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German Pages [232] Year 2017
Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert
Studien zur Kunst 38
Guido Reuter, Ursula Ströbele (Hg.)
Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Kunstakademie Düsseldorf und die Universität der Künste Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Robert Kinmont, 8 Natural Handstands, 1969/2009, 9 Silver Gelatine Prints each sheet: 21,5 x 21,5 cm, 8 1/2 x 8 1/2 inch Courtesy: The artist; RaebervonStenglin, Zürich; Alexander and Bonin, New York
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: Punkt für Punkt GmbH • Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50453-3
Inhalt 7
Einleitung
11
Michael Kausch Von Rodin zu Boccioni Zeitstrukturen in der Plastik der frühen Moderne
33
Nina Schallenberg Schockmomente Rezeptionsästhetische Strategien von Medardo Rosso und Constantin Brancusi
49
Guido Reuter „Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ Der künstlerische und ideengeschichtliche Hintergrund von Norbert Krickes „Raum-Zeit-Plastiken“
65
Martina Dobbe Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen Zeitformen von „Skulptur im erweiterten Feld“
85
Birgit Eusterschulte “from a measured volume to indefinite expansion” Leere und Unendlichkeit in Robert Barrys „Inert Gas Series“
109 Samantha Schramm Time-Motion Passagen, Sequenzen und kristalline Strukturen der Land Art 123 Lutz Hengst Skulpturale Spielarten der Spur Relativierungen moderner Zeitauffassungen in plastischen Künsten nach 1960 143 Ursula Ströbele Performing the making Die Eigenzeit der „lebenden Skulptur“ zwischen Dauer und Augenblick 161 Lisa Le Feuvre The Event Sculpture
Inhalt I 5
181 Veronika Tocha Zeitgeschichte(n) Erzählzeit und erzählte Zeit in den serialen Fotoskulpturen und architektonischen Interventionen Thomas Demands 195 Kate Corder Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time 221 Abbildungsnachweise 225 Autorenverzeichnis
6 I I nhalt
Einleitung Im Januar 2015 fand an der Universität der Künste in Berlin die Tagung „Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert“ statt. Anlass war die große Relevanz, die das Thema Zeit im Zusammenhang mit Skulptur besitzt, ohne dass dies von Seiten der Kunst geschichte bis heute intensiver in den Blick genommen worden wäre. Basierend auf dem Tagungsprogramm vereint der vorliegende Sammelband zehn überarbeitete Vorträge und einen externen Text (Lutz Hengst) – Beiträge von Künstlern und Wissenschaftlern aus den Bereichen Museum, Universität und Kunsthochschule zugunsten systematischer und historischer Schwerpunktsetzungen. Aus bewusst unterschiedlich gewählten Perspektiven widmen diese sich der Zeitlichkeit in der Skulptur von Rodin bis zur jüngsten zeitgenössischen Kunst. Klassische Positionen der Moderne stehen ebenso im Fokus wie die „Skulptur im erweiterten Feld“. Während die kunsthistorische Forschung sich vielfach dem Phänomen Zeit in der Malerei widmete, ist die Untersuchung von Zeitphänomenen in der Skulptur bis heute ein Desiderat der Wissenschaft. Die ideelle Trennung von historia und statua, der Darstellung eines Vorgangs im Gemälde einerseits und der Repräsentation einer Person im Standbild andererseits, geht auf die Schriften Leon Battista Albertis zurück. In „De Statua“, seiner Abhandlung über die Kunst der Bildhauerei aus den mittleren dreißiger oder vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts, verfolgt Alberti das Ziel, dem Bildhauer Methoden und Hilfsmittel an die Hand zu geben, die eine verlässliche Grundlage sein sollen; dazu gehören „die Ausmessung von Körpern und Statuen mit Hilfe dreier neu definierter Messinstrumente, die proportionale Verkleinerung und Vergrößerung eines Modells und die Aufstellung einer Tabelle der idealen menschlichen Proportionen.“ Die Umsetzung von Handlung auf der Basis von Zeit wird in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Einen entscheidenden Grund hierfür formulierte A lberti in seinem Malereitraktat „De Pictura“, das 1435 entstand. Hier heißt es zur Bestimmung der Gattungen: „Das bedeutendste Werk des Malers ist nicht die Riesengestalt (colossus), sondern der ‚Vorgang‘ (historia). Denn größeres Lob verdient sich das Talent des Malers mit der Darstellung des ‚Vorgangs‘ als mit demjenigen der Riesengestalt.“ Während die Schilderung des Vorgangs damit zur höchsten Aufgabe des Malers bestimmt wird, besteht die höchste Aufgabe des Bildhauers in der Gestaltung des Kolosses, der Riesengestalt. Malerei und Standbild werden bei Alberti nach ihren zentralen Aufgaben – der Schilderung von Handlung auf der einen und die Wiedergabe eines (kolossalen) Körpers auf der anderen Seite – unterschieden. Die weitreichende Bedeutung der von Leon Battista Alberti formulierten Festlegungen – besonders in Theoretikerkreisen – bekundet eine an der römischen Kunstakademie formulierte Definition von Skulptur, wie sie die 1604 veröffentliche Schrift „Origine et progresso dell’Academia del Disegno de’pittori, scultori et architetti di Roma“ überliefert. Das Wesen der Skulptur wird hier als die Kunstfertigkeit verstanden, unter Arbeit und Einleitung I 7
Schweiß des Bildhauers den menschlichen Körper wohlproportioniert und ebenmäßig aus dauerhaftem Material, wie zum Beispiel Marmor, herauszuarbeiten. Eine Trennung von historia und statua propagierte fast siebzig Jahre später auch Giovanni Pietro Bellori, für den historia ebenfalls kein Gegenstand von Skulptur ist. In der Vorrede zu seinem 1672 publizierten Vitentext „Le vite de’pittori, scultori e architetti moderni“ bemerkt Bellori knapp, dass die zeitgenössische Bildhauerei bislang nicht den Rang der Malerei erreicht habe, „und da dem Marmor die historia fehlt, kann sie [die Bildhauerei] sich nur einiger weniger Statuen rühmen, die, seien sie auch von Michelangelo, den antiken [Statuen] unterlegen sind.“ Diese Kritik an den zeitgenössischen Werken enthält den Hinweis, dass der Autor die Werke von vornherein aus seiner Beurteilung ausschließt, die seinem persönlichen Ideal antiker Skulptur widersprechen. Auch ignoriert er jene Statuen, die auf eine andere Art, als es der theoretische Diskurs fordert, die historia darstellen – darunter die frühen Borgheseskulpturen Gianlorenzo Berninis. Den Begriff historia verwendet Bellori in seinen Ausführungen zu den Bildhauern seiner Zeit konsequenterweise nur ein einziges Mal bei der Besprechung von Algardis Relief der Attilaschlacht in St. Peter in Rom. Der Terminus findet hier Anwendung auf ein Relief, dem im Unterschied zur Statue eine größere Nähe zum Gemälde und seinen narrativen Strukturen zugestanden wurde. Wenngleich in vielen kunst- und ästhetiktheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts Malerei und Bildhauerei zusammen als Raumkünste klassifiziert und von den Zeitkünsten Dichtung und Theater abgegrenzt wurden, wurden beide auch hinsichtlich ihrer Aufgabenfelder und Möglichkeiten unterschieden. Lessing, der mit dem Laokoon das antike Paradigma einer historia in statua titelgebend ins Zentrum seiner 1766 veröffentlichen Abhandlung „Laokoon oder über Grenzen von Malerei und Poesie“ stellte, räumte der Historienmalerei dessen ungeachtet größere Freiheiten im Umgang mit erzählter Zeit ein als der Skulptur. Trotz solcher Einschränkungen wagten es viele neuzeitliche Bildhauer, Erzählung und damit verbunden Temporalität in ihren dreidimensionalen Bildwerken zu veranschaulichen. Dies dokumentieren die Bildhaueraufnahmestücke an der 1648 gegründeten königlichen Akademie für Malerei und Skulptur in Paris. Mit der zunehmenden Favorisierung des ronde-bosse (Rundplastik) zulasten des bas-relief (Flachrelief) treten Zeitlichkeit und Narration, die Sprache der Leidenschaften und die Rhetorik des steinernen Körpers in den Vordergrund. Für den einzelnen Kandidaten bestand die Herausforderung darin, in einer (meist) Einzelfigur den sukzessiven Ablauf einer mythologischen oder religiösen Geschichte zu erzählen. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts waren die Werke der Bildhauerei vielfach an ikonographische Vorlagen gebunden, die die Grundlage für deren dargestellte Zeit oder Erzählzeit bildeten. Darüber hinaus konnten die Bildhauer über die Wahl und Bearbeitung des Materials auf die strukturelle Zeit ihrer Werke einwirken. Die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einsetzenden Autonomisierungsprozesse der Plastik führten zu einer Loslösung derselben von ikonographischen bzw. textbasierten Grundlagen. Solange der figurative Körper als zentraler Gegenstand der Skulptur diente, war die dargestellte Zeit die primäre im Kunstwerk ausgedrückte Zeitstruktur. 8 I E inleitung
Ein gravierender Wandel erfolgte im 20. Jahrhundert durch die Entwicklung der abstrakten und gegenstandslosen Plastik, die in hohem Maße von der Verwendung neuer Materialien bestimmt war. So prägen u. a. die Rotorreliefs Marcels Duchamps (1935) und seiner Nachfolger aus der kinetischen und kybernetischen Kunst das neue skulpturale Erscheinungsbild. Temporalität fungiert hier im Sinne einer Abkehr von der durata und der Statuarik. Rosalind Krauss beschreibt in „Passages in Modern Sculpture“ (1977) die Entwicklung der Skulptur von Auguste Rodin bis zu den performativ erfahrbaren Werken der Land Art und der Minimal Art Michael Heizers, Robert Smithsons oder Richard Serras als einer zunehmenden Verzeitlichung des Mediums, das auf ein aktives Publikum angewiesen ist. Dieses, auch als Prozessästhetik – in Abgrenzung zur Objektästhetik – angesprochene Phänomen impliziert eine rezeptionsbezogene Form von Zeitlichkeit, die sich erst im Dialog zwischen Artefakt und Rezipient entfaltet. Auch wenn dies schon in Renaissance und Barock umgesetzt wurde, arbeitet die Kunst des 20. Jahrhunderts bewusst mit offenen Strukturen, die neue Formen des Dialogs von Kunstwerk und R ezipient generieren. Ferner entwickeln sich in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart angesichts der Zunahme ephemerer Skulpturen, der Integration akustischer und beweglicher Elemente sowie begehbarer (virtueller) Raumplastiken immer neue Gestalten des Zeitlichen in der Plastik. Die Tagung und das vorliegende Buch wurden durch die Kunstakademie Düsseldorf und die Universität der Künste Berlin großzügig unterstützt. Das Engagement der Autorinnen und Autoren ermöglichte ein rasches Entstehen des Buches. Jana Tiborra betreute intensiv die redaktionelle Arbeit an der vorliegenden Publikation. Allen genannten Personen und Institutionen gilt unser herzlicher Dank für ihre Unterstützung. Guido Reuter und Ursula Ströbele
Juli 2016
Einleitung I 9
Michael Kausch
Von Rodin zu Boccioni Zeitstrukturen in der Plastik der frühen Moderne
Einführung: Kunst und Zeit Unter der Perspektive einer Unterscheidung von objektiver und subjektiver bzw. physikalisch-metrischer und psychisch-erlebter Zeit sind seit dem späten Mittelalter zu nehmende Veränderungen zu beobachten, die sich ab dem 18. Jahrhundert verstärken und im 19. Jahrhundert – dem Zeitalter der Industrialisierung – einen ersten Höhepunkt erreichen. An die Stelle des noch im Mittelalter in breiten Schichten als zyklisch erlebten Zeitablaufs tritt die Vorstellung eines unilinearen, gleichförmigen, von Newton formulierten Zeitablaufs. Deren bedingendes technisches Korrelat ist die Uhr, die immer weiter perfektioniert wird und sowohl soziale als auch technische Abläufe in immer höherem Maße bestimmt, nicht zuletzt im Sinne einer zunehmenden Beschleunigung dieser Prozesse. Dem entspricht auf der Seite des psychischen Erlebens eine mit Stress verbundene Akzeleration der Lebensabläufe, die sich im Phänomen der Nervosität und in der Zeitdiagnose der Neurasthenie äußert.1 Exkurs Zeittheorien um 1900: Die geschilderte Entwicklung von Konzeptionen und Erlebnisformen von Zeit lässt sich nicht zuletzt an den entsprechenden Theorien der Zeit, vor allem in Physik und Philosophie beobachten.2 Die bis um 1900 dominante Konzeption der klassischen Physik Newtons3 begreift Raum und Zeit als jeweils eigenständige, absolute Substanzen, die als homogen, kontinuierlich und metrisierbar aufgefasst werden. Die Zeit unterscheidet sich vom Raum darin, dass sie erstens nicht isotrop, d. h. in ihrer Reihenfolge unveränderlich ist, und zweitens nicht als unbeweglich, sondern als Fluss bestimmt ist. Newtons Zeittheorie wurde von Immanuel Kant übernommen, allerdings mit einer wesentlichen Veränderung: Die Zeit wird nicht mehr als eigenständige, von der menschlichen Wahrnehmung grundsätzlich unabhängige Substanz aufgefasst, sondern als eine a priori gegebene, kategoriale Anschauungsform des rationalen Verstandes. Die Modalzeit der primären Zeiterfahrung – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – wird auf eine reine Lagezeit – des vorher und nachher – reduziert und das Kausalprinzip als rationales Ordnungsprinzip angewandt: Die subjektive Vorstellungsfolge wird als objektive Ereignisfolge bestimmt. Raum und Zeit sind bei Kant gleichwertige, eng ineinander verschränkte Kategorien, die darin übereinstimmen, dass es sich um Vorstellungsarten einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit handelt. Sie unterscheiden sich jedoch Von Rodin zu Boccioni I 11
darin, dass der Raum die Form des äußeren, die Zeit die Form des inneren Sinnes ist. Die Zeit benötigt den Raum zu ihrer Veranschaulichung, wofür alle zeitlichen Beziehungen auf räumliche abgebildet werden müssen. Umgekehrt benötigt der Raum die Zeit für die Einordnung der Vorstellungen der sich in ihm befindlichen Gegenstände. Dieses Newton-Kantische Weltbild wurde seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Philosophie und Physik zunehmend in Frage gestellt bzw. relativiert. Vor allem die enge kategoriale Verschränkung in der Betrachtung bzw. Analyse der Zeit war ein Ausgangspunkt von Kritik und Neukonzeption des französischen Philosophen Henri Bergson. Im Jahr 1889 erschien sein erstes Werk, der „Essai sur les données immédiates de la concience“4 (dt. „Zeit und Freiheit“, 1911). Der Philosoph wendet sich darin gegen die diskursive Betrachtungsweise der positivistischen Psychologie, die zeitliche psychische Abläufe nach dem Modell des euklidischen Raums zergliedert. Diese seien jedoch durch die sogenannte „durée“ charakterisiert, die nur qualitativ mit der Methode der Intuition erfasst werden könne: „La durée toute pure est la forme que prend la succession de nos états de conscience quand notre moi se laisse vivre, quand il s’abstient d’établir une séparation entre l’état présent et les états antérieurs.“5 Im Bereich der Physik wird Newtons Konzeption einer absoluten Zeit vor allem von Albert Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie (1905) und später in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie (1916) abgelöst. Einsteins revolutionäre Neukonzeption wurde vorbereitet durch verschiedene experimentelle Beobachtungen, so jener elektromagnetischer Phänomene und der Bestimmung der Geschwindigkeit des Lichtes als einer endlichen. Die Gültigkeit der klassisch physikalischen Zeit wird beschränkt auf das jeweilige Bezugssystem, umfasst jedoch nicht verschiedene, zueinander beschleunigte Bezugssysteme, da es keine absolute Zeit als dafür nötigen Bezugsrahmen gibt. Darüber hinaus vereinigt Einstein im Anschluss an Überlegungen von H. Minkowski (1908) die Zeit mit dem Raum zu einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum.6 Wie die Konzeption Bergsons basiert auch jene Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie, auf einer Eigenständigkeit und in gewissem Maß sogar Priorität der Dimension der Zeit gegenüber der des Raumes.7 Im Sinne der phänomenologischen Methode von Epoché und Reduktion führt Husserl die alltägliche Vorstellung einer objektiven Zeit – die sogenannte Welt- oder Vulgärzeit – zurück auf das diese Zeit und die Dinge in ihr vorstellende Bewusstsein, das selbst ein zeitliches ist, ein Bewusstseinsstrom. Wie Bergson (la durée) fasst auch Husserl die Gegenwart nicht als punktuell, sondern als Zeitfeld auf. Dieses Zeitfeld besteht aus der Urimpression (der erste, unmittelbare Eindruck), der Retention (das soeben Gewesene) und der Protention (der erste Vorgriff auf das unmittelbar Bevorstehende). Nach verschiedenen Interpreten ist jedoch Husserls Zeitbegriff – auch methodisch bedingt – ein doppelter: Einerseits im Sinne eines stehenden Bildes eines Stromes, also einer Vorstellung vom Fluss, und andererseits als ein Fließen, als Hervorquellen eines Datums nach dem anderen. Die jüngere Phänomenologie unterscheidet zwischen der Modalzeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und der Lagezeit – des Früher, Gleichzeitig und Später. Nach Hermann Schmitz8 entsteht zunächst aus dem Urkontinuum im Geschehen der 12 I Michael Kausch
primitiven Gegenwart die absolute Identität im Sinne des Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich. In der primitiven Gegenwart spannen sich räumliche und zeitliche Weite auf. Diese primäre existenzielle Zeiterfahrung ist die Modalzeit, die entwicklungsmäßig und ontologisch gegenüber der Lagezeit Priorität aufweist. Letztere differenziert sich dann zur reinen Lagezeit bzw. zur metrisierten Lagezeit der Naturwissenschaften.
Auguste Rodin: Einführung Wie bereits Georg Simmel in seiner Schrift „Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik“9 feststellte, sind die Struktur der Werke und das künstlerische Denken des französischen Bildhauers vom Motiv bzw. Prinzip der Bewegung geprägt. Dies zeigt schon die von Rodin selbst gewählte „Ahnenreihe“ von Referenzkünstlern, die sich von seinem großen Vorbild Michelangelo über Pierre Puget zu François Rude („La Marseillaise“) zieht – alles Bildhauer, deren Arbeit nicht von klassischer Statik, sondern von d ynamischer Bewegung bestimmt ist. Georg Simmel setzte Rodins künstlerisches Denken auch in Bezug zur psychischen und sozialen Struktur seiner Zeit, die er als von dauernder Bewegung und Veränderung geprägt und als deren Ausdruck bzw. künstlerisches Symbol er – gemäß seiner soziologischen Theorie – die Kunst des französischen Bildhauers sah. Bereits die ersten grundlegenden Schöpfungen der künstlerischen Entwicklung Rodins weisen eine formale Struktur auf, die zu Recht als eine „Kunst der Buckel und Höhlungen“ und als fließend – bewegt („impressionistisch“) charakterisiert wurde, wobei zur letzteren Eindruckswirkung nicht zuletzt die Reflexionseffekte bei der Bronze beitragen. Zu dieser plastischen Oberflächen- bzw. Grundstruktur kommt in vielen Werken das thematische Bewegungsmotiv der jeweils dargestellten Körper hinzu. Bewegung aber ist – zumindest nach physikalischem, aber auch psychologischem Verständnis – ein Ablauf in der Zeit, sodass Bewegungsstrukturen auch zeitliche Strukturen darstellen oder zumindest mit diesen korreliert sind. Allerdings: Gerade die in die Werke der hier thematisierten Künstler eingestalteten Zeitstrukturen differieren von dieser klassischen (Newton’schen) Zeitkonzeption beträchtlich.
Strukturen von Zeit und Bewegung im künstlerischen Denken Auguste Rodins: Eine Analyse der Zeit- bzw. Bewegungsstrukturen im Werk Rodins ergibt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die folgenden Strukturen: 1. Die physische Bewegung des menschlichen Körpers 2. Die psychische Ausdrucksbewegung 3. Die Bewegung des Lebens 4. Die soziokulturelle Bewegung (hier nicht näher ausgeführt) 5. Philosophische Konzeptionen von Zeit, Entwicklung und Bewegung Von Rodin zu Boccioni I 13
Die physische Bewegung des menschlichen Körpers Die Darstellung des bewegten menschlichen Körpers ist von Anfang an ein Grundthema in der Kunst Rodins. Dieses findet sich bereits in seinem frühen Meisterwerk „Das eherne Zeitalter“ (Abb. 1), mit dem der Künstler – nicht zuletzt durch den damit verbundenen Skandal – ins Schlaglicht der Öffentlichkeit trat. Das Werk orientiert sich in seiner Konzeption an Michelangelos „Sterbendem Sklaven“ (1513–15, Louvre) und ist nach dem unmittelbaren Modell des belgischen Soldaten Auguste Neyt gestaltet. Der revolutionäre, lebensnahe Realismus der Ausformung brachte Rodin den Vorwurf des Abgusses nach dem lebenden Modell ein (den er widerlegen konnte). Die Jünglingsfigur ist in einer labilen Zwischenphase einer – körpersprachlich gesehen – Ausdrucksbewegung des SichAufrichtens und Erwachens dargestellt, was von Gsell/Rodin in „Die Kunst“ bestätigt wird: „Ich bemerkte, daß sich im ehernen Zeitalter die Bewegung von unten nach oben zu entwickeln scheint, wie in der Statue des Marschalls Ney. Die Beine dieser langsam erwachenden Jünglingsgestalt sind noch schlaff und fast unsicher; jedoch je höher der Blick hinauf geht, eine umso straffere und festere Haltung wird man an diesem Körper wahrnehmen: die Rippen dehnen sich unter der Haut, der Brustkasten erweitert sich, das Gesicht richtet sich zum Himmel empor, und die Arme strecken sich, um die bisherige Schlaffheit des ganzen Körpers vollends zu überwinden. Diese Skulptur behandelt also den Übergang aus der Schlaftrunkenheit zur lebendigen Kraftentfaltung eines tatbereiten Geschöpfes.“10
1 Auguste Rodin, Das Eherne Zeitalter, 1877, Bronze, 180,5 x 68,5 x 54,5 cm, Paris, Musée Rodin.
14 I Michael Kausch
Nicht nur der labile Stand als eine zum temporal Vorher und Nachher offene Zwischenphase, sondern auch der vertikal verlaufende Fluss der Lichtreflexionen vermittelt die Wirkung von Bewegung. Auch in psychischer Hinsicht liegt ein bei den Gestalten Rodins häufig anzutreffender Zwischenzustand der Somnolenz bzw. Halbbewusstheit vor: Physische und psychische zeitliche Bewegungsabläufe sind also korreliert.
2 Auguste Rodin, Die Bürger von Calais, 1884–95, Bronze, 231 x 245 x 200 cm, Paris, Musée Rodin.
Im Gegensatz zur Individualbewegung beim „Ehernen Zeitalter“ hat Rodin in den „Bürgern von Calais“ (Abb. 2) die hochkomplexen zeitlichen Bewegungsabläufe einer sozialen Gruppenbewegung gestaltet. Mit dem 1884/85 bei Rodin in Auftrag gegebenen Werk wollte die Stadt Calais in historistischer Rückschau und Selbstbestimmung jenen sechs Bürgern ein Denkmal setzen, die im Jahre 1347 während des Hundertjährigen Krieges ihr Leben riskiert hatten, um ihre Stadt von der Belagerung durch den englischen König Edward III. zu befreien. Die hauptsächliche Inspirationsquelle des Künstlers war die Schilderung des Ereignisses in den „Chroniken Frankreichs“ von Jean Froissart aus dem 14. Jahrhundert. Von Anfang an nahm Rodin Abstand von der Vorstellung des Auftraggebers, nur Eustache de Saint-Pierre darzustellen, sondern gestaltete die gesamte Gruppe der sechs Bürger. Das 1. Modell von 1884 zeigt sie noch auf einem traditionellen Sockel, der von Rodin mit Reliefbögen gekennzeichnet wurde. Der Realismus der Darstellung widerVon Rodin zu Boccioni I 15
sprach jedoch bereits dem Erwartungshorizont des Komitees, der vom üblichen historistischen Heroismus des zeitgenössischen Denkmalkultes geprägt war. In der weiteren Entwicklung des Werks verschwand der Sockel schließlich völlig, da Rodin die Bürger von der historistischen Idealisierung weg in das zeitgenössische Leben (im Zentrum von Calais) integrieren wollte. Diese Auffassung ist bereits im 2. Modell (1885) umgesetzt. Der in Bezug auf unser Thema hauptsächlich interessierende Unterschied der 1889 vollendeten, definitiven Version zum 2. Modell liegt in einer veränderten Anordnung der Figuren. Gegeben ist in letzterem jedoch bereits Rodins neuartige Konzeption einer schlüssig durchchoreographierten Aufbruchsbewegung der Opfergruppe zum Lager des englischen Königs. Die Bewegung der Bürger zum Ort ihres Opfers beginnt als eine psychische im Entschluss des Eustache de Saint-Pierre und des Jean d’Aire, die sich auch kompositionell im Zentrum der Gruppe befinden. Die Körperhaltung des ersteren drückt zwar die Depression durch eine imaginäre Last aus, jedoch zeigt der Gesichtsausdruck Konzentration und entschlossene Selbstüberwindung. Jean d’Aire – der Schlüsselträger – „stellt sich“ in trotziger Selbstüberwindung entschlossen seinem Schicksal, das er aus freier Willensentscheidung, in der er die widerstrebende Physis überwunden hat, für die Errettung seiner Stadt gewählt hat. Diese psychische Bewegung des Entschlusses der beiden Zentralgestalten verwandelt sich dann bei den übrigen Bürgern gleichsam in eine motorische des emotionalen Ausdrucks und der Fortbewegung. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth hat in einer genauen Analyse der Struktur des Werks gleichsam eine Notation dieser Choreographie erstellt. Demnach resultiert die Gruppenkomposition aus mehreren Ordnungsfaktoren (siehe Schema der Grundrissanordnung11): 1. Teilung der rechteckigen Plinthe durch eine Diagonale von vorn rechts nach hinten links. 2. Aufstellung der beiden führenden Figuren auf dieser Diagonale mit Front nach halb links. 3. Postierung des „Verzweifelnden“ hinter Jean d’Aire und des zweiten Schlüsselträgers hinter Eustache de Saint-Pierre so, dass sie streng von vorn gesehen hintereinanderstehende Paare bilden. 4. Auch die ganz links sich freier bewegenden Jünglinge erscheinen ebenfalls als ein der Tiefe nach gestaffeltes Paar.12 Nach Schmoll gen. Eisenwerths Interpretation ist in dieser Konstellation die Ent wicklung der Formation eines Zuges von drei hintereinander schreitenden Paaren angelegt. Die Komposition ist also von den widerstreitenden geometrischen Formen der Parallelität und der Diagonale bestimmt oder – allgemeiner ausgedrückt – von statischen und labilen Strukturen. Das gilt auch für die Haltung der einzelnen Figuren, die ein komplexes Muster von angespanntem Stand, Vorwärtsschreiten und Rückwendung, von statischen, progressiven und retardierenden Momenten aufweist. Diese entspricht nach Schmoll gen. Eisenwerth dem Grundsatz Rodins, „daß auch in den Bewegungen 16 I Michael Kausch
einer einzelnen Figur immer drei Phasen nachvollziehbar deutlich sein sollten: ein Vorher, ein Jetzt und ein Zukünftiges in geschmeidigen Übergängen einer komplexen Synthese.“13 Potentielle bzw. psychische Energie wird in Bewegungsenergie umgewandelt, verdichtete Zeit („durée“) in physikalisch ablaufende Zeit. Von der choreographisch bewegten Gruppe der „Bürger von Calais“ ist der Weg nicht weit zur Darstellung des Tanzes. Seit der Jahrhundertwende hatte sich Rodin dieser Kunstgattung zugewandt, deren eigentlicher Gegenstand die Kultur des bewegten Körpers ist. Dabei wurde er weniger vom traditionellen Gesellschaftstanz oder vom klassischen Ballett angezogen, sondern fühlte sich aufgrund einer künstlerischen Verwandtschaft von damals aufkommenden, neuen Tanzformen inspiriert. So war er mit zwei Frauen befreundet, die um 1900 eine Erneuerung der Tanzkunst anstrebten: Isadora Duncan und Loïe Fuller. Die erstere orientierte sich dabei am griechisch- antiken Tanz, die letztere schuf mit ihrem Schleiertanz, der danse serpentine, eine Tanzform, die als bewegte Jugendstilornamentik bezeichnet werden kann. Ein großes künstlerisches Erlebnis war für Rodin auch die Begegnung mit dem asiatischen Tanz, der ihm 1906 in Gestalt der Truppe des kambodschanischen Tänzers Sisowath entgegentrat. Ein weiterer Schöpfer einer neuen Tanzform – mit expressivem Charakter – war Vaslav Nijinsky, der 1912 in den Ballets Russes von Serge Diaghilev auftrat und durch seine unverhüllt erotische Interpretation des Fauns in Mallarmé- Debussys „Der Nachmittag eines Fauns“ das Pariser Publikum polarisierte. Auch Rodin, der der Vorstellung begeistert beigewohnt hatte und gerade die expressive Erotik Nijinskys in einem von dem mit ihm befreundeten Kritiker Roger Marx geschriebene Artikel begrüßte, wurde in die daraus resultierende Affäre hineingezogen. Es ist überliefert, dass Nijinsky Rodin Modell stand, doch stammt die in der Plastik „Tänzer, genannt Nijinsky“ (Abb. 3) dargestellte Tanzfigur nach der Aussage von Serge Lifar, des damaligen maître de ballet der Pariser Oper, aus dem Ballett 3 Auguste Rodin, Nijinsky, 1912, Bronze, 17 x 9 x 5 cm, „Fürst Igor“, das vom Künstler niemals Paris, Musée Rodin. Von Rodin zu Boccioni I 17
getanzt wurde.14 Dennoch entspricht die Struktur des Werks dem bewegten und expressiven Charakter von Nijinskys Tanz wohl in hohem Maß. Die komplizierte Komposition des Körpers und die skizzenhafte Behandlung der Oberfläche, die durch ihre Buckel und Höhlungen einen stark ausgeprägten Wechsel von Licht und Schatten hervorruft, sind die Hauptkomponenten dieses herausragenden Beispiels von Rodins Kunst, durch die beim Betrachter der Eindruck von Bewegung entsteht. Unter Bezug auf die „Metamorphosen“ Ovids und eine Szene des Gestaltwandels in Dantes „Inferno“ erläuterte der Bildhauer seine Auffassung folgendermaßen: „Jeder Maler oder Bildhauer, der seinen Figuren Bewegung verleiht, ist der Schöpfer einer solchen Metamorphose. Er stellt den Übergang von einer Pose in eine andere dar; er kündet, wie unmerklich die erste in die zweite hinübergleitet. In seinem Werke erkennt man noch einen Teil dessen, was war, man entdeckt aber auch zum Teil schon das, was im Entstehen begriffen ist.“15
4 Auguste Rodin, Der Schreitende, 1907, Bronze, 213,5 x 71,7 x 156,5 cm, Paris, Musée Rodin.
18 I Michael Kausch
In Bezug auf das Thema der Untersuchung zeigen diese künstlerische Konzeption bzw. der Befund der einschlägigen Werke die folgenden Charakteristika: Die künstlerische Synthese eines Bewegungsablaufs, eine verdichtete Zeit, und in der Perspektive psychischen Erlebens: die durée. Die Formen der Figur erscheinen in Relation zu ihrer anatomischen Grundstruktur gleichsam wie in einem RaumZeit-Kontinuum auseinandergezogen und wohl nicht zufällig weist gerade die Gestaltung des Kopfes eine deutliche strukturelle Ähnlichkeit mit Boccionis „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ (Abb. 6) auf. Boccionis, aber auch Rodins Auf fassung von Bewegung und Zeit weisen deutliche strukturelle Parallelen zur Konzeption Henri Bergsons auf. Dessen Philosophie wurde insbesondere durch seine seit 1900 abgehaltenen Vorlesungen am Collège de France – die auch von zahlreichen Künstlern besucht wurden – sehr breiten Kreisen bekannt. Rodin kann, falls er nicht selbst zu den Hörern des
Philosophen zählte, durch verschiedene Bekannte und Freunde – allen voran Kunst kritiker und Literaten – mit den Grundgedanken dieser neuen „Philosophie der Zeit“ bekannt geworden sein. Der Bildhauer lernte den Philosophen wohl auch persönlich kennen, als beide 1914 an einem Dinner in der amerikanischen Botschaft teilnahmen.16 Auch eine Äußerung Georg Simmels lässt darauf schließen, dass Rodin und Bergson miteinander bekannt waren: „Wenigstens sagte mir Bergson vor einigen Jahren, daß er Begegnungen mit Rodin nicht gerade suchte: ‚Il ne parle que des b analités‘“.17 Das hinsichtlich des Themas der physischen Bewegung des menschlichen Körpers zumeist als zentral erachtete Werk Rodins ist jedoch „Der Schreitende“ (Abb. 4). Die Stellung des Schreitenden im Œuvre Rodins ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einerseits stellt die Figur ein Hauptbeispiel für Rodins Schöpfung des Torsomotivs dar, andererseits hat auch seine Auffassung der Bewegungsdarstellung hier ihre gültige Ausformung erfahren. Die Entstehungsgeschichte des erstmals im Salon von 1907 unter seinem heutigen Titel ausgestellten Werkes ist kompliziert und umstritten.18 Rodin hat im „Schreitenden“ gewissermaßen den vitalen Kern des Schreitvorganges dargestellt. In dieser Konzeption ist auch das Torsomotiv, das heißt in diesem Fall das Weglassen des Kopfes, begründet. Vor allem durch die auf dem Boden ruhend dargestellten beiden Füße grenzte sich der Künstler von der damals entstandenen und ihm bekannten Chronofotographie ab, deren Hauptvertreter Etienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge Fotoserien von Bewegungsvorgängen veröffentlicht hatten. Rodin hatte das Hauptwerk des letzteren, „Animal Locomotion“ von 1887, subskribiert (Abb. 5).
5 Eadweard Muybridge, Animal Locomotion, Vol. 1, Plate 6, walking, 1887.
Von Rodin zu Boccioni I 19
Rodin hat dem Problem der Bewegungsdarstellung in seinem theoretischen Werk „Die Kunst“ ein eigenes Kapitel gewidmet; dort heißt es: „Haben Sie schon einmal Momentphotographien gehender Menschen genau betrachtet? Ich bejahte. Was haben Sie da bemerkt? Daß es niemals so aussieht, als bewegten die Menschen darauf sich wirklich vorwärts. Im allgemeinen scheinen Sie immer auf einem Bein still zu stehen oder zu hüpfen. Sehr richtig! Nun beachten Sie einmal folgenden Vergleich. Während mein Täufer mit beiden Füßen auf der Erde dargestellt ist, würde eine Momentphotographie nach einem Modell in derselben Stellung den hintenstehenden Fuß schon erhoben und im Begriff vorgezogen zu werden zeigen. Oder man könnte vielleicht auch das Gegenteil sehen, daß der vordere Fuß noch nicht die Erde berühren würde, wenn das nach rückwärts gerichtete Bein auf der Photographie dieselbe Stellung wie an meiner Statue einnähme. Dieses photographische Modell würde also den wunderlichen Anblick eines plötzlich gelähmten und in seiner Stellung wie zu Stein gewordenen Menschen gewähren. (...) Hierin liegt die Bestätigung dessen, was ich Ihnen über die Bewegung in der Kunst soeben auseinandergesetzt habe. Wenn auf den Momentphotographien die Personen, obgleich in voller Aktion festgehalten, wie jäh in der Luft erstarrt erscheinen, so hat das darin seinen Grund, daß alle Teile ihres Körpers in ein und demselben Zehntel oder Zwanzigstel einer Sekunde wiedergegeben worden sind; von einer fortschreitenden Entwicklung der Gebärde wie in der Kunst ist hier keine Rede. (...) Wenn er [der Künstler] sich nun aber bei der Wiedergabe der Bewegungen in völliger Uneinigkeit mit der Photographie befindet, die ein einwandfreies mechanisches Zeugnis ist, so entstellt er offenbar die Wahrheit. Nein, erwiderte Rodin; der Künstler ist wahr und die Photographie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still: und wenn es dem Künstler gelingt, den Eindruck einer mehrere Augenblicke lang sich abspielenden Gebärde hervorzubringen, so ist sein Werk ganz sicher minder konventionell, als das wissenschaftlich genaue Bild, worin die Zeit brüsk aufgehoben ist.“19
Rodin schuf also im „Schreitenden“ ein künstlerisch verdichtetes Symbol des Schreitvorganges. Dieses wird durch das Weglassen des Kopfes verstärkt – ein künstlerischer Gedanke, der zunächst oft nicht verstanden wurde.20 20 I Michael Kausch
6 Umberto Boccioni, Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum, 1913, Bronze, 119,7 x 86,4 x 82,2 cm, New York, MoMA.
Gerade auch beim „Schreitenden“ liegt also wiederum eine künstlerische Synthese eines Bewegungsablaufs vor mit einer temporalen Struktur verdichteter Zeit. Es ist wohl anzunehmen, dass das Werk Rodins Vorbild bzw. Ausgangspunkt von Umberto Boccionis „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ (Abb. 6) war, obwohl der futuristische Bildhauer im Skulptur-Manifest an Rodin wenig zu loben fand.21 Bei Boccioni wird die Rezeption und Integration der Philosophie Bergsons in die eigene künstlerische Konzeption eindeutig nachweisbar und explizit. Nicht mehr die Darstellung des menschlichen Körpers in Bewegung, sondern die bildnerische Umsetzung von Bewegungskräften und des Dynamismus selbst bestimmen die Figuration. Auch das Bild des Menschen ist ein anderes: nicht mehr das Menschenbild des europäischen Humanismus, sondern das futuristische des technoiden Maschinenmenschen (vgl. z. B. J. Epstein, „The Rock Drill“, 1913–15). Von Rodin zu Boccioni I 21
Die psychische Ausdrucksbewegung
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Wie bereits im vorherigen Abschnitt über die physische Bewegung des menschlichen Körpers deutlich geworden ist, ist diese häufig mit einer psychischen Ausdrucks bewegung korreliert. Diese ist das Thema der folgenden Darstellung, wobei hier vor allem auch die Bewegung und der zeitliche Ablauf der psychischen Innenseite untersucht werden soll. Dabei ist zunächst die Gattung des Porträts, die im Œuvre Rodins eine zentrale Stellung einnimmt, von Interesse. Der Bildhauer schuf tief schürfende P orträts zumeist von Mitgliedern der höheren Gesellschaft, Köpfe von Politikern, W issenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, Persönlichkeiten, die h äufig zu seinem Freundeskreis gehörten, aber auch vereinzelt von Mitgliedern der Unterschicht. Diese Werke können einerseits als „psychoanalytische“ Individualporträts, andererseits als Bilder von Typen der zeitgenössischen Gesellschaft betrachtet werden. Dujardin-B eaumetz schildert Rodins Auffassung des Porträts: „Eine g elungene Büste zeigt das Modell in seiner moralischen und physischen Wirklichkeit, sagt etwas über seine Gedanken aus, lotet die Winkel seiner Seele aus, seine Stärken, seine Schwächen; alle Masken fallen.“22 Die „Maske des Mannes mit der zerbrochenen Nase“ (Abb. 7) wird mit Recht zumeist als das erste, innovative Meisterwerk Rodins angesehen. Das Porträt des Proletariers „Bibi“ vom Pariser Pferdemarkt steht wie ein Thema am Anfang seines Werkes. In ihm finden sich so wesentliche Qualitäten von Rodins Kunst wie der psychoanalytische Realismus und das bewegte, expressive Modelé als Ausdrucksträger. Hauptträger des psychischen Ausdrucks sind drei Partien des Gesichts: die Augen, die Nase und die Stirn. Die Augen, die unter buschigen, grobsinnlich wirkenden Brauen liegen, scheinen aufgrund der verschiedenen Blickrichtung und des Fehlens von Pupillen ins Leere zu schauen. Dadurch wirkt der Blick nach innen gerichtet bzw. resigniert. Das Zentrum des Gesichts ist bestimmt Auguste Rodin, Mann mit gebrochener Nase, durch die Nase, die durch einen Bruch 1862–64, Bronze, Paris, Musée Rodin. 22 I Michael Kausch
des Nasenbeins bzw. -knorpels zu einer unförmigen Masse geworden ist und so den Eindruck von Gewaltanwendung, Rohheit und Leid vermittelt. Die in tiefe Furchen gerunzelte Stirn drückt psychische Qualitäten wie leidvolle Nachdenklichkeit und Altersabnutzung aus. Der Gesamteindruck ist der eines alten, vom Leben gezeichneten und resignierten Mannes, nicht ohne die Bedeutungsfacette des Weisen. Die Maske des Mannes mit der zerbrochenen Nase ist ein synthetisches psychoanalytisches Werk, ein Schicksalsporträt: Es stellt den gequälten Proletarier Bibi dar und ist relevant für die zeitgenössischen sozialen Verhältnisse, unter denen ja auch Rodin zu leiden hatte. Rilke hat es – in dichterischer Einfühlung – wohl am besten interpretiert: „Man fühlt, was Rodin anregte, diesen Kopf zu formen, den Kopf eines alternden, häßlichen Mannes, dessen gebrochene Nase den gequälten Ausdruck des Gesichtes noch verstärken half; es war die Fülle von Leben, die in diesen Zügen versammelt war; es war der Umstand, daß es auf diesem Gesichte gar keine symmetrischen Flächen gab, daß nichts sich wiederholte, daß keine Stelle leer geblieben war, stumm oder gleichgültig. Dieses Gesicht war nicht vom Leben berührt worden, es war um und um davon angetan, als hätte eine unerbittliche Hand es in das Schicksal hineingehalten wie in die Wirbel eines waschenden, nagenden Wassers. [...] Man glaubt zu fühlen, wie einige von diesen Furchen früher kamen, andere später, wie zwischen dem und jenem Riß, der durch die Züge geht, Jahre liegen, bange Jahre, man weiß, daß von den Zeichen dieses Gesichtes einige langsam eingeschrieben wurden, gleichsam zögernd, daß andere erst leise vorgezeichnet waren und von einer Gewohnheit oder einem Gedanken, der immer wiederkam, nachgezogen wurden, und man erkennt jene scharfen Schatten, die in einer Nacht entstanden sein mußten, wie vom Schnabel eines Vogels hineingehackt in die überwache Stirn eines Schlaflosen. Man muß sich mühsam erinnern, daß alles auf dem Raume eines Gesichtes steht, so viel schweres, namenloses Leben erhebt sich aus diesem Werke.“23
Die anschauliche Interpretation Rilkes gibt auch die komplexe Zeitstruktur wieder, die hier ins Kunstwerk eingestaltet ist: verdichtetes Schicksal bzw. verdichtete Lebenszeit. Zu dieser psychosozialen, biographischen Bedeutungsfacette kommen jedoch noch weitere hinzu:24 1. Die frühe Biographie des Künstlers Rodin und damit der Aspekt der impliziten Selbstdarstellung. 2. Damit verbunden, sein Bezug zu Michelangelo (siehe als plastisches Vorbild Daniele da Volterra, „Büste Michelangelos“, 1564/66, Musée du Louvre, Paris). 3. Die Nobilitierung des leidenden Proletariers Bibi durch Annäherung an den Typus des antiken Philosophen (siehe die römische Marmorreplik der hellenistischen „Büste Homers“, Musée du Louvre, Paris). 4. Ebenso nobilitierend wirkt das Motiv des vor allem bei der rundplastischen Variante des Werks in Marmor voll ausgeprägten Ruban de l’immortalité (vgl. auch das „Sitzbild Voltaires“ von Jean-Antoine Houdon, 1781, Comédie Française, Paris). Von Rodin zu Boccioni I 23
Das Leben als zyklische Bewegung In Rodins künstlerisch-weltanschaulichem Denken und Werk findet sich noch eine weitere temporale Struktur, die wohl die komplexeste darstellt: jene des Lebens als zyklischer Bewegung. Diese Struktur ist in ihrer von der Ebene des Biologischen bis zu jener des Philosophisch-Metaphysischen reichenden Vielschichtigkeit im „Höllentor“ (Abb. 8) eingestaltet. Schon seinen zeitgenössischen Interpreten galt Rodin als der Darsteller des Lebens. Sie sahen in seinen Werken weniger Verbildlichungen künstlerischer oder weltanschaulicher Ideen, sondern vielmehr das Leben in seiner unreflektierten Ganzheit. Ohne Zweifel sind das körperliche Medium der Plastik und der mit ihm verbundene künstlerische Schöpfungsvorgang für die Darstellung des Phänomens Leben besonders geeignet. Das bewegte modelé erzeugt zusammen mit den Reflexionseffekten der Bronze den Eindruck des Fließens und der Bewegung. Ständiges Fließen bzw. Bewegung ist aber ein Hauptmerkmal von Leben, das in der Biologie als offenes Fließgleichgewicht definiert ist. Auch die Plastik Rodins, die mit dem Begriff des non finito charakterisiert wurde, ist häufig offen, das heißt, sie steht mit ihrer Umwelt in Verbindung bzw. geht in diese über. Dies gilt für die Mikrostruktur der Oberfläche ebenso wie für die Makrostruktur des gesamten Werks. Das Phänomen der Bewegung bzw. des Fließens ist in besonders ausgeprägter Weise an der Hintergrundsstruktur der beiden Hauptfelder des „Höllentors“ (Abb. 9) zu beobachten. Überhaupt steht das gesamte Werk nicht in einem statischen, sondern in einem dynamischen Gleichgewicht wie das Leben, das es darstellt. Das Leben und sein Zyklus von Geburt, Jugend, Reife, Alter und Tod ist also das Thema von Rodins opus magnum. Die Figuren der beiden Hauptfelder tauchen gleichsam aus der amorphen Hintergrundsmasse empor und sinken in diese zurück. Aus der anorganischen Materie bilden sich organische Formen, die sich wiederum in jene auflösen – Leben ist stetige Entwicklung und Umwandlung. Der Entwicklungsgedanke ist mit dem biologistischen Denken untrennbar verbunden. Herbert Spencer, ein Hauptvertreter des die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschenden Evolutionismus, bietet geradezu eine Übersetzung des Rodin’schen Werks in die Sprache der Philosophie: „Die Entwicklung ist eine Integration der Materie, die von einem Aufwand an Bewegung begleitet wird; während ihres Verlaufs geht die Materie aus unbestimmter, zusammenhangsloser Homogenität in bestimmte, zusammenhangvolle Heterogenität über, und die aufgewendete Bewegung erleidet eine gleichlaufende Umformung.“25
Die Entwicklung von relativ unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit (Homogenität) zu bestimmter, zusammenhängender Ungleichartigkeit (Heterogenität) kehrt sich um in den Vorgang der Auflösung der entstandenen Gebilde. Denselben Vorgang schildert Henri Bergson, wenn auch nicht aus positivistisch-materialistischer, sondern aus vitalistischer Sicht. Der élan vital formt aus der Materie und gegen deren Widerstand die Lebewesen: 24 I Michael Kausch
8 Auguste Rodin, Das Höllentor, 1880–9/1895, Bronze, 618 x 398 x 118 cm, Paris/Meudon, Musée Rodin.
Von Rodin zu Boccioni I 25
„In Wirklichkeit ist das Leben eine Bewegung, die Materialität ist die gegenläufige Bewegung, und jede dieser beiden Bewegungen ist einfach. Dabei ist die Materie, die eine Welt formt, ein ungeteiltes Fließen, und auch das Leben ist ungeteilt, das sie durchquert und das davon lebende Wesen abtrennt.“26
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Die Zeit, das heißt der Ablauf des Geschehens, erscheint im Höllentor ganz im Bergson’schen Sinne nicht als räumlich kompartimentiert, sondern als in einem ganzheitlichen schöpferischen Fluss begriffen. Der Zyklus des Lebens zwischen Geburt und Tod wird auch in unzähligen Figuren und Gruppen dargestellt, die seine verschiedenen Stadien repräsentieren. Nach der Interpretation von Schmoll gen. Eisenwerth beginnt dieser Zyklus des Lebens bei den Mutter-Kind-Gruppen auf den vier kleinen Relieffeldern nahe der BaAuguste Rodin, Das Höllentor, Ausschnitt Fugit Amor. sis der beiden Türflügel (der Autor bringt diese Darstellung mit dem „Reich der Mütter“ in Goethes „Faust 2“ in Verbindung27). Die weitere aufsteigende Entwicklung verläuft über die beiden Pilaster des Türrahmens, auf denen weitere Mutter-Kind-Gruppen und Liebespaare dargestellt sind, zur Gerichtsszene des Tympanons. In dessen Zentrum sitzt der „Denker“, zu dessen Bedeutungsaspekten auch der des Richters (Minos – nach Dantes „Divina C ommedia“ oder Christus – nach dem Vorbild gotischer Kathedraltympana) gehört. Aus diesem Bereich erfolgt dann der Absturz (der Fallende) in die Hölle der Türflügel, in der sich unter den vielen anonymen Gestalten „Paolo und Francesca“ sowie „Ugolino und seine Kinder“ finden. Der Lebenszyklus erfährt seinen symbolischen A bschluss in den beiden querrechteckigen Feldern, die als Sarkophage interpretiert werden. Im Weltbild des Höllentors läuft die Entwicklung eher im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Es ist vor allem eine Wiederkehr des Leides, ganz im Sinne des Schopenhauer’schen Pessimismus.28 Doch ist die philosophische Konzeption der ewigen Wiederkehr des Gleichen vor allem ein wesentlicher Teil des Denkens von Friedrich Nietzsche. So findet sich am Schluss seines Nachlasswerkes „Der Wille zur Macht“ eine Stelle, deren geistige Struktur jener des Höllentors überaus ähnlich ist29: „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausga-
26 I Michael Kausch
ben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich – Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kraftwellen zugleich eins und vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfachsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniswelt der doppelten Wollüste, dies mein ‚Jenseits von Gut und Böse‘, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat [...].“30
Umberto Boccioni Der Hauptvertreter einer futuristischen Plastik wurde bereits im Zusammenhang mit einigen Werken Rodins genannt, insbesondere in Bezug auf den „Schreitenden“ (Abb. 4), dem wohl wichtigsten Vorbild und Ausgangspunkt für Boccionis plastisches Hauptwerk, den „Einzigartigen Formen der Kontinuität im Raum“ (Abb. 6). Boccioni war mit dem Werk des französischen Bildhauers nicht zuletzt durch seine Besuche in Paris bekannt (erste Ausstellung seiner Plastik 1913 in Paris); darüber hinaus erfolgte 1912 eine spektakuläre Aufstellung von Rodins „Schreitendem“ im Hof der französischen Botschaft in Rom. Den Konzeptionen beider Werke bzw. dem künstlerischen Denken beider Bildhauer gemeinsam ist die zentrale Stellung der Kategorie der Bewegung (und damit der Zeit). Sowohl Rodin als auch Boccioni haben die zeitgenössische Bewegungsfotografie rezipiert (Muybridge, Marey, und im Falle Boccionis Bragaglia) und in ihr künstlerisches Denken kritisch integriert. Trotzdem sind die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt: Bei aller Bedeutung der Bewegung für Rodins künstlerisches Denken löst diese die Substanz des menschlichen Körpers nie ganz auf. Beim Futuristen Boccioni hingegen ist die grundlegende künstlerische und ontologische Kategorie die Bewegung, im Detail die drei wesentlichen, aus der Philosophie Bergsons abgeleiteten Aspekte von absoluter und relativer Bewegung, der Kraftlinien und der Interpenetration.31 In dieser Hinsicht aufschlussreich ist auch die Entwicklungsreihe der „Einzigartigen Formen“, die von „Synthese des menschlichen Dynamismus“ (Abb. 10) über „Muskeln in schneller Bewegung“ (1913) und „Spiralige Ausdehnung der Muskeln in Bewegung“ (1913) zur endgültigen Figuration gelangt: Während in der Struktur von „Synthese des menschlichen Von Rodin zu Boccioni I 27
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Dynamismus“ noch das von Boccioni bereits in früheren Werken umgesetzte Prinzip der Interpenetration dominiert und er in „Muskeln in schneller Bewegung“ jenes der Kraftlinien umsetzt, erreicht der Bildhauer in „Spiralige Ausdehnung der Muskeln in Bewegung “ und in den definitiven „Einzigartigen Formen der Kontinuität im Raum“ eine Integration und künstlerische Verdichtung. Damit zusammenhängend ist ein Unterschied im Modus der Rezeption und künstlerischer Adaptation von zeitgenössischem Weltbild bzw. philosophischer Konzeptionen: Während Rodin diese vorwiegend auf intuitive Weise oder durch das Gespräch mit Freunden aufnahm, setzte sich Boccioni unmittelbar mit den Schriften des französischen Philosophen auseinander. Nach Brian Petrie war Boccioni seit 1910 mit Schriften Bergsons bekannt, deren intensives Studium begann der Künstler dann in den Jahren 1910/11.32 In Bergsons „Einführung in die MetaUmberto Boccioni, Synthese des menschlichen physik“ findet sich die Unterscheidung Dynamismus, 1913, Gipsmodell (zerstört), von absoluter und relativer Bewegung, die Originalaufnahme: Mailand, Privatsammlung. bei Boccioni erstmals in der Schrift „Fondamento Plastico della Scultura e Pittura Futuriste“ von 1913 aufscheint; hier finden sich auch erstmals Bergson-Zitate. Boccioni fand in Bergsons philosophischer Konzeption eine Metaphysik, die sowohl materielle als auch psychische Phänomene anerkennt und in einer höheren Einheit integriert. Die Verbindung von Materie und Geist wird erreicht im intuitiven Akt der reinen Wahrnehmung, bei Boccioni letztlich im Kunstwerk selbst. Nach Bergson kommen wir durch den intuitiven Zugriff auf das Temporale der Realität der Bewegung – der ein primärer ontologischer Status zukommt – am nächsten. Die in diesem Akt wahrgenommene Zeit ist durativ: la durée. Bedingung und Werkzeug der Wahrnehmung der Zeit ist das Gedächtnis, la mémoire. In Boccionis „Einzigartigen Formen“ ist der menschliche Körper der Nexus des Materie-Geist-Dualismus, der Sitz des Aktes reiner Wahrnehmung und Synthese von absoluter und relativer Bewegung.33 Nach Bergson ist der menschliche Körper „[...] avec tout ce qui l’environne, le dernier plan de notre mémoire, l’image extrême, la pointe mouvante que notre passé pousse à tout moment dans notre avenir [...].“34 Nach Petrie stellen die „Einzigartigen Formen“ auch „the power of man to shape his own future“35 dar. 28 I Michael Kausch
Resümee Am Beispiel der Entwicklung der künstlerischen Konzeptionen von Rodin und Boccioni wird in exemplarischer Weise deutlich, wie sich die Struktur der Plastik in der Zeit um 1900 hinsichtlich der Kategorien der Zeit (der Bewegung) und des Raumes verändert: Die traditionell eher statische Struktur wird in Bewegung versetzt beziehungsweise verzeitlicht, sie wird durativ, das heißt nicht bestimmt vom Moment, sondern von der durée. Diese künstlerische Verdichtung des Zeitablaufs ist häufig – insbesondere bei Boccioni – von einer Dynamisierung begleitet. Gleichzeitig kommt es zu einem Aufbrechen des klassischen euklidischen bzw. Newton’schen Raumes, einer Entgrenzung und Öffnung der skulpturalen Makro- und Mikrostruktur (Außen- und Binnenform), die bei Boccioni bis zur Interpenetration verschiedener Objekte geht. Der beschriebene Phänomenkomplex findet sich natürlich nicht nur im künstlerischen Denken der beiden analysierten Künstler, sondern – in jeweils anderen Modifikationen – bei Medardo Rosso oder bei Kubisten wie Raymond Duchamp-Villon („Das große Pferd“, 1912–14) oder den britischen Vortizisten. Die Entwicklung der künstlerischen Struktur in Richtung auf Enträumlichung und Verzeitlichung bzw. der Synthese zu einem Raum-Zeit-Kontinuum kann auch in der Malerei der Periode, insbesondere bei Claude Monet, beobachtet werden.36 Die diagnostizierten Phänomene können als charakteristische Züge der Moderne und ihres Entwicklungsprozesses betrachtet werden: Der Öffnung der klassischen Struktur von Raum und Zeit bzw. formaler und zeitlicher Strukur entspricht auch eine Öffnung auf semantischer Ebene. An die Stelle des vollendeten Werks tritt zunehmend das Unvollendete37, die festgefügte Bedeutungsstruktur bricht auf zu einer Bedeutungsoffenheit bzw. vielfacher Deutbarkeit. Diese Entwicklung erreicht einen ersten Höhepunkt im Symbolismus, z. B. bei Rodin. Das Werk konstituiert sich in zunehmendem Maß erst im Prozess der Rezeption, in dem der Betrachter die Leerstellen der Rezeptionsvorgabe interpretatorisch füllt. Es entsteht schließlich das „offene Kunstwerk“. Die beschriebenen strukturellen Veränderungen der Konzeption von Raum und Zeit korrespondieren mit einer zunehmenden Abwendung von Realismus bzw. Naturalismus im Sinne einer Wiedergabe der äußeren, makroskopischen Wirklichkeit und einer Zuwendung zu den abstrakten, teilweise mikroskopischen Strukturen der „inneren“ Realität. Der Prozess der Moderne verändert somit auch die Ikonographie: Die zunehmende Präsenz der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendungen sowohl im Bewusstsein als auch in der äußeren Lebenswirklichkeit führt zu neuen Inhalten, Themen und Konzeptionen im Bereich der Kunst. Als ein Beispiel wurde bereits die des „Maschinenmenschen“ vorgestellt – eine Variante bzw. ein Teilaspekt eines neuen Menschenbildes. Auf die Einbettung der neuen Strukturen bzw. Konzeptionen von Zeit in den soziokulturellen Kontext wurde bereits hingewiesen: Als gesellschaftliches Phänomen die Beschleunigung des Lebenstempos und im Bereich der Philosophie die Tatsache, dass Zeit zu einer Grundkategorie der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde. Von Rodin zu Boccioni I 29
Anmerkungen 1 Nervosität und Neurasthenie waren vieldiskutierte Themen des 19. Jahrhunderts. Die diesbezüglichen Erörterungen hatten zweifellos auch eine reale Grundlage, die mit der bürgerlichen Kultur und der städtischen Zivilisation des industriellen Zeitalters zusammenhängt. Bürgerliche Zwänge und Verdrängung einerseits und Reizüberflutung, beschleunigtes Lebenstempo und die Großstadt andererseits brachten diese Phänomene hervor. Peter Gay fasst dies folgendermaßen zusammen: „Mit einem Wort, die Bürger waren gezwungen, sich mit der obersten und vertrauten Realität des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen: den Anforderungen des Neuen. Alle meine Kronzeugen, von John Stuart Mill bis zu Walter Bagehot, von Alexis de Tocqueville bis zu Emile Zola, von Jacob Burckhardt bis zu Hans von Bülow, stimmten darin überein, daß sie in einer nervenaufreibenden Zeit des Übergangs lebten, einer Zeit, in der der Antrieb zur Veränderung und die Notwendigkeit einer Kontrolle nicht zu übersehen waren.“ Peter Gay, Die zarte Leidenschaft – Liebe im bürgerlichen Zeitalter (übers. von Holger Fließbach), München 1987, S. 422; Vgl. auch Philippe Ariès und Georges Duby, Histoire de la vie privée, Tome 4, Paris 1987. 2 Vgl. dazu Karen Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, München 2008. 3 Zur Zeitauffassung Newtons vgl. vor allem Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Cambridge 1676. 4 Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889. 5 Bergson (wie Anm. 4), in: Ders., Œuvres, Paris 62001, S. 67. „Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und dem vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.“ (Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Lizenzausgabe der 1920 erschienenen 2. Auflage der Übersetzung, Meisenheim am Glan 1949, S. 85.) 6 Vgl. dazu Hermann Minkowski, Raum und Zeit (80. Versammlung Deutscher Naturforscher, Köln, 1908), in: Physikalische Zeitschrift 10, 1909, S. 104–111. 7 Zu Husserls grundlegenden Überlegungen vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Husserliana, Bd. 10), hg. von Rudolf Boehm, Haag 1966; diese gehen auf die Göttinger Vorlesungen vom Wintersemester 1904/5 zurück. 8 Vgl. dazu Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, München 2014. 9 Georg Simmel, Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik, in: Nord und Süd 1/33, Leipzig 1909, S. 189–196. 10 Auguste Rodin, Die Kunst, hg. von Paul Gsell, Linz 1947, S. 47. 11 Vgl. dazu J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Auguste Rodin: Die Bürger von Calais, in: Auguste Rodin, Die Bürger von Calais – Werk und Wirkung (Ausstellungskatalog Marl), Ostfildern-Ruit 1997, S. 17–56, hier S. 39 ff. Die numerische Zuordnung der Personen erscheint in den Positionen 3–6 nicht korrekt. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die grundlegende These der paarweise gereihten Aufbruchsbewegung. 12 Vgl. dazu ebd., S. 39 ff. 13 Ebd., S. 41 f. 14 Vgl. dazu, Rodin (Ausstellungskatalog Martigny), hg. von Fondation Pierre Gianadda, Pierre Gassier, Martigny 1984, S. 140. 15 Rodin (wie Anm. 10), S. 45. 16 Vgl. dazu Frederic V. Grunfeld, Rodin, Paris 1988, S. 671. 17 Georg Simmel, Erinnerung an Rodin, in: Ders., Brücke und Tür, Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarethe Susmann, hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 194–199, hier S. 198.
30 I Michael Kausch
18 Auch im Zusammenhang mit dem Thema dieser Untersuchung kann nur ansatzweise darauf eingegangen werden: Albert Elsen sieht in einem in Zusammenarbeit mit Henry Moore verfassten Artikel die Wurzel des Rumpfes in einem michelangelesken Torso Rodins, der sich im Musée du Petit Palais in Paris befindet. Als Vorbild führt Elsen Torsi von Michelangelo selbst an, die dieser in einer Mischtechnik aus Ton und Wachs ausführte und die Rodin während seiner Italienreise von 1876 in Florenz gesehen habe. Die Vereinigung von Torso und Beinen – letztere gehen wohl auf jene von „Saint Jean Baptiste prêchant“ (1878–80) zurück – erfolgte wohl um 1900, eine Auffassung, die auch von Schmoll gen. Eisenwerth vertreten wird. Die große Version der Figur ist das Ergebnis einer im Jahr 1905 ausgeführten Vergrößerung. Vgl. dazu Albert Elsen und Henry Moore, Rodin’s Walking Man as seen by Henry Moore, in: Studio International 174, July 1967, New York 1967, S. 26–31. 19 Rodin (wie Anm. 10), S. 48 f. 20 So berichtet Ambroise Vollard in seinen „Erinnerungen eines Kunsthändlers“: „Wir sprechen über viele Themen, unter anderem kam auch die Rede auf die Venus von Milo. ‚Ich glaube‘, sagte Rodin, ‚daß ich das Geheimnis der griechischen Bildhauer entdeckt habe, es besteht nach meiner Ansicht in ihrer Liebe zum Leben. Meine besten Arbeiten sind diejenigen, die ich ganz der Natur abgewonnen habe. Man hat mir oft vorgeworfen, daß mein Schreitender keinen Kopf hätte. Braucht man denn zum Gehen einen Kopf?‘“ Ambroise Vollard, Erinnerungen eines Kunsthändlers (berechtigte Übertragung von Magaretha Freifrau von Reischach-Scheffel), Diez an der Lahn 1949, S. 206. 21 Vgl. dazu Uwe M. Schneede, Boccioni, Stuttgart 1994, S. 141. 22 Henri-Charles-Étienne Dujardin-Beaumetz, Entretiens avec Rodin, Paris 1913, S. 71, zit. nach Michael Kausch, Das Menschenbild Auguste Rodins, in: Auguste Rodin – Eros und Leidenschaft (Ausstellungskatalog Wien), hg. von Wilfried Seipel, Wien/Mailand 1996, S. 51–80, hier S. 68. 23 Rainer Maria Rilke, Rodin, Frankfurt am Main 1984, S. 23 f. 24 Vgl. dazu J. A. Schmoll Gen. Eisenwerth, Rodins „Le Masque de l’Homme au nez cassé“, in: Ders., Rodin-Studien, München 1983, S. 163–214. 25 Zit. nach Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 1981, S. 496. 26 Henri Bergson, L’Évolution créatrice, zit. nach André Cresson, Bergson – sa vie, son œuvre, Paris 1955, S. 99, zit. nach Kausch (wie Anm. 22), S. 72. 27 Vgl. dazu J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Zum Menschenbild und Menschenlos in Rodins Höllentor, in: Auguste Rodin – Eros und Leidenschaft (Ausstellungskatalog Wien), hg. von Wilfried Seipel, Wien 1996, S. 81–96, hier S. 90 ff. Rodin erwähnt die Szene von Fausts Abstieg in das Reich der Mütter aus Faust 2 in „Die Kunst“ (wie Anm. 10), 9. Kapitel. Helene von Nostitz berichtet von einer gemeinsamen Lektüre mit Rodin anlässlich seines zweiten Besuches in der Villa Margherita bei Livorno. Helene von Nostitz, Auguste Rodin in Gesprächen und Briefen, Dresden 1927, S. 44 ff. 28 Judith Cladel nennt Schopenhauer in ihrer Liste der von Rodin gelesenen Autoren. Freilich ist bei Rodins Hauptbiographin eine gewisse Vorsicht geboten, da sie wohl dazu tendierte, den Meister zu glorifizieren. Doch wurde die Lehre des deutschen Philosophen seit 1870 in Frankreich rezipiert und übte einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf Literatur und Kunst, vor allem des Symbolismus, aus.Vgl. dazu Judith Cladel, Rodin – sa vie glorieuse, sa vie inconnue, Paris 1936, S. 303. 29 Rodin lernte die Philosophie Nietzsches durch Helene von Nostitz kennen; er soll sogar geäußert haben, dass Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ ein großartiges Thema für eine Skulptur wäre. Vgl. dazu Michael Kausch, Symbol, Psyche und Gesellschaft: Untersuchungen zur semantischen Struktur des Werkes von Auguste Rodin, Phil. Diss. Innsbruck 1993, S. 44. 30 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, S. 696 f.
Von Rodin zu Boccioni I 31
31 Zum Verhältnis von Bergson und Boccioni vgl. Brian Petrie, Boccioni und Bergson, in: Burlington Magazine 116, 1974, S. 140–147; John Golding, Boccioni Unique Forms of Continuity in Space, London 1985; Schneede (wie Anm. 21). 32 Bergsons Schriften erschienen erstmals 1909 in italienischer Übersetzung in: Giovanni Papini, „La Filosofia dell’Intuitione“, eine Publikation, die die Abhandlung „L’introduction à la métaphysique“ zur Gänze beinhaltete. Bereits 1910 hatte der Kritiker Ardengo Soffici einen Essay über Bergson publiziert, „Le Due Perspettive“. 33 Vgl. dazu Petrie (wie Anm. 31). 34 Henri Bergson, Matière et mémoire, in: Ders., Œuvres, Paris 62001, S. 373. „Indem wir [...] den Körper mit allem, was ihn umgibt, als die letzte Ebene unseres Gedächtnisses ansahen, als das äußerste Bild und die bewegliche Spitze, welche unsere Vergangenheit fortwährend in die Zukunft hineinstößt“ (Henri Bergson, Materie und Gedächtnis (übers. von Julius Frankenberger), Hamburg 1991, S. 244). 35 Petrie (wie Anm. 31), S. 146. 36 Vgl. dazu Michael Kausch, Zeit, Raum und das Bild des Kosmos: Strukturen des künstlerischen Denkens in den Serien Claude Monets, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, http:// www.kunstgeschichte-ejournal.net, München 2011 (Überarbeitete Version) [letzter Zugriff 29.08.2016]. 37 Vgl. dazu Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998; Maurice Bémol, J. A. Schmoll gen. Eisenwerth und Joseph Gantner, Das Unvollendete als künstlerische Form. Ein Symposion; Veranstaltet von der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Saarbrücken am 28.–30. Mai, Bern [u. a.] 1959.
