zusammen, dass auch „Wahrheit“ hier etwas anders meint als gemeinhin. Sie ist „a consequence of the specific representations people have about the processes leading to the position.“ (Boyer 2006, 59)416 Wahr ist, was jemand sagt, der eine bestimmte Rolle oder Aufgabe erfüllt. Wahrheit ist – so gesehen – in traditionalen Kontexten eine Funktion der Personen, sozialen Rollen und Handlungskontexte. Deshalb, so Boyer, haben die Traditionsexperten auch im eigentlichen Sinne kein Wissen,417 sondern ihre Wirkung beruht darauf, dass sie eine bestimme Stelle in einem komplexen Vorstellungssystem (der Gesellschaft) haben. Tradition ist keine „transmission of information, but rather a type of interaction which modifies people’s representations in a relatively organised way.“ (Boyer 2006, 109) Die Wahrheit, die in solchen kommunikativen Zusammenhängen weitergegeben wird, ist in gewisser Weise holistisch, denn sie betrifft komplexe Vorstellungswelten. Damit einher geht schließlich Boyers Hinweis, dass man Tradition gerade nicht als das allen Gemeinsame verstehen kann, sondern es gibt bestimmte Experten, die exklusive Zugänge, Fähigkeiten und Vorstellungen haben (vgl. Boyer 2006, 34). Diese Elite darf aber nicht im Sinne moderner Wissenschaftsexperten verstanden werden, denn wenn Kompetenz und Expertise
416
Mit „position“ ist die soziale Stellung gemeint, die jemand innehat. Vgl. zu dem Umstand, dass Traditionen gerade kein kumuliertes Wissen sind, Boyer 2006, 99 f., 111 f.
417
3.20 Ethnologie
253
meint, man habe akkurate Wirklichkeitsrepräsentationen, dann ist das bei den entsprechenden Figuren nicht der Fall (vgl. Boyer 2006, 99).418 Experten sind sie vielmehr, weil zwischen Dingen, die sie mitgemacht, erlebt haben, und der Relevanz und Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen seitens der Gesellschaft eine bestimmte Relation unterstellt wird. Boyers Analysen sind im Detail faszinierend, legitimieren sich jedoch vor allem dadurch, dass er gegen eine bestimmte „substantialistische“ Lesart von Traditionen zu argumentieren scheint. Er will zeigen, dass man Traditionen missversteht, wenn man sie als stabilen Wissensspeicher denkt,419 vielmehr verflüssigt er sie als Kommunikationsgeflechte mit weitreichenden sozialen und epistemischen Folgen. Seine Vorbilder scheinen dabei vor allem natur- oder volksreligiöse Praktiken (vornehmlich außereuropäischer Provenienz) zu sein. Indem er so blickt, macht er auf die problematische Differenz von abstraktem und konkretem Traditionsverständnis aufmerksam. Was sich gleichsam aus der Ferne als kumuliertes Wissen verstehen lässt, ist im Detail gerade kein Wissen, sondern Unwissen. Jedoch führt Boyers Ansatz nur bedingt weiter, denn die Orientierung an mündlichen Kommunikationsakten überzeugt nicht. Erstens schon deshalb nicht, weil ein (üblicher) Musterfall von Tradition – Sprache – für diese ja Voraussetzung ist. Man kann aber Sprache nun nicht wieder als konkrete Kommunikation denken, gleichwohl aber sind in ihr kulturelle Bahnungen und Entscheidungen kumuliert (etwa in Semantiken). Dass Tradition kein Wissen speichert, greift daher zweitens für nicht-konkrete Entitäten (seien sie nun materiell oder ideell) nicht. So kann in der tradierten Praxis des Bogenführens an der Violine eine Unmenge an Erfahrung – jahrhundertelanges Ausprobieren, Versuchen und Irren – gleichsam gespeichert sein, ohne dass das Üben selbst je wieder herausgeholt werden kann. Wenn diese Praktik als Tradition nicht mehr akzeptiert wird, ist die geleistete Arbeit der Jahrhunderte unmittelbar verloren, sie muss – weil man der Tradition nicht mehr folgt – im (wieder ggf. Jahrhunderte dauernden) Selbstversuch wiederholt werden. Derartige Perspektiven schließt Boyer aber aus, eben deshalb, weil er konkret statt abstrakt auf die Tradition blickt. Gleichwohl liegt darin auch seine Stärke, denn die Betonung
418
Boyer weist zudem darauf hin, dass – anders als moderne Experten – traditionelle Praktiker gar nicht auf Explikation hin orientiert sind, sondern im Selbstverständlichen bleiben (vgl. Boyer 2006, 11). 419 Er deutet an, dass dahinter eventuell eine Projektion der Weltsicht und des Wahrheitsbegriffs des Wissenschaftlers, des Ethnologen, auf die von ihm Untersuchten liegen könnte (vgl. Boyer 2006, 47).
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3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
der Auffälligkeit oder der Hinweis auf das Innenleben der Experten420 sind von hoher Relevanz. Das Dargelegte zu verschiedenen, wohl nicht vollauf repräsentativen, aber doch nicht untypischen Positionen aus dem Feld der Ethnologie zeigt, dass der Begriff hier eine wichtige Rolle spielt, insofern er als diagnostisches Mittel zur Unterscheidung von Kulturen – traditionale und fortschrittliche zum Beispiel – Anwendung gefunden hat. Diese Perspektive ist auch für die Soziologie nicht ohne Folgen geblieben und über diese vermittelt noch in anderen Disziplinen. Aber die erläuterte Selbstkritik der Ethnologen innerhalb des Fachdiskurses zeigt, dass das Konzept hinsichtlich mindestens seiner normativen Dimensionen umstritten ist. Auffällig ist zudem der Umstand, dass es keine trennscharfe Bestimmung gibt, sondern eher mit einem allgemeinen Verständnis der Sache und vor allem, wie Müller richtig gesehen hat, der Nennung von Beispielen operiert wird. Mit Platon verweist dies darauf, dass ein rechtes Verständnis noch nicht gegeben ist, wenn auf die „Was ist“-Frage mit einer Reihe von Einzelfällen geantwortet wird.421
3.21
Biologische Perspektiven auf Tradition
Nach und neben der Ethnologie hat sich ein Rekurs auf Tradition disziplinär vor allem in der Biologie entwickelt, schwerpunktmäßig im ethologischen Bereich. Das ist insofern wenig überraschend, als ja schon frühzeitig – es sei an Scheler erinnert (vgl. Scheler, Stellung, 29)422 – diskutiert wurde, Tradition auch bei Tieren als gegeben anzunehmen. Verallgemeinert taucht diese Perspektive zum Beispiel im Rahmen der sogenannten „animal culture“-Debatte wieder auf, die sich im Kern um die Frage dreht, ob und ggf. inwieweit Tieren Kultur zuzusprechen ist.423 Tradition als anscheinend notwendiger oder jedenfalls doch häufiger 420
Boyer weist darauf an, dass die eigentlich unwissenden Eingeweihten eben keineswegs – wie es unredlich und unreflektiert leicht geschieht – als Scharlatane oder Lügner zu sehen sind (vgl. Boyer 2006, 106). 421 Als Beispiel für eine rhetorische Passage mit diesem argumentationslogischen Hintergrund vgl. das Gespräch zwischen Sokrates und Menon über die Bestimmung der Tugend, in dem Menon erst eine Menge an einzelnen Tugenden, also Beispielen für das erfragte Allgemeine nennt, bevor Sokrates ihn auf das eigentliche Ziel einer abstrakten Definition durch einen Dialog im Dialog hinweist (vgl. Platon, Men., 71e–75a). 422 Die Überlegungen zu Kulturen im Tierreich wird von manchen Biologen bis zu Aristoteles zurückdatiert (vgl. Laland/Galef 2009, 2). 423 Dazu vgl. neben Laland et al. 2009 vor allem Boesch 2012.
3.21 Biologische Perspektiven auf Tradition
255
Kulturbestandteil spielt in dieser Debatte mindestens untergründig eine Rolle.424 Einige biologische Bestimmungen dessen, was Tradition ist, sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden, und zwar nicht deshalb, weil der Begriff hier differenziert entwickelt würde – das ist häufig nicht der Fall –, sondern um zu verdeutlichen, wie aus dieser Perspektive auf Traditionen geblickt wird. Der ethologische Zugriff fokussiert sicher einseitig, aber in dieser Beziehung um so vertiefender, was an Tradition auffällig sein könnte. Wenn hier unterschiedlichste Theorien zusammen verhandelt werden, ist das allein dem Interesse der Arbeit geschuldet und soll nicht behaupten, die verschiedenen Autoren seien in anderen Hinsichten – vor allem den biologisch relevanten – einer Meinung. Zunächst ist es sicher die Mehrheitsmeinung der Biologen, dass es speziell Tradition und allgemein Kultur bei Tieren gibt.425 Was aber ist darunter zu verstehen? Eine einheitliche Bestimmung gibt es nicht, oft wird zwischen den beiden Begriffen – Tradition und Kultur – auch gar nicht scharf unterscheiden, worauf Christophe Boesch hinweist: Tradition has sometimes been proposed as alternative for culture, but with here [sic!] again many differences between authors what is understood under „tradition”. As in both cases a behavior has to be learned socially and then transmitted to group members, many consider both terms as synonyms […]. For some others, culture requires more elaborate social learning mechanisms, such as imitation and teaching, shows more accumulation of complexity or includes multiple traditions. (Boesch 2012, 26)426
Wie auch immer man diesen Streitfall im Kontext der Biologie entscheiden mag, das Gemeinsame scheint jedenfalls darin zu bestehen, dass etwas auf nicht-genetische Weise weitergegeben wird. Genau so hat Frans de Waal die 424
In ihrer Einführung zum einschlägigsten Sammelband zur Frage nach tierischen Kulturen gehen die Autoren sogar direkt und ohne Erläuterung von der Tierkultur über zur Problematisierung tierischer Traditionen (vgl. Laland/Galef 2009, 2). Sie verstehen die Begriffe wohl, wie zu vermuten ist, synonym. 425 Dafür argumentieren z. B. Waal 2005, 34; Schaik et al. 2003, 102; Kamilar/Atkinson 2014; Jablonka/Lamb 2006, z. B. 156, 178, 189, 313; Whiten et al. 1999, 682; Fragaszy 2003, 61; Cavalli-Sforza/Feldman 1981, 3; Avital/Jablonka 2005, 268 und Aplin et al. 2015, 538. Etwas differenzierter fällt das Votum bei Tomasello aus, der zwar bei Schimpansen Traditionen als gegeben hinnimmt, diese jedoch auf andere Mechanismen als beim Menschen zurückführt, der mit gemeinsamer Intentionalität über ein Spezifikum verfügt (vgl. dazu Tomasello 2002, 49 und Ders. 2014, 19, 63). Ebenfalls differenzierend denkt Peter Medawar, der nicht Traditionen generell, sondern das besondere „Gewicht“ der Traditionen im Rahmen der Entwicklung bedenkt. Vgl. dazu Medawar 1969, 145. 426 Boesch entscheidet sich, anders als zum Beispiel Eytan Avital, für den Begriff Kultur.