32 I Michael Kausch
Nina Schallenberg
Schockmomente Rezeptionsästhetische Strategien von Medardo Rosso und Constantin Brancusi
I. Zu den spezifischen Zeiterfahrungen der Moderne gehört der plötzlich eintretende, von besonderer Intensität gekennzeichnete Wahrnehmungsmoment. Diese Konzentration der „Zeit auf einen Zeit-Punkt“1 hängt eng mit der Beschleunigung und der seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend komplexer werdenden Lebens- und Arbeitswelt zusammen. Technologische Erfindungen von der Eisenbahn über das Telefon bis hin zur Dampfmaschine führten im Alltag der Menschen zu vielfältigen Dynamisierungsprozessen. Während die damit einhergehende Beschleunigung einerseits als Zeichen von Modernisierung und Fortschritt gefeiert wurde, führte sie andererseits zu sinnlichen und emotionalen Erfahrungen, welche die gewohnten Wahrnehmungsmechanismen schlicht überforderten. So schien die Realität, insbesondere in Großstädten, häufig über die Menschen hereinzubrechen und sie durch die Geschwindigkeit und Vielfalt der Eindrücke in eine Art Schockzustand zu versetzen. Ein neues Bewusstsein für Raum und Zeit, das mit den technologischen Neuerungen und gesellschaftlichen Entwicklungen mithalten konnte, musste erst noch entstehen.2 Zu den bedeutenden Chronisten dieser Umbruchsituation gehörte der französische Dichter Charles Baudelaire, der „das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige“ zu den zentralen Merkmalen von Modernität erklärte. Von der Kunst erwartete er, aus diesen flüchtigen Eindrücken das „Ewige“ und „Unwandelbare“ herauszufiltern – nicht umsonst waren „extraire“ und „concentrer“, wie Karl-Heinz Stierle bemerkt, seine bevorzugten Begriffe bei der Beschreibung künstlerischer Tätigkeiten.3 Der Gegensatz von Flüchtigkeit und Ewigkeit schien sich für Baudelaire vor allem in dem Moment aufzulösen, in dem sich inmitten des großstädtischen Treibens plötzlich ein Eindruck von Schönheit seine Bahn brach. Für Baudelaire waren die Unvermitteltheit und Überfallartigkeit einer Erfahrung nicht Grund einer Überforderung und damit negativ besetzt, vielmehr ermöglichten gerade sie die Erfahrung einer modernen Epiphanie. Sein Gedicht „À une passante“ (dt. „Einer Vorübergehenden“) liefert ein berühmtes Beispiel eines solchen Erlebnisses. So hebt sich für den Flaneur aus dem Fluss der Menge mit einem Mal die elegante Gestalt einer Frau ab, „agile et noble, avec sa jambe de statue“,4 um sofort wieder zu verschwinden und fortan in der Erinnerung zu existieren. Hier zeigt sich die diskontinuierliche Zeiterfahrung der Moderne, die aus einer losen, willSchockmomente I 33
kürlichen Reihung bedeutungsvoller Augenblicke besteht und damit das Gewicht jeweils auf die Jetzt-Zeit legt. Die von Baudelaire eingeforderte Spannung zwischen flüchtigem Augenblick und ewiger Gültigkeit verdichtet sich in dem Bild des Frauenbeins, dessen Bewegung der Flaneur im Geiste bannt, so dass es in seiner Vollkommenheit der ausgewogenen Schönheit antiker Statuen entspricht. „Im arretierenden Blick“, so Karlheinz Stierle, „wird die Flüchtige zur antiken Statue, das Momentbild selbst ist in der Erinnerung und der Sprache, die die Erinnerung festhält, zu statuarischer Dauer verwandelt, die Moderne zur Antike in der Moderne geworden.“5
Wenngleich Baudelaire seine Sehnsucht nach Ewigkeit und Dauer mit dem Bild einer antiken Statue veranschaulicht, gehörten für ihn nicht die Skulptur, sondern die Literatur und die Malerei zu den zentralen künstlerischen Ausdrucksmitteln der Moderne. Bildhauer hingegen schienen, wie er in seiner Salonbesprechung von 1846 festhielt, zu sehr an die materielle Faktizität und Statik ihrer Werke gebunden zu sein, um die Flüchtigkeit des modernen Lebens evozieren zu können.6 Infolgedessen konnten sie auch nicht die plötzlich ins Auge springenden Momente zur Darstellung bringen, in deren Schönheit und Energie die Ewigkeit kurz aufleuchtete. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Skulptur überwiegend von neoklassizistischen Darstellungsweisen geprägt, die mit der von Baudelaire geschätzten Ephemerität und Unabgeschlossenheit tatsächlich wenig gemein hatten. Erst zum Ausklang des Jahrhunderts etablierten sich bildhauerische Konzepte, deren Bedeutungsgenese eng an die Plötzlichkeit sinnlicher und emotionaler Eindrücke geknüpft war.7 Diese Konzentration der Betrachtung auf den Moment der Gegenwart und damit auf einen Zeit-Punkt leistete an der Wende zum 20. Jahrhundert – wie in der Folge am Beispiel der Werkkonzepte von Medardo Rosso und Constantin Brancusi gezeigt – einen wichtigen Betrag zur Modernisierung und Erweiterung der bildhauerischen Mittel.
II. Für den gebürtigen Italiener Medardo Rosso bestand die Wirklichkeit nicht aus fester Materie, sondern aus immateriellen Farbwerten, deren Tonalität mit jeder Veränderung des Umfelds und mit der emotionalen Disposition des Wahrnehmenden variierte. Bereits seinem ersten, 1905 erschienenen Ausstellungskatalog stellte er daher das Motto „Rien n’est matériel dans l’espace“ voran8 (Abb. 1). Bei dem Versuch, die Flüchtigkeit und Immaterialität der Wirklichkeit in seinen Skulpturen zu fassen, konzentrierte sich Rosso auf den Augenblick, in dem ein Gesicht oder eine Figur unvermittelt aus dem Fluss der Eindrücke herausstach und in ihm eine besonders tiefe Empfindung auslöste. Von besonderer Bedeutung war für ihn die Plötzlichkeit, mit der die Wahrnehmung wie von einem Blitz getroffen und eine Art Schockzustand provoziert wurde. In diesem Sinne schrieb Rosso in einem 1907 in der Londoner Zeitung „The Daily Mail“ veröffentlichten Artikel: 34 I Nina Schallenberg
„The real visual truth of anything that meets our eye in nature can only strike us with full force in that short moment when the vision breaks upon us, as it were, as a surprise – that is to say, before our intellect, our knowledge of the material form of objects, have had time to come into play and to counteract and destroy that first impression.“9
Der Begriff der impression gehört zu den zentralen kunsttheoretischen Termini von Rosso. Da er ihn nicht nur in seinen Texten, sondern auch in seinen Werktiteln verwendete, setzten zeitgenössische Kritiker seine künstlerische Praxis häufig in die Traditionslinie des Impressionismus. Angesichts seines Interesses an flüchtigen Momenten und changierenden Tonwerten sicherlich nicht falsch, allerdings ist dabei zu bedenken, dass der Begriff der impression am Ende des 19. Jahrhundert 1 Medardo Rosso, Ausstellungskatalog Kunstsalon nicht mehr die gleiche Bedeutung hat wie Artaria, Wien 1905, Deckblatt. zu Zeiten der Impressionisten. Während diese damit vor allem wahrnehmungsphysiologische Vorgänge bezeichneten, bei denen sich Phänomene der äußeren Wirklichkeit scheinbar auf der Retina des Auges einprägten, schloss der Begriff am Ausgang des Jahrhunderts die emotionale Reaktion ein, die der Sinneseindruck hinterließ. Eine Impression koppelte physiologische und psychische Prozesse, führte also von der Oberfläche in die Tiefe.10 Das wiederum ist ein Anspruch, den symbolistische Künstler an ihr Schaffen und ihre Werke stellen, weshalb Rosso weniger dem Impressionismus nahestand als vielmehr dem Symbolismus. In diesem Sinn bemerkte der symbolistische Kritiker Charles Morice, dass es Rosso um den „instant de vérité“ gehe, „que la pose ne peut donner, et qu’il faut en quelque sorte dérober aux manifestations involontaires, inconscientes de la vie.“11 Bei der Konzeption seiner Werke leitete Rosso das Ziel, den Betrachtern eine ähnliche Offenbarung, ein ähnlich intensives Erleben zu ermöglichen, wie er sie selbst angesichts des Motivs erfahren hatte. Ebenso wie die dargestellte Zeit sollte die Rezeption auf einen Zeit-Punkt verdichtet werden. Wie konnte ihm das bildhauerisch gelingen? Um den Blick auf jenen besonderen Moment zu konzentrieren, in dem das Motiv hervorgetreten war, engte Rosso die Betrachterperspektive extrem ein. Entsprechend zitierte ihn der Kritiker Louis Vauxelles mit den Worten: „Mon bloc doit être regardé comme un tableau, d’un point déterminé, à la distance optique [...].“12 Indem Rosso Schockmomente I 35
2 Medardo Rosso, La Portinaia, 1883–84, Wachs über Gips, 37 x 32,5 x 19 cm, Duisburg, Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum.
3 Medardo Rosso/Anonym (?), Enfant Malade (1893– 95), Fotografie publiziert im Ausstellungskatalog „Medardo Rosso“ im Kunstsalon Artaria, Wien 1905.
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an seinen Skulpturen nur jene Gesichtsund Körperpartien figürlich ausarbeitete, die im Zentrum seiner Wahrnehmung gestanden hatten, zwingt er die Betrachter auf eine bestimmte Position, sofern sie dieses Motiv erkennen wollen. Das erste Werk, das diesem Prinzip folgte, war die „Portinaia“, ein 1883 noch in Mailand entstandenes Porträt seiner Concierge (Abb. 2). Die figürliche Ausarbeitung beschränkt sich auf die linke Augen-, Nasen- und Wangenpartie. Bereits der Haaransatz und das Ohr sind in ihrer Gestalt nur mehr angedeutet und nicht detailliert ausgeführt. Auf die Darstellung der rechten Seite des Motivs verzichtete Rosso vollständig. Sofern man das Porträt der Concierge erkennen wollte, war man im Vergleich zu anderen Skulpturen jener Zeit auf einige wenige Positionen festgelegt. Rosso hat zahlreiche Fotografien seiner Werke anfertigen lassen, beziehungsweise selbst angefertigt, die sie aus dem Blickwinkel zeigen, aus dem ihr figürliches Motiv zu erkennen war und die er in Ausstellungskatalogen oder in der Presse veröffentlichte. So publizierte er im Katalog seiner Ausstellung im Wiener Kunstsalon Artaria 1905 die Aufnahme einer 1893–95 entstandenen Version des „Enfant malade“ (Abb. 3). In der Forschung wurden diesen Fotografien häufig als eigenständige Kunstwerke angesehen, die Rossos bildhauerisches Konzept im Grunde besser vermittelten als die Skulpturen selbst.13 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Fotografien zwar die eine zentrale Perspektive wiedergeben, aus der die Motive betrachtet werden sollen. Sie lassen diese jedoch nicht in der Plötzlichkeit hervortreten, die Rosso zufolge für ein intensives emotionales Erlebnis notwendig war.
Das Plötzliche verleiht dem singulären Moment ein besonderes Gewicht. Es verdichtet die Zeit, wie eingangs gesagt, auf einen Zeit-Punkt. Für das unvermittelte Hervorstechen eines Motivs sind jedoch auch die weniger auffälligen Momente wichtig, die diesem Augenblick vorausgehen und nachfolgen. Bei aller zeitlichen Punktualität setzt das Plötzliche damit eine dauerhafte Erfahrung voraus. Rosso sprach dieses Verhältnis von Augenblick und Dauer in einer etwas kryptischen Äußerung gegenüber seiner Mäzenin, der Niederländerin Etha Flees an. Musikalische und visuelle Wahrnehmungsprozesse miteinander vergleichend bemerkte er: „Tout est musique/quelqu’un dans mouvement n’est qu’un instant/un instant c’est l’infini/un être humain n’est pas un 4 Medardo Rosso, Madame Noblet, 1897, Bronze, kodak.“14 Der Begriff Kodak stand für die 51 x 50 x 35 cm, Mailand, Civiche Raccolte d’Arte, fotografische Momentaufnahme, die nach Galleria d’Arte Moderna. Rossos Ansicht aufgrund ihrer Begrenzung auf einen Augenblick kein adäquates Bild der Realität liefern konnte. In seinen Werken geht er also nicht vom Einfrieren eines Augenblicks aus, vielmehr versucht er diesen in seiner Flüchtigkeit und damit in seiner Eingebundenheit in eine unendliche Bewegung zu zeigen. Augenblick und Dauer bedingen einander stets, dies scheint ihm bewusst gewesen zu sein. Obwohl Rossos in Gips, Wachs oder Bronze gearbeiteten Werke in ihrer Gestalt faktisch unveränderlich und unbeweglich sind, zielte er darauf ab, das Wechselspiel von kontinuierlicher Bewegung und plötzlichem Hervorstechen eines Motivs durch die Kombination von figürlicher Darstellung, nicht-figürlichen Partien und inszenatorischen Mitteln erfahrbar zu machen. Wie bei den meisten seiner Skulpturen ist die rückwärtige Partie des 1887 realisierten Porträts von „Madame Noblet“ figürlich nicht ausgearbeitet (Abb. 4). Darüberhinaus befindet sich beiderseits des Gesichts plastisches Material, das keiner figürlichen Darstellung zu dienen scheint. Hierbei handelt es sich um die Andeutung der Atmosphäre, die für die Wirkung des Motivs maßgebend gewesen ist. Die Art und Weise wie Rosso dieses Material gestaltet hat, erklärt sich erst vollends, wenn man es im Zusammenspiel mit dem Licht sieht. Eine zeitgenössische Aufnahme zeigt die Skulptur etwa 1898 im Pariser Atelier von Rosso am Boulevard des Batignolles (Abb. 5). Von rechts oben ausgeleuchtet, bildet das modelé der linken Gesichtspartie eine nuancenreiche Schattenzone, unterstrichen durch die Helligkeit des links angefügten Materials. Ihrerseits rückt diese Zone die rechte Gesichtshälfte in den Schockmomente I 37
5 Medardo Rosso/Anonym (?), Madame Noblet (1897), Fotografie etwa 1898, neuer Kontaktabzug vom Negativ, 12 x 9 cm, Barzio, Museo Medardo Rosso.
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Vordergrund. Sofern das Porträt präzise ausgeleuchtet wird, konstituiert es sich aus einem dynamischen Zusammenspiel von plastischem Material und immateriellen Lichtund Schatteneffekten. Neben der Beleuchtung waren eine präzise räumliche Positionierung und eine leichte Bewegung der Betrachter notwendig, um das Changieren der Tonalitäten und das Hervortreten der Gesichter und Figuren zu suggerieren. Wenn man die Skulpturen von Rosso tatsächlich nur von einem Punkt aus betrachtet, würde man ihr Motiv direkt erkennen, wodurch der Überraschungseffekt fehlen würde. Anlässlich von Rossos Ausstellung 1902 im Leipziger Kunstgewerbe-Museum beschrieb ein Kritiker recht detailliert diesen über den Moment hinausreichenden Prozess: „Nicht mit einem Male erfaßt man die Züge eines Portraits. Sie wollen allmählich herausgearbeitet sein, aus der unförmlichen Masse des Materials, sie wollen durch die individuelle Vertiefung des Beschauers in das Bildwerk erst gewonnen werden. Dann löst sich das Lächeln einer Frau heraus aus dem leblosen Bronzeguß oder die weichen Züge des, Kindes im Sonnenschein‘.“15
Wegen der Bedeutung der Dauer für das bildhauerische Konzept von Rosso, können fotografische Reproduktionen der Werke nur einen Kompromiss darstellen, da sie die Rezeption der Skulpturen auf einen einzigen Moment und auf einen einzigen Standpunkt beschränken.
6 Chabrier (?), Salon d’automne, Paris, 1900 mit den Skulpturen La Portinaia (1883–84), Henri Rouart (1889) und Madame Noblet (1897).
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Wie gezeigt setzt Rossos Konzept eine sorgfältige Inszenierung der Werke voraus, deren Umsetzung um 1900 kein leichtes Unterfangen war. Innerhalb großer Ausstellungsräume wie dem Grand Palais, wo Rosso 1904 im Rahmen des Salon d’Automne eine kleine Einzelausstellung hatte, war es beispielsweise schwierig, die Bewegung der Betrachter auf einen kleinen Radius zu beschränken (Abb. 6). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte das Ziel, Skulpturen als unabhängige, ohne Auftrag entstandene Werke zu präsentieren, dazu geführt, sie in den Salons und Museen von den Wänden weg in den Raum zu rücken. Rosso brachte seine Skulpturen zurück an die Wände, um zu verhindern, dass sie aus einer anderen als der intendierten Perspektive betrachtet würden. So stand etwa die „Portinaia“ im Salon d’Automne derart vor dem Abschluss einer Wand, dass sich die Betrachter dem Werk vor allem von vorn und von der rechten Seite aus nähern konnten, während ihre linke, unausgearbeitete Seite kaum einsehbar war. Bei aller Beschränkung ließ dieser Standort genügend Spielraum, um das Motiv aus einer Bewegung heraus in aller Plötzlichkeit wahrzunehmen. Das Licht gehörte zu den weiteren inszenatorischen Mitteln, denen Rossos Skulptur konzept einen zentralen Stellenwert gab. In der Regel wurden Ausstellungsräume in jener Zeit durch große Deckenfenster mit Tageslicht versorgt, eine punktuelle Ausleuchtung mit elektrischem Licht war nur selten möglich. Rosso hatte daher Glück, als er 1905 eine Ausstellung im Wiener Kunstsalon Artaria hatte, das mit elektrischem Licht ausgestattet war. Leider gibt es von der Ausstellung keine fotografische Dokumentation. Der Kunstkritiker Ludwig Hevesi berichtete jedoch detailliert von der Aufbauphase. Insbesondere ging er auf die zeitintensive Erprobung und Festlegung des Lichts durch Rosso selbst ein, der über jeder Vitrine ein oder zwei mit einem Schirm versehene Glühlampen installierte. Entsprechend bezeichnete ihn der Kritiker als „Ausstellungskünstler und Beleuchtungsvirtuosen“, der „Luft und Licht neben Bronze, Ton, Gips und Wachs als plastisches Material einzusetzen“ wusste.16 Durch die Festlegung der Betrachterperspektive und die Definition einer fixen Lichtquelle sehen zahlreiche Kritiker und Forscher den Aspekt des Malerischen als wesentlich für Rossos bildhauerisches Konzept an.17 In seinem Bemühen, in den Betrachtern plötzlich eine intensive und tiefgehende Emotion auszulösen, versuchte Rosso tatsächlich, kompositorische Mittel der Malerei für die Skulptur fruchtbar zu machen. Durch das Wechselspiel von plastischem Material, Licht und der Bewegung der Betrachter entwickelte er jedoch ein bildhauerisches Konzept, das die Grenzen des plastischen Materials hinter sich ließ und die Gestaltung des Raums, der Atmosphäre mit einschloss. Für die Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert war diese Verschiebung von rein plastischskulpturalen hin zu inszenatorischen Mitteln ein zentraler Schritt.
III. Das Wechselspiel von Moment und Dauer, das die Werke von Rosso kennzeichnet, findet sich in anderer Form auch in den Werken von Constantin Brancusi, obgleich diese auf den ersten Blick einen Gegensatz zu den Arbeiten von Rosso zu bilden scheinen. Sie bestehen nicht aus grob bearbeiteten, offen strukturierten Materialanhäufungen, son40 I Nina Schallenberg
dern aus präzise gearbeiteten, vollendeten Formen. Holz, Bronze und Marmor dienten ihm vorzugsweise als Materialien und nicht Ton, Gips oder Wachs. Bei allen Unterschieden weisen die künstlerischen Konzepte der beiden Bildhauer jedoch einige strukturelle Parallelen auf, weshalb ihre Werke gemeinsam im Zentrum dieser Analyse stehen. Brancusis Überzeugung nach waren sämtliche Körper – unabhängig ob Menschen, Tiere oder Dinge – in ihrer äußeren Form von einer inneren pulsierenden Kraft bestimmt. Diese bildete die Essenz einer Figur und damit, Brancusi zufolge, den kleinsten Nenner einer harmonischen kosmischen Ordnung. Der Glaube an übersinnliche, die Entwicklung allen Lebens bestimmende Energien war in Künstlerkreisen seit dem späten 19. Jahrhundert weit verbreitet; spiritistische und okkultistische Lehren trugen ebenso dazu bei wie neueste naturwissenschaftliche Theorien, etwa zur vierten Dimension.18 Kurz nachdem Brancusi 1904 nach Paris kam, knüpfte er Kontakt zu Künstlerzirkeln wie der Section d’Or um Marcel Duchamp, die solche Lehren rezipierten. Brancusis Auseinandersetzung mit esoterischer Literatur führte nicht zu dem elitären, geheimbündlerischen Denken, das etwa Titel wie Edouard Schurés „Les Initiées“ (dt. „Die Großen Eingeweihten“), ein Standardwerk der Esoterik, nahelegten. Im Gegenteil, Brancusi stellte den Anspruch an seine Kunst, allgemein verständlich zu sein, so dass sich den Betrachtern die Bedeutung der Werke auch ohne ikonographisches Vorwissen erschloss. In diesem Punkt ist sein bildhauerisches Konzept mit demjenigen von Rosso vergleichbar. Anlässlich einer Einzelausstellung in der New Yorker Brummer Gallery 1933–34 erschien ein kleines Leporello, in dem Brancusi den Besuchern den Rat mit auf den Weg gab: „Ne cherchez pas des formules obscures ni des misteres [sic!]. C’est de la joie pure que je vous donne.“19 (Abb. 7). Es sollte die „reine Freude“ sein, die der Anblick seiner Skulpturen auslöste; eine Freude, die über den Weg der ästhetischen Erfahrung auf einem intuitiven Erkennen der kosmischen Ordnung und Energien basierte. Brancusi zufolge war es dafür notwendig, die plastischen Werke in ihrer materiellen Fülle wahrzunehmen, also in ihrem inneren Volumen und ihrer äußeren Form. Eine solch umfassende Wahrnehmung führte, so seine Überzeugung, zu einem Gefühl der Überwältigung, das er als Schock bezeichnete. So äußerte er gegenüber der Journalistin Dorothy Dudley: „The egg, shell and substance, is what is needed. Fullness and volume are necessary in order to give the 7 Constantin Brancusi, Leporello zur Ausstellung von shock of reality.“20 Brancusi in der Brummer Gallery, New York, 1933–34. Schockmomente I 41
Neben der ganzheitlichen Wahrnehmung eines Gegenstands, eines Objekts ist es zudem die Wahrnehmung der darin liegenden Energie, der Essenz, die Brancusi zufolge ein Schockerlebnis auslöste. Hinsichtlich der Entstehung seiner Skulptur „Der Fisch“ (Abb. 8) bemerkte er daher gegenüber der Bildhauerin Malvina Hoffmann: „When you see a fish, you do not think of its scales, do you? You think of its speed, its floating, flashing body seen through water [...]. Well, I’ve tried to express just that. If I made fins and eyes and scales, I would arrest its movement and hold you by a pattern, or a shape of reality. I want just the flash of its spirit.“21
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Der Verweis auf die Blitzartigkeit, mit der sich das Bewusstsein dieser Lebensenergie einstellt, erinnert an Äußerungen Rossos, in denen dieser die Plötzlichkeit und Constantin Brancusi, Der Fisch, 1922, Marmor, Intensität vergleichbarer Wahrnehmungs12,7 x 42 x 27 cm, Sockel aus Spiegel und Eiche, 61,3 cm Höhe, Philadelphia, Museum of Art. und Bewusstseinsmomente ebenfalls mit dem Bild eines Blitzes, éclair, umschrieb. Während diese Erfahrung für Rosso jedoch durch die unerwartete Veränderung der äußeren Situation ausgelöst wurde, etwa einen plötzlich einfallenden Lichtstrahl, ging Brancusi davon aus, dass ein Schockzustand durch die physische Präsenz eines Lebewesens oder eines Gegenstands eintrat. Schockerfahrungen entstanden daher nicht in einem Moment, sondern basierten auf einer umfassenden, alle formalen und materiellen Aspekte in sich aufnehmenden Betrachtung. Ebenso wie Rosso zielte Brancusi bei der Komposition seiner Skulpturen darauf ab, im Betrachter einen ähnlichen Schock auszulösen, wie er ihn selbst angesichts des Motivs erlebt hatte. Entsprechend bemerkte er wiederum gegenüber Dudley: „Art must give all at once suddenly the shock of life, the sensation of breathing – the sense of happiness.“22 Wie also konnten seine Skulpturen ein solches Glücksempfinden auslösen? Die Konzentration auf die Essenz seiner Motive führte Brancusi zur Distanzierung von einer exakten mimetischen Wiedergabe der äußeren Realität. In diesem Sinn zitierte ihn der Schriftsteller Paul Morand mit den Worten: „What is real is not the external form, but the essence of things. Starting from this truth it is impossible for any one to express anything essentially real by imitating its exterior surface.“23 Die essentielle innere Dynamik seiner Motive versuchte Brancusi in erster Linie über die ästhetische 42 I Nina Schallenberg
9 Exhibition of Contemporary French Art, Sculptors' Gallery, New York, 1922.
Wirkung der plastischen Materialien und Formen zu vermitteln. Für ihn war jedes Material von einer inneren Kraft bestimmt, die dem daraus gefertigten Gegenstand selbst dann den Anschein von Lebendigkeit gab, wenn er sich nicht bewegte. In seiner bildhauerischen Praxis versuchte er diese energetischen Qualitäten sichtbar zu machen, indem er die Eigenschaften der Materialien respektierte. Im Fall der in Marmor ausgeführten Fischmotive bemühte er sich beispielsweise darum, dass die Maserung des Steins mit dem Verlauf der Form korrespondierte. Neben den Materialien sprach Brancusi den Formen eine eigenständige Dynamik zu, die sich nicht aus ihrer abbildenden Funktion herleitete. Wie bereits erwähnt, verzichtete er bei den Fischmotiven auf die Darstellung von Flossen, Augen und Schuppen, um die dynamische Wirkung der Gestalt nicht zu stören. Die Akzente liegen auf der Stromlinienform und der subtilen Schwingung der Konturlinien. Die Wahrnehmung der Betrachter sollte nicht an Details hängen bleiben, die von diesen Bewegung suggerierenden Merkmalen ablenken. Für die Bedeutungskonstitution von Brancusis Skulpturen ist es daher unabdingbar, dass ihre materielle Fülle und ihre formalen Details wahrgenommen werden. Da die ästhetische Wirkung eines Gegenstands maßgeblich von seiner Inszenierung abhängt, spielen inszenatorische Prozesse auch in der künstlerischen Praxis von Brancusi eine Schockmomente I 43
wichtige Rolle. Anders als Rosso, der sich nur schwer im Kunstbetrieb etablierte, hatte Brancusi im Verlauf der 1910er- und 1920er-Jahre ein dichtes Netzwerk an Galeristen, Sammlern und Kritikern aufgebaut, das von Paris bis in die Vereinigten Staaten reichte. Über die Bekanntschaft mit zentralen Vermittlerfiguren wie Marcel Duchamp, Edward Steichen und dem Sammler John Quinn erhielt er daher Gelegenheiten in amerikanischen Galerien und Institutionen auszustellen, die – wie die bereits erwähnte Brummer Gallery – äußerst modern eingerichtet waren. Wenngleich in negativer Hinsicht, so zählt die Präsentation seiner Werke in der „Exhibition of Contemporary French Art“ 1922 in der New Yorker Sculptors’ Gallery zu seinen Schlüsselerlebnissen (Abb. 9). Trotz sorgfältiger Vorbereitung durch die Organisatoren entsprach die Inszenierung keineswegs Brancusis Erwartungen.24 Die Skulpturen standen dicht neben anderen Werken und vor den Wänden, so dass ihre subtile Formgebung kaum wahrzunehmen war. Diese enttäuschende Erfahrung führte dazu, dass Brancusi die Inszenierung seiner Skulpturen künftig selbst übernahm oder enge Vertraute wie Marcel Duchamp damit beauftragte. Einen Höhepunkt seiner inszenatorischen Praxis bildete die Einzelausstellung in der Galerie von Joseph Brummer 1926, zu deren Vorbereitung Brancusi nach New York fuhr. Beim Blick auf die Ansichten der Ausstellung fallen an erster Stelle die Sockel auf, die allesamt aus der Hand des Bildhauers stammten und die mit den in Ausstellungen üblichen Standardsockeln wenig gemein hatten (Abb. 10). In ihrer Materialität und Form korrespondierten die mehrgliedrigen Sockelkonstruktionen aus Holz-, Gips- und Steinelementen mit den Skulpturen. Hinsichtlich der Materialwahl ging Brancusi Friedrich Teja Bach zufolge von einer hierarchischen Staffelung aus, die dem in der Esoterik wurzelnden Glauben an die Dreiheit der principe matériel, principe intermédiaire und principe supérieur verpflichtet war.25 Zuunterst befindet sich Holz, es folgen Stein- oder Kalkelemente als mineralische Stufe, zuoberst behaupten sich schließlich die Skulpturen aus edlen Materialien wie Bronze oder Marmor. Die Sockelelemente basieren auf geometrischen Grundformen, wobei Brancusi die Kuben, Zylinder und Halbkugeln im Laufe der Zeit um komplexere Zick-Zack-Elemente und gedrechselte Körper erweiterte. Stets achtete er darauf, dass die Sockel einen formalen Gegensatz oder eine formale Ergänzung der Skulpturen bildeten. Mit Hilfe der Sockel, die lose mit den Skulpturen verbunden, demontier- und daher transportierbar waren, entwickelte Brancusi ein modulares Präsentationssystem, mit dem er auf die räumlichen Gegebenheiten der wechselnden Ausstellungsorte flexibel reagieren konnte. Gegenüber Dudley bemerkte er, dass die Blöcke und Elemente in seinem Atelier beweglich bleiben mussten, damit er mit ihnen jonglieren könne – entsprechend agierte er auch in Ausstellungsräumen.26 So zeigt sich in der Brummer Gallery, dass er die Skulpturen äußerst ausgewogen über den Raum verteilte, ohne dabei eine Symmetrie oder sonst eine statische Anordnung zu schaffen. Auf diese Weise bewirkte er ein zugleich spannungsreiches und harmonisches Wechselspiel zwischen den Skulpturen, in dem sie sich sowohl auf materieller als auch auf formaler Ebene gegenseitig in ihrer Wirkung stärkten und den gesamten Raum mit Spannung aufluden.27 44 I Nina Schallenberg
10 Yasuo Kuniyoshi, Brancusi Exhibition, New York, Brummer Gallery, 1926, Paris, Musée national d’art moderne – Centre de création industrielle.
Im Laufe der Zeit entwickelte Brancusi den Ansatz, sämtliche Details der Ausstellungsräume auf die ästhetische Wirkung seiner Skulpturen abzustimmen. Hierzu gehörte sowohl die Wandfarbe, welche die subtilen Konturen der Werke hervorheben sollte, als auch Gebrauchsmöbel wie Stühle oder Bänke, die er seit 1916 selbst schuf und in Ausstellungen zur Präsentation seiner Werke einsetzte. So stand während seiner folgenden Einzelausstellung bei Brummer 1933–34 in der Ecke eines Raumes eine Bank, auf der eine Studie zur „Schlafenden Muse“ (um 1917–18?) lag. All diese inszenatorischen Mittel zielten darauf ab, innerhalb der Ausstellungsräume eine Atmosphäre zu schaffen, in der die materielle Fülle und subtile Form seiner Skulpturen wahrgenommen werden konnten, in der also die dauerhafte Wahrnehmung der Werke in einen „Schock des Lebens“, in ein „Gefühl von Glück“ münden konnte.
IV. Abschließend sei noch einmal der Bogen zurück zur ästhetischen Vereinnahmung von Schockerlebnissen in der Moderne geschlagen. Nach psychoanalytischen Kriterien zeichnet sich ein Schockzustand dadurch aus, dass der Mensch mit einer Fülle von Eindrücken der äußeren Gegenstandswelt konfrontiert wird, die in ihrer Gesamtheit weder rational Schockmomente I 45
zu begreifen noch mit Worten vollkommen zu beschreiben sind. In der Psychoanalyse werden vor allem traumatisierende Schockerfahrungen thematisiert. Walter Benjamin wendete den Schockbegriff poetologisch, indem er die Beschreibung und Verarbeitung von Schockerlebnissen auf inhaltlicher wie formaler Ebene in der Dichtung von Charles Baudelaire wiederfand.28 In seinem Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ ging es ihm dabei vor allem um die Frage, wie die moderne Dichtung psychologische Mechanismen aufgreifen konnte, die Schockerfahrungen und damit Traumata abwehren. In den Gedichten von Baudelaire werden schockhafte Erlebnisse, wie etwa die Wahrnehmung einer Passantin, jedoch nicht unbedingt als traumatisches, durchweg schreckliches Ereignis dargestellt. Im Gegenteil, die im Moment des Schocks erreichte Intensität und Schärfe der Wahrnehmung wurde als Möglichkeit begriffen, der Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit des modernen Lebens einen Moment der Tiefe abzugewinnen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgten Rosso und Brancusi, wenn sie schockartige Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis und zum Ziel ihrer Rezeptionsästhetik machten. Obschon die Konzentration auf einen Moment gerade in der Skulpturgeschichte und -theorie Vorläufer kennt – man denke nur an den Topos des „fruchtbaren Augenblicks“ in Gotthold Ephraim Lessings Text zum „Laokoon“ –, so handelt es sich bei den hier gezeigten Motiven nicht um dramaturgische Schlüsselmomente innerhalb einer kontinuierlichen Narration. Eine solche fiel für die Bildhauer der Moderne weg, übrig blieb allein der Moment eines unvermittelten, aus jeder Erzählung herausgelösten Schocks. Um in den Betrachtern diese Erfahrung auszulösen, verließen die Bildhauer ihre Fixierung auf die singuläre Figur und experimentierten mit dem Zusammenspiel von bildhauerischen und raumgreifenden inszenatorischen Mitteln. So scheuten Rosso und Brancusi keinen Aufwand, um den Betrachtern ihrer Werke die Erfahrung einer plötzlich über sie hereinbrechenden intensiven Wahrnehmung zu ermöglichen – eine Erfahrung, in der Solidität und Ephemerität, Ewigkeit und Augenblick in einer Weise zusammenkommen, die Baudelaire vermutlich mit der Skulptur versöhnt hätte.
Anmerkungen 1 Karl-Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, S. 43. 2 Vgl. dazu Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1993, S. 143. 3 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens (1863) (übers. von M. Bruns), in: Ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime Tagebücher, hg. von Henry Schumann, Leipzig 1990, S. 290–320, hier S. 301. Zu Baudelaires Reflektion einer modernen künstlerischen Praxis siehe Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein einer Stadt, München/Wien 1993, vor allem S. 804. Baudelaires Ambivalenz thematisiert auch Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 74.
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4 „Leicht und edel setzt sie wie eine Statue das Bein“, Charles Baudelaire, À une passante, in: Ders., Les Fleurs du Mal, übersetzt und hg. von Friedhelm Kemp, München 1997, S. 198. 5 Stierle (wie Anm. 3), S. 805. 6 Charles Baudelaire, „Der Salon von 1846“ (1846) (übers. von Wilhelm Drost), in: Ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime Tagebücher, hg. von Henry Schumann, Leipzig 1990, S. 17–104, hier S. 94. 7 Tatsächlich brachten manche zeitgenössischen Kritiker diese Entwicklung in Beziehung zu den rund vierzig Jahre alten Beiträgen von Baudelaire. So führte beispielsweise Edmond Claris anlässlich der seit Mitte der 1890er-Jahre öffentlich schwelenden Rivalität zwischen Medardo Rosso und Auguste Rodin eine Umfrage durch, in der er die Möglichkeiten einer „impressionistischen Skulptur“ zur Diskussion stellte. In seiner Einleitung zu der 1902 von der Zeitschrift La Nouvelle Revue veröffentlichten Umfrage schreibt er: „Pensez-vous, comme Baudelaire, que les sculpteurs doivent se borner à un art ornemental, restreint à la recherche d’un idéal de beauté, à la combinaison de formes harmonieuses, ou s’ils doivent relever le défi du poète en s’attaquant à la réalité, à la science des valeurs, à la perspective?“ („Glauben Sie, wie Baudelaire, dass sich die Bildhauer auf eine ornamentale Kunst beschränken sollen, begrenzt auf die Suche nach einem Schönheitsideal, auf das Zusammenspiel harmonischer Formen, oder dürfen sie die Herausforderung des Dichters annehmen, indem sie die Realität, die Gesetze der Farbwerte, die Perspektive angehen?“). De l’impressionisme en sculpture. Lettres et opinions de Rodin, Rosso, Constantin Meunier, Bartholomé Frémiet, J. Desbois, Félix Charpentier, Camille Claudel, Claude Monet, C. Pissarro, J .-F. Raffaëlli, L.-W. Hawkins, G. Geoffroy, Camille de Sainte-Croix, Arsène Alexandre, Camille Lemmonier, Octave Uzanne, Armand Dayot, E. Müntz, Faure, Noblet et Rouart, hg. von Edmond Claris, Paris 1902, S. 28. Vgl. hierzu – wie auch für den gesamten Beitrag – Nina Gülicher, Inszenierte Skulptur. Auguste Rodin, Medardo Rosso und Constantin Brancusi, München 2011, S. 39–42. 8 „Nichts im Raum ist materiell.“ Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Wien), Wien 1905, o. S. Sofern nicht anders angegebenen, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin. 9 Medardo Rosso, Impressionism in Sculpture: An Explanation, in: The Daily Mail, 17. Oktober 1907, zit. nach Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Santiago de Compostela), hg. von Gloria Moure, Mailand 1996, S. 140–142, hier S. 140. 10 Zum Verhältnis von impressionistischer und symbolistischer Ästhetik vgl. Richard Shiff, Cézanne and the End of Impressionism, Chicago/London 1984, S. 44. 11 Es geht um „den Moment der Wahrheit, den eine Pose nicht vermitteln kann und den man in gewisser Weise den ungewollten, unbewußten Offenbarungen des Lebens entwendet.“ Charles Morice, Le Passant. Medardo Rosso, in: Le Soir, 25. September 1895. 12 „Mein Block muss wie ein Gemälde betrachtet werden, von einem bestimmten Standpunkt aus, in optischer Distanz.“ Rosso zit. von Louis Vauxcelles, „Le Salon d’Automne“, in: Excelsior, Paris, 3. November 1929, hier zit. nach: Giovanni Lista, Medardo Rosso. Destin d’un sculpteur 1858– 1928, Paris 1994, S. 53–54. 13 Vgl. dazu Gabriele Stix-Margit, Maler ohne Pinsel. Der Bildhauer und Fotograf seiner Werke. Medardo Rosso 1858–1928, München 1998; Paola Mola, Rosso. Trasferimenti, Mailand 2006. 14 „Alles ist Musik/jemand in Bewegung ist nicht mehr als ein Augenblick/ein Augenblick ist die Unendlichkeit/ein Mensch ist kein Kodak.“ Rosso zit. nach: Margaret Scolari-Barr, Medardo Rosso and his Dutch Patroness Etha Fles, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, Bd. 13, Bussum 1962, S. 217–251, hier S. 239. 15 V. M., Aus dem Kunstgewerbe-Museum, in: Leipziger Tageblatt, 8. Juli 1902. 16 Ludwig Hevesi, Medardo Rosso. Kunstsalon Artaria, in: Fremden-Blatt, Nr. 41, 10. Februar 1905, S. 19; Ders., Medardo Rosso. Ein impressionistischer Bildhauer, in: Pesta Lloyd, 19. Februar 1905.
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17 Vgl. dazu Stix-Margit (wie Anm. 13) und Lista (wie Anm. 12), S. 36. 18 Vgl. dazu Friedrich Teja Bach, Constantin Brancusi. Metamorphosen plastischer Form, Köln 1987, S. 141. Zur vierten Dimension allgemein vgl. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension and Non Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton 1983. 19 „Suchen sie weder nach obskuren Formeln noch nach Geheimnissen. Es ist die reine Freude, die ich ihnen schenke.“ Brancusi (Ausstellungskatalog New York), New York 1933, o. S. 20 Constantin Brancusi zit. nach Dorothy Dudley, Brancusi, in: The Dial, New York, Bd. 82 (1927), hier zit. nach: Bach (wie Anm. 18), S. 321–328, hier S. 324. 21 Constantin Brancusi zit. nach Malvina Hoffmann, Sculpture Inside and Out, New York 1939, S. 52. 22 Constantin Brancusi zit. nach Dudley (wie Anm. 20), S. 325. 23 Paul Morand, Brancusi, in: Brancusi (Ausstellungskatalog New York), New York 1926, o. S. 24 Vgl. dazu Anna C. Chave, Constantin Brancusi. Shifting the Bases of Art, New Haven; London 1993, S. 235. 25 Bach (wie Anm. 18), S. 190. 26 Dudley (wie Anm. 20), S. 327. 27 Ebd., S. 322. 28 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt am Main 1974, S. 645.
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Guido Reuter
„Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ Der künstlerische und ideengeschichtliche Hintergrund von Norbert Krickes „Raum-Zeit-Plastiken“ Im Winter 1949/50 entstehen neben figürlichen Werken (Abb. 1) die ersten Draht plastiken (Abb. 2) von Norbert Kricke. Der künstlerische Wandel weg von der mensch lichen Figur hin zum Thema Raum und Zeit, das anfänglich mittels Draht- und in Folge auch durch Metallplastiken thematisiert wird, bestimmt das Œuvre des Bildhauers bis zu seinem Tod 1984. Unter den jungen Nachkriegskünstlern in Deutschland, Europa und Amerika ist Kricke derjenige, der wie kein anderer die Verzeitigung von Raum zum Gegenstand von Bildhauerei gemacht hat.1 Die Einflüsse, die den künstlerischen Wandel herbeigeführt haben, können retrospektiv nur wie Puzzleteile zu einem annäherungsweisen Bild zusammengefügt werden, da der Bildhauer sich selbst, zumindest in überlieferter Form, niemals konkret hierzu geäußert hat. Nehmen wir mit Kricke befreundete Autoren wie seinen ehemaligen Kollegen an der Düsseldorfer Kunstakademie, den Philosophen Walter Biemel, beim Wort, dann waren die inneren Drahtkonstruktionen, die den figürlichen Gipsplastiken zugrunde lagen, der Ausgangspunkt für den Schritt ins Neue. Auf die gebogenen Drähte, ohne äußere Hülle, richtete sich mit einem Mal das Interesse des Künst- 1 Norbert Kricke, Stehender Knabe, 1950, Bronze, lers. 103 x 32,5 x 32 cm, Kornelimünster, ehem. Reichsabtei. „Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 49
2 Norbert Kricke, Fläche und Raum, 1950, Draht, Stahl, 26 x 43,5 x 51 cm, Privatbesitz.
3 Norbert Kricke, Kriechender, 1948/49, Gips, bemalt, 36 x 94 x 27 cm, Marl, Skulpturenmuseum Glaskasten.
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„Überdrüssig an einer großen kriechenden Figur arbeitend erkannte Kricke plötzlich, dass nicht die Figur, sondern dem sie tragenden Gerüst sein eigentliches Interesse galt. Aus dem bereitliegenden Bindedraht schnitt er Stücke ab, fügte sie zusammen und entdeckte räumliche Beziehungen, die auf einmal sichtbar wurden.“2
Eduard Trier überliefert in der ersten Kricke-Monographie von 1963 in ähnlicher Form, dass den Bildhauer „bereits in der Lehrzeit die inneren Metallgerüste und Armierungen für die Gipsmodellierung mehr interessierten als das darüber aufzubauende Körpervolumen.“3 Sabine Kricke-Güse, die Tochter des Bildhauers, berichtet darüber hinaus, dass 1949/50 die ersten Versuche körperloser Raumkompositionen ihres Vaters noch parallel zu den figürlichen Plastiken entstanden seien.4 Gottfried Boehm zufolge war eine grundlegende Bedingung für den künstlerischen Wandel, den Kricke 1949/50 vollzog, dessen Generationszugehörigkeit: „Kricke gehört zu einer Generation von Künstlern, die, selbst vom Krieg erfasst, von der Faszination eines tiefgreifenden Neubeginns getragen waren. Damit vertrugen sich durchaus auch Anregungen, zum Beispiel von Seiten des russischen Konstruktivismus der 1920er Jahre, die in der Verwendung technischer Materialien bei gleichzeitigem Hang zur Entmaterialisierung oder in einer konstruktiven Vorgehensweise wiedererkannt werden können.“5
Der Vergleich einiger überlieferter figürlicher Plastiken Krickes mit den ersten gegenstandslosen Werken legt trotz offensichtlicher Unterschiede eine gewisse Nähe beider nahe. So sind in den figürlichen Plastiken neben der spezifischen Darstellung des Körpers und seines Volumens – letzteres wird von Kricke in den zunehmend schlanker, oder besser: feingliedriger werdenden Figuren immer mehr reduziert – weitere zentrale Themen das Ausgreifen des Körpers in den Raum beziehungsweise das Einbeziehen des Raumes durch Öffnungen in die Figur sowie die Ponderation des Körpers, bei der durch Richtungsverlagerungen gezielte Spannungen innerhalb des Figurenkörpers erzielt werden (Abb. 3). In diesen Aspekten können wichtige Impulse für den neuen Schritt im Œuvre des Bildhauers gesehen werden.
Hans Uhlmann und Norbert Kricke Krickes Biographie macht darüber hinaus deutlich, dass der Bildhauer auf seinen späteren Reisen viele Galerien und Museen besuchte und Freundschaften mit nationalen wie internationalen Künstlern pflegte. Ob der junge Künstler unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg während seiner Berliner Studienzeit Ausstellungen von Hans Uhlmann in der Galerie Rosen gesehen hat – Uhlmann in jener Zeit möglicherweise sogar kennengelernt hat –, ist nicht überliefert. Gleichwohl scheint es naheliegend, im Werk des Berliner Bildhauers eine weitere Quelle für Krickes Schritt hin zur gegenstandslosen Drahtplastik, in der räumliche Verzeitigung zur Anschauung gelangt, zu sehen.6 „Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 51
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Uhlmann gehörte im Berlin der Nachkriegsjahre zu den entscheidenden Persönlichkeiten, die am Wiederaufleben der Kunst- und Ausstellungsszene beteiligt waren. Daneben gingen von seinen Plastiken, die nun erstmals wieder einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wurden – ab 1945 folgten regelmäßige Ausstellungen in der Galerie Rosen –, wichtige Impulse aus, da sie einerseits auf der Basis konstruktivistischer Ideen aus den zwanziger Jahren fußten und diesen andererseits eine zeitgenössische Gestalt gaben. Uhlmanns Kunst stellte damit im Bereich der Bildhauerei einen idealen Brückenschlag zwischen der Vorkriegsmoderne und den neuen künstlerischen Bestrebungen im Nachkriegsdeutschland dar, die sich anfangs vor allem aus der Vorkriegsmoderne speisten. Der Künstler entdeckte bereits 1932 Draht als Material für seine Plastiken, das zeitweise zum bestimmenden Werkstoff wurde. In seinem Œuvre der zweiten Hälfte der vierziger Jahre bildet Draht neben Metall den Hans Uhlmann, Vogel, 1947, Eisenstäbe, 71 cm. entscheidenden Werkstoff. In den dreißiger und frühen vierziger Jahren war der menschliche Kopf Uhlmanns zentrales Thema. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre entstehen des Weiteren Plastiken, die die menschliche Gestalt zum Gegenstand haben. In der weiteren Entwicklung wird die menschliche Figur dann immer mehr in abstrakte Figurationen verwandelt, in der figürliche Anteile und freie Formkonstellation in eine subtile Balance überführt sind. Zudem fertigte der Berliner Bildhauer in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stärker bewegte Drahtplastiken, die vielfach noch in einer an den Surrealismus erinnernden Form der Verwandlung auf etwas Figürliches anspielen (Abb. 4). Andere Werke haben Musikalisches zum Thema, wodurch die Zeit als Inhalt zugleich auf andere Weise noch als beim Thema der Verwandlung Einlass in die Werke findet. Bei aller Nähe, die zwischen den Arbeiten Uhlmanns und Krickes durch das Material Draht besteht, muss zugleich aber auch die Distanz, die ebenso existiert und letztlich entscheidender ist, da sie die Individualität der Werke sichtbar macht, betont werden: Im Unterschied zu Uhlmanns Drahtplastiken sind die Werke Krickes aus den frühen fünfziger Jahren durch eine größere Formstrenge und Klarheit geprägt. Insbesondere Arbeiten wie „Fläche und Raum“ (1950), „Raumplastik Weiß“ (1950) oder „Raumplastik“ (1950) besitzen in ihrer formalen Klarheit – basierend auf der bewussten 52 I Guido Reuter
Beschränkung auf horizontale und vertikale Verlaufsformen – einen geradezu architektonischen Charakter, obschon sie freilich keinen Raum fest begrenzen. Ab 1952 entstehen im Œuvre Krickes „Raumplastiken“ – auf die an späterer Stelle näher eingegangen wird –, deren Gestalt und dynamisch-temporaler Charakter deutlicher an die Drahtplastiken Uhlmanns aus den späten vierziger Jahren erinnern. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Werken der beiden Künstler besteht jedoch darin, dass Krickes Plastiken durch eine größere Formstrenge und Einfachheit geprägt sind: Uhlmann verknüpft beispielsweise runde und spitz zulaufende Formen miteinander, während Kricke überwiegend auf abgerundete Formen verzichtet und vorrangig diagonale miteinander kombiniert, die zugleich den rational-konstruktiven Kern der Arbeiten jener Zeit zum Ausdruck bringen.
Weitere künstlerische und ideengeschichtliche Voraussetzungen für Krickes Plastiken Stephan von Wiese weist in seinem 2006 anlässlich der Retrospektive des Werks von Norbert Kricke im museum kunst palst in Düsseldorf erschienenen Katalogbeitrag „Raumplastik. Krickes Werk im Dialog mit der russischen konstruktiven Kunst“ darauf hin, dass in den Jahren, in denen der Künstler seine neue bildhauerische Sprache gefunden und entwickelt habe, kaum Text- und Bildinformationen über die konstruktivistische Kunst existierten.7 Der ehemalige Kurator für die Kunst des 20. Jahrhunderts am museum kunst palast betont jedoch, dass dem Bildhauer höchstwahrscheinlich László Moholy-Nagys Bauhausbuch „Von Material zu Architektur“ von 1929 als eine wichtige Quelle zur Verfügung gestanden habe.8 Neben zahlreichem Bildmaterial, das unter anderem Kunstwerke von Gabo, Rodtschenko und der 1921 in Moskau stattgefundenen Obmochu-Ausstellung zeigt, befinden sich des Weiteren in Moholy-Nagys Buch eine vom Künstler übertragene und erheblich gekürzte Fassung des „Realistischen Manifests“ von Naum Gabo und Antoine Pevsner von 1920 sowie Auszüge aus dem 1922 erschienen Manifest „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ von Alfred Kémeny und Moholy-Nagy. In dem von MoholyNagy übersetzten Auszug aus Gabos und Pevsners „Realistischem Manifest“, das in dieser Form erstmals und für lange Zeit als einzige Übersetzung einem deutschsprachigen Publikum zugänglich wurde, konnte Kricke die wegweisenden Forderungen lesen: „Nun sind Raum und Zeit die beiden ausschließlichen Formen der Lebenserfüllung. Also hat auch die Kunst sich nach diesen beiden Grundformen zu richten, wenn sie das wahre Leben erfassen will. Unser Weiterleben in den Formen von Raum und Zeit zu verwirklichen: das ist das einzige Ziel unserer schöpferischen Kunst. [...] Wir verneinen das Volumen als räumliche Ausdrucksform. Der Raum kann ebensowenig mit einem Volumen gemessen werden wie eine Flüssigkeit mit dem Metermaß. [...] Wir schalten in der Plastik die [fysische] Masse als plastisches Element aus. [...] Wir befreien uns von dem Tausendjährigen, aus Ägypten stam-
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menden Irrtum der Kunst, dass nur statische Rytmen [sic] ihre Elemente sein könnten. Wir verkünden, daß als Grundform unseres Zeitempfindens die wichtigstens Elemente der Kunst die kinetischen Rytmen [sic] sind.“9
In den Auszügen aus Kémenys und Moholy-Nagys Manifest „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ von 1922 konnte Kricke ebenfalls anregende Formulierungen wie die Folgende lesen: „Die vitale Konstruktivität ist die Erscheinungsform des Lebens und das Prinzip aller menschlichen und kosmischen Entfaltungen. In die Kunst umgesetzt bedeutet sie heute die Aktivmachung des Raumes mittels dynamisch-konstruktiver Kraftsysteme, d. h. die Ineinander-Konstruierung der in dem fysischen [sic] Raume sich real gegeneinander Spannenden Kräfte und ihre Hineinkonstruierung in den gleichfalls als Kraft (Spannung) wirkenden Raum.“10
Aus der Biographie von Nobert Kricke wissen wir, dass der Künstler 1954 auf Vermittlung des Verlegers Gerhard Hatje Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker kennenlernte. Mit beiden entspann sich eine lebenslange Freundschaft und ein intensiver geistiger Austausch. Die Tatsache, dass Kricke während seines Rektorats an der Düsseldorfer Kunstakademie Carola Giedion-Welcker eine Ehrenmitgliedschaft verlieh, ist Ausdruck seiner besonderen Wertschätzung für die Leistungen der Kunsthistorikerin. Ob Kricke bereits Ende der vierziger oder Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts Carola Giedion-Welckers Buch „Modere Plastik. Elemente der Wirklichkeit, Masse und Auflockerung“ von 1937 kannte oder erst ab 1954 mit den Anschauungen und Ideen des Paares zu Bildhauerei, Architektur und deren Verbindungen zu Wissenschaft und Geistesgeschichte vertraut wurde, wissen wir nicht. Wenn er bereits zuvor Giedion-Welckers Buch hatte zur Kenntnis nehmen können, dann dürfen sicherlich Bemerkungen wie die Nachfolgenden einen Einfluss auf sein Denken und folglich auf seine Werke bereits ab 1950 gehabt haben. So ist auf Seite 6 zu lesen: „Schon die körperliche Realität des Menschen lebt aktiv im Raum, in einer Welt von statischen und dynamischen Körpern. Aus der Bewegung mit ihnen, mit dem lebendig Wachsenden eines Baumstammes oder künstlich Hergestellten eines Verkehrszeichens bis zum alltäglichen Umgang mit Tasse, Teller, Frucht, Ei etc. entstehen ununterbrochene Beziehungen, die auch zum Wesenskern der plastischen Gestalt gehören. Statik und Dynamik, Volumen in Raum und Zeit, Masse und ihre Auflösung – von allem literarischen und psychologischen Kostüm befreit – erhalten nun eine neue und direkte Bedeutung.“11
Des Weiteren schreibt die Autorin mit Bezugnahme auf Werke von Raymond DuchampVillon und Juan Gris: „Aus dem ‚volume statique‘ wird sukzessive das ‚volume cinétique‘. Das bedeutet: Simultanisierung (Durchdringung) der verschiedenen Raumqualitäten und Einführung des Zeitbegriffes.“12 Darüber hinaus folgen Ausführungen über den Futurismus und den Konstruktivismus, in deren Zusammenhang Giedion-Welcker ebenfalls 54 I Guido Reuter
über die neue Vereinigung von Raum und Zeit in der Plastik spricht.13 Einen entscheidenden Zusammenhang diagnostiziert die Kunsthistorikerin zum Abschluss ihrer Darlegungen zwischen der modernen Physik und der Plastik des ersten Jahrhundertdrittels: „Vielleicht noch spezieller [als die Beziehungen zwischen Philosophie und Bildhauerei, GR] sind die Beziehungen der heutigen Plastik zu der modernen Physik. Ihre fundamentale Umgestaltung hat nicht nur unsere Begriffe von Raum, Zeit und Bewegung grundlegend verändert, sie hat auch das Prinzip von der Erhaltung der Masse aufgehoben, da für sie die träge Masse von der Geschwindigkeit unmittelbar abhängig ist. Dabei wird erwiesen, daß der Raum nicht von der Zeit losgelöst werden kann, sondern eine Einheit mit ihr bildet, die ‚Raumzeit‘.“14
Michaela Kamburowa weist in ihrer 2011 veröffentlichen Dissertation „Die Raumplastiken von Norbert Kricke zwischen Immaterialität und Faktizität“, die sich kritisch mit der künstlerischen Umsetzung des historischen Raumzeitverständnisses Krickes und der Apologeten seiner Kunst beschäftigt, zu Recht darauf hin, dass nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Interesse seitens der Künstler an Albert Einsteins Raumzeittheorie existierte, sondern auch in den späten vierziger und fünfziger Jahren. Kamburowa führt aus, dass die naturwissenschaftliche Komplexität von Einsteins Raumzeittheorie künstlerisch nicht umgesetzt werden konnte, „aber der Nachkriegsmoderne eine diffuse Vorstellung von einer dynamischen Einheit von Raum, Zeit und Bewegung gab, die alles einschließt, aber im Ungreifbaren belässt.“15 Zu Einsteins Theorie bemerkt die Autorin: „Im Kontext von Einsteins Entdeckungen galt es, das neue Raumbewusstsein, das die ursprüngliche Idee eines dreidimensionalen Kastenraums sprengte, künstlerisch umzusetzen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erkennt Einstein, dass Raum und Zeit nicht getrennt voneinander existierende Größen sind, sondern eine Einheit bilden. Raum wird nicht mehr als starres, alles umfassendes Gefäß definiert, sondern als abhängig von den Bewegungen der Körper. Aufgrund der Erkenntnis, dass Atome verschiedene Aggregatzustände annehmen können, wird die Begrenzung von fester Materie und umgebendem Raum relativ. Wenn sich diese Materie verflüssigen kann, dann kann sie auch vom umgebenden Raum durchdrungen werden. Die Gegenstände und der Raum existieren nicht mehr nebeneinander und getrennt voneinander, sondern heben ihre Begrenzung zueinander auf, werden als Einheit denkbar. Die Vorstellung von einem absoluten Raum wird überholt durch die moderne Feldtheorie. Diese besagt, dass die physikalische Realität ein Produkt von energetischen Wechselwirkungen und elektrodynamischen Kräften ist. Dieser vierdimensionale ‚Allraum‘, in dem Raum, Zeit und Bewegung zusammenwirken, ist gekrümmt, jede Linie trifft irgendwann auf ihren Anfang, es kann in ihm keine Geraden geben. Jeder Körper im Raum kann deformiert werden. Das euklidische System von Geraden und Ebenen hat seinen Sinn verloren. Raum wird durch die Energien der Massen in ihm und ihren Bewegungen relativ.“16
Kamburowas Feststellung, dass sich die Komplexität von Einsteins Theorie künstlerisch nicht umsetzen ließ, sondern lediglich als diffuse Vorstellung eines Zusammenhangs von Raum, Zeit und Bewegung in den Köpfen der Nachkriegsmoderne existierte, die zu nebu„Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 55
lösen Deutungen der Kunstwerke auf Seiten der Künstler wie der Kunstliteraten geführte habe, kann mit einer Formulierung Umberto Ecos aus seinem 1963 erstmals veröffentlichten Standardwerk „Das offene Kunstwerk“ in sachlicher Weise untermauert werden: „[W]enn wir einen Künstler finden, der bestimmte Termini der wissenschaftlichen Methodologie zur Bestimmung seiner Formintentionen gebraucht, gleich zu meinen, daß die Strukturen dieser Kunst die angenommenen Strukturen des realen Universums reflektierten; wir werden nur sagen, dass die Verbreitung bestimmter Begriffe in einer kulturellen Umgebung den betreffenden Künstler besonders beeinflusst hat, so dass seine Kunst als die imaginative Reaktion, die strukturelle Metaphorisierung einer bestimmtem Anschauung der Dinge (die die Errungenschaften der Wissenschaft den Zeitgenossen vertraut gemacht haben) betrachtet werden kann.“17
Für Eco existiert in Folge dieser Feststellung zwischen Wissenschaften und Künsten daher kein „ontologischer“ Zusammenhang wie es beispielsweise Siegfried Giedion in seinem Buch „Raum, Zeit, Architektur, Die Entstehung einer neuen Tradition“ konstatiert: „Es ist eines der Anzeichen einer gemeinsamen Kultur, dass das gleiche Probleme simultan und unabhängig sowohl in den Methoden des Denkens wie in den Methoden des Fühlens auftaucht.“18 Für den italienischen Gelehrten ist der Zusammenhang ein „ideengeschichtlicher“.19
Raum–Zeit–Plastiken Im Winter 1949/50 entstanden die ersten gegenstandslosen Plastiken Krickes, deren Struktur allein auf der Basis eines dünnen Drahtes beruht, der zumeist mit einer Bodenplatte oder Standfläche verknüpft ist. Der Verlauf des Drahtes ist einfach und klar. Er vollzieht sich in horizontaler und vertikaler Richtung. Die Richtungsänderungen erfolgen durch Biegungen des Drahtes im 90-Grad-Winkel als Rundung und nicht als spitz zusammenlaufende Form, weshalb der Eindruck einer „Verlaufsform“ des Drahtes zustande kommt (Abb. 5).20 Vom Betrachter können die Richtungsänderungen somit als eine Abfolge des Drahtes wahrgenommen werden, wodurch seine festgefügte Form im sukzessiven Wahrnehmungsprozess als zeitliche Einschreibung eines linearen Gefüges in den Raum gesehen werden kann. Ob Kricke bereits in seinen ersten Werken die Idee verfolgte, ein Raum-Zeitliches-Kontinuum zu symbolisieren, wissen wir nicht. Eine Plastik wie „Kleine weiße Architektonische“ von 1950 (Abb. 5) könnte dies nahelegen. Die übrigen Werke aus dieser Zeit vermitteln jedoch eher den Eindruck, in ihnen den Versuch zu sehen, durch lineare Formen auf eine neue Weise Raum sichtbar zu machen ohne dabei Raum ein- oder auszugrenzen. Jürgen Morschel bemerkte bereits 1977 in diesem Sinn hinsichtlich des Unterschiedes zwischen den Werken, die in dem von ihm als „Erste Phase“ bezeichneten Zeitraum zwischen 1949/50 und 1952 entstanden sind und den Werken der „Zweiten Phase“, die ab 1952 beginnt: Der entscheidende Schritt, den Kricke ab 1952 vollzieht, „ist erkennbar in dem Eindruck des Wechsels vom Raum, der für sich ist, zum Raum, der erst dadurch ist, dass in ihm etwas geschieht.“21 56 I Guido Reuter
5 Norbert Kricke, Kleine weiße Architektonische, 1950, Stahl, gestrichen, 30 x 14 x 13 cm, London, Sammlung Peter Powell.
„Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 57
6 Norbert Kricke, Raumplastik Rot-Weiß („Kleine Lütticher“), 1952, Stahl, gestrichen, 56 x 118 x 36 cm, Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast.
In den ab 1952 entstandenen Werken trat folglich die Auseinandersetzung des Bildhauers mit den Faktoren Raum und Zeit offensichtlicher zu Tage. Dies lag insbesondere daran, dass die Diagonale erstmals als Form in die Plastiken Einlass fand und die Horizontale weitgehend ausgespart wurde (Abb. 6). Durch das zackige Auf und Ab und die sich verschränkenden Teilabschnitte entsteht in den ab 1952 geschaffenen Werken eine deutlichere Dynamisierung. Darüber hinaus pointiert die Farbe – neben Weiß, das Kricke bereits in den Jahren zuvor verwendete, werden die Grundfarben Gelb, Rot und Blaut sowie Schwarz eingesetzt – die unterschiedlich dynamisch anmutenden Verlaufsformen in ihrer jeweiligen Zeitigungsform des Raumes: Im Sinne des Künstlers soll die Farbe das reale Material der Plastiken – Draht oder Metall – unsichtbar machen (entmaterialisieren), so dass in der Wahrnehmung die Be- und Entschleunigung des zackigen Auf und Ab der unterschiedlich langen und verschiedenartigen diagonalen Verläufe alleine oder vorrangig durch die visuelle Qualität der Farbe hervorgerufen werden soll. In einem Brief an Will Grohmann vom 15.04.1954 erklärt Kricke die Bedeutung der Farbe für seine Plastik „Rot-Weiß, Lütticher“: „Die Lüttichsche ist fertig, rund 5 Meter, zwei Farben: eine statische, konstruktive Form mit realem Raum ist englisch Rot, das ganz Materie ist und Gewicht und ganz ohne Bewegung, dazu ein langer herausschießender spitzer Winkel in hellem Weiß von irrationaler Geschwindigkeit, alles in einer Struktur fortlaufend in gleicher Stärke [...] – In einem Teil vollständige Ruhe, im anderen Teil äußerste Bewegung.“22
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1982, zwei Jahre vor seinem Tod, äußerte der Bildhauer über den Einsatz der Farbe in seinen Werken, dass er diese nie aus rein ästhetischen oder dekorativen Gründen eingesetzt habe, sondern immer mit der Absicht, Raum- und Bewegungswerte sichtbar zu machen.23 Aus dem Jahr 1954, in dem Kricke Will Grohmann die Gestalt der „Lütticher“ in Briefform beschreibt, stammt auch die erste kurze Reflexion des Bildhauers über das künstlerische Ziel, das er mit seinen Werken verfolgt, die ein Jahr später in Carola Giedion-Welckers „Plastik des XX. Jahrhunderts. Volumen und Raumgestaltung“ erstmals veröffentlicht wurde: „Mein Problem ist nicht Masse, ist nicht Figur, sondern es ist der Raum und es ist die Bewegung – Raum und Zeit. Ich will keinen realen Raum und keine reale Bewegung (Mobile), ich will Bewegung darstellen. Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“24 Krickes Aussage macht nicht nur sein künstlerisches Ziel deutlich, anstelle konkreter Bewegung im Raum, wie sie unter anderem in den „Mobiles“ Alexander Calders existiert, Formen der Symbolisierung von räumlicher Verzeitung zu schaffen. Sie beinhaltet zugleich in unausgesprochener Weise das Problem, dass der Bildhauer sein Ziel nur mittels dreidimensionaler Gebilde im real existierenden Raum erreichen kann – insbesondere die großformatigen Werke stehen zudem meist direkt auf dem Boden des Raums, den sie mit dem Betrachter teilen, wodurch sie unter Mitwirkung des Betrachters in dessen Wahrnehmung als Verzeitigung des real bestehenden Raumes ihre Realisierung erfahren. Dieser Widerspruch zwischen künstlerischem Anspruch und Faktizität des Kunstwerks bleibt bei Kricke selbst unaufgelöst.
7 Norbert Kricke, Raumplastik, 1955, Stahl, vernickelt, 35 cm, London, Sammlung Peter Powell.
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Ab 1955 löste Kricke sich, offensichtlich unter dem Einfluss der öffentlich immer ekannter werdenden Kunstformen Informel und abstrakter Expressionismus, von der b konstruktiv–systematisierten Erscheinungsform seiner bisherigen Plastiken. Von nun an prägen offenere und freiere Formen den Charakter der Werke. Die Linienverläufe werden kurvig und ab 1956 immer mehr zu Bündelungen arrangiert (Abb. 7). Jürgen Morschel hat auch diese Werkphase in Krickes Œuvre äußerst treffend charakterisiert: „Die Plastik beschreibt nun nicht mehr ihren eigenen Verlauf, dem das Sehen wie auf einer Schiene folgt, sondern sie treibt nun sozusagen das Sehen an, bringt es in Schwung und führt es bis an die Stelle, an der es gleichsam von der Bahn abheben kann zu freien Flug in den Raum; die Empfindung beim Betrachten der Raumplastik auf dieser ihrer dritten Entwicklungsstufe ist die des Bewegtwerdens durch die Linienführungen und des Freiwerdens im Endpunkt der Plastik: Die Verlaufsform ist damit präzisiert zur Impulsform.“25
Zur gleichen Zeit wie die „Raumknoten“ entstehen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auch die sogenannten „Flächenbahnen“ (Abb. 8). Die Plastiken, obschon dreidimensional freistehend, erscheinen reliefhaft. Die horizontal verlaufenden, flach geschichteten Metallstäbe diverser Längen wirken wie auf eine Fläche projizierte blitzartige Bewegungen. Der Bildhauer formulierte in dem für ihn typisch sachlichen Kurzstil zu diesen Werken: „Linie – Form der Bewegung/Bewegung – Form von Zeit/Fläche suggerierend/ohne Begrenzung, nach beiden Seiten in den Raum stoßend/von beiden Seiten ihn aufnehmend./Relief – weg von der Wand/frei in den Raum/Relief in sich/ beidseitig.“26
8 Norbert Kricke, Große Flächenbahn, 1964, Edelstahl, 133 x 520 cm, Bergisch Gladbach, Sammlung Jochen Hölzer.
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9 Norbert Kricke, Große Fließende, 1965/66, Edelstahl, 405 x 500 x 315 cm, St. Paul de Vence, Fondation Maeght.
Ebenfalls in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre entstehen „Raumplastiken“, die so erscheinen, als hätte Kricke aus den Flächenbahnen einzelne Abschnitte herausgelöst, teils verbogen und gegeneinander versetzt in die Höhe gestaffelt oder staccatoartig zu einem Zentrum verdichtet oder frei um ein Zentrum herum angeordnet. Der bestimmende Zeitcharakter dieser Werke ist wie bei den anderen in jenen Jahren eine hoch dynamische Zeitlichkeit. Anfang der sechziger Jahre werden die dynamischen, durch explosionsartig verdichtete Gegenwärtigkeit geprägten Werke – die im selben Moment Einheit und vielfache Teilung sind –, die ab den mittleren fünfziger Jahre in Krickes Œuvre entstanden waren, von Plastiken mit leicht schwingenden und wie fließend erscheinenden Formen abgelöst, die der Bildhauer unter anderem selber treffend „Fließende“ betitelte (Abb. 9). Durch die quantitative Reduktion der Bestandteile, deren weiche Krümmung und neue Erstreckung erlangen die Werke den Anschein sacht strömender Lineamente, in denen sich Zeit als stetiges Fließen vermittelt. Ab Mitte der siebziger Jahre werden Krickes Plastiken formal stark reduziert, wodurch viele in gewisser Weise an sein Frühwerk von 1950 erinnern. Die Reduktion erscheint in den meisten Werken jedoch nicht wie ein Rückschritt, sondern wie die Fähig„Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 61
keit des reifen Bildhauers, mit wenigen Mitteln – geradezu durch eine Konzentration auf das Wesentliche – alles zu sagen, was zuvor in ähnlicher Weise auch und doch anders thematisiert wurde (Abb. 10). Der bestimmende Zeitcharakter dieser Werke ist vorrangig der einer gedehnten Zeit, die sich langsam fließend, aber niemals stillstehend in immer neuen Variationen im Raum vermittelt.
10 Norbert Kricke, Große Raumkurve, 1981, Edelstahl, Köln, Deutschlandfunk.
Anmerkungen 1 Vgl. dazu unter anderem die Werke von José de Rivera, Richard Lippold, Kenneth Martin und Berto Lardera. 2 Walter Biemel, Zur Ausstellung von Norbert Kricke, in: Norbert Kricke: Quadrat Bottrop (Ausstellungskatalog Bottrop), Bottrop 1980, o. S. 3 Eduard Trier, Norbert Kricke, Recklinghausen 1963, S. 8. 4 Vgl. dazu Sabine Kricke-Güse, Biographie, in: Norbert Kricke. Raum, Linie (Ausstellungskatalog Appenzell), hg. von Roland Scotti, Göttingen 2012, S. 139–156, hier S. 143. 5 Gottfried Boehm, Raumplastik Große F III, 1980, in: KölnSkulptur 5: reality check (Ausstellungskatalog Köln), hg. von Stiftung Skulpturenpark Köln, Köln 2009, S. 48.
62 I Guido Reuter
6 Auf der Wikipedia-Seite zu Norbert Kricke findet sich der Hinweis, dass er in Berlin Schüler von Uhlmann war. Dies muss jedoch dahingehend in Frage gestellt werden, dass Uhlmann erst 1950 als Professor an die Berliner Kunstakademie berufen wurde und somit als unmittelbarer Lehrer Krickes nicht mehr in Frage gekommen ist. 7 Vgl. dazu Stephan von Wiese, Raumplastik. Krickes Werk im Dialog mit der russischen konstruktiven Kunst, in: Norbert Kricke (Ausstellungskatalog Düsseldorf), Düsseldorf 2006, S. 29–36, hier S. 31. 8 Ebd. 9 Laszlo Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, Faksimile der 1929 erschienen Erstausgabe mit einem Aufsatz von Otto Stelzer und einem Beitrag des Herausgebers, hg. von Hans M. Wingler, Mainz/Berlin 1968, S. 162. 10 Ebd., S. 163. 11 Carola Giedion-Welcker, Moderne Plastik. Elemente der Wirklichkeit, Masse und Auflockerung, Zürich 1937, S. 6. 12 Ebd., S. 8. 13 Ebd., S. 9 und S. 13. 14 Ebd., S. 16. 15 Michaela Kamburowa, Die Raumplastiken von Norbert Kricke zwischen Immaterialität und Faktizität, http://www-brs.ub.ruhrunibochum.de/netahtml/HSS/Diss/KamburowaMichaela/diss, S. 10 [letzter Zugriff 29.08.2016]. 16 Ebd., S. 10 f. 17 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (übers. von Günter Memmert), Frankfurt am Main 1977 (italienische Erstausgabe 1962), S. 161. 18 Siegfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965 (englische Erstausgabe 1941), S. 283. 19 Eco (wie Anm. 17), S. 161. 20 Max Imdahl prägte den Begriff der Verlaufsform 1975. Vgl. dazu Max Imdahl, Verlauf als Figur. Zu einer Raumplastik von Norbert Kricke aus dem Jahr 1975, in: Norbert Kricke – Raumplastiken und Zeichnungen von 1950 bis 1975 (Ausstellungskatalog Duisburg, Düsseldorf), Duisburg 1975, S. 110–115. 21 Jürgen Morschel, Norbert Kricke (Ausstellungskatalog Stuttgart, Münster), Stuttgart 1977, S. 21. 22 Kricke zit. nach Ernst Gerhard Güse, Norbert Kricke und Emil Schumacher – Zur Ausstellung, in: Norbert Kricke und Emil Schumacher. Positionen der Plastik und der Malerei nach 1945 (Ausstellungskatalog Hagen), hg. von Ulrich Schumacher und Rouven Lotz, Böhnen 2013, S. 17– 48, hier S. 32. 23 Kricke zit. nach Ulrich Schumacher und Rouven Lotz (wie Anm. 22), S. 125. 24 Kricke zit. nach Carola Giedion-Welcker, Plastik des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1955, S. 197. 25 Morschel (wie Anm. 21), S. 41. 26 Kricke zit. nach Kricke-Güse (wie Anm. 4), S. 150.
„Ich suche der Einheit von Raum und Zeit eine Form zu geben.“ I 63
Martina Dobbe
Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen Zeitformen von „Skulptur im erweiterten Feld“ In der strittigen Diskussion um das „spezifische Objekt“1 des Minimalismus und dessen Situiertheit zwischen Malerei und Skulptur stehen, insbesondere mit Frieds mehr oder weniger kanonischer Kritik in „Art and Objecthood“2, zentral auch Fragen der Zeitlichkeit von Skulptur zur Diskussion. Welche Art von Zeitlichkeit kritisiert Fried mit seinen Invektiven gegen die „schlechte Unendlichkeit“3 des Minimalismus? Wie nehmen sich presentness und presence am konkreten Objekt aus? Und welcher Logik folgt Frieds Kritik, wenn sie ihren Ausgangspunkt bei Tony Smiths Autobahnfahrt nimmt und mithin eigentlich weder über Malerei noch über Skulptur, sondern über eine automobile Filmbzw. Projektionserfahrung spricht? Die künstlerische Reaktion auf die minimalistische Objekthaftigkeit hat in den frühen 1970er-Jahren bekanntlich u. a. zur Integration von Bewegtbildern in den bildhauerischen Prozess geführt. Im Folgenden interessieren vor diesem Hintergrund vor allem frühe closed-circuit-Installationen, live-taped-Video Installationen und time-delay-Video Installationen von Dan Graham. Trotz der mittlerweile intensiv verfolgten Aufarbeitung des Phänomens des closed-circuit in der Kunstgeschichte, speziell in der Kunstgeschichte der Videokunst, sind die zeitlichen Aspekte dieses Phänomens in ihrer Relation zu räumlich-skulpturalen Fragen nur ansatzweise beschrieben. Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit dem Oeuvre von Dan Graham, das vorwiegend in den Paradigmen der Konzeptkunst, der Performance- und der Medienkunst beschrieben wird, obwohl dieses auch für die Frage nach der Neubestimmung des Skulpturalen in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren aufschlussreich ist. Denn die Installationen von Dan Graham entfalten mit ihren eigenwilligen Formen der Verschränkung von Körper, Raum und Zeit in materialer, medialer und mentaler Hinsicht vielleicht so etwas wie eine Minimaldefinition von Skulptur, die auch „im erweiterten Feld“4 trägt. Indem nach der Verhältnisbestimmung von „Skulptur und Zeit“ in solchen „skulpturalen Bewegtbild-Installationen“5 gefragt wird, soll zugleich versucht werden, Ansatzpunkte ausfindig zu machen, von denen ausgehend das Denken der Zeit, das Deleuze in seinen Kino-Büchern6 fast ausschließlich dem erzählenden Film (Kino) attestiert hat, für die Untersuchung skulpturaler Rezeptionserfahrungen fruchtbar gemacht werden kann. Um den gerade angesprochenen Fragen zumindest in Ansätzen angemessen nachgehen zu können, werde ich im Folgenden in drei Schritten argumentieren, indem erstens die zeitlichen Implikationen der minimalistischen Diskussion um presentness und Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 65
presence aufgerufen und ins Verhältnis gesetzt werden sollen zur der Frage nach Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert, indem zweitens einige Bewegtbild-Installationen in ihrer besonderen und je spezifischen Verschränkung von Körper, Raum und Zeit angesprochen werden, wobei vor allem die Frage interessiert, wie legitim bzw. sinnvoll es für die Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten ist, die Kategorie der Skulptur in Anspruch zu nehmen, oder umgekehrt, hypothesenartig formuliert: warum es Sinn macht, sich nicht einfach mit der Rede von „Skulptur im erweiterten Feld“ zufrieden zu geben, sondern an einem Beispiel – hier eben am Beispiel von Installationen mit „physiologischen Rückkoppelungseffekten“7 – genauer nachzufragen, welchen Beitrag die Rede von der „Skulptur im erweiterten Feld“ für eine (Bild)Theorie der Skulptur bzw. des Skulpturalen jenseits der klassischen Gattungsgrenzen leisten kann. Abschließend und drittens geht es dann, wie bereits erwähnt, darum, die Diskussion der skulpturalen Bewegtbild-Installationen mit Deleuzes Bergson-Kommentaren zu verbinden – in der Annahme, dass sich dadurch eine Möglichkeit ergibt, über die Zeiterfahrung der „Skulptur im erweiterten Feld“ auch jenseits des Minimalismus mehr und anderes zu sagen, als lediglich deren ‚schlechte Unendlichkeit‘ zu betonen.
presentness und presence In seiner berühmt gewordenen Kritik an den neueren Tendenzen der Skulptur und Objektkunst der 1960er-Jahre hat Michael Fried bekanntlich mit der Unterscheidung von presentness und presence argumentiert – mit zwei Kategorien folglich, die Skulptur und Zeit ganz unmittelbar in Beziehung zueinander setzen, wenn auch auf völlig unterschiedliche Weise. 1967 geschrieben und in „Artforum“ erstveröffentlicht, beabsichtigte Frieds Text zunächst ‚nur‘, eine kunstkritische Stellungnahme zur Minimal Art abzugeben, die er zu diesem Zeitpunkt noch lieber als „literalistische“8, d. h. buchstäbliche Kunst ansprach. Obwohl er bekanntermaßen den Minimalismus ablehnte und mit dem als Vorwurf gemeinten Topos der „Theatralität“9 angriff, anerkennt Fried den Minimalismus doch als relevante Größe des Kunstgeschehens der 1960er-Jahre, offenbar im Unterschied zur Pop Art und zur Op Art, die er als viel nebensächlicher einschätzt. Und er begründet dies damit, dass der Minimalismus, anders als Pop Art und Op Art, keine „Episode[n] in der Geschichte des Geschmacks10“ darstellten, sondern Etappen in der „Geschichte [...] der „Anschauungsweisen (sensibility)“11, wobei die deutsche Übersetzung von sensibility eine Kantische Auffassung anklingen lässt, die das systematische Gewicht der Argumentation Frieds unterstreicht. Im Horizont der von Kant apriorisch verstandenen Anschauungsformen von Raum und Zeit stelle der Minimalismus, so Fried, den „Ausdruck eines allgemeinen und alles durchdringenden Zustands“12 dar, womit er an den ebenfalls apriorisch verstandenen Modernismus im Sinne Clement Greenbergs angeschlossen habe (das rechnet Fried dem Minimalismus hoch an), auch wenn der Minimalismus dann in Frieds Verständnis die falschen Schlussfolgerungen gezogen und den Modernismus gewissermaßen verraten habe. 66 I Martina Dobbe
An Robert Morris „Column(s)“ kann man sich klar machen, welche skulpturtheoretischen Fragen seinerzeit – bei Fried und Judd eher implizit, bei Morris sowohl künstlerisch als auch theoretisch explizit13 – verhandelt wurden. Wie Sebastian Egenhofer in seiner Auseinandersetzung mit Morris 2012 in Erinnerung gerufen hat, hatte dieser 1960 zunächst „a (=one) column with perfect smooth, rectangular surfaces, 2 feet by 2 feet by 8 feet, painted gray“14 entworfen, in einem manifestartigen Text mit dem Titel „Blank Form“. Der Entwurf zielte letztlich – trotz der präzisen Maßangaben – auf eine reine Vorstellung. Es galt, eine Skulptur zu denken, die nicht die traditionelle Spaltung zwischen Form und Betrachter, Objekt und Subjekt bedient. Was mit dieser „Blank Form sculpture“15 gemeint war, wurde dann auch als größtmögliche Annäherung an „nothing“16 umschrieben, vielleicht darf man sagen: imaginiert. Auf dieser Grundlage entstand 1960 ein Sperrholzobjekt mit dem Titel „Column“ als Performance-Objekt bzw. Bühnenrequisit für das Living Theater in New York. Dieses Performance-Objekt ist nicht erhalten; wie es ausgesehen hat, hat der Text aber ja präzise beschrieben; und auch der später realisierte Nachbau17 entsprach exakt der schriftlich festgehaltenen Vorstellung, auch in den Maßen „2 by 2 by 8 feet“. „Column“ stand 1960 im Living Theater dreieinhalb Minuten aufrecht auf der Bühne, fiel dann um und blieb weitere dreieinhalb Minuten bewegungslos auf dem Bühnenboden liegen. Ursprünglich wollte Morris in der Box stehen (ähnlich wie in „Box for Standing“, 1961, nur dass es sich bei „Column“ um einen rundum geschlossenen Körper handelte) und das Objekt von innen zu Fall bringen; tatsächlich wurde „Column“ aber im Living Theater mit einem Seil aus dem Off zu Fall gebracht. 1961 entstand dann „Two Columns“ (Abb. 1). Ob man in Anspielung auf klassische Gattungsbezeichnungen von einer „Skulpturengruppe“ sprechen sollte, ist fraglich; angemessener erscheint die Rede von einem zweiteiligen Objekt: ein zweiteiliges Objekt als doppelte Reprise von „Column“ im Singular. Seitdem gilt „Two Columns“ als eine der zentralen minimalistischen Arbeiten in Morris’ Frühwerk und wird in der Regel objekthaft ausgestellt. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entwicklungsgeschichte von „Column(s)“ als „Blank Form Sculpture“ wird deutlich, wie grundlegend und zugleich paradox Robert Morris Anfang der 1960er-Jahre darüber nachgedacht hat, was Skulptur für ihn zu diesem Zeitpunkt – in Auseinandersetzung mit der Objekthaftigkeit des Minimalismus und an der Schnittstelle zur Performance – noch sein konnte. Wesentliche Aspekte dieses Nachdenkens resultieren aus der Tatsache, dass „Column“ als „Blank Form“ eine notwendig vorgestellte und letztlich nicht realisierbare Negativ- oder Nicht-Skulptur18 sein sollte. Darüber hinaus ist entscheidend, dass „Column“ im Rahmen der Performance zunächst als Gehäuse für einen von außen nicht sichtbaren menschlichen Körper gedacht war, und also wiederum dessen Nicht-Sichtbarkeit ein zentrales Thema war. Dazu kommt, dass die beiden Zustände oder Situationen (Lagerungen/Haltungen) von „Column“ (im Singular) auf die Haltungen eines Tänzers (jenseits des klassischen bzw. modernen Balletts) verwiesen und also die Synekdoche zwischen dem skulpturalen Körper und dem menschlichen Körper betont haben. „Column“ kann insofern als eine Arbeit angesprochen werden, die jene Wahlverwandtschaft von Morris und Yvonne Rainer besonders sinnfällig macht, die Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 67
1 Robert Morris, Two Columns, 1961–1973, 1961 bemaltes Sperrholz, zerstört; 1973 Replik, lackiertes Aluminium, zweiteilig, je 243 x 61 x 61 cm, Teheran, Museum of Contemporary Art.
Rainer in „Eine Analyse von Trio A“19 beschrieben hat, wo sie im Vergleich mit den Arbeiten von Morris ihr Konzept eines „object-like dance“20 vorgestellt und den Tänzer/Performer über seine „nicht-referentielle“ [...] neutrale“21 Körperlichkeit charakterisiert hat. Schließlich bleibt zu betonen, dass aus dem einen Bühnenrequisit ein zweiteiliges Ausstellungsobjekt wurde, welches eine komplexe Verhältnisbestimmung von faktischer Wiederholung und optischer Differenz in sich aufgenommen und zum Thema gemacht hat. All diese Aspekte tragen dazu bei, dass „Column(s)“ – wie der Text-Titel „Blank Form“ unmissverständlich anzeigt – im Bereich der Skulptur die Entsprechung darstellen könnte für das, was in den Malereidebatten der Zeit als „die reine Leinwand“22 („the blank canvas“) diskutiert worden war, eine Nullform, die sich noch den letzten Rechtfertigungsstrategien eines formalistischen Kunstbegriffs à la Cle-
2 Anthony Caro, Sculpture Two, 1962, Stahl, grün bemalt, 208 x 361 x 259 cm.
68 I Martina Dobbe
ment Greenberg entzieht. Mit Hal Foster könnte man sagen: auch im Bereich der Skulptur wurde die Crux offenbar, in die der Minimalismus führte, insofern die Minimal Art die formalistische Autonomie der Kunst und die modernistische Reduktion einerseits ultimativ vorangetrieben, zugleich aber bereits überschritten und aufgebrochen hatte23. Dementsprechend räsonierte Morris über seine Arbeiten sowohl unter der Prämisse, dass die „Blank Form“ auf „ein maximales Bewusstwerden [...] des Objekts“24 und von Dinglichkeit abziele wie ebenso, dass es ihre eigentliche Leistung sei, „a feeling about perception“25 zu evozieren, ein maximales Bewusstwerden des Subjekts bzw. von dessen Wahrnehmungssensationen und -vollzügen also, so dass ihm gleichermaßen die Objekt-Seite (die Dinglichkeit anstelle der Form26) wie die Subjekt-Seite (die Wahrnehmung anstelle der ästhetischen Erfahrung) als Bezugsgröße dienten. Zugleich waren Subjekt und Objekt damit aus der einfachen Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung herausgetreten. Fragt man nach der Zeitlichkeit des minimalistischen Objekts, so speist sie sich aus dieser Doppelheit. Sie ist wesentlich „zweideutig“27, wie Egenhofer schreibt. Die Form – die maximal „uninteressant[e]“28 Form – des bloßen stereometrischen Objekts gibt dem Auge des Betrachters keine Anhaltspunkte für eine objektinterne Lektüre, keine Narration, die sich an einem dargestellten Körper ablesen ließe, keine intrinsische Zeit, die durch abstrakte Formkonfigurationen verantwortet würde, keine Darstellung, die etwas zeigt. An deren Stelle tritt das bloße Sichzeigen des Objekts, wobei die Präsenz des Objekts die „Insistenz einer eigenen Zeitlichkeit“29 im Sinne einer auf Dauer gestellten Gegenwart gewinnt. Andererseits erscheint diese Zeitlichkeit zutiefst abhängig von der „aktiven Apperzeption durch den Betrachter“30. Während in einer modernistischen Arbeit – Frieds Beispiel wäre eine Skulptur von Anthony Caro (Abb. 2) – das objektinterne Beziehungsgefüge von Formen die schiere physikalische Präsenz (und Zeitlichkeit) des dreidimensionalen Gegenstandes transzendiert und dem Betrachter so die momenthafte bzw. zeitlose Gegenwärtigkeit einer ästhetischen Erfahrung im Sinne von presentness gönnt31 –, zwingt das minimalistische Objekt den Betrachter in die Gegenwart (presence) als Dauerpräsenz einer Wahrnehmung und ihrer Reflexion, die, wie Egenhofer sagt, „die irreduzible Nichtübereinstimmung zwischen der aspekthaften, zeitlich und räumlich gebundenen Wahrnehmung und dem Sein des Objektes entdeckt, ohne die Kluft, die sie trennt, adäquat repräsentieren zu können.“32 Den zwiespältigen Zeitmodus des Minimalismus hatte auch Yvonne Rainer im Blick, als sie ihre Seherfahrung von Morris’ Arbeiten folgendermaßen beschrieb: „It looks the same from every aspect. You know you won’t see anything different if you go to the other side, but you go to the other side. You know immediately what you are seeing, but you don’t believe that another vantage point won’t give you a more complete, more definite, or even altered, view of it. It doesn’t.“33
Diese Wahrnehmungserfahrung bündelte Fried in der Bestimmung der presence. Als eine ‚auf Dauer gestellte Präsenz‘ konnte sie gerade im Medium der Skulptur – und in Absetzung gegen Zuschreibungen wie die durata als Merkmal z. B. der Denkmalskulptur – irritieren. Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 69
Im Rückgriff auf die sog. Tony Smith-Anekdote, die seit Fried zu einem Topos der Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit post/minimalistischer Arbeiten geworden ist, ließe sich für die presence minimalistischer Objekte – mit Hegel – auch von der „schlechten Unendlichkeit“ einer Erfahrung sprechen. Schlecht unendlich sind für Hegel solche Erfahrungen (bzw. Begriffe), die die Überwindung der Endlichkeit immer gleichbleibend wiederholen und folglich nie zu einem Ende, eben dem Erreichen der Unendlichkeit kommen. Gut unendlich bzw. „wahr“ wäre hingegen eine Erfahrung (bzw. ein Begriff), die (bzw. der) die eigene Bestimmung (eben: die Unendlichkeit) nicht durch die bloße Negation, d. h. die stets erneute und immer aufs Neue wiederholte Entgegensetzung zur Endlichkeit erreichte.34 Dass die minimalistische Kunsterfahrung auf die Erfahrung „schlechter Unendlichkeit“ herausläuft, beweist für Fried Tony Smiths Bericht von seiner Autofahrt auf dem New Jersey Turnpike 1950/51, welche Smith als ‚Erweckungserlebnis‘ dokumentiert hat. Schlagend sei ihm das radikal Neue der Gegenwarts(kunst)-Erfahrung deutlich geworden, als er auf der kurz vor der Fertigstellung stehenden Autobahn nachts, allein, unterwegs gewesen sei: „Die Nacht war dunkel, und es gab da keine Beleuchtung, keine Fahrbahn- oder Seitenmarkierung, keine Leitplanken, überhaupt nichts außer dem dunklen Asphalt, der durch die flache Landschaft lief. [...] Diese Fahrt war eine Offenbarung. Die Straße und ein großer Teil der Landschaft war [sic!] künstlich, und doch konnte man es nicht als ein Kunstwerk bezeichnen. Andererseits gaben sie mir etwas, was die Kunst mir nie gegeben hatte. [... ] Ich dachte bei mir, es sollte klar sein, daß das das Ende der Kunst ist. [...] Man kann es in keinen Ausdruck fassen, man muß es einfach erleben.“35
So berühmt Smiths Erlebnisbericht durch Fried geworden ist – so auslegungsbedürftig erscheint er, will Smith aus seinem roadtrip doch gleich eine völlig neue Wahrnehmungserfahrung als Signum seiner Zeit ableiten. Was Smith ganz konkret gesehen (bzw. nicht gesehen) hat, liegt buchstäblich im Dunklen. Das Besondere von Smiths Erlebnis – die Erfahrung der Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit – hat wesentlich mit dieser Dunkelheit zu tun. Die Nacht, so Merleau Ponty, „ist nicht ein Gegenstand mir gegenüber, sie umhüllt mich, sie durchdringt alle meine Sinne.“36 Entsprechend betont Fried für Smith, dass „das Objekt sozusagen durch etwas anderes ersetzt [wird]: auf der Autobahn [...] durch das konstante Heranrasen der Straße, das gleichzeitige Zurückweichen neuer Abschnitte des dunklen, von den vorwärtsrasenden Scheinwerfern beleuchteten Asphalts, das Gefühl von der Autobahn als etwas Enormem, Verlassenen, Herrenlosen, etwas das nur für Smith existiert und für die, die mit ihm im Auto sitzen.“37 Und zusammenfassend hält Fried fest: „Das, was hier das Objekt ersetzt [...] ist vor allem die Unendlichkeit oder Gegenstandslosigkeit des Zugangs, des Vorwärtsrasens oder der Perspektive“38 – „endlos wie es eine Straße sein könnte“, heißt es gegen Ende von „Kunst und Objekthaftigkeit“, „wenn sie im Kreis führt“39. Eine solche Erfahrung von (schlechter) Unendlichkeit ist für Fried die Konsequenz der minimalistischen „Blank Form Sculpture“. Presence ist – gemäß Fried – die dem Minimalismus eigene Verhältnisbestimmung von Zeit und Skulptur. 70 I Martina Dobbe
Körper, Wahrnehmung, Raum und Zeit. Eine Verhältnissetzung qua Rückkoppelung Es hat mich immer fasziniert, dass die „schlechte Unendlichkeit“ der Erfahrung minimalistischer Objekte in der auf den Minimalismus folgenden Künstlergeneration just durch die Integration von Bewegtbildern qua Monitor oder Bildprojektion in skulpturale Installationen zu einem Motor der Erfindung neuer Verhältnisbestimmungen von Skulptur und Zeit geworden ist. Jedenfalls verstehe ich größere Teile der Videoinstallationen seit den späten 1960er- und beginnenden 1970er-Jahren in ihrer Kombination von Performance, Konzept, Objekt, Körper, Video/Film/Bild- und Raumgestaltung als einen Versuch, die „zwiespältige“ Zeiterfahrung des Minimalismus nicht einfach zu verurteilen (wie Fried dies getan hatte) oder zu verklären (wie das bei Smith anklingt), sondern im Gegenteil: produktiv mit ihr umzugehen, sie darstellbar werden zu lassen und dabei ein neues Denken von Zeit, Präsenz und Dauer zu entfalten.40 Mit der Integration von Bewegtbildern in den bildhauerischen Prozess wurde eine neue Verhältnisbestimmung von Körper, Wahrnehmung, Raum und Zeit erprobt. Eben jenes Dispositiv, das von Smith zum Zentrum seines Turnpike-Erlebnisses auserkoren wurde – die Verbindung von Auge und Apparat (im Automobil oder eben in einer Kamera) – wurde von Künstlern wie Dan Graham oder Bruce Nauman als gestaltbare Größe aufgegriffen. In der Aufarbeitung dieser Phänomene, die durch Untersuchungen beschreibender und typologisierender Natur (etwa bei Torcelli und Kaczunko)41 oder ambitioniert theoretisierender Ästhetiken (wie etwa bei Rebentisch42) geprägt ist, ist die Frage nach der Skulptur – und nach dem Verhältnis von Skulptur und Zeit – oft in den Hintergrund getreten. Das hat nachvollziehbare Gründe. Sie liegen z. B. in dem problematischen Begriff der Videoskulptur, auf den ich hier nicht erneut eingehen möchte43, in der Idee des expanded cinema44 genauso wie in dessen Weiterentwicklung zu kinematographischen Großprojektionen45, die mit dem erzählenden Film und der Nähe zur Architektur noch einmal ganz andere Gattungen und Paradigmen aufgerufen und die Skulptur eher ausklammert haben, sodann im Aufkommen der Performance Studies, die, ebenfalls völlig berechtigt, den Aufführungscharakter der frühen Videokunst-Experimente fokussiert haben, und schließlich in Rosalind Krauss’ Rede von der „Skulptur im erweiterten Feld“, die es so leicht machte, die Frage nach der Skulptur für obsolet zu halten oder doch nur als einen recht labilen Eckpunkt des semiotischen/strukturalistischen Diagramms zur Skulptur im erweiterten Feld wahrzunehmen. Dennoch möchte ich im Folgenden an der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Skulptur und Zeit festhalten und insbesondere die frühen Filmperformances von Graham als „‚skulpturale‘ Filme“46 bzw. materielle und körperliche Prozesse der In-Formation47 in der Kontinuität des Nachdenkens über Skulptur verstehen. Bevor Dan Graham mit „Present Continuous Past(s)“ 1974 seine schließlich kanonische closed-circuit-Video-Installation mit time-delay-Funktion konzipierte, hatte er in den Jahren 1969–1974 sechs filmische Arbeiten realisiert. An ihnen lässt sich gut ablesen, wie Graham die von Morris aufgeworfenen Fragen nach dem Objekt und dem Subjekt, der Form und der Wahrnehmung, dem Körper und dem Sehen in ein neues, nunmehr appaPresentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 71
rativ instrumentiertes und reflektiertes Dispositiv überführt und mit der Integration von Bewegtbildern neue Verhältnisbestimmungen von Skulptur und Zeit erprobt hat. Eine vergleichsweise einfache Konstellation liegt „Roll“48 zugrunde. Wie die das Konzept von „Roll“ dokumentierenden Fotografien (Abb. 3) zeigen, umfasst das Setting den auf dem Boden liegenden Performer, der eine Filmkamera vor sein Auge hält, sowie, ihm gegenüber, eine fest auf dem Boden liegende zweite Filmkamera. Rollend bewegt sich Graham/der Performer nun über den Boden, jeweils so, dass sein eigener Blick (bzw. die vor sein Auge gehaltene Filmkamera) auf das Objektiv der gegenüberliegenden Kamera gerichtet ist. An der unteren Begrenzung der mobilen, von Graham gehaltenen Kamera und ihres Sucherrahmens, durch den der Performer den Bildausschnitt der Aufzeichnung kontrollieren kann, bleiben die Füße und ein Teil des Rumpfes des Performers als „physiologische[s] Feedback“49, wie es bei Graham heißt, s ichtbar. Das zeigen Filmstills aus der ‚subjektiven‘ Kamera50 der ausgeführten Filmperformance (Abb. 4 unten), die 1970 im Außenraum stattgefunden hat. Filmstills aus der ‚objektiven‘ Kamera der Performance (Abb. 4 oben) zeigen hingegen den Körper des Künstlers aus der Bodenperspektive der ruhenden Kamera im landschaftlichen Umraum, wobei sich der Körper – in den Abbildungen gerade noch zu erahnen – g erade von links nach rechts durch den Bildausschnitt bewegt.
3 Dan Graham, Roll, 1970, Tableau mit neun s/w-Fotos einer Probe zur Film-Performance „Roll“.
72 I Martina Dobbe
4 Dan Graham, Roll, 1970, sechs Filmstills, je drei Filmtills der ‚subjektiven‘ und der ‚objektiven‘ Kamera aus „Roll“.
Die Aufmerksamkeit von „Roll“ und der anderen frühen Film-Performances galt einem (bildhauerischen) Prozess, den Stemmrich folgendermaßen charakterisiert. „Die zeitliche In-Formation eines Materials (das auch der Körper des Performers selbst sein kann) durch einen Performer kann der Betrachter an der Prozess-Gestalt des Materials in einem anderen Zeitraum ablesen und kinästhetisch nachvollziehen.“51 Graham bezieht sich mit seinem Interesse an diesen Prozessen zum einen auf Gibsons wahrnehmungspsychologische Untersuchungen aus den 1960er-Jahren, zum anderen auf Gibsons Vorläufer, Ernst Mach, und dessen berühmte Zeichnung der „Selbstschauung Ich“52 (Abb. 5), die dieser den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen“ seiner „Analyse der Empfindungen“ beigegeben hatte. In Machs positivistischer Abhandlung diente die Zeichnung zur Erläuterung seiner Untersuchungen der Selbstwahrnehmung; sie thematisiert das „Verhältnis des Physischen zum Psychischen“ (so der Untertitel des Buches), indem sie auf die Unmöglichkeit einer Trennung von Körper und Ich aufmerksam macht, auf eine Introspektion, die notwendig von der Physis des eigenen Körpers tangiert ist. Tatsächlich demonstriert die Zeichnung (zumindest aus der Sicht der Phänomenologie), „wie es, schon im simplen Vorgang des Sehens, phänomenal die Welt gar nicht gibt, in der das Subjekt nicht schon selber darin wäre, und daß es das Subjekt nicht gibt, das sich nicht schon in der Welt fände“53 bzw. weiß. „Der besondere Tatsachensinn, der in Machs Zeichnung zum Ausdruck kommt, verweist demnach auf die Leiblichkeit als verkörpertem Sinn.“54 Und tatsächlich dürfte Graham, wenn er diese Zeichnung 1972 für die Ankündigung einer Performance und 1977 für die Covergestaltung eines Katalogs auswählte55, eine solche – phänomenologische – Deutung von Mach gereizt haben, geht es doch in „Roll“ mit den beiden unterschiedlichen, aufeinander bezogenen Filmkameras (und -aufnahmen) – statisch vs. bewegt, objektiv vs. subjektiv, außen vs. innen – um das Auseinandertreten zweier Wahrnehmungen (und die Unmöglichkeit ihrer kategorialen Trennung). Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 73
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Dementsprechend sollten die Aufnahmen der beiden Kameras im Ausstellungsraum für eine simultane Vorführung auf zwei gegenüberliegende Wände in Augenhöhe projiziert sein. Leider begegnet man „Roll“ nur selten in Ausstellungen und meist wird die Arbeit in GrahamKatalogen durch das Fototableau (Abb. 3) repräsentiert, das die Probe für den Aufbau des Performancesettings dokumentiert. Dadurch wird der k onzeptuelle Anteil der Arbeit über Gebühr betont; der skulpturale Aspekt der Arbeit bzw. die konkrete Wahrnehmungserfahrung des Betrachters erschließt dagegen erst in der Doppelprojektion im Ausstellungs raum, weil erst hier die kinästhetische Wahrnehmung (Lage- und Bewegungsempfindung) des Betrachters herausge fordert wird. Abb. 6 zeigt eine Installa tions s ituation von „Two Correlated Ernst Mach, Illustration aus „Analyse der Rotations“ von 1969 (wo die beiden Filme Empfindungen“, 1886/1903. über Eck projiziert werden) und sei in Ermangelung einer Installationsansicht von „Roll“ gezeigt. In der Installation von „Roll“ begegnet der Betrachter also zum einen – im Film der statischen Kamera, mit dem vermeintlich ‚objektiven‘ Blick, der allerdings irritierend bodennah ist – einem Körper, der den Gesetzen der Schwerkraft bzw. der Horizontalen ausgeliefert ist. Zum anderen sieht er – auf der gegenüberliegenden Wand – das „Bild, das aus der Position der KörperFeedback-Schleife der [...] [mobilen, M.D.] Kamera aufgenommen wurde“ 56. Hier ergibt sich „ein beständig rotierendes Bild“, so dass der Körper „subjektiv als schwerelos empfunden“ wird. „Während der Film der objektiven Kamera e inen der Schwerkraft unterliegenden Körper zeigt, der erhebliche Anstrengungen unternimmt, sich im Raum zu orientieren und zu bewegen, zeigt der Film der subjektiven K amera einen zwar eigentümlich unbeholfen wirkenden, jedoch schwerelos im Raum rotierenden Körper und macht so den inneren Orientierungsprozess kinästhetisch einsichtig.“57
Einmal sieht man eine Bewegung im Bild, einmal ein Bild in Bewegung bzw. ein S ehen in Bewegung; wobei man sich – zwischen den beiden Projektionen stehend und immer nur eine von beiden sehend – alternierend mit dem Auge der subjektiven oder der objektiven Kamera identifizieren wird. 74 I Martina Dobbe
Greift man im Vergleich an dieser Stelle noch einmal auf „Column“ bzw. „Two Columns“ zurück, so wird deutlich, wo der Schritt über den Minimalismus hinaus angesetzt ist. Hatte Morris in „Blank Form“ betont, dass „Column“ auf das maximale Bewusstwerden des Objekts bei gleichzeitiger Evokation eines „feelings about perception“ abziele, so kann man „Roll“ als den Versuch verstehen, die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung derart zu intensivieren, dass das Objekt – die „Blank Form“ – buchstäblich „nothing“, d. h. als Objekt gar nicht mehr vorhanden ist. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die „Blank Form“ des Minimalismus möchte ich also dafür plädieren, „Roll“ als eine skulpturale Arbeit zu begreifen, genauso wie vor dem Hintergrund der Fried’schen Debatte um presentness und presence Grahams Umgang mit der kinästhetischen Wahrnehmung des Performers/des Betrachters als eine besondere Erfahrungsform von Zeit sinnfällig wird. Vielleicht könnte man die Zeitform von „Roll“ als jenes „Präsentsein“ beschreiben, über das Robert Morris – ohne auf die Fried-Debatte zurückzugreifen und viele Jahre nach „Two Columns“, nämlich erst 1979 – in Auseinandersetzung mit ‚leeren‘ Rauminstallationen der 1970er-Jahre nachgedacht hat, wo er von einer „Präsensform unmittelbarer räumlicher Erfahrung“58 spricht, die bewusst wird, aber nicht von den „Schemata der Erinnerung“ oder dem „rekonstitutiven Bewußtsein“ 59 der Reflexion überlagert wird.
6 Dan Graham, Two Correlated Rotations, 1969 (Konzept)/1970 (Performance/Film), Installationsansicht Tate, London.
Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 75
present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen Im Anschluss an Grahams frühe Filmarbeiten und deren Rückkoppelung zwischen Auge, Körper und Bild möchte ich abschließend seine closed-circuit-Arbeiten mit timedelay-Videofunktion ansprechen, beispielhaft „Present Continuous Past(s)“ (Abb. 7), das wohl berühmteste Beispiel dieser Werkgruppe, 1974 erstmals installiert. Anstelle vorgefertigter Filme, die großformatig im Ausstellungsraum projiziert werden, ist nun ein Kamera-Monitor-Feedback-System mit 8 Sekunden Zeitverzögerung in einem an zwei Wänden verspiegelten Raum installiert. Der Betrachter, der diesen Raum betritt, ist mit seinem eigenen Bild (und ggf. dem Bild anderer Betrachter) in mehrfacher Raum- und Zeitschichtung konfrontiert. Während die Spiegelflächen die Gegenwart (present time) wiedergeben und die Kamera den vor ihr stehenden Betrachter sowie die hinter dem Betrachter liegende Spiegelung aufzeichnet, zeigt der Monitor die acht Sekunden zuvor aufgezeichnete Sequenz eben dieser räumlichen Situation. In der Feedback-Schleife von Kameraaufzeichnung, Spiegelung und Monitorbild, das sich seinerseits spiegelt, kann der Betrachter den Raum, sich und/oder ggf. andere Betrachter in verschiedenen
7 Dan Graham, Present Continuous Past(s), 1974, Installationsansicht Musée national d’art modern, Paris.
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zeitlichen Situationen (oder Vergangenheiten im Abstand von 8, 16, 24 Sekunden) gleichzeitig sehen. „Es entsteht ein unendliches Zurückschreiten von Zeitkontinua innerhalb von Zeitkontinua (die immer durch Acht-Sekunden-Abstände getrennt sind) innerhalb von Zeitkontinua“60, wobei die eigentümliche Erfahrung gemacht wird, dass die verschiedenen Vergangenheiten gleichzeitig ineinander geblendet sichtbar sind. Während also das technische Setting, die K amera-Monitor-Feedback-Anordnung, die Zeit durch „unbewegliche Schnitte“61 im Raum gliedert und die traditionell linear gedachte Anordnung von Vorvergangenheit, Vergangenheit und Gegenwart zunächst zu bestätigen scheint, wird de facto die gleichzeitige Sichtbarkeit der verschiedenen Vergangenheiten in actu ermöglicht. „Present Continuous Past(s)“ entfaltet also eine komplexe zeitliche Struktur, die vom Betrachter unterschiedlich erfahren und ausgelegt werden 8 Alain Resnais, Letztes Jahr in Marienbad, 1961, Filmkann62, jedoch stets von der Kopräsenz plakat zur deutschen Erstaufführung, ca. 84 x 59 cm, doppelseitig bedruckt, Vorderseite. von Vergangenheit(en) und Gegenwart geprägt ist. Eric de Bruyn hat die räumlichen und zeitlichen Strukturen solcher Installationen als topologisch, nämlich im Bild des Möbius-Bandes beschrieben. Während „Roll“ die subjektive und die objektive Kameraperspektive qua Installation auseinandergelegt hatte, um ihre Differenzen zu betonen, werden die verschiedenen Perspektiven in „Present Continuous Past(s)“ nicht nur mehrfach ineinander geblendet, sondern – der Titel betont es – kontinuiert. Räumlich schaffen „Grahams Wahrnehmungsmaschinen“, wie de Bruyn sagt, damit „einen chiastisch verschränkten Raum, in dem das Selbst des Beobachters, als ob es sich auf der Oberfläche eines Möbiusbandes befinden würde, den Unterschied von innen und außen nicht kennt.“63 Zeitlich heißt das: Auch Vergangenheit und Gegenwart werden als Zeitmodi in ihrem Unterschied gleichzeitig auseinandergelegt und miteinander verbunden. Wobei verschiedene Vergangenheiten (pasts) als Verlaufsformen der Gegenwart (present continuous) in Erscheinung treten. Frieds „schlechte Unendlichkeit“ oder Dauerpräsenz (presence) erscheint in die paradoxe Kontinuität von present continuous past(s) überführt. Presentness, presence, present continuous past(s) und Gegenwartsspitzen I 77
Wenn hier erneut vorgeschlagen wird, eine besondere Erfahrung von Zeit in der Gegenwartskunst mit den Debatten um die post/minimalistische Skulptur zu kontextualisieren, so geschieht dies nicht nur aus dem generellen Interesse an Fragen der Zeit in der Bildenden Kunst, speziell der Skulptur. Vielmehr zeigt die enggeführte Korrelation von „Skulptur und Zeit“ im Post/Minimalismus zugleich, dass das Nachdenken über Skulptur auch für das Nachdenken über Zeit aufschlussreich sein kann. Wenn für die Skulptur – wie eine ihrer Bestimmungen lautet – charakteristisch ist, dass in ihr „räumliche und zeitliche Determinanten“ notwendig in „Verschränkung“ 64 gesehen werden, dann wäre Skulptur auch ein Ort, an dem in exemplarischer Weise „visuell verfasste Denkfiguren der Zeit“65 in Erscheinung treten. Solche Denkfiguren von Zeit hat Deleuze in „Das Bewegungs-Bild“ und „Das Zeit-Bild“ für das Kino – b zw. den erzählenden Film – beschrieben. Deleuzes Ausgangspunkt war dabei bekanntlich Bergsons Philosophie der durée, d. h. ein Zeitkonzept, das – in der Absetzung von der metrisierten Zeit und ihrer extensionalen Auffassung (Ausdehnung) – Zeit als Intensität der Erfahrung fasst66, welche die lineare Aneinanderkettung von Momenten hinter sich lässt. In der durée im Sinne einer Intensitäts-Bestimmung von Zeit „koexistiert die Vergangenheit mit der Gegenwart“67, wie es bei Deleuze heißt, der dieses neue Denken der Zeit vor allem im Kino nach 1945 (im Kino der nouvelle vague) realisiert sieht. Der Clou des Denkens der Zeit bei Deleuze ist u. a., dass er Bergsons durée, deren Konzeption aus dessen Kritik des Films im Sinne einer Aneinanderkettung von RaumZeit-Schnitten hervorgegangen ist, just im Kino bzw. eben dem erzählenden Film zur Anschauung gebracht sieht. Deleuzes Thesen entsprechend denkt das Kino Zeit; es stellt Zeit nicht dar oder illustriert Zeit, sondern ermöglicht zuallererst die (visuelle) Erfahrung jener Denkfiguren der Zeit, um die es in Bergsons Philosophie geht. Ausgehend von „Present Continuous Past(s)“ wäre zu überlegen, ob in der hier vorgeschlagenen Filiation der Arbeiten von Caro, Morris und Graham Skulptur in vergleichbarer Differenziertheit, wie Deleuze dies für das Kino durchformuliert hat, als ein Denken der Zeit vorgestellt werden kann. Jedenfalls sehe ich diese Möglichkeit durchaus, ermöglicht es die Engführung der drei genannten Positionen doch nicht nur, über die Konturen der „Skulptur im erweiterten Feld“ und den „skulpturalen Film“ nachzudenken, ergibt sich vielmehr zugleich die Möglichkeit, das radikal Neue der Präsenzerfahrung von Skulptur seit den 1960er-Jahren zu differenzieren. Auch nach der Preisgabe der presentness als klassisch ästhetischer Kategorie im Sinne Frieds denkt Skulptur Zeit, so, wenn die Dauerpräsenz einer Wahrnehmung (presence) in der physiologischen Rückkoppelung („Roll“) oder in der Kamera-Monitor-Spiegel-Rückkoppelung zur Erfahrung von present continuous pasts ‚eingefaltet‘68 wird. Visuell könnte man diese Parallele in der Gegenüberstellung der Installationsansicht von „Present Continuous Past(s)“ mit dem Filmplakat zur Erstaufführung von Resnais „Letztes Jahr in Marienbad“ (Abb. 8) zuspitzen. Mit Deleuze wäre dann die Rede von den Gegenwartsspitzen als Zeitmodus bei Resnais auch für Grahams (skulpturale) Installationen zu veranschlagen. 78 I Martina Dobbe
Mit der Rede von den Gegenwartsspitzen geht es Deleuze darum, „dass die Vorstellung eines Nacheinanders der drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft verabschiedet wird. Auf der Spitze der Gegenwart sind sowohl das aktuell Wirkliche als auch das nicht mehr Wirkliche und auch das noch nicht Wirkliche immer als gegenwärtig präsent. Nicht der Verlauf eines Ereignisses zählt hier; es handelt sich vielmehr bei diesen Modi der Zeit um ‚drei unterschiedliche Haltungen des Denkens gegenüber allem, was sich ereignet‘“.69
In seinen Analysen von „Letztes Jahr in Marienbad“ hat Deleuze das Modell der „Gegenwartsspitzen“ im narrativen Zusammenhang konkretisiert. Wie Schaub mit Deleuze erläutert, wird im Film, „die Kopräsenz aller drei Zeiten bezüglich ein und desselben Ereignisses behauptet (...), so als könne eine zeitliche Entwicklung in drei verschiedene zeitliche Richtungen verlaufen, als könne ein Ereignis gleichzeitig eingetreten sein, eintreten und noch eintreten werden.“70 Diese logische Unmöglichkeit wird in „Letztes Jahr in Marienbad“ als Unerklärbares erfahrbar gemacht und inszeniert. Bei Graham verdichtet sich die Verschränkung der Zeiten nicht bis zur Unerklärbarkeit; und die „Gegenwartsspitzen“ sind nicht an verschiedene Protagonisten und deren Begegnung gebunden, sondern in den einen Performer/Betrachter verlegt. Die Abgründigkeit der Präsenzerfahrung in dem Ineinanderblenden verschiedener Zeiten ließe sich gleichwohl mit der Deleuze’schen Denkfigur der „Gegenwartsspitzen“ verstehen. Zugleich wäre damit für die Auseinandersetzung mit „Skulptur und Zeit“ ein verändertes Konzept der Beschreibung von Gegenwartserfahrung(en) gewonnen. Gegen Fried und Smith hieße dies freilich auch zu konstatieren, dass die Zeitform der Erfahrung von „Skulptur im erweiterten Feld“ erneut ein ästhetisches Konzept aisthetischer Erfahrung impliziert.
Anmerkungen 1 Vgl. Donald Judd, Spezifische Objekte (übers. von Peter Stepan), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 59–73. 2 Vgl. Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (übers. von Christoph Hollender), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 334–374. 3 Dass Frieds Kritik an der presentness des Minimalismus als zeitlicher Kategorie im Sinne von Hegels Kritik an der „schlechten Unendlichkeit“ als logischer Kategorie ausgelegt werden kann, schlägt Egenhofer vor, freilich ohne Hegel zu benennen. (Sebastian Egenhofer, Theater der Gestalt. Robert Morris und die Grenzen der Phänomenologie, in: Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeit und Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, hg. von Olga Moskatova, Sandra Beate Reimann und Kathrin Schönegg, München 2013, S. 211–232, hier S. 221–224.) Fried selbst nimmt Hegels Denkfigur nicht in „Kunst und Objekthaftigkeit“, sondern erst sehr viel später, nämlich in „‚good‘ versus ‚bad‘ objecthood. james welling, bernd and hilla becher, jeff wall“ (in: Ders.: Why photography matters as art as never before, New Haven/London 2008, S. 303–333, hier S. 324–328) in Anspruch. Vgl. dazu auch Pamela M. Lee, Chronophobia. Time in the Art of the 1960s, Cambridge/London 2004, insbes. Kap. 1, Presentness Is Grace, und Kap. 5, Conclusion: The Bad Infinity/The Longue Durée.
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4 Vgl. Rosalind Krauss, Skulptur im erweiterten Feld (übers. von Jörg Heiniger, durchgesehen und neu bearbeitet von Wilfried Pranter), in: Dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000, S. 331–346. 5 Mit dem Terminus der „skulpturalen Bewegtbild-Installation“ soll versucht werden, die Aufmerksamkeit auf solche Arbeiten zu lenken, die innerhalb der umfassenderen Gattungen der Installation, der Video-Installation oder der kinematographischen Installation nicht zuletzt durch die jeweilige Thematisierung von Körpern in raumzeitlichen Zusammenhängen deutlich skulpturale Fragestellungen adressieren. 6 Vgl. Gilles Deleuze, Das Bewegungsbild. Kino 1 (übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann), Frankfurt am Main 1989; Ders., Das Zeit-Bild. Kino 2 (übers. von Klaus Englert), Frankfurt am Main 1991. 7 Dan Graham, Film und Performance/Sechs Filme 1969–1974 (übers. von Benjamin H. D. Buchloh), in: Ders.: Ausgewählte Schriften, hg. von Ulrich Wilmes, Köln 1994, S. 33–43, hier S. 33. 8 Fried (wie Anm. 2), S. 334. 9 Ebd., S. 342 ff. 10 Ebd., S. 334. 11 Ebd., S. 335. 12 Ebd., S. 335. 13 Während sich Judd 1965 mit seiner Formel „Mindestens die Hälfte der besten neuen Arbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind, gehört weder zur Malerei noch zur Skulptur“ (Judd (wie Anm. 1), S. 59) bewusst jenseits der Fragen von Gattungszugehörigkeit und Medienspezifik positioniert, beharrt Morris darauf, über „die gegenwärtige Skulptur“ (Robert Morris, Anmerkungen über Skulptur (übers. von Wilhelm Höck und Gerd de Vries), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 92–120, hier S. 92) vor dem Hintergrund der Skulpturengeschichte der Moderne nachzudenken. 14 Robert Morris, Blank Form, in: Blam! The Explosion of Pop, Minimalism and Performance 1958–64, hg. von Barbara Haskelll und John Hanhardt, New York 1984, S. 101. 15 Vgl. Morris (wie Anm. 14), S. 101. 16 Ebd. 17 Als solcher wäre ein Exemplar von „Two Columns“ anzusprechen. „Two Columns“ wurde 1961 aus bemaltem Sperrholz realisiert und ist ebenfalls nicht überliefert. Der Nachbau von „Two Columns“ (bemaltes Aluminium) datiert von 1973. 18 Vgl. Egenhofer (wie Anm. 3), S. 213. 19 Vgl. Yvonne Rainer, Ein Quasi-Überblick über einige ‚minmalistische‘ Tendenzen in den Tanzaktivitäten inmitten der Überfülle, oder: Eine Analyse von Trio A (übers. von Christoph Hollender), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 121–132, sowie: Yvonne Rainer, Don’t give the game away, in: Arts Magazine, April 1967, S. 44–47. 20 Ramsay Burt, ‚Don’t give the game away‘. Rainer’s 1967 reflections on dance and the visual arts revisited, https://www.dora.dmu.ac.uk/xmlui/bitstream/handle/2086/7344/Koln%20Rainer%20 paper%20final.pdf?sequence=1&isAllowed=y, S. 11 [letzter Zugriff 29.08.2016]. 21 Rainer, 1995 (wie Anm. 9), S. 121. 22 Vgl. Thierry de Duve, Das Monochrom und die reine Leinwand, in: Ders., Kant nach Duchamp (übers. von Michael von Killisch-Horn), Berlin 1993, S. 193–276. 23 Vgl. Hal Foster, Die Crux des Minimalismus (übers. von Elisabeth Großebner), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 589–633, hier S. 611.
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24 Zit. nach Egenhofer (wie Anm. 3), S. 212. 25 Morris (wie Anm. 14), S. 101. 26 Vgl. Michael Lüthy, theatricality/Michael Fried, in: skulptur projekte münster 07 (Ausstellungskatalog Münster), hg. von Brigitte Franzen, Kasper König und Carina Plath, Köln 2007, S. 465–466, hier S. 465: „Von Kunstwerken erwartet Fried, wie seine Würdigung Anthony Caros zeigt, die Aufhebung ihrer Objekthaftigkeit durch Form.“ 27 Egenhofer (wie Anm. 3), S. 225. 28 Sol LeWitt, Der Kubus (übers. von Christoph Hollender), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 185. 29 Egenhofer (wie Anm. 3), S. 225. 30 Ebd. 31 Ich schließe mich hier Egenhofers Übersetzung von presentness mit ‚Gegenwärtigkeit‘ und presence mit ‚Gegenwart‘ an. Lüthy fasst dieselbe Differenz in die Gegenüberstellung einer „andauernden und zeitlosen Gegenwart“ als ästhetischer Erfahrung modernistischer Kunst und einer ‚bloß‘ buchstäblichen, konkreten Gegenwartserfahrung minimalistischer Objekte. (Vgl. Lüthy (wie Anm. 26), S. 465. 32 Egenhofer (wie Anm. 3), S. 226. 33 Rainer, 1967 (wie Anm. 19), S. 46. 34 Vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, http://www.textlog.de/15772. html. [letzter Zugriff 16.08.2016]. 35 Smith zit. nach Fried (wie Anm. 2), S. 350. 36 Merleau-Ponty, zit. nach Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes (übers. von Markus Sedlaczek), München 1999, S. 83. 37 Fried (wie Anm. 2), S. 352. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 363. Man könnte strukturell hier bereits den closed-circuit der im Folgenden thematisierten Videoinstallationen angesprochen sehen. 40 Egenhofer hat die Zwiespältigkeit der presence-Erfahrung in der ‚irreduziblen Nichtübereinstimmung zwischen der aspekthaften, zeitlich und räumlich gebundenen Wahrnehmung und dem Sein des Objektes‘ beschrieben und hervorgehoben, dass die ‚Kluft‘, die Wahrnehmung und Sein trennt, als nicht ‚adäquat repräsentierbar‘ erkannt worden sei. (vgl. oben, Anm. 32) Im Folgenden werden Arbeiten diskutiert, die m. E. Darstellungsformen dieses Zwiespalts entwerfen. 41 Vgl. Nicoletta Torcelli, Video – Kunst – Zeit. Von Acconci bis Viola, Weimar 1996; Slavko Kacunko, Closed Circuit Videoinstallationen. Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin 2004. 42 Vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation. Theatralik, Intermedialität, Ortsspezifik, Frankfurt a. M. 2003. 43 Vgl. Anonyme Skulpturen. Video und Form in der zeitgenössischen Kunst/Anonymous Sculptures. Video and form in contemporary art, hg. von Bettina Ermacora und Sylvia Martin, Nürnberg 2010, darin v. Verf., Videoskulptur im erweiterten Feld, S. 88–95. 44 Vgl. X-Screen. Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre (Ausstellungskatalog Wien), hg. von Matthias Michalka und Eric de Bruyn, Köln 2004. 45 Vgl. Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, hg. von Ursula Frohne und Lilian Haberer, München 2012. 46 Vgl. Benjamin H. D. Buchloh, Prozessuale Skulptur und Film im Werk Richard Serras, in: Richard Serra. Arbeiten/Works 66–77 (Ausstellungskatalog Tübingen, Baden-Baden), hg. von Götz Adriani, Hans Albert Peters, Clara Weyergraf, Tübingen 1978, S. 175–188, hier S. 175.
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47 Vgl. Gregor Stemmrich, Dan Grahams mediale Dis-Positionen, in: Dan Graham (Collector’s Choice. Künstlermonographien; 8), hg. von der Friedrich Christian Flick Collection, Köln 2008, S. 24. 48 Filminstallation, bestehend aus zwei Super-8-Farbfilmen, übertragen auf 16mm-Format, ohne Ton, Synchronprojektion auf zwei gegenüberliegende Wände, 23 Sek. Loop, Edition 1/10 + 2 A. P. Performer: Dan Graham; http://foundation.generali.at/en/collection/artist/graham-dan.html #work=4083&artist=160. [letzter Zugriff 16.08.2016]. 49 Dan Graham (wie Anm. 7), S. 33. 50 Graham selbst spricht nur von der ‚objektiven Black-Box‘-Kamera (Graham (wie Anm. 7), S. 38); in der Graham-Literatur hat sich davon ausgehend die Rede von der ‚subjektiven‘ und der ‚objektiven‘ Kamera durchgesetzt. 51 Stemmrich (wie Anm. 47), S. 24. 52 Stemmrich (wie Anm. 47), S. 68, verweist vor allem auf James J. Gibson, Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung, Bern 1973 (das auf Englisch 1966 erschienen ist). Machs Illustration geht auf Vorzeichnungen in Notizbüchern aus den Jahren 1870–1882 zurück. Vgl. Karl Clausberg, Selbstschauung ‚Ich‘ als Bild – Von Karl Christian Friedrich Krause zu Johannes Müller und Ernst Mach, in: Repraesentatio Mudi. Bilder als Ausdruck und Aufschluss menschlicher Weltverhältnisse, hg. von Siegfried Blasche, Mathias Gutmann und Michael Weingarten, Bielefeld 2004, S. 109–160; Peter Mahr, Ernst Mach, Gestaltwahrnehmung, Minimal Art., in: Ernst Mach. Werk und Wirkung, hg. von Rudolf Haller und Friedrich Stadler, Wien 1988, S. 404– 431; Romana Schuler, Ernst Machs Forschungen mit Wahrnehmungsapparaten und ihre ‚Reprisen‘ in der frühen Videokunst von Dan Graham und Peter Weibel, http://www.dgae.de/wpcontent/uploads/2011/09/SchulerTextMach.pdf [letzter Zugriff 29.08.2016]. 53 Heinrich Lübbe, zit. nach Henning Schmidgen, Begriffszeichnungen. Über die philosophische Konzeptkunst von Gilles Deleuze, in: Deleuze und die Künste, hg. von Peter Gente und Peter Weibel, Frankfurt am Main 2007, S. 26–53, hier S. 29 f. 54 Schmidgen (wie Anm. 53), S. 30. 55 Vgl. Schuler (wie Anm. 52), S. 13. Als Coverabbildung figuriert Machs Illustration in: Dan Graham. Films, Genf 1977. 56 Dan Graham, zit. nach Anne Rorimer, Dan Graham. Eine Einführung, in: Dan Graham. Pavillons (Ausstellungskatalog München), München 1988, S. 7–35, hier S. 19; ebenso die beiden folgenden Kurzzitate. 57 Stemmrich (wie Anm. 47), S. 26. 58 Robert Morris, Das Präsens des Raums, in: Ders., Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, hg. und übers. von Susanne Titz und Clemens Krümmel, Zürich/Dijon 2010, S. 116–139, hier S. 118. 59 Morris (wie Anm. 58), S. 138. Die Frage, ob Morris’ Überlegungen in „Das Präsens des Raums“ tatsächlich über Frieds presentness/presence-Alternative hinausweisen, ist m. W. noch nicht diskutiert worden und würde eine genauere Auseinandersetzung mit dem bei Morris zugrundeliegenden Modell des Bewusstseins voraussetzen. 60 Dan Graham, Video in Beziehung zu Architektur (übers. von B. Kalthoff), in: Ders., (wie Anm. 7), S. 57–89, hier S. 82. 61 Deleuze (wie Anm. 6), S. 14. 62 Welche Auslegung man favorisiert, hängt auch davon ab, ob man vorwiegend die sozialen, die psychologischen, die konzeptuellen oder die phänomenologischen Aspekte der Arbeit berücksichtigt. Vgl. dazu auch Rainer Metzger, Dan Graham. Present – Continuous – Past(s). Kunst nach dem Modernismus, in: Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke, Methoden und Epo-
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chen, hg. von Kristin Marek und Martin Schulz, Bd. IV: Gegenwart, Paderborn 2015, S. 198– 213. 63 Erik de Bruyn, Topologische Wege des Post-Minimalismus (übers. von Wolfram Pichler), in: Topologie. Falten, Knoten, Netze, hg. von Wolfram Pichler und Ralph Ubl, Wien 2009, S. 361–404, hier S. 396. Vgl. auch Ders., The Filmic Topology of Dan Graham, in: Dan Graham. Works 1965–2000, hg. von Marianne Brouwer, Düsseldorf 2001, S. 329–354. 64 Gottfried Boehm, Das spezifische Gewicht des Raums. Temporalität und Skulptur, in: Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, hg. von der Akademie der Künste Berlin, Berlin 2005, S. 31–41, hier S. 38. 65 Oliver Fahle, Zeitspaltungen. Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze, in: montage/av, Heft 11/1/2002, S. 97–111, hier S. 97. 66 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg/München 2014, S. 253. 67 Deleuze, Das Zeit-Bild (wie Anm. 6), S. 113. Vgl. dazu auch Gregor Stemmrich, Dan Grahams „Cinema“ und die Filmtheorie, in: Texte zur Kunst Nr. 21, März 1996, S. 81–97, hier S. 93. 68 ‚Eingefaltet‘ verweist auf den Topos der Topologie bei de Bruyn sowie auf Boehm (wie Anm. 64), der vom „eingefaltete[n] Raum“ (S. 35) spricht. 69 Christa Karpenstein-Essbach, Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten bei Gilles Deleuze. Medialitäten der Zeit im Film, in: Erinnern und Geschlecht (Freiburger FrauenStudien 19), hg. von Meike Penkwitt, Freiburg 2006, S. 267–283, hier S. 275. 70 Miriam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003, S. 178.
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Birgit Eusterschulte
“from a measured volume to indefinite expansion” Leere und Unendlichkeit in Robert Barrys „Inert Gas Series“ „The world is full of objects, more or less interesting; I do not wish to add any more.“
(Douglas Huebler, 19691)
„I have not produced objects; maybe I found objects. We are not really destroying the object, but just expanding the definition, that’s all.“
(Robert Barry, 19692)
Am 3. März 1969 entlässt Robert Barry an einem nicht näher bestimmten Straßenzug in Beverly Hills in Kalifornien einen Liter Krypton aus einem Gasbehälter in die Atmosphäre (Abb. 1). Der in New York lebende Künstler war nach Kalifornien gekommen, um dort eine Werkserie aus Edelgasen zu realisieren, die in seine erste Einzelausstellung mit dem für die New Yorker Konzeptkunst so zentralen Promoter und Galeristen Seth Siegelaub münden sollte.3 „Inert Gas Series“, so der Titel der Serie als auch der Ausstellung bei Seth Siegelaub im April des gleichen Jahres, besteht aus einer Reihe von Gasentlassungen, die Robert Barry an zwei Tagen im März vornimmt: Der ersten Freisetzung von Krypton folgen am 4. März Gasentlassungen von einem Liter Argon an der Pazifikküste, einem Viertel Liter Xenon in den Tehachapi Mountains, einem Liter Neon in der Nähe von Los Angeles mit Blick über den Pazifik sowie einem Liter Helium auf einem Privatgrundstück in einem Vorort von Los Angeles. Am Morgen des 5. März entlässt er zwei Kubikfuß Helium in der Mojave-Wüste (Abb. 2–5, 10). Für die Gasfreisetzungen, die ohne Publikum stattfinden, verwendet der Künstler Abfüllungen wie sie für den wissenschaftlichen oder industriellen Bedarf in Standardgrößen in Gasflaschen und anderen Containern im Handel erhältlich sind.4 Die Besonderheit der Verwendung von Edelgasen für diese Werke liegt zunächst wohl darin, dass sie in ihren materiellen Eigenschaften gänzlich nicht wahrnehmbar sind, sich also dem Nachvollzug der Freisetzung entziehen. Unsichtbar und geruchlos zeichnen sich Edelgase außerdem durch eine einatomige Struktur und damit chemische Inaktivität aus, worauf die englische Bezeichnung „Inert Gas“ verweist.5 „The label on the Pyrex flask might read ‚2 liter xenon‘ – yet you see nothing“, beschreibt Barry seine Erfahrungen bei den Entlassungen und ergänzt, „You have to trust the manufacturer. When we released a tank in the desert – in the middle of nowhere – it made a whistling sound. That’s all we know about its being there.“6 “from a measured volume to indefinite expansion” I 85
In vergleichbarer Weise beschränkt sich auch das Wissen des Betrachters auf die vom Künstler zum Werk gegebenen Informationen. Die Präsentation dieser an sich unsichtbaren Werkserie umfasst dabei immer die Formulierung „from a measured volume to indefinite expansion“ sowie die je konkrete Information der einzelnen Freisetzung, etwa: „On March 3, 1969 in Beverly Hills California one liter of Krypton was returned to the atmosphere“. Zumeist als reine Textinformationen in Katalogen oder Ausstellungen veröffentlicht, existiert zu jedem Teil der Serie auch eine dokumentarische Version, in der die Beschreibung der vollzogenen Aktion durch eine fotografische Aufnahme des Ortes ergänzt ist. Als solche jedoch demonstrieren diese Fotografien, dass das Werk nicht per Abbildung dokumentierbar ist. Sie zeigen einen leeren Ort sowie Gascontainer als Relikte der Entlassungen. Der Zusammenhang jedoch erschließt sich dem Betrachter erst durch zusätzliche sprachliche Informationen.7 Naturwissenschaftlich betrachtet entspricht die Formulierung „returned to the atmosphere“ den zugrundeliegenden Tatsachen: Die in technischen Verfahren aus der natürlichen Atmosphäre gewonnenen und in Behältern komprimierten Edelgase werden in der „Inert Gas Series“ wieder freigesetzt und somit im buchstäblichen Sinne in die Atmosphäre zurückgeführt. Über das Material ist der Werkserie so eine Prozessualität eingeschrieben: Mit Öffnung des Behälters strömt eine bestimmte Menge Gas aus und diffundiert in der Umgebung, wobei der Prozess selbst unbestimmbar bleibt. „And what I was doing really was creating an ever-changing form [...] the molecules constantly expand, creating a larger and larger piece until it’s completely absorbed back into the atmosphere. And of course this is something which no one can see.“8 Als Werk fasst der Künstler dabei das bei der Entlassung austretende Gas, welches sich mit diesem Moment zugleich in Unbestimmbarkeit auflöst. Der Akt der Rückführung erzeugt so in Verbindung mit raum-zeitlicher Ausdehnung des Gases Vorstellungen von Zirkularität und Unendlichkeit, von Permanenz des Materiellen und Zersetzung in der Zeit. Die dem Material inhärente Prozesshaftigkeit bedingt dabei eine Reflexion der Zeitstrukturen im Werk und in der Rezeption ebenso wie der Grenzen der Wahrnehmung und des Werkes selbst. Während der Künstler seine Faszination für die Materialität des zeitlich und räumlich sich kontinuierlich ausdehnenden Werkes aus Gas verschiedentlich hervorhebt, bleibt diese dem Rezipienten (wie dem Künstler) auf sinnlich wahrnehmbarer Ebene gänzlich verborgen. Im Folgenden soll es daher darum gehen, die zunächst paradoxal anmutende Werkstruktur von in der Zeit sich vollziehenden materiellen Prozessen, die unsichtbar bleiben, aber die Existenz des Werkes bestimmen, genauer zu betrachten. Die Überlegungen gehen davon aus, dass der spezifischen Materialität hier eine Bedeutung zugeschrieben werden kann, gerade weil sie nicht als bedeutungstragendes Medium in Erscheinung tritt. Die phänomenale Unbestimmbarkeit der eingesetzten, fluiden und unsichtbaren Materialien evoziert dabei geradezu eine Reflexion auf materielle, räumliche und – wie an dieser Stelle mit besonderem Augenmerk verfolgt – zeitliche Dimensionen des Werkes und seiner Struktur. In eine konfrontative Spannung treten hier insbesondere die objektiven Zeitlichkeiten des Werks und die subjektive Zeiterfahrung des Betrachters. 86 I Birgit Eusterschulte
Die vom Künstler verwendeten Bezeichnungen für die „Inert Gas Series“ – er spricht sowohl von environmental sculptures, objects als auch von process pieces – lassen bereits erkennen, dass konventionelle Werkkategorien, so auch von Skulpturalität, hier selbst in Bewegung geraten sind und insbesondere über die materielle Verfasstheit Autonomie, Visualität und Medienspezifik als Prämissen eines modernistischen Werkbegriffs außer Kraft gesetzt werden. 9 Auch das Spiel von Differenz und Wiederholung in der Konzeption einer Werkserie, die kunstferne Materialien in gleichsam experimentellen Verfahren einsetzt, zeigt sich als Angriff auf ein modernistisches Kunstverständnis, wie es weithin von Clement Greenberg geprägt ist.10 Obwohl die ephemeren Materialien in Barrys Gas-Serie zunächst wenig Gemeinsamkeiten mit den soliden Objekten und der spezifischen Materialität der Minimal Art erkennen lassen, zeigt sich die phänomenale und konzeptuelle Neudefinition des Skulpturalen in der minimalistischen Kunst ebenso wie deren Überschreitung in postminimalen und konzeptuellen Positionen als w ichtiger Ausgangspunkt für Barrys explorative Erkundung der Werkstruktur.
1 Robert Barry, Inert Gas Series: Krypton, from a measured volume to indefinite expansion. On March 3, 1969 in Beverly Hills California one liter of Krypton was returned to the atmosphere, 1969, Dokumentation: drei Farbfotografien, Schreibmaschinentext.
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2 Robert Barry, Inert Gas Series: Argon, from a measured volume to indefinite expansion. On March 4, 1969 on a beach in Santa Monica, California, one liter of Argon was returned to the atmosphere, 1969, Dokumentation: Katalogseite, Kleinbilddia, zwei Farbfotografien.
3 Robert Barry, Inert Gas Series: Argon, 1969 [Detail].
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4 Robert Barry, Inert Gas Series: Xenon, from a measured volume to indefinite expansion. On March 4, 1969 on U.S. Route 5 in the Tehachapi Mountains in California one quarter liter of Xenon was returned to the atmosphere, 1969, Dokumentation: Farbfotografie, Schreibmaschinentext auf Papier.
Unsichtbare Werke und abwesende Objekte Die „Inert Gas Series“ ist nicht die erste Arbeit des Künstlers, deren Konzeption in der Freisetzung oder Verwendung eines nicht wahrnehmbaren, kontinuierlich sich verändernden oder nicht fixierbaren Materials fußt. Über knapp ein Jahr hinweg unterschreitet Barry die Schwelle eines objektorientierten Denkens, indem er Stücke aus nicht hörbaren Ultraschallwellen, elektromagnetischen Feldern oder geringen Mengen radioaktiver Strahlung realisiert.11 Zwei Unterschiede zur Gas-Serie sind dabei wesentlich: Während die Werke aus energetischen Wellen noch einen permanenten Sender oder Transmitter voraussetzen, also an ein hervorbringendes Objekt gebunden sind, ist eine „constant presence of a small object or device that produced the art“ 12 für die Gas-Serie nicht mehr gegeben. Sie ist somit weder räumlich noch zeitlich verankert. Mehr noch ist jedes einzelne Gasstück nicht nur unsichtbar, sondern geht geradezu in der Umgebung auf. Seine auf materieller Basis gegebene Ununterscheidbarkeit von der natürlichen Atmosphäre zeigt sich als nichts, das über eine Grenze oder eine Form bestimmbar oder konkret vorstellbar wäre. Gerade die Unbestimmbarkeit raumzeitlicher Werkgrenzen und die Unfassbarkeit eines materiellen Objektes, die Negation von unmittelbarer Erfahrbarkeit und der Einsatz von Leere – kurz die Abwesenheit eines definierbaren Objektes mit sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten – erweisen sich in dieser “from a measured volume to indefinite expansion” I 89
5 Robert Barry, Inert Gas Series: Helium, from a measured volume to indefinite expansion. On March 4, 1969, beside the swimming pool in the backyard of a private house in suburban Los Angeles, one liter of Helium was returned to the atmosphere, 1969, Dokumentation: zwei Farbfotografien, maschinengeschriebener Text.