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3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Kultur bestimmt,427 andere aber nahezu gleichlautend auf diese Weise die Tradition.428 Es ist daher festzuhalten, dass in der Biologie Tradition oft nahezu deckungsgleich mit Kultur verstanden wird429 und immer als Alternativweg einer Informationsweitergabe zur genetischen „Schiene“ in den Blick kommt. Auf Tradition rekurriert die Biologie, wenn sich keine körperlichen Erklärungen für das Zustandekommen von Verhalten finden lassen.430 Eine solche Perspektive betrachtet Traditionen nur von außen, indem zwischen jüngeren Populationsmitgliedern und älteren eine Verhaltensgleichheit festgestellt wird, die nicht auf genetischen Faktoren beruhen kann, was zumeist durch Vergleich regional getrennter Populationen sich belegen lässt. In diesem Sinne wurden nicht nur, wie schon in der Einleitung erwähnt, auch bei Ratten oder Vögeln Traditionen unterstellt, sondern sogar bei Insekten (vgl. Jablonka/Lamb 2006, 189 f.). Freilich steht dahinter ein sehr weit gefasster Traditionsbegriff, so dass zum Beispiel auch die pränatale Weitergabe von Informationen über die Plazenta als Beitrag zu einer Tradition der Essenpräferenzen verstanden wird (vgl. Jablonka/Lamb 2006, 165).431 Ein so überaus inkludierendes Verständnis scheint generell in der Biologie Anwendung zu finden, entscheidend sind allein zwei Aspekte: erstens eine verhaltensdifferentielle Beobachtung, das heißt eine beobachtbare Abweichung im Verhalten zwischen Populationen, und zweitens deren nicht-genetische
427
Vgl. Waal 2005, 36: „Was ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Dinge, die wir als Kultur bezeichnen? Meiner Meinung nach kann dies nur die nichtgenetische Verbreitung von Gewohnheiten und Informationen sein.“ 428 Vgl. Medawar 1969, 148: „Die exosomatische ‚Evolution‘ […] wird nicht durch Vererbung, sondern durch Tradition vermittelt, womit ich die Übertragung von Information von einer Generation zur anderen durch nichtgenetische Kanäle meine.“ 429 Vgl. zur Synonymität beider auch Laland et al. 2009, 178 f. 430 Dabei hat sich inzwischen aber gezeigt, dass auch umgekehrt vieles, was als genetisch bedingt erscheint, womöglich doch partiell kulturell verursacht sein könnte: „In fact, traditional patterns of behaviour can be so stable that at first sight they seem to be the result of genetical rather than social transmission.“ (Avital/Jablonka 2005, 280). Hier ist auch an Antweilers Überlegungen zu Universalien zu erinnern, der darauf hinwies, dass nicht alles, was bei vielen (im Grenzfall allen) Menschen zu finden ist, allein genetisch zu erklären sein muss, sondern sehr wohl auch kulturellen Ursprungs sein kann (vgl. Antweiler 2009, z. B. 38). Zuletzt haben Jablonka und andere eindrucksvoll gezeigt, welche Wege kulturell erworbene Eigenschaften und Verhaltensweisen über verschiedene Pforten – etwa epigenetische Marker – gehen können, um doch im Sinne eines modifizierten Lamarckismus vererbt zu werden (vgl. dazu z. B. Jablonka/Lamb 2006). 431 Vgl. auch die weite Beispielbereichsliste Jablonk/Lamb 2006, 313.
3.21 Biologische Perspektiven auf Tradition
257
Erklärbarkeit.432 Gelegentlich wird immerhin noch darauf Wert gelegt, dass die nicht-genetische Erklärung mehr Gewicht und Differenzierung bekommt. So heißt es etwa: „A tradition is a behavioral practice that is relatively enduring (i.e., is performed over a period of time), that is shared among two or more members of a group, and that depends in part on socially aided learning for its generation in new practitioners.” (Fragaszy/Perry 2003, 12)433 Diese Definition weist darauf hin, dass nicht-genetische Vererbungsweisen auf ein besonderes soziales Umfeld und besonderes Verhalten angewiesen sind. Daher wird nicht zufällig Tradition in der Verhaltensbiologie oft mit sozialem Lernen zusammengedacht.434 Tomasello hält sogar die soziale Vermittlung von Kulturwissen für eine der wesentlichen Bedingungen dafür, dass Menschen klüger sind als Menschenaffen, keineswegs die bloße genetische Veranlagung (vgl. Tomasello 2014, 188).435 Wenn Traditionen die nicht-genetische Weitergabe von Verhaltensweisen sind, die gruppen- oder abstammungsspezifisch beobachtbare Differenzen zeitigen, dann kommt nach dieser These hinzu, dass sie auf besondere Weise erlernt werden. Tomasello, Boesch,
432
Vgl. so zum Beispiel Whiten 1999, 682: „[…] a cultural behaviour is one that is transmitted repeatedly through social or observational learning to become a population-level characteristic. By this definition, cultural differences (often known as ‚traditions‘ in ethology) are well established phenomena in the animal kingdom […].” Ähnlich auch Avital/Jablonka 2005, 95: „By a ‚tradition’ most people mean a pattern of behaviour or a habit, which is observed in a lineage, a group or a population, and is maintained through the transmission of socially learnt information.” 433 Hervorh. S.K. Nahezu gleichlautend auch Fragaszy/Perry 2003, 3 und Fragaszy 2003, 61. 434 So z. B. bei Aplin et al. 2015, 538 und Fragaszy/Perry 2003, 5. Ein Sonderfall bildet Tomasello, der das Besondere des Menschen in seiner Fähigkeit zu gemeinsamer Intentionalität sieht (vgl. dazu Tomasello 2014, 17 ff.). Diese sichert einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund, der eine wesentliche, vielleicht die wesentliche Kulturleistung überhaupt darstellt (vgl. ebd., 19, 63, 78). Soziales Lernen geschieht nun, so Tomasello, innerhalb dieses Rahmens, den unter anderem Traditionen stiften (vgl. Ders. 2002, 20 f.). Demnach sichert nicht soziales Lernen die Tradition, sondern Tradition ermöglicht soziales Lernen. Freilich klingen Tomasellos Überlegungen ein wenig nach dem HenneEi-Problem, denn der kulturelle Hintergrund besteht auch nur, weil er weitergegeben wird (sowohl dem konkreten Gehalt als auch der bloßen Möglichkeit nach), so dass das Problem vielleicht eher sprachlicher als sachlicher Art sein könnte. 435 Vgl. dazu auch Tomasello 2014, 199.
258
3
Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
de Waal und andere haben dafür argumentiert, dass es folglich Lehren, Unterweisung, ja, vielleicht Belehrung im Tierreich gibt (vgl. dazu Böx 2012).436 Jedenfalls muss sich um die Tradierung gekümmert werden.437 Durch dieses Bild, das die Biologie von Traditionen zeichnet, wird deren besondere Leistungsfähigkeit beleuchtet. Indem sie das Verhalten prägen, verändern sie mittelfristig nicht nur die Exemplare einer Population, was dieser dann einen evolutionären Vorteil (oder schlechteren Falls auch einen Nachteil) bringen kann, sondern über das Verhalten mittelbar auch die Umgebung. Kulturelle Traditionen sind eine Form von Nischenbildung.438 Sie formen Lebewesen und Lebensraum so um, dass diese im Dienste der Arterhaltung – bedingt durch evolutionäre Selektionsprozesse auf Gruppenebene – sinnvoller werden. Für den Menschen hat Peter Medawar sogar behauptet, dass „die Tradition für einen großen Teil der heutigen biologischen Tauglichkeit […] verantwortlich ist.“ (Medawar 1969, 140) Dass der Mensch im Ringen um Überlebensvorteile da steht, wo er heute steht, ist Folge nicht seiner genetischen, sondern seiner kulturellen Ausstattung, was meint: Folge seiner Traditionen.439 Am eindrücklichsten hat diese biologisch wie evolutionär herausragende Funktion Tomasello mit seinem „Wagenheber-Effekt“ thematisiert. Dieser besteht darin, dass eine kumulative kulturelle Evolution den Menschen auf ein bestimmtes Niveau hebt und mittels Tradierung ein Zurückfallen Einzelner – insbesondere der Neugeborenen – verhindert.440 Traditionen stabilisieren Populationen auf einem einmal erreichten evolutionären Niveau, wobei sie sogar darin der genetischen Stabilisierung überlegen sind, denn diese kennt Mutationen, die, zumeist zum Leidwesen der Betroffenen, blind und daher oft schädlich sind, während Traditionen eher durch funktionale, adaptive Varianz sich auszeichnen (vgl. Jablonka/Lamb 2006, 184). Sie geben nicht nur weiter, sichern nicht nur auf Dauer ein erreichtes
436
Vgl. zudem Waal 2005, 247; Boesch 2012, 39, 143 und Tomasello 2002, 45 f. (der aber skeptisch bleibt). 437 Das gilt freilich aber auch für die genetische Weitergabe, denn diese erschöpft sich – gattungsperspektivisch – ja nicht im Paarungsakt, sondern setzt je nach Tierart weiteres Handeln voraus (etwa Eiablage, Brüten usw.), um erfolgreich zu sein. 438 Vgl. dazu Laland et al. 2009, 175; Jablonka/Lamb 2006, 368 und Fragaszy/Perry 2003, 5. 439 Schon Konrad Lorenz hatte in diesem Sinne die Traditionen als kumulierende Entitäten zur Grundlage aller Kulturentwicklung gemacht und – sein biologisches Arbeitsfeld verlassend – deren Verschwinden in der Gegenwart kulturkritisch als „Todsünde“ herausgestellt. Vgl. dazu Lorenz 1993, 68–83. Ähnlich auch Ders. 1970. 440 Zum Wagenheber-Effekt vgl. Tomasello 2002, 14 f., 50–54 und Ders. 2014, 128.
3.21 Biologische Perspektiven auf Tradition
259
Niveau, indem sie das Zurückfallen verhindern, sondern sie erweisen sich noch in der Mutation als überlegen.441 Was folgt aus dem dargelegten biologischen Blick auf Traditionen? Zwei interessante Beobachtungen sind dahingehend zu machen, nämlich erstens der biologische Wert derselben und zweitens die Frage der Anpassungsstörung. Wenn es stimmt, dass auch Tiere Traditionen haben, dann ist nicht nur die genetische Vielfalt schützenswert, sondern auch die kulturelle (vgl. Kamilar/Atkinson 2014). Die Bedeutung der tierischen Kultur verdeutlicht sich in dieser Lesart an den häufig scheiternden Auswilderungsversuchen von durch Menschen aufgezogenen Tieren – diese haben schlicht den notwendigen Enkulturationsprozess nicht durchlauf können, sie haben die relevanten Traditionen nicht übernommen (vgl. Boesch 2012, 20).442 Tierrettung und Artenschutz würde dann – ähnlich wie im Bereich des Humanen schon durch die UNESCO geregelt – auch Kultur- und Traditionsschutz umfassen müssen. Ein noch weiterführender Gedanke aber liegt darin, sich zu fragen, wenn Tradition eine Anpassungsleistung darstellt, ob dann in der gegenwärtigen Kultur mit ihren Eigenarten sich nicht diese als Fehladaption herausstellt.443 Tradition hat nur dann evolutionär Sinn, wenn eine gewisse Beständigkeit und Gleichartigkeit der Umweltbedingungen (inklusive der sozialen Sphäre) wahrscheinlich ist. In einer sich ständig verändernden Welt scheint es wenig ratsam, die Verhaltensweisen anzuwenden, die für ganz andere Umstände gedacht waren. Die soziologischen Beschleunigungsdiagnosen, die es im 20. Jahrhundert zuhauf gab, würden nahelegen, sollten sie zutreffen, dass Traditionalität für eine solche Umwelt eine Fehlanpassung, eine Anpassungsstörung darstellt.444 Diese beiden Überlegungen führen jedoch bereit über den Rahmen dessen, was herausgestellt wurde, hinaus. Die Biologie liefert der Frage nach dem Wesen der Tradition Impulse dadurch, dass sie einen weiten Begriff anbietet, der einer klar erkennbaren Funktion zugeordnet ist – evolutionäre Differenzierung von Populationen – und immer aus einer Beobachterperspektive in Anschlag zu bringen ist. So verstanden, überschreitet er speziesistische Grenzziehungen. Gleichwohl aber bleibt fraglich, ob er spezifisch 441
Daher betont Tomasello auch, dass die soziale und kulturelle Weitergabe der wesentliche Evolutionsmechanismus beim Menschen ist, nicht der genetische, denn er ist zum Beispiel viel schneller (vgl. Tomasello 2002, 13). 442 Vgl. auch Avital/Jablonka 2005, 268. 443 Diese Überlegung lässt sich entwickeln im Anschluss an Cavalli-Sforza/Feldman 1981, 66 und Böx 2012, 277. 444 Eine aktuellere Publikation deutet zumindest an, dass die Fähigkeit zur Kultur (und damit wohl auch zur Tradition) sich zu einer Fehlanpassung entwickelt könnte. Vgl. dazu Lynch 1996, 25.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
genug ist, um die Vielfalt und phänomenale Eigenart menschlicher Traditionen zu fassen. Zudem ist nicht klar, ob Traditionen überhaupt evolutionär bedeutsam sein müssen – oft jedenfalls dürfte der Überlebensvorteil ihnen heute kaum noch anzusehen sein. Auch bei Tieren aber, so de Waal, kommt es häufiger vor, dass ganz sinnlose Verhaltensweise erlernt und zur Tradition werden (vgl. Waal 2005, 217), etwa bestimmte Geräusche oder Begrüßungsformen. So bleibt am Ende die Feststellung, dass Traditionen nicht-genetische Verhaltensweitergaben sind – was wiederum so allgemein wirkt, dass das Wesen dessen, was in der Sphäre des Humanen oft als Tradition benannt wird, sei es die katholische Liturgie, das friesische Boßeln-Spiel oder die eigene Muttersprache, damit kaum im Kern berührt scheint.