Werkperiode als methodisch eingesetzte Elemente, um die notwendigen konstitutiven Bedingungen eines Werkes und seiner Erfahrungsdimensionen auszutesten. Die Ambivalenz von körperhafter Materie – denn so sind die einatomigen Gase wohl zu fassen – und scheinbarer Abwesenheit des Materiellen und Objekthaften fungiert als Reflexionsinstrument eines Kunstbegriffs, der nicht auf Optikalität und formalistischen Kategorien gründet. Aus der Sicht modernistischer Kritik enthülle sich gerade in der „absence of the object“13, wie Michael Fried 1967 in seiner bis heute bedeutsamen und polemisierendkritischen Analyse der Minimal Art „Art and Objecthood“ schreibt, noch einer Steigerung jener theatralen Erfahrung minimalistischer Objekthaftigkeit, an der er die Unvereinbarkeit minimalistischer Ästhetik mit einer modernistischen Kunstauffassung entwickelt. Im Kern zielt seine Kritik auf die phänomenologische Erfahrungsdimension solcher Werke, die ihre Präsenz als Objekte im Realraum des Betrachters nicht transzendieren, sondern zum konstitutiven Element einer prozessualen Werkerfahrung ma90 I Birgit Eusterschulte
chen. Ungeachtet unterschiedlicher zugrunde gelegter Denkmodelle minimalistischer Skulptur liegt die von Fried analysierte Problematik in einer Gleichsetzung von Form und Objekt: „It aspires not to defeat or suspend its own objecthood, but on the contrary to discover and project objecthood as such.“14 Der kritische Punkt dieses Eintretens für Objekthaftigkeit offenbart sich in der Theatralität dieser Skulpturen, mit der sich eine Verschiebung in der Relation von Werk und Betrachter einstellt. In Kritik des Ansatzes von Robert Morris stellt Fried fest: „the experience of literalist art is of an object in a situation – one that, virtually by definition, includes the beholder [...] The object, not the beholder, must remain the center or focus of the situation, but the situation itself belongs to the beholder – it is his situation.“15
Die unterschiedlichen der ästhetischen Erfahrung zugrunde gelegten Zeitkonzepte lassen die Differenz der von Fried in „Art and Objecthood“ verhandelten Kunstbegriffe besonders deutlich werden. Das modernistische Verständnis der Gegenwart eines Werkes – genauer: der kontemplativ-zeitenthobenen Erfahrung seiner Gegenwärtigkeit (presentness) – lässt sich nicht mit der minimalistischen Präsenz der Objekte im Raum und einer temporalisierten Erfahrung in Einklang bringen. „The literalist preoccupation with time – more precisely, with the duration of the experience“16 räumlich und zeitlich situiert gedachter Objekte steht die modernistische Kontemplation angesichts eines autonomen Objektes entgegen, in dessen Gegenwärtigkeit der Betrachter absorbiert und somit realer Raumzeitlichkeit enthoben wird. Der im ästhetisch autonomen Werk gänzlich gegenwärtige Sinn konstitutiert sich in der Minimal Art prozessual in einer erweiterten Situation zwischen Subjekt und Objekt, die sich grundsätzlich als nicht abschließbar erweist.17 Nicht die Temporalisierung allein ist für Fried problematisch, sondern eine daraus resultierende Endlosigkeit – eine schlechte Unendlichkeit –, die aus der Struktur einer erweiterten Erfahrungssituation zwischen Subjekt und minimalistischem Objekt resultiert, in deren Zentrum Nichts oder zumindest kein essentieller Kern steht.18 Um dies zu demonstrieren, zitiert Michael Fried in „Art and Objecthood“ einen Erfahrungsbericht des Bildhauers Tony Smith und wendet seine Kritik quasi mit einem Proto-Minimalisten gegen die Minimal Art. Dieser hatte in den frühen 1950er-Jahren eine nächtliche Fahrt über eine noch nicht fertiggestellte und daher unbeleuchtete und unmarkierte Autobahn, den New Jersey Turnpike, unternommen. Überwältigt von der Unbegrenztheit und Präsenz der Erfahrung sagt Smith, „I thought to myself, it ought to be clear that’s the end of art. Most painting looks pretty pictorial after that. There is no way you can frame it, you just have to experience it.“19 Diese Erfahrung, die Smith angesichts dieser „empty, or ‚abandoned,‘ situations“20 beschreibt, setzt Fried in Analogie zu der spektakelhaften, theatralen Erfahrung, die er in der phänomenologischen Erfahrung der Minimal Art gesehen hatte – auch sie ist endlos, unabschließbar, erfordert die Anwesenheit des Betrachters und ist daher auch nicht in einen Ausdruck zu fassen. Tony Smiths Erfahrungsbericht hat durch die Verwendung in Frieds Minimal-Art-Kri“from a measured volume to indefinite expansion” I 91
tik einige Berühmtheit erlangt und während Fried darin den Gegensatz modernistischer Kunst und damit des modernistischen Paradigmas der Selbstkritik formuliert sieht, ist Smiths Episode über eine nächtliche Autofahrt von den Minimalisten selbst als Ausdruck einer Erweiterung der formalen und experimentellen Möglichkeiten in der Kunst verstanden worden.21 In diesem Sinne hat bereits Hal Foster in „Die Crux des Minimalismus“ (1986) die minimalistische Praxis gegenüber dem Missverständnis modernistischer Kunstkritik, die diese als Streben zum Alltäglichen und Kunstfremden auffassen wollte, verteidigt und für die Minimal Art eine Verschiebung in der Selbstkritik festgestellt. „Im Brennpunkt [des Minimalismus und der Avantgarde-Nachfolger, BE] stehen“, so Foster, „die Wahrnehmungsbedingungen und die konventionellen Grenzen der Kunst, nicht die formale Essenz oder das kategorische Sein“22 wie es die modernistische Kunstkritik forderte. Entsprechend lasse sich die Begebenheit auf dem New Jersey Turnpike anders deuten: Wenn Smith berichte, die gemachte Erfahrung s ei in keinen Ausdruck zu fassen, dann zeige sich darin „die Überschreitung ihrer institutionellen Grenzen“, und in der Feststellung, man müsse es einfach erleben, überschreite ein phänomenologisches Erfahren die Bedingungen einer „formalen Autonomie“.23 Als eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Konventionalität der Kunst und deren Wahrnehmungsbedingungen zeigen sich auch die konzeptuellen Ansätze Robert Barrys der späten 1960er-Jahre: „For years people have been concerned with what goes on inside the frame. Maybe there’s something going on outside the frame that could be considered an artistic idea. That isn’t to say they are experiments. I think of them as complete artistic ideas in themselves.“24
Insbesondere durch ihre Unsichtbarkeit und eine zersetzte, veränderliche Objektstruktur widersetzt sich die „Inert Gas Series“, wie andere unsichtbare Werke des Künstlers, modernistischen Prämissen und konventionellen Objektstrukturen, insbesondere der Visualität und einer zeit- und raumenthobenen Abgeschlossenheit, die die Autonomie der Skulptur sicherte. Auch die Privilegierung des Sichtbaren, wie sie in der Minimal Art als Relikt modernistischer Optikalität unhinterfragt blieb, findet hier eine kritische Antwort. Die Analyse der konventionellen Werkstruktur zeigt sich dabei als eine Auseinandersetzung mit den notwendigen Bedingungen der Existenz eines Werkes und den Möglichkeiten seiner Vermittlung, wie Barry im Interview mit Patricia Norvell 1969 erklärt: „[...] just how much is needed, and how much has to be known about a work of art, before it does exist. I think it questions the very being of any work of art.“25 Darüber hinaus erscheint mir die Gegenüberstellung der von Tony Smith geschilderten Erfahrung der Unendlichkeit und Unbegrenztheit einer nächtlichen Autofahrt mit der Erfahrung von Leere und Unbestimmbarkeit in der „Inert Gas Series“ insofern aufschlussreich, als in beiden die subjektive Sensibilität so zentral steht. Zwar findet der Rezipient in Barrys Gas-Skulpturen nur vermittelt durch Sprache einen Zugang zum Werk, doch ist trotz dieser Distanzierung seine zentrale Position in einer kontingenten, unbestimmbaren und unbegrenzten Situation vergleichbar. 92 I Birgit Eusterschulte
Wenn ich hier also Bezug nehme auf die Abwesenheit der Objekte, wie sie Michael Fried als Bedrohung des mo dernistischen Kunstverständnisses beschreibt, dann nicht, um in vergleichbarer Weise eine Abwesenheit der Objekte in Barrys „Inert Gas Series“ anzunehmen. Denn wie bereits beschrieben, konzipiert Barry eine ambivalente Präsenz in einer Struktur aus materieller Anwesenheit und phänomenaler Abwesenheit. Vielmehr ist es die veränderte Konzeption der Relation von Zeit und Wahrnehmung der Minimalisten, die hier zentral steht, und sich mit dem Anliegen verbindet, bestehende Konventionen weiter zu hinterfragen. Die Betonung der Erfahrungs situation und ihrer Temporalisierung, wie sie Robert Morris anhand einfacher Gestaltobjekte theoretisch und praktisch entwickelt, zeigt sich dabei auch für 6 Installationsansicht „Carl Andre, Robert Barry, Lawrence Weiner“, 4. Februar bis 2. März 1968, Bradford, B arrys Werkgenese als ein zentraler Massachusetts, Bradford Junior College, Ausgangspunkt, weist aber schon bald, Silbergelatineabzug, 9 15/16 x 8“ (25,2 x 20,3 cm). wie etwa in der „Inert Gas Series“, über die in der Minimal Art erweiterte situationsgebundene Wahrnehmung hinaus. Als solche Situationen, die die Vervollständigung des Betrachters erfordern und seine Anwesenheit anerkennen, kann man in Barrys Werk bereits diejenigen mehrteiligen Gemälde verstehen, deren einzelne, monochrom bestrichene Bildtafeln in g roßer Distanz voneinander im Raum platziert werden, so dass der Betrachter sich zwischen ihnen – in Raum und Zeit – bewegen muss oder, wie im abgebildeten Beispiel, „Untitled“, 1967, die umgebende Wand zum konstitutiven Teil des Werkes machen (Abb. 6). Deutlichere Parallelen zur minimalistischen Ästhetik zeigen die „Corner P ieces“ aus 26 dem Jahr 1967. Diese weisen eine strukturelle Ähnlichkeit zur Minimal Art auf, insofern Barry mit vier gleichformatigen Gipskuben in symmetrischer Aufstellung die Grammatik und Rhetorik einfacher, gestaltorientierter Objekte minimalistischer Anordnung aufnimmt. Die vom Künstler als environmental sculptures kategorisierten Kuben werden in Relation zur Größe des vorhandenen Raumes aufgestellt und formulieren ihre konzeptuelle Bezogenheit auf den Raum somit deutlicher als dies in der Minimal Art verbreitet ist.27 Gerade die Aufstellung im Außenraum mit einer maximalen Distanz der Kuben von 15 Metern lässt die einzelnen Würfel bei einer Kantenlänge “from a measured volume to indefinite expansion” I 93
von etwa 30 Zentimetern in ihrer Bedeutung zu Markierungen eines Feldes herabsinken. Das Betrachtersubjekt wird zum Akteur in dieser Konstellation, in der es sich als dynamischer Mittelpunkt zugleich seiner selbst als wahrnehmendes Subjekt in einem leeren Feld bewusst wird. Eine intensivere Erfahrung der Zeit und des Zwischenraums kann zudem beobachtet werden, da die einfach gestalteten Objekte kaum visuelle Qualitäten mit sich bringen. Das Interesse des Künstlers, Räume für eine bestimmte Erfahrungssituation zu definieren, tritt hier gegenüber der Produktion von Objekten deutlich hervor. Ein neustrukturiertes Werkverständnis zeigt sich so maßgeblich in der Überantwortung der Bedeutungskonstitution an das Betrachtersubjekt. Dies umfasst eine stärkere Orientierung auf den Betrachter und die besondere Hervorhebung der zeitlichen Struktur der Erfahrung gegenüber den aufgestellten Objekten in einer situativen Konstellation, die die minimalen Bedingungen der ästhetischen Erfahrung austestet. Nach einer Installation aus kaum sichtbaren Nylonfäden am Windham College in Vermont („Untitled (Nylon-Monofilament Installation)“, 1968), die eine räumliche und somit auch zeitliche Distanz zwischen zwei Gebäuden nur mehr andeutete und weniger den Faden als das Dazwischen ins wahrnehmende Bewusstsein des Betrachters rief, trennt sich Barry von der Idee „that art is necessarily something to look at.“28 (Abb. 7).
7 Robert Barry, Untitled (Nylon-Monofilament Installation), 1968, Installationsansicht Windham College, Putney, Vermont.
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Zwischen Material und Konzept Die unauflösliche Gleichzeitigkeit von materiellem Objekt, konzeptueller Information und Negation von herkömmlich wahrnehmbarer Materialität, wie sie mit den unsichtbaren Werken in Barrys Praxis vorliegt, hat sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Einerseits sind gerade die unsichtbaren Werke häufig mit dem Begriff der Entmaterialisierung identifiziert worden, der in Folge eines von Lucy R. Lippard und John Chandler verfassten Artikels trotz umfassender Kritik an dieser Formulierung zu einem Schlagwort für konzeptuelle Praxis geworden ist.29 In „The Dematerialization of Art“, erschienen im Februar 1968 in „Art International“, beobachten die Autoren für die 1960er-Jahre „an ultra-conceptual art that emphasizes the thinking process almost exclusively“.30 Diese setze sich gegenüber anti-intellektuellen und emotional-intuitiven Ansätzen der vorausgegangenen zwei Jahrzehnte – gemeint ist etwa der Abstrakte Expressionismus – durch. Die Autoren spekulieren über eine vollkommene Entmaterialisierung der Kunst und machen in der Entwicklung, die die Auflösung eines objektorientierten und materiell bestimmten Werkes zur Folge haben könnte, zwei Tendenzen aus: „art as idea and art as action. In the first case, matter is denied, as sensation has been converted into concept; in the second case, matter has been transformed into energy and time-motion.“31 Die gewählten Beispiele minimaler, prozessualer und postminimalistischer Ansätze machen indes deutlich, dass mit den beschriebenen Phänomenen keineswegs eine wortwörtliche Entstofflichung gemeint ist, sondern eine Hervorhebung der Idee oder der Konzeption gegenüber Formen der materiellen Realisierung.32 Obschon Robert Barry in „The Dematerialization of Art“ keine Erwähnung findet, kommt bis heute kaum eine Diskussion seines Werkes ohne den Hinweis auf die dort virulente Entmaterialisierung aus. Dies ist insofern bemerkenswert als Barrys Gas-Serie quer zu einer nach Peter Osborne irreführenden Idee der Entmaterialisierung steht, denn seine Arbeiten „cut through the confused idea that conceptual art is a practice of dematerialization by drawing attention to the disjunction [...] between ‚materiality‘ and the objects of unaided human sensory perception.“33 Joseph Kosuth hingegen, einer der Künstlerkollegen aus dem Kreis um den Galeristen Seth Siegelaub, hat gerade Barrys Zugriff auf Materialien als Begründung gesehen, ihn nicht im eigentlichen Sinne als Konzeptkünstler zu verstehen. Ohne Kosuths Einschätzung zustimmen zu wollen, lässt sich tatsächlich ein grundsätzlicher Unterschied zur Praxis eines analytischen oder linguistischen Konzeptualismus feststellen, wie er neben Joseph Kosuth insbesondere in den Texten des Künstlerkollektiv Art & Language eine spezifische Ausprägung findet. Das Interesse von Art & Language gilt Untersuchungen, die, wie sie es selbst beschreiben, „the possibilities of a theoretical analysis as a method for (possibly) making art“ ins Auge fassen.34 Beispielhaft sei hier die Arbeit „Air Show“ (1967) der Mitglieder Terry Atkinson und Michael Baldwin genannt, die in einer Reihe von Erläuterungen die theoretische Umsetzung einer Säule aus Luft als Ausstellungsobjekt annimmt. Die Deklaration physikalischer Phänomene oder Entitäten ist dabei als Denkmodell zu verstehen, das im konkreten Fall etwa eine Reflexion über die “from a measured volume to indefinite expansion” I 95
Materialität und Struktur von Skulptur bedingt, nicht aber eine materielle Ausführung vorsieht.35 Auch die „Inert Gas Series“ greift auf Verfahren des Readymades zurück, insofern sie die Möglichkeit der Nomination eines künstlerischen Objektes anwendet. Doch anders als dies Art & Language an der Vorgehensweise Barrys kritisieren, erweitert er mit der Verwendung von Edelgasen nicht einfach die Möglichkeiten der Setzung um ein bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht künstlerisch verwendetes Material.36 Vielmehr stellt Barry die Relationen von Sprache und Material, von Wahrnehmung, Denken und Vorstellung zur Diskussion, wobei insbesondere über das Material auch Fragen der Existenz in Raum und Zeit thematisch werden. Im Unterschied zu Duchamps Readymade „Air de Paris“ etwa, einer mit Pariser Luft gefüllten Glasphiole aus dem Jahr 1919, bleibt in Barrys Luftstück kein objekthaftes Relikt zurück. In der Notwendigkeit einer sprachlichen Vermittlung zeigen sich die Werke als konzeptuell und materiell basiert, wobei Sprache hier als dokumentarisches und nominierendes Element, als Mittel der Beschreibung und Mittel der Bezeichnung, fungiert. Den Hinweis des Künstlers, die sprachliche Vermittlung ebenso wenig als Teil des Werkes anzusehen wie den performativen Akt der Entlassung, möchte ich daher als eine Strategie sehen, die Unfassbarkeit unsichtbarer Materialien gegenüber einer Rezeption in der Konzeptkunst hervorzuheben, die der materiellen Dimension zumeist wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt.
Jenseits der sichtbaren Objekte „To begin with the concrete physicality of matter rather than images allows for a change in the entire profile of three-dimensional art: from particular forms, to ways of ordering, to methods of production and, finally, to perceptual relevance“, schreibt Robert Morris im vierten Teil seines Essays „Notes on Sculpture: Beyond Objects“, der im April 1969 im „Artforum“ erscheint.37 Bereits die ersten beiden Teile seiner „Notes“, die im Februar und Oktober 1966 ebenfalls im „Artforum“ erschienen waren, hatten sich als wichtige Beiträge zum zeitgenössischen ästhetischen Diskurs und als grundlegend für die Theoretisierung der Minimal Art gezeigt, insofern sie ein verändertes Verhältnis von Werk und Betrachter thematisieren und ein phänomenologisches Betrachtermodell ausbilden. Mit der Einsicht, dass gestaltgebundene dreidimensionale Strukturen der Minimal Art zwar objekthafte Formen in der Kunst neubegründen und damit grundsätzlich Probleme der Komposition lösen, jedoch die Wahrnehmungsmodalitäten des Betrachters nicht tiefgreifend verändern, wendet sich Morris Materialprozessen zu, die mit den inhärenten Eigenschaften und Strukturen der verwendeten Materialien arbeiten und so eine vorherbestimmte Form ebenso umgehen wie die Ästhetisierung einer vollendeten Form. Die erstmals 1967 an der Western Washington University in Belmont realisierte Installation im Außenraum mit dem Titel „Steam“ kann in diesem Zusammenhang als eine der früheren Arbeiten gesehen werden, die das Verhältnis von physikalischer Materialität und Formprozess neubestimmen und einen veränderten Wahrnehmungsvollzug thematisieren (Abb. 8). In „Steam“ wird Wasserdampf, der sich aus einem unterirdischen 96 I Birgit Eusterschulte
analsystem speist, über Rohre an die Oberfläche geleitet. Der physikalische Prozess der K Kondensation wird dabei sichtbar, denn das flüchtige Material zeigt sich im Wechsel des Aggregatzustandes und in Abhängigkeit von äußeren, kontingenten Faktoren wie Wind und veränderlichen Temperaturen. Als aufsteigender Dampf, der sich über einem rechteckigen Feld erhebt, spielt „Steam“ deutlich auf skulpturale Fragestellungen an und widersetzt sich zugleich wie kein anderes Werk von Morris klassischen Bestimmungen des Skulpturalen. Das statische Objekt als Körper im Raum ist in Bewegung gesetzt und Formprozesse werden ebenso sichtbar wie deren Auflösung in Raum und Zeit.38 In dieser kontinuierlich sich erneuernden Dampfwolke wird im Zusammenspiel von Eigengesetzlichkeit des Materials und äußeren Einflüssen ein unabschließbarer Formbildungs- und Auflösungsprozess sichtbar, der sich unmittelbar vor den Augen des Betrachters vollzieht. Die Präsenz des Werkes ist temporalisiert, wobei keinem Zustand, keiner einzelnen Form, mehr Bedeutung beigemessen werden kann als einer vorausgegangenen oder noch entstehenden. Die Erfahrung des Werkes folgt ebenso wie das Werk selbst einer prozessualen Struktur, wobei die zeitlichen Dimensionen von Entstehen und Vergehen dem Betrachter transparent sind und Betrachter und Werk sich im gleichen Zeit-Raum befinden. Im wortwörtlichen Sinne verschmelzen Raum und Zeit des Betrachters mit dem Werk.
8 Robert Morris, Steam, 1967, Installationsansicht Corcoran Gallery, Washington, 1969.
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Zeigte sich in der Erfahrungssituation der minimalistischen Skulptur insofern eine Temporalisierung des Betrachters als sich dieser im gleichen Raum mit den statischen, einfach gestalteten Objekten oder seriellen Anordnungen befand und sich in der Bewegung zu ihnen ins Verhältnis setzte, wird hier ausgehend von der Materialität das Werk selbst prozessual. Das verbindende Element von Morris’ „Steam“ und Barrys Gasfreisetzungen ist dabei weniger an der Oberfläche der von beiden Künstlern eingesetzten fluiden Materialität zu suchen, als im Anliegen, das statische und empirische Objekt, wie es in der Minimal Art weiterhin vorherrschend war, aufzulösen und Möglichkeiten der Temporalisierung bezogen auf die Wahrnehmungssituation selbst weiterzudenken. Gerade der Dampf in „Steam“, der wie alle fluiden Materialien weder Raum noch Zeit fixiert, macht sichtbar, wie Formen in Bewegung gesetzt werden und die sichtbare Eigengesetzlichkeit des Materiellen und das Ineinander von Form und Materie den Prozess bestimmen. Denn was in der Minimal Art, wie Robert Morris es in „Anti Form“ ausarbeitet, problematisch bleibt, ist: „the fact that any order for multiple units is an imposed one that has no inherent relation to the physicality of the existing units.“39 In Erweiterung des „Anti Form“-Konzeptes beschäftigt sich Morris mit ausgedehnten Feldern heterogener Materialien, in denen formale und apriorische Bestimmungen weiter reduziert
9 Robert Morris, Untitled (Threadwaste), 1968, Leo Castelli Gallery, New York.
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und die Wahrnehmungssituation verändert werden. In „adaption of procedures resembling the act of disposal of waste“40 tritt „Untitled (Threadwaste)“ gleich einer Landschaft aus verstreutem Unrat aus etwa 300 Kilogramm Baumwollabfällen der Textilindustrie, Kupferdrähten, Asphaltklumpen und Spiegeln dem Besucher der Leo Castelli Galerie 1968 entgegen (Abb. 9). Ohne die Fokussierung auf einzelne Objekte oder vorgefasste Formen operiert diese wüste Materialansammlung mit einer Art Landschaftsmodus, der das klar begrenzte spezifische Objekt der Minimal Art auflöst. Angestrebt ist unter Bezugnahme auf Anton Ehrenzweigs „The Hidden Order of Art. A Study in the Psychology of Artistic Imagination“ eine Dedifferenzierung der Wahrnehmung, ein gezieltes Absehen von einer fokussierenden Objektorientierung.41 Ehrenzweigs psychoanalytisch geprägte Theorie künstlerischer Kreativität erklärt den dynamischen Prozess der Dedifferenzierung zum entscheidenden Moment künstlerischer Produktivität. In Übertragung auf den Wahrnehmungsprozess konfrontiert Morris den Betrachter mit einer Struktur unüberschaubarer, formloser und unspezifischer Materialien. „This perceptual mode seeks significant clues out of which wholeness is sensed rather than perceived as an image and neither randomness, heterogeneity of content, or indeterminacy are sources of confusion of this mode. [...] By doing this, it has used a perceptual accommodation to replace specific form or image control and projection. [...] It is an example of art’s restructuring of perceptual relevance, which subsequently results in an almost effortless release of a flood of energetic work.“42
In den materiell undifferenzierten und ausgedehnten Feldern in der Kunst der späten 1960er-Jahre u. a. bei Carl Andre, Rafael Ferrer, Barry Le Va, Richard Serra und Robert Smithson zeichnet sich für Robert Morris eben diese Auseinandersetzung ab. So sehr der vierte Teil der „Notes“ zunächst eine Veränderung der Wahrnehmungsmodalitäten in den Vordergrund rückt und damit Formen der Prozessualität über ein finalisierbares Objekt stellt, zielen Morris’ „Notes on Sculpture“ auf eine umfassende Dekonstruktion eines objektorientierten Denkens, das auf ein warenförmiges und unveränderliches Produkt zuläuft. „Under attack is the rationalistic notion that art is a form of work that results in a finished product. Duchamp, of course, attacked the Marxist notion that labor was an index of value, but Readymades are traditionally iconic art objects. What art now has in its hands is mutable stuff which need not arrive at the point of being finalized with respect of either time or space. The notion that work is an irreversible process ending in a static icon-object no longer has much relevance.“43
Trotz der Auflösung statischer und vorherbestimmter Formen und des Rückzugs aus der strukturierenden oder intentionalen Kontrolle materieller Formationen bleiben diese anti-formalistischen Gebilde der Möglichkeit einer formalen Diskussion verbunden. In diesem Sinne kritisiert auch Allan Kaprow die theoretischen Überlegungen “from a measured volume to indefinite expansion” I 99
seines Künstlerkollegen Robert Morris. Für Kaprow bleiben die in „Anti Form“ adressierten formalen Probleme ungelöst, wie er am Beispiel einer Filzarbeit von Morris diskutiert. Denn die Arbeiten aus schweren Industriefilzen, die ihre Form wesentlich durch materielle Eigengesetzlichkeit und Schwerkraft finden, lassen sich nicht als formlos oder antiformal beschreiben: „no one can see this sculpture in any other way then through its formal relationships“.44 Während die Unsichtbarkeit in Barrys Werken indes eine Möglichkeit darstellt, sich einer formalen Kritik zu entziehen und die Konventionen des Skulpturalen zu hinterfragen, greift die Fragestellung weiter aus und trifft sich an diesem Punkt mit der von Robert Morris formulierten Kritik am finalisierten Kunstobjekt. Und so stellt Robert Barry in einem Interview mit Patricia Norvell die scheinbar unhinterfragbare Existenz eines Werkes aus elektromagnetischen Wellen gegen die Unmöglichkeit einer formalen Beurteilung desselben: „It becomes very d ifficult. I don’t even think that there’ll be that judgement. I think that the whole definition of art will be changing. The thing just is. I mean, how can you criticize a carrier wave?“45 Ohne die grundlegende konzeptuelle Differenz von überbordender materieller Präsenz in Morris’ Werken und negierter Phänomenalität in Barrys unsichtbaren Werken außer Acht zu lassen, eröffnen die kontinuierliche Veränderlichkeit und Unkontrollierbarkeit der materiellen Aspekte der „Inert Gas Series“ und ähnlich strukturierter Werke, die unbestimmbare Ausdehnung der Werkgrenzen sowie eine damit verbundene Entdifferenzierung der ästhetischen Erfahrung vor dem Hintergrund eines endlos ablaufenden unsichtbaren Prozesses Vergleichsperspektiven. Formlosigkeit und Unsichtbarkeit, Prozessualität und Ortlosigkeit treten an die Stelle der Privilegierung des Sehens und eines vom Greenberg’schen Modernismus so zentral gesetzten autonomen, geschlossenen Objektes.46 Der Entzug von Sichtbarkeit und nachvollziehbaren materiellen Prozessen evoziert hier eine Reflexion der Grenzen der Wahrnehmung und eine Verlagerung des Werkprozesses in den Vorstellungsraum. Diese Fokussierung des mentalen Raumes wird in Barrys weiterer Praxis in eine im engeren Sinne konzeptuelle Vorgehensweise führen, insofern den Gas-Arbeiten zunächst ausschließlich sprachlich formulierte Werke folgen. Der Ausgangspunkt für eine Ausrichtung der Rezeption auf kognitive Prozesse ist in der „Inert Gas Series“ in der Diskrepanz von Wissen bzw. vermittelten Information über das Werk und der entzogenen materiellen Unmittelbarkeit zu suchen, wobei sich die Lücke zwischen Wissen und Nichtwahrnehmbarkeit letztlich nicht schließen lässt. Es entsteht eine paradoxale Struktur von An- und Abwesenheit, in der dem Betrachter die Aufgabe zukommt, das Stück gedanklich auszuführen. Auch ohne die charakteristischen Eigenschaften von Edelgasen zu kennen, kann man von der Anwesenheit und Unbestimmbarkeit der materiellen Seite des Werkes nicht absehen. Die Materialität des Gases hat so Anteil an der Werkkonzeption ohne als Medium zu fungieren. Vergleichbar mit Morris’ antiformalistischen Skulpturen und entdifferenzierten Feldern verstreuter Materialien ist dabei der Anspruch, keine Apriori-Vorstellungen auf das Material zu übertragen: 100 I Birgit Eusterschulte
„I myself try to do as little with it after I’ve made the choice as possible. In that sense, I suppose I could be called a materialist, in that I don’t impose some process, some alien process onto the material I’ve chosen. [...] There are some artists [...] who are really as much materialist as any artist of the past has been, but ... what they’re doing, really, is sort of imposing a system or a method or whatever – a certain set of ideas that they have, their own personal theories – onto this material which they find [...].“47
Mit der „Inert Gas Series“ geht der Künstler noch einen Schritt weiter, indem er die sichtbaren und greifbaren Artefakte buchstäblich auflöst. Der entropische Prozess ist dabei nicht als Zerfall oder Verlust zu fassen, sondern als Entdifferenzierung positivistischer Bestimmungen und materieller Objektivität. Die radikale Auflösung eines greifbaren und festschreibbaren Objektes, dem keine konkreten Bestimmungen mehr zugeschrieben werden können, ist Ausdruck einer Auseinandersetzung mit einem Kunstbegriff, der weniger das Werk als Objekt bestimmt, denn als offene und generative Struktur zu verstehen ist, die aus den Differenzen der Wiederholung und Aktualisierung lebt: „The word ‚art‘ is becoming less of a noun and more of a verb. I think it’s sort of an in between place now – a kind of noun-verb. [...] I don’t think that we can really look at objects anymore without thinking of them as existing in time, and as ever-changing things. Thinking not so much about objects themselves as what possibilities are inherent in them and what the ideas are in them.“48
Das Gas als Objekt der Zeit „[E]ine gängige Vorstellung“ sei, so schreibt die französische Philosophin Anne Cauquelin, „daß die Leere ein Loch in einem gegebenen Dispositiv“ sei, die etwas unterbreche, umleite oder sogar vernichte und häufig auf einen Irrtum oder Fehler zurückzuführen sei. „Aber wenn sie wissentlich und nach einem wohldefinierten Plan hergestellt wird“, so die Autorin, „schadet sie einer vorhandenen Struktur und wird provokant“. Anders als zunächst naheliegen mag, führt sie mit Claes Oldenburgs „Placid Civic Monument“ ein Beispiel an, in dem die Leere aus der Wiederholung oder Rückführung des Gleichen besteht. In „The Hole“, wie Oldenburg seine unsichtbare Skulptur für eine New Yorker Skulpturenausstellung im Jahr 1967 auch nennt, wird ein im Central Park gegrabenes, rechtwinkliges Loch mit der zuvor ausgehobenen Menge Erde wieder befüllt.49 Zwar ist dieses Beispiel vornehmlich auf die materiell-räumliche Struktur bezogen, und zeigt sich auch in dieser Hinsicht für Barrys „Inert Gas Series“ als relevant, doch lässt sich die Provokation der vorhandenen Struktur ebenfalls in Bezug auf das Denken der Zeit und in der Zeit verstehen. Die Permanenz, die das Werk ausgehend von seiner Materialität beansprucht, lenkt dabei die Reflexion auf die in Werk und Rezeption vorgängigen, paradoxalen Zeitlichkeiten: “from a measured volume to indefinite expansion” I 101
10 Robert Barry, Inert Gas Series: Helium. On the morning of March 5, 1969, somewhere in the Mojave Desert in Califorina, 2 cubic feet of Helium was returned to the atmosphere, 1969 [Detail der Dokumentation].
„The thing about the inert gas was that inert was an important word. It doesn’t mix with anything else; one could say that a particular body of gas, although expanding and changing, is essentially the same. It’s not going to change into something else. It’s really permanent – it’s the most permanent thing there can be, in a way.“50
Zwar mag sich der Vorstellungsraum zwischen dem gegebenen Zeitpunkt der Freilassung und dem Jetzt des Betrachters aufspannen, doch kann dieser ohne eine Strukturierung nicht wahrgenommen oder konkreter erfahren werden, da sich uns Zeitwahrnehmung über Veränderung in der Zeit vermittelt. Die Differenz von An- und Abwesenheit zeigt sich so auch bezogen auf die zeitlichen Strukturen im Werk. Verschmelzen in der phänomenologisch geprägten Erfahrung der Minimal Art Zeit und Raum des Betrachters im zeitlichen Nachvollzug mit dem situiert gedachten Werk, so treten in Barrys „Inert Gas Series“ durch die negierte Phänomenalität divergierende Zeitlichkeiten hervor. Zunächst ist da die physikalische Struktur des sich in der Zeit ausdehnenden Gases, eines unendlichen Objektes, welches sich über die Grenzen der Wahrnehmung hinaus ausdehnt und dessen Zeitlichkeit wir nicht wahrnehmen können. Die Temporalität des Gases ist nicht mehr die eines phänomenalen Objektes und überschreitet die Zeitlichkeit des Betrachters. In seiner unendlichen und unfassbaren Ausdehnung verkörpert das Gas eine kosmologische Dimension, die nur an einem Punkt – dem Zeitpunkt der 102 I Birgit Eusterschulte
Entlassung – mit der historischen Zeit verbunden ist. Damit stehen die Zeitlichkeit des Betrachters, die Dauer der Rezeption und die Zeitwahrnehmung gleichermaßen der Vorstellung einer unendlich ausgedehnten Struktur entgegen, wobei diese auch in ihrem materiellen Entzug auf sinnliche Dimensionen bezogen bleibt. Die zeitliche Dimension des Gases, dessen Unendlichkeit sowohl naturwissenschaftliche als auch metaphysische Konnotationen mit sich bringt, und das Zeiterleben des Erfahrungssubjektes treffen im Werk aufeinander und können nicht in Einklang gebracht werden. Es ist dabei nicht die entzogene Materialität des Werkes allein, die in Barrys „Inert Gas Series“ andere Konstellationen von Temporalisierungen der Erfahrungen erkennen lässt, sondern maßgeblich eine Konzeption, die unter Zuhilfenahme einer sprachlichen Notation über die Freisetzung der Gase informiert und den Betrachter nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich in eine Distanz setzt. Die erfahrene Lücke von negierter Phänomenalität des Objektes und reflexiven Bezugnahmen auf Werkstruktur und eingesetztes Material lässt sich auch bezogen auf die Zeitlichkeiten nicht endgültig schließen. Das Moment der ästhetischen Erfahrung wird dabei wesentlich aus der Erfahrung dieser Differenzen hervorgebracht – von Information und Unbestimmbarkeit des anwesenden Werkes oder den Grenzen des sinnlichen Wahrnehmens und des Vorstellens. Das Werk entfaltet sich in diesen „einander ausschließenden Verstehensvollzügen“ 51 bezogen auf die Präsenz des Gases, die Möglichkeit der Verortung und die Bezugnahme des Betrachters, die erlebte Zeit, die Zeit der Wahrnehmung und die Zeitlichkeit des Gases, der nahezu wissenschaftlich verfassten Information und der Unmöglichkeit diese zu objektivieren, der Differenz von Vorstellen und Veranschaulichen, von Wissen, Denken und Erfahren, um bloß einige zu nennen. Denkt man an die Äußerungen Frieds zurück, dann könnte man diese Abwesenheit im höchsten Maße als endlos bestimmen, weil nichts im Zentrum der Erfahrung steht. In offensiverer Weise als in der phänomenalen Erfahrung objekthafter Werke ist das Subjekt somit in der Bedeutungskonstitution auf sich zurückverwiesen. Gerade hierin liegt aber das Potential der wahrgenommenen Leere und der unendlichen Ausdehnung in Raum und Zeit. In den unsichtbaren Werken entstehen ästhetische Objekte, die der Betrachter zwar in der Reflexion aktualisieren, nicht aber konkretisieren oder zu einem Abschluss bringen kann. Die Werke können kontinuierlich vergegenwärtigt, nicht aber manifestiert werden. Ihre besondere Präsenz liegt gerade in der Abwesenheit begründet. Die Temporalisierung der ästhetischen Erfahrung wird nicht primär aus der inhärenten zeitlichen Struktur des Materials hervorgerufen, sondern aus der Unfassbarkeit seiner Existenz, aus der Unmöglichkeit, es als solches begreifen zu können, der Bewusstwerdung von Wahrnehmung, Denken und Vorstellen in dieser Konstellation. „Es ist nicht die Unsichtbarkeit [...], sondern eher die Zeitlosigkeit der Zeit, und zwar in dem Maße, in dem die Verflüchtigung des Gases in der Luft den – nahezu unwahrnehmbaren – Moment nachahmt, in dem die Zeit ihre fragile Konstitution enthüllt: sobald es losgelassen wird, wird das Gas zu einem Objekt in der Zeit und schafft um sich herum diese flüchtige Zeitlichkeit, die der Augenblick ist, um sofort zu verschwinden.“52
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Gerade in der Unmöglichkeit, diesen Moment selbst zu erfassen oder die Materialität der „Inert Gas Series“ begreiflich zu machen, liegt das Reflexionspotential und die unüberbrückbare Lücke zwischen objektiver Zeit – dem Zeitraum des performativen Aktes der Gasfreisetzung und der andauernden Expansion – und der subjektiven Zeiterfahrung des Betrachters in seinem jeweiligen Hier und Jetzt sowie einer je individuellen Bezugnahme auf diesen Zeitraum. Festzuhalten ist, dass „Inert Gas Series“ von der Grundstruktur ein widersprüchliches Objekt ist bzw. mit einer paradoxalen Konstellation operiert, beginnend mit dem unsichtbaren, aber materiell anwesenden Objekt, dessen Existenz im Moment des Entlassens und in seinem gleichzeitigen Unbestimmbarwerden gründet. Für den ungreifbaren Augenblick mit einem konkreten Ort und einem bestimmten Zeitpunkt verbunden, strebt es kontinuierlich seiner physikalischen Auflösung und Loslösung von jeglicher Determinierbarkeit entgegen. Fragen von Skulpturalität und Zeit werden so ausgehend von der materiellen Unfassbarkeit auf verschiedenen Ebenen adressiert. Die Zeitlichkeit des Materials und dessen Eigengesetzlichkeit, der Zeitpunkt und der performative Akt der Gasfreisetzung, die kontinuierliche Veränderung des entlassenen Gases, die unendliche Dauer respektive Auflösung des Werkes in der Zeit, die Zeit der Rezeption, die angedeutete Zirkularität des Stückes sind zentrale Aspekte, mit denen in der „Inert Gas Series“ traditionelle Materialien und Produktionsprozesse modernistischer Skulptur befragt werden.53 Die Radikalität, mit der Künstler wie Robert Barry, aber auch Michael Asher, Dan Graham oder Lawrence Weiner, Anteil haben am Paradigmenwechsel der Skulptur und zur Neudefinition des Skulpturalen in den 1960er-Jahren beitragen, „and [sculptural activities] that conceive ‚sculptural‘ phenomena (i. e. perceputal and actual subject/object interactions) within a historically defined and conditioned time/space coordinate system“54, ist, so Benjamin H. D. Buchloh, lange Zeit nicht als solche erkannt worden.
Anmerkungen 1 Douglas Huebler, in: January 5–31, 1969 (Ausstellungskatalog New York), hg. von Seth Siegelaub, New York 1969, n. p. 2 Robert Barry, Interview mit Ursula Meyer, in: Conceptual Art, hg. von Dies., New York 1972, S. 34–41, hier S. 36. 3 Robert Barry hatte den Galeristen knapp zwei Jahre zuvor kennengelernt und seitdem an verschiedenen von Seth Siegelaub initiierten Projekten teilgenommen, darunter eine heute als „XeroxBook“ bekannte Publikation mit Beiträgen von Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth, Sol LeWitt, Robert Morris und Lawrence Weiner (hg. von Seth Siegelaub und John W. Wendler, New York 1968) sowie die frühe Konzeptkunst-Ausstellung „January 5–31, 1969“ in New York (wie Anm. 1). 4 Von den sechs in der Erdatmosphäre natürlich vorkommenden Edelgasen waren 1969 fünf im Handel erhältlich. Die auf den 5. März datierte Version von „Inert Gas Series: Helium“ entstand für die von Seth Siegelaub konzipierte Ausstellung „March 1969“. 5 Robert Barry, Interview mit Robin White, in: View 1, 1978, S. 3–22, hier S. 8.
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6 Barry (wie Anm. 2), S. 39. Im gleichen Gespräch äußert sich der Künstler außerdem über den nicht wahrnehmbaren Inhalt der Gasflasche vor dem Akt der Entlassung. 7 Zur Anschaulichkeit sind dem vorliegenden Text zur „Inert Gas Series“ die dokumentarischen Fassungen beigegeben, die nicht Teil der Erstpräsentation im Frühjahr 1969 waren. Obwohl sie keine explizite dokumentarische Funktion haben, evozieren die landschaftlichen Aufnahmen die Vorstellung von Weite und Unendlichkeit und korrespondieren so mit dem nicht dokumentierbaren Werk selbst. Zur Frage des Verhältnisses von Werk und Dokumentation in der Konzeptkunst, wie sie auch in der „Inert Gas Series“ zur Diskussion steht, vgl. z. B. Alexander Alberro, At the Threshold of Art as Information, in: Recording Conceptual Art. Early Interviews with Barry, Huebler, Kaltenbach, LeWitt, Morris, Oppenheim, Siegelaub, Smithson, Weiner, hg. von Ders. und Patricia Norvell, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 1–15. 8 Robert Barry, Interview mit Patricia Norvell, in: Recording Conceptual Art (wie Anm. 7), S. 86–100, hier S. 89 f. 9 Vgl. dazu Peter Osborne, Survey, in: Conceptual Art, hg. von ders., London/New York 2002, S. 12–51, hier S. 18. 10 Vgl. dazu Elke Bippus, Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimalismus, Berlin 2003, S. 10. 11 Diese Stücke bewegen sich unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle. Beispiele sind „Radiation Piece, Barium-133“, für das der Künstler im Januar 1969 kleine Mengen radioaktiver Isotope im Central Park in New York vergräbt, oder Stücke aus hochfrequenten Wellen wie „1600 kc Carrier Wave (AM)“, 1968. Hochfrequente elektromagnetische Wellen, die etwa in der Radiotechnik zum Einsatz kommen, bleiben in Barrys Arbeiten zumeist unmoduliert und übermitteln keine akustischen Informationen. 12 Barry (wie Anm. 2), S. 38 [Hervorhebung BE]. 13 Michael Fried, Art and Objecthood, in: Ders., Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago/London 1998, S. 148–172, hier S. 160. Der Artikel erscheint erstmals 1967 in der Sommerausgabe des Artforum, Bd. 5, Nr. 10, S. 12–23. 14 Fried (wie Anm. 13), S. 151; Clement Greenberg hatte dies zuvor als „effect of presence“ beschrieben (zit. nach Fried, ebd., S. 152). 15 Fried (wie Anm. 13), S. 153 f. 16 Fried (wie Anm. 13), S. 166. 17 Vgl. dazu Gerald Siegmund, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld 2006, S. 71 18 Vgl. dazu Alison Green, Artistic Agency and the ‚On and On‘ of Repetition in Post-60s Art, in: Oxford Art Journal 29.1, 2006, S. 156–160, hier S. 158. 19 Tony Smith, Interview mit Samuel Wagstaff (1966), zit. nach Michael Fried (wie Anm. 13), S. 158. 20 Fried (wie Anm. 13), S. 159. 21 Vgl. dazu James Meyer, Minimalisms. Art and Polemics in the Sixties, New Haven/London 2001, S. 232. 22 Hal Foster, Die Crux des Minimalismus (übers. von Elisabeth Großebner), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 589–633, hier S. 594. 23 Vgl. dazu ebd., S. 606. 24 Robert Barry, Exzerpt eines Transkripts vom Symposion am Bradford Junior College, Bradford, März 1968, in: Six Years. The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972, hg. von Lucy R. Lippard, Berkely/Los Angeles/London 1973 (Nachdr. New York 1997), S. 40.
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25 Barry (wie Anm. 8 ), S. 86. 26 Die „Corner Pieces“ (1967) sind nicht erhalten, lassen sich aber aufgrund vorhandener Beschreibungen in einer Werkchronologie zuverlässig rekonstruieren. Vgl. dazu Lucy R. Lippard Papers, Archives of American Art, Smithsonian Instituion, Washington, D. C. 27 In einer Werkchronologie sind die „Corner Pieces“ ebenso wie die installativen Arbeiten aus Nylonfäden oder Draht als „sculpture (environmental)“ gefasst (vgl. Anm. 26). 28 Robert Barry, Four Interviews with Barry, Huebler, Kosuth, Weiner, in: Arts Magazine (New York), Februar 1969, S. 22–23, hier S. 22. 29 Der Begriff der Entmaterialisierung ist zunächst von Künstlern kritisch diskutiert worden, u. a. von Terry Atkinson in dem Briefessay „Concerning the Article ‚The Dematerialization of Art‘“, den Lippard in gekürzter Fassung in „Six Years“ (wie Anm. 24) aufnimmt. 30 Lucy R. Lippard, John Chandler, „The Dematerialization of Art“, in: Art International, Februar 1968, S. 31–36, hier S. 31. 31 Lippard, Chandler (wie Anm. 30), S. 31. 32 Als wichtigsten Aspekt konzeptueller Werke hat Sol LeWitt bereits 1966 die Bedeutung der Konzeption in den „Paragraphs on Conceptual Art“ hervorgehoben, die als eine Quelle für Lippard und Chandler zu nennen sind. 33 Peter Osborne, Starting up all over again. Time and Existence in Some Conceptual Art of the 1960s, in: The Quick and the Dead (Ausstellungskatalog Minneapolis), Minneapolis 2009, S. 91–106, hier S. 94. 34 Art & Language, Introduction, in: Art-Language 1, Nr. 1, Mai 1969, S. 1–10, hier S. 10. 35 Zusammen mit zwei weiteren Texten wurde „Air Show“ 1967 in einer kleinen Publikation von der Art & Language Press in einer Auflage von 200 Exemplaren veröffentlicht. 36 Vgl. dazu Terry Atkinson, From an Art & Language Point of View, in: Art-Language 2, Februar 1970, S. 25–60. 37 Robert Morris, Notes on Sculpture, Part 4: Beyond Objects, in: Artforum, April 1969, S. 50–54; hier und im Folgenden zit. nach Ders., Continuous Projects Altered Daily. The Writings of Robert Morris, Cambridge/London 1993, S. 51–70, hier S. 67 f. Michael Frieds „Art and Objecthood“ (1967) (wie Anm. 13) kann als Reaktion auf die 1966 erschienenen ersten beiden Teile der „Notes on Sculpture“ gefasst werden. 38 Eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Zeit in der modernen Skulptur findet sich bei Rosalind E. Krauss, Passages in Modern Sculpture, Cambridge/London 1977. 39 Robert Morris, Anti Form, in: Artforum, April 1968, S. 33–35, zit. nach Ders., Continuous Projects Altered Daily. The Writings of Robert Morris, Cambridge/London 1993, S. 41–49, hier S. 41; der Titel „Anti Form“ wurde von den Redakteuren des Artforums hinzugefügt. 40 Richard J. Williams, After Modern Sculpture. Art in the United States and Europe 1965–1970, Manchester/New York 2000, S. 61. 41 Vgl. dazu Morris, Notes Part 4 (wie Anm. 37), S. 57. 42 Ebd., S. 61. 43 Ebd., S. 68. 44 Allan Kaprow, The Shape of the Art Environment, in: Artforum 10, 1968, S. 32–33, zit. nach Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 90–96, hier S. 91. 45 Barry (wie Anm. 8), S. 94. 46 Die Verwendung von Gasatomen könnte man in diesem Zusammenhang auch als eine Überspitzung der modernistischen Forderung lesen, die Essenz des Werkes freizulegen. In diesem Sinne zeigte sich schon das Freilegen des supports in der Malerei als Reaktion auf die formalistische Reduktion der Malerei auf Flächigkeit und Form.
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47 Barry (wie Anm. 8), S. 99. 48 Ebd., S. 97. 49 Anne Cauquelin, Verkehr mit dem Unkörperlichen. Ein Beitrag zu einer Theorie der zeitgenössischen Kunst (übers. von Ronald Voullié), Berlin 2007, S. 70. 50 Barry (wie Anm. 5), S. 8. 51 Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und Eigensinn der Kunst, Frankfurt am Main 2000, S. 276. 52 Cauquelin (wie Anm. 49), S. 96. 53 Vgl. dazu Benjamin H. D. Buchloh, Michael Asher and the Conclusion of Modernist Sculpture, in: Art Institute of Chicago Museum Studies 10, 1983, S. 276–295, hier S. 294. 54 Ebd., S. 294.
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Samantha Schramm
Time-Motion Passagen, Sequenzen und kristalline Strukturen der Land Art „‚[P]assage désigne le déplacement, l’acte de se déplacer. Une marche vers ailleurs (à côté, là-bas, plus loin, plus haut ...), une enjambée, un cheminement, un processus de transformation en train de s’opérer, et non déjà effectué; en même temps que le lieu où s’effectue ce processus, sa trace ou son support, que ce soit au sens morphologique, spatial, géographique ou bien métaphorique.“1
Ein Besuch der in entlegenen Gegenden des US-amerikanischen Südwestens ausgeführten Land Art steht in enger Verbindung mit dem Motiv der Reise, als zeitlich aufgefasste Fortbewegung im Raum: Zunächst begibt sich der Besucher auf die Suche nach der ortsspezifischen Kunst, konsultiert Karten und Beschreibungen und lässt bereits auf der Autofahrt zur Land Art die Landschaft gleichsam wie ein bewegtes Bild an sich vorbeiziehen. Während der Reise wechselt der nach vorne gewandte, entgrenzte Blick, vor dem der Horizont sich scheinbar ins Unendliche ausweitet, mit einem seitwärts, aus dem Fenster gerichteten Blick, der als kinematographisch motivierte Passage erscheint.2 Die Bedeutung einer sich in ihrer Zeitlichkeit entfaltenden Erfahrung veranschaulichen auch Berichte von der Selektion der Orte und der Wahrnehmungsbedingungen der Projekte durch die Künstler. Die vielfach bildhaft anmutenden Beschreibungen nehmen die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Zeit und Erinnerung durch Fotografien, Filme und Karten vorweg und verweisen nicht nur auf Veränderungen des Ortes, sondern verdeutlichen ein Denken von raumzeitlichen Verläufen und Strukturierungen. Auf die Wahrnehmung des Betrachters bezogene Kunstformen werden seit den 1960erJahren vorwiegend im Kontext von Theorien zur Ortsbezogenheit beschrieben,3 deren Ausgangspunkt die Objekte der Minimal Art bilden, welche mit ihren räumlichen Interventionen sowohl eine nomadische begriffene „Ort- oder Heimatlosigkeit“4 der modernen Skulptur als auch das modernistische Paradigma der Selbstreferenz revidieren. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass in der Land Art Raum und Zeit in einem Wechselverhältnis stehen und das Denken von Zeit den Ausgangspunkt für einen Ortsbezug bildet, der nicht als statisches Konstrukt, sondern als zeitlich aufgefasste Passage oder als Kristallisationsform von pluralen, gegenseitig aufeinander bezugnehmenden Zeitmodalitäten dient. Die Projekte entwerfen somit ihre eigenen Bildtheorien,5 die aus der ortsgebundenen Wahrnehmung resultieren und in denen verschiedene, aufeinander bezogene Vorstellungen von Zeit verdeutlicht werden. Die „strukturelle oder immanente Bildzeit“6 der ortsgebundenen Kunst, die Zeit der Betrachtung als auch das künstlerische Denken von Zeit werden damit als wechselseitiges Zusammenspiel von verschiedenen temporalen Pluralitäten thematisiert. Time-Motion I 109
Ort und Zeit Die Projekte der Land Art zeichnen sich durch eine Verbindung zu ihrem Ausführungsort aus. Die an den Erdboden gebundenen Arbeiten sind durch Entfernen oder Hinzufügen von Material entstanden und schreiben sich als „Formen des Markierens“ dem Ort ein,7 mit dem sie zudem auch in historischer, geographischer oder klimatischer Beziehung stehen.8 Im Laufe der Zeit eintretende topologische Veränderungen wirken sich auf die Gestalt und Sichtbarkeit der Land Art aus: Michael Heizers „Double Negative“ wurde in einem Erosionsgebiet ausgeführt, so dass die Arbeit immer weiter abgetragen wird und ihrem eigenen Zerfall entgegenarbeitet und Robert Smithsons am Salt Lake von Utah ausgeführte „Spiral Jetty“ versank zunächst über einen längeren Zeitraum durch einen vorübergehenden Anstieg des Wasserpegels des Salzsees. Auch die ortsgebundene Wahrnehmung der Land Art ist an eine körperliche und damit auch zeitlich bedingte Anwesenheit geknüpft: Sie entfaltet sich durch die Bewegungen des Körpers des Betrachters und ist gebunden an die Vorstellung einer Begehung des Raumes – von einem Ort zum anderen oder von einer Wahrnehmung in eine andere. Bereits im 19. Jahrhundert gelten Passagen als Durchgänge, die nicht zum Verweilen einladen, sondern als Räume in einer durch sie hindurchgehenden Bewegung erschlossen werden und dabei als ästhetische Erfahrungsräume fungieren.9 Das Wort Passage bezeichnet als Durchgang auch eine Versetzung des sich-bewegenden Körpers. Als Übergang in einen anderen Zustand, der aus der Bewegung des Gehens resultiert und der sich nie vollkommen verwirklicht, indem er in jedem Moment neu in Aussicht gestellt wird, fungieren Passagen als hybride Orte, die ästhetische Eigenzeiten erzeugen. Bei Rosalind Krauss gilt die Passage als Bedingung der Kunst der Moderne. In „Passages in Modern Sculpture“ greift Krauss zunächst Gotthold Ephraim Lessings Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“ von 1766 auf.10 Lessings Betonung der Trennung einer Erfahrung von Raum- und Zeitkünsten, wobei eine Differenz zwischen den als statisch aufgefassten Bildkünsten und der als zeitlich begriffenen Poesie etabliert wird, bietet bei Krauss den Ausgangspunkt für eine Betrachtungsweise, die davon ausgeht, dass selbst in den als räumlich aufgefassten Künsten seit der Moderne Raum und Zeit nicht voneinander getrennt werden können, vielmehr deren Wechselverhältnis als grundlegend für die Erfahrung des Skulpturalen angenommen wird. Indem Projekte der Land Art körperlich erfahren werden können, spielt auch die Zeitlichkeit der Wahrnehmung eine besondere Rolle, als „experience of a moment-tomoment passage through space and time.“11 Zeitlichkeit und Materialität des Skulpturalen wird in einem Wechselverhältnis entworfen – die Zeit der Betrachtung steht in Zusammenhang mit den Verlagerungen, Schichtungen und Versetzungen von Material: „And with these images of passage, the transformation of sculpture – from a static, idealized medium to a temporal and material one [...] is fully achieved.“12 Die monumentalen Projekte der Land Art verhandeln durch ihren Umgang mit Erdmassen eine Ausweitung der Dimension des Skulpturalen. Als mit der Natur verbundene Formen verdichten sie den Bezug zum Material und dessen ortsgebundener Erfahrung und stel110 I Samantha Schramm
len sich zugleich als nicht mehr eindeutig von ihrer Umgebung abgrenzbare, im Auflösungsprozess begriffene Objekte aus. Im Folgenden möchte ich anhand von Michael Heizers „Double Negative“ und Robert Smithsons „Spiral Jetty“ eine Raum-Zeit-Dichotomie entfalten, die verdeutlicht, dass Konzeptionen von Zeit auch für die Projekte der Land Art bedeutsam sind. Zugleich zeigt sich an den Positionen von Heizer und Smithson ein gegensätzlicher Umgang mit der Auffassung von Skulpturalität: Während sich die Negativform von „Double Negative“ durch eine Verschiebung von Material auszeichnet, die eine Abwesenheit erzeugt, damit allerdings eine skulpturale Anwesenheit ausdrückt, so entsteht „Spiral Jetty“ als eine durch Anhäufung von Material erzeugte Positivform, welche die Erfahrung einer Aktualität als Leere vermittelt.
Zeitliche Passagen der Skulptur: Michael Heizers „Double Negative“ Michael Heizers „Double Negative“, eine Erdarbeit,13 die auf der Hochebene des Mormon Mesa in einem Erosionsgebiet nordwestlich von Overton in Nevada in den USA zwischen 1969 und 1970 ausgeführt wurde, ist in zweierlei Hinsicht als raum-zeitliche Intervention zu verstehen: Durch die natürliche Erosion wird das Material nach und nach abgetragen, so dass sich „Double Negative“ zunehmend selbst auflöst; zudem ist die zeitliche Wahrnehmung des Ortes durch einen Besucher zentraler Bestandteil der künstlerischen Strategie. Michael Heizer beschreibt das Konzept seiner Arbeiten in einem Interview mit Julia Brown in dem Katalog „Michael Heizer – Sculpture in Reverse“, der 1984 anlässlich der Ausstellung am Museum of Contemporary Art in Los Angeles erschien, folgendermaßen: „I became involved with measurements of architecture, and have since become interested in traditional object sculpture, in particular the definition of an object and the nature of its presentation; the base, and/or amature. I’m involved in sculpture that can be produced outside of the art community and without the use of art materials; sculptures made of materials such as dirt, gravel and rock. I’m also interested in the dialectic opposite to this position.“14
Der Besucher von „Double Negative“ wird auf seine eigene Wahrnehmung zurückgeworfen, indem die Negativform im Grunde genommen eine Abwesenheit des Objektes ausdrückt. Für Heizer sind es insbesondere seine aus Negativformen konstituierten Projekte, welche die phänomenologischen Aspekte am deutlichsten verwirklichen: „From my point of view, the totally negative works are phenomenological. There is no indication of why they are there, or what happened to the void material. The Double Negative, due to gravity, was made using its own substance, leaving a full visual statement and an explanation of how it was made. In Double Negative there is the implication of an object or form that is actually not there. In order to create the sculpture material was removed rather than accumulated. The sculpture is not
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a traditional object sculpture. The two cuts are so large that there is an implication that they are joined as one single form. The title Double Negative is a literal description of two cuts but has metaphysical implications because a double negative is impossible. There is nothing there, yet it is still a sculpture“15
Materialität ist abwesend, die Leere im Mittelpunkt verdrängt geradezu jegliches Volumen von Form und doch beschreibt Heizer „Double Negative“ weiterhin als Skulptur, durch eine prozessuale Auffassung von Zeit als Erfahrung einer Verschiebung von natürlichem Material. Bei der Entstehung von „Double Negative“ wird eine Einkerbung erzeugt, indem Erde über die Kante geschoben wird, deren Form wiederum eine organisch erscheinende Anwesenheit von Material suggeriert: „As the volume of material grew, the length of the cut became greater and the base longer. Ultimately, the decisive factor in recognizing the completion of the work depended upon the volume and shape of the two spills or spoils. Even though they look like the ‚results‘ of the cuts they actually become the final forms to complete the work. The cuts were kept active, to produce material, until the gravity-formed volumes appeared to become balanced and related visually. In other words, the cuts in the mesa became material sources for the spills. Even though the spills look random, they were carefully developed through continuous cutting and pushing, until they assumed sculptural presence. The cuts simply provided the material. Both, however, had to relate to each other.“16
Das Wechselverhältnis zwischen der Leere der Einschnitte und dem verschobenen Material erzeugt einen Zustand, den Heizer als sculptural presence beschreibt. Das eigentlich leere Innere von „Double Negative“ vermittelt ein „implied volume“,17 das in den Abhang hinein verlagert wird. Die Relokalisierung von Material erzeugt eine Erfahrung von struktureller Zeit, die durch Schichtungen und deren Veränderungen erzeugt wird. Die Präsenz des Skulpturalen definiert sich durch ihre Instabilität, indem der Erdausschub zunehmend abgetragen wird. Heizer sieht den Bezug seiner Projekte zur Natur als Grundlage, um ihre Wahrnehmungsmodalitäten in den Vordergrund zu stellen: „I became involved with phenomenological impact rather than interior artifice.“18 Anstelle der Abgrenzung der Kunst durch den Museumsraum tritt die ortsspezifische Wahrnehmung der außerhalb, in den Wüsten- und Prärielandschaften situierten Projekte. Heizers in großem Maßstab realisierte Erdarbeiten beziehen sich bereits durch ihre Größenverhältnisse auf den menschlichen Körper, wobei die ortsspezifischen Strukturen als Korrelate des eigenen Körpers beschrieben werden: „Man will never create anything large in relation to the world – only in relation to himself and his size.“19 Die durch eine Verschiebung von Material erzeugten, physisch erfahrbaren Ortsveränderungen entwickeln eine temporal bedingte Präsenz, die auch durch die monumentalen Maßstäbe bedingt ist: „A statement about anything physical becomes a statement about its presence.“20 112 I Samantha Schramm
In den 1970er-Jahren thematisiert Rosalind Krauss die Wahrnehmungsbedingungen von „Double Negative“ als abhängig von der Erfahrung des Betrachters: „Because of its enormous size, and its location, the only means of experiencing this work is to be in it – to inhabit it in the way we think of ourselves as inhabiting the space of our bodies.“21 Krauss argumentiert, dass die zwei gegenüberliegenden Einschnitte von „Double Negative“ den Blick des anderen auf die eigene Person spiegeln und so ein alternatives Bild des Selbst hervorgerufen würden: „It [„Double Negative“] causes us to mediate on a knowledge of ourselves that is formed by looking outward toward the responses of others as they look back at us. It is a metaphor for the self as it is known through its appearance to the other.“22 Auch wenn ich der von Lacan geprägten Interpretation von Rosalind Krauss nicht folgen möchte, tritt die Zeitlichkeit der körperlichen Erfahrung von „Double Negative“ in den Vordergrund, die durch das sukzessive Betrachten der Erdspalten und durch die eigene Wahrnehmung innerhalb der Arbeit hervorgerufen wird. Während die Zeitlichkeit der freistehenden Skulptur, die sich in ihrer strukturellen Zeit sowie durch ihre Dreidimensionalität, die durch die Bewegung des Betrachters um den skulpturalen Körper herum erschlossen wird, zeigt, entwirft die Land Art einen in und durch das ortsspezifische Material hindurchgehenden Weg. Dieses aus dem Gehen resultierende und als Passage beschreibbare Durch löst eine umkreisende Bewegung der allansichtigen Skulptur, die wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückführt, ab. Zeitlichkeit entsteht als Modalität der Skulptur, der aus der Fortbewegung resultierenden Wahrnehmung ihrer unterschiedlichen Ansichten und sich verändernden Schichtungen von Material. Der Betrachter erfährt sich gleichzeitig mit „Double Negative“, das sich nicht als Ganzes, sondern in Abschattungen präsentiert und sukzessive erfahren werden kann. Das Werk ist nicht als einheitliche Struktur erfassbar, sondern offenbart sich aus verschiedenen Positionen jeweils in unterschiedlichen Ansichten. Das Skulpturale wird als zeitlich konstituiertes Dazwischen erfahrbar, als Passage zwischen unterschiedlichen Sichtbarkeiten, die durch die gegenüberliegende Erdspalte den Blick auf das Anderswo beinhalten.