3.22
Tradition als kulturwissenschaftlicher Leitbegriff – Siegfried Wiedenhofer
Niemand hat sich im letzten halben Jahrhundert im deutschen Sprachraum intensiver mit Tradition auseinandergesetzt als Wiedenhofer. Seine Werke445 sind in der vorliegenden Arbeit daher bereits häufig angeführt worden. Die durch ihn gelieferten begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionen und historischen Analysen sind herausragend, sollen jedoch jetzt nicht im Fokus stehen, vielmehr gilt es zu fragen, was genau an systematischem Gewinn sich Wiedenhofer versprach, das heißt, anders formuliert, worauf wollte er hinaus? Um dieser Frage nachzugehen, ist es wichtig, die entwicklungsgeschichtliche These zu verstehen, die den Hintergrund bildet. Wiedenhofer ist sich der historischen und begrifflichen Genese des Traditionsverständnisses vollauf bewusst. Er beobachtet aber in der Neuzeit eine Veränderung im Umgang mit und Verständnis von Tradition. Ihr Geltungsgrad sinkt (Wiedenhofer 1997, 448). Traditionen werden immer unverbindlicher, obwohl zugleich gilt, dass man ihnen nur immer konkret, nie prinzipiell entkommen könne (vgl. Wiedenhofer 1998, 12). Diese lebensweltliche Veränderung bedingt eine begriffliche Verschiebung. Es kommt, so Wiedenhofer, zu einer „inflationären Verwendung“ mit einem „Minimum [an] inhaltlicher Bestimmtheit“ (Wiedenhofer 1997, 443). Ursache dafür ist, dass der 445
Die wesentlichen Werke sind in chronologischer Reihenfolge Wiedenhofer 1990; Ders. 1997; Ders. 1998; Ders. 2002 sowie Ders. 2004. Hinsichtlich der Rezeption lässt sich festhalten, dass die systematisch-produktiven Vorstöße Wiedenhofers praktisch folgenlos geblieben sind (so beziehen sich Dittmann und Winter in dieser Hinsicht kaum auf ihn), während seine begriffsgeschichtlichen Analysen den aktuellen Stand der Forschung darstellen.
3.22 Tradition als kulturwissenschaftlicher Leitbegriff …
261
moderne Traditionsbegriff „die Leerstelle, die durch den Übergang von ‚Historie‘ zu ‚Geschichte‘ auf der subjektiven Bedeutungsdimension des Geschichtsbegriffs entstanden ist, auszufüllen versprach.“ (Wiedenhofer 1990, 635) Mit dieser These ist darauf abgezielt, dass Traditionen die Lücke zwischen einer als identitätsstiftend und unmittelbar verbindlichen Historie und einer neutral analysierten, distanzierten Geschichte schließen, indem sie bestimmte geschichtliche Bestände als relevant markieren – jedenfalls aus Sicht des Subjektes. Damit wird der moderne Traditionsbegriff aber zweierlei, nämlich einerseits zunehmend normativ schwächer bis hin zu bloßer Deskriptivität (dies vor allem aus abstrakter Perspektive),446 andererseits reflexiv, denn das Subjekt weiß, dass Momente der Arbitrarität am Traditionsbestand haften.447 Der Begriff wird ausgeweitet, verliert dabei an Verbindlichkeit und Wertbezug, wird nahezu mit einem rein deskriptiven Kulturbegriff identisch (vgl. Wiedenhofer 1998, 59). Wiedenhofer nun, damit im Kontrast zum ebenfalls vom theologischen Paradigma her denkenden Pieper oder Krüger, fordert keine Abkehr von dieser Entwicklung, sondern erkennt sie an. Er hält zwar wie diese an der Entwicklung einer Kritik des Aufklärungsverständnisses von Tradition und einer Differenzierung des Rationalitätsverständnisses fest (vgl. Wiedenhofer 1997, 468), bekennt sich aber zu einer normativ abgeschwächten, deskriptiven und weit gefassten Verwendung. Für ihn wird „Tradition“ zu einem „kulturwissenschaftlichen Leitbegriff“ (Wiedenhofer 2004, 229),448 womit Deskriptivität und Reflexivität immer schon gesetzt scheinen. Was aber sind Traditionen nach Wiedenhofer? Er versteht sie als Kulturvermittlungshandlungen (vgl. Wiedenhofer 1990, 620), das heißt als die „geschichtliche und soziale Vermitteltheit von Kultur und Religion. ‚Traditionen‘ wären
446
Zum Moment der zunehmenden deskriptiven Begriffsverwendung, die Wiedenhofer ursächlich dem Historismus zuschreibt, vgl. Wiedenhofer 2002, 269 und Ders. 2004, 231 f. 447 Die Reflexivität betont Wiedenhofer 1990, 636: „Gerade bei Goethe wird gut sichtbar, wie deren [d. h. der Geschichte; S.K.] Temporalisierung und deren Gebrochenheit (Vergangenheit/Gegenwart) auch den Traditionsbegriff ergreift und wie die verstärkte Selbstthematisierung der Überlieferungshaftigkeit der Kultur zu einer Reflexivität des Traditionsbegriffs führt.“ 448 Damit schließt er an eine Tendenz an, die er selbst konstatiert, dass nämlich der Begriff „Tradition“ im 20. Jahrhundert zu einem historisch-literarischen Grundbegriff geworden sei (vgl. Wiedenhofer 1990, 645). Freilich ist an dieser Diagnose problematisch, dass sie aus der inflationären Verwendung des Wortes unmittelbar auf dessen Begriffsartigkeit schließt. Angesichts der auch von Wiedenhofer festgestellten völlig unklaren Bestimmung desselben ist es gerade fraglich, ob es sich im engeren Sinne um einen Begriff handelt, zumal um einen Grundbegriff, von dem eine besondere Tragfähigkeit zu erwarten wäre.
262
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
dann bestimmte geschichtlich und sozial zusammenhängende Vermittlungsgestalten von Kultur und Religion.“ (Wiedenhofer 2004, 232)449 Sie bilden demnach ein komplexes Phänomen aus sozialen und geschichtlichen Tatsachen, durch die sich das, was je aktuell zur Lebenswelt gehört, gibt. Wiedenhofer betont folglich besonders den Prozesscharakter der Tradition, die verbale statt der substantivischen Bedeutung.450 Traditionen als diachroner Aspekt der eigenen soziokulturellen Umgebung (vgl. Wiedenhofer 1998, 36) werden durch intentionales Verhalten hervorgebracht (was sie von Gewohnheiten unterscheidet) und manifestieren sich als ein System materieller Zeichen,451 weshalb Wiedenhofer seinen Ansatz auch als semiotischen zu verstehen scheint, ohne allerdings wirklich eine Semiotik zu liefern. Mit dem Genannten ist Wiedenhofers Verständnis in den Grundzügen charakterisiert – und zugleich schon problematisiert, denn es besitzt keine rechte Trennschärfe. So heißt es etwa, „[…] tradition is neither system nor use alone but a differentiated and complex communicative and interactive phenomenon, very closely related to history, language, and society.“ (Wiedenhofer 1998, 20) Nichts davon ist vermutlich ganz falsch, aber worin besteht die enge Verwandtschaft und was genau unterscheidet denn Tradition, Geschichte, Sprache und Gesellschaft? Wie lässt sich die Nähe gerade am von Wiedenhofer herausgestellten Punkt der intentionalen Hervorbringung verstehen, denn keine der drei genannten Entitäten wird ganz gezielt erzeugt? Im Grunde nutzt Wiedenhofer den Begriff systematisch, um auf etwa hinzuweisen, was der Kulturbegriff, vielleicht auch der Gesellschaftsbegriff nicht minder markiert, nämlich die Verwobenheit zahlreicher divergenter Phänomene sozialer, ökonomischer, geschichtlicher, letztlich auch ökologischer und natürlicher Provenienz, die das Zustandekommen der Lebenswelt der Menschen bedingen. In zweierlei Hinsicht, ohne das in seine Begriffsbestimmung aufzunehmen, präzisiert Wiedenhofer seine vage Umschreibung. Einerseits betont er die rationale Eigenart der Tradition, die sich aus ihrem sozialen Charakter ergebe.452 Was genau das heißt, wird nicht ganz deutlich, vermutlich aber geht es um die für die Gemeinschaft zweckrationale Leistung der Tradition, indem sie Gemeinsamkeit, Identität und Wissensbestände sichert. Wichtiger noch aber ist, dass sie auch einen ethisch-moralischen Charakter hat. Jede 449
Eine gewisse Inkonsequenz liegt bei Wiedenhofer in der getrennten Nennung von Kultur und Religion, denn was beide noch qualitativ unterscheiden soll, wenn man sie qua Traditionstheorie als kulturwissenschaftliche Forschungsgegenstände versteht, bleibt unklar. 450 Dazu vgl. Wiedenhofer 1998, 38 f. und Ders. 2004, 231. Diese Tendenz zeigen alle drei aktuellen Ansätze im Traditionsdenken, neben Wiedenhofer auch Dittmann und Winter. 451 Vgl. dazu z. B. Wiedenhofer 1998, 15, 36, 40 f. 452 Vgl. Wiedenhofer 1998, 40 f. und Ders. 2004, 236.