Sequenzen, Repliken und kristalline Strukturen: Robert Smithsons „Spiral Jetty“ Robert Smithsons „Spiral Jetty“, eine aus Geröll und Basaltgestein im Salzsee aufgetragene, insgesamt etwas mehr als 400 Meter lange Spiralform, wurde 1970 am Salt Lake in Utah in den USA in der Nähe der Golden Spike National Historic Site realisiert.23 Der Ausführungsort von „Spiral Jetty“ verweist auf eine vergangene Zeit: Relikten aus der Vergangenheit, darunter alte Baracken, Molen und Überreste von Ölförderanlagen bestimmen den Ort. Der wechselnde Wasserpegel des Sees, die durch den hohen Salzgehalt hervorgerufene an manchen Tagen leicht rötlich variierende Färbung des Wassers und die damit einhergehende Ablagerung von Salzkristallen führen zu einer ständig sich verändernden Sichtbarkeit der Spirale.24 Time-Motion I 113
„Spiral Jetty“ offenbart eine Auffassung des Skulpturalen, das sich auf unterschiedliche Variationen von in ihrer zeitlichen Entstehung differierenden Erscheinungsformen bezieht. Die strukturelle Zeit entfaltet sich weniger in der aktuellen Gestalt der Spirale als vielmehr durch fortwährende Veränderungen ihrer sich von Kristallen überlagernden und durch Wetterbedingungen wieder abtragenden Schichtungen. „Spiral Jetty“ verhandelt zeitliche Prozessualität jenseits einer reinen Präsenz des Ortes, indem sie sich nicht als Aktualität, sondern in unterschiedlichen Inskriptionen von Zeitlichkeit in Form von Sequenzen vermittelt, die auch George Kubler in „The Shape of Time“ von 1962 thematisiert.25 Kubler beschreibt Zeit als Aktualität, die sich als Leere zwischen Vergangenheit und Zukunft manifestiert; ihre Präsenz tritt daher zugunsten von Sequenzen zurück, welche zugleich auf „die Unordnung der Zeit und die Diskontinuitäten in historischen Prozessen“ verweisen.26 Die Form der Zeit offenbart sich nicht im Sinne einer historischen Entwicklung, sondern Kublers Ziel ist es, die morphologischen „Probleme der zeitlichen Dauer von Serien und Sequenzen“ zu thematisieren.27 Kubler bezeichnet zugleich ein Wechselverhältnis von Zeit und Dingen, deren Sequenzen und zeitliche Abfolgen erst die Form der Zeit ausdrücken, wobei sich die Aktualität jeweils dem Zugriff entzieht: „Aktualität ist [...] das leere Intervall, das auf ewig durch die Zeit schlüpft: es ist der Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft: die Nahtstelle des umgebenden Magnetfeldes an den Polen, so unendlich klein und doch existent. Es ist die zwischen dem Zeitlauf liegende Pause, wenn nichts geschieht. Es ist die Leere zwischen den Ereignissen.“28
Während Aktualität als einzige Zeitform erfahren werden kann, so kann das, was in d er Vergangenheit, am Anfang und am Ende von Sequenzen von Ereignissen steht, nur noch als schwaches Signal, als kommunikative Vermittlung, wahrgenommen werden.29 Zugleich kann ein Ereignis erst dann benannt werden, wenn es bereits Geschichte ist, d. h. die Lösungsketten eines Systems, die Klassifizierungen der Sequenzen, welche den Zusammenhang von Ereignissen herstellen, erkannt werden können: „Eine Klassifizierung in Sequenzen setzt einen inneren Zusammenhang der Ereignisse voraus und erweist dabei gleichzeitig das Sporadische, Unvorhersehbare und Unregelmäßige ihres Eintretens.“30 Auch wenn sich die Dinge in primäre Objekte und deren Repliken gliedern, so bleiben die Sequenzen durch mangelndes Wissen nicht immer erkennbar.31 Kubler spricht damit von der Unmöglichkeit Aktualität zu erfassen, indem wir unsere Position im Verhältnis zum Strom der Zeit nur andeutungsweise reflektieren können: „Wir kennen Zeit nur indirekt durch das, was in ihr geschieht: durch die Beobachtung von Dauer und Wandel; durch die Abfolge von Ereignissen und die dazwischenliegenden Phasen der Unveränderlichkeit; und indem wir unterschiedlich lange Zeitabstände zwischen den Veränderungen wahrnehmen.“32
Damit wird eine Krise der Aktualität beschrieben, die sich bei Smithson zugleich in der Negation von skulpturaler Präsenz sowie durch eine Abgrenzung einer formalistisch 114 I Samantha Schramm
gedachten Gegenwärtigkeit, wie sie Clement Greenberg und Michael Fried vertreten, zeigt.33 In dem für den Bezug zu Kubler zentralen Aufsatz „Quasi-Unendlichkeiten und das Schwinden des Raums“ bezeichnet Smithson Formen von Sequenzen, die zugleich Aktualität markieren: „Anfänge und Enden werden als unscharfe Ebenen der ‚Aktualität‘ in die Gegenwart projiziert.“34 Die Aktualität wird zum flüchtigen Referenzpunkt: „Die Zukunft durchkreuzt die Vergangenheit als eine unerreichbare Gegenwart. Die Zeit verschwindet in einer ewigen Gleichheit.“35 Die Objekte verweisen auf zeitliche Abschattungen und entziehen sich somit einer in ihrer Gegenwärtigkeit erfahrbaren Präsenz. Vergleichbar mit Kubler steht Smithson einer nach biologischen Metaphern, als Fortschrittsgeschichte ausgerichteten Auffassung der Kunstgeschichte kritisch gegenüber. Stattdessen entwirft er eine Zeitauffassung, die jeglichen Fortschritt nivelliert, und beschreibt die Aktualität als Leere, die auf verschiedene diachrone Zeitschichtungen verweist. Smithsons Bezug zu Kubler lässt sich zugleich aus der Sicht einer skulpturalen Zeitlichkeit perspektivieren, wobei Smithson das Verschwinden einer biologischen Auffassung zeitlicher Ordnungen im Bereich der Skulptur anhand von Arbeiten von Alberto Giacometti, Ruth Vollmer und Eva Hesse verdeutlicht. Deren Umrahmungen eines Inneren umhüllen eine Leere oder verweisen auf die Instabilität einer als zeitlich aufgefassten Materialität. Smithson zufolge zeichnet sich beispielsweise Vollmers „Obelisk“ durch eine Abwesenheit von Zeit aus: „Die Materie [...] verweigert und verhindert alle Aktivität – sie hat keine Zukunft.“36 Eine vergleichbare Auffassung einer der Zeit enthobenen und gleichzeitig von Zeit durchdrungenen Materialität lässt sich anhand von Smithsons Dialektik von Ort und Nicht-Ort verdeutlichen. Bei Smithsons „Nonsite, Franklin, New Jersey“ (1968) verweisen die entnommenen Gesteinsbrocken auf den Ort in Franklin, die in fünf trapezförmigen Behältern auf dem Boden gezeigt werden. Ein weiterer Verweis zum Ort wird durch Luftbildfotografien hergestellt, die die Form der Behälter auf dem Boden annehmen. Statt einer unmittelbaren Wahrnehmung von skulpturaler Dichte vermittelt die Installation Materialität als Negation von Präsenz – die rohen Gesteinsbrocken erscheinen grob in den Behältern geschichtet und suggerieren zusammen mit den Fotografien einen Verlust der Präsenz des Ortes. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen den akkuraten skulpturalen Behältnissen und dem rohen Material. Bei anderen Installationen, wie „Palisade Edge Water New Jersey“ (1968), scheinen die Gesteinsbrocken ihr skulpturales Behältnis zu sprengen – zwischen ihnen ergibt sich eine Leere, die zugleich auf die Abwesenheit des Ortes und dessen Aktualität verweist. Skulptur als wechselseitige Öffnung und Schließung – eine physisch spürbare Evokation von anwesender Abwesenheit. Smithson bezieht sich auf das Verhältnis einer endlosen Verdoppelung und Referenzbildung, wobei er den Nicht-Ort als Spiegel und Ort als Spiegelung beschreibt: „Es gibt eine Dialektik zwischen innen und außen, geschlossen und offen, Zentrum und Peripherie. Es geht immer weiter und mutiert ständig in diese endlose Doppelung, so daß ein Nicht-Ort als Spiegel fungiert und der Ort als Reflexion. Existenz wird zur zweifelhaften An-
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gelegenheit. Man steht einer Nichtwelt gegenüber – oder dem, was ich einen Nicht-Ort nenne. Das Problem ist, daß man sich ihm nur unter seiner eigenen Negation nähern kann.“37
Die Abbilder und Relikte im Galerieraum bleiben als Spuren des unmittelbar wahrnehmbaren und begehbaren Ortes zurück; der damit allein durch die Existenz des Nicht-Ortes als letzte Referenzmöglichkeit verhandelt wird. Smithson entwirft ein Paradox der wechselseitigen, oszillierenden Referenzen unterschiedlicher Ortskonzeptionen, wobei der Ort nicht als Ursprung, sondern bereits als Spur eines Prozesses erscheint: „Alles verschwindet einfach. Die Orte weichen in die Nicht-Orte zurück, und die NichtOrte weichen wieder zu den Orten zurück. Es geht immer vor und zurück, hin und her.“38 Die Dialektik von Ort und Nicht-Ort beinhaltet eine Auffassung von Zeit, die sich zwischen den gegenseitigen Bezugnahmen und nicht als chronologischer Fluss entfaltet. In diesem Prozess des Hin und Her, eines Oszillierens zwischen verschiedenen Räumen und Zeiten, ermöglicht die Dialektik von Ort und Nicht-Ort schließlich auch eine Auffassung der Zeitlichkeit des Skulpturalen als wechselseitige Referenz, die über eine von Smithson zuweilen ebenfalls betonte entropische Abwesenheit und Gleichförmigkeit von Zeit hinausgeht.39 Aus der Leere entstehen Schichtungen, als eine quasi filmische Zeitlichkeit, in der Vergangenheit und Gegenwart im virtuellen Bild zusammenfallen: Entropie wird zur Kinematographie. Als Reisender auf der Suche nach künstlerischen Orten entwirft Smithson die Umgebung seiner späteren Arbeit „Spiral Jetty“ als Erfahrung einer anderen Zeitlichkeit: „Als ich diesen Ort sah, vibrierte er bis an den Horizont; er erschien wie ein immobiler Zyklon, und das flimmernde Licht erweckte den Eindruck, als würde die ganze Landschaft beben. [...] Der Ort begann zu rotieren, umschloß sich selbst in einer immensen Rundung. Aus diesem kreisenden Raum tauchte die Möglichkeit der Spiral Jetty auf. Keine Ideen, keine Konzepte, keine Systeme, keine Strukturen, keine Abstraktionen konnten gegen diese Evidenz bestehen. Meine Dialektik von Ort und Nicht-Ort verwirbelte zu einem unbestimmbaren Zustand, in dem Festes und Flüssiges ineinander verliefen. Es war, als schwankte das Festland in pulsierenden Wellen, während der See unbewegt stillstand. Das Seeufer wurde zum Rand der Sonne, eine brodelnde Krümmung, eine Explosion, die in einem glühenden Feuerschwall aufstieg. Kollabierte Materie fiel in den See und spiegelte sich in Form einer Spirale.“40
Der Ort als bewegte, filmische Sequenz, in der die Möglichkeit der Spirale aufgeworfen und zugleich ein statischer Ortsbezug infrage gestellt wird. Diese kinematographisch anmutenden Beschreibungen nehmen die Ästhetik des Filmes zu „Spiral Jetty“ vorweg und entfalten über zeitlich bedingte Veränderungen des Ortes hinausgehend ein Denken von Zeit. Der Mittelpunkt der Spirale bleibt unbetretbar – die Bewegung findet kein Zentrum und oszilliert zwischen den unterschiedlichen, sich überlagernden Ansichten und Horizonten. Der Betrachter befindet sich zwischen den Zeiten und deren Entfaltung, denn bei der Bewegung auf der Spirale – Jetty bedeutet Mole bzw. Steg – 116 I Samantha Schramm
befinden sich die jeweils bereits abgeschnittenen Windungen neben den noch zu erreichenden Ausläufern. Smithson beschreibt, wie der Maßstab von „Spiral Jetty“ „schwankt, je nachdem, wo der Betrachter steht“.41 Maßstab und die damit einhergehende Situierung des Betrachters werden zur Unsicherheit, die eine zeitliche Erfahrung von Bewegung und Instabilität des Materials impliziert. „Für mich operiert die Maßstäblichkeit mit Ungewißheit. In der Maßstäblichkeit der Spiral Jetty zu sein heißt, nicht darin zu sein. Auf der Ebene der Augen führt der Ausläufer jemanden in einen undifferenzierten Materiezustand. Der nach unten gerichtete Blick springt von einer Seite zur anderen, findet zufällige Ablagerungen von Salzkristallen an den inneren und äußeren Rändern, während die gesamte Masse zu einem Echo des unregelmäßigen Horizonts wird. Jeder kubische Salzkristall bildet in seinem Molekulargitter ein Echo der Spiral Jetty.“42
Smithsons Betrachtung von „Spiral Jetty“ suggeriert ein Denken in unterschiedlichen Sequenzen, die zwischen Vergangenheit und Zukunft wechseln, zeitliche Brüche umfassen und die gleichermaßen gegenseitig aufeinander Bezug nehmen, so dass reale Gestalt, mentales und virtuelles Bild der Spirale oszillieren. Smithson entwirft mit „Spiral Jetty“ eine Bewegung, die sich kreisförmig um den auf dem spiralförmigen Steg laufenden Betrachter dreht und einen durch den Fluss der Bilder hervorgerufenen Zustand der Orientierungslosigkeit und des Schwindels hervorruft, den Smithson selbst als Erfahrung von „fluktuierenden Resonanzen“ beschreibt.43 Die strukturelle Eigenzeit entsteht damit auch in Bezug zur Landschaft, die jeweils ein zeitlich aufgefasstes Echo bietet. „Spiral Jetty“ ist als eine „Intensivierung und Verlängerung von Spiralen, die durch den Raum und die Zeit schwingt“, zu verstehen.44 Die Spirale zeichnet sich durch kristalline Strukturen aus: Durch den hohen Salzgehalt des Wassers sind die Steine teilweise bedeckt von Salzkristallen, während die Kristallform auch einen Bezug zum kinematographischen Bild formuliert. In vergleichbarer Weise entwirft Gilles Deleuze in Bezug auf den Film das Kristallbild als vergängliches Bild, in dem sich das aktuelle Bild jederzeit im Virtuellen, und damit auch im Nichts verlieren kann.45 Die damit einhergehende paradoxe zeitliche Positionierung beschreibt Deleuze folgendermaßen: „Wenn das gegenwärtige Bild nicht gleichzeitig schon vergangen wäre, dann würde die Gegenwart niemals vergehen. Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert vielmehr mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Die Gegenwart ist das aktuelle Bild, und seine zeitgleiche Vergangenheit ist das virtuelle Bild, das Spiegelbild.“46
Während bei Gilles Deleuze das Kristallbild als Denkfigur für die unterschiedlichen Zeitlichkeiten des Filmes agiert,47 oszilliert „Spiral Jetty“ zwischen Gestalt und virtuellem, durch Spiegelungen hervorgerufenem Bild, das sich im Nichts verlieren kann, und eine in Bewegung gedachte Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, Gegenwärtigem und Vergangenem als spiralförmige Bewegung entwirft. Time-Motion I 117
Spuren des Materials – Spuren der Zeit „Double Negative“ und „Spiral Jetty“ zeichnen sich durch unterschiedliche skulpturale Prinzipien aus, die einer Negativform, welche durch Abtragen von Erdmaterial hervorgerufen wurde, sowie die einer Positivform, die durch Aufschüttung von Gestein entstanden ist. Mit jeweils unterschiedlichen Mitteln entfalten die Arbeiten eine ZeitRaum-Dichotomie, die verdeutlicht, dass eine Zeitlichkeit des Skulpturalen auch für die Projekte der Land Art bedeutsam ist, wobei in den ortsbezogenen Projekten und den Beschreibungen der Künstler der Raum dazu genutzt wird, verschiedene miteinander verbundene Temporalitäten zu pluralisieren. Zeitliche Schichtungen und Ablagerungen einer sich zunehmend in Auflösung begriffenen Materialität erzeugen im Unterschied zur Minimal Art nicht die Präsenz der Skulptur, sondern eine Abwesenheit zugunsten von Sequenzen und ihren Abschattungen. In ihrem Essay „The Dematerialization of Art“ von 1968 thematisiert Lucy Lippard konzeptuelle Kunst, die sich durch Prozesse der Dematerialisierung eines Objektes oder dessen kompletter Abwesenheit auszeichnet.48 Die von Lippard herangezogenen Arbeiten befinden sich zwischen den Polen „art as idea“ und „art as action“, wobei entweder eine Idee in ein Konzept oder Materie in einen Zustand der Energie oder der „timemotion“ umgewandelt wird, die auch den als nicht-künstlerisch begriffenen Umraum mit umfasst.49 Zeit und Bewegung durch den Raum bedingen sich wechselseitig: Das Material der Land Art wird dazu verwendet, den Zustand der time motion, einer zeitlichen und raumbezogenen Bewegung und deren Brüche zu verdeutlichen. Die materielle Gestalt ist bedingt durch eine fortwährende Veränderung des Ortes und steht in einem sich durch Flüchtigkeit und Instabilität auszeichnenden, performativen Bezug zum Betrachter. Die Reise zur Land Art beinhaltet eine Suche nach Präsenz, die sich durch ein Wechselverhältnis von Vergegenwärtigung und Abwesenheit auszeichnet. Gegenwärtig-Sein und Abwesend-Sein, physisch anwesendes Material und virtuelles Bild umschreiben eine als zeitlich aufgefasste Suche – die der Reise als Passage von einem Zustand in einen anderen sowie der Entfaltung von Zeitlichkeit des Materials und dessen Erzeugung von in Sequenzen gedachten Bewegungen. Die hier beschriebene Land Art verdeutlicht Inskriptionen von Zeitlichkeit als Überlagerungen von materiellen Schichtungen, die letztendlich auch die mediale Vermittlung der Arbeiten umfasst und sprachliche Handlungen einschließt. Als sich beständig auflösende und weiter vergehende Spuren von Prozessen stellen die Projekte eine immer schon vergangene Zeit aus: „[D]ie Spur, die als Spur nur da ist, weil das, wovon sie Spur ist, darin abwesend und unerreichbar ist“.50 Emmanuel Lévinas verwendet den Begriff der Spur außerhalb eines Zeichenbegriffs und begreift die Spur als „Punkt, an dem sich die Welt zu Vergangenheit und Zeit beugt“.51 Die Spur ist immer bereits jenseits einer Erscheinung, sie ist das, was zurückbleibt. Indem sie nichts repräsentiert, befreit sie sich geradezu von jeglicher Intentionalität eines Zeichens: „Die Spur als Spur führt nicht nur zur Vergangenheit, sondern ist das Übergehen selbst zu einer Vergangenheit, [...] die alle Zeiten eint.“52 Ein Besuch der Land Art setzt eine Auseinan118 I Samantha Schramm
dersetzung mit den Überresten des Ortes voraus, die teilweise auch eine Enttäuschung über den nicht zu erreichenden Zustand der Präsenz einschließt und mit dem Gefühl einhergeht, Arbeiten zu betrachten, die sich kontinuierlich entziehen, die ihr eigenes Vergehen als zeitlichen Prozess ausstellen und sich in jedem Moment erneut verflüchtigen und auf ein Anderswo hinweisen. Und es ist gerade dieser Übergang, der kontinuierliche Entzug, in dem erneut die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit erscheint.
Anmerkungen 1 Martin de la Soudière, Le paradigme du passage, in: Communications 70, 2000, S. 5–31, hier S. 5. Hervorhebung im Original. „Passage bezeichnet eine Versetzung, den Akt des sich Versetzens. Ein Gehen in Richtung eines anderswo (daneben, dahinten, etwas weiter, etwas höher ...), ein Schritt, ein Weitergehen, ein Prozess der Transformation, der dabei ist stattzufinden, aber noch nicht ausgeführt ist; genauso wie der Ort, an dem der Prozess sich entfaltet, seine Spur oder sein Träger, ob dies nun im morphologischen, räumlichen, geographischen oder metaphorischen Sinne ist.“ Eigene Übersetzung. 2 Vergleichbare Konzeptionen der Passage entstanden im 19. Jahrhundert durch die Konzeption des Moving Panorama. Vgl. dazu Monika Wagner, Bewegte Bilder und mobile Blicke. Darstellungsstrategien in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, in: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Band 1), hg. von Harro Segeberg, München 1996, S. 171–189. 3 Für eine Verhandlung des Ortsbezugs sein exemplarisch genannt: Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (übers. von Christoph Hollender), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 21998, S. 334–374; Rosalind E. Krauss, Skulptur im erweiterten Feld (übers. von Jörg Heininger), in: dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne (Geschichte und Theorie der Fotografie 2), hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000, S. 331–346; Miwon Kwon, One Place After Another. Notes on Site Specificity, in: October 80, 1997, 85–110; Eva Ehninger, Vom Farbfeld zur Land Art. Ortsgebundenheit in der amerikanischen Kunst 1950–70, München 2013; Samantha Schramm, Land Art. Ortskonzepte und mediale Vermittlung, Berlin 2014. Das Ende der Moderne und der Beginn der Postmoderne, welche sich auch in der Land Art niederschlagen, wird auch als Umschwung vom einer Thematisierung der Zeit zugunsten des Denkens von Raum beschrieben: „The stakes are evidently different; time governs the realm of interiority, in which both subjectivity and logic, the private and the epistemological, self-consciousness and desire, are to be found. Space, as the realm of exteriority, includes cities and globalization, but also other people and nature. At the very least, time had become a nonperson and people stopped writing about it.“ F redric Jameson, The End of Temporality, in: Critical Inquiry 29/4, 2003, S. 695–718, hier S. 697. 4 Krauss (wie Anm. 3), S. 335. 5 Eva Ehninger hat argumentiert, wie die formalen Bedingungen der ortsspezifischen Land Art eine Rückkehr zu einer modernistischen Bildkritik verdeutlichen. Vgl. Eva Ehninger, Die Land Art als Film – Parallelen der Raumkonstruktion in Land Art und Film bei Walter De Maria und R obert Smithson, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 55/1, 2010, S. 109–127. Von den Betrachtungen von Eva Ehninger ausgehend wird im Folgenden eine Zeittheorie des Skulpturalen entwickelt. Dabei sollen auch meine eigenen Untersuchungen erweitert werden, indem nicht die mediale Vermittlung betrachtet wird, sondern das sich anhand der ortsgebundenen Arbeiten entfaltende Denken von Zeit.
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6 Guido Reuter, Zeitaspekte der Skulptur. Die strukturelle Zeit in plastischen Bildwerken, in: Bilderzählungen – Zeitlichkeit im Bild, hg. von Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner und Guido Reuter, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 65–83, hier S. 69. 7 Krauss (wie Anm. 3), S. 343. 8 Als grundlegende Studie zur Materialität der Land Art sei genannt: Anne Hoormann, Land Art. Kunstprojekte zwischen Landschaft und öffentlichem Raum, Berlin 1996. 9 Vgl. Stephanie gomolla, Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne (Saarbrücker Beiträge 46), Würzburg 2009. 10 Rosalind E. Krauss, Passages in Modern Sculpture, London/Cambridge 142001, S. 1–3. 11 Ebd., S. 282. 12 Ebd., S. 283. 13 Im US-amerikanischen Sprachraum werden die Arbeiten vorwiegend als earthworks bezeichnet. Vgl. dazu Suzaan Boettger, Earthworks. Art and the Landscape Since the 1960s, Berkeley 2002; John Beardsley, Earthworks and Beyond. Contemporary Art in the Landscape, New York 1989. Für einen umfassenden Überblick über die Arbeiten von Michael Heizer sei außerdem genannt: Philipp von Rosen, Michael Heizer. Outside and Inside the White Cube, München 2005. 14 Michael Heizer, Interview. Julia Brown and Michael Heizer, in: Sculpture in Reverse (Ausstellungskatalog Los Angeles), hg. von Julia Brown, Los Angeles 1984, S. 8–43, hier S. 14. Ich zitiere aus dem Interview. Siehe auch Anmerkung Fußnote 15 ff. 15 Ebd., S. 15–16. 16 Ebd., S. 24. 17 Ebd., S. 36. 18 Ebd., S. 27. 19 Michael Heizer, The Art of Michael Heizer, in: Artforum 8/4, 1969, S. 32–39, hier S. 36. 20 Heizer (wie Anm. 14), S. 30. 21 Krauss (wie Anm. 10), S. 280. 22 Ebd. 23 Zu Smithsons Bezügen zur Geschichte des Salzsees vgl. Jennifer L. Roberts, Mirror Travels. Robert Smithson and History, New Haven/London 2004. Für eine ausführliche Thematisierung von „Spiral Jetty“ sei außerdem genannt: Philip Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003, S. 316–325. 24 Zur Auswahl des Ortes vgl. Robert Smithson, Spiral Jetty, in: Robert Smithson. Gesammelte Schriften, hg. von Eva Schmidt und Kai Vöckler, Köln 2000, S. 178–184. 25 Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung. Vgl. George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zu einer Geschichte der Dinge (übers. von Bettina Blumenberg), Frankfurt am Main 1982. Pamela Lee hat bereits auf die vergleichbaren Auffassungen von Zeit bei Robert Smithson und George Kubler hingewiesen. Ich möchte die Argumentation von Pamela Lee aufgreifen und im Hinblick auf das Skulpturale auf der einen Seite und über Smithsons Bezug zu Kubler hinausgehende Gedanken erweitern. Vgl. Pamela M. Lee, „Ultramoderne“. Or, How George Kubler Stole the Time in Sixties Art, in: Grey Room 2, 2001, S. 46–77. 26 Stephanie Stallschus, Die Dinge als Signale der Vergangenheit. Zum Verhältnis von Materialität und Medialität in Kublers Kunstgeschichte, in: Im Maschenwerk der Kunstgeschichte. Eine Revision von George Kublers ‚The Shape of Time‘, hg. von Sarah Maupeu, Kerstin Schankweiler und Stefanie Stallschus, Berlin 2014, S. 93–107, hier S. 103. 27 Kubler (wie Anm. 25), S. 30. 28 Ebd., S. 51. 29 Zum Bezug von Kubler und Smithson zur Kybernetik vgl. Lee (wie Anm. 25), S. 57–60.
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Kubler (wie Anm. 25), S. 74. Ebd. S. 80. Kubler (wie Anm. 25), S. 47. Zur Aktualität bei Kubler vgl. Lee (wie Anm. 25). Zur Abgrenzung Smithsons von der Theorie des Modernismus vgl. Lee (wie Anm. 25), S. 55. Robert Smithson, Quasi-Unendlichkeiten und das Schwinden des Raumes, in: Schmidt und Vöckler (wie Anm. 24), S. 54–57, hier S. 54. 35 Ebd. 36 Ebd. S. 56. 37 Robert Smithson, Fragmente eines Interviews mit P. A. [Patsy] Norvell, in: Schmidt und Vöckler (wie Anm. 24), S. 231–233, hier S. 232. 38 Ebd., S. 233. 39 Während Smithson in Fotografien und seinem Film von „Spiral Jetty“ einem entropischen Zustand entgegenarbeitet, so zeichnet sich seine Beschreibung der Spirale als filmisch gedachte Bewegung aus. Zu Smithsons entropischer Auffassung des Films vgl. Robert Smithson, Kunst durch das Kameraauge, in: Schmidt und Vöckler (wie Anm. 24), S. 170–173; Eva Schmidt, Et in Utah ego: Robert Smithsons ‚entropologisches‘ Kino, in: Robert Smithson. Zeichnungen aus dem Nachlass (Ausstellungskatalog Münster), Münster 1989, S. 42–64; Dies., Zwischen Kino, Landschaft und Museum. Erfahrung und Fiktion im Werk von Robert Smithson (1938–1973), Frankfurt am Main [u. a.] 1995. 40 Smithson (wie Anm. 24), S. 179. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Für einen Bezug von Smithsons Konzepte zur Philosophie von Gilles Deleuze seien genannt: Tom Holert, Strudel und Wüsten des Politischen. ‚Zabriskie Point‘, ‚Spiral Jetty‘ und die Grammatik der Entgrenzung, in: Kunst/Kino, hg. von Gregor Stemmrich, Köln 2001, S. 94–119; Andrew V. Uroskie, La Jetée en Spirale. Robert Smithson’s Stratigraphic Cinema, in: Grey Room 19, 2005, S. 55–78. 46 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2 (übers. von Klaus Englert), Frankfurt am Main 1991, S. 109. Hervorhebung im Original. 47 Zur Filmtheorie von Deleuze sei exemplarisch genannt: Oliver Fahle, Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze, in: Montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kultur 11/1, 2002, S. 97–112; Mirjam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003; Michaela Ott, Virtualität in Philosophie und Filmtheorie von Gilles Deleuze, in: Deleuze und die Künste, hg. von Peter Gente und Peter Weibel, Frankfurt am Main 2007, S. 106–120. 48 Vgl. dazu Lucy R. Lippard und John Chandler, The Dematerilization of Art, in: Dies., Changing. Essays in Art Criticism, New York 1971, S. 255–267, hier S. 255. 49 Ebd. 50 Sybille Krämer, Das Medium zwischen Zeichen und Spur, in: Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen, hg. von Erika Linz, Gisela Fehrmann und Cornelia Epping-Jäger, München 2005, S. 153–165, hier S. 163. 51 Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. und übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 31992, S. 28. 52 Ebd.
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Lutz Hengst
Skulpturale Spielarten der Spur Relativierungen moderner Zeitauffassungen in plastischen Künsten nach 1960
Vorbemerkung und skulpturhistorische Skizze: Von der Dauer zur Zeitgenossenschaft zur Revision Während traditionell Skulpturen oft schon materialiter gerade ihren Daueranspruch mitausstellen, betonen, so eine Ausgangsthese dieses Beitrags, erst in der Moderne Bildnisproduktionen Bezüge zur jeweiligen Entstehungszeit des Werks wirklich konsequent und ganz ausdrücklich. Verstärkt seit dem Kubismus fungieren Verfahren, Symbole und Objekte der Lebensgegenwart von Künstlern als eigentliche Leitthemen des Skulpturalen. Entsprechende Momente einer regelrechten Ver-Zeitgenossenschaftlichung und sodann besonders der technogenen Skulpturdynamisierung – von Picassos „Absinthglas“ über den Futurismus bis zur Land Art – rufe ich im Folgeabschnitt beispielhaft auf. Vor deren Hintergrund wiederum zeichnet sich eine spätere Zäsur ab: Attitüden der Rückwende auf Historisches und das Inszenieren von Spuren in der Kunst nach 1960. Insbesondere mit Blick auf Werke Nikolaus Langs aus dieser Phase, aber auch unter Einbezug einschlägiger Theoriebildungen werde ich in den späteren Abschnitten Aspekte einer gleichsam regressionsoffenen Verzeitlichung von Skulptur diskutieren. Doch solch ein Argumentationsgang baut in sich schon auf historische Vor- und Grundannahmen auf, die ich nun zunächst skizzieren möchte: Schon angesichts von Prozessen der Um- und Nachbearbeitung, die seit jeher in der Bildhauerei bekannt sind, scheint eine ereigniszeitliche Fokussierung auf die ursprüngliche Herstellung von Skulpturen, zudem auf eine erste Spanne der Rezeption und Distribution, limitiert. Zwar kann auch ein solcher Zugriff mittels einfacher und oftmals gar nicht leicht zu gewinnender Punkt-Chronologien folgenreich sein, etwa durch die forschungsbasierte nachträgliche Korrektur eines zuvor gewiss geglaubten Herstellungszeitpunkts oder durch die Neubestimmung eines Erstpräsentationskontextes von Werken, die das Bild von einer künstlerischen Schule, ja sogar kunsthistorische Epochenkonzepte ins Wanken bringen. Den linear-chronologischen Einordnungsmühen stehen jedoch mithin diachron-verlaufszeitliche Korrelationen gegenüber, die auch Phasen des bewussten Rückgriffs oder der Regression kennen. Im 20. Jahrhundert können sie sich sogar verstärkt im Material einer Skulptur an sich manifestieren, wenn dieses (wie z. B. im Fall des Einsatzes von Schokolade) gezielt so gesucht wird, um die Skulpturale Spielarten der Spur I 123
Spuren des Alterns in einem Maß am Werk zuzulassen, dass es weniger ein festes Stadium seiner Fertigstellung, sondern eines seiner Exposition hat.1 Wechselt man angesichts dieser Relativierungen zu einem Zeitbegriff im Zusammenhang mit Skulptur, der sich von der Fokussierung auf Momente der Primärpositionierung (Herstellungszeitpunkte, erste Rezeptionen) befreit und stellt stattdessen die Frage nach umfassenderer Teilhabe an Wechselfällen der Zeit- und Kulturgeschichte, spezifischer auch der Rezeptions- und Distributions- sowie der Materialgeschichte, so müssen diese Fragen selbstverständlich je sach-, orts-, zeit- und kulturspezifisch an bestimmten Werkgruppen oder Einzelbeiträgen diskutiert werden, um der Wandelbarkeit jeweiliger skulpturalkünstlerischer Konstellationen wenigstens näherungsweise gerecht zu werden. – Vielleicht aber bleibt hier einstweilen eine, zugegeben: sehr starke Rubrizierung so weit zulässig, um kursorisch zu sagen, dass es ungeachtet allen Wandels noch bis weit ins 19. Jahrhundert kein bildhauerisches Hauptziel war, Zeitgenossenschaft als solche auszustellen. (Unbestritten unterhielt, z. B. vermittels der dargestellten Sujets, auch die Skulpturproduktion bis dahin relevante Relationen zu Moden, Stil und Ästhetik, zu Sehgewohnheiten und Geschmack ihrer Epoche im Allgemeinen und der Auftraggeber im Besonderen. Allerdings rastet, an einem Beispiel verdichtet, noch eine schon ganz frühmodern, fast bis zu einer ersten Abstraktionsgrenze verschlankte Gestalt George Minnes nicht bei einer zeittypischen Ausdeutung symbolistischer Formensprache, sondern sucht eine eigene Gültigkeit zu realisieren, die sich, und darin nicht unähnlich traditioneller Skulpturproduktion, weit mehr ästhetischen oder auch theosophen Programmen der Dauer verpflichtet als purer Zeitgenossenschaft.) Im Rahmen eines (natürlich hinterfragbaren) Epochendenkens spricht unterdessen vieles für die eingangs vorgestellte These, dass Skulpturen sich seit der klassischen Moderne zuallererst und mit Emphase über Zeitgenossenschaft definieren ...
Von Picassos „Absinthglas“ zur techno- und ökomodernen Dynamisierung der Skulptur Betrachtet man ein kleines Schlüsselwerk moderner Bildhauerei, Pablo Picassos „Absinthglas“ aus dem Jahr 1914, dann meint man daran nicht nur den Weg in die Abstraktion ablesen zu können. Vielmehr zeichnet sich hier noch jene bildnerische Auseinandersetzung mit der, um 1900 neuen Entdeckung des optisch Unbewussten (Benjamin) ab, die zuletzt im Rahmen der Berlin-Vaduzer Ausstellung unter der Überschrift einer „lense-based sculpture“ anschaulich mitzuerfassen versucht worden ist. Zu dieser Ausstellung gleich etwas ausführlicher – zunächst zu Picassos Arbeit (Abb. 1): Das in einem halben Dutzend Versionen ausgefertigte, im Bauprinzip aber stets ähnliche Absinthglas stellt sich im Hauptteil als eine bemalte Bronzeplastik dar, die tatsächlich ein Trinkgefäß nachbildet, jedoch dabei in kubistischer Manier eine Multiperspektivität in der Erfassung eines solchen Gebrauchsgegenstands herausarbeitet, anstatt ,ansichtsnaturalistischer‘ bzw. perspektiv-konventioneller vorzugehen. Oben auf dem vollplastisch ausge124 I Lutz Hengst
führten Glas ruht zusätzlich ein damals handelsüblicher perforierter Edelstahllöffel, auf welchem schließlich ein wieder frei nachgeformtes Zuckerstück liegt. Nicht nur, dass sich damit Dinge der Alltagswelt, emanzipiert von einem etablierten Gattungskanon, einer bereits von der Naturansicht erheblich abstrahierenden plastischen Nachformung würdig erweisen: Auch ein vorgefertigtes Produkt (der Löffel) findet seinen Platz in diesem Werk. Gleichwohl überwiegen im „Absinthglas“ weiterhin bildnerische Anteile. Reinhold Hohl erkennt darin – im Rahmen seines Beitrags zu Georges Dubys Kompendium zur abendländischen Skulpturgeschichte – gar einen Einspruch gegen die historisch parallele, ultimativ serielle Verdinglichung plastischer Kunst (durch Duchamp) und legt Picassos Kleinskulptur dagegen folgende Idee unter: „Die Wirklichkeit läßt sich also vervielfältigen, ist Dutzendware; das Kunstwerk ist jeweils ein Einmaliges.“2 Wiewohl 1 Pablo Picasso, Das Absinthglas, 1914, Bronze, bemalt, Absinthlöffel, 21,5 x 16,5 cm, Philadelphia, solch ein Kontrast zu Duchamps ReadyMuseum of Art. mades interpretativ sehr auf einen Aspekt fokussiert scheint, markiert Picasso mit seinem Glas eine Art Zwischenposition zwischen skulpturaler Traditionsbindung und radikaler Objektkunst: Der vorgefertigte Löffel ist enthalten, trägt jedoch, wie beschrieben, eine Kleinskulptur (das ‚Zuckerstück‘) und liegt seinerseits auf einer Basis, die die bildnerische Grundleistung des Werkes ausmacht. Um nichts weniger greift die Arbeit in Motiv und Gegenstand direkt auf zeitgenössische Attribute des Bohème-Lebens zurück. Das Konzept von der Nacht- und Barexistenz eines dekadenten Künstlers, der sich von den überkommenen Normen bürgerlichen Lebens des 19. Jahrhunderts nihilistisch lossagt und im Rausch den kreativen Aufbruch des neuen Menschen imaginiert, findet im Absinth-Trinken eine symbolische Form. Diese künstlerisch aufzubereiten, weist Picasso, selbst Bohèmien, als echten Zeitgenossen der Avantgarde in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts aus. Hinzu kommt, dass die kubistische Facettierung bzw. Dekomposition der Ansicht eines Glases jene Dynamisierung der Wahrnehmung plastisch ausformt, die Picasso bereits in der Dekade zuvor produktiv zu machen suchte und so einen Bezugspunkt für weitere Avantgarde-Bildhauer setzte, die (wie Boccioni) das dynamische Moment noch stärker herausstellten. Skulpturale Spielarten der Spur I 125
In der oben erwähnten Ausstellung „lense-based sculpture“ (Berlin/Vaduz, 2014) hatte man plakativ dicht neben Umberto Boccionis Bronzeguss einer entschlossen schreitenden, wehend anthropomorphen Figur, „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ aus dem Jahr 1913 (Abb. 2), einige chronofotografische Auffächerungen von Bewegungsabläufen Étienne-Jules Mareys gesetzt (nebst der frappant quasi- oder protofuturistischen plastischen Umsetzung einer Vogelflug-Chronofotografie Mareys unter dem Titel „Décomposition du vol d’un goéland“ (dt. „Bewegungsphasen einer Seemöwe im Flug“) aus dem Jahr 1887). Herbert Molderings schreibt im Katalog zu der Schau:
2 Umberto Boccioni, Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum, 1913, Bronze, 119,7 x 86,4 x 82,2 cm, New York, MoMA.
„Die Fotografie musste sich selbst erst einmal aus einem Reproduktionsmittel der sichtbaren Welt in ein Instrument zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren verwandeln, bevor sie für die Bildhauerei als auch skulpturales Produktionsmittel interessant werden konnte. Dies geschah 1882 in Form der von dem französischen Physiologen ÉtienneJules Marey zu Zwecken der physiologischen und biomechanischen Bewegungsanalyse konstruierten chronofotografischen Kamera [...]. Indem die Chronofotografie schnellste Bewegungen wie den Vogelflug, an dessen zeichnerischer Analyse Leonardo 400 Jahre zuvor gescheitert war, [...] zeitlupenartig als Aufeinanderfolgen von Mikrobewegungen sichtbar machte, verschob sie den Horizont der für das menschliche Auge sichtbaren Zeit in eine völlig neue Dimension.“3
Mit Molderings Ausführungen wird nachvollziehbar, was mit einem Begriff der „lense-based sculpture“ angesprochen werden kann; und es wird einmal mehr fassbar, wie stark und zeitnah technische Innovationen um 1900 aus der Kunst heraus, insbesondere in der kubo-futuristischen Bildhauerei, referenziert werden. Das Referenzierte als solches scheint hier konkret nicht völlig frei von temporalen Widersprüchen – Molderings lässt seinen gerade zitierten Ausführungen alsbald den einschlägigen Hinweis folgen, dass aus der und auf die Chronofotografie das Bewegtbild bzw. der Film folge. Zunächst aber leistet diese selbst jedoch etwas ganz anderes: Sie zerlegt den fürs bloße Auge flüssigen Ablauf eines schnellen Bewegungskontinuums in eine Menge starrer ‚Stills‘. Dass solche Anstrengungen dennoch mentalitätsgeschichtlich vor allem, über die technikgestützte Aufschlüsselung bisher ungesehener Wirkzusammenhänge, die verbreitete (wenn auch nicht überall gleich verteilte) Begeisterung der Zeit für Beschleunigungsdynamiken ausdrücken – das soll mit dem Hinweis auf gewisse inhärente Widersprüche von Abbildungszweck und -ergebnis im Grund nicht bestritten werden. Im Widerstreit von Zeigeziel und dem dafür bereitgestellten Material findet sich zudem, wie es scheint, nur eine weitere Korrespondenz des Einsatzes von 126 I Lutz Hengst
Technobildern durch Pioniere wie Marey und dem künstlerischen Streben der Zeit. Ein Moment der Statik nämlich bleibt auch innerhalb der Bildhauerei noch dort sehr präsent, wo es programmatisch überwunden werden soll: Boccioni betonte in seiner Auseinandersetzung mit Chronofotografien in einer gewissen Distanz zu ebendiesen beispielsweise „die Plastizität der Muskeln“4 seiner Figuren, die trotz ihres Aufbruchsgestus’ in entsprechend vollplastischer Bronzeguss-Ausführung nicht immer eben leicht und frei bewegt wirken. Zwar situiert sich die futuristische Plastik so einerseits auf einer Linie mit der Begeisterung vieler Zeitgenossen für Dynamik und stellt diese Zeitgenossenschaft mit der jungen Technomoderne aus, kann sich aber andererseits noch nicht recht von der Materialschwere tradierter Fertigungstechnik lösen. Interessanterweise wird in Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Mainfest von 1909 die rasende Geschwindigkeit zum neuen Absoluten erklärt, das über Zeit und Raum herrsche, während sie sich doch eigentlich gerade nur im Verhältnis zu diesen definieren kann. Was sich da aber umso entschiedener artikuliert, ist die Totalität einer Aufbruchsvision. Mit ihr kommt zusätzlich zu einer Betonung der Zeitgenossenschaft nun also noch die temporale Akzentuierung der Zukunft in die Kunstproduktion. Dass die Zukunft, die Marinettis Manifest zum beginnenden 20. Jahrhundert prä-faschistisch als eine der Kriege visionierte, tatsächlich schon sehr bald etwas brachte, das große Teile der Menschheit unter den Vernichtungsdruck totalitärer Regime zwang, bedeutete bekanntlich auch für die Entwicklung avantgardistischer Bildhauerei eine Zäsur: Boccioni etwa starb, wie manche seiner Künstlerkollegen, im Ersten Weltkrieg; mit dem Zweiten mussten Hauptvertreter der verschiedenen Vor- und Zwischenkriegsavantgarden nach Übersee fliehen, während daheim die Diktatorenklassizismen dominierten. Der düstere Nachhall der letztgenannten, ihr in Summe verbissenes Festhalten an der Gestaltung von stark heroisierten, aber grundnaturalistischen Körpern besonders in der Monumentalplastik war nach 1945 zweifellos mitverantwortlich für den Erfolg einer Weiterentwicklungsund Wiederbelebungsbewegung abstrakter Kunsttendenzen aus der Zeit vor 1933; noch gefördert durch eine auswärtige Kulturpolitik der Vereinigten Staaten. Aus diesen kamen zugleich einige der wichtigsten Positionen, die erst zu einer Art (nach Lissitzky: zweiten) Vollendung der Abstraktionsideale im Medium der Skulptur beitrugen – und sodann zu deren anschließender Revision: Innerhalb weniger Jahre schufen Künstler wie Robert Smithson mit Beiträgen zur Minimal Art plastische Manifestationen der Abstraktion, der Reduktion auf farblich wie materiell variierte, doch durchweg geometrische Raumgestalten, um dann bereits am Ende der gleichen Dekade, den 1960er-Jahren, mit ihren Earth Works in ganz neue Kontexte aufzubrechen. Mit der hier nur angedeuteten Bewegung in neue Kontexte, namentlich anderen als denen der New Yorker Galerieräume, insbesondere solchen der nicht-urbanisierten Landschaft (Abb. 3), stellt sich die Frage, inwieweit das dort plastisch Gebildete mit Rosalind Krauss weiterhin als „Skulptur im erweiterten Feld“ angesprochen werden kann – auf diese Frage werde ich mit Blick auf Spurkünste noch einmal zurückkommen (vgl. unter dem Punkt „Plastisches Ansetzen vor Ort und kategorial-temporale Ordnungsstörungen im Licht der Spur“). Zum Abschluss des Abschnitts möchte ich die hier bloß schraffierten Umrisslinien einiger Momente aus kunstSkulpturale Spielarten der Spur I 127
3 Robert Smithson, Mirror Displacement, 1969, Cayuga Quarry, Ithaca, New York.
geschichtlichen Standarderzählungen zu Entwicklungen im 20. Jahrhundert nur noch mit dem sehr knappen Hinweis fortschreiben, dass die nordamerikanische Kunst der 1960er-Jahre mit Post-Minimal bzw. mit der Land oder Earth und der Conceptual Art ökologische Relationen (und damit organischere ZeitProzesse) integral in Werke setzt; worüber sie schließlich Hintergründe liefert, vor denen auch die nachfolgend eingehender vorgestellten Beispiele aus dem Schaffen eines deutschen Künstlers gesehen werden können. Konkret mit dem Werk Nikolaus Langs rücke ich ab von der Skizze einer Phase des 20. Jahrhunderts, in welche die innovative Skulptur vor allem des Kubo-Futurismus gestartet war, indem sie Zeitgenossenschaft im Sinn von dynamischer Modernität und Fortschrittsideologie betonte.
Zeiten auffassen: Nikolaus Lang und (Vor-)Formen aus Fundfeldern Auch nach 1960 lebt der Fortschrittsdrang: Weltraumbegeisterung ist hier nur ein Stichwort. Andererseits erstarken die Umwelt-, Friedens- und Alternativbewegungen; und auch die bestimmenden Kunsttendenzen dieser Zeit sind arbiträr. Nikolaus Langs Werk fällt in eine der vielen damaligen Subtendenzen. – Zu dessen Hintergrund: Lang hatte in seiner bayerischen Heimat erst das Handwerk des Figurenschnitzers gelernt, bevor er unter anderem in London Bildhauerei studierte. Einem breiteren Publikum wurde er als documenta-Teilnehmer bekannt und seit einer hierzulande begriffsprägenden Schau Günter Metkens im Hamburger Kunstverein 1974 zu den sogenannten Spurensicherern gerechnet.5 Langs Tätigkeit beschränkt sich aber, trotz eines dezidiert lokalen Ansetzens, nicht allein auf seine (wiewohl zentrale) Heimat – Stipendien und Reisen führen ihn weit über deutsche Grenzen hinaus, nicht zuletzt nach Japan und später Australien, wo er allerdings ebenso wie daheim stets von sehr spezifischen historischen Existenzbedingungen und plastischen Indikatoren (Spuren) dieser ausgeht: So scheint Lang eine besondere Dichte namentlich von unterschiedlichen Lebensund Leidensgeschichten auch in Australien6 zu Werken geführt zu haben, in denen er das Ineinander und die Überlagerung einzelner Spuren ins Zentrum stellt. Im Ausgehen von Fundstücken bzw. Spurträgern, was sein Arbeiten insgesamt charakterisiert, entwickelt er hier beispielsweise sogenannte Kulturhaufen:7 Von den Lagerplätzen für Unrat und Verbrauchtes, die man bis heute im ländlichen Australien findet, inspiriert, fügt er dafür aus unterschiedlichsten Sammelstücken Assemblagen. Parallel arbeitet er mit gefundenen Scherben; aus solchen und aus zusätzlich gesammelten, urgeschichtlichen Steinwerkzeugfragmenten legt er mehrdeutige Schriftzüge wie das politisch aufge128 I Lutz Hengst
ladene „Terra Nullius“8 (Abb. 4). Kaum je hat Lang in seinem Werk die Durchragung und Überlagerung von unterschiedlichsten Objektklassen und Schichtungen gemieden, und so scheint er in Australien von Abgenutztem „aus allen Phasen der Besiedlung“ 9 fasziniert. Der so Hybride10 (aus Alt- und Neo-Fund) hervorbringende Künstler aus Bayern versucht, wie Peter Friese vermutet,11 eine bewusst vorsichtige Haltung jenseits von „Wildheitsklischees“ der Moderne und unreflektiertem Kolonialerbe einzunehmen. Lang zeigt Ende der 1980er-Jahre eine besonders schichtungsoffene Spurkunst. Z ugleich wird im Prinzip der Offenheit für Formungsangebote aus einer jeweiligen Ortsverfasstheit heraus ein Paradigma Lang’scher Arbeit mit Spurträgern deutlich.
4 Nikolaus Lang, Terra Nullius, 1991, Scherben, Steinwerkzeugfragmente, Installationsansicht Kunstverein Ruhr, Essen.
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Parallel zu komplexen, teils abstrahierenden Übergangsformen des Spurensicherns arbeitet Lang gleichsam traditionell spurensichernd: So bediente er sich für die „Abhebung der Hundespur“ eines Verfahrens, das bereits auf spätere Abnahmen (auch in Australien) vorausweist: Im Oktober 1972 löst er an der Küste einer japanischen Halbinsel mit Hilfe von Leimschichten die frische Spur eines „weißen Wolfshundes“,12 wie er im Tagebuch vermerkt, aus dem Sand ab. Die Arbeit erscheint in einem Zusammenhang mit anderen Aktionen an der japanischen Küste, zu denen auch Fotoserien entstehen. Insgesamt geht es darin aber keineswegs ausschließlich um ‚Naturwüchsiges‘. Stattdessen sammelt Lang auch Plastikschuhe, die er als Strandgut findet und dann rastersystematisch anhäuft. Vermittels solcher Zeugnisse zeitgenössischer Wegwerfkultur wird ein romantischer Anklang, eine Fossilienphantasie, womöglich anhebend bei der vermeintlich zeitenthobenen Intaktheit von Spuren wie der eines Wolfshundes, unterminiert. Er wendet sich dennoch nicht von prototypischen Spuren ab, sondern akzentuiert deren Einbezogensein in einen ökologischen Kreislauf, indem er jüngere Nachbar-, mithin Überlagerungsstrukturen zu Tage fördert. Sofern komplexe Spurlagen und -schichtungen das Palimpsesthafte13 als eigentliche Normalität von Kultur erfahren lassen, stellt auch die performativ-physische Re-Konstruktion letztlich keine anhaltslose Extravaganz spurensichernder Kunst dar: Ein konkretes Einspüren in lokale und kleinteilige historische Formationen kann seinen fast zufälligen Ausgang bei einer Wanderung nehmen. Im September 1968 führt Nikolaus Lang eine solche in die Wälder um seinen Hauptwohnort. In einem von ihm so genannten „Erinnerungsbericht“ schreibt er: „Auf einer Wanderung von Bayersoien nach Altenau stieß ich zum ersten Mal in der Waldung bei den Kaarschindelwiesen (Achselschwaig) auf Reste von Lagerfeuern und Ausrüstungsgegenständen (Camp I). Fallschirmfetzen, Aluminiumschachteln und andere Abfälle lagen verstreut im ganzen vorderen Waldabschnitt. Ich hob einige Fallschirmschnüre auf und rollte sie zum Mitnehmen zusammen.“14
Ein Jahr später stößt Lang, bei der Pilzsuche, wie wir aus einem weiteren Bericht15 erfahren, abermals auf einen solchen Fundplatz. Was 1968 bzw. mit zwei Zufallsfunden beginnt, zieht eine Reihe von Begehungen und gestalterischen Aktionen, vom Künstler auch „Spiele“ genannt,16 nach sich, die erst 1975 abgeschlossen werden und die er unter dem Titel „Soldaten um Achselschwaig“ zusammenfasst. Dazu publiziert er einen tagebuchähnlichen Bericht, mit einer Aufstellung von Fundobjekten, einem Verzeichnis angefertigter Fotografien und einer detailreichen Territoriumsbeschreibung. Die zeitlich-prozessuale Dimension und die zum Teil regelrecht hybridisierte Phasenhaftigkeit (aus Rückschau und Gegenwartsaktion) im Werk Nikolaus Langs werden schon in dieser Berichtsform deutlich: Mitunter Wochen und Monate dauernde Aktionen, die ihrerseits historischen Phänomenen und Schichtungen regelrecht nachstellen, werden im Anschluss in Tagesberichten dokumentiert. Sie unterstreichen dabei zugleich das forschende wie plastische Ansetzen jeweils (in Bayern, Japan oder Australien) vor Ort, indem darin regelhaft die strategische Felduntersuchung und die (ab-)formende Geländearbeit zusammen dar- und herausgestellt werden. 130 I Lutz Hengst
Plastisches Ansetzen vor Ort und kategorial-temporale Ordnungsstörungen im Licht der Spur Das Wort vom Ansetzen vor Ort gibt mir die Gelegenheit, auf die weiter oben bereits aufgeworfene Frage zurückzukommen, ob und inwiefern angesichts raum-zeitlich gestreuter, teils minimal-invasiver Arbeiten von Skulpturen gesprochen werden kann. Hinsichtlich der gerade gegebenen Beispiele scheint eine Subsumierung unter den Begriff der Skulptur nicht einzig wegen einer sehr eigenen Ortsrelation fraglich, sondern schon aufgrund des performativen und intermedialen Akzents darin. Ich werde gleich noch ergänzend exemplifizieren, inwieweit Lang – über die bereits gegebenen Hinweise auf eine Revision moderner, progressiv-linearer Zeitauffassung in plastischen Werken (wie den Kulturhaufen) hinaus – als ein Exponent einer Art Spurzeitlichkeit spätmoderner Skulptur gelten kann. – Wie ist es aber nun um die kategorialen, zudem temporalen Folgen der Ortsverwiesenheit eines, seit der Land Art etablierten plastischen Arbeitens bestellt, dessen Hervorbringungen nicht länger innerhalb eines zur Betrachtung von Kunstwerken stabil eingerichteten Rahmens betrachtet werden können? (Der Punkt einer in-/stabilen Einrichtung, mithin die infrastrukturelle Nicht-/Erschlossenheit, markiert hier in der Ortsrelation für sich stets eine zeitliche Perspektive, weil es darin sogleich um Bedingungen für Persistenz und Frequenz von Werk und Rezeptionssituation geht.) Peter Osborne hat sich jüngst darum bemüht, die Begriffe der „sight-specifity“ und bestimmte Lesarten von Rosalind Krauss’ Wort von der „sculpture in the expanded field“ als Instrumente zu enttarnen, die der Einfügung neuer (mit Osborne womöglich postkonzeptueller) Kunst in traditionelle kunsthistorische Raster dienen sollen. Krauss’ eigene Modifikationen des erweiterten Skulpturbegriffs würdigt Osborne zwar, beruft sich dennoch auf ursprüngliche Kernaussagen von ihr zur Kunstentwicklung nach 1960: „Krauss concludes, ‚the transformation of sculpture, from a static, idealized medium to a temporal and material one, that had begun with Rodin is fully achieved.‘“ 17 Ich habe eingangs schon erklärt, dass ich eine Form der Verzeitlichung von (durchweg materieller) Skulptur bereits im Kubo-Futurismus weitgehend verwirklicht sehe; allerdings zielt Osbornes Argumentation hier ohnehin nicht auf kunsthistorische Detailfragen, sondern auf den Nachweis einer begründungsschwachen, allerdings ordnungsgenerativen Vereinnahmung der Kunst seit den 1960er-Jahren für überkommene kunstkritische Kategorien. Entsprechend fasst er, immer wieder mit Blick auf Arbeiten Robert Smithsons (und hier außerdem in Anspielung auf Einbindungsversuche durch den Kunstkritiker Robert Hobbs), zusammen: „Under that condition, the ‚expanded field‘ (within which sculpture was one of four positions) quickly reverted, institutionally, to being treated as an expanded field of sculpture – the field of an expanded sculpture, broadly along the lines of Hobbs’s interpretation, which it had initially displaced. As the 1980s progressed, Smithson’s work was increasingly treated once again as emblematic of a ‚new‘ sculpture, along with works by a whole pantheon of artists from the 1960s who had similarly rejected the sculptural tradition as a whole.“18
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Ich wäre mit Osborne in der Tat vorsichtig, künstlerische Rauminterventionen pauschal einem vereinseitigenden Anschluss an Krauss’ Skulpturbegriffserweiterung unterzuordnen. Diesseits eines kunstsoziologisch relevanten Kontextwechsels mit dem Umzug ins erweiterte Feld wird das dort – und ich denke: durchaus weiterhin meist sehr plastisch – Geformte notgedrungen offener für Umgebungseinflüsse und Veränderungen, mithin für Verwitterung und schnelleren Spurendurchsatz. Wirkverhältnisse kehren sich um – nicht Skulptur bestimmt einen (Ausstellungs-)Raum, sondern hat sich in die Kräfteverhältnisse eines freien Feldes zu fügen. Dies für eine bemessene Arbeitsdefinition berücksichtigend heißt: Im erweiterten Feld können plastisch-skulpturale Anteile wesentlich bleiben, nur dass sie es in der Regel nicht beherrschen, sondern darin andauernder prozessualer Überformung ausgesetzt sind. Osborne selbst wiederum kapriziert sich in seinem Argumentationsgang weiter noch auf die Dekonstruktion kunstkritisch-terminologischer Einordnungsbemühungen insbesondere der Kunst Smithsons. In eigener Interpretation bzw. charakteristischer Referenz auf Adorno präpariert er überdies ein romantisches Erbe in der Kunst Smithons und dessen Generation heraus: „But as Adorno recognized, the problem is more historical than this. The problematic status of categorization is a consequence of the individualizing logic of the aesthetic definition of the artwork, which is itself the expression of social transformations in the political status of individuals, from which the structural political meaning of post-Romantic art as an expression of freedom derives. We live in societies of still-increasing individualism, of which neoliberalism is merely the most recent economic-ideological expression. Yet, in art as in life, absolute individuation destroys meaning.“19
Hier wird – auch das ein Moment der mittelbaren Verzeitlichung von Plastischem – eine geistesgeschichtliche longue durée zum Hintergrund eines letztlich sinnzerstörenden Individualismus in der spätmodernen Kunst gemacht. Doch der vermeintlich so zerstörerische (bürgerliche) Individualismus scheint wieder anderen, exemplarisch Künstlern wie Nikolaus Lang, in der Spätmoderne eben nicht perpetuiert, sondern gerade durch liberale und materialistische Fortschrittsdynamiken in dem Maß bedroht, wie geschichtshaltige partikulare Formationen durch einen Aktualitätsdruck marginalisiert werden. Dass Lang und andere Spurensicherer für bzw. gegen diese spätmoderne Volte auf ambivalente Konzepte der Spur referenzieren, bewahrt sie am Ende womöglich vor einer simplen bürgerlichen Nostalgie und reichert ihre Arbeiten um spezifische Zeitauffassungen an. Was aber wäre in solchen Zusammenhängen mit dem Begriff Spur gemeint? Spuren verstehen wir empirisch und prototypisch als etwas, das ältere Zeitschnitte genuin konserviert. Im Laufabdruck eines längst ausgestorbenen Raubreptils scheint dessen Formungsenergie noch gegenwärtig. Doch schon in dieser Wahrnehmung gründet eine chronische Anstiftung zu diachroner Zeiterfahrung: In ihr manifestiert sich die Gegenwart eines Vergangenen. Damit setzt zugleich ein Nachdenken über temporal transzendente Spur-Potentiale ein, das bis in die jüngste Geistesgeschichte Inspiratio132 I Lutz Hengst
nen für theoretische Entwürfe stiftet. Bei Jacques Derrida etwa verbindet sich ein Spurbegriff mit dessen Grammatologie bzw. genauer mit dem Konzept einer Urschrift, in deren Rahmen die transzendente Seite der Spur wie folgt betont wird: „Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier [...], daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät.“20
Was sich bei Derrida so freimütig in eine dekonstruktive Schleife verschlingen will, zielt auf den Begriff einer, für alle Differenzierung (im sprachlichen Diskurs) generativen Ur-Spur, die, wiewohl Archezeichen, mit Mitteln der Empirie und per se uneinholbar ist, sondern aus sich heraus fortwährend auf eines hinweist: die fundamentale Differenzierungsleistung, die sie selbst erbringt: „Ohne in der minimalen Einheit der zeitlichen Erfahrung festgehalten zu werden, ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, könnte keine Differenz ihre Arbeit verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten. Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt.“21
Geradezu in einem Gegensatz zu dem puren, fast synchronen unterscheidungs-generativen Vermögen, das Derrida hier der Spur innerhalb eines Zeichenkontinuums zuerkennt, steht im Zentrum künstlerischer Interventionen das empirisch, wenn nicht fassbare, doch adressable Moment einer (sogar im Zitat zuvor genannten) zeitlichen Erfahrung. Nochmals: Diese Erfahrung erscheint im Horizont der empirischen Spur zeitlich arbiträr, also verzweigt zwischen einer Gegenwartserfahrung der Spur (Spur an sich) und einer historischen Perspektive mit ihr (der Verweis auf das, woraus die Spur entspringt). Diese sonderliche Zeitlichkeit zu gewahren, leistet die Spur durch eine spezifische Transgressivität, in der sie selbst aufgehoben scheint: Spuren künden in einem charakteristischen Restsein von einem Ursprungsgeschehen, das zugleich – und parallel zur Zurschaustellung von dessen Uneinholbarkeit – partiell unabgeschlossen in der jeweiligen Spur residuiert.
Noch einmal die Spurkunst Langs, im Kontext weiterer Arbeiten am spuroffenen Möglichkeitsraum der Kunst nach 1960 Die Kunst Nikolaus Langs wird von spurbedingten Diachronien durchzogen. Teils ergeben sie sich mit Materialien, die nach 1960 für die Kunst erschlossen wurden. Zu diesen, nachfolgend pointierten Aspekten passt, dass Lang regelmäßig lense-based operiert (allerdings primär im Sinn der Distribution eines plastischen Werks via Fotodokument), wodurch sich die Affinität zu – auch für die Fototheorie hochrelevanten – Spurbegriffen medial noch vervielfältigt: Skulpturale Spielarten der Spur I 133
Am Objekt nachvollziehbar, über Fotografien repräsentiert oder erzählt, trägt und schreibt Lang stets Rückverweise auf die komplexe Entstehungsgeschichte eines Werkes in Exponatzusammenhänge ein. In einem Hauptwerk, „Für die Geschwister Götte“ (1973/74, Teil des „Götte-Zyklus“; Abb. 5), fasst eine gezimmerte Kornkiste Berichte, Karten und Fotografien sowie Fundstücke. Über erstere wird die Hebungssituation (also Langs Spurensuche und -sicherung auf einem konkreten Reliktareal) gegenüber der Referenzzeit der Primärfunde abgesetzt (diese verweisen auf früheres Leben am Ort). Zugleich werden so beide Spurmedien plastisch-installativ in eine, zwar gestufte, aber insgesamt retrograde Perspektive integriert. Die konkreten Zugriffe in einem Untersuchungsgebiet können gleichwertig mitausgestellt werden, weil diese in der Perspektive auf feldformende Individuen eine Gemeinsamkeit finden: Individuen treten, und im Grundbestand des formenden Eingriffs ist dabei gleich, ob sie erst etwas in ein Feld eintragen oder es später dort heben, jeweils als Feldprägende in Erscheinung. Es zeigt sich: So verwitterungsanfällig und marginalisierungsgefährdet deren Aktivität an spezifischen Punkten sein kann, so ubiquitär sind Spuren von Individuen insgesamt. Unablässig schichten sie sich an- und übereinander.
5 Nikolaus Lang, Kiste für die Geschwister Götte, 1973/74, Kornkiste, Karten, Fotografien, Fundstücke.
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Die so resultierende materielle Vielseitigkeit in spurensichernden Werken offenbart zudem eine Form von ‚Vielzeitigkeit‘, durch die angesprochenen Referenzzeitdivergenzen, aber auch insofern als von Lang im Feld Aufgegriffenes ephemer sein kann bzw. unterschiedliche Haltbarkeiten hat. Bei entsprechender Kontextoffenheit an einem Fundort wird beispielsweise auch Organisches in das Sammeln einbezogen. Obst und „Steinmarderkot“22 etwa enthält die „Götte“-Kornkiste. Zu Elementen wie Steinen oder anderen vergleichsweise beständigen, alten Materialien kommen so begrenzt haltbare, junge Beigaben. Carl-Albrecht Haenlein interpretiert solche An- respektive Hinfälligkeit dahingehend, dass „die sehr ästhetischen, additiven und katalogisierenden Festlegungen in den Kästen [...] flüchtige, chaotische oder magische Züge [erhalten] – die Präparate werden sozusagen wieder zu Kadavern, deren Verwesungsprozeß kräftig in Gang gekommen ist – [...].“23
Bestreitbar scheint indes, dass die hier angesprochenen Verwesungs- und Verflüchtigungstendenzen einem ganz grundsätzlichen Sicherungsanliegen zuwider laufen. Denn, im Wortsinn, erdet das Organische die Rekonstruktionsarbeit, unterstreicht die ökologische Eingebundenheit selbst stabilerer Spuren, betont, dass sie einmal, trotz teils erheblicher Spannen der Persistenz, verfallen müssen. Darin mag man momenti mori sehen, die jedoch nicht hineinkonstruiert werden müssen, sondern sich bereits am Fundort durch das Schwundstadium der Relikte einstellen. Kunstobjekte mit Verfallsdatum unterminieren zweifellos überkommene zeitliche Ansprüche an Kunstmaterial und verschieben die Horizonte der darüber adressierten tempi – sie stehen über ein Anknüpfen an moderne Traditionen der Integration neuer Materialien in plastische Arbeit hinaus in einem eigenen, vielschichtigen zeitgenössischen Bezugsfeld: Wenn nicht von einer Zäsur in der Nachkriegskunst, so zumindest von einer signifikanten Interessenverlagerung geht Peter Feist aus, wenn er feststellt: „Die Künstler beschäftigten sich seit den siebziger Jahren viel mehr mit Vergangenheiten: Spurensicherung, Abtauchen ins Mythische, Memorialkunst.“24 Feist behauptet nicht, dass diese Rückwärtswendung die Erfindung eines ganz neuen Typs künstlerischer Haltungen wäre. Im Gegenteil, er sieht weitreichende funktionale Parallelen (in der Abwendung von einer enttäuschenden Gegenwart) zu retrospektiv angelegten Orientierungen der klassischen Moderne oder des Historismus. Gleichzeitig hält er „die relativ wenigen Spurensicherer“ vor allem deshalb für beachtenswert, weil „sie eine wichtige kulturelle Tendenz besonders deutlich anzeigen: die Wendung von der Zukunft weg zur Vergangenheit.“25 Dementsprechend müsste sich diese neuerliche Hinwendung zur Vergangenheit in der Nachkriegsmoderne zeitlich scharf abgrenzen lassen. Gemessen am Grad der Offenheit, mit der historische Zeitbezüge im Werk thema tisiert werden, lassen sich in der Tat bestimmte Unterschiede ausmachen. Viele Beiträge aus dem Bereich der Pop Art (bzw. einer Zweiten Moderne) etwa scheinen in einer konsumkulturellen Gegenwart fest und affirmativ verwurzelt. Tom Wesselmanns Skulpturale Spielarten der Spur I 135
aterialbilder, die alltägliche Konsumartikel integrieren und wenigstens vordergründig M besehen ohne historischen Tiefgang auskommen, verdeutlichen das exemplarisch: Dessen „Bathtub Collage # 2“ (1963) zeigt seine Badende, ganz im 60er-Jahre-Komfort aufgehoben, mit farbigem Kunststoffvorhang und kompletter Kosmetikserie (Abb. 6). Gleichwohl kann Pop, bei Wesselmann vielleicht im Verweis auf die vollständige Integration der Person in eine Konsumwirklichkeit, über eine ungetrübte Beschwörung der Oberflächen hinausweisen – wie Peter Feists folgende Einschätzung unterstreicht: „Freilich begnügten sich die Popkünstler nur selten mit dem programmatischen fun and gag, der Kunstausstellungen die Atmosphäre von Rummelplätzen verlieh. Selbst in den kuriosesten Gebilden nisteten sich spöttische, enttäuschte, angewiderte Distanzierung, Kritik oder auch Verzweiflung ein. Nur auf Heilsbotschaften und Gegenentwürfe verzichtete man.“26
Unbenommen der Diskussion um Affirmation oder Kritik in der Pop Art, verkörpert diese im Allgemeinen Gegenwartsbezug statt Vergangenheitsleidenschaft, trägt jedoch sehr markteffizient dazu bei, die Beschränkungen kunstwürdiger Materialien weiter aufzuheben.
6 Tom Wesselmann, Bathtub Collage # 2, 1963, Öl, Collage und Objekte auf Holz, 122 x 185,5 x 15 cm, London, The Mayor Gallery.
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7 Arman, Madison Avenue, 1962, Schuhe, Holzkasten, 60,5 x 100 x 15 cm, New York, Collection Frank Stella.
Mit dem Nouveau Réalisme erscheint noch in den Fünfzigern eine weitere, S purkunstwerken vorausgehende Kunsttendenz, die sich dem Objekt zuwendet. Arman etwa greift unmittelbar auf Autoteile, (wieder, wie schon bei Picasso) Löffel, Damenschuhe oder Blechkannen zurück. Neorealisten können den direkten Zugriff durch einen ganzen Produktzyklus durchhalten und ihre Objekte Gebrauchs- oder sogar Verbrauchsspuren (leere Tuben im Künstlermülleimer etc.) tragen lassen. So ist das Leder mancher Schuhe, die Arman 1962 für die Arbeit „Madison Avenue“ (Abb. 7) in einem weiß gefassten Präsentationsobjekt zusammengesammelt hat, stellenweise verfärbt und rissig. In Werken wie diesem kann eine Gegenposition zu einer dauerglänzenden Fassadenwelt der Popkunst ausgemacht werden. Sie führen vor Augen, dass Serienprodukte durch Gebrauch individualisiert werden. In der Betonung der Mutabilität von Objekten liegt so eine zwar punktuelle, aber innovative zeitliche Akzentuierung plastischer Objektkunst. Anders als in einer Spurkunst um 1970 fehlen jedoch, trotz Ansätzen zu einer Individualisierung der Objekte, häufiger (und am wenigsten bei Spoerri) werkimmanente Verweise auf ein konkreteres Trägerindividuum. Zudem mutet das zu Akkumulationen Gefügte oft erst aus der Rückschau historisch an.27 Das Material lieferte ursprünglich das, forciert im ‚Wegwerfzeitalter‘, nahezu synchron entstehende Nachher-Bild zu einer oberflächen-geglätteten Verkaufsansicht eines Produktes. Momente einer Nutzungsgeschichte, die sich durch Gebrauchsspuren mitteilen, erscheinen sozusagen noch en passant. Dagegen arbeitete man im Umfeld der Fluxus-Bewegung planvoller, perspektiviert nicht nur auf das Ereignishafte, mit begrenzt lagerfähigem Material: Schlaglichter darauf Skulpturale Spielarten der Spur I 137
werfen Dieter Roths serieller Einsatz von Lebensmitteln ab etwa Mitte der 1960er-Jahre oder auch Wolf Vostells Langzeittransport von Salatköpfen per Bundesbahn („Salat“, 1970/71). Allerdings wird das Verfallsthema in einer Spurkunst im engeren Sinn selten so unmittelbar publikumswirksam wie bei Roth oder Vostell – oder Joseph Beuys, der nicht nur auf labile Werkstoffe wie Fett setzte, sondern sich einmal mehr als Meister der Inszenierung, und zwar auch einer von Verfall, erweist, wenn er im November 1965 über Stunden in der Galerie Schmela einen toten Hasen trägt („Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“). Nikolaus Langs eigenes Hasen-Ritual, um zum Schluss noch einmal auf den hier ins Zentrum gerückten Referenzkünstler künstlerischer Zeitauffassungen nach 1960 anzusprechen, spielt sich fern der Galeriewelt, wieder in seiner oberbayerischen Heimat, ab. Erst Fotografien zeigen die Aktion: Zufällig findet er im Juni 1973 eine verendete Häsin in einem Straßengraben. In den Folgetagen versteckt er diese bei der vormaligen Behausung eines der Götte-Geschwister (Joseph), von denen der oben bereits genannte Zyklus seinen Namen bezieht und die jene von Lang erst beforschten und später auch bewohnten Areale kleinstbäuerlich nutzten. Das bei einer der Götte-Hütten gefundene tote Tier legt Lang in einem eigens abgesteckten Feld neben einem Ameisenhaufen in einer zweiteiligen ‚Rindenrolle‘ zwischen Zweigen aus. Was Lang dort während der Folgewochen beobachtet, hält er in Foto und Text fest: Kurzberichte verzeichnen den Zustand des Kadavers, der bisweilen wehrhaft von Waldameisen verteidigt und zur Brutstätte neuen Lebens (von Insekten und Mäusen) wird. Im Oktober 1973 schließlich räuchert Lang die letzten Reste in der „Rindenwanne“ 28 mit Hilfe eines selbstgebauten Ofens endgültig aus (Abb. 8).