3.22 Tradition als kulturwissenschaftlicher Leitbegriff …
263
geschichtliche Praxis [hat] nicht nur mit der Erfahrung der Vorgegebenheit eines Erbes, sondern auch mit dem verantwortlichen Umgang und mit der verantwortlichen Weitergabe dieser „Gabe“ zu tun. In dieser Hinsicht dürfen Traditionen nicht auf Gewohnheit, Routine oder Wiederholung reduziert werden. Als Teil menschlicher Praxis sind sie nie nur Produkt des Verhaltens, sondern immer auch Produkt intentionalen Handelns. […] Tradition ist […] immer auch eine Sache des Charakters der sozial handelnden Personen und Gemeinschaften und eine Sache vernünftiger ethischer Entscheidung. (Wiedenhofer 2004, 236)453
Wiedenhofer hebt somit Traditionen aus dem Feld kultureller Phänomene dadurch heraus, dass er eine ihnen komplementäre – oder gar mit ihnen untrennbar verbundene – ethische Komponente betont. Anders als im Hinblick auf bloße „Usancen“ gibt es ihnen gegenüber vielleicht so etwas wie eine Verpflichtungs- oder Verantwortungsdimension. Während man die Missachtung der Gebote eines Kochrezeptes aus dem Internet in diesem Sinne als ethisch irrelevant charakterisieren darf, gilt das für die Normen einer Tradition nicht. Leider vertieft Wiedenhofer seine Überlegungen an diesem Punkt nicht, deutet aber immerhin eine differentia specifica an, die seinen sonst eher unterbestimmten Definitionsversuchen mehr Gehalt liefern könnte. Über den so etwas an Kontur gewonnen habenden Begriff hinaus kann man an Wiedenhofer noch zwei weitere Aspekte bemerken. Er betont die Dimension kritischer Aneignung von Tradition (vgl. Wiedenhofer 1998, 73).454 Nur eine reflexiv-kritische Aneignung unterscheidet sie von Gewohnheiten und Routinen. Andererseits aber besteht gerade in der durch Kritik und Reflexion hergestellten Distanz das Problem der zunehmenden Kontingenz und Unverbindlichkeit. Wie solcherart angeeignete Traditionen der Identitätsstiftung noch nachkommen sollen, klärt Wiedenhofer nicht, wohingegen vor ihm schon Kierkegaard, Nietzsche und Jaspers auf die damit verbundenen Probleme hingewiesen hatten. Wiedenhofer bleibt dahingehend eine genaue Erläuterung schuldig, kann aber immerhin so auf das Problem aufmerksam machen. Wichtiger ist sein en passant im Anschluss an Kant gegebener bzw. dort ableitbarer Hinweis (vgl. Wiedenhofer 1990, 633), dass man bei einer Analyse der Tradition auf die Differenz zwischen individueller und gattungsmäßiger Perspektive achten müsse; was aus der einen als Gängelung und Beschränkung gelten kann, wird in der anderen zum Fortschritt. Dieser Spur ist Wiedenhofer allerdings nicht weiter nachgegangen, hat, wie die dargelegte Bestimmung zeigt, sich an einer abstrakten Perspektive mindestens auf 453
Hervorh. S.K. Überhaupt gebe es ohne Traditionsaneignung weder Kultur noch Identität (vgl. Wiedenhofer 1997, 453).
454
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Kulturniveau festgehalten, wenn auch durch das Moment der Rolle der ethischen Verpflichtung das Individuum ein Reservat erhielt. Doch kann der so aufgemachte Problemkreis der weiteren Besinnung hilfreich sein, denn beide Perspektiven – und auch mögliche mittlere – müssen getrennt bedacht werden, wie es scheint, oder können es im Sinne einer produktiven Heuristik jedenfalls.
3.23
Tradition als kommunikatives Verfahren – Karsten Dittmann
Habermas hatte im Rahmen seiner Diskursethik und anderer Überlegungen die Idee vorgebracht, es ließe sich eine ideale Situation denken, in die Menschen eintreten, indem sie verengende, beschränkende Vorprägungen aufgeben, um so in gemeinsamer Beratschlagung sich dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu unterwerfen. Freilich hatten schon, wie dargelegt, die Ritter-Schule und Gadamer darauf hingewiesen, dass noch der ideale Diskurs auf vordiskursiven Voraussetzungen beruht, die am ehesten durch die Tradition sichergestellt werden können.455 Diese Problematik eines ethischen Entscheidungsfindungsprozesses einerseits, der Einwirkung von Traditionen auf diesen andererseits widmet sich auch Dittmann. Er geht von einem „prozeduralen Ethikverständnis“ (Dittmann 2004, 11) aus und will als Kernthese seiner Überlegungen verstanden wissen, dass eine „räumlich und zeitlich entgrenzte Kommunikation nur durch verfahrensimmanente Traditionsprozesse denkbar ist.“ (Dittmann 2004, 12) Die ideale, weil entgrenzte Diskurssituation ruht auf Prozessen der Tradierung auf. Wesentlicher Bezugspunkt bildet für Dittmann daher Habermas, man kann die ganze Arbeit als einen diesen korrigierenden Kommentar gegen die Einwände Gadamers und Lübbes lesen.456 Ob die ihn leitende These zutrifft, dass eine Verfahrensethik im Sinne idealer Diskurse auf Traditionen ruht, mag dahingestellt bleiben, es soll vielmehr 455
Dittmann attestiert Habermas, dass dieser die Bedeutungen der Tradition selbst erkannt und mit dem Konzept der kulturellen Überlieferung einzufangen versucht habe (vgl. Dittmann 2004, 223). 456 Schon der Titel „Tradition und Verfahren“ scheint ja auf Gadamers „Wahrheit und Methode“ anzuspielen, nur wird die Gegenübersetzung von (traditionaler) Wahrheit und methodischem Vorgehen hier als Zusammenhang gedacht. Wie schon zuvor erläutert, ist allerdings der spärliche Bezug auf Lübbe und Marquard auffällig und sachlich nicht zu verstehen. Es ist Dittmann jedoch ohne Frage eine breite Kenntnis einschlägiger Traditionsbegriffe zu attestieren, er orientiert sich neben Habermas und Gadamer vor allem an Kant, Pieper, Weber, Kamlah und MacIntyre. Insgesamt bleibt er damit im Bereich des Philosophischen, Blicke in andere Disziplinen – mit Ausnahme von Theologie und Soziologie – unterlässt er.
3.23 Tradition als kommunikatives Verfahren – Karsten Dittmann
265
auf eine Analyse dessen ankommen, was Dittmann unter Traditionen versteht. Er lieferte eine gründliche und überzeugende Analyse bisheriger Verständnisse, wobei er einen vererbungsmäßigen, einen konservativen, einen juristischen, einen medialen und zwei Varianten eines theologischen Traditionsbegriffs unterscheidet (vgl. Dittmann 2004, 26, 31, 39 f., 55, 64). Von all diesen grenzt er den von ihm vertretenen als den kommunikativen Begriff der Tradition ab (vgl. Dittmann 2004, 305 f.). Bei diesem handele es sich nicht um einen weiteren Begriff, sondern um „den Grundbegriff einer Kulturtheorie, der eindeutig genug ist, um ein Phänomen als Tradition bezeichnen zu können […].“ (Dittmann 2004, 306) Tradition versteht Dittmann als „die Rekonstruktion einer Folge von Weiterübergaben“, wonach dann etwa beim „Vererben einer Uhr über mehrere Generationen […] jede Vererbung ein Beispiel für eine Tradierung [wäre], während die Rekonstruktion der Abfolge von Vererbungen insgesamt als Tradition bezeichnet werden soll.“ (Dittmann 2004, 326) Wesentlich sind für ihn die Prozesse des Weitergebens, ganz bedeutungslos der Gehalt (vgl. Dittmann 2004, 18, 356). Vermittels bestimmt gearteter Handlungen werden die Traditionen erkennbar. Dittmann versteht kulturelle Überlieferung – das Synonym für Tradition bei ihm (vgl. Dittmann 2004, 305, 322) – als ein Handlungsvorgang mit Tradent, Traditionsmaterial und Akzipient (vgl. Dittmann 2004, 120). Jemand gibt jemandem etwas weiter – das ist die Grundstruktur des Tradierens, von dem Tradition die rekonstruierte Abstraktion bildet. Besonderes Gewicht kommt dabei aber weder dem Tradenten, noch – wie gesagt – dem Material zu, sondern dem Akt der Annahme, der Akziption: „Die entscheidende Bedingung für gelingende Tradierung ist die Akziption; ihr eindeutigstes Kriterium ist eine erneute Tradierung mindestens variierter Merkmale.“ (Dittmann 2004, 348) Das hat aber, wie schon bei Pieper und dem Problem des retrospektiven negativen Regresses verdeutlicht, absurde, mindestens kontraintuitive Folgen, weil der Akzipient rückwirkende Kausalkräfte für die Tradition zu besitzen scheint: „Der Tradent muss selbst einmal Akzipient gewesen sein, und er kann den Akzipienten als künftigen Tradenten verstehen. […] [W]er in einem Zugabteil seine ausgelesene Zeitung verschenkt, ist nur ein Schenkender. Verschenkt der Beschenkte die Zeitung aber weiter, wird er zum Tradenten.“ (Dittmann 2004, 125)457 Das zur Unterscheidung von Tradieren und bloßem Verschenken oder Vererben angeführte Beispiel zeigt, dass das Bestehen einer Tradition im erläuterten rekonstruktiven Sinne immer von den Taten des Letzten abhängt. Dieser wird 457
Zum Tradenten wird er dabei aber nur durch die Tat des Akzipienten, es ist ihm selbst ganz unmöglich, intentional Tradent zu werden, dies ist ihm konstitutionell unverfügbar, da es auf den anderen ankommt. In materialer Hinsicht hat Dittmann das bedacht (vgl. Dittmann 2004, 372), in funktionaler jedoch anscheinend nicht.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
zum Tradenten, hat sich damit zugleich zum Akzipienten in der vorhergehenden zeitlichen Übergabestufe gemacht und so wird es auch der zeitlich nachfolgende Mensch tun. Das Wesentliche, dass der Akzipient dabei tut, ist, so Dittmann, „dass der Akzipient dem Tradenten Autorität zuspricht.“ (Dittmann 2004, 126) Dieser verleiht selbst die Anerkennung, diese wird nicht durch Macht, Gewalt etc. oktroyiert. Freilich ist schon hier nicht zu sehen, welche „Autorität“ im Falle der übergebenen Zeitung eigentlich im Spiel sein soll – phänomenal liegt dergleichen wohl eher nicht vor, sie kann nur im Sinne einer allgemeinen „Vertrauenswürdigkeit“ oder „Liebenswürdigkeit“ bestehen. Wie dem aber auch sei, Dittmann versteht Tradierungen als ein vor allem vom Annehmenden ausgehendes Bestehenlassen einer Verbindung, die dann – und auch darin weicht er vom Üblichen ab – keineswegs intergenerationell zu denken sein muss, sie ist auch synchron möglich (vgl. Dittmann 2004, 328 f.), wofür vielleicht das Zeitungsbeispiel schon stehen mag. Der Akzipient einer Gabe wird bei Dittmann zur entscheidenden Figur. Über ihn heißt es: Je weiter der Erfahrungsraum eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen wird, desto größer wird die Zahl potentieller Tradenten, desto stärker kommt dem Akzipienten die Aufgabe zu zu wählen, welche Traditionen oder welche Elemente eines Traditionskomplexes er akzipiert und welche nicht. […] Mit dieser Umdeutung von Tradition verlagert sich die Gewichtung im Traditionsprozess von der Fixierung auf Tradent und Traditionsmaterial hin zur Orientierung am Akzipienten, der unter möglichen Tradenten wählt. (Dittmann 2004, 128)458
Es ist dem Annehmenden zur Wahl gestellt, welches Material bzw. welche Teile des Materials er übernimmt. Es steht zu fragen, wie explizit das zu erfolgen hat. Reicht schon die Handlung des Annehmens und Weitergebens aus, die ja vielleicht – etwa im Zugabteil – nur halb bewusst, gleichsam unbedacht erfolgen kann, oder muss dies mit wachem Geist und expliziter Willensbildung geschehen? Zumeist legt Dittmann die explizite Lesart nahe, jedoch gibt es auch Textstellen, an denen er von impliziter und beiläufiger Akziption spricht, diese in die Nähe des Begriffs der Sozialisation rückt (vgl. Dittmann 2004, 348 f.). Wenn die Akziption allerdings gar nicht thematisch werden muss für den Annehmenden, verliert Dittmanns Modell völlig die eigentlich behauptete empirische Signifikanz. Es ist dann alles Tradition, was von jemandem handelnd durch einen anderen angenommen wird. Der Begriff entbehrt, wie es scheint, jeder Emphase und wird beliebig.
458
Dittmann deutet die Moderne in diesem Sinne (vgl. Dittmann 2004, 18 f., 128) als Zeit der Traditionspluralisierung und Entmonopolisierung.
3.23 Tradition als kommunikatives Verfahren – Karsten Dittmann
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Vielleicht zielt Dittmann auch genau darauf ab, denn er hält das Entstehen eines Gerüchts für einen paradigmatischen Fall von Tradierung in seinem Sinne (vgl. Dittmann 2004, 121, 348). Indem bei einem solchen etwas gesagt, gehört und weitergesagt wird, komme es zur Bildung einer rekonstruierbaren Tradition. Die Perspektive, die Dittmann offensichtlich wählt, ist so abstrakt, so von „außerhalb“, dass der Begriff „Tradition“ letztlich obsolet zu werden scheint. Was er an kommunikativen Übergabehandlungen thematisiert, ist schon durch das Attribut „erfolgreiche“ Kommunikation – und ähnlich wäre es in anderen Fällen – hinreichend beschrieben. Hätte er sich auch auf die Innenperspektive der an Tradierungsprozessen Beteiligten verlegt, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob man ein Gerücht hört (und es eben weitergibt oder nicht) oder ob man die letzte erhaltene Ausgabe des Lehrgedichts „de rerum natura“ von Lukrez in den Händen hält (und bewahrt oder verkauft oder vernichtet). Erstere Situation ist vielleicht mit schlechtem Gewissen, Interesse, Neugier verbunden, die zweite mit viel „schwereren“ affektiven Eindrücken wie Verantwortung, Pietät, Demut.459 Freilich kann man beides als Tradition bezeichnen, und Dittmann tut dies ja auch, nur muss man dann von bestimmten Eigenschaften absehen, die in der Lebenswelt gerade dafür sorgen, dass Menschen diese beiden Vorkommnisse voneinander normativ abgrenzen. Letztlich, so ist festzustellen, liefert Dittmanns Analyse eine genauere Aufschlüsselung der am Tradierungsprozess beteiligten Rollen, einen wirklich belastbaren Begriff liefert er jedoch nicht, da sein Verständnis ohne Lebensfülle bleibt, ganz im Abstrakten beheimatet ist.460
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Eine anders gelagerte, aber vielleicht an die hier vorgestellte phänomenologische anschlussfähige Kritik hat Winter gegen Dittmann ins Feld geführt, indem er ihm vorwarf, nicht beachtet zu haben, dass es für eine Tradition notwendig ist, dass diese hermeneutisch erschlossen werden muss, wohingegen andere Fälle – sicher das Weiterreichen einer Zeitung – ohne Weiteres aus der jeweiligen Situation sich gleichsam ergeben oder leicht verstanden werden können. Dittmann, so Winter, übersehe die hermeneutische Dimension. Vgl. dazu Winter 2017, 172. 460 Das zeigte sich letztlich auch schon daran, dass Dittmann keinen Unterschied zwischen synchronen und diachronen Weitergaben – oft in der Unterscheidung von Tradition und (bloßer) Mode von anderen Autoren thematisiert (vgl. z. B. Nahodil 1971, 60 oder der Sache, wenn auch nicht dem Wort nach Hartmann 1949, 355 ff.) – zu machen müssen meint, was aus der Innenperspektive phänomenal absolut unplausibel ist. Gerade wenn es um die Lebenswelt geht, sollte jedoch der Erfahrung auch Beachtung geschenkt werden, und diese macht zwischen der Übergabe einer altgriechischen Sprachvokabel und der Aufnahme des neuesten Anglizismus einen entscheidenden Unterschied (ganz unabhängig davon, wie die Vokabeln normativ bewertet werden).
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
Lehrreich ist jedoch – neben klugen philosophiehistorischen Rekonstruktionen, auf die hier auch immer schon Bezug genommen worden ist – noch ein Aspekt, Dittmann differenziert nämlich drei Modelle der Tradition, das Ketten-, das Baum- und das Gesprächsmodell (vgl. Dittmann 2004, 27, 130 ff., 340). Das Kettenmodell ist bereits erläutert worden, das Baummodell legt auf die Gewachsenheit, aber auch Verästelung wert, so dass Tradition auch in ihrer pluralen wie im Hinblick auf Machbarkeit und Planung unverfügbaren Dimension, aber ebenso in ihrer Abhängigkeit von der Wurzel und dem Stamm in den Blick kommt. Für Dittmann leitend ist jedoch das Gesprächsmodell, zu dem es heißt: Während das Ketten- und das Baummodell prinzipiell monogenetisch strukturiert sind, geht das Gesprächsmodell von einer multigenetischen Struktur der Tradition aus. Es rechnet also mit raumübergreifenden, synchronen wie diachronen Tradierungen, die sich Verzweigen [sic!], aber gleichzeitig eine Vielzahl von Ursprüngen haben können. (Dittmann 2004, 340)
Wenn Traditionen als multikausal bedingte Übergabehandlungen verstanden werden, kann man sie als omnipräsente Vorkommnisse in der Welt verstehen. Sie sind dann, ganz im Sinne des prozessethischen Anliegens Dittmanns, hinter jeder menschlichen Handlung zu vermuten. Indem er so auf sie blickt, wandelt er einen engen, vielleicht zu engen Begriff der Tradition im Sinne postmoderner Inklusions- und Ausweitungsbestrebungen, zu denen sich Dittmann gar nicht dazuzählen möchte, um, verliert damit allerdings letztlich die Fähigkeit, das, worauf es Menschen häufig bei dem Rekurs auf das Wort ankommt, was sie hervorheben möchten, zu thematisieren – nämlich Bedeutsamkeit, Schwere, vielleicht auch Belastung und Hinderlichkeit. All dies wird mit Dittmann kaum rekonstruierbar.
3.24
Tradition als strukturierte Sinngabe – Thomas Arne Winter
Der zuletzt vorgelegte Versuch einer philosophischen Annäherung an Traditionen gibt schon in seinem Titel – „Traditionstheorie“ – zu erkennen, dass man diese nicht als Phänomen, sondern nur im Rahmen einer umgreifenden theoretischen Rekonstruktion von Relationen thematisieren können soll.461 Winter 461
Das ist um so bemerkenswerter, als Winter selbst anmerkt, es fehle an einer grundsätzlichen Klärung des Phänomens (vgl. Winter 2017, 6), die er dann aber selbst gerade nicht leistet, weil er sich einer Theorie zuwendet. Wenn er sagt, er wolle im Sinne Noam Chomskys
3.24 Tradition als strukturierte Sinngabe – Thomas Arne Winter
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hat, darin Wiedenhofer und Dittmann parallel, Tradition im Sinne eines Prozesses, insbesondere eines hermeneutischen Kommunikationsprozesses verstanden und analysiert. Wie Dittmann versteht er sie als im Dreieck von Tradent, Akzipient und Material sich abspielend, wobei er allerdings allen dreien eine annähernd gleiche Relevanz zuerkennt, zudem auch noch den Akt der Übergabe selbst differenziert betrachtet (vgl. z. B. Winter 2017, 159–169). Bei allen Abweichungen von den genannten beiden Autoren im Detail, so unterscheidet er sich von ihnen nicht im Grundsatz. Seine besondere Herangehensweise ist allerdings, dass er fünf Leitbegriffe herausstellt, die den Rahmen abstecken sollen, innerhalb dessen das Traditionsphänomen zu bestimmen sei (vgl. Winter 2017, 152). Diese liefern somit Eckpunkte dafür, was eine Tradition ist, ohne sie gleichwohl vollauf zu bestimmen. Zudem sind die Leitbegriffe dichotom entwickelt, um sie von üblichen, aber nach Winter unzutreffenden Alternativen abzugrenzen. Seiner Ansicht nach geht es bei Traditionen um Sinn statt Wahrheit, um Ambivalenz statt Einwertigkeit, Geschichtlichkeit statt Absolutheit, Pluralität statt Homogenität und Bezugsdifferenz statt Bezugseinförmigkeit (vgl. Winter 2017, 152–156). Damit ist im Einzelnen gemeint, dass Traditionen nicht dadurch zu erhellen sind, dass man sie auf ihre Wahrhaftigkeit hin befragt, sondern sie „haben etwas mit Sinn und Verstehen zu tun, sie sind hermeneutische Phänomene.“ (Winter 2017, 152) Letztlich kulminiert für Winter die Tradition gerade in der Sinnfunktion: „Die Sinngabe ist das Wesen von Tradition.“ (Winter 2017, 224)462 Sinn versteht sich als Strukturierung der Lebenswelt und als Orientierungsleistung. „Der Sinn der Sinngabe ist die hermeneutische Domestikation der Welt durch das Leben als Verstehen.“ (Winter 2017, 290) Diese Leistung kommt allerdings nur Menschen zu, Winter denkt Traditionen als anthropines Alleinstellungsmerkmal, ohne allerdings – vermutlich in Unkenntnis der verhaltensbiologischen Arbeiten Avitals, Boeschs, Tomasellos und anderer – dafür eine Begründung zu liefern, noch eine solche überhaupt für nötig zu erachten, es bleibt bei einer bloßen Setzung (vgl. Winter 2017, 222). Jedenfalls aber leisten Traditionen für den Menschen Sinnstiftung, indem sie die Lebenswelt zeitlich, räumlich, affektiv, bedeutungsmäßig usw. gliedern. Sie antworten somit, meint Winter, letzten Endes auf das humane Grundproblem der Endlichkeit (vgl. Winter 2017, 157, 286–295). Das zeigt aber auch, dass Winter Tradition nicht allein prozessual denkt, denn die bloße Weitergabe und Annahme eine Universalgrammatik des Traditionsphänomens leisten (vgl. ebd., 15), wäre eine vorgängige Klärung des Phänomens eigentlich methodisch zwingend erforderlich gewesen, denn woher will er sonst wissen, was zu erklären ist? Leider findet sich keine derartige Phänomenologie im Text, sondern – durchaus gelungene – Analysen phänomenologischer Texte (vor allem Heideggers). 462 Vgl. auch Winter 2017, 157, 286–295.
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
allein reicht zur Orientierung nicht hin, es muss einen spezifischen Gehalt – welcher Art auch immer – geben. Tradition ist immer Tradition von etwas (vgl. Winter 2017, 222 f.).463 Dieses „Etwas“ liefert den Gehalt, die Tradition als Struktur leistet die Verwirklichung inklusive der erläuterten Sinnstiftung. Mit der Ambivalenz weist Winter zu Recht darauf hin, dass man Traditionen nicht – wie er bei Heidegger zu finden meint – einseitig als verdeckend verstehen kann, sondern sie haben auch entdeckende Funktionen.464 Auf diese Weise will er sowohl einseitig positive als auch – und sicherlich hauptsächlich – einseitig negative Wertungen und Funktionszuerkennungen kritisieren. Die von ihm zur Erläuterung der ambivalenten Wirkungen der Tradition ins Feld geführten Unterscheidungen – zum Beispiel zwischen Schema und Muster oder auch Konvention und Tradition (vgl. Winter 2017, 211–216) – übersehen jedoch einen wichtigen Aspekt. Die Ambivalenzen und auch mögliche Einseitigkeiten sind perspektivisch zu attestieren. Es kommt auf den Standpunkt an, von dem aus man auf die Tradition blickt, um ihr einen verdeckenden oder einen entdeckenden Charakter zuzuerkennen. Die Scholastik mag, um ein etwas oberflächliches Beispiel aufzugreifen, aus heutiger Sicht mehr ver- als entdeckt haben, für einen in ihrem Paradigma arbeitenden Menschen hingegen hat sie vielleicht die Welt geradezu in überragender Weise eröffnet. Winter hingegen scheint von intrinsischen Eigenschaften der Tradition auszugehen, die die Ambivalenz begründen. Mittels der Betonung der Geschichtlichkeit wiederum erschließt sich Winter Traditionen als sowohl durch Veränderung als auch auslegend-interpretative Aneignungsprozesse bedingte Entitäten. „Traditionen sind nicht absolut, sondern geschichtlich in ihrem Wesen. Ihr Sinn muss immer wieder erneut vor dem Hintergrund sich wandelnder Zeitumstände angeeignet werden, welche ihn mitbestimmen.“ (Winter 2017, 154) Diese vor allem gegen Pieper gerichtete These will darauf verweisen, dass es keine unveränderlichen Traditionen gibt und geben kann. Traditionen stehen selbst im Strom der Geschichte, können in ihm auch endgültig vergehen und erfahren durch das Aufgegriffenwerden immer eine Veränderung, die gleichwohl nur auf der inhaltlichen, nicht der strukturellen Ebene liegen kann. Winter versteht Traditionen jedoch nicht allein als geschichtliche, sondern ebenso als plurale, in der Moderne sogar als nochmals gesteigert plurale (vgl. 463
Weil das so ist, versteht Winter sie als ein „strukturelles Phänomen“, in das „Verschiedenes eintreten kann […].“ (Winter 2017, 223). 464 Hier merkt man den Überlegungen Winters das Fehlen der anthropologischen Perspektive an, vor allem derjenigen Rothackers und Landmanns, in denen dieser Gedanken schon in umfänglicher Breite ausgelegt wurde.