8 Nikolaus Lang, Auslegung der Häsin (Ausschnitt), 1973.
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Doch was hier am Ende in Langs Arbeit geschieht, ist weder die Vernichtung der Spur noch die Negation plastischen Arbeitens. Im Gesamtzusammenhang Lang’scher Werke erscheint die Reduktion des Volumens von Spurträgern durch Einsatz von Feuer nur als eine weitere Möglichkeit, plastisch auf die diachrone Phasen- und Stadienhaftigkeit spurbesetzter Materialien zu reagieren. Was am Ende inversiv wirkt, hinterlässt nicht nur für sich neue, wenn auch feinere (Verbrennungs-)Spuren, sondern kannte vorher Wachstumssituationen. Dass Spuren, indem sie an Vorgegebenem partizipieren und dieses gleichermaßen fort- wie überschreiben, wuchern, verbindet Langs Ansatz mit Dieter Roth. Dieser hatte das ar- 9 Dieter Roth, verschiedene Materialien, biträre zeit-plastische Formungspotential Installationsansicht Schimmelmuseum, Hamburg, 1999. von verfallendem Material regelrecht zur Schimmel-Blüte gebracht: „Als ‚work in progress‘ setzt sich die Installation [das Hamburger Schimmel-Museum] im permanenten Auflösungs- und Neuentstehungsprozess weiter fort.“29 (Dort handelt es sich konkret um eine ganze Reihe von Exponaten, etwa gestapelte Büsten aus Schokolade und Zucker, aber integral auch um die schimmelnden Wände des maroden Ausstellungsgebäudes.) (Abb. 9)
Fazit Zusammenfassend und mit Blick auf das plastische Potential der Spur, das in den hier angesprochenen Arbeiten auf unterschiedliche, aber stets eigen temporalisierende Weise ins Spiel gebracht wird, lässt sich sagen: Spurvorkommen spannen sich chronisch zwischen den Horizonten des Verlusts und des Wachstums auf – mit dem Vergehen von Leben wächst das Zurückbleibende; mit dem Überprägen oder auch dem Abheben von Spuren entstehen neue. Perspektiven auf die Komplementarität von Verlust und Zuwachs begünstigen in der künstlerischen Übertragung einen fast unterschiedslosen Zugang zu tatsächlichen wie bloß denkbaren historischen Beständen (gleichsam um Verluste durch sekundäre Verfüllung – etwa durch Langs performative Fundergänzungen – zu überbrücken). Mithin artikulieren Kunst-Spurenarbeiter im Kompensieren von Verlusten eine postmoderne Ambivalenz, die sich durch die gleichzeitig ironische und ernste Konzentration auf Spurenlesen, -legen und -bewahren bzw. -kultivieren auszeichnet. Dazu passt Skulpturale Spielarten der Spur I 139
ein Umwelterschließen von kleinsten Geschichten her, das Spurkünstler nicht nur gegen eine Deutungsdominanz durch fachdisziplinäre Geschichtsnarrative aufbieten, sondern auch gegen die Geste ungebremster Zeitgenossenschaft in bestimmten Tendenzen gerade der Skulptur der Klassischen und Zweiten Moderne (H. Klotz). Vor dem Hintergrund des Einsatzes bestimmter, besonders unbeständiger Materialien in der Kunst der 1960er-Jahre (namentlich bei Dieter Roth) formuliert Monika Wagner drei kurze Sätze, die auch hier als ein Schlusswort stehen können, das die künstlerische Beachtung einer Realzeit des Lebens von der modernistischen Isolinearität ständiger Zeitgenossenschaft sowie fortwährenden Aufbruchs differenzieren hilft: „Die Kunstwerke werden dem Prozess der Zeit unterworfen. Aber sie sind keine Konsumptionsgegenstände [...]. Vielmehr haben sie sich mit ihrer Vergänglichkeit in der Realzeit des Lebens eingerichtet.“30 – So wie sich die Spuren, mit ihren diachronen Spielarten aus Reduktion und Anreicherung, in plastischen Arbeiten der Kunst vermehrt nach 1960 eingerichtet haben, möchte man lediglich ergänzen.
Anmerkungen 1 Vgl. dazu auch Monika Wagner in Auseinandersetzung mit Schokolade als neuem Material der Plastik: Monika Wagner, Vom Umschmelzen. Plastische Materialien in Kunst und Küche, in: Über Dieter Roth. Beiträge und Aufsätze, hg. von Beate Söntgen und Theodora Vischer, Basel 2004, S. 121–135, hier insbes. S. 131. 2 Reinhold Hohl, Eine technische Neuheit: Die Assemblage, in: Skulptur. Von der Antike bis zur Gegenwart. 8. Jahrhundert v. Chr. bis 20. Jahrhundert, hg. von George Duby [et al.], Köln 2002, S. 949–971, hier S. 982. 3 Herbert Molderings, Der Beitrag der Fotografie zur Experimentalisierung der Skulptur, in: lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Ausstellungskatalog Berlin), hg. von Bogomir Ecker [et al.], Köln 2014, S. 26–55, hier S. 28. 4 Ebd., S. 32. 5 Grundlegend zur Geschichte der entsprechenden kunstkritisch-historischen Formation und zu deren Einordnung vgl. Lutz Hengst, ‚Ich war gestern‘ – Spurensichernde Kunst und Kulturtechniken nach 1960. Wegmarken für eine künstlerische petite mémoire zwischen Referenz und Anverwandlung, Berlin/Gießen 2015, hier insbes. S. 15 ff. (Aus der Arbeit rekrutieren sich weiterhin und in teils geringfügiger Modifikation insbes. einige der folgenden Werk- und Spurbetrachtungen.). 6 Eine besondere Australien-Leidenschaft entwickelt Lang, so Günter Metken, bereits 1967 als Besucher des Londoner Museum of Mankind, wo er „erfuhr, daß die Aborigines jährlich unter großen Strapazen zu einem bestimmten Berg zogen, um von dort roten Ocker zu holen“ (Günter Metken, Spurensicherung – Eine Revision, Berlin 1996, S. 122). 7 Vgl. dazu ebd., S. 131. 8 Dass man ein Territorium als ‚nullius‘, also ‚Niemandsland‘, auswies, diente, wie Peter Friese ausführt, der Rechtfertigung der Usurpation des Aborigines-Landes durch die weißen Siedler. Wie Lang mit seiner Materialwahl selbst nochmals bezeugt, handelte es sich aber zweifellos um altbesiedeltes Land. Vgl. dazu Peter Friese, Terra Nullius. Zu den neuen Arbeiten von Nikolaus Lang, in: Nikolaus Lang. Terra Nullius (Ausstellungskatalog Essen), hg. von Ders. und Claudia Heinrich, Essen 1992, S. 3–21, hier S. 3 f.
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9 Metken (wie Anm. 6), S. 131. 10 Weitere Hybride fertigt Lang in Australien an, wenn er einen „Erzwagen einockert“ und, so könnte man im Sinne Metkens argumentieren, mit solchen ‚re-indigenisierten‘ Fundstücken der jungen Montangeschichte Australiens ausdrückt, dass er „die Eingeborenen als geniale Spurensicherer nur bewundern kann“, jedoch „auch vom Mut und Erfindungsgeist früher Kolonisten fasziniert ist“ (Metken (wie Anm. 6), S. 135 u. 131). Eine entschiedene postkoloniale Konnotation erhält die Arbeit dadurch, dass das „Rad des Wagens auf dem ‚Schädel‘ eines Eingeborenen, den Lang aus glimmrigem Hämatit geschlagen hat“, aufruht. (Ebd., S. 135 f.) – Günter Metken verwendet im Zusammenhang mit den australischen Arbeiten übrigens später den Begriff des ‚Klitterns‘, womit, zwar lapidarer formuliert, etwas Ähnliches wie eine Hybridisierung gemeint sein dürfte. Vgl. ebd., S. 134. 11 Vgl. Friese (wie Anm. 8), S. 10. 12 Nikolaus Lang, Arbeiten. Texte, in: Nikolaus Lang (Ausstellungskatalog Hannover), hg. von Kestner-Gesellschaft, Hannover 1975, S. 13–89, hier S. 37. 13 Zu solchem Spurvorkommen vgl. Mirjam Schaub, Die Kunst des Spurenlegens und -verfolgens. Sophie Calles, Francis Alÿs’ und Janet Cardiffs Beitrag zu einem philosophischen Spurenbegriff, in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. von Sybille Krämer [et al.], Frankfurt am Main 2007, S. 121–141, hier S. 129 f. 14 Lang (wie Anm. 12), S. 68. 15 Ebd. 16 Seine Aktionen zeichnen sich nicht nur in Achselschwaig durch einerseits spielerisch-dilettierendes, andererseits konzentriert-systematisches und dezidiert plastisches Nachahmen von historischen Tätigkeiten aus. Lang versucht sich so an tradierten, teils auch vergessenen Techniken, von der erwähnten Steinwerkzeugherstellung bis zum Torfstechen. So entsteht bei Achselschwaig eine Hütte aus Torf; vgl. dazu Lang (wie Anm. 12), S. 86. 17 Peter Osborne, Anywhere or not at all. Philiosophy of Contemporary Art, London/New York 2013, S. 104. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 107. 20 Jacques Derrida, Grammatologie (übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler), Frankfurt am Main 1983, hier insbes. S. 107 f. 21 Ebd., S. 109. 22 Lang (wie Anm. 12), S. 51. 23 Carl-Albrecht Haenlein, Nikolaus Lang. Nachgezogene Spuren, in: Kestner-Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 8–11, hier S. 9. 24 Peter H. Feist, Figur und Objekt. Plastik im 20. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 187. 25 Ebd., S. 180. 26 Ebd., S. 187. 27 Zur Geschichtslosigkeit der Objekte im Neorealismus vgl. Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009, S. 162 f. 28 Lang (wie Anm. 12), S. 59. 29 Dirk Dobke und Bernadette Walter, Chronologie und Werkkommentare, in: Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive (Ausstellungskatalog Basel, Köln, New York), hg. von Theodora Vischer und Bernadette Walter, Basel 2003, S. 18–267, hier S. 258. 30 Wagner (wie Anm. 1), S. 134.
Skulpturale Spielarten der Spur I 141
Ursula Ströbele
Performing the making Die Eigenzeit der „lebenden Skulptur“ zwischen Dauer und Augenblick
„Das Skulpturale ist nur eine Vorstellung.“ 1 1958 unternahm der damals 19-jährige Franz Erhard Walther einen entscheidenden Schritt zur Erweiterung des klassischen Skulpturenbegriffs. Das heute überlieferte Schwarz-WeißFoto, betitelt „Speier“ (Abb. 1), entstammt seiner Serie „Versuch, eine Skulptur zu sein“. Es zeigt den jungen Künstler im Schneidersitz auf dem Boden seines Fuldaer Ateliers, die Hände in den Schoß gelegt, mit Backpulver und Milch vermischtes Wasser im hohen Bogen ausspeiend. Vor ihm befindet sich eine runde Blechschüssel, die die Fontäne auffangen soll, doch trifft der Wasserstrahl auf den Boden daneben. Walthers Blick ist nach oben gerichtet, die Augen sind weit geöffnet. Er trägt unauffällige Arbeitskleidung, Stoffhose und einen dunklen Pullover. Den Hintergrund bildet eine Art weiße, gerahmte Projektionsleinwand, auf der sich durch den starken Schlagschatten die Silhouette des Protagonisten vergrößert abzeichnet.
1 Franz Erhard Walther, Speier (Versuch, eine Skulptur zu sein), 1958, Wasser, Milch, Backpulver, Blechschüssel.
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2 Andreas Greiner, Der freie Grundriss, 2014, Fliege verpuppt, Vertrag gerahmt.
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Ausgehend von zwei sehr heterogenen Beispielen – Franz Erhard Walthers „Speier“ (1958) und Andreas Greiners „Der freie Grundriss“ (2014) (Abb. 2) – werden im Folgenden der Entstehungsprozess (perfoming the making2) und die Eigenzeit der beiden „lebenden Skulpturen“ zwischen Dauer und Augenblick beleuchtet. Exemplarisch an diesen beiden Werken sollen Zeitformen und Zeitbegriffe herauskristallisiert werden, die für das klassischerweise statuarische, zeitenthobene Medium relevant sind: Was bedeutet es, eine Skulptur zu sein? Welche Merkmale kennzeichnen diese selbst gewählte Metamorphose? Inwiefern greift Walther explizit auf gattungsspezifische Parameter wie Räumlichkeit, Unbeweglichkeit und Plastizität zurück, wo bricht bzw. erweitert er sie? Wie verhält sich diese Referentialität bei Greiner? Das Besondere an „Speier“ ist, dass nur der Fotograf Egon Halbleib anwesend war, d. h. jegliches Publikum fehlte. Erst Walthers bekannte Vorführungen des „1. Werksatzes“ 1969 finden als intersubjektive Begegnungen vor einer kunstaffinen Öffentlichkeit statt. Dem Betrachter bleibt bei Ersterem nur die das Ereignis dokumentierende Fotografie, die einen einzelnen Moment der Aktion festhält – ‚Vorstellung‘ also im doppelten Sinne einer (konzeptionellen) Idee und gar einer (verborgenen) Aufführung?3 Erst mit den gewählten Attributen, den „biographischen Gegenständen“4, wie Walther diese selbst bezeichnet, manifestiert sich das einzelne Werk. Als Sohn einer Bäckerfamilie scheinen Milch, Wasser, Backpulver, Knetschüssel naheliegende Requisiten für den jungen Kunststudenten zu sein, der sich im elterlichen Haus ein eigenes Atelier eingerichtet hatte und seit 1957 die Werkkunstschule in Offenbach besuchte.5 Die kontrastreiche Beleuchtung und die sich ergebende illusionistische ‚Dopplung‘ der Körperumrisse auf der weißen Wand bei der Inszenierung einer plastischen Handlung rufen Assoziationen an Plinius’ Beschreibung der Erfindung der Bildhauerei durch den Töpfer Butades6 hervor (Abb. 3). Dieser formte porträtähnliche Bilder aus Ton mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichtes mit Linien nachzog. Den Umriss füllte der Vater mit Ton und brannte es im Feuer. Zwar handelt es sich bei Walther nicht um eine Nachstellung des bekannten Topos aus der „Historia Naturalis“, auch nicht um die Inszenierung eines Tableau Vivant, doch findet hier ebenfalls in der Fotografie eine Transformation vom Dreidimensionalen in die Fläche, von der Bewegung zur Momentaufnahme statt. „Ich dachte darüber nach, ob man einer Skulptur auch Tempo geben könnte. Zeitlichkeit. Etwas Fließendes. Holz oder Stein kamen nicht infrage. Auch die Skulpturenhandlungen nachzuzeichnen, das war es nicht. Also bat ich einen Bekannten, mich in meinem Atelierraum zu fotografieren.“7
In einem Interview äußerte der Künstler kürzlich sein stetiges Bestreben, das ursprünglich statuarische Medium der Skulptur unter die Herrschaft des Zeitlichen zu stellen. Durch seinen Verweis auf einen Brunnen im Foyer der Werkkunstschule Offenbach mutiert der wasserspeiende Künstler selbst zur Brunnenfigur – neben der Bauplastik Performing the making I 145
3 Joachim Sandrart, Die Tochter des Butades zeichnet die Konturen ihres Geliebten nach, Kupferstich, London, British Museum.
eine der klassischen Hauptaufgaben für Bildhauerei im öffentlichen Raum.8 Die Statuarik der architektonisch-figürlichen Partien kontrastiert bei Walther mit dem kaum greifbaren, bewegten Element des Wassers. In einer Trias aus Porträtbildern greift er diese Assoziation an groteske Phantasiewesen bzw. Gargouilles auf, wie sie u. a. von der Fassade Notre Dame in Paris bekannt sind. Einer unerschöpflichen Quelle vergleichbar sprudelt die Inspiration bei „Speier“ aus seinem Kopf und eröffnet einen „plastischen Dialog“9, wie der Künstler es nennt, mit dem Umraum.10 Bezogen auf traditionelles Bildhauereirepertoire lassen die zwischen Pose und Aktion oszillierenden skulpturalen Inszenierungen Walthers an steinerne Personifikationen denken, die mit spezifischen Attributen versehen, Denkmäler flankieren, Fassaden dekorieren und Raumensembles bevölkern. Ist diesem kontextuellen Hintergrund zufolge (Abb. 4) die Wagenleuchte ein Zeichen der lichtbringenden Veritas, der Stierschädel Walthers gar ein Vanitas-Symbol und die Schüssel eine entfernte (humorvolle) Reminiszenz an das Füllhorn der Abundantia? Der Künstler selbst avanciert scheinbar zu einer verlebendigten Statue, die nicht erst auf die kunstvolle Meißeltechnik Pygmalions warten muss, um aus ihrer medusenhaften Erstarrung befreit zu werden. Interessant für das Verständnis von Walthers Arbeit erscheint der Begriff der Pose, wie wir ihn vom Tanz, Theater, Tableau Vivant oder aus der Fotografie kennen. 11 So 146 I Ursula Ströbele
heißt es in der Einleitung zur Publikation „Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance.“ (2012), herausgegeben von Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Stefanie Diekmann: „Ein Körper ist in der Pose ein Artefakt.“12 Übertragen auf Walther ließe sich sagen: Ein Körper ist in der Pose eine Skulptur.13 Häufig mit Gewolltheit und artifizieller Attitüde verknüpft, adressiert sie den Betrachter. Wie mutiert nun die Pose Walthers zur Skulptur und welche Rolle spielt dabei die Fotografie? Der Künstler befindet sich im Fluss einer Handlung und posiert/positioniert aus dieser Bewegung heraus seinen Körper vor dem mortifizierenden Blick der Kamera. Das zu fotografierende Subjekt nehme dabei die statuarische Pose bereits vorweg, so Craig Owens in seinem Text „Posieren“. Ein Foto repräsentiere daher die Aufzeichnung eines früheren Innehaltens, wie er treffend erläutert:14 „Dennoch erstarre ich, als würde ich das Standbild, zu dem ich gerade werde, vorwegnehmen, seine Opazität, seine Bewegungslosigkeit nachahmen; die Mortifikation des Fleisches durch die Fotografie in die ganze Körperoberfläche einschreiben.“15
Der observierende Blick des Apparats fixiert nun im nächsten Schritt den Körper, friert ihn zum Stillstand auf der Abbildung ein. Dieses Innehalten unterstreicht den skulpturalen Aspekt der durata bei gleichzeitiger (paradoxer) Transformation des Dreidimensionalen in die piktoriale Räumlichkeit des flachen, fotografischen Bildes.16 Die Fotografie fungiert als notwendige Vermittlungsinstanz bzw. Rückbindung an die gattungsspezifischen Parameter Statuarik und Zeitenthobenheit. Es erfolgt eine dreifache Übertragung vom (noch außerkünstlerischen?) Körper über die living sculpture bis hin zur Fotografie. Letztere trägt entschieden dazu bei, den „Versuch, eine Skulptur zu sein“ erfolgreich durchzuführen und Walther dabei als Statue zu begreifen. Owens Lacan’scher Lesweise zufolge mutiert nun das Subjekt zum Objekt des Blicks des Bildes, d. h. „[...] ich werde erblickt [...].17 Das Erstarren der menschlichen Figur unter dem punktuellen, bohrenden Auge der Linse deutet er als
4 Franz Erhard Walther, Antwort (Versuch, eine Skulptur zu sein), 1958, Wagenlampe, Stierschädel, Blechschüssel.
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Schutz bzw. Widerstand (Mimikry)18. Erzeugt werde dadurch eine Teilung des Subjekts. Es posiert als Objekt, „um ein Subjekt zu sein“.19 Walther posiert hingegen primär als Subjekt, um ein Objekt zu sein, um sich dadurch zur Skulptur zu wandeln. Dabei imitiert er keine einzelne Statue; ikonographische Bezüge lassen sich nur in Andeutungen finden. Zwar unterliegt gerade bei einem Tableau Vivant ein unbewegliches Artefakt einer Nachahmung und leiblichen Übersetzung, doch münden beide – auch die skulpturale Pose – in ein „Lebendig-(sich)-Totstellen“20. Der strukturelle Unterschied zwischen Pose bzw. Tableau Vivant und Foto liegt in der vollkommenen Arretierung des Körpers durch letztere, während erstere den Stillstand nur momenthaft anstreben. Die Fotografie fungiert als notwendige Vermittlungsinstanz bzw. Rückbindung an die gattungsspezifische Eigenschaft der Statuarik und Zeitenthobenheit. Die von Walther um den temporalen, auch partizipatorischen Aspekt erweiterte Definition von Skulptur erlangt daher insbesondere vor dem Hintergrund klassischer (Bildhauerei-)Diskurse eine besondere Sichtbarkeit. „Ich benutze mit Absicht diesen traditionellen Begriff, weil das, was ich tue, wenig mit traditionellen Vorstellungen zu tun hat. [...] die Vorstellungen, die in diesem Raum, den ich meine, entstehen, können sich an diesem traditionellen Begriff ansammeln als Kristallisationspunkt. [...] Was ich unter Zeit verstehe, das ist kein Abstraktum, es ist ein Stoff, mit dem ich forme. Ganz einfach, es kommen Zeitdehnungen vor, [...] Zeitzusammenziehungen [...], Zeitsegmentierungen [...].“21
5 Benjamin Zix, Napoleon besucht die Salle de Laocoon bei Nacht, 1810, Federzeichnung, 26 x 39 cm, Paris, Musée du Louvre.
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Im Kontext des Tagungs- und Publikationsthemas stehen hier die spezifische Struktur von Zeitlichkeit der auf der Fotografie überlieferten skulpturalen Handlung Walthers und die Bedeutung der Fotografie für deren Verbildlichung und damit dauerhafte Einprägung im Zentrum. Eine Pose resultiert immer aus der Dualität von still und motion, weshalb Gabriele Brandstetter an diesem Übergang das Changieren zwischen den Gattungen eine „Umspringzone“ von Bild und Korporalität markiert.22 Die temporale Verdichtung aus einer sukzessiven Abfolge im Innehalten erinnert an die traditionellen Kunstdiskurse im Paragone seit der Renaissance. Während Alberti die statua bzw. den colossus als Hauptherausforderung der Bildhauerei benannte, stelle die Malerei eine (textbasierte) historia dar. Letztgenannte ziehe den Betrachter über die Einführung einer fiktiven Temporalität in ihren Bann.23 Aber auch die Bildhauer strebten in der Bearbeitung des Steins mittels der einzelnen, narrationsbedingt einander folgenden vedute eine Umsetzung dieses favorisierten Ziels an. Noch vor Lessings Diskussion über den fruchtbaren Augenblick lässt sich in der Skulptur zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein ausnehmendes Interesse an der Wahl eines prägnanten Moments bei der Inszenierung einer Geschichte erkennen.24 So gelingt der gleichzeitige Verweis auf bereits zurückliegende und noch zukünftige Szenen. In einem bestimmten Augenblick des Innehaltens offenbart sich die ganze Charakteristik einer Bewegung. Die aus Aristoteles’ Tragödientheorie bekannte Peripetie, ein plötzliches Umschlagen der Handlung, der entscheidende Wendepunkt eines Dramas, beinhaltet immer einen kurzen Stillstand, den Bruchteil einer Sekunde lang, eine kaum wahrnehmbare Sammlung und zeitliche Gerinnung.25 Bei Walthers „Versuch, eine Skulptur zu sein“ erfolgt die Pointierung des Ausdrucks und der Bedeutungsgenerierung weniger aus einer bestimmten Bewegungsabfolge denn über die Konkretion einer plastischen Pose und deren Fixierung in der Fotografie. Mit seiner proklamierten Erweiterung des klassischen Skulpturenbegriffs26 geht eine Einführung von Zeitlichkeit bei gleichzeitiger Abkehr vom statuarischen Charakter eines entitätisch begriffenen Objekts einher, auch wenn dieser temporale Fokus durch die (einzig vorhandene) Fotografie wieder reduziert wird. Sukzession wird Dauer; Haptik und Plastizität werden auf die Imagination übertragen, nur vor dem inneren Auge erfahren – „das Skulpturale als Vorstellung“. Die von einem starken Schlagschatten bestimmte Illumination der Szene weckt, so die Überlegung, zudem Assoziationen an die Skulpturenrundgänge und -beobachtungen bei Fackellicht im 19. Jahrhundert zugunsten einer gesteigerten Mimesis (Abb. 5). Doch scheint bei Walther die mimetische Nachahmung auf die Spitze getrieben, indem der Künstler auf seine pygmaliongleichen Fähigkeiten verzichtet und selbst in die Rolle der Statue schlüpft, mit seinem Werk verschmilzt. Hier zählt weniger die Erweckung der Figur selbst als deren Erstarrung in einer Pose27, die nur der Mund durch das Speien des Wassers in Bewegung hält. Mit diesem Zwitterdasein zwischen (lebender) Skulptur, plastischer Handlung, Tableau Vivant und Fotografie hat Franz Erhard Walther maßgeblich zu einer gewinnbringenden Diskussion über das Medium Skulptur beigetragen – sogar über das vielfach rezipierte Strukturmodell von Rosalind Krauss’ hinaus, die den Körper als plastisches Material in ihrem expanded field so nicht berücksichtigte.28 Performing the making I 149
Der freie Grundriss In einer Erweiterung und Auseinandersetzung mit Walthers Skulpturenbegriff arbeitet der in Berlin lebende Künstler Andreas Greiner mit lebendigen Organismen, diversen Insekten, biolumineszenten Algen oder Bakterienkulturen. Mit ihnen bewohnte er im Frühjahr 2014 eine Woche lang das Lichthaus des Kunstvereins Arnsberg „spring forward fall back“, das er in ein Biotop verwandelte, in dem unterschiedliche Insekten schlüpften.29 Ähnlich einer experimentalen Anordnung schafft Greiner die entscheidenden Bedingungen für das jeweilige Setting und überlässt es dann den beteiligten Akteuren, von sich aus zu „handeln“ und ihn zu überraschen. Ein komplexes Hintergrundwissen und jahrelange „Feldforschung“ sind für eine solche Realisierung notwendig – der Künstler agiert als ein den Geheimnissen des Lebens nachspürender Gärtner, Entomologe, Experimentator und Züchter, der in seinem organischen Werk einen evolutionären Prozess anstößt oder zur Disposition stellt. Das Material ist per se lebendig und lässt sich als eigenwilliger Akteur nur bedingt zähmen. Steht der Künstler seinem Material antwortend gegenüber, gesteht er diesem eine Eigenzeitlichkeit zu, die es zu berücksichtigen und in den Werkprozess zu integrieren gilt. Mit dieser deutlichen Abkehr vom statuarischen Objekt zugunsten von unzähligen, sich prozessual entwickelnden und verändernden, flüchtig-vergänglichen living sculptures stellt Greiner, der ursprünglich ein Bildhauerstudium in Florenz absolviert hat, die klassische Vorstellung von Plastik, aber auch vom autonomen, singulären Urheber in Frage. Entsprechend nennt er sie: „Co-Autoren.“30
6 Andreas Greiner, Der freie Grundriss, 2014, Fliege verpuppt, Installationsansicht Festival of Future Nows, Neue Nationalgalerie Berlin.
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Anlässlich des „Festivals of Future Nows“, das 2014 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin stattfand, platzierte er in einem Loch der von David Chipperfield im oberen Gebäudeteil Mies van der Rohes aufgestellten Birkenstämme eine Fliegenlarve31 (Abb. 6). Mit dem Leiter Joachim Jäger schloss Greiner einen Vertrag, der gewährleistete, dass das von ihm ausgesetzte Insekt zu schützen, zu ernähren sei und ein Bleiberecht erhalte. „Ludwig“, so der Name des Protagonisten, versteht er als „fliegende Skulptur“, ein Werk, auf das es keinen Besitzanspruch gibt, das frei ist, nicht markiert oder konserviert werden darf.32 Interessant ist hier der Rückgriff auf die klassischen Parameter von Skulptur, bzw. wie diese (auch humorvoll) konterkariert und zugunsten einer temporalen Ebene erweitert werden. Wie stehen Eigenzeit des Werks und Rezeptionszeit zueinander? Welches Konzept von Zeitskulptur kommt hier zum Tragen im Unterschied zu Walther? Jeder von uns kennt sie, jeden hat sie schon einmal zur Weißglut gebracht, an den Rand der Geduld getrieben, wenn sie den gedeckten Tisch umschwirrt, sich unbeeindruckt von diversen „Verteidigungsmethoden“ immer wieder auf unserer Haut niederlässt oder summend durch den Raum kreist – die Rede ist von der gemeinen Stubenfliege, Musta Domestica, treuer als jeder sanftmütig uns anblickende Labrador oder zeitungsbringende Langhaardackel. Sie wird vorwiegend als parasitoides Lebewesen und Überträger von Krankheiten, weniger in ihrem Nutzen zur Schädlingsbekämpfung gesehen – wie eine Sonderausstellung „Fliegen“ im Berliner Naturkundemuseum 2014/15 zeigte. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund ihrer allgemein bekannten Präsenz wird die Fliege gerne übersehen. Andreas Greiner rückt dieses Missverhältnis zurecht, indem er mit seiner Arbeit „Der freie Grundriss“ (2014) das genannte Tier zum Kunstwerk adelt. Die Fliege, „das Emblem des Ephemeren“ schlechthin – man denke an das kurze Leben der Eintagsfliege – scheint durch ihren titelgebenden Fortbewegungsmodus die Gravitationskraft auszuhebeln, „in den Lüften“ der Erdung, Bodenhaftung, traditionellen Masse und Schwere von Skulptur zu entfliehen. Unterstrichen wird die Subjektivierung des Werks durch eine namenspendende Personalisierung „Ludwig“, inklusive vertraglicher Regelung. Mit dieser, den Charakter des Lebewesens unterstreichenden Gestik unterscheidet sich Greiners Ansatz von Damien Hirsts provokativ anmutenden Installationen und Bildern. Bei Hirsts „A Thousand Years“ (1990) oder „Black Sun“ (2004) tritt die Fliege eher als massenhafter Plagegeist denn als schützenswertes Individuum auf. In seinen „Fly Paintings“ nutzt der britische Künstler das Insekt als opake Masse, schwarzes Farbpigment, der jeweiligen Komposition untergeordnet. Das vielfältige Interesse in der Kunst an diesem Lebewesen bekundet auch Pierre Huyghe, der zuletzt im Neubau des Sprengel Museums Hannover („Orphan Patterns“, 2016) eine große Menge Fliegen aussetzte, die als schwarze Flecken die frisch geweißelten Wände der einzelnen Räume in Beschlag nahmen, den Besuchern surrend um die Köpfe schwirrten und am Ende ihres Lebens tot auf dem Boden liegen blieben. Zugleich stellte der für seine Begegnungen zwischen Menschen, Tieren und Objekten bekannte französische Künstler ein vor Performing the making I 151
7 Pierre Huyghe, De-Extinction, 2014, Farbfilm, Ton.
Urzeiten in Bernstein eingeschlossenes, kopulierendes Insektenpaar aus, das er mit einer mikroskopischen Kamera filmte (Abb. 7). Im goldgelben Bernstein schillern die zartgliedrigen, durchsichtigen Flügel; beide Tiere erscheinen wie eingefroren in dieser momenthaften Ewigkeit. Andreas Greiner präsentiert die Fliege nicht wie in der Kunstgeschichte der Malerei als Trompe l’oeil-Motiv zugunsten einer größeren Naturnachahmung33, auch nicht als lästigen Begleiter, sondern porträtiert sie in ihrer individuellen Schönheit. „Ayako“ (2012) verbildlicht sogar in einzelnen Makrofotografien die Schlüpfstrecke einer Fliege als den Lebensprozess festhaltende Porträtreihe. Teils großformatige Fotografien von „Albert“ (Abb. 8), „Olafur“ (2013) und „Jeremias“ (2012) demonstrieren diese „Singularität des Tieres“ – so der gleichnamige Titel einer jüngst begonnenen Serie. Im Fokus stehen hier u. a. industriell produzierte Hybridhähnchen aus der Massenzucht mit ihrer dem menschlichen Fleischkonsum angepassten Anatomie. Die in der Nationalgalerie ausgesetzte Fliege „Ludwig“ existiert hingegen primär in der Vorstellung, da vermutlich nur wenige Betrachter den reaktionsschnellen Protagonisten zu Gesicht bekamen, bzw. sich über den Kunstwerkstatus dieses Insekts bewusst waren (wenn sie ihn denn sahen). Wir wissen, wie eine Stubenfliege aussieht, und können uns daher die visuelle, buchstäblich nicht greifbare Gestalt des lebenden ,Artefakts‘ vor dem inneren Auge vorstellen – eine übersehbare, nahezu unsichtbare bzw. mentale Skulptur.34 Auch für den vorliegenden Text erfolgte das Schreiben vorwiegend aus der Erinnerung und den Dokumentationsfotos heraus. Die Bezeichnung „Ludwigs“ als flying sculpture rekurriert auf Greiners Interesse an zeitbasierten Skulpturen, d. h. plastischen Objekten, die sich temporal verändern, ihre individuelle Rhythmik mitbringen und sich der traditionellen durata entziehen. Dies verdeutlichen auch andere, teils ephemere Arbeiten, wie „Entladung“ (mit Fabian Knecht) (2012/13) und „Reversion C“ (mit Julian Charrière) (2010). 152 I Ursula Ströbele
Edmund Husserl differenziert in seinen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ (1928) am Beispiel eines erklingenden Tones Zeitobjekte, „die nicht nur Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten.“ 35 Das Objekt – hier die Fliege – ist eine äußere Erscheinung; die Intention der Erinnerung bestehe, Husserl zufolge, in dessen Vergegenwärtigung, sie stelle das Objekt im Bilde vor Augen.36 Nur in Gedanken lässt sich, wenn man dies übertragen wollte, die Skulptur umschreiten und von allen Seiten begutachten. Es handelt sich weder um ein konserviertes Tierpräparat aus einem Naturkundemuseum noch um die Darstellung des Fliegens, wie beispielsweise in der Bronzeplastik „Möwenflug“ von Étienne-Jules Marey (1887) (Abb. 9) – in umgekehrter Rollenverteilung umkreist „Ludwig“ den Museumsbesucher.
8 Andreas Greiner, Albert, 2013, Fine art print/Makro fotografie einer frisch geschlüpften Fliege in Berlin.
9 Étienne-Jules Marey, Möwenflug, 1887, Bronze, 16,4 x 58,5 x 25,7 cm, Beaune, Musée E. J. Marey.
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Unabhängig von der Rezeptionszeit gehört zum konzeptionellen Entwurf von „Der freie Grundriss“ die dem Zweiflügler eigene, komplexe Entstehungszeit der Geburt und des Wachstums: das Einnisten in den als Sockel und Trägergrund fungierenden Baumstamm und das Schlüpfen aus dem Kokon, der aus dem Loch im (bereits) toten Holz auf den Boden fiel, wodurch sich der organische Kreislauf schloss. Die aufeinanderfolgenden, durch den Lebenszyklus bedingten Stadien unterstreichen im Skulpturalen das sukzessive Moment. Das Werk vervollständigte sich erst während der Ausstellung, d. h. es änderte seine körperliche Gestalt und mutierte von da an, seinen Standpunkt („Der freie Grundriss“) dauernd wechselnd zur fliegenden Skulptur, bis hin zum Tod des Lebewesens. Interessant ist, dass die durchschnittliche Lebensdauer einer ausgewachsenen Fliege oft nur wenige Wochen beträgt, wobei das eher statuarisch-skulpturale Kokon-Stadium davon einen Großteil einnimmt. Die Lebenszeit bzw. auch „strukturelle, intrinsische Zeit“37 in Form einer kontinuierlichen Gestaltveränderung des Insekts erfahren wir Betrachter als „gelernte Zeit“38, d. h. wir wissen von diesem biologischen Prozess aus Lehrbüchern, haben ihm aber wohl in seiner Gänze kaum einmal selbst beigewohnt. Ist die stringente Linearität der Zeitlichkeit auf Rezeptionsebene bei „Der freie Grundriss“ aufgehoben, als der Besucher der Neuen Nationalgalerie vielleicht in nur einzelnen Augenblicken eine flüchtige Sicht auf die Fliege erhaschte und damit eine kontinuierliche Anschauung unterbrochen war? Die Eigenzeit in Form der Lebensdauer allein bestimmt die Existenz des Kunstwerks; übrig bleibt nur der Vertrag als Referenz auf das ehemalige Vorhandensein. Einem lebenden Ready-Made ähnlich erscheint das geflügelte Tier durch die konzeptionelle Setzung des Künstlers „plötzlich“ im Ausstellungsraum und beansprucht dieselben (und zusätzliche) Privilegien wie die anderen Exponate. Eine ähnliche, humorvolle Nobilitierung, jedoch für den Außenraum, nahmen 2012 Julian Charrière und Julius von Bismarck in ihrer skulpturalen Intervention „Some pigeons are more equal than others“ vor, indem sie einige das Stadtbild Venedigs beherrschende Tauben mit Lebensmittelfarbe färbten. Anschließend setzten sie diese mit ihrer abweichenden Kolorierung zurück in ihren ursprünglichen Lebensraum. Aus den grauen, ungeliebten „Ratten der Lüfte“ wurden bunt gefiederte, exotisch-artifiziell anmutende Vögel, die für Aufsehen und Irritation sorgten.39 Der pygmalionische Bildhauereitopos scheint bei diesen non-human living sculptures in seiner jahrhundertalten Tradition von der Bühne gedrängt und trotzdem in Anklängen noch vorhanden, wenn aus dem unbeweglichen, geschlossenen Kokon unerwartet (übersehen) das fliegende Insekt schlüpft und sich auf seinen Weg macht oder die farbigen Tauben den Markusplatz bevölkern. Der künstlerische Eingriff ist bei letztgenannten durch den optischen Verfremdungseffekt deutlich größer. Das Faszinosum fliegender Skulpturen belegt auch eine geplante, unrealisiert gebliebene ZERO-Aktion vor ungefähr 50 Jahren: Im Sommer 1965 reichten Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker und Hans Haacke Projektvorschläge für „Zero on Sea“, eine Veranstaltung rund um den Pier von Scheveningen ein. Anvisiert war ein skulpturales Freiraum-Ensemble bestehend aus Tonnen mit Ölfeuer auf Flößen, schwarz-wei154 I Ursula Ströbele
ßen Dampfwolken, Bojen als mobilen Plastiken, Flaschenpost mit Zero-Botschaften, Silberhaut auf dem Wasser, farbigem Meer und Rauchobjekten sowie einem Boot als Futterplatz für Möwen im Sinne fliegender Plastik (Abb. 10).40 Nicht der Künstler erweckt (mit Hilfe des Olymps) die Statue zum Leben; das Material ist per se lebendig und ein eigenwilliger Akteur; die Fliege „Ludwig“ befreit sich, den evolutionären Gesetzen folgend, aus ihrem schützenden Gehäuse und breitet ihre filigranen, transparenten Flügel aus. Zeit entfaltet sich buchstäblich räumlich, da er, „Ludwig“, selbst seinen Geburtsort verlässt. Im Zentrum steht nicht die Naturnachahmung mittels (Über)formung des Materials, sondern die Verlebendigung von „Material“ im Sinne einer Pointierung und zugleich Objektivierung durch eine besondere Kontextwahl: Das Museum fungiert als Geburtsstätte, nicht als Mausoleum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Wilhelm Waetzoldt in seinem 1905 erschienenen Buch „Das Kunstwerk als Organismus. Ein aesthetisch-biologischer Versuch“ seine Überlegungen, denen zufolge ein Kunstwerk kein totes Mosaik, sondern ein lebendiges Gebilde sei und die Gesetze der Natur darauf anzuwenden seien.41 Jack Burnham wiederum proklamierte in seinem Buch „Beyond Modern Sculpture“ (1968) die Affinitäten des Mediums zu Naturwissenschaft und Technik: „It becomes important, therefore, that we look upon sculpture as an indication of man’s changing conception of biology, as an indication of his biological role, and especially as a form of biological activity itself.“42 Auch wenn Burnham (und Waetzoldt) hier keine aus lebenden Organismen bestehenden Kunstwerke in seine Betrachtungen einbezieht, plädiert er für ein „replacement of inanimate sculpture with life-simulating systems through the use of technology.“43
10 Hans Haacke, Lebendes Flugsystem, 30.11.1968.
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Diesem Postulat entsprechend wird bei Greiner Leben über Burnham hinausgehend nicht (mehr) simuliert, sondern in seiner Echtheit und Lebendigkeit präsentiert. Er agiert als lebensvermehrender Züchter, der sein plastisches Material (indirekt auch den willigen Betrachter) teils „modelliert“ und zur Schau stellt, ohne, wie in der Bio bzw. Transgenic Art, in die Genetik selbst einzugreifen. Andreas Greiner rückt das Tier als lebende Skulptur in den Mittelpunkt und nutzt die „Schnittstellen“ von Kunst und Naturwissenschaft mit dem Ziel einer gegenseitigen Wissensbefruchtung ganz im Sinne Burnhams.
Schluss Mit Franz Erhard Walthers „Versuch, eine Skulptur zu sein“ und Andreas Greiners „Der freie Grundriss“ stehen zwei sehr unterschiedliche Formen von lebender Zeitskulptur im Zentrum der Analyse, die zwischen Dauer (Walther) und Augenblick (Greiner) oszillieren. Beide Künstler unternehmen mit einem humorvollen Verweis auf das traditionelle Gattungsverständnis den Versuch, eine „unkonventionelle“ Skulptur zu realisieren. Während Walther seinen Versuch (inklusive des Speiens) selbst zu lenken und zu kontrollieren vermag, überträgt Greiner seinem „Co-Autoren“ und Mitstreiter „Ludwig“ einen Großteil des werkimmanenten Gestaltungsspielraums. Er experimentiert mit den von Walther gesetzten neuen plastischen Paradigmen. Nach seinem in den 1950er-Jahren artikulierten prozessualen, performativen Werkkonzept erlebt Skulptur als Handlung aktuell eine Renaissance und jüngere Künstler beziehen sich wieder vermehrt auf den teils anachronistisch anmutenden Skulpturenbegriff, dessen klassische Parameter sie dabei gleichzeitig konterkarieren. Gerade vor diesem Hintergrund sind die Werke zu begreifen. Wie lassen sich eine Fliege oder ein menschlicher Körper in eine Skulptur verwandeln und was ist dann überhaupt das Skulpturale daran? Wie spricht man nun über vergleichbar junge künstlerische Positionen? Nähert man sich ihnen mit einem klassisch kunsthistorisch-philosophischen Vokabular? Wie ist mit dem Aspekt der Zeitlichkeit und des Ephemeren dabei umzugehen? Hilft es beispielsweise, die Zeitstruktur der beiden Arbeiten Walthers und Greiners mit Adorno besser zu verstehen, der Werke forderte, „[...] die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, [...] und spurlos untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. [...]“44? – Dauer als bürgerliche Besitzkategorie, die es zu überdenken gilt? Bei Walthers „Versuchen“ erfolgt im Gegensatz zu seinen Werksätzen die Handlung nicht in der Realzeit des Betrachtens. Wir vollziehen, erleben diese nach mit einer zeitlichen Verzögerung (performing the making vor dem inneren Auge), vergegenwärtigen sie uns, während wir das Foto in Augenschein nehmen. Die Handlung ist nur der Vorläufer, d. h. Vorgeschichte und Voraussetzung. Greiner dagegen realisiert mit „Der freie Grundriss“, dessen oft übersehene, quasi unsichtbare Skulptur ihr Werden im Ausstellungsraum selbst übernimmt, ein Kunstwerk „als Augenblick“, wie Adorno es ausdrückt, „kein Sein, sondern ein Werden“45, an dem „seine innere Zeit“ 46 erscheine. 156 I Ursula Ströbele
Beide beziehen sich paradoxerweise auf die Gattungsgeschichte der figurativen Rundplastik, insbesondere auf deren Merkmale des Stillstands und der Statuarik, um das Momenthafte und Dynamische in den Werkprozess zu integrieren, temporale Strukturen mit der Skulptur zu verbinden.
Anmerkungen 1 Franz Erhard Walther anlässlich eines Vortrags an der Universität der Künste Berlin (Mai 2013). 2 In Anlehnung an Robert Morris, Some Notes on the Phenomenology of Making. The Search for the Motivated, in: Artforum 8/8, New York, April 1970, S. 62–66. 3 In seinen 2011 publizierten Tagebuchnotizen „Sternenstaub. Ein gezeichneter Roman“ (hg. von Sylvia Martin und Kunstmuseen Krefeld, Berlin 2011.) schreibt Walther für das Jahr 1957: „[...] die Tage sind durchsetzt mit für meine Umgebung unverständliche Gesten/für mich hingegen hängen sie mit meiner Kunst zusammen/eine wesentliche Erfahrung, Handlungen zu vollziehen, die durch ihre Eigenart aus dem Alltagsleben fallen/gewinne ich die Ahnung, dass diese Gesten künstlerische Qualitäten haben können/entwickle ich ein Bewußtsein für das Künstlerische daran, was mir eine klare Unterscheidung zu Schauspielergesten vermittelt/mit Schauspiel und Bühne habe ich nichts zu schaffen/um meine Vorstellungen zu dokumentieren, bitte ich Egon Halbleib, meine Posen fotografisch festzuhalten/führt zu ‚Versuch, eine Skulptur zu sein‘/“ (Ebd., S. 85). Deutlich wird Walthers aufkeimendes Interesse, mittels für seine Außenwelt unbegreiflicher Gesten grundlegende Erfahrungen im Moment einer bestimmten Handlung zu machen und diese konkret von einer möglichen Theaternähe zu distanzieren. 4 Ebd., S. 109. 5 Ein Jahr später hält er fest: „[...] wir verabreden uns für zwei Aufnahmetage an einem Wochenende/spanne ein großes Nesseltuch auf einen Holzrahmen/davor werde ich agieren/setze das Licht zweier Scheinwerfer so, dass eine ungewöhnliche Beleuchtung entsteht/das klassische ‚Licht von links, Schatten rechts‘ soll vermieden werden/biographische Gegenstände/Handlungen bildhaftplastisch/‚Wasserspeier‘ etwa bezog sich auf einen eigenartigen Brunnen im Foyer der Werkkunstschule Offenbach/[...].“ (ebd.). 6 Plinius d. ä., Historia Naturalis, in: Die Naturgeschichte des Cajus Plinius Secundus (ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von G. C. Wittstein), 5. Bd., Leipzig 1882, Buch 35/43, S. 158 f., 35, 43. 7 Franz Erhard Walther im Interview mit Kolja Reichert, Skulpturen ohne Ende, in: Frieze. de, Sept./Nov. 2014, http://frieze-magazin.de/archiv/features/skulpturen-ohne-ende/ [letzter Zugriff 16.08.2016]. 8 Valie Exports „Körperkonfigurationen“ der 1980er-Jahre scheinen dies über die Anpassung und Nachformung des weiblichen Körpers an die urbane Architektur trotz des konzeptionell differierenden Hintergrunds formal aufzugreifen. 9 Franz Erhard Walther (wie Anm. 3), S. 221. 10 Fast zehn Jahre danach entsteht Bruce Naumans bekanntes „Self-Portrait as a Fountain“: Mit nacktem Oberkörper, die Arme seitlich nach oben angewinkelt, die Hände geöffnet, spuckt Nauman das Wasser in hohem Bogen vor sich aus. In der Literatur erfahren Naumans Bilder seiner BrunnenMetaphorik, mit dessen Thematik er mehrfach gearbeitet hat, so Beatrice von Bismarck, vorwiegend eine Lesweise als repräsentatives Künstlerporträt. (Beatrice von Bismarck, Bruce Nauman.
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The true artist. Der wahre Künstler, Ostfildern-Ruit 1998, S.13.) Unter dem Aspekt des Skulpturalen werden sie hingegen nicht analysiert. Einzig bei seiner Arbeit „Thighing (Blue)“ (1967) verweist sie auf den Künstlerkörper als knet- und formbaren skulpturähnlichen Gegenstand (Ebd., S. 22). 11 Vgl. Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Stefanie Diekmann: Posing Problems. Eine Einleitung, in: Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, hg. von dies., in: Theater der Zeit: Recherchen 89, 2012, S. 7–21, hier S. 7. Die Autoren bezeichnen die Pose als ein „körperliches (Sich-)Zeigen“. 12 Ebd., S. 8. 13 Die Pose, im Italienischen posa, verwandt mit dem aus dem Lateinischen stammenden Pause, verstehen die Autoren als Hybrid zwischen Tanz, Melodram, Bild und Plastik. (Ebd., S. 7 f., S. 46 f.). Eines der ältesten Zeugnisse über die Pose stamme aus einem Traktat zum Tanz des italienischen Choreographen Domenico da Piacenza: „Die posa schneidet eine Figur der Bestimmtheit aus der Unbestimmtheit und Flüchtigkeit, aus der Verwischung der Bewegung aus.“ (Ebd., S. 47). 14 Craig Owens, Posieren, in: Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, hg. von Herta Wolf, Frankfurt am Main 2003, S. 92–114, hier S. 107. In der Fotografie finde eine „Figuration eines Blicks statt, der – natürlich – vergegenständlichend und bemächtigend ist, aber nur, indem er seine Objekte stillstellt, in Stein verwandelt.“ (Ebd., S. 103). 15 Ebd., S. 107 f. 16 Vgl. dazu u. a. Birgit Joos, Das nicht enden wollende Bild. Der Aspekt der Dauer innerhalb von Performances, in: Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, hg. von Karin Gludovatz und Martin Peschken, Berlin 2004, S. 113–124, hier S. 115. In ihrem Text zur Performancekunst erörtert sie deren Verhältnis zu Fotografie und Skulptur im Hinblick auf die unterschiedlichen Zeitlichkeitsstrukturen. Unbeweglichkeit fungiert auch hier als traditionelles, der Skulptur zugeordnetes Charakteristikum. Eine Zeitverfestigung, so Joos, ergebe sich durch den Anspruch auf Dauerhaftigkeit im Sinne einer „klassischen“ Skulptur, die Übertragung dieses Anspruchs auf den vergänglichen Körper, sowie das Prinzip der zeitlichen Ausdehnung der Pose in der Fotografie. Auch die Performance erhebe über Dokumentation und Wiederholung einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit. (Ebd., S. 115 f.). In den 1960er-Jahren sei der Begriff der Skulptur auf die Performancekunst nobilitierend übertragen worden: „Dieser Gedankengang, dass der menschliche Körper als ‚überzeitliche‘ Skulptur begriffen und eingesetzt wird bei gleichzeitiger Kritik an derselben, kehrt – natürlich unter veränderten Vorzeichen – in der Performancekunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder.“ (Ebd., S. 117). Dort erwähnt sie auch die ‚Tagesdenkmäler‘ lebender Protagonisten aus der französischen Revolution. 17 Owens (wie Anm. 14), S. 108. 18 Ebd., S. 109. 19 Ebd., S. 113. 20 Gabriele Brandstetter, Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung, in: B randstetter, Brandl-Risi und Diekmann (wie Anm. 11), S. 46. 21 Franz Erhard Walther, Der andere Werkbegriff, in: Kunstforum International 29, 5 (1978), S. 102–104, hier S. 104. 22 Brandstetter (wie Anm. 20), S. 46. „Und eben in dieser Zwischensituation markiert die Pose jene Stelle, in der die Zeitlichkeit des Bildes sich einträgt. [...] könnte man hier von der Pose als einer ‚Schnitt-Stelle‘ zwischen Bild und Performance sprechen.“ Brandl-Risi schlägt in diesem Zusammenhang ein erweitertes Posen-Verständnis vor, das Bewegung und Bewegungslosigkeit nicht als Opposition versteht. Denn auch im Moment des (scheinbaren) Stillstands sei eine latente Sukzession, Dynamik existent – nicht zuletzt in der Wahrnehmung des Rezipienten, die immer neue Bilder konfiguriert. (Bettina Brandl-Risi, Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose, in: Brandstetter, Brandl-Risi und Diekmann (wie Anm. 11), S. 62.).
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23 Bei Alberti heißt es: „Das bedeutendste Werk des Malers ist nicht die Riesengestalt (colossus), sondern der ‚Vorgang‘ (historia). Denn größeres Lob verdient sich das Talent des Malers mit der Darstellung des ‚Vorgangs‘ als mit demjenigen der Riesengestalt.“ Leon Battista Alberti, De pictura/Die Malkunst (1435), in: ders., Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei/De statua. De pictura. Elementa picturae, hg. von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, unter Mitarbeit von Kristine Patz, Darmstadt 2000, S. 194–315, hier S. 256–257. 24 Vgl. dazu u. a. ursula ströbele, Die Bildhaueraufnahmestücke der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris 1700–1730, Petersberg 2012, insbes. Kapitel 5. 25 Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, Kap. 11, S. 35. 26 Franz Erhard Walther (wie Anm. 3), S. 177. „[...] es geht nicht um einen Genrewechsel, also nicht um den Übergang vom Bild zur Plastik-Skulptur/auch die ist letzlich [sic] ‚Bild‘, wenn auch ein plastisches/umrißhafte Vorstellungen bilden sich, daß ein Werk nicht nur visuell, sondern auch mit dem Körper entwickelt werden kann/ein mit dem Körper entwickeltes Werk setzt einen ganz anderen, als den klassischen Kunstbegriff voraus [...].“ (1963). 27 Den Begriff „Pose“ verwendet Walther in diesem Zusammenhang selbst. Siehe Franz Erhard Walther (wie Anm. 3), S. 85. 28 Vgl. dazu u. a. Retracing the expanded field. Encounters between Art and Architecture, hg. von Spyros Papapetros und Julian Rose, Cambridge/London 2014; Ursula Ströbele und Andreas Greiner, 24h Skulptur. Notes on Time Sculptures, Berlin 2015, S. 16–37, hier S. 34 ff. Walther hielt sich von 1967 bis 1971, Rebecca Horn zwischen 1972 und 1981 in New York auf. Gilbert und George stellten 1970 ihre „Singing Sculpture“ vor. 29 Aus den am Anfang eingesetzten Raupen und Larven schlüpften Schmetterlinge und Fliegen; gleichfalls nahm krabbelndes und fliegendes Getier der nahen Umgebung den künstlerisch gestalteten, begehbaren Raum nach und nach in Beschlag. 30 Charakteristisch für ihn sind die unterschiedlichsten Formen der Kooperation mit anderen Bildenden Künstlern, aber auch Architekten und Musikern bei der Realisierung seiner Arbeiten, sowie die Nähe zur Biologie und den Naturwissenschaften. 31 Seit 2009 arbeitet der Künstler mit Fliegen; seitdem entstanden Werke, wie „Fly Gate“ (2009), „Homeobox“ (2009) und „Every Fly is a Piece of Art“ (2012). 32 Für eine Besprechung von „Der Freie Grundriss“ unter besonderer Berücksichtigung der AkteurNetzwerk Theorie und der Lektüre Donna Haraways vgl. auch Desiree Förster, Being Interspecies. Aushandlungsprozesse von Subjektivität und Ereignis jenseits der Repräsentation, in: Andreas Greiner. Anatomy of a Fairy Tale, hg. von Stefan Vicedom, Wien 2016. 33 Vgl. dazu u. a. die von Vasari berichtete Anekdote über Giotto: „Man sagt auch, Giotto habe zur Zeit, in welcher er noch als Knabe bei Cimabue war, einer Figur seines Meisters eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt, dass Cimabue, als er sich bei seiner Rückkehr wieder an die Arbeit setzte, sie als eine wirkliche Fliege mehrfach mit der Hand fortscheuchen wollte, ehe er des Irrtums innewurde.“ Giorgio Vasari, Giotto, in: Ders., Leben der berühmtesten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahr 1567, hg. von Ludwig Schorn und Ernst Förster, Wiesbaden 2010, S. 71–87, hier S. 87. 34 Anish Kapoor verwendet den Begriff der mental sculpture für seine raumsprengende, monumentale Plastik „Memory“ (2008), da sich der Betrachter erst durch sukzessives Umrunden vor seinem inneren Auge die Gesamtform erschließen kann. (Anish Kapoor, in: Ursula Ströbele, Mise-enScène. Skulptur und Narration. Untersuchungen zu Anish Kapoor, München 2013, S. 79). 35 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Freiburg 1928, S. 384. „Wenn ein Ton erklingt, so kann meine objektivierende Auffassung sich den Ton, welcher da dauert und erklingt, zum Gegenstand machen und doch nicht die Dauer des Tones oder den Ton in seiner Dauer. Dieser als solcher ist ein Zeitobjekt.“ (Ebd., S. 384 f.).
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36 Ebd., S. 400, 447. 37 Vgl. dazu Guido Reuter, Zeitaspekte der Skulptur. Die strukturelle Zeit in plastischen Bildwerken, in: Bilderzählungen – Zeitlichkeit im Bild, hg. von Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner und Guido Reuter, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 65–83. 38 Ludger Schwarte spricht von der Depräsentation als der Erfahrung der Eigenzeit des Dinges. Vgl. dazu Ludger Schwarte, Die Architektur der Zeit, in: Zeitstrukturen, hg. von Ders. und Johannes Myssok, Berlin 2013, S. 133–147, hier S. 142. 39 Eine dazugehörige Publikation erschien 2015 bei Lars Müller Publishers. 40 Vgl. dazu Stephan von Wiese, Piene in Amerika: Der Weg zur Sky Art, in: Otto Piene. Sky Art 1968–1996, hg. von Stephan von Wiese und Susanne Rennert, Köln 1999, S. 23 f. Die hier gezeigte Abbildung von Hans Haacke zeigt eine später realisierte Fassung dieser Arbeit. 41 Wilhelm Waetzoldt, Das Kunstwerk als Organismus. Ein aesthetisch-biologischer Versuch, Leipzig 1905, S. 17 f. Sinn und Existenz eines Kunstwerks vervollkommnen sich erst in der Rezeption; der Betrachter reproduziere es. (Ebd., S. 18). 42 Jack Burnham, Beyond modern sculpture. The effects of science and technology on the sculpture of this century, New York 1968, S. 5 f. 43 Ebd., S. 7. 44 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2003, S. 265. „Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. Die Noblesse einer solchen Verhaltensweise wäre der Kunst nicht unwürdig, nachdem ihr Edles zur Attitude und zur Ideologie verkam. Die Idee der Dauer der Werke ist Besitzkategorien nachgebildet, bürgerlich ephemer; manchen Perioden und großen Produktionen war sie fremd.“ 45 Ebd., S. 263. 46 Ebd., S. 132. Am Werk selbst erscheine seine innere Zeit „[...] und die Explosion der Erscheinung sprengt deren Kontinuität.“
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Lisa Le Feuvre
The Event Sculpture What does it mean if sculpture is considered as an event? At the Henry Moore Institute, a centre for the study of sculpture, we tested out this question in 2014 in an exhibition that brought together a group of artists over time as well as space. This experiment set out to turn the institution inside out and to extend the exhibition spaces into the surrounding life of the city. On the occasion of the conference “Skulptur und Zeit im 20 und 21. Jahrhundert” I chose to present this exhibition, “The Event Sculpture”1, as a case study to mine relationships between sculpture and time. At the time of presentation “The Event Sculpture” was an exhibition in progress and revisiting the lecture notes nearly a year later provides an opportunity to reflect on the ideas explored. So to begin. What is the ground of sculpture when it is interrupted by temporality? Sculpture can be fleeting, time bound, contingent and fluid, yet it will always be tied to legacies of statuary, solidity, materiality and memorial. Processes of carving, moulding, modelling and cutting are unquestionably at the root of the making of sculpture, with the physical experience of perceiving an object in space intrinsic to the encounter. Richard Deacon2 consistently describes sculpture as a verb concerned with fabrication, underlining the process of making. William Tucker3 sees sculpture as a noun that is subject to gravity and revealed in light4, pointing to sculpture’s ability to draw all that surrounds it into its own identity. Lawrence Weiner5 insists sculpture is the relationship of human beings to objects6, pointing to the encounter. Gego7 (Gertrud Goldschmidt) refused the term sculpture entirely, proclaiming: “sculpture, three-dimensional forms of solid material. Never what I do”.8 This refusal is important: she could not accept the term ‘sculpture’ as to her it referred to weight and stasis, yet she made works that are without doubt sculptures. Gego expanded the line into planes, volumes and expansive nets to engage with the problems of form and space, using light, shadow, scale and gravity in a constant process of discovery. All of these definitions by sculptors implicitly involve time, suggesting temporality is as much a part of sculpture as mass, volume, form and material, making and unmaking. Like any test, the intention of “The Event Sculpture” was to try out the unknown. We wanted to ask how transitory sculptures become written into art history. Our intention was to try to understand how a temporary exhibition of sculpture might change over time, and what an ‘event sculpture’ might be. These questions had been circulating our discussions for a few years, and with “The Event Sculpture” we sought to address them directly. Events are even more fleeting than exhibitions: brief and short-lived, they must be witnessed first-hand. Once finished, they persist through rumours, as well as the occasional photograph and video footage. As concentrated occurrences, events diametrically The Event Sculpture I 161
oppose sculpture’s pretence of longevity. Exhibitions not only provide frameworks, but are also inextricably bound to the interpretation and understanding of sculpture. “The Event Sculpture” proposed that sculpture is always in time and must be perceived directly. Nine artists of different generations were invited to take part, each selected for their long-term attention to the temporal nature of sculpture. All said yes immediately on being asked, and a grouping of works by Lara Favaretto9, Urs Fischer10, Ceal Floyer11, Simone Forti12, Simon Martin13, Anthony McCall14, Maria Nordman15, Tino Sehgal16 and Roman Signer17 was created. Lasting from a few seconds to several hours, the nine sculptures encompassed objects, performance, moving image and ephemeral actions. The invitation was simple: to present a single work on the exterior surfaces of the Henry Moore Institute building, scheduled to take place every other Monday during the winter months of 2014–15. The events were timed to create encounters with the varying life of the city: some took place in the middle of the day, during lunch-hours; others ran through the night until dawn, a time when late-night revellers stagger through the streets and shift workers change over; some started at the end of the office working day, commuter-time, catching people on their way home in cars and buses; and one took place during the school half term, a week when children and their families stalk the city in search of amusement. This was not an exhibition intended only for a specialised audience, the drive was to bring art into the rhythm of the city, to interrupt usual routines and to present sculptures that would persist in experience. Following each event, the works, one-by-one, migrated into the gallery spaces, passing from being bound by time to situated in space. Each artist was given control to not only present what they wished, but also to decide on the transition from outside to inside and on the associated documentation. In some instances material fragments formed of photographs, video, sound, objects and language tracked the event, as could be seen with Lara Favaretto, Ceal Floyer and Roman Signer. Other artworks, such as those by Simone Forti, Simon Martin and Anthony McCall, continued to unfurl over time as the sculptures moved from exterior to interior. In distinction, Urs Fischer, Maria Nordman and Tino Sehgal refused documentation for their sculptures, asserting their status as pure event. To bring the progression of works into order, writer Agnieszka Gratza was invited to produce a response to each event. Gratza would arrive in the city for each event and her 800-word copy was filed two days later, published digitally.18 “The Event Sculpture” embraced the format of the event with the ephemeral works probing, teasing and alluding to problems of sculpture through momentary encounters. Inherently temporary, the nine event-sculptures harnessed movement, light and sound to challenge assumptions of sculpture as immovable, stable and fixed. Made from durable materials, such as stone, bronze and steel, sculpture is traditionally made to stand the test of time. “The Event Sculpture” took a different approach, freeing sculpture from gravity, weight and stasis. When presented in public space, the nine works were concentrated, impermanent and highly public, spilling out into the life of the city, firmly placing the encounter within the momentary present. When presented in the galleries the temporal events slowed, invited contemplation, separated as they were from the constant movement 162 I Lisa Le Feuvre
of urban life. Working both outside and inside the gallery space, the exhibition set out to examine alternative understandings of visibility, considering how sculpture is perceived, and how it occupies space and time. In this exhibition-experiment duration was inhabited by all elements involved – the artworks, artists, institution and publics. No catalogue could be produced, as nothing could be known until it occurred. We considered that a catalogue might even undo the very charge of temporality that we sought, fixing the artworks in place too soon. This text is the closest so far the exhibition has come to being fixed. Time is inextricably bound to place, and “The Event Sculpture” was conceived of as a site-responsive exhibition. Presenting artwork in any location provides a very specific context formed from history, habits and physical facts. There is the institutional context. The Henry Moore Institute is a centre for the study of sculpture, a part of The Henry Moore Foundation set up by Henry Moore19 himself in 1977 to continue his legacy. The Institute is an exhibitions venue, research centre, library and sculpture archive based in the heart of the city of Leeds, with our activities focused on expanding the understanding and scholarship of historical and contemporary sculpture, charged with the remit to test and contest the ways sculpture can be understood. Then there are the formal properties of site. The façade of the Institute20 is made of black granite. Visitors receive an austere welcome as the building rises from a set of steps, topped with crenulations fit for a castle. It is effectively a vertical plinth, inviting sculpture to inhabit its smooth reflective surface. Right beside the building are two public sculptures: while one is proudly visible, the other is easy to walk past unnoticed. Both, like all sculptures in the public realm, are established with permanence and memorial in mind. This pair of public sculptures bracketed the event sculptures. To the right stands one of Joseph Beuys’21 “7,000 Oaks”22. It has stood unmarked on this site since 1998, and consists of an oak tree and a basalt pillar. “7,000 Oaks” started in Kassel for documenta 7 (1982). Seven thousand stones were piled up, and then one-by-one removed and placed beside a newly planted tree – the pile of stones diminishing as the trees grew, the artwork expanding long beyond the event of the artist’s life. Beuys explained: “My point with these seven thousand trees was that each would be a monument, consisting of a living part, the live tree, changing all the time, and a crystalline mass, maintaining its shape, size, and weight. This stone can be transformed only by taking from it, when a piece splinters off, say, never by growing. By placing these two objects side by side, the proportionality of the monument’s two parts will never be the same.”23
In this statement Beuys offers a temporal conception of the monument, a counterpoint to the sculpture to the left of the Henry Moore Institute: Henry Charles Fehr’s24 “Leeds War Memorial”. Constructed in 1922, the memorial is made of a Carrera marble plinth and bronze figures, the summit bearing a draped angelic figure in bronze. This, though, is not Fehr’s original: even memorials intended as solid and stable change over time. Following storm damage in 1992, Fehr’s “Victory”, an angel holding a sword and wreath, was replaced by a gentler “Angel of Peace”, sculpted by Ian Judd.25 The Event Sculpture I 163
Such fixed points formed the context of “The Event Sculpture”, and we began with Simone Forti. As with all of the artists, our invitation was open: the context and structure – the rules, even – of the exhibition were described and it was for the artist to say yes or no, and then to propose how to proceed. We were particularly interested in Forti’s consistent use of the grammar of sculpture for her early dance works. In the development of art important shifts in economies of movement took place in the US during the early 1960s, much of which was associated with the Judson Dance Theatre and the workshops of Anna Halprin26 in San Francisco, where Forti studied between 1955 and 1959. Halprin focused on releasing dance from narrative and formal strictures, drawing on task-orientated motions to rid dance of self-consciousness. Improvisation was tested through the possibilities of the body from an anatomical perspective, and it was here Forti learned to pay attention to the negative space between dancers. Forti proposed for “The Event Sculpture” “Slant Board” (fig. 1), a work that developed from these concerns, prompted by an invitation by La Monte Young27 in 1960 for a programme of performances that took place at Yoko Ono’s28 loft in New York. In the spring of 1961, Forti presented in this vibrant loft space “Dance Constructions and Some Other Things”, a collection of dance-events inspired, in part, by images of Gutai events that she had been studying. The series consisted of six individual works: “Huddle”, “Hangars”, “Platforms”, “La Monte Young’s Two Sounds”, “Accompaniment for La Monte Young’s Two Sounds” and “Slant Board”. All were intended to be placed in space, to be walked around just as one would any other sculpture. In “Slant Board” the relationship between the body and the pull of gravity is of paramount importance. It consists of a 45-degree ramp construction made from board with a six long knotted ropes fixed to the top, long enough to trail on the floor and wide enough to fit comfortably in the hand. “Slant Board” has two states: a simple sculptural object suggesting the potential of movement and an activated object where untrained performers are
1 Simone Forti, Slant Board, 1961/2014, Performance held outside the Henry Moore Institute, 10 November 2014.
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“instructed to keep moving from top to bottom and from side to side on the board, which can be done only by using the ropes. The movement should not be hurried, but calm,
and as continuous as possible. The activity of moving around such a steep surface can be strenuous even when done casually. If a performer needs to rest he may do so by using the ropes in any way to assume a restful position. But the performers must stay on the board for the duration on the piece. It was first performed for ten minutes, and should last long enough for the audience to walk around and observe it.”29
On 10 November, 2014 at 5.30pm, “Slant Board” was placed outside of the Institute building in a position chosen by the artist beside an external wall directly backing on to the gallery spaces with just enough space to be walked around. It nestled underneath a pair of large doors – this is the entrance that heavy sculptures are winched through into the exhibition rooms. Lit by street lamps (in November Leeds sees dusk around 4pm) a pair of performers moved around the board as instructed for ten minutes. Once the exhibition spaces opened “Slant Board” took up its position inside the galleries at 180-degrees to this first position, activated once per week within the galleries (whether an audience was present or not) by a changing rota of performers at 6pm every Wednesday. The work stipulates a minimum of two and maximum of four people to perform the piece – we chose two as this leant itself to a size of ramp that worked well with our spaces. Basic instruction is given before the event to the performers, and it must be to individuals who are not professional dancers. This detail is important: the physical control that the participants discover they possess is a revelation to those performing. The rhythm of “The Event Sculpture” was carefully considered, and from Forti we moved to an event-sculpture that had no performative aspect. The term ‘performance’ we were at pains to refute: it suggests spectacle or theatre, suggesting reality is being acted out rather than simply happening. For that matter, ‘happening’, too, was rejected as under Allan Kaprow’s terms it is a counter proposal to “modern sculpture [that] still preserves the sacrosanct unity and permanence of its medium”30 and, given our specialism, the relationship to modern sculpture seemed important to embrace rather than reject. Instead, ‘event’ was chosen. Coming from the Latin ēventus, the word points to an occurrence, an outcome taking place in a nameable location during a particular interval of measurable time. Bernard Tschumi’s31 writings on ‘event architecture’ became a useful reference point. Developing this idea in the 1970s, he insisted architecture could not exist without events, actions and activity. For him, the role of a building is to respond and intensify activities, while it is events that are capable of altering and creatively extending the architectural structures that contain them. As the historian and critic Anthony Vidler32 succinctly notes, Tschumi’s understanding of architecture was led by the “complex interaction between programme, action and event”.33 Where architecture is neither about representing what we think we know nor about consensual stopping of time, it is rather a response to, and engagement with, struggles within the present. Ceal Floyer’s “Silent Movie” (fig. 2) was the second event-sculpture. On being invited she became interested in the threshold between the inside and the outside. Her defiantly uneventful event took place over three days, 24 to 26 November 2014, as an The Event Sculpture I 165
2 Ceal Floyer, Silent Movie, 2014, Filmed in Leeds 24–26 November 2014.
action with no spectacle. She, very simply, negotiated the perimeter of the Institute building with a metal detector – a hobbyist device that emits an alarm when its quarry is detected – to create a sculptural film of absence. A camera was attached to the head of the apparatus, documenting the search that the animal-like foot snaffled out. The artist moved around the Beuys sculpture and the war memorial, over paving stones, chewing gum and underground structures unseen by the eye (but locatable with the detector), past a temporary fun-fair, between street furniture, and right through to the entrance of the Institute itself, finally coming to rest on the poured concrete floor of the galleries. The resultant film footage was edited, and each time the detector ‘beeped’ a cut was made, until all sonic evidence of solidity had passed. On moving into the galleries the resultant five-minute projection was seen as a large-scale moving image, the head of the handheld metal detector centre-screen, the breaks creating a staccato image to a soundtrack of quotidian city life. From Floyer’s procedural event we moved to a drama of time and narrative by Roman Signer (fig. 3). His preferred term for his works, where time and contingency play an important role, is ‘action sculpture’. Usually they are private and unannounced, attended by friends, family and colleagues, with the action carefully documented to enable its persistent circulation. In the spirit of the exhibition, Signer chose to do something new and present his first work in the public realm, right in the centre of the city. Event and exhibition co-incided. Like Forti’s event-sculpture the timing was announced: 166 I Lisa Le Feuvre
3 Roman Signer, Chair, 2014, Performance held outside the Henry Moore Institute, 8 December 2014.
12 noon on 8 December 2014. At noon a very ordinary chair levitated, hovering just below the height of the top of the Institute’s façade, momentarily stopping in time, before slowly returning to earth. The roar of a jet engine and the lingering smell of kerosene, drawing on all of the senses, accompanied the action. All was open to chance: this unrehearsed action-sculpture had never previously been realised. The philosopher Alain Badiou34, in “Handbook of Inaesthetics” (an important reference point for this research), underlines the role of chance and the public: “In chance, the public must be counted. The public is part of what completes the idea ... Only a generic public, a chance public, is worth anything at all.”35 It is the very risk of an event that makes the work – Signer’s “Chair” explicitly courted failure. This public event consisted both of those who specifically arrived at the allotted time to see the piece and, to use artist Braco Dimitrijevic’s36 phrase, the casual passersby who were surprised to see a chair defying gravity. On moving into the gallery spaces, the chair itself was suspended from the ceiling on a pair of wire-lines, echoing the safety-armature employed as it levitated outside and six photographs of the action were printed and framed (fig. 4). In Signer’s eyes there is no hierarchy between the three states of event, object and documentation: a position that would be contested later in “The Event Sculpture” by Maria Nordman and Tino Sehgal. Simon Martin came next, and he chose to use the building as a screen. The narrative of the event sculptures in this way had moved from the body, to apparatus, to prop and now to surface: figure, method, support and skin. Martin’s “Lemon 03 Generations The Event Sculpture I 167
4 Installation view, “The Event Sculpture”, Henry Moore Institute 10 November 2014 – 8 March 2015, showing Roman Signer, Chair, 2014 and Simone Forti, Slant Board, 1961/2014.