3.24 Tradition als strukturierte Sinngabe – Thomas Arne Winter
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Winter 2017, 13, 154 f.). Dabei ist jede Tradition für sich ihrem Inhalt nach differenziert, kein kompaktes Etwas, zusätzlich aber wird zudem das „Angebot“ an Traditionen für den Einzelnen nach dem Modell des Kaufmannsladens gedacht: „Mit der dank der Moderne ermöglichten Freiheit der Traditionswahl wird auch die eigene wirkungsgeschichtliche Bedingtheit ein Stück weit wählbar, insofern man bestimmte Traditionen zurückweisen und andere ergreifen kann.“ (Winter 2017, 155) Das Individuum soll sich aussuchen können, welche Traditionen es annimmt, welche es ablehnt. Was Winter allerdings nicht thematisiert, ist, ob mit der Wählbarkeit nicht etwas Wesentliches am Phänomen selbst sich verändert. Er gibt zu, dass es „dank der Moderne“ möglich geworden sei, zu wählen, ergo war es das früher nicht (oder jedenfalls nicht in gleicher Weise). Woraus leitet sich dann aber die Berechtigung ab, das, was heute gewählt werden kann, als identisch mit dem zu verstehen, was früher gerade nicht gewählt werden konnte? Und noch etwas ist irritierend, denn eine Wahl (mit übrigens rückwirkender Beeinflussungsaufhebung – ein seltsamer Gedanke) setzt ja voraus, dass das Subjekt sich der Möglichkeiten bewusst ist. Aber ist es realistisch und vor allem phänomenadäquat, anzunehmen, Menschen wüssten in irgendeinem weiteren als bloß trivialen Sinne, welche „Traditionsangebote“ ihnen zur Verfügung stehen? Zwar gibt es sicher heute im Feld des Religiösen oder Politischen zahlreiche Wahlmöglichkeiten, die es früher nicht gab, aber ebenso sehr steht zu vermuten, dass viele wirkungsgeschichtliche Faktoren ganz unthematisch bleiben. Dass Winter es dennoch für möglich hält, hat mit seiner überraschenden These zu tun, dass Traditionen eigentlich immer explizit sind, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Zuvor ist noch der fünfte Leitbegriff – die Bezugsdifferenz in Abgrenzung zur Bezugseinförmigkeit – zu erläutern. Hier will Winter darauf hinaus, dass sich Tradition, anders als bloße Überlieferung, nicht in der Weitergabe erschöpft, sondern gerade durch den Bezug je immer wieder neu bestimmt wird (vgl. Winter 2017, 172). Tradition ist eingebettet in Bezugsrelationen, weshalb bestimmte Überlieferungen in verschiedenen Traditionen auf verschiedene Weise vorkommen können, wie das Alte Testament in Juden- und Christentum vielleicht illustriert. In jedem Fall also sind Traditionen Teil eines größeren Geflechts, welches nicht in der Weitergabe allein aufgeht, sondern weiterführende Bezüge umfasst. Will man versuchen, das so umrissene Phänomen, welches Winter als „Korrelationsgefüge“ (Winter 2017, 222) fasst, auf den Punkt zu bringen, so ließe es sich als ein kommunikativer Strukturzusammenhang verstehen, in dem etwas von jemanden an andere weitergegeben und von diesen anderen empfangen, ausgelegt, gedeutet wird, wobei im Wesentlichen der Ertrag eine sinnstiftende Weltstrukturierung ist. Winter hat auf eine solche pointierende Fassung verzichtet, wohl auch
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Aktuelle Positionen des Traditionsdenkens
deshalb, weil er an vielen Stellen seiner Arbeit sehr kluge, fein differenzierende Detailanalysen vornimmt, die nicht alle in einer Perspektive scharf zu bündeln sind. Dennoch bleibt die am Ende unterlassene klare Fassung des Phänomens eine merkliche Leerstelle. Über das Gesagte hinaus ist an der Traditionstheorie Winters auffällig, dass er die von vielen Autoren herausgestellte problematische Relation zwischen Verdeutlichung bzw. Explikation und dem Bestehen von Traditionen ganz anders fasst. Für ihn gilt, wie schon angedeutet, dass „bewusste Selbstreflexion (unter bestimmten Bedingungen) nicht nur in keinem Widerspruch zum Phänomen der Tradition steht, sondern ihm als ‚innere Hermeneutik‘ notwendig zugehört.“ (Winter 2017, 10) Das Reflexivwerden sei keine existenzgefährdende Krise, sondern „normale Begleiterscheinung von Komplexität“ (Winter 2017, 247). Gegen Gadamer und andere konservative Positionen behauptet Winter: „Traditionen wissen sich als Traditionen, sie sind sich nicht selbst verborgen.“ (Winter 2017, 123) Das ist sicher eine höchst interessante These, die man hermeneutisch wohl so verstehen muss, dass das Explizit-Werden deshalb keine Krise ist, weil durch es die Traditionen neu ausgelegt, neu begründet, aktualisiert werden. So sichern sie ihre Fortdauer. Wenn Traditionen, wie Winter meint, hermeneutische Phänomene sind, dann gehört eine Reflexion auf sie notwendig dazu. Was er aber nicht bedenkt, ist die Frage, was Reflexivwerden heißt. Wenn durch dieses Begründungsansprüche im Sinne der (antiken oder modernen) Aufklärer angebracht werden, wie soll eine Tradition dann als Tradition bestehen können? Geht sie auf die Ansprüche ein und erfüllt sie, wird sie zu einer (wissenschaftlichen) Theorie, geht sie es nicht, zum Dogma, geht sie es, und erfüllt sie nicht, zur Irrlehre. Und auch historisch kann man die These Winters durchaus problematisch finden, denn seine Perspektive scheint doch sehr von modernen Maßstäben auszugehen. Zwar trifft es zu, dass das, was man heute Tradition nennt, auch immer schon Begründungen für das eigene Weltbild, die eigenen Normen, Praktiken usw. liefert, aber die stärkere These, die Traditionen auch früherer Zeiten hätten sich dezidiert als Traditionen gewusst, ist wenig überzeugend, zumal dann, wenn Tradition etwas mit Wahl oder Selektion der Gehalte zu tun haben soll. Hier scheint eine partielle Rückprojektion vorzuliegen, was bedeutet, dass ein Reflexivwerden auf die je eigene Traditionsartigkeit keineswegs Wesensmerkmal von Traditionen sein muss, auch wenn diese sich historisch immer wieder über ihre Begründungen, ihre Lehrinhalte und vieles mehr Gedanken machten.
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Über Traditionen nachdenken – ein forschungsethisches Plädoyer
Die vorstehenden umfangreichen Darlegungen vieler, aber noch gewiss nicht aller Stationen des Traditionsdenkens im 20. Jahrhundert dienen der Etablierung eines Problembewusstseins. Der Begriff „Tradition“ ist in so verschiedenen Hinsichten zur Anwendung gekommen, dass eine Bestimmung desselben vor nahezu unlösbaren Aufgaben steht. Will man versuchen, alle vorgestellten Verwendungen unter einen Begriff fallen zu lassen, hilft nur ein so vages Verständnis, dass damit nichts gewonnen wäre. Sucht man einen engeren semantischen Kern, werden Exklusionen nicht ausbleiben, die dann selbst wieder begründungspflichtig sind. Es ist jedoch sicher hilfreich, mittels einer kurzen, schematischen Systematisierung das breite Feld überschaubarer zu machen. Denkt man sich den begrifflichen Differenzierungsraum nach dem Modell einer Skala, so gibt es zahlreiche Dimensionen, anhand derer sich die genannten Autoren ordnen ließen. Ohne im Folgenden vollständige namentliche Zuordnungen machen zu wollen, sollen die wichtigsten Skalen erläutert werden, um auf diese Weise gewissermaßen eine Struktur der Begriffe anzudeuten. Im Hinblick auf die Notwendigkeit von Traditionen1 stehen anthropologische und theologische Positionen auf der einen Seite der Skala, postmoderne auf der anderen. Auch die Veränderlichkeit und Machbarkeit zeigt, dass die Ansichten darüber sehr weit auseinandergehen, denn während Pieper zum Beispiel beides nur in geringstem Maße zulassen will, kennen andere umfangreiche Modifikationsweisen. Damit korreliert die Skala der Rezeptivität oder Aktivität im Traditionsumgang. Während 1
Eine erweiterte Skala ließe sich hier denken, die die Notwendigkeit noch spezifischer fasst im Hinblick darauf, ob sie für alle Lebewesen, nur für höhere Lebewesen oder gar nur den Menschen notwendig sind. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Kluck, Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9_4
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Über Traditionen nachdenken – ein forschungsethisches Plädoyer
manche wie Adorno das kritisch gestaltende Subjekt in den Mittelpunkt stellen, betonen andere wie Guénon das passive Element. Der epistemische Gehalt wird von manchen Positionen anerkannt, von anderen grundsätzlich bestritten – oder es steht generell zur Debatte, was denn der Kern von „episteme“ (propositional, habituell, praktisch usw.) sein soll. Auch Alter und Dauer sowie Reichweite werden sehr unterschiedlich konzipiert. Es werden Traditionen vom Fall umfangreicher kosmologischer Weltdeutungen mit vorzeitlichem Ursprung her gedacht, aber ebenso als lokale Praktiken von deutlich kürzerer historischer Lebensdauer, wofür schon vielleicht Platons Gegenüberstellung von Ägyptern und Griechen ein Modell bietet. Nicht minder umstritten ist die Frage nach der Auffälligkeit von Traditionen. Während Gadamer sie wohl als das Selbstverständliche versteht, das erst im Kontakt mit anderen Horizonten überhaupt thematisch wird, blicken zum Beispiel Ethnologen auf sie eher als das Außeralltägliche, das Besondere. Und während Gadamer Traditionen als ermöglichende Kulturleistungen bedenkt, ihre Bahnungen und Prägungen als eröffnend charakterisiert, sehen andere wie Locke oder Bacon in ihnen verdeckende und beschränkende Entitäten. Letztere Denker wiederum glauben auch, dass man das Mittel der Explikation ohne Einschränkung auf alle Lebensweltbestände anwenden kann und darf, es also keine grundsätzliche Explikationsunverträglichkeit gibt, wohingegen vor allem theologische und manch hermeneutische Denker an dieser Stelle theoretische Vorbehalte formuliert haben. Schließlich gehen, um zwei abschließende Skalen zu benennen, sowohl die Bewertungen von Traditionen als auch die Thesen zu deren Vereinbarkeit mit der Moderne weit auseinander. Während viele empiristische und aufgeklärte Denker den Traditionen ihren Wert größtenteils absprachen, haben theologische Ansätze sie umgekehrt überhöht, wofür die Rede von der einen großen Tradition im Kontext des Traditionalismus exemplarisch stehen mag. Ob zudem Traditionen in der Gegenwart noch möglich, noch gewünscht, zu betrauern oder zu wünschen seien, ist im Diskurs, wie sich gezeigt hat, höchst umstritten. Stellen Traditionen Kompensationen für problematische Entwicklungen der Moderne dar, liefern Sie Widerstandsmotive oder sind sie schlicht modernitätsfeindlich? Entlang dieser Skalen, die wesentliche, aber keineswegs alle möglichen Differenzierungsdimensionen umfassen, ließe sich das Begriffsfeld organisieren. Das grundlegende Problem freilich bleibt, denn während manche Unterschiede sich durch den Hintergrund (normativ geleiteter) Interpretationen erklären lassen, beruhen andere auf ganz grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über das, was eigentlich als Tradition zu gelten hat. Geometrisch gesprochen, ist es unklar, ob sich alle möglichen Skalen überhaupt im selben Nullpunkt treffen. Das zu erhellen, bleibt jedoch Desiderat zukünftiger Forschungen. Der Gang durch die Geschichte des Traditionsdenkens, der hier vorgelegt wurde, kann dafür
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Ausgangspunkt sein. Die angedeuteten Dichotomien bzw. Skalen leisten Strukturierungshilfe, liefern gleichsam ein Geländer, an dem ein systematisch und kritisch orientierter Zugang sich festhalten kann. Blickt man auf das Denken über Traditionen, wie es sich im 20. Jahrhundert, vor dem Hintergrund vieler älterer Ansätze, darstellt, fällt dessen Vielgestaltigkeit, aber auch dessen Bedeutsamkeit auf. Namhafte Philosophen, Theologen, Soziologen oder auch Naturwissenschaftler haben das Konzept aufgegriffen und zumeist fruchtbar in die eigenen Theoriegebäude integriert. Doch blieb der Begriff so vage, so vieldeutig, so interpretationsbedürftig, dass er für verschiedenste weltanschauliche, politische oder ideologische Inanspruchnahmen leicht verfügbar war. Nicht zuletzt aus diesem Umstand resultiert die eingangs an der Figur Luther verdeutlichte Ambivalenz. Daraus ergeht, wie auch die zahlreichen Reflexionen, wie sie vorgestellt wurden, belegen, dass ein zukünftiges Bedenken von Traditionen vor drei zentralen Aufgaben steht, die im Folgenden deshalb ausblickhaft vorzustellen sind. Insgesamt ginge es darum, ein adäquates Forschungsethos auszubilden, um erst überhaupt wieder dem Phänomen Tradition gerecht werden zu können. Wichtigster Schritt scheint in dieser Hinsicht das Freimachen von normativen Implikationen zu sein. Seit der Aufklärung ist es offensichtlich nahezu selbstevident, von Traditionen als fortschrittsfeindlichen und politisch verdächtigen Entitäten zu sprechen. Wie aber gezeigt wurde, ist das weitaus weniger einleuchtend, als gemeinhin unterstellt – wenn es nicht gar ganz falsch ist. Eine philosophisch redliche Zuwendung muss sich daher sowohl von einseitig negativen wie einseitig affirmativen Vorgriffen freihalten, vielmehr erst einmal – sine ira et studio – nüchtern Traditionen überhaupt zu erfassen suchen. Was zeichnet diese aus? Welche hinreichenden und notwendigen Eigenschaften gibt es? Welcher ontologische Status ist ihnen zuzuerkennen? Usw. In einem zweiten Schritt wäre dann selbstverständlich über die Funktionen, Wirkungen und Leistungen der Traditionen nachzudenken und wären diese Aspekte kritisch zu beleuchten. Häufig jedoch, das haben die vorstehenden Analysen gezeigt, wird der erste Schritt übersprungen und ganz selbstverständlich mit den vermeintlichen Wirkungen und der Kritik an diesen begonnen. Dann aber können die unbewussten normativen Prägungen sich ungehindert in der Forschungspraxis auswirken. Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch solche chimären philosophisch-ideologischen Diskurse – zum Nachteil des Erkennens dessen, was Traditionen eigentlich sind. Als zweiter forschungsethischer Aspekt kommt hinzu, dass die von Aleida Assmann bemerkte Selbstverständlichkeit des Sprechens über Traditionen unbedingt abgelegt werden muss: „Das Wort gehört zu den unentbehrlichen Beständen
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der Alltags- und vor allem Sonntagssprache, und keiner, der es in den Mund nimmt, riskiert, es definieren zu müssen.“ (Assmann 1999, 63) Was für die Sonntagssprache und politisch-gesellschaftliche Diskurse allgemein gilt, hat sich auch für etliche fachwissenschaftliche Diskurse gezeigt. Viel zu selten wird explizit gemacht, was mit Tradition gemeint ist, häufig wird auf den Begriff mit naiver Selbstverständlichkeit rekurriert. Die geleistete Zusammenschau und anhand skalarer Ordnung angedeutete Orientierung offenbart deutlich, wie viel Problematisches und Unklares sich hinter dem Begriff versteckt. Wenn dieses hintergründig wirkende Potential nicht in das Licht der philosophischen Besinnung geholt wird, bietet es Missverständnissen, Missdeutungen und Missbrauch fruchtbaren Boden. Es ist daher forschungsethisch unabdingbar, dem Gebrauch des Konzeptes kritischer zu begegnen, als das bislang der Fall war. Dies ist zumal deshalb auch von unmittelbarer praktischer Relevanz, weil Traditionen, wie eingangs gezeigt, lebensweltlich erhebliche Wirksamkeit haben. Ein philosophisch erhelltes Verständnis verspricht, in der politisch-gesellschaftlichen Praxis, aber ebenso in etwa pädagogischen oder ethologischen Kontexten die Ausbildung eines verbesserten Selbst- und Weltbildes. Was Menschen (und ggf. Tiere) tun und tun sollen – individuell wie kollektiv –, hängt in dieser Hinsicht auch davon ab, als was man meint, Traditionen verstehen zu können. Aufgrund dieser lebenspraktischen Relevanz ist eine philosophisch redliche Besinnung auf das Konzept nicht nur sinnvoll, sondern im Grunde unerlässlich. Drittens schließlich – ausgehend von der möglichst neutralen Perspektive und dem Explikationsimpuls – ergibt sich forschungsethisch die Notwendung, eine Sensibilität für Traditionen als Lebenswelt-Phänomene zu entwickeln. Damit ist gemeint, dass erst ein an philosophischer Reflexion geschultes Bewusstsein für Traditionen diese in angemessener Weise in den Blick bekommen und thematisieren kann. Zu leicht werden sie nämlich immer schon im Interesse heteronomer Interessen instrumentalisiert oder ideologisch thematisiert. Hier kann der vorstehende Gang durch die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts helfen, solche wissenschaftlich unredlichen Bezugnahmen zu erkennen und zukünftig zu vermeiden. Warum aber sollte überhaupt die historisch geerdete Ausbildung eines solchen Forschungsethos relevant sein? Wozu auf Traditionen philosophisch reflektieren? Dafür spricht vor allem eines, wenn nämlich der Stellenwert der Tradition für den Menschen (oder auch für Tiere) richtig gesehen ist, dann zeitigt ein falsches Verständnis womöglich katastrophale Folgen. Wenn Traditionen wie für Hayek, Gadamer oder Rothacker Wissensspeicher sind, Orientierung bieten und menschliche wie gesellschaftliche Beschränkungen kompensieren, dann läuft ein sachlich falscher wissenschaftlicher Zugang Gefahr, sie zu verfehlen. Entwickeln sich
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Theorien, die sie ganz irreführend als Hindernisse, Obstruktionen usw. fassen, hat das lebensweltlich Folgen. Ein Abbau durch zersetzende Kritik könnte so in einen inhumanen Zustand führen. Ebenso setzt aber auch eine Perspektive, die Traditionen kritisch als Hindernisse sieht, wie das etwa für manche Aufklärer der Fall war, ein adäquates (Vor-)Verständnis voraus. Denn nur ein solches sichert eine angemessene Kritik und ein angemessenes gesellschaftliches Intervenieren. Die realhistorischen Entwicklungen, vor deren Hintergrund sich der in der vorliegenden Arbeit dargestellte Diskurs bewegte, zeigen, dass gerade Letzteres eher die Ausnahme denn die Regel darstellte. Eine mögliche Ursache für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts kann, wenn man den Ergebnissen dieser Arbeit folgen mag, in einer unterkomplexen Einsicht darin zu sehen sein, was Traditionen sind, was sie leisten, wofür sie gut und wofür sie hinderlich sind. Nicht zu Unrecht hat Adorno gemeint, dass Traditionen in der gegenwärtigen Zeit in eine problematische Lage geraten sind, denn sie stehen „heute vor einem unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“ (Adorno 1977, 315) Dieser Impuls, bei Adorno durch die schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gespeist, sollte dazu mahnen, nicht mehr leichthin von Traditionen zu sprechen oder mit ihnen politisch wie gesellschaftlich umzugehen. Vielmehr fordert Adorno – und mit ihm diese vorliegende Studie – dazu auf, sie bewusst wissenschaftlich wie praktisch ernsthafter zu bedenken. Am Ende dieses Weges steht dann womöglich ein besserer Umgang mit und ein adäquateres Verständnis von Traditionen. Dafür liefert das Vorstehende die Möglichkeit.
Bibliographie
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Personenregister
A Adorno, Theodor W., 2, 7, 134–138, 204, 274, 277 Albert, Hans, 186–188 Antweiler, Christoph, 125, 256 Anytos, 18, 20 Apitzsch, Ursula, 97 Aplin, Lucy M., 255, 257 Aquin, Thomas von, 30, 35–38, 40–42, 50, 199 Arendt, Hannah, 2, 7, 25, 80, 150, 152–159 Aristoteles, 67, 254 Assmann, Aleida, 1, 12, 136, 179, 232, 234, 236–242, 244, 275 Assmann, Jan, 15, 16, 26, 27, 236–242 Ast, Friedrich, 168 Atkinson, Quentin D., 255, 259 Averroes, 37 Avital, Eytan, 255–257, 259
Blumenberg, Hans, 30, 37, 41, 43, 54, 55 Boas, Franz, 246–248 Boesch, Christophe, 254, 255, 257–259 Böhme, Gernot, 17 Bohr, Jörn, 123 Bollnow, Otto Friedrich, 140 Bonald, Louis Gabriel Ambroise de, 62 Borradori, Giovanna, 219 Bös, Günther, 30, 53 Bourdieu, Pierre, 107, 177 Böx, Susanne, 258, 259 Boyer, Pascal, 199–202, 250–254 Brandt, Reinhard, 3, 28, 33 Braque, Rémi, 22, 30 Brumlik, Micha, 154 Bürger, Christa, 84, 138 Burke, Edmund, 62–68, 78 Butler, Judith, 157
B Bacon, Francis, 41–46, 48, 53, 59, 66, 71, 74, 134, 274 Baumann, Martin, 237 Bauman, Zygmunt, 151 Bausinger, Hermann, 249 Beck, Ulrich, 197 Bellarmin, Robert, 35, 38–41, 44, 50 Bergson, Henri, 87 Bickmann, Claudia, 46 Blackmore, Susan, 209
C Carr, Herbert W., 80 Carson, Nathan, 220 Cassian, Johannes, 26, 30 Cassirer, Ernst, 53, 55, 56, 61 Cavalli-Sforza, Luigi L., 255, 259 Childe, Vere Gordon, 248 Chomsky, Noam, 268 Congar, Yves Marie Joseph, 3, 13, 28, 29 Crawford, Matthew B., 23, 216, 228 Cullmann, Oscar, 3, 13, 29
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Kluck, Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9
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298 D Dahlstrom, Daniel, 145 Dawkins, Richard, 209 Delannoy, Franck, 169, 171 Deneffe, August, 3, 14, 28, 29, 31, 40 Dennett, Daniel C., 209 Descartes, René, 41, 46–49, 51, 52, 59, 66, 69, 74, 88, 134, 143, 149, 203, 207 Diderot, Denis, 54, 80 Dilthey, Wilhelm, 139 Diotima, 15, 17 Dittmann, Karsten, 6, 7, 62, 80, 85, 90, 94, 102, 136, 160, 175, 189, 192, 201, 218, 219, 222, 236, 238, 249, 250, 262, 264–269 Dülmen, Richard von, 249
E Ebbinghaus, Julius, 56, 57 Ebeling, Gerhard, 32 Echnaton, 26 Eliade, Mircea, 85 Emge, Carl August, 85 Everett, Daniel, 126 Evola, Julius, 85
F Feldman, Marcus W., 255, 259 Ferguson, Adam, 68 Feyerabend, Paul, 223 Fischer, Joachim, 102, 108, 139 Fleck, Ludwik, 223–227 Foerster, Friedrich Wilhelm, 11 Fragaszy, Dorothy M., 255, 257, 258 Freud, Sigmund, 98 Freyer, Hans, 2, 139–142, 145 Fuhrmann, Manfred, 238 Fukuyama, Francis, 77
G Gadamer, Hans-Georg, 84, 102, 167–175, 177, 179, 180, 182, 185, 188,
Personenregister 217, 219, 224, 231, 232, 264, 272, 274, 276 Galef, Bennett G., 254, 255 Geertz, Clifford, 250 Gehlen, Arnold, 2, 7, 8, 69, 70, 102, 103, 105, 108, 112–117, 120, 121, 124, 127, 134, 175, 178, 180, 181, 186 Gerschenson, Michail, 15 Giddens, Anthony, 192, 193, 197–203, 215, 243, 250 Glare, Peter Geoffrey William, 24 Goldman, Alvin I., 223 Goldstein, Jürgen, 222 Grimm, Jacob, 14 Grimm, Wilhelm, 14 Großheim, Michael, 62, 67, 83, 97, 147, 156, 169, 215–217, 242 Grondin, Jean, 168 Gross, David, 26, 90, 100, 180, 192, 203–206, 215 Grundner, Klaus-Jürgen, 123 Guénon, René, 3, 11, 30, 85–89, 91, 162, 274
H Habermas, Jürgen, 69, 84, 102, 134, 135, 160, 167, 172, 174–180, 182, 184, 185, 188, 208, 213, 214, 264 Hacke, Jens, 1, 64, 103, 178, 179 Halbwachs, Maurice, 201, 236 Hall, Stuart, 77 Hartmann, Nicolai, 82, 122, 139–146, 267 Hasselhorn, Benjamin, 244 Hastedt, Heiner, 208, 209, 213 Haug, Walter, 148 Hauschild, Wolf-Dieter, 3 Hayek, Friedrich August von, 47, 64, 78, 207–218, 222, 248, 276 Heelas, Paul, 11, 94 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 47, 81, 82, 89, 122, 139, 140, 146 Heidegger, Martin, 148, 149, 156, 157, 168, 169, 184, 269, 270
Personenregister
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Heinimann, Felix, 22 Heisenberg, Werner, 226 Herder, Johann Gottfried, 56, 63, 68–76, 78, 79, 96, 103, 124, 139, 181, 186 Hildebrand, Rudolf, 139 Hillard, Gustav, 165 Hillel, 26 Hobsbawm, Eric, 120, 243–246 Hong, Ki-Su, 168, 220 Horkheimer, Max, 135, 137, 138 Horton, Robin, 94 Hume, David, 80 Husserl, Edmund, 149, 168
Kluck, Steffen, 6, 7, 14, 53, 139, 168 Knight, Kelvin, 219 Knuth, Hans C., 33 Kolakowski, Leszek, 85 Kondylis, Panajotis, 37, 41, 48, 49, 51, 56, 93, 94 Kopernikus, Nikolaus, 43 Kopp-Oberstebrink, Herbert, 133 Koselleck, Reinhart, 28, 54 Kriton, 18 Krüger, Gerhard, 159–166, 261 Kuhn, Thomas S., 222, 223, 225–227, 230 Kümmel, Werner Georg, 13, 27, 28 Kwasman, Theodore, 25, 26
I Ichii, Saburo, 146 Imhof, Arthur E., 235 Irenäus, 29, 31 Iwanow, Wjatscheslaw, 15, 165
L Laches, 18–20, 24 Lackey, Jennifer, 60 Laland, Kevin N., 254–256, 258 Lamb, Marion J., 134, 255, 256, 258 Landmann, Michael, 62, 69, 102, 105, 108, 123–134, 138, 139, 190, 270 Lash, Scott, 197 Le Bon, Gustav, 92 Lessing, Gotthold Ephraim, 56, 57, 59, 61 Levy, Ze’ev, 102, 126, 127 Litt, Theodor, 32, 47, 53, 82 Locke, John, 41, 49–52, 55, 59, 88, 203, 274 Lohse, Eduard, 13 Lorenz, Konrad, 258 Löwith, Karl, 55, 56 Lübbe, Hermann, 64, 177, 179, 180, 182–185, 264 Luhmann, Niklas, 184 Lukács, Georg, 200 Luther, Martin, 2–4, 14, 32, 275 Lynch, Aaron, 209, 259
J Jablonka, Eva, 7, 134, 255–259 Jaspers, Karl, 146–152, 263 Jauß, Hans Robert, 57 Jaucourt, Louis de, 14, 32 Jesus, 27, 28 Jongen, Marc, 85, 231 Jung, Carl Gustav, 236 Jünger, Ernst, 83
K Kaltenbrunner, Gerd-Klaus, 62 Kamilar, Jason M., 255, 259 Kamlah, Wilhelm, 133 Kant, Immanuel, 55, 57–59, 61, 67, 69, 70, 72–74, 149, 263 Karneth, Rainer, 70 Kaschuba, Wolfgang, 244, 245, 248–250 Kasper, Walter, 29 Kepler, Johannes, 43 Kierkegaard, Sören, 146, 150, 158, 176, 205, 263
M MacIntyre, Alasdair, 172, 216, 218–222 Malebranche, Nicolas, 59 Marquard, Odo, 2, 64, 177, 179–185 Marrou, Henri-Irénée, 30
300 Marx, Karl, 82, 95, 158, 182 Matthiesen, Ulf, 175, 177, 178, 213 Maul, Stefan M., 248 Mauss, Marcel, 246 McIntyre, Kenneth B., 217 Medawar, Peter B., 255, 256, 258 Mendelssohn, Moses, 56, 61 Mendes-Flohr, Paul, 25 Menon, 20, 254 Mirandola, Giovanni Pico della, 69, 72 Montaigne, Michel de, 48 Montesquieu, 49 Morelly, Étienne-Gabriel, 54 Möser, Justus, 78 Müller, Adam, 63 Müller, Klaus E., 8, 248–250, 254 Müller, Otfried, 3, 29, 32 Murray, Gilbert, 238
N Nahodil, Otakar, 4, 5, 7, 8, 12, 101, 146, 160, 188–192, 267 Niekrenz, Yvonne, 203 Nietzsche, Friedrich, 17, 69, 82, 83, 116, 129, 158, 263 Nikias, 19 Nora, Pierre, 39 Nyíri, János, 4, 82, 85 Nyssa, Gregor von, 31
O Oakeshott, Michael, 41, 44, 78, 186, 207, 215–219, 222 Oevermann, Ulrich, 90 O’Hear, Anthony, 187, 207, 214, 216 Ortega y Gasset, José, 238
P Pascal, Blaise, 48, 103 Paulus, 13, 28, 29 Perry, Susan, 257, 258 Pieper, Josef, 15, 21, 30, 38, 49, 159–167, 188, 261, 265, 270
Personenregister Plas, Guillaume, 102 Platon, 15–22, 24, 33, 34, 36, 156, 162, 254, 274 Plessner, Helmuth, 95, 107–112, 120, 169 Polanyi, Michael, 222, 223, 226–230 Popper, Karl R., 7, 186–188, 207 Porter, Jean, 219 Portmann, Adolf, 124 Puchta, Jonas, 30
R Ranger, Terence, 243 Ratzinger, Joseph, 3, 32 Reibnitz, Barbara von, 82 Reid, Thomas, 59, 60 Riesman, David, 77, 100, 101 Ritter, Joachim, 177, 178 Rogoff, Barbara, 133 Rosa, Hartmut, 138, 139, 179, 232 Rösel, Martin, 14, 25 Rothacker, Erich, 7, 37, 78, 102, 107, 113, 118–123, 134, 139, 169, 170, 180, 186, 224, 270, 276 Rousseau, Jean-Jacques, 57, 70 Russell, Bertrand, 49 Ryle, Gilbert, 227
S Sartre, Jean-Paul, 146, 150 Schäfer, Hilmar, 77 Schaik, Carel P. van, 255 Scheler, Max, 8, 102–108, 112, 134, 254 Schleiermacher, Friedrich, 38 Schmitt, Carl, 176, 178 Schmitz, Hermann, 14, 22, 23, 55, 56, 58, 217 Schollmeyer, Friedrich, 123, 126, 128 Scholtz, Gunter, 150 Schreiter, Robert J., 60 Schröder, Winfried, 57 Schüz, Simon, 82 Scognamilio, Carlo, 139, 142 Sedgwick, Mark, 3, 85, 86 Sennett, Richard, 23
Personenregister Shils, Edward, 4, 90, 96, 100, 192–197, 206, 210, 223 Simmel, Georg, 90, 97–99 Simon, Ernst, 37 Sloterdijk, Peter, 31, 99, 129, 173, 230–235 Sokrates, 15, 17–24, 254 Solon, 16 Specht, Rainer, 34, 35, 37, 49, 159, 163, 181–183 Steenblock, Volker, 12 Stemberger, Günter, 13, 25, 26, 164 Stirner, Max, 150 Stradivari, Antonio, 23, 107, 228 Sunstein, Cass R., 208 Swift, Jonathan, 240
T Taubes, Jacob, 133 Taylor, Alfred Edward, 16 Taylor, Charles, 41, 46, 47, 193, 219, 222 Teichert, Dieter, 57, 170, 182 Tertullian, 30 Thies, Christian, 69, 70 Thompson, John B., 4, 192 Thukydides, 19 Tielsch, Elfriede, 66, 68 Tocqueville, Alexis de, 54, 63, 76–81, 93 Tomasello, Michael, 7, 255, 257–259 Tönnies, Ferdinand, 90, 93–97, 99, 100, 111, 135 Trevor-Roper, Hugh, 243
U Uexküll, Jakob von, 103
301 V Vanberg, Viktor, 208 Vico, Gian Battista, 45, 46, 55–57, 69, 103, 224
W Waal, Frans de, 255, 258, 260 Weber, Max, 11, 90–96, 99–101, 135, 177, 201, 246 Wellmer, Albrecht, 171 Welsch, Wolfgang, 84, 85, 205 Welzer, Harald, 238 Wendebourg, Dorothea, 3, 28, 33 Wernhart, Karl R., 126 Werz-Kovacs, Stephanie von, 190 Whiten, Andrew, 255, 257 Wiedenhofer, Siegfried, 1, 4–7, 12, 13, 24, 25, 49, 81, 82, 91, 102, 160, 189, 238, 260–263, 269 Wieland, Christoph Martin, 61 Williams, Bernard, 176 Windelband, Wilhelm, 83 Winter, Thomas Arne, 1, 4–7, 102, 189, 250, 262, 267–272 Wittgenstein, Ludwig, 85, 123, 214 Wöhrle, Patrick, 69 Wunsch, Matthias, 123, 139, 144
Z Ziegler, Leopold, 3, 30, 85–89 Zimmer, Robert, 63, 65, 67