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(Turn it Around version)” was projected onto the black façade of the Institute on 22 December at 5.30pm, with two powerful speakers positioned on either side (fig. 5). The visual track of this event-sculpture was a digitally originated and re-processed version of Hollis Frampton’s37 film “Lemon” (1969), described by filmmaker Stan Brakhage38 as a scenario where “a voluptuous lemon is devoured by the same light that reveals it, its image passes from the spatial rhetoric of illusion into the spatial grammar of the graphic arts.”39 This interplay between light, shadow and solid object was made in the year of the first moon landing. It charts in a silent 16 mm film lasting seven-minutes and thirty-seconds, a dimpled surface, rather like the surface of a planet or a human body that has accumulated a few years. Martin first saw this classic experimental film on a looped DVD at New York’s Museum of Modern Art, and subsequently studied the many uploaded versions of the film on the Internet. Neither situation would have made Frampton happy. The 5 Simon Martin, Lemon 03 Generations (Turn it Around version), 2014, Projection on the Henry Moore Instimateriality of film and singular event statute facade, 22 December 2014. tus, with a clear spectator-image relationship, was how he intended it to be seen. The question of reproduction was important to “The Event Sculpture”: sculpture scholars must pay attention to how sculpture circulates as it is how our subject is fixed in history. As a centre for the study of sculpture acts of writing history are a crucial part of the Henry Moore Institute’s activities – and as such, this needs to be interrogated. The narrative of time is a construct of measurement providing a system to bring movement of people, objects and ideas into a synchronised whole. Having invented this never stopping flow of time we, contradictory humans that we are, seek to pause time long enough to write and picture a narrative history that neatly follows chronology. Increasingly, images lead the indirect encounter with art – websites offer virtual exhibitions claiming them as a valid substitute, doctorates are written with no direct experience of an artwork, curators select exhibitions through Internet searches. These are the facts of now, and “The Event Sculpture” sought to undo the possibilities of indirect experience. The indirect distribution of art is of course nothing new. While photography is the principal form of documentation used to communicate sculpture, it inevitably flattens the three-dimensions into two – put simply, one canThe Event Sculpture I 169
not walk around an installation view, or to view a 16 mm film on YouTube is to dispense with apparatus and material qualities. When it comes to sculpture, images are misleading. Gertrude Stein40 wrote of the continuous present: a notion concerned with experience and knowledge, as well as knowledge of experience and experience of knowledge. She suggests that the world – and our knowledge of it – can only possibly exist in the present. The continuous present is a dimension where each frame of memory is layered on to the present, making every experience unique and extended into space and time. This idea was partly suggested to her by the then relatively young medium of film. As she puts it: “in a cinema picture no two pictures are alike each one is just that much different from the one before...each time that I said the somebody whose portrait I was writing was something that something was just that much different from what I had just said that somebody was and little by little in this way a whole portrait came into being.”41
John Cage42 was a great admirer of Stein’s project to liberate language from syntax and, through his own extension of musical structure, he created a work that was far from being a simple communication from artist to audience. Increasingly, Cage became interested in creating compositions that had no beginning, middle and end; instead he would initiate fields of sonic activity within which the listener would be called on to play an active role. In doing so, he strove to blur the definition of art into everyday experience where, as with Floyer’s use of sound, the incidental sounds of traffic could be experienced as musical composition, with the context and listener as active definers of it. In considering the continuous present, both Stein and Cage discussed repetition as a state that was far from repetitious. In 1963 Cage organised the first performance of Eric Satie’s43 “Vexations” at the New York Pocket Theatre.44 Written in 1893, this piece consists of a single sheet of music that the pianist (or by necessity, series of pianists) repeats 840 times, lasting around eighteen-hours and forty-minutes. Representing the same thing twice will never create the exact same experience: each repetition makes the next experience new. Cage reflected: “we can say that repetition doesn’t exist, that two leaves of the same plant are not repetitions of each other but are unique. Or two bricks on the same building on the street are different [... Vexations] does have repetition; but as the performance continued, we heard that it does not – that each time it was played, it was different.”45
If memory and repetition are constantly renewed with each “insistence”,46 then time and duration can become both reflexive and endlessly current. Events are even more fleeting than exhibitions. Brief and short-lived, they must be witnessed first-hand. Once finished, they persist through rumours, the occasional photograph and video footage. As concentrated occurrences, events diametrically oppose sculpture’s pretence of longevity – as Walter Benjamin47 taught us: “An experienced event is finite – at any rate, confined to one sphere of experience; a remembered event is infinite because it is merely a key to everything that happened before it and after it.”48 170 I Lisa Le Feuvre
Martin’s repetition was a distorted facsimile (already a repetition) of “Lemon”. If it is true that an event can never be repeated, it does not mean it cannot be presented infinite times. Bare with me: this tautological assertion has logic. If one prioritises the encounter, then each presentation is simply a different version. As Stein said: “The time of the composition is the time of the composition. It has been at times a present thing it has been at times a past thing it has been at times a future thing it has been at times an endeavour at parts or all of these things. In my beginning it was a continuous present a beginning again and again and again and again, it was a series it was a list it was a similarity and everything different it was a distribution and an equilibration.”49
This version, “Lemon 03 Generations (Turn it Around version)”, was set to a booming soundtrack that sampled, among other things, the eponymous techno-track and a single word from T. S. Eliot’s50 “The Fire Sermon” from “The Waste Land” (1922) read by the poet. Blasting out into a city already filled with the sounds of festive parties (Martin’s event-sculpture was presented at 5.30pm three days before Christmas Day) there was only one chance to hear these sounds. On moving inside the galleries “Lemon 03 Generations (Turn it Around version)” was silent, shown on a Hanatrax monitor, a piece of obsolete equipment generally only seen today in galleries, with its back facing out. Directly opposite the monitor was a mirror, cut the size of the screen, further distorting the image and reflecting it back with the perceiver.
6 Installation view, “The Event Sculpture”, Henry Moore Institute 10 November 2014 – 8 March 2015, showing Maria Nordman, Standing Pictures.
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7, 8 Lara Favaretto, Doing, 1998/2015, Performance outside the Henry Moore Institute, 19–21 January 2015.
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Maria Nordman was the fifth event-sculpture on 5 January 2015. She is an artist who embraces the continuous present, yet refuses repetition. Nordman works with natural light, time and public to create a body of sculptural inquiry predicated on interaction. She began working on streets, neighbourhoods and public spaces around 1967 and since then her work has emphasised site and time specificity, taking many forms but always named as sculpture, be it a musical intervention, performance, architectural construction or language. As Graza noted in her response to the event: “A firm believer in the virtues of improvisation, Nordman is not one to be constrained by a fixed schedule”51 – her event was scheduled to start at 4pm. Invited to present one event, she presented two – one at 11am the other at 1pm. Unannounced, Nordman approached a family walking past the Institute and invited them to become a part of “The Whisper”, a continuous sculpture begun in the 1960s. Made with, what the artist describes as, “persons met by chance” it starts with the voice, and only exists in the instant of interaction. Photography and videos are not permitted – even linguistic description makes Nordman uncomfortable, making her shy away from making publications and exhibition catalogues. The second work, “Fluiens Circulus” (1988–present), not only refused its time schedule, it also refused its position outside the building, taking up its place inside the galleries right away. It took the form of a discussion amongst three of Nordman’s “Standing Pictures”, slender boxes fitted with sliding panels that can be pulled out into the light to reveal drawings, writings, diagrams and materials (fig. 6). No fixed dates are given for any of these sculptures as every encounter continues the creation. The artist seeing natural light and perceivers her collaborators: never shown in artificial light, the “Standing Pictures” are lit only by natural illumination. In this situation, Nordman led a discussion on sculpture and time amongst the works: as the January light dimmed, the conversation increased, participants coming and going over a four-hour period. Nordman is concerned with sculptural process, as was our sixth event with Lara Favaretto and seventh with Tino Sehgal. Favaretto’s “Doing” (1998/2015) 52 spanned the working hours of three days: 19, 20 and 21 January (fig. 7, 8). Early on the first morning five blocks of Carrera marble, the same material used for the “Leeds War Memorial”, were placed on wooden plinths directly in front of the Institute’s building. Beside each a microphone was placed, pointing to the block. At 11am sharp five art students, equipped with tools and protective gear, began their task to chip the blocks away to nothing. This was an impossible task: each was so heavy that a crane was required to move it into place, with the combined weight reaching the maximum loading capacity of the granite platform in front of the Institute building. The workers set about their challenge in just above freezing temperatures on a two-hour rota. The sounds of chipping resonated around the surrounding city square. At first progress was painfully slow as the artists worked out how to use a chisel and hammer – symbolic tools of the sculptor. One passer-by announced “this is sculpture” with great delight; another complained that the artists did not know how to use their tools. Soon, though, the steps became littered with shards of marble. Traditionally, the physical object or material have been the ‘stuff of sculpture’, the means to address core concerns of scale, volume, weight and the embodThe Event Sculpture I 173
ied encounter. As literal ‘things’ objects carry the promise of durability, and Favaretto’s “Doing” demonstrated this, yet the material which remains53 was the sound. This was brought into the Institute during the exhibition54, placed in five secondary areas – under stairs, in the reception area, behind fire escape doors and in an electrical cupboard. The sound of chopping revealed the carving skill, or lack of ability, held by each artist. Tino Sehgal, like Simone Forti, choreographs situations that explore key sculptural problems of the body, form and movement. The term ‘situation’ is important: Sehgal insists his works are not performances, eschewing an idea of spectacle. His response to the invitation was to suggest “Kiss” (2002), a work that, in distinction to “Slant Board”, involves trained dancers55 who have mastery over the smallest movement. In this sculpture a man and a woman56 repeat kisses from art history in space and time – from Auguste Rodin to Jeff Koons, via Constantin Brancusi and Gustav Klimt. After seven minutes the process immediately repeats, only with a switch of the dominant partner, to then start over again. “Kiss” started late afternoon on 2 March, 2015 directly on the pavement outside the Institute building and continued non-stop to 11am the following day when the galleries opened to the public. A series of couples had carefully rehearsed the piece over the previous weeks and every half hour57 a new pair arrived, the two couples dancing together to complete a seven-minute cycle before the first left. Dressed in loose-fitting street clothes, the dancers were only revealed as professionals when observed for an extended period of time – before that they were simply a man and woman in passionate clutches. As the work evolved through the night, different publics reacted in varied time frames. There was the intentioned audience who arrived especially and spent an extended period of time watching. Others hurried nervously by – some muttered disgust, some prurient comments. Others, though, paused, and after a short while became entranced. A group of teenagers stood around giggling in the late afternoon, but soon started to watch with great intent. In the early hours of the morning, a man on the way home from a night of drinking stopped to laugh, and after a short while was moved to tears. The dancers kept on dancing whether the streets were populated or empty, no matter how those around them reacted. Around 5.30 am early shift workers started to pass by, at 6.30am street-cleaners brushed the pavement around the sculpture, from 7.30am a steady flow of office staff moved through the city, from 9am students made their way to the universities. In all cases, it was those who stumbled upon the event-sculpture who were reached most powerfully. At 11am, when the Institute’s galleries opened their doors to the public, the exhibition technicians opened the loading bay doors wide, and this sculpture, too, was lifted inside. It was an object made of a pair of humans, and was raised up by two more pairs of dancers. It was placed, as any sculpture would be, in the correct spot. The sculpture continued without pause until the close of the exhibition. As with all of Sehgal’s work documentation was not permitted, a decision that heightened the experience of the sculpture. When one knows one cannot ‘see’ an event once it has finished, its very eventual nature is made evident. Badiou again is useful here. He notes that 174 I Lisa Le Feuvre
“Dance would provide evidence for the fact that every genuine thought depends on an event. An event is precisely what remains undecided between the taking place and the non-place – in the guise of an emergence that is indiscernible from its own disappearance. The event adds itself onto what there is, but as soon as this supplement is pointed out the ‘there is’ reclaims its rights, laying hold of everything. [...] An event establishes a singular time on the basis of its nominal fixation.”58
Badiou explains that an action becomes fixed in time through naming, situating it in relation to what came before and what will come after. The artist John Latham said it another way: “A work is a work when it is unreasonable – when it is done, at the time. Later it has either changed the situation, or the situation is different, or the situation is so different, and it is of course reasonable [...] Reason relates to predictable outcomes from given premises. Don’t accept the premises and you are unreasonable!!”59
Dance demands an engagement with space and enables the body to lose its avoiding the creation of a character on to which narratives can be projected. Badiou closes his argument with the assertion that the event of dance has infinite repeatability, however, an exact copy is impossible. This holds true for all the event sculptures, but perhaps, too, for all sculpture. A singular example can be cast, but this is never a facsimile. The angel on the “Leeds War Memorial” can be found in other cities, as can Beuys’ oaks. Likewise, every minute of “Kiss” was different, in spite of its looping structure. In all instances the sculpture is unique, it is only documentation that flattens it as it stops the flow of time, removing both presentness and duration. Such object-slipperiness was extended in the penultimate event with Urs Fischer. On accepting the invitation, the artist refused to give any information as to his plans, other than he wished to be trusted, and that two-tonnes of unprocessed, locally sourced clay should be delivered on the morning of 16 February. This raw, pure material was fit for, as the artist puts it, “a simple, pure act of sculpture”. Like Favaretto’s marble, this classic sculptural matter was winched on the top of the steps facing the Institute. At 11am the artist announced, “lets make some sculpture”, and so we begun – initially a small group of friends kneading and cajoling clay into objects, pulling it out from a pile of stacked sacks. With an inimitable ease, Fischer created a perfect pig head in a matter of moments. Passersby were invited to join, and before long they started to make sculpture. It was a school holiday week and by noon this unexpected activity had rumoured its way among local children and their carers. Word spread quickly. Animal heads, owls, cars, dinosaurs, snake and snail families and spelt out names started to form on the steps and on the façade, which proved a perfect surface for reliefs (fig. 9). At lunchtime office workers joined in. Around 4pm academics from the city’s universities stepped in. By late afternoon teenagers started to arrive and competed to see who could throw clay the furthest up the building. The route into the Institute became a trail of clay footprints. The Event Sculpture I 175
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As dusk arrived, the activities came to a close, and the Institute building was locked for the night, the damp clay creations left unsupervised, with the intention for the material to be cleaned up the following day. The Institute is situated in the centre of Leeds, a student city filled with late-night bars. It was with great surprise that rather than the expected landscape of destruction new forms had appeared. By 10am people started arriving to make sculpture, and we decided to continue for the rest of the week – and ordered more clay. The artist left after the first day and when asked how the unnamed event-sculpture should be moved into the galleries a simple instruction was issued: “do what ever you think best”. What should come inside? The perfect hoghead made by Fischer? Or the line of snails made by a small girl and her father over a whole afternoon? What about the messy blobs? The decision was made to refuse a hierarchy and to bring nothing Urs Fischer’s contribution to “The Event Sculpture” inside. Unused clay and material that encompassed both performance and object in an could be salvaged at the end of the week open process that was neither mediated nor premediwere given to local schools. Over the next tated. Working with clay, the artist encouraged visitors few days, the designs and blobs stuck onto to join him to make sculpture on-site in front of the the building façade slowly began to fall off Henry Moore Institute, 16 February 2015. as the winter sun dried them, the usually pristine granite left stained until the close of the exhibition. Like each event, Fischer’s employed a live, fleeting format to challenge assumptions of what, when and where sculpture can be. Temporal artworks demand to be witnessed, yet it is through documentation that they resound in art history, and it is from here that research takes place. At times, art history deems the contemporary as too close, demanding more than three decades distance before an artwork is ready to study. While advantageous in seeing how an artwork stands the test of time, it leaves the researcher combing through archives, seeking out for interview those that can give first hand testimony, checking through secondary sources and turning to the, often inaccurate, memories of the artists themselves. The ninth, and final, event-sculpture took place two weeks later, offering a powerful interruption to the gathering of eight works inside the galleries. By this time the sculp176 I Lisa Le Feuvre
tures had settled into a clear grouping that was powerful, but perhaps too polite. Anthony McCall’s “Solid Light” films were important reference points to the research of “The Event Sculpture”, and it seemed fitting that he would close the events. McCall elected “Traveling Wave” – a sound sculpture originally made in 1972, lost, and then re-made in 2013 (fig. 10). This narrative echoes the contingent nature of artwork. “Traveling Wave” launched the dense sound of white noise that seems exactly like an ocean wave. Running through five speakers it first, in the event form on 4 March 2015, stretched up the steps leading into the Institute, stretching from the threshold of the entrance through which Floyer’s apparatus had pushed its way a few weeks earlier. After a one hour presentation the sculpture moved from circulation space to gallery, interrupting and coexisting with all the previous works. In the first iteration “Traveling Wave” was a monologue, in the second a conversant, speaking loudly over the other sculptures before rolling back into silence, only to begin again and again. The wave was loud and disruptive: it undid the comfort of this collection of works. In doing so, the event-status returned. Whether formed of sound, bodies, moving image, spoken word, actions, materials or objects, a three-dimensional form demands an encounter. All of these nine event-sculptures made this call. To perceive a sculpture is to sense it in space that wraps itself around the object. Experience of the time of sculpture is individual and collective, and extended through rumours, conversations and documentation. From here it enters into the narrative of art history, extending the present. It is not just text books, any individual experience requires a time-delay to enable critical reason to be applied: we need distance to asses a work of art, to work out what is at stake. The strongest sculptures keep on wriggling around one’s mind long after the time standing beside the object. Sculptures are troublesome – unreasonable, even. While they can be exhibited again, revisited and studied anew, they also warp and deform, become lost, destroyed or simply run out. A sculpture’s history hinges as much on the nature of its material as on the context of its showing. The intention with “The Event Sculp- 10 Anthony McCall, Traveling Wave, 1972/2013, Henry ture” was to make this explicit and to unMoore Institute, 2 March 2015. The Event Sculpture I 177
derline the importance of the phenomenological encounter with the artwork. Measuring our own physicality to a sculpture, walking around to assess how it possesses the space that surrounds it, seeing how changing light makes a difference, listening to the qualities of sound as perceivers come close: in short, to breathe with the sculpture is to perceive its power. This requires time.
Anmerkungen 1 The following text was first presented on 15 January 2015 as the keynote lecture for the conference “Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert” at Universität der Künste Berlin, convened by Guido Reuter and Ursula Ströble and this publication provides a generous opportunity to revisit the ideas. The exhibition was organised with Michelle Allen and Pavel S. Pyś. 2 b. 1949, Wales. 3 b. 1935, Egypt. 4 William Tucker, The Language of Sculpture, London 1992, p. 7. 5 b. 1942, USA. 6 Lawrence Weiner, Having been said: Writing & Interviews of Lawrence Weiner 1968–2003, Gerti Fietzek and Gregor Stemmrich (eds.), Ostfildern-Ruit 2004, p. 192. 7 1912–1994, Germany. 8 María Elena Huizi and Josefina Manrique (eds.), Sabidura 13, in: Sabiduras and other texts by Gego (Documents of 20th-century Latin American and Latino art series), New Haven [et al.] 2005, p. 131. The original version is written by hand in German, then crossed out and completed in Spanish. 9 b. 1973, Italy. 10 b. 1973, Switzerland. 11 b. 1968, Pakistan. 12 b. 1935, Italy. 13 b. 1965, UK. 14 b. 1946, UK. 15 b. 1943, Germany. 16 b. 1976, UK. 17 b. 1938, Switzerland. 18 See http://www.henry-moore.org/hmi/events/past-events/2014/the-event-sculpture-schedule. [Accessed 16-08-2016]. 19 1898–1986. 20 Designed by Jeremy Dixon and Edward Jones BDP, the building opened in 1993. 21 1921–1986. 22 Commissioned by Arttranspennine98. 23 Joseph Beuys, 7000 Eichen: Beschreibung eines Kunstwerks; ein Arbeitspapier der Free International University, Johannes Stüttgen (ed.), Bielefeld 1982, p. 2. 24 1867–1940. 25 b. 1947. See Sarah Hanson, Anatomy of a Monument, 19 November 2010, Henry Moore Institute Online Papers and Proceedings, http://www.henry-moore.org/hmi/online-papers/papers/ sarah-hanson. [Accessed 16-08-2016]. 26 b. 1920, USA.
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27 b. 1935, USA. 28 b. 1933, Japan. 29 Simone Forti quoted in: Simone Forti: Thinking with the Body, Sabine Breitwieser (ed.), München 2014, p. 92. 30 Allan Kaprow, Assemblage, Environments & Happenings, New York, 1966. 31 b. 1944, Switzerland. 32 b. 1941. 33 Anthony Vidler, After the Event: Bernard Tschumi Retrospective at the Pompidou Centre, in: Architectural Review, 3 September 2014, http://www.architectural-review.com/essays/after-the-event-bernard-tschumi-retrospective-at-the-pompidou-centre/8668977.article. [Accessed 16-08-2016]. 34 b. 1937, Morocco. 35 Alain Badiou, Theses on Theatre, in: Alain Badiou, Handbook of Inaesthetics (translated by Alberto Toscano), Stanford 2005, p. 72–77, here p. 74. 36 b. 1947, Bosnia and Herzegovina. 37 1936–1984, USA. 38 1932–2003, USA. 39 Stan Brakhage, San Francisco Cinematheque Program Notes: Short Films, 1975. 40 1873–1941, USA. 41 Gertrude Stein, Portraits and Repetition (1926), reprinted in: Lectures in America 1932–46, in: Gertrude Stein, Writings, Catherine R Stimson and Harriet Chessman (eds.), Library of America, 1998a, p. 294. 42 1912–1992, USA. 43 1866–1925, France. 44 Andy Warhol was present at this performance. His experience of it, and his later discussion with Cage about Satie’s use of repetition, probably influenced the way he edited his five-hour twenty-one-minute film “Sleep” which he was working on at the time (see Callie Angell, The Films of Andy Warhol: Part 2, New York, 1994). 45 Richard Kostelanetz, Conversing with Cage, New York 22003, p. 237. 46 Stein (ibid. 41). 47 1892–1940, Germany. 48 Walter Benjamin, On the Image of Proust (1929, revised 1934), in: Walter Benjamin, Selected Writings, Michael W. Jennings (ed.), Volume 2 1927–1934, Cambridge [et al.] 1999, p. 238. 49 Gertrude Stein, Composition as Explanation, London 1926. 50 1888–1965, USA. 51 Agnieszka Gratza, Event Sculpture 5: Maria Nordman, ‘Fluiens Circulus’, 7 January 2015, Henry Moore Institute Online Papers and Proceedings, http://www.henry-moore.org/hmi/online-papers/ conferences-and-events/the-event-sculpture/event-sculpture-5-maria-nordman. [Accessed 16-082016]. 52 This was the second time that this sculpture has been presented – the first being seventeen years earlier when Favaretto herself was a student at the Centro di Arte Contemporanea Palazzo delle Papesse in Sienna. 53 At the end of the session the large blocks of marble remained, and these were returned to the marble supplier. 54 Later donated to our collection by the artist, immaterial matter entering a sculpture collection. 55 All based at the Northern School of Contemporary Dance. 56 The heterosexual kisses mirroring the art history citations.
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57 A time frame dictated by the cold weather. 58 Alain Badiou, Dance as Metaphor for Thought in: Alain Badiou, Handbook of Inaesthetics (translated by Alberto Toscano), Stanford 2005, p. 57–71, here p. 61. 59 John Latham, Noit for Control, in: Control Magazine, Stephen Willats (ed.), issue 3, 1966–67, n. p.
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Veronika Tocha
Zeitgeschichte(n) Erzählzeit und erzählte Zeit in den serialen Fotoskulpturen und architektonischen Interventionen Thomas Demands Der vorliegende Beitrag betrachtet die künstlerischen Arbeiten Thomas Demands unter einem Aspekt, der gewöhnlich wenig in den Fokus der Kunstwissenschaft bzw. Kunstkritik rückt: Das Augenmerk liegt auf den verschiedenen Konzepten von Zeit in den Werkserien einerseits und den Installationen der Werke im Ausstellungsraum andererseits. Ausgehend von der Einschätzung, dass es sich bei den Arbeiten Demands grundsätzlich mehr um Skulpturen als um Fotografien handelt, wird anhand narratologischer Kategorien der Zeitlichkeit nachgespürt, die sich sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene, sowohl mit Blick auf die erzählte Zeit als auch mit Blick auf die Erzählzeit in den Werken niederschlägt.1
Intro: Skulptur und Zeit in und als Fotografie Die Arbeitsweise Thomas Demands (*1964), die dieser seit den 1990er-Jahren praktiziert, ist mittlerweile gut bekannt: Auf Grundlage eines zumeist massenmedial tradierten VorBildes erstellt der ausgebildete Bildhauer eine lebensgroße Papierskulptur, die er im Anschluss fotografiert und in einen großformatigen C-Print überführt. Bild- und Objektform, Zwei- und Dreidimensionalität, Fotografie und Skulptur wechseln sich im Werkprozess also ab und durchdringen einander, so dass eine eindeutige gattungsbegriffliche Zuordnung der Arbeiten nicht ganz leicht fällt. Auf den ersten Blick liegt eine Konzentration auf das zweidimensionale Bild sehr nahe, schließlich finden sich ‚Bilder‘ im engeren Sinne sowohl am Ausgangs- wie auch am Endpunkt der künstlerischen Arbeit und kann das fotografische Endprodukt als praktisches wie auch theoretisches Destillat eines jeden Werkes verstanden werden. In der Konsequenz führen kunsthistorische Kontextualisierungen etwa unter Rückgriff auf die Inszenierte Fotografie der 1970er-/1980erJahre, die Appropriation Art oder die jüngere deutsche Fotohistorie (Stichwort ‚Becherschule‘) zu durchaus tragfähigen foto- bzw. bildtheoretischen Ausdeutungen. Trotz dieser vermeintlichen Dominanz des zweidimensionalen Bildes ist der Kern der Arbeiten und damit deren übergreifende praktische und theoretische Disposition skulptural. Denn erst über den Bildgegenstand, also die Papierskulptur, lässt sich der Gehalt der Arbeiten extrahieren und deren grundsätzlicher Funktionsmechanismus offenlegen. Dass der namentliche Bildgegenstand wiederum erst im und als Bild, in der Zeitgeschichte(n) I 181
und als Fotografie in seiner Plastizität und Materialität, in seiner Räumlichkeit, seinen ‚inter-objektiven‘ Bezügen und damit in seiner Skulpturalität erfahren, definiert und beschrieben werden kann, erweist sich dabei als conditio sine qua non der bildhauerischen Arbeit. Folgt man dieser Einschätzung, dann greifen rein bildtheoretisch ausgerichtete Ansätze zu kurz, muss die kunsthistorische Verortung der Arbeiten immer auch skulpturen- und objekttheoretisch argumentieren. Hilfreich dafür ist die Unterscheidung zwischen fotografierter Skulptur einerseits und Foto-, linsenbasierter2 oder auch fotogenetischer3 – sprich: einer jeweils fotografisch bestimmten – Skulptur andererseits. In der hier propagierten Lesung sind Demands Werke primäre Skulpturen, sie sind mehr Fotoskulpturen und weniger Skulpturenfotografien, auch wenn sie zunächst noch anmuten mögen wie letztere, und sie sind als Skulpturen fotografisch disponiert, insofern als sie einerseits in ihrer bildhauerischen Anlage auf das fotografische Bild ausgerichtet sind und andererseits in der Traditionslinie des Fotografischwerdens der Kunst im Sinne Rosalind Krauss’4 gesehen werden können, welches immer auch als ein Fotografischwerden der Skulptur5 spezifiziert werden kann. Vor diesem Hintergrund kann im Folgenden der Themenkomplex „Skulptur und Zeit“ in den Blick genommen werden. Das große Abstraktum der Zeit soll dabei anhand der literaturwissenschaftlichen Konzepte der erzählten Zeit und der Erzählzeit weiter eingekreist werden. Mit der erzählten Zeit ist in der Erzähltheorie die Dauer des dargestellten Geschehens und der Zeitrahmen der Handlung, mit der Erzählzeit hingegen die Dauer der Lektüre (hier also des Rezipierens der Arbeiten) gemeint.6 Vier Werkbeispiele helfen, diese Vorüberlegungen zu veranschaulichen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk einerseits auf den Bildserien und andererseits auf den architektonischen Interventionen und installativen Inszenierungen der Arbeiten im Ausstellungsraum, beides Bereiche des Werkes Demands, die bislang nur unzureichend durchdrungen wurden. Der dezidierte Zeitaspekt auf der Rezeptionsebene, den sowohl seriale wie auch räumlich erfahrbare Arbeiten sui generis internalisieren, soll dabei der Zeitlichkeit auf inhaltlicher Ebene gegenübergestellt werden. Mit Blick auf die zu Beginn erwähnte Fotoskulptur geht es zum einen also um die fotografisch disponierte Skulptur im zweidimensionalen Bild und zum anderen um die fotografisch disponierte Skulptur im dreidimensionalen Raum. Am Ende ergibt sich eine eigenwillige temporale Sub-Struktur und damit eine verblüffende zusätzliche Bedeutungsebene der Arbeiten Demands, die bei oberflächlicher Analyse allein des zweidimensionalen Bildes gewöhnlich im Verborgenen bleibt.
Die erzählte Zeit in den serialen Fotoskulpturen: „Presidency“ (2008) und „Klause“ (2006) Als erstes Beispiel dient die fünfteilige Werkserie „Presidency“ (2008), die anhand von „Presidency I“ (Abb. 1) genauer betrachtet werden soll. „Presidency I“ ist eine hochformatige Fotografie der papiernen Rekonstruktion des US-amerikanischen Oval Office. Die repräsentative Schaltzentrale des amerikanischen Präsidenten wurde in jener 182 I Veronika Tocha
1 Thomas Demand, Presidency I, 2008, C-Print/Diasec, 310 x 223 cm.
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frontalen Perspektive in den Blick genommen, die in der öffentlichen Bildberichterstattung vorherrschend ist. Das Hochformat ist symmetrisch untergliedert und klar aufgeteilt, und die einzelnen Bildgegenstände bespielen unaufgeregt und statisch die Bildfläche – so etwa der Resolute Desk, der blaue Teppich mit Siegel der Vereinigten Staaten, die gelben Vorhänge, die Flaggen, Sekretärsstühle, der Präsidentensessel und die Bilderrahmen auf dem Beistelltisch. Es ist Demands Vorzeichnung zu dieser Arbeit (Abb. 2), eine expressive Buntstift- bzw. Kompositionsskizze mit dynamischem Duktus und bewegten, flächenbildenden Schraffuren, die den tieferliegenden Gehalt der Fotografie zu extrahieren und diese in Hinblick auf den hier im Fokus stehenden Aspekt der erzählten Zeit zu befragen hilft: In der Gegenüberstellung lassen Thomas Demand, Presidency I, 2008, sich einige subtile Unterschiede zwischen Buntstiftzeichnung, ohne Maße. Vor- und Nach-Bild, Skizze und Fotografie ausmachen, die schlussendlich den Schlüssel zu einer tieferliegenden Bildbedeutung liefern. Diese Unterschiede betreffen vor allem die Existenz von Bildgegenständen in der Zeichnung, die im skulpturalen und fotografischen Nach-Bild nicht, dafür jedoch in der passenden medialen Bildvorlage, dem Vor-Bild für die Skizze, vorhanden sind.7 Denn hier lassen sich diese Bildgegenstände – allen voran zwei Zimmerpflanzen zu beiden Seiten des Resolute Desk und die angeschnittene Sitzfläche eines gestreiften Sofas – durchaus identifizieren. Aber auch umgekehrt finden sich Unterschiede zwischen dem Medienbild und der Zeichnung. Neben den für Demand so typischen Verschleifungen, sprich der Reduktion und Abstraktion, von Details ist dies an erster Stelle die formale Veränderung der baldachinartigen Vorhangbordüre: Während diese im Medienbild ein in gleichmäßigen Abständen vertikal geraffter Stoff mit horizontalem Faltenwurf ist, zeigt sich die Bordüre in der Zeichnung als plane, ockergelbe Fläche, die allenfalls noch in den wellenförmigen, farblich abgesetzten Säumen die Form ihres Vor-Bildes zitiert. Diese Veränderung, die auf den ersten Blick noch zufällig wirken mag, erweist sich bei genauerer Betrachtung und mit Hilfe weiterführender Recherchen als subtiles und bewusst platziertes Irritationsmoment, mit Hilfe dessen sich die leicht übersehbaren inhaltlichen Eigensinnigkeiten der Werkserie aufdecken lassen. Denn „Presidency“ bezieht sich nicht auf die eine Fotografie des Oval Office, wenn auch eine bestimmte Foto184 I Veronika Tocha
grafie – hier diejenige des Clinton Oval Office – besonders getroffen scheint. Vielmehr handelt es sich bei der Werkserie auch über die Artefaktizität des Bildgegenstands hinaus um virtuelle Bilder des Präsidentenbüros, das in der dargestellten Form niemals existiert hat. Der Künstler hat die Ausstattungen verschiedener Präsidentschaftsären amalgamiert, verschiedene Vor-Bilder aus verschiedenen Zeiten zusammengeführt.7 In diesem Zuge lässt sich die plane Vorhangbordüre mit ihren abwechselnd kleineren und größeren Saumwellen eindeutig der Ausstattung des Oval Office unter George W. Bush (2001–2009) zuordnen. Während sich das Clinton Oval Office (1993–2001) mit dem blauen Teppich und den leuchtend goldenen Vorhängen für die künstlerische Nachbildung buchstäblich als tonangebend für den Gesamteindruck von „Presidency“ ausnimmt, können bei genauerer Analyse auch weitere solcher einzelgegenständlicher Ersetzungen identifiziert werden: So ist nicht nur die Vorhangbordüre der Bush-Ära entlehnt, sondern auch das umlaufende, den Olivenzweig zitierende Muster des Teppichs, das im Bush Oval Office zwar eine andere Farbgebung besitzt, diesem aber anhand der Musterung unverkennbar zugeordnet werden kann. Dahingegen scheint der Ledersessel auf das Truman oder Kennedy Oval Office zu referieren (1945–1953 bzw. 1961–1963). Diese Aufzählung ließe sich weiterführen, insbesondere unter Einbezug der vier weiteren der Werkserie zugehörigen Fotografien, die das Oval Office aus je unterschiedlichen Perspektiven zeigen und in der beschriebenen Art und Weise jeweils Referenzen auf verschiedene Präsidentschaftsären inkorporieren. An dieser Stelle genügt die schlaglichtartige Erwähnung einer Auswahl der zur Darstellung gebrachten, über fünf Jahrzehnte umspannenden zeitlichen Kontexte, um die grundsätzliche Bedeutung der Werkserie als möglichst allgemeingültiges und entzeitlichtes, überzeitliches oder zeitenübergreifendes Symbol und Sinnbild für das seinerseitige, über eine hundertjährige Geschichte verfügende Symbol und Sinnbild amerikanischer Präsidentschaft auszuweisen. Im Zusammenhang ihrer Entstehungsgeschichte können diese Bedeutungsbezüge in vielerlei Hinsicht aussagekräftig gemacht werden, ist „Presidency“ doch eine Auftragsarbeit des „New York Times Magazine“, das Demands Werkserie in einem Themenheft8 zur Nachlese der Bush-Ära am 9. November 2008 und damit wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl abdruckte, welche die Präsidentschaft Barack Obamas einläuten sollte. Das konventionalisierte und durch die künstlerische Weiterverarbeitung zusätzlich stereotypisierte Motiv zeigt sich im „Times Magazine“ als Fake seiner selbst und dürfte von einem Großteil der Leser auf den ersten Blick gar nicht als solches wiedererkannt worden sein. Als zweites Beispiel für die Analyse der erzählten Zeit in den Arbeiten Demands dient die fünfteilige Werkserie „Klause“ (Abb. 3), welcher der vermeintliche Missbrauch und die Tötung des kleinen „Pascal“ in der Tosa-Klause in Saarbrücken-Burbach im Herbst 2001 zugrunde liegt. Pascal verschwand zu jener Zeit unter ungeklärten Umständen und wurde bis heute nicht gefunden. Die zwölf Angeklagten wurden nach einem beinahe dreijährigen Gerichtsverfahren im Jahr 2004 freigesprochen. Widersprüchliche Zeugenaussagen und Widerrufe erschwerten die Aufklärung des Falles; an den massiven Vorverurteilungen der Medien und mutmaßlich manipulativen BefraZeitgeschichte(n) I 185
gungsmethoden der Polizei wurde – etwa von der Gerichtsjournalistin Gisela Friedrichsen9 – scharfe Kritik geäußert. Entgegen des üblichen künstlerischen Prozederes Demands ist „Klause“ nicht auf Grundlage einer massenmedialen Bildvorlage entstanden: Bei der Rekonstruktion stützte sich der Künstler vorrangig auf eigens erstellte, aus einer persönlichen Recherche hervorgegangene und als Auftragsfotografien umgesetzte Bildvorlagen. Die Arbeiten referieren also nicht auf etwaige Medienbilder, welche zum Beispiel die Feierabendtrinker und vermeintlich Verdächtigen in der Kneipe zeigen, sondern auf persönliche Fotografien, die den Ort jenseits des Ereignisses aufzuzeichnen suchten. Auf diese Weise wird das Verdachtsmoment durch das gänzliche Fehlen eines bebilderten Geschehens bzw. durch das Nicht-Vorhandensein eines Bildbeweises zusätzlich herausgehoben, der Verdacht in der hypothetischen Rekonstruktion der vermeintlich an die Tat gebundenen Örtlichkeit, genauso aber auch deren Streitbarkeit von Demand künstlerisch ausformuliert und zum Thema erhoben. Trotz (oder gerade aufgrund) des Anknüpfens an die eindeutig faktischen und nicht an die nur spekulativen bzw. fiktionalen Geschehensanteile sowie aufgrund der bildlichen Nicht-Konkretisierung letzterer sind diese Arbeiten als Inkorporierungen der entsprechenden Verdachtsmomente lesbar. Über die Motivwahl, d. h. die Darstellung buchstäblich nichtssagender Gegenstände und geradezu banaler Räumlichkeiten, wird die weiterführende Ergründung des tatsächlich und über das Sichtbare hinaus Gewesenen und das Erwägen alternativer Ereignishergänge angeregt.
3 Thomas Demand, Klause I, II, III, IV, V, 2006, C-Print/Diasec, 275 x 170 cm/178 x 244 cm/ 199 x 258 cm/103 x 68 cm/197 x 137 cm, Frankfurt am Main, Museum für Moderne Kunst.
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Dass alles Tradierte hinterfragt werden muss, deutet sich bei dieser Arbeit darüber hinaus nochmals auf ganz eigene Weise an: Denn ähnlich wie bei „Presidency“ konvergieren bei „Klause“ in den fünf Fotografien der Serie verschiedene Zeitebenen. Diese rekurrieren auf den Zustand der Kneipe während und im Nachgang des vermeintlichen Verbrechens. Anders als bei „Presidency“, welche die Skulptur des zeitlich fiktiven Oval Office in der Fotografie multiperspektivisch aufbereitet, setzt sich „Klause“ aus den Darstellungen je verschiedener Räume und Außenansichten des besagten Ortes zusammen, die je verschiedenen Zeiten der Vor- und Nachgeschichte des Verbrechens entstammen. Jedem Einzelbild kommt dabei eine eigene, in sich konsistente Zeitebene zu. Konkret bedeutet dies: „Klause I“ zeigt die Eingangstür in der Zeit kurz nach Bekanntwerden des Verbrechens, in welcher das Gebäude Gegenstand vandalistischer Handlungen wurde. Im Sinne einer Bilderfindung, die keine realweltliche bzw. realzeitliche Entsprechung hat, symbolisiert „Klause II“ mit der Efeu-überwucherten Fassade der Klause eine abstrakte lauernde Gefahr im Inneren. „Klause III“ referiert als Hauptfoto auf den geschmückten Küchenraum der Bar während einer etwa zur Zeit des Verbrechens veranstalteten Faschingsparty. „Klause IV“ fungiert mit der eingetrockneten Zimmerpflanze – einer Metapher für die Vernachlässigung per se – als Verbindungselement zwischen den Zeitebenen, da diese Pflanze in den Räumlichkeiten der Pizzeria vergessen wurde, die hier nach den Vorfällen einzog, alsbald aber wieder schließen musste. Und „Klause V“ stellt das Hinterzimmer besagter Pizzeria dar, das in der Betrachterwahrnehmung zum Tatort avanciert, obwohl es einem Zeitkontext nach der Tat entstammt.10 Das Serienformat kann hier also nicht nur in eine chronologisierte Bilderzählung, sprich eine in Einzelbilder gesplittete Erzählfolge überführt werden, die sich am Ende jedoch nicht mit dem tatsächlichen Geschehen zur Deckung bringen lässt; vielmehr vermag das Serienformat, die je nach Personenkreis unterschiedlich ausfallende ‚Sicht der Dinge‘ zu versinnbildlichen. Die hier versteckte Multiperspektivität, die über die formale Ebene der Mehransichtigkeit des Bildgegenstandes hinaus auf die inhaltliche Ebene übergreift, wie die Analyse der zur Darstellung gebrachten Zeit(en) der Arbeit zeigen konnte, symbolisiert in diesem Sinne den von Widersprüchlichkeiten durchwirkten Gerichtsprozess, die Irrungen und Wirrungen des eigenen Erinnerungsvermögens und die Subjektivität eines jeden Erlebens wie auch Tradierens des Erlebten.
Die Erzählzeit in den architektonischen Interventionen: „Embassy“ (2007) und der Deutsche Pavillon auf der São Paulo Biennale (2004) An dieser Stelle soll der Fokus nun weg von der erzählten Zeit und hin zur Erzählzeit, weg von einer bildimmanent angelegten Zeitstruktur und hin zur außerbildlichen Zeitlichkeit der Rezeption der Arbeiten im Ausstellungsraum verschoben werden. Als drittes Werkbeispiel dient in diesem Zusammenhang die neunteilige Serie „Embassy“ (Abb. 4), die in ihrem Installations- bzw. Rezeptionskontext untersucht werden soll. Die Werkserie umfasst eine Außenansicht und mehrere Innenansichten des im Titel noch allgemein gehalZeitgeschichte(n) I 187
tenen Gebäudes, das in „Embassy I“ anhand der Darstellung einer Flagge als nigrische Botschaft identifiziert werden kann. Wie „Klause“ referiert auch dieses Werk auf einen komplexen Geschehenszusammenhang: einen Einbruch in die nigrische Botschaft in Rom im Jahr 2001, bei dem Briefbögen und Stempel entwendet wurden, die vermutlich zur Fälschung von Dokumenten dienten, auf Grundlage derer die amerikanische Regierung auf den Uranhandel des Niger mit Saddam Hussein schloss und so den Einmarsch in den Irak legitimierte.11 Das hier zugrunde liegende Ausgangsgeschehen im engeren Sinne, also der Einbruch in die nigrische Botschaft, wurde erst im Kontext der partiellen Enthüllungen der sog. „Nigergate-Affäre“ und im Anschluss an die Rede George W. Bushs zur Lage der Nation im Jahr 2003 durch die Medien berichtet und lässt sich als nachrichtenwürdiges Ereignis im Jahr 2001 heute nicht mehr nachweisen. Nicht zuletzt weil die römische Polizei in der Annahme eines Bagatelldelikts davon absah, Aufnahmen vom ‚Tatort‘ anzufertigen, blieb der Einbruch in die nigrische Botschaft unbebildert bzw. existiert eine illustrierende Bildberichterstattung allenfalls in rudimentärer Form zur „Nigergate-Affäre“. Ähnlich wie bei „Klause“ schließt hier also die Nicht-Verfügbarkeit von Bildern unmittelbar an die Nicht-Nachweisbarkeit der Dokumentenfälschung an, und sie zieht außerdem das Ereignis des Einbruchs in Zweifel. Mit seiner eigenmächtigen Bebilderung des Geschehens(-Ortes) hat Demand demnach ein augenscheinlich unspektakuläres, auf den zweiten Blick dann aber politisch hochgradig aufgeladenes Sujet gewählt, dem eine Vielzahl an Verdachtsmomenten, Ungereimtheiten und undurchsichtigen Geschehensstrukturen anhaften, welche durch die formale Umsetzung eine zwar ‚nur‘ implizite, darin aber doch schlagkräftige Thematisierung erfahren.
4 Thomas Demand, Embassy I, II, III, IV, IVa, V, VI, VII, VIIa, 2007, C-Print/Diasec, 168 x 204 cm/228 x 320 cm/74 x 90 cm/198 x 198 cm/88 x 100 cm/224 x 164 cm/180 x 232 cm/180 x 252 cm/51 x 53,5 cm.
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5 Grundriss zur Ausstellungsarchitektur „Thomas Demand. Camera“, 4. April – 6. Juli 2008, Hamburger Kunsthalle.
Diese Werkhintergründe sind von Bedeutung, wenn es im Folgenden um die Präsentation von „Embassy“ in der Gesamtinstallation „Yellowcake“ geht, mit Hilfe derer Rückschlüsse auf die Erzähl- oder Betrachterzeit gezogen werden können. Denn „Yellowcake“ wartet mit gestalterischen Besonderheiten auf, die wiederum Rückschlüsse auf den Inhaltskontext der Arbeit liefern: So erweist sich die Installation des Werkes, wie sie Demand etwa in der Hamburger Kunsthalle (2008), in der Fundación Telefónica, Madrid (2008) oder im Mumok, Wien (2009) realisierte, nicht nur als spezifische Hängung in einem vorgegebenen Ausstellungsraum. Vielmehr impliziert das vom Künstler entworfene Ausstellungsdesign eine verschachtelte Raumsituation gemäß des Grundrisses der nigrischen Botschaft (Abb. 5). Den hier in die Ausstellungsräume eingezogenen dunklen Wänden, die als Träger der neun großformatigen C-Prints dienen, kommt dabei bezeichnenderweise die Funktion von Kulissen zu, d. h. Wände und Bilder treten zurück, werden zum Umraum und eröffnen eine sinnbildliche Bühne für die betrachterseitige Interaktion im Hier und Jetzt. Dabei wird die systematische, in der Betitelung mit Hilfe einer schlichten römischen Nummerierung ausgewiesene Folge der Bilder in ein effektvoll chronologisiertes räumliches Nacheinander transferiert. Gleichsam mit filmischen Mitteln12 wird eine Art Kamerafahrt vom Äußeren des Gebäudes hinein in dessen Inneres, über Treppenhäuser und durch Türschleusen hindurch in die höher gelegenen Etagen und Büroräume ermöglicht, die das Betreten der Botschaft aus Betrachterperspektive nachzuempfinden scheint. Der Betrachter spürt auf einem kurzen vorgegebenen Parcours der Zeitgeschichte(n) I 189
Raumsituation des Botschaftsgebäudes nach, in der er niemals selbst gewesen sein und von der er niemals andere Bilder als diese gesehen haben kann. Dabei durchsetzen sich die visuellen Seheindrücke der Bildrezeption mit der körperlichen Erfahrung von Räumlichkeit, verschmilzt der statisch-einansichtige Blick in den exkludierten Bildraum der Fotografie qua Bewegung mit der tatsächlichen Begehung dieser surrogathaften Räume. Die hier greifende „Ausstülpung des Bildraumes in die Dreidimensionalität des Realraumes“13 – ein von Vanessa Hirsch in anderem Kontext gebrauchter Ausdruck – ermöglicht eine rezipierende Vergegenwärtigung der tatsächlichen Raumsituation, die im Sinne der dem Werk zukommenden Erzählzeit eine bestimmte zeitliche Dauer internalisiert, die der Ausstellungsbesucher für die Rezeption des Werkes aufbringt. Die Rezeption der Werkserie kann dabei mit jener performativen Wieder-Holung von Geschichte verglichen werden, die gewöhnlich von künstlerischen Reenactments anvisiert wird, lässt sich doch auch bei Demand das „rebuilding [of] places“ mit dem „re-experiencing [of] events“14 engführen, eine Erfahrung, die dem Betrachter gewiss allein in der Ausstellungssituation, niemals hingegen an der tatsächlichen Modellskulptur zuteil wird. Als wäre dieser Hintergrund von „Embassy“ bzw. „Yellowcake“ nicht schon komplex genug, ist außerdem nicht nur die Erfahrbarkeit der Botschaftsräume im Ausstellungsraum, sondern auch die Vorgeschichte der Arbeit und die Erinnerung an den realweltlichen Ort eine über das Visuelle hinausgehende. Denn für „Embassy“ existieren, wie schon angedeutet, keine materialen bzw. (massen-)medialen Vorlagenbilder, anhand derer Demand die Rekonstruktion der nigrischen Botschaft hätte vornehmen können. Vielmehr verschaffte sich der Künstler persönlichen Zutritt zur Botschaft, die gewöhnlich kaum Besucher einlässt, und speicherte die gesehenen und betretenen Interieurs gleichsam fotografisch im eigenen Gedächtnis. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Parcours des Rezipienten durch die Installation als körperlicher Nachvollzug einer raum-zeitlichen Erfahrung, der sich der Künstler stellvertretend unterzogen hat, die Installation hingegen ihrerseits als vermeintlich dokumentarischer, tatsächlich aber hochgradig subjektiver räumlicher Speicher dieser Erfahrung bzw. Erinnerung. Die Installation „Yellowcake“ visualisiert also nicht nur einen zuvor unbebildert gebliebenen Ort, der sich über sekundäre Quellen mit hochgradig brisantem politischem Gehalt anreichern lässt, sondern sie macht eine doppelte Raumerfahrung in der Ausstellung wiedererlebbar bzw. überhaupt erst erlebbar. Mit Blick auf den ephemeren Charakter des bildhauerischen Werkstoffs Papier sind hier außerdem jene Bedeutungsdimensionen angesiedelt, die das re-modellierte Setting des historischen Ereignisses als vorläufiges und in seiner Interpretation dezidiert reversibles markieren: Durch den Nachbau wird die Möglichkeit der Wiederholbarkeit von Geschichte eröffnet oder – ähnlich wie bei „Klause“ – doch zumindest ein Nachdenken über alternative Ereignishergänge im Sinne der kontrafaktischen Geschichte15 angeregt. Zugleich verweist der vorläufige und fragile Materialcharakter der Papierskulpturen auf die Labilität und ‚Nichtbelastbarkeit‘ medialisierter Geschichte bzw. Geschichten, die den Prinzipien und Mechanismen der Medienproduktion unterworfen immer nur zu subjektiven, selektiven und bisweilen verfälschten oder unvollständigen Berichten führen kann. 190 I Veronika Tocha
Abschließend sei nun ein viertes Werkbeispiel bzw. eine weitere Ausstellungsinstallation einbezogen, die den hier diskutierten Aspekt der Erzählzeit nochmals um eine zusätzliche Perspektive erweitert. Es handelt sich dabei um den von Helmut Friedel kuratierten und von Demand in Zusammenarbeit mit dem Architekten Arno Brandlhuber realisierten Deutschen Pavillon der 26. São Paulo Biennale (2004), der als Gebäude im Gebäude in dem 1964 für die Biennale errichteten Palast der Industrie von Oskar Niemeyer installiert wurde und bei dem Bart Lootsma bezeichnenderweise von einem ausgeprägten „Skulpturalismus“16 spricht. Demand und Brandlhuber haben für den Deutschen Pavillon eine architektonische Kapsel in Niemeyers moderne Monumentalarchitektur eingebaut, und zwar an einem randständigen Nebenschauplatz des Gebäudes am oberen Ende einer die Etagen verbindenden Rolltreppe (Abb. 6). Dabei adaptierte der Pavillon die architektonische Formensprache seiner Umgebung und tarnte sich geschickt als Teil der Niemeyer-Architektur. Im Pavillon selbst errichteten Demand und Brandlhuber eine verkleinerte Rekonstruktion der in der dritten Etage befindlichen Cinemathek, ein begehbares Skalenmodell, in dem Demands Film „Trick“ (2004) und in dessen ‚Foyer‘ seine Fotografien „Space Simulator“ (2003) und „Küche“ (2004) gezeigt wurden.
6 Thomas Demand/Arno Brandlhuber: Deutscher Pavillon, 26. São Paulo Biennale, 2004, Simulationen der architektonischen Kapsel, technische Zeichnung und Installationsansicht.
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Mit ihrer architektonischen Intervention überführten Demand und Brandlhuber das in Demands Fotografien aufscheinende Moment der subtil variierten Verdopplung auf die Ebene der Ausstellungsarchitektur, sie erschufen, was von anderen Autoren als „begehbare Trompe-l’œils“17 oder als „konzeptuelle und räumliche Version der mise-enabyme“18 bezeichnet wurde. Ganz im Sinne der von Niemeyer propagierten Nachkriegsbewegung der Synthèse des Arts19 entstand ein Gesamtkunstwerk, das die anteiligen künstlerischen Einzelkomponenten symbiotisch verschmolz, die Arbeit Demands, Brandlhubers und Niemeyers zu einem Ganzen verknüpfte und einem gemeinschaftlichen Ziel unterwarf. Dabei entfaltete der Deutsche Pavillon beim Besucher eine ähnlich irritierende, zwischen Wiedererkennen und Verwechseln changierende Wirkung, wie sie auch durch Demands Fotografien augenscheinlich vertrauter Bildsujets ausgelöst werden kann. Im Gegensatz zu diesen war es hier jedoch das körperlich-sinnliche Raumempfinden, das an Ort und Stelle eine dissoziative Verunsicherung der räumlichen Wahrnehmung, eine Verwirrung und Hinterfragung des eigenen Ortsgedächtnisses mit sich führte. Während der Rezipient beim Betrachten der Fotografien Demands die aufgerufenen Orte schon einmal gesehen, das heißt dieselbe Seherfahrung schon einmal gemacht zu haben meint, so glaubte der Besucher des Deutschen Pavillons – mitunter zurecht – jenen Ort schon einmal betreten, d. h. dieselbe Raumerfahrung schon einmal gemacht zu haben. Die in den Fotografien verwehrte beziehungsweise einzig dem Künstler vorbehaltene Betretbarkeit der räumlichen Situation des Papiermodells wurde hier ähnlich wie bei „Embassy“ gewährt, die „Praxis der Teilhabe und der Verkörperung“20 – laut einschlägiger Autoren wesentliches Charakteristikum künstlerischer Reenactments, durch die der Besucher zu einem essentiellen Teil, wenn nicht sogar zum partizipatorischen Vollzieher und Vollender des Werkes wird – konnte uneingeschränkt zum Tragen kommen.
Resümee Zum Schluss unterstreicht die Verquickung von Skulptur und Fotografie im Werk Demands dessen künstlerisches Interesse an einer gleichermaßen formalen wie inhaltlichen Mehrdimensionalität sowie die eingangs angesprochene Tatsache, dass eine etwaige Festschreibung seiner Arbeiten auf das zweidimensionale Bild zu kurz greift. Auf der Stufe der Papierskulptur bereits angelegt, scheint das Werk auch in Gestalt des vermeintlichen Endprodukts der Fotografie wiederum über die (Flächen-)Bildform hinauszuweisen, scheint es seinen skulpturalen Gehalt nach außen kehren, diesen in eine wiederum objekthafte Raumform transferieren zu wollen. Wie die Beispiele der beiden Ausstellungsdisplays gezeigt haben, wird das den Werkprozess kennzeichnende Alternieren zwischen Bild- und Objektform, Zwei- und Dreidimensionalität, Fotografie und Skulptur durch die Installation der Arbeiten im Ausstellungsraum um eine zusätzliche Ebene, die Werkkette um ein zusätzliches Glied erweitert. Damit wiederholt, verdoppelt und vollendet sich, was zuvor auf der Ebene der Papierskulptur angelegt wurde, durch die Überführung in die Fotografie im Normalfall jedoch nicht implementiert wird. 192 I Veronika Tocha
Wie gesehen erweisen sich sowohl die bildimmanenten als auch die das Bild transzendierenden, im Rezeptionsprozess angesiedelten zeitlichen Ebenen als buchstäblich facettenreich. Während bei der Analyse der erzählten Zeit in den Werkserien eine Multiperspektivität der story im Sinne des Dargestellten festgestellt werden konnte, förderte die Analyse der Erzählzeit in den Ausstellungssituationen eine Mehrdimensionalität des discourse im Sinne der Darstellung zu Tage, die ihrerseits wieder zurück wirkt auf die Inhaltsebene. Mit dem Ausgreifen auf den Raum greifen die Arbeiten Demands unumstößlich auch auf die vierte Dimension der Zeit über. Die Rezeption der Arbeiten im Ausstellungsraum internalisiert damit eine spezifische Betrachterzeit. Mit Gundolf Winter lässt sich hier die „primäre Erfahrung von Skulptur“ attestieren, „jenes ‚quälend‘ Kubische, das tastend im Nach- und Auseinander heraus erfahren wird, sich zum Teil auf verschiedene Ansichten verteilt und in der zeitlichen Erfassung auch konkret als Betrachterzeit zu Buche schlägt“.21 Dabei scheint Demands Werk über die Spiegelung der C-Prints in und an ihrem gestalteten Umraum die Mechanismen seines multidimensionalen Funktionierens in der Zeit gleichsam offenlegen zu wollen. Die fotografierte beziehungsweise gezeigte Architektur als Motiv und modellhafter Bildgegenstand wird ihrerseits Teil einer Architektur, zu der sie sich in ein Verhältnis setzt und mit der sie wiederum etwas Neues schafft. Bildraum und Raumbild gehen ineinander über und verkehren sich, um am Ende auch das skulpturale und architektonische Objekt als Bild lesbar zu machen.
Anmerkungen 1 Der vorliegende Beitrag stützt sich in Teilen auf die von der Autorin im Jahr 2014 an der Universität der Künste Berlin eingereichte Dissertation „Thomas Demand. Modellhafte Vor- und NachBilder“, deren Publikation derzeit vorbereitet wird. 2 Vgl. dazu Bogomir Ecker [et al.], Lens-Based Sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Ausstellungskatalog Berlin), Berlin 2014. 3 Vgl. dazu Dietmar Rübel, Die Fotogenese der Skulptur (molekulare Gemeinschaften), in: LensBased Sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (wie Anm. 1), S. 110–125. 4 Vgl. dazu Rosalind E. Krauss, Das Fotografische: Eine Theorie der Abstände (übers. von Henning Schmidgen), München 1998. 5 Vgl. dazu Martina Dobbe, Fotografie als theoretisches Objekt: Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, München 2007, insbesondere das Kapitel „Das Fotografische und das Skulpturale. Skulpturenfotografie als Bildtheorie“, S. 73–100. 6 Vgl. grundlegend dazu Günther Müller, Erzählzeit und erzählte Zeit, in: Festschrift für Paul Kluckholm und Hermann Schneider. Tübingen 1948, S. 195–212; Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967. 7 Die Geschichte des Oval Office mit Abbildungen der Innenausstattungen von Theodore Roosevelt bis Barack Obama ist auf der Internetseite des White House Museum dokumentiert. Auch eine Abbildung des Clinton Oval Office, wie sie Demand als Vor-Bild für „Presidency I“ gedient haben könnte, ist hier zu finden. Vgl. http://www.whitehousemuseum.org/west-wing/oval-office.htm, [letzter Zugriff 07.09.2016].
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8 Der Titel des Heftes lautete: „After the Imperial Presidency. Will the new president and Congress undo the executive power plays and constitutional abuses of the Bush years?“, The New York Times Magazine, November 9, 2008. 9 Vgl. dazu Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten: Der Fall Pascal – Geschichte eines Skandals, München 2008. 10 Zu den Referenzen der einzelnen Arbeiten der Werkserie vgl. die Aussagen des Künstlers in Hans Ulrich Obrist, Thomas Demand (The Conversation Series; 10), Köln 2007, S. 47 f. 11 Zum Hintergrund von „Embassy“/„Yellowcake“ vgl. Thomas Demand, Yellowcake (slightly revisited ...), in: Executive. Von Poll zu Presidency (Ausstellungskatalog Wien), hg. von Museum moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2012, S. 29–51. Auch im Katalog zur Ausstellung in der Fondazione Prada (2007) findet die Arbeit „Embassy“ und deren Installation „Yellowcake“ bzw. das zugrunde liegende Ereignis ihren künstlerischen, aber gut recherchierten Niederschlag. Vgl. Thomas Demand und Germano Celant, Thomas Demand: Processo grottesco (Ausstellungskatalog Venedig), Mailand 2007. 12 Einen ähnlichen Argumentationsstrang verfolgt Marlene Obermayer in ihrem Aufsatz „Kine matografische Effekte in der Werkserie Embassy von Thomas Demand.“, 5. April 2013, http:// daskunstbuch.at/2013/04/03/kinematografische-effekte-in-der-werkserie-embassy-von-thomasdemand-teil-i/ [letzter Zugriff 16.08.2016]. 13 Diese Formulierung nutzt Vanessa Hirsch für die Beschreibung der Gemälde Robert Irwins. Vgl. dazu Vanessa Hirsch, Malerei und Installation bei Robert Irwin. Vom Bild-Raum zum RaumBild, Berlin 2008 (Univ. Diss., Berlin 2004), S. 17. 14 Ruedi Widmer, Den Tatort bauen: Ein Gespräch zwischen Thomas Demand und Ruedi Widmer, in: Tatort: Die Requisiten der Beweisführung (Ausstellungskatalog Zürich), hg. von Erika Keil, Zürich 1998, S. 15. 15 Als Beispiel für das Durchspielen unterschiedlicher Hergänge von Geschichte vgl. Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?, Göttingen 2001. 16 Bart Lootsma, Suspense, in: Thomas Demand: Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur 26a Bienal de Sao Paulo 2004, hg. von Thomas Demand, b&k + Partner, und Helmut Friedel, Köln 2004, S. 59–83, hier S. 74. 17 Christina Pack, Dinge: Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst, Berlin 2008 (Univ. Diss., Berlin 2006), S. 179. 18 Douglas Fogle, In the Stomach of an Architect, in: Thomas Demand: Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur 26a Bienal de São Paulo 2004 (wie Anm. 16), o. S. 19 Vgl. dazu Lootsma (wie Anm. 16), S. 72 ff. 20 Jens Roselt, Geschichte wird nachgemacht. ‚Serie Deutschland‘ von Hofmann & Lindholm und ‚Deutschland 2‘ von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments, in: Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments, hg. von Ders. und Ulf Otto, Bielefeld 2012, S. 53–70, hier S. 56. 21 Gundolf Winter, Skulptur und Virtualität oder der Vollzug des dreidimensionalen Bildes, in: Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität, hg. von Ders., Jens Schröter und Christian Spies, München 2006, S. 47–74, hier S. 55 f.
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Kate Corder
Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time This article considers Sculpture and Time in 20th- and 21st-century art by exploring sculptural works, which use organic plant growth as a premise. Passages of time, materiality and processes in these artworks create dialogues, which expand and question previous sculpture while generating political aesthetics connecting to human activity, land usage and occupations. Plants are unfixed structures influenced by environmental factors. The continuation of the artwork shifts through the duration of the seasons and years, dependent on short or long term planting. A sculptural plant artwork can perform roles of both success and failure confronting the observer. As an artist I transcribe examples of my own artwork using plants as material. I contextualize my investigation by surveying developments of 20th-century sculptures constructed using plant growth and earth by various artists, including De Maria, Smithson, Andre, Kaprow, The Harrisons, Simonds, Sonfist, Denes, Beuys and Webster. I expand the article to observe contemporary practices using plant material in the 21st century, including artworks from documenta (13) (2012), where the presence of the plant sculptural installations evolved during the 100-day exhibition.
Introduction In considering Sculpture and Time in 20th and 21st-century art, I explore sculptural works, which use organic plant growth as their premise. My approach to the subject is through art practice, art history and curation and these approaches gradually unfold within this essay. Plants are unfixed structures influenced by environmental factors. The plants and sculptural artwork’s presence can perform roles of both success and failure confronting the observer. The continuation of the artwork shifts through the duration of the seasons and years, dependent on short or long term planting. While some plant artworks exist for mere days, for example Robert Smithson’s “Floating Island”, others, such as Agnes Denes’ “Tree Mountain” and Joseph Beuys’ “7,000 Oaks” are long term commitments to sculptural plant growth, and, as social sculptures, significantly shape landscapes and ecosystems, acting as a continuing influence on the environment. Plant based sculptures engage with discourses created by Rosalind Krauss’ essay “Sculpture in the Expanded Field” (1979).1 In her essay Krauss discusses how sculpture in the late 19th and early 20th century turned from high art commemorative monuments to modernism, becoming not-landscape and not-architecture creating an inverse logic. In the 1960s concepts of sculpture rapidly evolved to postmodernism Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 195
through artists’ experimentation. Krauss enlarges her theory about sculpture as an expanded field through a set of binaries in quaternary field diagrams, which combines sculpture as one term in an expanse of possibilities. The expand field of sculpture embraces site-construction, architecture, axiomatic structures, not-architecture, sculpture, not-landscape, marked sites and landscape.2 Sculpture expanded in the field of postmodernism at a specific time in art history during the 1960s to 1970s. Krauss identifies this event and forms questions as to why this change occurred and opened up ruptures in the field of sculpture.3 Multiple occurrences contributed to the expansion at this time. Artists started to occupy and explore spaces in landscape using varied medium.4 Fluxus temporary and fleeting Action Events in the 1960s often happened in streets and other locations. In September 1970 Artforum’s article, “The Artist and Politics: A Symposium”, brought together a collection of artists’ responses to the question, “what is your position regarding the kinds of direct political action that should be taken by artists”.5 Paul Wood writes about the political crises of the sixties in relation to and as a motive for Artforum’s survey.6 Wood states artists included in the questionnaire made no secret of their anti-establishment position. The establishment was both “aesthetic and political” and artists used bricks and earth as appropriate materials to critique the establishment.7
Herb Garden As an artist, my first experiences of working with plants as living sculpture started at University of Reading in autumn 2005 and continued to summer 2006, when I grew “Herb Garden”. To create the garden, I negotiated a neglected and sometimes vandalized piece of land viewable through the windows of my studio. The site (approximately 26 sqm) was surrounded on three sides by the studio building walls and the fourth side was open, allowing interaction with the public realm. Over the course of nine months, I grew plants in the studio, gathered donated plant cuttings, cleared and dug the soil and rooted the plants in the garden site. Inside, the studio became a temporary exhibition area; I restricted the window access, limiting the viewpoints so part of the window framed the garden. This strategy references a line of thinking used in the designs of some Japanese Zen gardens, where the sculpted space of the garden is inaccessible and viewed from a window similarly to a painting; as an image of a garden to be gazed at rather than entered.8 Continuing this line of thought, I installed a CCTV camera to watch over “Herb Garden”. Inside the studio the garden could be seen on a small black and white monitor creating another viewpoint. Krauss defines Japanese gardens as “both landscape and architecture” and therefore in the expanded field of sculpture, complex.9 Time passed as the “Herb Garden” grew and the plants modified the space through the plants life cycles. The garden still exists, as a legacy, and is occasionally adjusted by art students. I was selected to take part in EAST international 2009 at Norwich and exhibited a film project I constructed on Tolhurst Organic Vegetable Growers. To extend my work 196 I Kate Corder
for EAST, I negotiated with Norwich City Council to allow a vegetable-planting project within the town. NCC grew vegetables on my behalf and planted these out in decorative displays in two public locations. One location was on the NCC office building balcony and another location at a historic arts venue. Concurrently, over several months in preparation for the EAST exhibition, Norwich arts students assisted me by growing vegetable plants and I also grew plants in my greenhouse studio. During the EAST installation I installed the plants in purpose built wooden planters expanding the art exhibition from the gallery into the street. One planter was 10 m long and another 20 m long. It took me approximately four days to plant all the vegetables in the planters. The exhibition was open for six weeks, which allowed the plants more time to grow while invigilation assistants tended them (fig. 1). While researching for my art practice PhD (during 2009–2012), I used a small plot of land (2.7 m by 4.8 m), situated in the Museum of English Rural Life’s garden to investigate vegetable gardens as living and interactive sculpture. I planted vegetables, herbs and flowers to make a utilitarian garden and studied rural gardening labour, land cultivation and plants as/or in artworks to inform my practice activity. I used plant material and allotment gardens to investigate the social relevance of gardening labour in leisure,
1 Kate Corder, Vegetables in the City, wood, soil and plants, 10m x 1m x 1m, Norwich, St Georges Street, EASTinternational 2009.
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everyday life and art. Through durational processes of gardening, digging, planting and harvesting, passages of time shape evolving structures generated by growing plant material. The plot at first was bare earth and then gradually transformed as plants grew. The plants responded to the weather and wildlife. Sometimes the plants would not grow because of drought and at other times the plants were eaten by wildlife. Real life experience of working the garden was contained within the project’s activity and there were elements of performance as the garden worker. I would normally visit the garden once a week limiting the gardening labour to align with a reality of time one can afford to work an allotment in everyday life. Sometimes the garden flourished and at other times it failed creating controversy, and, concurrently productivity. Because the garden was in the public arena, there were occasionally expectations of how the garden should look to the museum visitors, so the garden tested expectations of the institution and the garden worker. Brief happenings and dialogues occurred in the garden. I added sculptural elements, bamboo and paper, testing temporality, and built a compost container made from 120 bricks referencing Carl Andre’s “Equivalent VIII”.10 I produced film, creative writing and photographic documentation, which is seen through a virtual blog portal in the public realm by viewers who may or may not realise they are viewing an artwork project.11 The blog titled “Allotment Plot” is authored by “Ella Montt” and follows progress and events of the garden over time transmitting the artwork to the viewer outside the garden. The blog also acts as an archival record of the garden, the writing of which can be resumed at anytime with further garden studies (fig. 2, 3).
2 Kate Corder, Paper Curtain Drawing, Allotment Plot @ MERL, 13/10/2010, plants, soil, bamboo, newsprint and string, 5m x 3m x 2m (approx), Reading, Museum of English Rural Life.
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3 Kate Corder, Allotment Plot @ MERL, 15/10/2010, plants, soil and bamboo, 5m x 3m x 2m (approx), Reading, Museum of English Rural Life.
If one considers why artists became interested in the use of actual physical gardening as a working method, as opposed to representations of the garden in painting and at what point this became apparent, the artwork garden becomes a separate entity or genre. Edward Steichen, an artist who was widely known as a photographer in the early 20th century, was also a gardener and grower of delphiniums. For a week in June in 1936 the Museum of Modern Art in New York staged an exhibition of “Steichen Delphiniums” introducing living sculptural plants to the gallery space.12 The exhibition was timed to coincide with when the plants were in full bloom with the intention of creating a dramatic appearance of plant material in the gallery.13 This exhibition seems to have been an isolated event and a number of years passed before living plants as artworks appeared again in galleries.
Expanded Field Since the 1960s specific artists have used plant material, plant growth, soil, earthworks, land art and land cultivation in various forms and configurations to explore concerns and construct artworks at on site environments and in galleries. Concepts of Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 199
time, which can be transitory or more enduring are built in to the artwork. When conducting garden as artwork research, developments in 20th-century sculpture by artists such as Walter de Maria, Robert Smithson, Carl Andre and Allan Kaprow assist my investigation, providing historical perspectives on artists’ interactions with the materiality of earth. These four artists wrote essays exploring concepts on processes of digging, planting and gardens as method and medium prompting further consideration. De Maria’s essay “Art Yard” (1960) published in “An Anthology of Chance Operations” (1963) is important to sculptural developments because it positions the idea of digging a hole as an art event.14 The “Anthology” is difficult to obtain, however, Lucy Lippard included extracts from “Art Yard” in “Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972”.15 In “Art Yard” De Maria describes his audience dressing formerly for the event, watching a parade of steam shovels and bulldozers dig a hole amid a spectacle of explosions. The audience grabs shovels and participates in digging.16 From a cultural perspective ‘yard’ in America signifies, ‘garden’, (unless a measurement) and in this context De Maria’s bulldozers are pushing dirt around the yard (garden). “Art Yard” although not actualized as an event in De Maria’s practice directed future elements within it. In Smithson’s essay “Sedimentation of the Mind: Earth Projects” (1968), he speculates on the probability, “art degenerates as it approaches gardening”. 17 In context, Smithson’s hypothesis was about sculpture being installed in gardens, rather than artworks using gardening processes.18 Smithson is not relating his comment to utilitarian vegetable gardens, but to ideas surrounding outmoded pastoral idealizations of nature in European landscaped gardens. Smithson continued, “the gardens of history are being replaced by sites of time”.19 Smithson’s viewpoints on gardens are useful when considering time in relation to plant material and garden artworks. Firstly, because Smithson questions whether art degenerates as it approaches gardening (gardening being a time and labour based media) in contrast to high art, and secondly, because of the social history of Allotment Gardens, which are gardens of history containing their own social and political history; therefore a different history to landscaped gardens. Allotment Gardens were devised for the poor in the 19th century when land enclosures evicted people from the land, which they had formerly cultivated or foraged. Allotments are divided up in to individual plots of land and are utilitarian gardens where fruit and vegetables are grown. Allotment Gardens continue to generate history and become sites of time through repeated cultivation processes, working one plot of land over and over again. Carl Andre’s proposition, “art is a branch of agriculture”, when applied to plant cultivation, forms a conceptual manifesto.20 Agricultural, plant and land cultivation are time based. If artists explore the garden or planted site in the context of Andre’s script, processes can evolve to include (but are not limited to), constructing sculpture, performing planting, digging, harvesting and documentation.21 In Allan Kaprow’s essay “The Real Experiment” (1983), he posed the question, “what if I was digging a hole – 200 I Kate Corder
would that be art?” as a rhetorical question exposing digging soil as an art process within the artwork.22 Kaprow’s question leads to other questions as to how digging a hole becomes art and also refers back consciously or unconsciously to De Maria’s “Art Yard”.
Art Garden Theories Lippard states gardens can be communal or solitary spaces, acting as “mediators between nature and culture”.23 According to Lippard, parks are impersonal public spaces and public gardens are more private and intimate spaces. Communal and Guerrilla gardening can knit a community together overtime.24 Stephanie Ross in “What Gardens Mean” (1998) argues artworks in the form of gardens since the twentieth century are part of a lineage dating back to private gardens of the eighteenth century, although a different patronage, ownership and audience support the artworks.25 The contemporary artwork garden occupies a similar space through the Art World because gardens provide opportunities for us to address our relationship and place in the natural world.26 George McKay in “Radical Gardening: Politics, Idealism & Rebellion in the Garden” (2011) positions his view of the garden as a place in opposition to relaxation, and points to the word propaganda (political misinformation), which originates from propagare, the Latin verb ‘to propagate’.27 In gardening terms propagate means to grow, reproduce, spread, generate and create new plants through cuttings or seeds. The garden is not a fixed object, subject to change through the seasons and environmental factors, but a changing ideology depending on political circumstances and resistance and relevant to time.28 Valerie Smith, curator of “Down the Garden Path: The Artist’s Garden after Modernism” at Queens Museum of Art, NY, (2005), advocates the darker realities of the garden found in lived durational experience, over therapeutic, life-affirming intentions of escapist gardening.29 Artwork gardens can simultaneously contain numerous references and layers of meaning. Time structures also vary from fleeting to durational relationships. The individual involved in the garden construction controls the physical labour involved in working a garden. Gardens can be idiosyncratic or formal. The multiplicity of art practice and approaches which pertains to gardens and plant artworks is extensive and diverges from individual to collaborative art practices, in community or socially engaged projects and as both private and public artworks. Vegetable plants, trees or plant material in art can be a transient, seasonal or permanently rooted. Vegetables and fruit are seasonal products, even when forced to grow out of season. When living plants are used in artworks, they often pertain to the plant’s growth season. In the following examples, I explore artworks which are sculptural installations constructed using plant material as a vital element within the work. The sculptures are or were structured through the growth of plants over time. The materiality and processes of these artworks create dialogues which expand and question previous sculpture while Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 201
generating political aesthetics connecting to human activity, land usage and occupations. These artworks can be observed as using similar materials in their construction, but not necessarily the same objectives or outcomes.
Grass Grows Hans Haacke is a forerunner of artists using seed planting as a medium. Haacke grew grass in a tray positioned on a plexi-glass cube, “Grass Cube” (1967). For his work “Grass Grows” exhibited at “Earth Art” (1969) at Cornell University, Ithaca, NY, Haacke shovelled a mound of earth inside the gallery and covered it with winter rye seeds, which during the exhibition germinated, grew, and died, showing the time-based plant’s life cycle.30 The exhibition included images of Haacke’s installation process.31 Reportedly, Haacke wanted to make something which would react to environment, light and temperature.32 According to Lippard, Haacke was interested in plants because he saw plant “growth as a phenomenon”, interacting with energies and information.33 Depending on when one viewed “Grass Grows”, the artwork would be modified through time over the duration of the exhibition, generating alterations in the viewers’ perceptions of the work.34
Earth Room From the late 1960s earth appeared as a material, medium or object in the expanded field of sculpture. Walter De Maria’s first and second versions of “Erdraum” were temporary exhibitions both created in Germany, the first constructed in Munich (1968) and the second at Hessisches Landesmuseum, Darmstadt (1974). De Maria’s third “Earth Room” (1977) was commissioned by Dia Art Foundation and constructed in New York at 141 Wooster Street.35 This version was a temporary exhibition installed for three months, but became a permanent artwork, open to the public since 1980. De Maria’s “Earth Room” is maintained as devoid of plant life through careful tending of the earth in the gallery, this process includes raking the earth once a week. The earth is plant-less, yet has potential as a vibrant still life form. The earth as object becomes the subject of the artwork and has gained layers of compounded meaning overtime. The specifics of “Earth Room” are 335 square meters of floor space, depth of earth 56cm and weight 127,300 kilos. The artwork is isolated from New York’s street activity and visitors are infrequent. An important factor about “Earth Room” is its durational occupation of the gallery in an area of expensive real estate. De Maria’s earth according to Kastner is “anonymous”, not referencing a place, nor characteristics of a site through the soil.36 The artwork is contained in a non-site viewing area, with no explanation of the work’s process. “Earth Room” creates a smell and humidity, so viewing the installation becomes an experience and event on ascending the stairs to the gallery.37 202 I Kate Corder
Artpark From 1974, Artpark at Lewiston, New York State near Niagara Falls, set up a unique residential program, allowing space, time and freedom for artists to experiment with both earthworks and planting processes. The list of artists participating in Artpark’s program was extensive and included Agnes Denes, Helen Mayer and Newton Harrison, Charles Simonds, Alan Sonfist, Nancy Holt and Allan Kaprow. The original newspaper advertisement for Artpark read, “Artpark is a verb”. Participating artists were encouraged to “emphasize the process over product” because the artworks were temporary, and the park reverted to nature over the winter unoccupied months.38
Rice/Tree/Burial Agnes Denes demonstrated a durational engagement with Artpark and created the “Rice/Tree/Burial Project” (1969–1979), above Niagara Falls. Her work included ploughing and planting a rice field growing a half-acre field of rice. Denes buried time capsule in 1979 as an element in her project. A plaque instructs the time capsule box should not be opened until the year 2979. The time capsule contains a letter to future humans and microfilms responses to a questionnaire Denes formulated concerning existential questions relating to humanity and the future. Both the films and the letter act as a direct communication system to anyone opening the box in 2979.39 Time capsule generates the possibility of time, as an optimistic, continuous thread without disruption, aspiring to plausibility rather than cynicism. The amount of time within the artwork makes it seem hopeful, yet at the same time ironic.
Growth House Charles Simonds’ “Growth House” (1974–1976) at Artpark was based on his drawings of a round house constructed from hessian sacks filled with earth, vegetable and flower seeds.40 The sacks created a closed dwelling over the winter. Then, the “carefully organized” seeds germinated during spring producing vegetables over the summer. In the autumn the vegetation composted and became a potential source for renewing the house construction. Lippard describes the house as “bulging with vegetables”, bursting its architectural confines and destroying the house.41 This art process using plant growth as medium is initially ordered and contained, but through the onward movement of time, plant growth breaks and elaborates its container. I propose “Growth House” remains vitally important from the point of view of where it was situated, which was on site within Artpark and not a White Cube Gallery space. Harsh winters and snow can make Artpark inaccessible for several months of the year. Artworks exploring durational relationships to site and surrounding environment through using plant material Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 203
4 Charles Simonds, Growth House, 1974, hessian sacks, earth, vegetable and flower seeds, Artpark, Lewiston, NY.
as a premise within the work can encounter unpredictable continuations as the work develops over time. Planning time lines of how the artwork will look can be crucial to the appearance of work, but also elements of chance factor in to the living plant based sculpture. Wildlife can interact with the on site outdoors artwork, altering the sculptural structure. Referencing and rephrasing Smithson’s essay, art can degenerate as it approaches gardening and through this degeneration produce productivity42 (fig. 4).
Making Earth Helen Mayer and Newton Harrison’s “Making Earth” project started in 1970 by mixing materials together and composting. The Harrisons’ “Spoils Pile Reclamation” (1977– 1978 ongoing) at Artpark was a larger “Making Earth” project, incorporating tree and seed planting. The Harrisons reclaimed a quarry area filled with debris from the Niagara power plant construction. They accumulated soil from the local community; companies, farmers, park and municipal services participated, by bringing truckloads of soil and compostable material to the site and distributed it in piles. Nervous Artpark administrators cut the proposed 6,000 truckloads to 3,000, covering 20 acres as opposed to 40 acres. The soil was mixed and spread. Non-tillage agriculture consisting of trees, 204 I Kate Corder
berry bushes and native seed were planted to stop soil erosion. The work on the project started in 1977 with the piles of earth. “Spreading of Earth” happened in 1978 and “Third Season Growth” continued in 1979.43 The Harrisons shaped the landscape. Having never visited Artpark, I am interested to view the site the Harrisons cultivated to observe any recognisable tree and plants or land formation related to this project years later.
Time Landscape Alan Sonfist’s “Time Landscape” (1978), situated in New York City, is an often contested fenced plot (40’ x 250’ x 45’), cornering West Houston Street and La Guardia Place.44 It contains indigenous plant species left to grow wild. Greenwich Village local community board and New York’s Park Department are caretakers of the artwork. Sonfist first proposed “Time Landscape” in 1965. His original premise involved fifty wasteland sites in New York’s five boroughs. Each site would reconstruct wild pre-colonial landscape combining contemporary urban city with past environments. 45 Greenwich Village Community Board approved the single site in 1966. In an interview with Valerie Smith, Sonfist explained his negotiations created “a new vocabulary for public art” because he researched the land’s history and how it changed through human interaction, first with Native Americans and then European settlers, and this information became integral to the project as urban social intervention.46 Ed Koch was voted Mayor of New York in 1978. Koch supported the environment and Sonfist’s idea, which facilitated Time Landscape’s construction. Lippard describes “Time Landscape” as “a curious tangle of untended vegetation”, representing pre-colonial forest as a “hybrid between art and nature”.47 Time Landscape’s presence is acknowledged through modest signage and situated in the everyday cityscape. It is a living plant sculpture existing in the public domain, but easily unnoticed as an artwork. Its crucial claim is absorbed in the cityscape, and like “Earth Room”, it is important that both artworks are still there occupying space within the city.
Wheatfield The area of Manhattan which Agnes Denes used for “Wheatfield – A Confrontation” (1982) was a wasteland landfill site situated near the World Trade Center two blocks from Wall Street, across the water from the Statue of Liberty, with the Battery Park Tunnel and the Subway hidden underneath.48 It was a global trading area planted with a rural crop. “Wheatfield” represented food, commerce, economics and ecology, therefore confrontation existed on multiple levels.49 From her text “Manifesto” (1969) Denes’ words, “working with a paradox”, framed her work.50 The paradox showed the complexity of human social activity through the negotiation of growing a crop of wheat on exPlant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 205
pensive real estate land.51 Denes’ process consisted of clearing two acres of landfill site, arranging for delivery of two hundred truckloads of earth, digging 285 furrows by hand and sowing the wheat seeds (Denes had assistants). “Wheatfield” was maintained for four months, weeded, watered by an irrigation system, and sprayed for mildew fungus. When “Wheatfield” was harvested, it yielded 1,000lbs of grain. For the Barbican’s “Radical Nature” exhibition (2009) a smaller version of “Wheatfield – A Confrontation” was planted at Dalston, London, on a contested disused railway site, which for the purpose of the exhibition was converted to Dalston Mill.
7,000 Oaks In 1982, the same year as Denes grew “Wheatfield”, Joseph Beuys planted the first oak trees for his artwork “7,000 Oaks” (“7000 Eichen”), in time for the opening of documenta 7. It took Beuys and Kassel residents, who assisted the project, five years to plant the 7,000 trees across Kassel. After Beuys’ death in 1986, his son planted the final tree for the opening of documenta 8 (1987). The trees are situated in the public context of the town, mapping and shaping streets and pathways through their physical form. When Kassel inhabitants traverse the town, the trees influence them subliminally as
5 Joseph Beuys, 7,000 Oaks, since 1982, Kassel, Friedrichsplatz, 2012.
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Social Sculpture. These efects are not just visual, because the trees act as agents, assisting the environment through photosynthesis and produce oxygen soaking up carbon dioxide.52 Some oak trees can live for 1,000 years, so given this possibility, the trees may gradually transform the structure of the town still further, as the trees girths’ expand. Beuys thought of this tree-planting project as ongoing and global. He saw the oak tree as a form of sculpture, which could bring regeneration through concepts of time53 (fig. 5).
Kitchen Garden Meg Webster’s “Kitchen Garden” (November 1992 – March 1993) was planted in front of the Contemporary Art Museum in Houston; a wealthy neighbourhood.54 Photographic records of “Kitchen Garden” on the Green Museum website show the garden becomes established overtime (1992–1994). “The garden included a running stream and over 250 varieties of vegetables, herbs, fruit trees, perennials, roses, grasses and native plants”.55 One image shows an early aerial image of the garden layout and another the mature garden bursting with life. Lippard shares Frances Colpitt’s critical position on Webster’s garden citing the work was a failure. The reason for this is attributed to Webster’s intent, which sought community interactivity with the garden, providing food for the hungry and homeless.56 Colpitt described the garden as “scraggly”, but it seems both Lippard and Colpitt shared the opinion the existence of the garden through its process of growing and dying was provocative.57 Fritz Haeg and other artists later cite “Kitchen Garden” as a positive influence in their practice of vegetable garden construction in visible public areas. I argue “Kitchen Garden” has an enduring legacy, perhaps underestimated at the time of Lippard’s criticism in 1997. Notions of failure can happen within a garden, through crop failure, weather, wildlife and intention, but failure in a garden artwork can be a positive outcome.
Tree Mountain Agnes Denes’ “Tree Mountain” is another example of a large place-specific permanent artwork-planting project. This project conceived by Denes in 1982 was completed with the assistance of 11,000 people between 1992–1996 and planted 11,000 fir trees on a constructed hill at Ylöjärvi in Finland. Denes specified “Tree Mountain” is maintained for 400 years. In her essay, “What it means to plant a forest” (1983), Denes describes the forest tree roots holding “eroding land and keeping global warming down, photosynthesis up”.58 “Tree Mountain” is seen as Finland’s contribution to alleviate the planet’s ecological stress. Aira Kalela’s description of “Tree Mountain” (1992) explains the project as earthwork and land reclamation, creating virgin forest. “The trees are planted in an intricate mathematical pattern derived from a combination of the golden section and the pineapple/sunflower system designed by the artist”.59 Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 207
Floating Island Robert Smithson’s drawing “Floating Island to Travel Around Manhattan Island” (1970) shows a tugboat pulling a barge of native trees around Manhattan. When this drawing was articulated in 2005 (September 17–25), a tugboat pulled Smithson’s “Floating Island” of trees installed on a 30 by 90 foot barge around Manhattan.60 After Floating Island’s journeys around Manhattan were completed, the trees used in the artwork were reportedly planted in New York’s Central Park. Smithson had described the US parks and Central Park designer, Frederick Law Olmsted’s parks as existing before being finished and also “never finished”.61 This idea applies to Beuys’ “7,000 Oaks” and Denes’ “Tree Mountain”; because the trees continue to grow the artworks are never finished. Beuys, Denes and Olmsted worked with nature and not against it. They organize structures through formal ideas, but allow the non-formal idea of nature to take its own direction through interaction with plant material, weather and environment. Essentially, the site-specific planting place of the work construction is integral to the work, and ‘nature’ grows out of the place in a durational and continual transformation. The critical mass and impact of Beuys’ “7,000 Oaks” is not easily replicated, but the work remains an influence for art production. As I previously mentioned in reference to Beuys, when considering trees, particularly oak trees, the tree’s capability of growth and expanded size over an extended period of time (perhaps 1,000 years) multiplies the durational and physical aspect of the artwork. Robert Smithson’s trees on “Floating Island” were not rooted, but staged to look rooted for the barge installation. Beuys’ oaks are rooted and static, exerting their presence, but still transient because they are plant matter and constantly influenced by environment. When Beuys’ oaks are revisited and seen in photographs, their continual growth process becomes more obvious. Configurations of trees as uprooted or planted art object continue inside and outside the gallery area. As an ongoing investigation into sculptural artworks using plants as material, the following examples are on-site European plant-based sculptural installations produced since 2009 and include examples at documenta (13) in 2012. My choice of artworks shows a continuation in the ever-expanding field of sculpture and how time structures manifest in the artwork; process, preparation and propagation are part of the work. The individual artworks represent a diversity of plant sculptural practice and also elaborate the plant as artwork genre.
Pope & Guthrie Pope & Guthrie, a collaborative duo known as Somewhere, produced “What Will the Harvest Be?” (2009–2012) for Abbey Gardens near Stratford, London.62 The garden site has a long history because it was once connected to an Abbey. The project for Abbey Gardens was set up to be a resource and community project, which locals and interested gardeners have continued cultivating since Pope & Guthrie handed the project over in 2012. 208 I Kate Corder
6 Pope & Guthrie, What Will The Harvest Be? (2009–2012), 2010, London, Abbey Gardens.
Prompted by the London Olympics, a new overground train stop was built close to the garden since cultivation started, making the garden more accessible to visitors and widening the garden community. The sculptured nature of the utilitarian garden includes pronounced raised beds, structuring the planting. Fruit trees have also been planted for longevity (fig. 6).
Brook & Black Modern Art Oxford commissioned Brook & Black for a residency in 2010–2011 at Plot 16 at Rose Hill Allotments in Oxford. The artist duo produced “Plot 16, The Fermenting Room (The Return of the Rhizome)”. The established MAO’s gallery building was a former brewery, prompting them to plant hops on Plot 16 and make limited edition bottled beer. In the first year they planted four hundred hop rhizomes, later these were harvested and brewed, then the beer was sold in the gallery. In the second year Brook & Black installed a white metal sculptural frame replica of the MAO brewery building, which the hops gradually grew over, creating over time a hop plant building. The hops were harvested again at the end of the second growing season and the project produced more beer. Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 209
Rachael Champion Rachael Champion constructed “Economies of Scale”, a garden for the “Bold Tendencies 5” exhibition in 2011 on a Peckham Car Park roof. An arable farmer advised Champion on seeds for the garden’s composition. Champion planted the seeds in blocks of soil on the Car Park roof. When the seeds germinated and the plants grew, Champion positioned the plants next to industrial storage tanks. The installation explored Champion’s fascination with industrial farming, plants’ growing systems and edible raw materials. It was suggested the Car Park roof café should use the harvest from the garden, but Champion rejected this idea because it implied functionality and the visual form of the garden was more important. The work was not about sustainable solutions nor socially engaged community practice, but suggested plants growth systems as sculptural material. During the exhibition, over the summer of 2011, the plants maintained their vitality even through degradation, as the plants life cycles completed.
Myvillages In the expanded field of sculpture and art practice, “Myvillages” (Kathrin Böhm, Wapke Feenstra and Antje Schiffers) explores rural labour and useful productivity as a form of production. “Myvillages” strategies use rural labour producers to assist their art initiatives. In 2010 “Myvillages” created Vorratskammer, a pantry, and filled it with produce
7 Myvillages, Vorratskammer/Pantry, 2011, Hydroponic Salad Field, Berlin, Haus der Kulturen der Welt.
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until August 2011. The pantry was consumed during catered events at Über Lebenskunst Initiative for Culture and Sustainability at Haus der Kulturen der Welt, Berlin. For the festival hydroponic lettuces were installed in shallow floatable pool containers creating blocks of colour on the lake in front of the gallery. The conceptual structure of the lettuce garden distanced the productivity of rural labour. It took one day to install the lettuces, and the lettuces floated on the lake for six days – the length of the festival; the timing was that the lettuce growth would peak on Saturday, the third day of the festival. Hydrosalad needs a fairly controlled environment to grow. In this instance, it was not possible to grow the lettuces in situ on the HKW lake, consequently, the lettuces were grown elsewhere and then installed on the lake (fig. 7).
Black Box Garden Camilla Berner’s “Black Box Garden” (2011) was a self-initiated five-month project conducted on contested and expensive wasteland in Krøyer Square, Copenhagen Harbour. The wasteland owned by NCC, a land development company, was due for redevelopment in autumn 2012. Berner contacted arts organisation publik about her project intentions, but did not ask NCC’s permission to work there. Berner recorded her actions and interactions in a blog diary. Publik’s curators Johanne Løgstrup and Katarina Stenbæk visited “Black Box Garden” and arranged for Berner’s blog to exist as a project record on publik’s website63. While the blog was written, it evolved like the garden (and is now a published book translated into English, 2014)64. Berner constructed the wasteland garden when time permitted. First, she removed rubbish, then created paths by reusing sand from a previous occupant around pre-existing plant material. Over five-months she identified ninety-two species of wild plants and saved the plants’ seeds. Berner’s gardening process produced questions about temporality; observers asked how artists can work on transient projects. For the “Cultivation Field Exhibition” I curated in Reading (2012), the company Sutton Seeds worked with Berner, producing a unique foil package of 92 wild seed species she collected during her “Black Box Garden” project.
Garden Pavilion London’s Serpentine Gallery, Garden Pavilion “Hortus Conclusus” (2011), a garden within a garden, designed by Peter Zumthor, contained and framed a garden designed by Piet Oudolf. Inside the wooden black-painted Pavilion, the frame was open to the sky, so light, weather and time of day altered perceptions of the garden as it grew over several months. A café was situated within the frame of the Pavilion, allowing viewers to sit next to the central garden. The garden was designed as a contemplative space, even when crowded with visitors. Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 211
dOCUMENTA (13) In 2012, dOCUMENTA (13) soil and plant artworks were underlying, yet un-declared themes for several sculptural works continuing the legacy of Joseph Beuys to documenta. Kassel is well equipped to accommodate large plantings on site within its town and Karlsaue Park. The presence of plant and tree artworks in dOCUMENTA (13) evolved over the 100 days the exhibition was open. Depending on when one viewed the exhibition, images and perception of the plant artworks could be altered through time because of the plants life cycles, changing seasons, time of day and weather conditions. The scale of the exhibition across multiple venues and distances built time as a major factor in processes of viewing the exhibition, as viewers travelled across the town. Having visited dOCUMENTA (13) in 2012, I find the contemplation of the plant artworks presence endures.
The Lover Kristina Buch’s “The Lover” (2012), positioned outside the Staatstheater, was a raised platform garden filled with a confusion of profusely growing plants for the benefit of butterflies feeding and breeding. Buch grew the plants herself and tended the garden for the duration of the exhibition. Her work involved bringing hatching butterflies to the garden. Butterflies are transient life forms; therefore, Buch deliberately framed the garden to not contain the butterflies, knowing the butterflies might fly away as they were released on site.65 When I viewed this work in early July, the only visible butterfly was a readymade rather than a living butterfly. From an artist’s perspective, the visiting of artist Buch to the plant artwork everyday is durational commitment and a lived experience. In this case it was not a performance, but a planting and tending role.
Tea Garden – Soil-erg Artist collective AND, AND, AND’s evolving program at dOCUMENTA (13) included a sculptural “Tea Garden” within the Ottoneum garden. The “Tea Garden” was constructed from quantities of herbs growing in crates on stacked wooden pallets. The herbs were used to make tea and allowed tea drinking participants’ time to engage in discussion. Inside the Ottoneum building Claire Pentecost’s “Soil-erg” (2012) generated new soil through worms’ assistance and vegetable matter in vertical oak wood compost cabinets. The composting sound activity was heard through headphones attached to the cabinets. Soil was represented as currency in blocks resembling gold bars; new soil and therefore currency is potentially created by anyone who composts. Pentecost’s work relates to wealthy states and corporations land grabbing from un-defendable communities. Land or soil is seen as a commodity because of resources it contains. Pentecost installed 212 I Kate Corder
vertical compost columns planted with vegetable seeds in the Ottoneum garden and Karlsaue Park, referring to agricultural politics and limited growing space. In relation to the exhibition the columns were planned to evolve and transform as the plants grew.
Apple Trees Two apple trees were planted collaboratively for dOCUMENTA (13) in Karlsaue Park by the curator Carolyn Christov-Bakargiev and artist Jimmie Durham. Christov-Bakargiev’s “Korbinian Apple Tree” and Durham’s “Arkansas Black Apple” were planted in an area which was once an orchard. Together the apple trees commemorate Korbinian Aigner, a priest who became a gardener and apple grower. Aigner was deported to the Dachau concentration camp, where over four years of imprisonment he grew four types of apple trees. Descendents of apple tree KZ3 were used in the dOCUMENTA planting, creating their own legacy, while simultaneously extending Beuys’ legacy and dOCUMENTA’s involvement with tree planting.66
Swiss Chard Ferry Christian Philipp Müller’s work for dOCUMENTA (13) was installed in the Ottoneum and Karlsaue Park. The Ottoneum contained seed packets representing 60 chard types,
8 Christian Philipp Müller, Swiss Chard Ferry, 2012, Kassel, documenta (13).
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which Müller grew on the “Swiss Chard Ferry” positioned on one of the canals in Karlsaue Park. The ferry acted as a bridge across the canal and was constructed from flat barges hired from THW.67 Visitors could eat the chard as they crossed the ferry. An assistant carefully tended the plants and removed decaying chard leaves. Müller, Pentecost and AND, AND, AND worked with the Department of Organic Agriculture Science, University of Kassel to achieve their projects. The vegetable plants are staged and perform their presence as central motives of the artworks, while relying on soil to support their growth. The plant artworks allow interaction and encourage discourse with current domestic and industrial vegetable cultivation practices even though these themes were not announced at dOCUMENTA by Curator Christov-Bakargiev.68 In order to preserve freshness of the vegetable produce in these artworks, everyday tending would need to take place and replacement planting as an ongoing process within the work (fig. 8).
Ohne Title/Untitled (Wave) Three plant artworks for documenta were situated in front of the Orangerie in Karlsaue Park. One of these works was by Massimo Bartolini, another by Maria Loboda and the other was the work of Sing Dong. Massimo Bartolini’s “Ohne Titel/Untitled (Wave)” (1997–2012) sat closest to the Orangerie building. A boundary of planted barley concealed a Zen-like wave machine water pool behind the barley frame. When I visited in July, the barley plants were growing well. The progression of the barley plants growth over the duration of the exhibition would gradually alter the visual appearance of the barley, so that those viewing the sculpture in late August or September would see the barley plants ready for harvest and completing a life cycle. The moving water in the sculpture could be perhaps considered a more static part of the work and perhaps easier to maintain, but the water would also be subject to environmental concerns and transform over time if not regulated. The mechanical force of the rhythmic wave machine is then the constant element in the work, but also could be subject to mechanical failure.
The Work is Dedicated to an Emperor Maria Loboda’s tree work, “The Work is Dedicated to an Emperor” was arrangements of potted cypress trees, which gradually moved across the grass for dOCUMENTA’s 100 days duration. Loboda’s trees were portable, so depending on when one visited the park, the trees would be in different positions. The strategy of time is built in to work, but not necessarily growth of the plants, unless one considers an idea of invasive plants species, which can gradually move across land altering the landscape (fig. 9). 214 I Kate Corder
9 Maria Loboda, The Work is Dedicated to an Emperor, 2012, potted cypress trees, Kassel, documenta (13).
Doing Nothing Garden Song Dong’s “Doing Nothing Garden”, situated on the grass in front of the Orangerie, was constructed from mounds of rubble and soil, which gradually covered in vegetation. The vegetation was a combination of edible plant material and companion planting attracting biodiversity. The mounds were surrounded by rubber tubing, which became a seat for viewers to sit on next to the garden. The title, “Doing Nothing Garden”, could be seen as ironic because the work continued to do something through the vibrant plant growth assisting biodiversity. People sat around the work involved in various activities, including repose. This plant work would also evolve over the course of the exhibition. Seen from a distance, time passed and plants continued to grow (invisibly) even as one approached the Garden (fig. 10). Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 215
10 Song Dong, Doing Nothing Garden, 2012, plants, rubble, soil, Kassel, documenta (13).
Untilled Pierre Huyghe’s “Untilled” (2011–2012) at dOCUMENTA (13) was installed around Karlsaue Park’s compost heap site. Huyghe combined surrealistic elements, including Marijuana plants, a dog with a pink coloured leg, piles of tarmac, compost, paving and an active beehive attached to a reclining female figure’s head, all of which one encountered as one negotiated the site. The bees were positioned at a distance to viewers leaving both seemingly undisturbed. The work referenced Beuys through an uprooted tree, (one of Beuys’ 40% non-oaks). In an interview, Huyghe claimed his work explored ‘presence’ rather than performance. The compost gave the work its structure and construction process. He was interested in no pre-existing models. The work created its own vitality through plant growth and interaction of the objects situated in the site, which constantly changed through process.69 I found Huyghe’s approach to “Untilled” interesting because it encourages un-tilling, allowing plants on site to change through their own processes as emergent presence rather than performance not relying on an outcome. The position of Song Dong’s work was centrally located contrasting with Huyghe’s work, which was in an obscured position behind trees. Both artworks constructions contained rubble, soil and vegetation attracting bees and relied on processes of presence and change over time, but there they differed. 216 I Kate Corder
Conclusion The underlying theme in this article of plants growing as durational sculptures over allotted amounts of time is I find something to continue contemplating. Encountering and viewing plant artworks in real-time and reviewing the works through memory and dOCUMENTAtion, at a later date, expand the significance of plant artworks as vibrant sculptural forms. There is a sense of immediacy and presence created by a living plant artwork when it is in full growth. There is also a sense of dormancy in time before a plant germinates and flourishes and then the fading of time as colours in plants transform at the end of plants life cycles. Time factors in plant-based artworks can gradually alter the appearance of the work over time, shifting the viewers’ experience. A constant factor perhaps in the plant-based artwork is its presence fluctuating through time. Plant sculptures can create landscape and architecture and be not-landscape and not-architecture or be a combination, on-site or in a gallery in an expanding field of sculpture and time.
Anmerkungen 1 Rosalind Krauss, Sculpture in the Expanded Field, in: October 1979, p. 30–44. 2 Ibid. p. 34–38. 3 Ibid. p. 40. 4 Ibid. p. 42–43. 5 Artforum, The Artist and Politics: A Symposium, in: Artforum, September 1970, p. 35–39. 6 Paul Wood [et al.], Modernism in Dispute: Art since the Forties (Modern art – practices and debates; 4), New Haven 1993, p. 93. 7 Ibid. p. 216. 8 David A. Slawson, Secret Teachings in the Art of Japanese Gardens: Design Principals, Aesthetic Values, Toyko/New York 1987, p. 80. 9 Krauss (ibid. 1), p. 38. 10 Carl Andre, “Equivalent Vlll,” (London/New York: Tate, Carl Andre/VAGA, DACS, 1966). 11 Ella Montt, Allotment Plot, in http://ellamontt.wordpress.com (Ella Montt, 2009), [Accessed 16-08-2016]. As part of the artwork, blog author ‘Ella Montt’ is an alien gardener from another planet. The study started with the cultivation of Allotment Plot at MERL in 2009 and then in 2010 elaborated the study through the addition of Allotment Plot 326, which is situated in a large local authority Allotment site, (Bulmershe Allotments), where there are over 300 individual plots. This created a discourse between sites inside and outside institutions. MERL is a museum owned by University of Reading where rural life is studied and Bulmershe Allotments is part of the social history of the Allotment Movement; the peoples’ right to land for cultivation, which dates back to 1790s. 12 Celia Hartmann, Edward Steichen Archive: Delphiniums Blue (and White and Pink, Too), MoMA, http://www.moma.org/explore/inside_out/2011/03/08/edward-steichen-archive-delphiniums-blueand-white-and-pink-too/. [Accessed 16-08-2016].
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13 MoMA, Edward Steichen’s Delphiniums Exhibition at Moma Press Release, June 22, 1936, http:// moma.org/momaorg/shared/pdfs/docs/press_archives/331/releases/MOMA_1936_0027_193606-18_18636-17.pdf?2010(1936). [Accessed 16-08-2016]. 14 Walter De Maria, Art Yard, in: An Anthology of Chance Operations, La Monte Young and Jackson MacLow (eds.), New York 1960, p. 27. 15 Lucy Lippard, Six Year: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972, Berkeley/Los Angeles/London 1997, p. 54–55. 16 Ibid. p. 54–55. 17 Robert Smithson, A Sedimentation of the Mind: Earth Projects (1968), in: Robert Smithson, The Collected Writings (The Documents of Twentieth Century Art), Jack Flam (ed.), Berkeley/ Los Angeles/London 1996, p. 100–113, here p. 105. 18 Ibid. p. 104–105. Smithon’s text criticizes the installation of an Anthony Caro sculpture in a garden because the sculpture was painted yellow and echoed a nearby daffodil. 19 Ibid. 20 Carl Andre, The Artist and Politics: A Symposium: Art as a Branch of Agriculture, in: Artforum, September 1970, p. 35–39. 21 Ibid. 22 Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life (Lannan Series of Contemporary Art Criticism; 3), Jeff Kelley (ed.), Berkeley 1993, p. 201. 23 Lucy R. Lippard, The Lure of the Local: Senses of Place in a Multicentered Society, New York 1997, p. 253. 24 Ibid. p. 252–55. 25 Stephanie Ross, What Gardens Mean, Chicago/London 1998 (paperback ed. 2001), p. 224. 26 Ibid. 27 George McKay, Radical Gardening: Politics, Idealism & Rebellion in the Garden, London 2011, p. 7. 28 Ibid. p. 10. 29 Valerie Smith, Down the Garden Path: The Artist’s Garden after Modernism (exhibition catalogue New York), New York 2005, p. 11. 30 Brian Wallis and Jeffrey Kastner, Land and Environmental Art, Themes and Movements, London/New York 1998, p. 138. 31 Suzaan Boettger, Earthworks: Art and the Landscape of the Sixties, Berkeley/Los Angeles 2002, p. 161–63. 32 Wallis, Kastner (ibid. 30), p. 33. 33 Lucy R. Lippard, Overlay: Contemporary Art and the Art of Prehistory, New York 1983, p. 229. 34 Boettger (ibid. 31), p. 161–163, referencing Andrew Dickenson White Museum of Art, Earth Art (exhibition catalogue Ithaca), Ithaca 1970, n. p. 35 Wallis, Kastner (ibid. 30), p. 109. 36 Jeffrey Kastner, Alone in a Crowd: The Solitude of Walter De Maria’s New York Earth Room and Broken Kilometer, in: Afterall: A Journal of Art, Context and Enquiry, 2/2000, p. 69–70. 37 Ibid. p. 72. 38 Thom Jennings, Artpark Anniversary: Multifacted Facility Has Put Artists Front-and-Center, in: Niagara Gazette, 19 July 2013, http://niagara-gazette.com/communities/x1912998079/ARTPARK-ANNIVERSARY-Multifaceted-facility-has-put-artists-front-and-center. [Accessed 16-082016]. 39 Agnes Denes, “Rice/Tree/Burial with Time Capsule,” Agnes Denes Studio: commissioned by Artpark, Lewiston NY, http://agnesdenesstudio.com/works2.html). [Accessed 16-08-2016].
218 I Kate Corder
40 Versions of “Growth House” have been constructed at further retrospective exhibitions, Retrospective La Caixa, Barcelona, (1994) and Retrospective, Jeu de Paume, Paris (1994–1995). 41 Lippard (ibid. 33), p. 235. 42 Smithson (ibid. 17), p. 105. 43 Helen Mayer Harrison and Newton Harrison, “Art Park: Spoils’ Pile Reclamation, 1976–1978: Ongoing,” The Harriosn Studio, http://theharrisonstudio.net/?page_id=131-08). [Accessed 16-08-2016]. 44 Alan Sonfist, “Time Landscape”, Commissioned by the New York City Department of Transport, http://www.alansonfist.com/. [Accessed 16-08-2016]. 45 Wallis, Kastner (ibid. 30). p. 33. 46 Smith (ibid. 29), p. 140–43. 47 Lippard (ibid. 23), p. 252. 48 After Wheatfield’s site occupation the landfill area was gradually converted in to Battery Park. 49 Jonathan Porritt [et al.], Radical Nature: Art and Architecture for a Changing Planet 1969– 2009 (exhibition catalogue London), Barbican Art Gallery, Francesco Manacorda (ed.), London 2009, p. 88. 50 Ibid. 51 Wallis, Kastner (ibid. 30). p. 160. 52 Rhea Thönges-Stringaris, Die 7000 Eichen: Joseph Beuys: 7000 Eichen Eine Unsichtbare Skulptur, 1989, Stiftung 7000 Eichen, http://www.7000eichen.de/?id=32. [Accessed 16-08-2016]. 53 Lynne Cooke and Joseph Beuys, 7000 Oaks, 1995, http://web.mit.edu/allanmc/www/ cookebeuys.pdf. [Accessed 16-08-2016]. 54 According to Contemporary Art Museum Houston’s website Webster’s garden outside the museum remained in place until March 1994. 55 Meg Webster, “Ecology Kitchen”, Green Museum, http://www.greenmuseum.org/c/aen/Images/ Ecology/kitchen.php. [Accessed 16-08-2016]. 56 Lippard (ibid. 23), p. 256. 57 Ibid. 58 Agnes Denes, Manifesto, Mathematics in My Work & Other Essays: What It Means to Plant a Forest (1983), in: Hyperion 2, February 2007, http://www.nietzschecircle.com/Manifesto_ Mathematics.pdf [Accessed 16-08-2016]. 59 Aira Kalela, Tree Mountain – Agnes Denes, Ministry of Environment, http://www.landviews. org/articles/paradox-ad.html [Accessed 16-08-2016]. The Finnish government officially announced the project “Tree Mountain” at the Earth Summit in Rio de Janeiro on Earth Environment Day, June 5, 1992. The United Nations Environment Program and the Finnish Ministry of the Environment sponsor the project. 60 Robert Smithson, “Floating Island to Travel around Manhattan Island”, Estate of Robert Smithson, Licensed by VAGA, James Cohan Gallery, http://www.robertsmithson.com/sculpture/floating_ island.htm [Accessed 16-08-2016]. 61 Robert Smithson, Frederick Law Olmsted and the Dialectical Landscape (1973), in: Robert Smithson, The Collected Writings (The Documents of Twentieth Century Art), Jack Flam (ed.), Berkeley/Los Angeles/London 1996 p. 157–174, here p. 160. 62 Karen Guthrie and Nina Pope, “What Will the Harvest Be?”, http://www.whatwilltheharvestbe. com/ [Accessed 16-08-2016]. 63 Camilla Berner and publik, Black Box Garden, in http://www.publik.dk/eng_blackboxgarden. html (Denmark: publik: Contemporary Art in Public Places, 2011). [Accessed 16-08-2016]. 64 Camilla Berner, Black Box Garden (trans. Jon Lewis), Signe Havsteen (ed.), Copenhagen 2014.
Plant growth as transient or durational material constructing sculpture through time I 219
65 Aimee Walleston, Kristian Buch’s Constant Garden, in: Art in America, June 26, 2012, http:// www.artinamericamagazine.com/news-features/news/kristina-buch-documenta-13/. [Accessed 16-08-2016]. 66 documenta (13): Das Begleitbuch/the Guidebook (German/English ed.), documenta (13) and Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (ed.), vol. 3, Kassel 2012, p. 4; “KZ”, is a German abbreviation for ‘concentration camp’. Aigner’s apple trees were named KZ1, KZ2, KZ3 and KZ4. 67 THW is a German relief organisation. 68 T. J. Demos, Gardens Beyond Eden: Bio-Aesthetics, Eco-Futurism, and Dystopia at Documenta (13), in: The Brooklyn Rail, October 2012. 69 Pierre Huyghe and Sky Goodden, Pierre Huyghe Explains His Buzzy Documenta 13 Installation and Why His Work Is Not Performance Art, ARTINFO Canada, http://www.blouinartinfo. com/news/story/822127/pierre-huyghe-explains-his-buzzy-documenta-13-installation-and-whyhis-work-is-not-performance-art/page/0/2 [Accessed 16-08-2016].
220 I Kate Corder
Abbildungsnachweise Corder Fig. 1–3, 5, 6, 8–10: Photo: © Kate Corder.; Fig. 4: © Charles Simonds/© VG BildKunst, Bonn 2016.; Fig. 7: © Myvillages.
Dobbe Abb. 1: Robert Morris (Ausstellungskatalog Paris), hg. von Philippe Bidaine, Paris 1995, S. 203, © VG Bild-Kunst Bonn 2016.; Abb. 2: Caro, hg. von Karen Wilkin und Ian Barker, München 1992, Abb. 2.; Abb. 3: Dan Graham (Collector’s Choice. Künstlermonographien 8), hg. Friedrich Christian Flick Collection, Köln 2008, S. 27.; Abb. 4: Dan Graham. Werke 1965–2000 (Ausstellungskatalog Porto/Düsseldorf), hg. von Marianne Brouwer, Düsseldorf 2002, S. 130.; Abb. 5: Ernst Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 9 1922, S. 15.; Abb. 6: Dan Graham, London 1972, unpag. (S. 22).; Abb. 7: Daniel Soutif, L’art du XXe siècle, Vol. 2: 1939–2002: de l’art moderne à l’art contemporain, Paris 2005, S. 35.; Abb. 8: Letztes Jahr in Marienbad: ein Film als Kunstwerk (Ausstellungskatalog Bremen), hg. von Christoph Grunenberg und Eva Fischer-Hausdorf, Köln 2015, S. 154.
Eusterschulte Abb. 1–3, 5, 7, 10: Robert Barry.; Abb. 4: Sammlung Liebelt, Hamburg. Foto: E. Haneke.; Abb. 6: Photographer: Seth Siegelaub. Seth Siegelaub Papers. Gift of Seth Siegelaub and the Stichting Egress Foundation, Amsterdam, I.A.18. The Museum of Modern Art Archives, New York, © 2016 Digital image, The Museum of Modern Art, New York/ Scala, Florence.; Abb. 8: Photo Courtesy Castelli Gallery, New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 9: Photo Courtesy Castelli Gallery, New York. Foto: Rudy Burckhardt, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
Hengst Abb. 1: Succession Picasso/© VG Bild-Kunst Bonn 2016. Foto: Jens Ziehe.; Abb. 2: Umberto Boccioni (Ausstellungskatalog New York), hg. von Ester Coen und Museum of Modern Art, New York 1988, S. 272.; Abb. 3: Robert Smithson. Slideworks, hg. von Guglielmo Bargellesi-Severi, Mailand 1997, S. 201, © The Estate of Robert SmithAbbildungsnachweise I 221
son/VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 4: Nikolaus Lang. Terra Nullius (Ausstellungskatalog Essen), hg. von Peter Friese und Claudia Heinrich, Essen 1992, S. 5. Courtesy of the artist, Foto: Rafael Toussaint.; Abb. 5: Günter Metken, Spurensicherung, Köln 1977, S. 106, courtesy of the artist.; Abb. 6: Pop Art. (Ausstellungskatalog Köln), hg. von Marco Livingstone, München 1992, Tafel 71, © The Estate of Tom Wesselmann/ VG Bild-Kunst Bonn 2016.; Abb. 7: Pop Art. (Ausstellungskatalog Köln), hg. von Marco Livingstone, München 1992, Tafel 161.; Abb. 8: Nikolaus Lang. Japanische Landschaften, hg. von Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1973, S. 62. Courtesy of the artist.; Abb. 9: © Dieter Roth Foundation, Hamburg 2016. Foto: Heini Schneebeli.
Kausch Sofern nicht anders angegeben, liegen die Bildrechte bei den entsprechenden Museen und Sammlungen. Abb. 3: Rodin – Eros und Kreativität (Ausstellungskatalog Bremen/Düsseldorf), hg. von Rainer Crone und Siegfried Salzmann, München 1991, Tafel 10. © Bruno Jarett (and Bruno Jarett and Musée Rodin).; Abb. 4: Raphael Masson und Véronique Mattiussi, Rodin, Paris 2004, S. 158. © Musée Rodin, Paris/Photo Christian Baraja.; Abb. 5: Eadweard Muybridge, Muybridge’s Complete Human and Animal Locomotion, Mineola/Toronto 1979, S. 10.; Abb. 8: Jane Mayo Roos, Auguste Rodin, London/New York 2010, S. 89, Abb. 100. © Musée Rodin, Paris/Meudon, Foto: Jean de Calan.
Le Feuvre All photographs by Jerry Hardman-Jones: [email protected] Fig. 1: Courtesy of the artist, The Box, Los Angeles and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Christine at The Box, [email protected]; Fig. 2: Courtesy of the artist, Lisson Gallery, London and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Ruth Hogan, [email protected]; Fig. 3: Courtesy of the artist, Stampa Galerie, Basel and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Gilli Stampa, info@stampa-galerie. ch; Fig. 4: Courtesy of the artists, Stampa Galerie, Basel, The Box, Los Angeles, and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: as 1, 3.; Fig. 5: Courtesy of the artist and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Simon Martin, jasperjohns@hotmail. com; Fig. 6: Courtesy of the artist, Marian Goodman Gallery and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Karina Daskalov, [email protected]; Fig. 7, 8: Courtesy of the artist, Galleria Franco Noero, Turin and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Matteo Consonni, [email protected]; Fig. 9: Courtesy of the artist, Sadie Coles HQ, London and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: 222 I Abbilungsnachweise
James Cahill, [email protected]; Fig. 10: Courtesy of the artist, Sprüth Magers, Berlin/London and The Henry Moore Foundation Leeds. Contact: Jonathan Stökle, [email protected]
Reuter Abb. 1: Norbert Kricke – Plastiken und Zeichnungen. Eine Retrospektive (Ausstellungskatalog Düsseldorf), hg. von Stefan von Wiese und Sabine Kricke-Güse, Düsseldorf 2006, S. 77. Nachlass Kricke.; Abb. 2: Norbert Kricke und Emil Schumacher, Positionen in Plastik und Malerei nach 1945 (Ausstellungskatalog Hagen), hg. von Ulrich Schuhmacher und Rouven Lotz, Böhnen 2013, S. 23. Foto: Achim Kukulies.; Abb. 3: Norbert Kricke – Plastiken und Zeichnungen. Eine Retrospektive (Ausstellungskatalog Düsseldorf), hg. von Stefan von Wiese und Sabine Kricke-Güse, Düsseldorf 2006, S. 75. Nachlass Kricke.; Abb. 4: Hans Uhlmann 1900–1975. Plastik und Zeichnungen (Ausstellungskatalog Mannheim), hg. von Heinz Fuchs, 1978, Abb. 10. Uhlmann, Hans, Vogel, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 5: Norbert Kricke – Raum/Linie (Ausstellungskatalog Appenzell) hg. von Roland Scotti, Göttingen 2012, S. 82. Foto: Achim Kukulies.; Abb. 6: Jürgen Morschel, Norbert Kricke, Werkmonographie, Stuttgart 1976, S. 25. Foto: Ruth Baehnisch, Düsseldorf-Oberkassel.; Abb. 7: Norbert Kricke (Ausstellungskatalog Stuttgart), hg. von Jürgen Moschel, Stuttgart 1976, S. 49. Nachlass Kricke.; Abb. 8: Jürgen Morschel, Norbert Kricke, Werkmonographie, Stuttgart 1976, S. 68. Nachlass Kricke.; Abb. 9: Jürgen Morschel, Norbert Kricke, Werkmonographie, Stuttgart 1976, S. 99. Nachlass Kricke.; Abb. 10: Norbert Kricke – Raum/Linie (Ausstellungskatalog Appenzell), hg. von Roland Scotti, Göttingen 2012, S. 47. Foto: Norbert Kricke.
Schallenberg Abb. 1: Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Wien), hg. von Kunstsalon Artaria, Wien 1905, o. S., Deckblatt.; Abb. 2: Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Winterthur, Duisburg), Düsseldorf 2003, S. 85.; Abb. 3: Medardo Rosso/Anonym (?), „La Portinaia“ (1883–84), Fotografie publiziert in XIII Catalogo d’arte. Mostra personale delle opere di Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Mailand), hg. von Bottega di Poesia, Mailand 1923, o. S.; Abb. 4: : Medardo Rosso (Ausstellungskatalog Winterthur, Duisburg), Düsseldorf 2003, S. 123; Abb. 5: Rosso. La Forma instabile (Ausstellungskatalog Venedig), Mailand 2007, S. 109.; Abb. 6: Rosso. La Forma instabile (Ausstellungskatalog, Venedig), Mailand 2007, S. 53.; Abb. 7: Brancusi, Leporello zur Ausstellung von Brancusi in der Brummer Gallery, New York, 1933–34, o. S., Musée national d’art moderne – Centre de création industrielle, Paris, © Succession Brancusi – All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 8: Constantin Brancusi 1876–1957 (Ausstellungskatalog Abbildungsnachweise I 223
Paris, Philadelphia), hg. von Friedrich Teja Bach, Margit Rowell, Ann Temkin, Philadelphia 1995, S. 189, © ARS/ADAGP. © Succession Brancusi – All rights reserved/ VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 9: La Dation Brancusi. Dessin et Archives (Ausstellungskatalog Paris), hg. von Marielle Tabart, Doïna Lemny, Paris 2003, S. 113. © ARS/ADAGP.; Abb. 10: L’Atelier Brancusi (Ausstellungskatalog Paris), hg. von Marielle Tabart, Paris 1997, S. 192, © ARS/ADAGP. © Succession Brancusi – All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
Ströbele Abb. 1: Courtesy of the artist, Foto: Egon Halbleib, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 2: Courtesy of the artist.; Abb. 3: Edward J. Olzewski, Distortions, Shadows and Conventions in Sixteenth Century Italian Art, (artibus et historiae 11; 1985) S. 101–124, S. 117.; Abb. 4: Courtesy of the artist. Foto: Egon Halbleib, © VG BildKunst, Bonn 2016.; Abb. 5: L’Œil de Napoléon (Ausstellungskatalog Paris,), hg. von Dominique-Vivant Denon, Paris 1999, S. 32 u. 154.; Abb. 6: Courtesy of the artist. Foto: Theo Bitzer & Andreas Greiner.; Abb. 7: Courtesy of the artist. Foto: Ola Rindal, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.; Abb. 8: Courtesy of the artist. Foto: Andreas Greiner.; Abb. 9: Futurismo & Futurismi (Ausstellungskatalog Venedig), hg. von Pontus Hulten, Venedig 1986, S. 46.; Abb. 10: Hans Haacke. Werkmonographie, hg. von Edward Fry, Köln 1972, Abb. 61.
Tocha Abb. 1–6: © Thomas Demand/© VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
224 I Abbildungsnachweise
Autorenverzeichnis Kate Corder is an independent artist and researcher. She was awarded a PhD in Art Practice at the University of Reading in 2014. Her PhD thesis is titled “The Allotment Plot: Place Tilled – An investigation into plant material, rural labour and cultivation within art practice” and examines how durational commitment to working a vegetable garden produces gardens as artworks. Her work has been exhibited in various exhibitions including “EASTinternational” 2009 Norwich, “Alternative Document”, Lincoln and at Duke House NYU Institute of Fine Art (2016). Kate curates the “Cultivation Field” project www.cultivationfield.org. She wrote the essay for Rachael Champion’s Camden Arts Centre Residency “File Note” (2012). During 2014–2016 Kate performed a series of “HOW – Heathrow Orchard Walks” exploring contested land surrounding Heathrow Airport and the suggested “Third Runway”. Two of these Walks (April and September 2014) were included in Kathrin Böhm’s “Haystacks” event program.
Martina Dobbe studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in Hamburg, Bochum und Düsseldorf. Seit 2015 ist sie Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Kunstakademie Düsseldorf, zuvor an der Universität der Künste Berlin. Publikationen (Auwahl): Fotografie und flüssige Intelligenz. Jeff Walls Bemerkungen zur Fotografie, in: Verflüssigung. Ästhetische und semantische Dimensionen eines Topos, hg. von Kassandra Nakas, Paderborn 2015, S. 159–175. Das Skulpturale und das Ephemere, in: Ephemer, hg. von Petra Maria Meyer, Paderborn 2016 (im Druck). „Was eigentlich interessiert, scheint immer gerade neben oder hinter dem Gezeigten zu liegen.“ Ausgestellte Un/Sichtbarkeiten der Fotografie, in: Periphere Visionen. Wissen an den Rändern von Fotografie und Film, hg. von Heide Barrenechea, Marcel Finke und Moritz Schumm, Paderborn 2016, S. 61–76.
Birgit Eusterschulte studierte Kunst und Germanistik an der Kunsthochschule und der Universität Braunschweig, in Bremen und in Manchester und promoviert derzeit mit einer Arbeit zur amerikanischen Konzeptkunst an der Freien Universität Berlin. Seit 2001 Tätigkeiten Autorenverzeichnis I 225
im kuratorischen Bereich u. a. an der Kunsthalle Wien (2001/2002) und der Kunsthalle Fridericianum Kassel (2003–2006), zuletzt als Projektleiterin der Ausstellung „Ich kenne kein Weekend. Aus René Blocks Archiv und Sammlung“, Berlin/Linz (2015/ 2016). Ab 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Einstein Forschungsvorhabens „Autonomie und Funktionalisierung – eine ästhetisch-kulturhistorische Analyse der Kunstbegriffe in der bildenden Kunst in Berlin von den 1990er Jahren bis heute“, an der Universität der Künste in Kooperation mit der FU Berlin. Publikationen (Auswahl): Kollektive Kreativität. Eine Ausstellung zu kollektiver Praxis und Gruppendynamik, Ausst.-Kat. Kunsthalle Fridericianum, Kassel 2005 (Konzeption Birgit Eusterschulte und WHW/Zagreb). René Block. Ich kenne kein Weekend. Ausstellungsprojekte, Texte und Dokumente seit 1964, hg. v. Marius Babias, Birgit Eusterschulte, Stella Rollig, Köln 2015.
Lutz Hengst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin. Zuvor studierte er Volkskunde, Kunstgeschichte und Historische Geographie in Bonn. Danach war er Stipendiat am Gießener Exzellenzzentrum GCSC, dann Assistent für Kunst- und Designgeschichte an der Universität Wuppertal; zudem Redakteur bei kunsttexte.de und Kurator. Forschungsschwerpunkte sind postminimalistische Kunst und Landschaftlichkeit. Publikationen (Auswahl): Forschungsadaptionen für ein Individualmuseum? Zu Genese und Positionen spurensichernder Kunst im 20. Jahrhundert. Kassel 2016. Zusammenschau statt feste Kontur. Zu Ausstellung und Katalog ,lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie‘, in: kunsttexte.de/Gegenwart 4, 2014. Melancholische Uhren. Vom stabilisierenden Erinnerungsbild zu Formen einer Konkretion des Zeitvergehens in der Kunst nach 1960, in: Critica. Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheorie (I/2014), S. 48–52.
Michael Kausch studierte an der Universität Innsbruck und der LMU München zunächst Klassische Philologie und Medizin, dann Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie. 1993 erfolgte die Promotion zum Thema „Symbol, Psyche und Gesellschaft: Untersuchungen zur semantischen Struktur des Werkes von Auguste Rodin“. Nach einer Tätigkeit am 226 I Autorenverzeichnis
Musée d’Orsay in Paris arbeitete Michael Kausch als Ausstellungskurator am Kunsthistorischen Museum in Wien, wo er Ausstellungen über Auguste Rodin (1996) und Henry Moore (1998) realisierte. 2007 erfolgte an der Universität Koblenz-Landau die Habilitation zum Thema „Bild und ästhetische Struktur“. Michael Kausch lehrt an der Universität Koblenz. Publikationen (Auswahl): Konzeption u. Hauptbeiträge, in: Auguste Rodin – Eros und Leidenschaft (Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien), hg. von Wilfried Seipel, Wien/Mailand 1996. Konzeption u. Hauptbeiträge, in: Henry Moore (Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien), hg. von Wilfried Seipel, Wien/Mailand 1998. Zeit, Raum und das Bild des Kosmos: Strukturen des künstlerischen Denkens in den Serien Claude Monets, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, www.kunstgeschichte-ejournal.net., München 2011. The Masterpiece as a Question of Structure and Values: In Search of Universals in Art, in: International Journal of Art and Art History 2, 2, 2014 (online and print edition).
Lisa Le Feuvre is a curator, writer, editor and public speaker. Since November 2010 Le Feuvre has led the Henry Moore Institute, a centre for the study of sculpture, as Head of Sculpture Studies. Her curated exhibitions at the Institute include “Katrina Palmer: The Necropolitan Line”, “Paul Neagu: Palpable Sculpture”, “Gego: Line as Object”, “Sarah Lucas: Ordinary Things”, “The Body Extended: Sculpture and Prosthetics” and “The Event Sculpture” – the case study of her contribution to this volume. Between 2005 and 2009 Le Feuvre directed the contemporary art programme at the National Maritime Museum and from 2004 to 2010 she was taught in the Department of Art, Goldsmiths, University of London. She is editor of the Henry Moore Institute’s journal “Essays on Sculpture”, as well as the MIT Press compilation “Failure” in the Whitechapel Art Gallery’s ‘Documents on Contemporary Art’ series and the second i ssue of ‘NOIT’, the journal of John Latham’s Flat Time House, on the topic of burning.
Guido Reuter studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Medienwissenschaften an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Seit April 2008 ist er Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Kunstakademie Düsseldorf. Autorenverzeichnis I 227
Publikationen (Auswahl): Statue und Zeitlichkeit 1400–1800, Petersberg 2012. „Using the Ground not just as a Base but as an important Part of the Sculpture“. Anthony Caros Abkehr vom Sockel in den Werken der frühen 60er Jahre, in: Der Sockel in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Johannes Myssok und Guido Reuter, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 121–139. Ruhend, gesammelt, bewegt. Die kniende Figur in der deutschen Nachkriegsplastik bei Hans Wimmer und Toni Stadler, in: Reaktionär, konservativ, modern? Figürliche Plastik im frühen Nachkriegsdeutschland (=Theorie, Praxis und Geschichte der Kunst. Gemeinsame Forschungen der Heinrich-Heine-Universität und der Kunstakademie Düsseldorf, Band 1), hg. von Hans Körner und Guido Reuter, Düsseldorf 2014, S. 119–137.
Nina Schallenberg studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Neuere deutsche Literatur in Berlin und Paris. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation zur inszenierten Skulptur bei Rodin, Rosso und Brancusi. Ferner war sie Stipendiatin am DFGGraduiertenkolleg der Universität der Künste Berlin und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte, Paris. Des Weiteren war Nina Schallenberg Wissenschaftliche Volontärin und Mitarbeiterin am Museum Ludwig, Köln. Seit 2010 ist sie Sammlungskuratorin am Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, seit 2015 Mitglied des DFG-Netzwerks Theorie der Skulptur. Publikationen (Auswahl): Inszenierte Skulptur. Auguste Rodin, Medardo Rosso und Constantin Brancusi, München 2011. Schwestern der Revolution. Künstlerinnen der Russischen Avantgarde (Ausstellungskatalog Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen), hg. von Nina Schallenberg und Reinhard Spieler, München 2012. Kunst ↔ Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, hg. von Nina Schallenberg, Jörn Schafaff und Tobias Vogt, Köln 2013.
Samantha Schramm ist derzeit Lehrbeauftragte am Cluster „Asia and Europe in a Global Context” an der Universität Heidelberg. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Pädagogik an der Universität Stuttgart und der University of Kansas promovierte sie 2012 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG). Von 2014–2015 vertrat sie die Juniorprofessur für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und 2013 228 I Autorenverzeichnis
die Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG Karlsruhe. 2010– 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Publikationen (Auswahl): Site, Non-Site und die Fotografie. Robert Smithsons Six Stops on a Section, in: Kanon Kunstgeschichte, hg. von Kristin Marek und Martin Schulz, München 2015, S. 75– 91. Land Art. Ortskonzepte und mediale Vermittlung, Berlin 2014. Robert Smithsons Reiseberichte. Nicht-Orte und die Überreste der Monumente, in: Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945, hg. von Carsten Ruhl, Bielefeld 2011, S. 183–205.
Ursula Ströbele ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Kunstwissenschaft und Ästhetik der UdK Berlin, Kuratorin und Mitbegründerin des Wissenschaftlichen DFG-Netzwerks „Theorie der Skulptur“. Sie promovierte zu den Bildhaueraufnahmestücken der Königlichen Akademie in Paris 1700–1730 (2012 veröffentlicht). Derzeitiger Forschungsschwerpunkt sind skulpturale Randphänomene, u. a. zeitbasierte, lebende und virtuelle Werke. Publikationen (Auswahl): Mise-en-Scène. Skulptur und Narration. Untersuchungen zu Anish Kapoor, München 2013. Plastische Vergänglichkeit. Zeitlichkeit und Ephemeres in der Skulptur, in: kunsttexte.de/Gegenwart 4, 2014. Vom bas-relief zum ronde-bosse. Narration und Zeitlichkeit bei den Bildhaueraufnahmestücken der königlichen Akademie in Paris, in: Morceaux. Die bildhauerischen Aufnahmestücke europäischer Kunstakademien im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Tomas Macsotay und Johannes Myssok, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 49–67. Attention! Skulpturale Formen des Stillstands in living sculpture und Fotografie, in: Künste des Anhaltens. Ästhetische Verfahren des Stillstellens, hg. von Barbara G ronau, Berlin 2016 (im Druck).
Veronika Tocha ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Staatlichen Museen zu Berlin (SMB). 2014– 2016 war sie wissenschaftliche Museumsassistentin in der Generaldirektion der SMB und am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. 2014 promovierte sie an der Universität der Künste Berlin mit einer kunstwissenschaftlichen Arbeit zu ThoAutorenverzeichnis I 229
mas Demand im Spannungsfeld von Bild- und Modelltheorie, Fotografie und Skulptur. 2012–2014 hatte sie wissenschaftliche Lehraufträge an der Universität der Künste Berlin und an der Burg Giebichenstein – Kunsthochschule Halle inne. Publikationen unter dem Namen Riesenberg (Auswahl): Der Eigensinn der Gipse. Von der Emanzipation des Abgusses in der zeitgenössischen Skulptur, in: Casting. Ein analoger Weg ins Zeitalter der Digitalisierung? Ein Symposium zur Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin, hg. von Christina Haak und Miguel Helfrich, arthistoricum.net, Heidelberg 2016. Die Theoriefähigkeit des Modells in eigener Sache. Werkimmanente Modellkritik in der Gegenwartskunst, in: Archiv für Mediengeschichte 14, 2014, hg. von Lorenz Engell, Berhard Siegert und Joseph Vogl, München 2015, S. 101–114.
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JOHANNES MYSSOK, GUIDO REUTER (HG.)
DER SOCKEL IN DER SKULPTUR DES 19. UND 20. JAHRHUNDERTS (STUDIEN ZUR KUNST, BAND 30)
In der bildhauerischen Tradition der Neuzeit waren Sockel ein vielfach formal als auch konzeptionell in die Gestaltung einbezogenes Element. Lange von der Kunstgeschichte vernachlässigt, hat die Skulptur seit der frühen Moderne zahlreiche neuartige Ansätze zur Aufstellung und Präsentation von Skulpturen entwickelt, unter denen der völlige Verzicht auf einen Sockel nur die radikalste Form ist. Die im Sammelband vereinten Beiträge knüpfen an die aktuellen internationalen Forschungen an, die den Sockel in seinen komplexen formalen und inhaltlichen Beziehungen zum Kunstwerk auf neue Weise fokussieren und zum Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen machen. 2013. 210 S. 167 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-21089-2
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar