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German Pages 160 Year 2015
Erik Schilling Dialog der Dichter
Lettre
Erik Schilling (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Assistent an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Humboldt Fellow am Jesus College der University of Oxford. Er studierte deutsche, lateinische und italienische Philologie in München, Pavia und Salamanca. Nach einer Promotion in München und Stanford war er Postdoktorand in Harvard. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem historischen Roman und der Lyrik (18.-21. Jahrhundert), auf Literaturtheorie und Intermedialität.
Erik Schilling
Dialog der Dichter Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts
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Inhalt
Über den Dialog der Dichter. Eine erweiterte Einleitung | 7 „Und er kann töten, ohne zu berühren“. Stefan George und Hugo von Hofmannsthal | 25 „Du wurdest der Abgrund, der mich verschlang“. Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke | 45 „Ich bin dein Wegrand“. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn | 65 „Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten“. Ingeborg Bachmann und Paul Celan | 89 „ein gedicht von zweifellos einem von uns“. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl | 117 „antike, beschleunigt, als jagdstück“. Thomas Kling und Durs Grünbein | 129
Über den Dialog der Dichter Eine erweiterte Einleitung
„Wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis“, schreibt Paul Celan in seinem Gedicht Corona. Ingeborg Bachmann antwortet ihm mit den Worten: „in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen“. Zwei Dichter treten in einen literarischen Dialog, und dieser spielt sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab. Weiß man um die Liebesbeziehung, die Bachmann und Celan einige Jahre vor dem Abfassen dieser Gedichte geführt haben und die auch über den Zeitpunkt der zitierten Verse hinaus aufflackert, ist das Gespräch ein höchst reales. Es ist ein Dialog der Liebe, er bildet Erlebnisse, Emotionen und Erinnerungen zweier Menschen ab. „Wir“ sind Ingeborg Bachmann und Paul Celan, zwei junge Menschen, die sich begegnen, ihre Liebe entdecken und mit den Schwierigkeiten kämpfen, die diese mit sich bringt. Wenn Bachmann die Verse Celans aufgreift und in ihr Gedicht integriert, kann man zudem von einem intertextuellen Dialog sprechen. Die Texte treten in ein vom Leser beobachtetes Gespräch, Bachmanns Verse sind besser zu verstehen, wenn man die literarische Referenz kennt. Doch auch für Celans Gedicht vermehrt die Rezeption durch Bachmann die Zahl der Lesarten, kann doch ihr intertextueller Verweis als Akt einer Deutung gefasst werden, als Zeichen einer Lektüre, die in ihrem Gedicht zum Ausdruck kommt.
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Bei dieser poetischen Lektüre aber wechselt der Sprecher, und damit eröffnet Bachmann eine weitere Ebene des Dialogs: Sind es bei Celan zwei Figuren, die über das einleitende „wir“ miteinander kommunizieren, geht bei Bachmann die Initiative zum Dialog von einer einzigen Figur aus, dem sprechenden Ich. Bei ihr gibt es einen Sprecher und einen Zuhörenden, einen aktiven und einen passiven Gesprächspartner. Um diese und ähnliche Facetten des Dialogs der Dichter und Texte wird es im Folgenden gehen. Bachmann und Celan sind das prominenteste, aber nicht das einzige einschlägige Beispiel aus der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts.1 Neben ihnen werden die poetischen Beziehungen zwischen Hugo von Hofmannsthal und Stefan George, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl sowie Thomas Kling und Durs Grünbein in den Blick genommen. Freilich ist der Dialog der Dichter dabei jeweils individuell gestaltet. Allen hier zu skizzierenden Paarungen ist jedoch gemeinsam, dass die entstehenden Gedichte als Dokumente des Ausdrucks, der Kommunikation und der Rezeption zu sehen sind. Sie sind oft Skizzen des zwischenmenschlichen Austauschs, der sich im Text niederschlägt: als Vertrauen und Angst, Nähe und Distanz, Liebe und Hass, Hierarchie und Gleichstellung, Attraktion und Abscheu, Sprechen und Schweigen, Veränderung und Verharren, Pathos und Ironie. Die hier versammelten Untersuchungen führen also Gedichte des 20. Jahrhunderts zu einem Panorama an intertextuellen Verweisen und Begegnungen zwischen Dichtern und Texten zusammen. Sie sind der Versuch, der Kommunikationssituation in lyrischen Werken nachzuspüren. Im Vordergrund steht der Begriff der ‚poetischen Beziehung‘, der in seiner Mehrdeutigkeit auf alle denkbaren Interaktionen von
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Die Begrenzung auf deutschsprachige Lyrik folgt pragmatischen Prinzipien und ist dem begrenzten Umfang der vorliegenden Monographie geschuldet. Lohnenswert wäre selbstverständlich auch der Blick auf andere Sprachen, Literaturen und Epochen.
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Dichtern und Texten verweist. Die Kapitel werden bisweilen von einer biographischen Begebenheit ausgehen, sich aber nie weit von einer literaturwissenschaftlich-textanalytischen Herangehensweise entfernen, weil jede primär biographische Deutung zu einem Großteil Spekulation bleibt. Der Dialog, der den poetischen Beziehungen entspringt, wird daher stets an ausgewählten Gedichten illustriert. Seine bisweilen essayistisch inspirierte Konzeption unterscheidet den hier gewählten Ansatz von einer genuin wissenschaftlichen Untersuchung, die sich intensiv mit der Forschungsliteratur beschäftigen und die Textanalysen auf ein Erkenntnisziel hin ausrichten müsste.2 Hier wird über die direkte Auseinandersetzung mit den Gedichten stattdessen eine unmittelbare Annäherung an einige der schönsten Texte und der interessantesten Dichterpersönlichkeiten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts geboten. Vor allem aber ist dieses Buch eine Einladung, Lyrik zu lesen.
M ONOLOG
UND
D IALOG
Bevor der Blick konkret auf die Lyrik gerichtet wird, muss der theoretische Rahmen geklärt werden, der den Textuntersuchungen zugrunde liegt. Insbesondere sind die Begriffe ‚Monolog‘ und ‚Dialog‘ sowie ‚Dialogizität‘ und ‚Polyphonie‘ zu erörtern. Eine zentrale Schrift der Frühromantik, die sich mit Monolog und Dialog auseinandersetzt, ist Novalis’ Monolog. Dessen ersten Sätze lauten:3
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Letzteres würde der Eigenständigkeit der einzelnen Werke wenig Gewicht einräumen; eine vollständige Berücksichtigung der Forschung würde die Dimensionen der vorliegenden Studie um ein Vielfaches vergrößern. Auf die Forschung wird daher jeweils nur am Rande verwiesen.
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Zit. n. Novalis: „Monolog“. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. München/Wien 1978, S. 438f.
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Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.
Es folgt eine Reihe von mathematischen, musikalischen und historischen Beispielen, ehe der Monolog kulminiert: Wie, wenn ich aber reden müßte? und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache in mir wäre? und mein Wille nur auch alles wollte, was ich müßte, so könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein und ein Geheimniß der Sprache verständlich machen? und so wär’ ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein Sprachbegeisterter? –
Versteht man ‚Monolog‘ als „Rede einer Person, die allein ist oder allein spricht“,4 trifft dies auf die zitierten Passagen zwar zu, wichtiger aber ist ein Aspekt, der auf das Dialogische vorverweist: Ähnlich wie Hofmannsthals Chandos-Brief einhundert Jahre später5 thematisiert Novalis die Frage, inwieweit Sprache in der Lage ist, Realität abzubilden. Steht sie dem Sprecher – und im Speziellen: dem Dichter – intentional zur Verfügung? Oder ist der Dichter ein Seher, ein vates, dem
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Bernhard Asmuth: „Monolog“. In: Harald Fricke [u.a.] (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2: H−O. Berlin/New York 2000, S. 629−631, hier S. 629.
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Vgl. Tobias Wilke: „Poetiken der idealen und der möglichen Sprache. Zu den intertextuellen Bezügen zwischen Novalis’ ‚Monolog‘ und Hofmannsthals ‚Chandos-Brief‘“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 248–264.
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eine göttliche Eingebung zufällt, bzw. ein ‚Schreiber‘, ein écrivain im Sinne Roland Barthes’, der nur schriftlich fixiert, was auch ohne ihn – etwa im Diskurs – vorhanden wäre?6 Die wichtigste Frage aber ist: Benötigt ein „Sprachbegeisterter“ überhaupt einen Kommunikationspartner, an den er sich wenden kann? In diesem Spannungsfeld zwischen Monolog und Dialog, zwischen Sprachbeherrschung und Sprachverlust bewegen sich die Gedichte, die in diesem Buch behandelt werden. Auf der – bei Novalis in Frage gestellten – Prämisse, dass Literatur in der Lage ist, eine Kommunikationssituation zwischen Autor, Text und Leser zu erzeugen, beruht nicht nur die vorliegende Untersuchung, sondern auch die Literaturwissenschaft im Allgemeinen.7 Aufschlussreich ist daher die bei Novalis entwickelte Annahme, dass schon im Akt des Schreibens ein dialogischer Prozess vonstattengeht: Versucht der Dichter intentional, eine Aussage zu formulieren, wirkt die Sprache dem möglicherweise entgegen, indem sie eine ganz andere Aussage produziert; wenn er hingegen einfach spricht, kann er die „herrlichsten, originellsten Wahrheiten“ verkünden. Somit liegt – im scheinbaren Widerspruch zum programmatischen Titel des Textes – jeder Äußerung ein dialogisches Moment zugrunde, das ihre Intention korrigieren und sogar konterkarieren kann. Doch damit nicht genug: In der ironischen Volte des zweiten zitierten Abschnitts wendet Novalis seine Erkenntnis auf den eigenen Text an und versucht, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, in das er sich begeben hat: dass er versucht, mit seinem Text etwas zu fassen, das sich argumentativ nicht beschreiben lässt. Seine Lösung ist die mit den Begriffen vates und écrivain angedeutete: Wäre er kein intentional verfahrender Sprecher, sondern ein „Sprachbegeisterter“, könnte es
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Vgl. einführend Roland Barthes: „Die strukturalistische Tätigkeit“. In: Dorothee Kimmich/Rolf G. Renner/Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2008, S. 214−222.
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Der Kommunikationsakt kann zu einer fehlerhaften oder scheiternden Kommunikation führen; nichtsdestoweniger findet Kommunikation statt.
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sein, dass er – ohne es zu wollen – mit seiner ersten These doch eine „Wahrheit“ verkündet hat. Freilich kann diese Folgerung ebenso hinterfragt werden wie die These; doch ein rein logisch verfahrender Argumentationsgang mit einem bestimmten Beweisziel würde nicht einer Poetik entsprechen, die – wie bei Novalis – gerade auf das Unendliche, das Kontinuierliche, das sich selbst Potenzierende abzielt. Festzuhalten aber ist, dass auch im zweiten Schritt der Argumentation das Dialogische die entscheidende Rolle spielt: Gäbe es keinen Dialog zwischen der „Eingebung der Sprache“ und dem „berufene[n] Schriftsteller“, könnten Sprache und Literatur das nicht leisten, was Novalis als Ziel formuliert: durch ihren unbestimmten Fokus eine Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Somit läuft der Monolog nicht nur inhaltlich auf eine wiederholte ironische Modifikation seiner eigenen Aussagen hinaus; auch seine Gesamtkonzeption unter dem Paradigma des Monologischen kann hinterfragt werden. Zwar vollzieht sich der beschriebene Produktionsprozess von Sprache und Literatur im Inneren einer Person, doch er ist als Gespräch gestaltet. Zudem kann der Monolog nicht ohne einen Leser gedacht werden; auch in dieser Hinsicht ist er dialogisch. Wenn dies aber bereits für einen Text zu konstatieren ist, der explizit unabhängig von einem Rezipienten sein möchte, gilt dies umso mehr für solche Werke, die sich einem dialogischen Verfahren verschreiben. Versteht man ‚Dialog‘ als „Wechselrede, Unterredung, Gespräch innerhalb von dramatischen, epischen oder lyrischen Texten“,8 so ist das Spektrum umrissen, innerhalb dessen dialogische Momente auftreten können. Mit ‚Dialog‘ wird darüber hinaus auch ein „[e]igenständiger Text in Gesprächsform“9 bezeichnet. Im Anschluss an Platons Konzeption des Dialogs als Weg zur Erkenntnis können etwa Augustinus’ Hinwendung zu Gott im Gespräch oder Herders Annahme, dass
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Ernest W.B. Hess-Lüttich: „Dialog1“. In: Klaus Weimar [u.a.] (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1: A−G. Berlin/New York 1997, S. 350−353, hier S. 350.
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Thomas Fries/Klaus Weimar: „Dialog2“. In: Ebd., S. 354−356, hier S. 354.
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das Gespräch als fundamentales Element der menschlichen Selbstbeziehung anzusehen ist, als dialogisch gefasst werden.10 Wenn hier der Blick auf dialogische Elemente der Lyrik gerichtet wird, ist dies also kein neuer Ansatz. Die Auseinandersetzung von Gottfried Benn und Paul Celan, ob das Gedicht monologisch oder dialogisch konzipiert sei, ist nur eine Station auf dem Weg der Lyriktheorie, die diese Frage in immer neuen Varianten aufgeworfen hat: Folgt Lyrik dem Konzept einer art pour l’art oder richtet sie sich an ein Gegenüber, an einen Rezipienten? Ist Dichtung ein eigenständiger, in sich abgeschlossener Kunst-Diskurs? Ist die lyrische Form das Wesentliche, nicht der Inhalt? Oder soll ein Gedicht dem Leser – wie Horaz formuliert11 – Freude oder Nutzen schenken, soll es ihn sogar – wie Rilke fordert12 – dazu bringen, sein Leben zu ändern? In welch breitem Spektrum zwischen monologisch und dialogisch konzipierter Lyrik die literarischen Texte angesiedelt sind, die für die vorliegende Untersuchung ausgewählt wurden, werden die einzelnen Kapitel zeigen. Vorab aber sollen zwei weitere theoretische Abschnitte das analytische Instrumentarium liefern, das für die Textuntersuchungen unerlässlich ist.
10 Vgl. Michael Eskin: „‚Ich bin … mir selbst begegnet‘. Zu einer Denkfigur bei Benn, Celan und Grünbein“. In: Matías Martínez (Hg.): Gottfried Benn. Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Göttingen 2007, S. 133– 147, hier S. 135. 11 „[A]ut prodesse volunt aut delectare poetae“ | „Sinnbelehrend will Dichtung wirken oder herzerfreuend“ (zit. n. Horaz: „De arte poetica“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Karl Bayer, Manfred Fuhrmann u. Gerhard Jäger. München
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1993, S. 538−575, hier
V. 333). 12 Vgl. das Gedicht Archaïscher Torso Apollos in „Der neuen Gedichte anderer Teil“. In: Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895−1910. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main 1996, S. 511–586, hier S. 513.
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D IALOGIZITÄT
UND
P OLYPHONIE
Den Untersuchungen liegt Michail Bachtins Dialogizitätskonzept zugrunde.13 Diese Heuristik ragt aus dem weiten Feld der Untersuchungen zu monologischer und dialogischer Kommunikation heraus,14 weil sie von einer Analyse der sprachlichen Kommunikation ausgeht: Der ‚Sinn‘ einer Äußerung könne – anders als die Bedeutung der verwendeten Worte – erst erfasst werden, wenn der Kontext der Äußerung einbezogen werde, weil dieselbe Äußerung je nach Situation ganz unterschiedlichen Sinn ergebe.15 Folgt man dieser Annahme, muss sich der Blick des Beobachters über den Text hinaus auf den Sprecher und den Rezipienten der Äußerung richten. Die Situation ist sowohl geprägt durch den Standpunkt des Sprechers als auch durch den Verstehenshorizont des Empfän-
13 Vgl. Michail Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hg. v. Rainer Grübel [u.a.]. Frankfurt am Main 2008; ders.: Esthétique et théorie du roman. Paris 1978, v.a. S. 69–82; ders.: „Das Problem des Textes“. In: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005, S. 172–183. 14 Zur Bachtin-Rezeption vgl. Markus May: „Bachtin im Dialog. Über den Gesprächspartner“. In: Ders./Tanja Rudtke (Hg.): Bachtin im Dialog. Heidelberg 2006, S. 9–27. Zu Bachtin grundsätzlich vgl. Renate Lachmann: „Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierter Lyrik“. In: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München 1984, S. 489–515; Hans-Günter Hilbert: „Betrachtungen zu Bachtins Dialogbegriff“. In: Ders. (Hg.): Roman und Gesellschaft. Internationales Michail-Bachtin-Colloquium. Jena 1984, S. 86–91; Tzvetan Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle. Minneapolis 1984. 15 Vgl. dazu Matías Martínez: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 430–445, hier S. 430.
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gers.16 Der Sprecher passt seine Äußerung dem Empfänger an und tritt somit nicht nur durch die reale Kommunikation in ein dialogisches Verhältnis zu diesem, sondern auch durch Antizipation und Modifikation des Empfängerhorizonts.17 Ein Dialog kommt nur zustande, wenn sich die Bereitschaft zeigt, „den Anderen in seiner Andersheit zu erkennen und anzuerkennen“.18 Besonders eklatant ist dies bei Texten, die einen hohen Grad an Fremdheit für den Leser aufweisen, etwa weil sie aus einer lange zurückliegenden Zeit stammen oder in einem anderen kulturellen Kontext verfasst wurden. Ein Verstehen kann in dieser Situation nur erfolgen, wenn nicht in naiver Weise der Erwartungshorizont des realen Lesers als Horizont des impliziten Lesers vorausgesetzt, sondern die Alterität des Textes als dialogische Forderung an den Leser anerkannt wird. Dies führt dazu, dass „die eigene Erwartung durch die Erfahrung des historischen Anderen korrigiert und erweitert wird“.19 Liest man Texte auf dieser Basis dialogisch, bedeutet dies, auf verschiedenen Ebenen mit ihnen in Interaktion zu treten. Über die rein inhaltliche Kommunikation hinaus kann sich eine solche Interaktion etwa auf ein erweitertes kulturelles Verständnis, auf eine historische Kontextualisierung oder auf eine Verortung des Textes in seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang beziehen.20 Es entsteht eine
16 Ein ähnliches Konzept beschreibt Umberto Eco in Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München/Wien 1987. 17 „Der Sprecher ist bestrebt, sein Wort mit seinem spezifischen Horizont am fremden Horizont des Verstehenden zu orientieren […]. Der Sprecher dringt in den fremden Horizont des Hörers ein, errichtet seine Äußerung auf fremdem Grund und Boden […]“ (Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 175). 18 Hans Robert Jauß: „Zum Problem des dialogischen Verstehens“. In: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 11–24, hier S. 12. 19 Ebd. 20 Dennoch scheint Bachtin dabei „die Transparenz des poetischen Worts immer schon vorauszusetzen und nach der hermeneutischen Differenz zwi-
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„Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kontexten, verschiedenen Standpunkten, verschiedenen Horizonten, verschiedenen expressiven Akzentsystemen, verschiedenen sozialen ‚Sprachen‘“ und sprechenden Subjekten.21 Multiple Spannungen sind Zeichen der ‚Dialogizität‘ des Sprechens. Der Begriff der Dialogizität weist über den des Dialogs hinaus, indem er nicht nur das sprachliche Interaktionsverhältnis bezeichnet, sondern auf die Vielzahl der (widerstreitenden) Stimmen aufmerksam macht, die dieses bestimmen. In der Übertragung auf Literatur sieht Bachtin den Helden (also jede Figur der erzählten Welt) als ästhetisch zu vollendenden Anderen, den Wahrnehmenden (etwa den Rezipienten) als ästhetischen Vollender.22 Im ästhetischen Akt verbinden sich die beiden Perspektiven zu einem Bild. Dieser Akt besteht in einem oszillierenden Blickpunktwechsel, der ohne das Zusammenwirken von Ich und Anderem nicht möglich ist. Darüber hinaus weist jede Äußerung Züge von ‚fremden Wörtern‘ auf, die einen nicht expliziten Hintergrund für die verwendeten Worte bilden, weil sie zu einem früheren Zeitpunkt zum selben Gegenstand oder Thema geäußert wurden und daher im kommunikativen oder kollektiven Gedächtnis als Referenzpunkt verankert sind. Der Roman etwa „ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt“.23
schen Intention des Autors, Sinn des Textes und Bedeutung für den jeweiligen Leser nicht eigens zu fragen“ (ebd., S. 22). 21 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (wie Anm. 17), S. 174. 22 „L’auteur-créateur est un élément constitutif de la forme artistique“ (Bachtin: Esthétique (wie Anm. 13), S. 70). 23 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (wie Anm. 17), S. 157. Vgl. dazu Markus May: „Das Ende des Erzählens? Michail M. Bachtins Theorie des ‚polyphonen Romans‘ und der Wandel des narrativen Diskurses im Roman zwischen 1880 und 1910“. In: Ders./Rudtke (Hg.): Bachtin im Dialog (wie Anm. 14), S. 139–168, hier S. 155. Für eine Einführung in Bachtins Erzähltheorie vgl. Hans Vilmar Geppert: „Vom Erzählen, vom Lachen und
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Ob monologische und dialogische Ausdrucksformen dabei als unterschiedliche Aspekte derselben Zeit synchron zur Verfügung stehen oder ob sie verschiedene Formen einer diachronen historischen Entwicklung sind, lässt Bachtin offen. Wegen der begrenzten Zeitspanne, die hier im Fokus steht, kann auf den diachronen Aspekt verzichtet werden.24 Es ist davon auszugehen, dass alle behandelten Texte sich ‚bewusst‘ in einem weiten Spektrum von Monolog und Dialog verorten, in dem zahlreiche Ausdrucksformen zwischen Eindeutigkeit und Dialogizität bzw. Polyphonie möglich sind. Hinsichtlich lyrischer Texte nimmt Bachtin an, dass diese ihrer strengen Form wegen ein monologisches Konzept bieten:25 Der Dichter „muß von der Sprache als einheitlichem intentionalen Ganzen ausgehen: keinerlei Spaltung der Sprache, keinerlei Redevielfalt und erst recht keine Sprachvielfalt dürfen im poetischen Werk eine irgendwie substantielle Widerspiegelung erfahren“.26 Im Unterschied zu der für Prosa typischen Mehrdeutigkeit stünden dem Dichter die Worte nicht nur intentional zur Verfügung, sie seien auch direkt an ihre Objekte gebunden.27
von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie“. In: Theorien der Literatur 3 (2007), S. 61–79. 24 Auf diese Weise wird auch die Wertung vermieden, die Bachtin in seiner Dichotomie vornimmt: Bei ihm wird – wenn er etwa von monologisch und dialogisch, von zentripetal und zentrifugal oder von Epos und Roman spricht – jeweils das zweite Element bevorzugt. Vgl. Martínez: „Dialogizität“ (wie Anm. 15), S. 440. 25 Vgl. dazu Hans Richter: „Zu Bachtins Entgegensetzung von Poesie und Prosa“. In: Hilbert (Hg.): Roman und Gesellschaft (wie Anm. 14), S. 52–59 sowie Barbara Wiedemann: „‚Wirkliche Romane‘ von Opitz und Mörike? Überlegungen zu Bachtins Poesie-Begriff“. In: May/Rudtke (Hg.): Bachtin im Dialog (wie Anm. 14), S. 113–137. 26 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (wie Anm. 17), S. 188. 27 „Widersprüche, Konflikte und Zweifel bleiben im Gegenstand, in den Gedanken, in den Erlebnissen, mit einem Wort: im Material, sie gehen jedoch
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Da Bachtin aber grundsätzlich annimmt, dass jede Äußerung dialogisch geprägt ist, muss dies auch für eine lyrische Äußerung gelten, selbst wenn sie es zu verbergen versucht.28 Weil sich dialogische Prozesse auf allen Ebenen der Sprache identifizieren lassen (im Wort, im Satz, zwischen Texten, Textsorten, Gattungen etc.),29 können die entstehenden Ambivalenzen nicht an eine spezielle literarische Gattung gebunden sein.30 Ein scheinbarer Dialog kann durchaus ‚monologisch‘ sein, ein Gedicht hingegen, das in seiner formalen Strenge einer einheitlichen Weltsicht verpflichtet scheint, sehr wohl Aspekte von Dialogizität aufweisen.31 Einerseits also fasst Bachtin Dichtung als Gattung repressiver und vereinheitlichender Tendenzen, andererseits kann gerade sie – über die Dialogizität ihrer Sprache – das Einheitsmoment subvertieren. Dieser Widerspruch bleibt in der Argumentation stehen. So liegt der Schluss nahe, dass Bachtins Unterscheidung zwischen monologischer Lyrik
nicht in Sprache über. In der Poesie muß das Wort über den Zweifel als Wort zweifelsfrei sein“ (ebd., S. 178). Für die Rekonstruktion der detaillierten Argumentation vgl. Michael Eskin: „Bakhtin on Poetry“. In: Poetics Today 21 (2000), S. 379–391, hier S. 380f. 28 Zu dieser Argumentation vgl. Ken Hirschkop: „Dialogism as a Challenge to Literary Criticism“. In: Catriona Kelly/Michael Makin/David Shepherd (Hg.): Discontinuous Discourses in Modern Russian Literature. New York 1989, S. 19–35, v.a. S. 23. 29 Vgl. May: „Das Ende des Erzählens?“ (wie Anm. 23), S. 155. 30 „Weder kann Dichtung, insofern sie sprachlich ist, monologisch sein, noch kann Selbstbegegnung, insofern sie über Sprache erfolgt, nicht auch Fremdbegegnung […] sein“ (Eskin: „‚Ich bin … mir selbst begegnet‘“ [wie Anm. 10], S. 136). 31 Zur Grenze zwischen Monolog und Dialog vgl. Kathrin Wittler: „Briefroman, Monodrama, lyrisches Gedicht. Goethes Werther und die Gattungsästhetik der Einsamkeit im 18. Jahrhundert“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 133 (2014), S. 505–532.
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und dialogischer Prosa eher funktionale Gründe hat als literarische.32 In letzter Zeit ist daher zu Recht versucht worden, gerade lyrische Texte als dialogisch oder polyphon zu lesen.33 Im Detail ist dies an Bachtins Unterscheidung verschiedener Arten des ‚fremden Wortes‘ orientiert: Die Ausrichtung einer Aussage auf ein ‚fremdes Wort‘ hin34 könne in zweierlei Weise erfolgen: das entstehende „zweistimmige Wort“35 sei entweder so gestaltet, dass die fremde Stimme den Vordergrund der Aussage bilde und die eigene Stimme den Hintergrund, oder so, dass die eigene Stimme explizit und der Hintergrund der fremden Stimme nur als Andeutung zu verstehen sei. In jedem Fall wird eine eindeutige Aussage verhindert und die scheinbare „Abschließbarkeit des Zeichenprozesses […] durch die Unabschließbarkeit eines dialogischen Zeichenprozesses dementiert“.36 Auf dieser Basis kann eine Untersuchung lyrischer Texte unter dem Signum der Dialogizität Aufschluss über diskursive Strategien geben, die den scheinbar monologischen Anspruch von Lyrik unterlau-
32 Vgl. Eskin: „Bakhtin on Poetry“ (wie Anm. 27), S. 383. 33 Michael Eskin fasst Dichtung sogar als die dialogische Gattung: „[P]oetry may plausibly be construed as the dialogically and sociopolitically exemplary mode of discourse in Bakhtin’s writings“ (ebd., S. 379). 34 Dies ist der dritte Aspekt einer Typologie des Prosawortes, die für den verfolgten Zweck nicht relevant ist und deswegen nur erwähnt sei: Die Art der Dialogisierung lasse sich in drei Grundtypen unterteilen, das „unmittelbar auf seinen Gegenstand gerichtete Wort“, das „Wort einer dargestellten Person“ sowie das „Wort mit Ausrichtung auf ein fremdes Wort“ (Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971, S. 222). 35 Ebd. 36 Renate Lachmann: „Dialogizität und poetische Sprache“. In: Dies. (Hg.): Dialogizität (wie Anm. 18), S. 51–62, hier S. 51. Auf den Unterschied zum Strukturalismus etwa Ferdinand de Saussures verweist Sylvia Sasse: Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg 2010, S. 88.
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fen und ‚diskursreaktiv‘ arbeiten.37 Lyrik ist unter diesen Vorzeichen als Gattung zu verstehen, die durch die widerstrebenden Impulse zweier Kräfte zu fassen ist: durch die vereinheitlichenden (monologischen) Tendenzen von Versmaß, Reim, Gedichtform einerseits und die pluralen (dialogischen) Tendenzen verschiedener, sowohl einander als auch einer möglichen Autorstimme widersprechender Stimmen andererseits.38 So kann sich Lyrik als ‚dialogischer‘ erweisen denn Prosa. Zudem füllt sie Funktionen im gesellschaftlichen oder politischen Bereich aus, indem sie subversiv oder diskursreaktiv agiert.39 Dazu kann sie in ganz unterschiedlicher Weise dialogisch gestaltet sein. Für einen Überblick skizziert der folgende Abschnitt eine Typologie von Dialog und Dialogizität, die die Grundlage der Textanalysen bilden soll.
37 ‚Diskursreaktivität‘ wird im Anschluss an Foucault verstanden als lyrisches Sprechen, das wegen seiner Polyvalenz „Diskursstrategien und Wissensformationen“ durchkreuzt (Stefan Schukowski: Gender im Gedicht. Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik. Bielefeld 2013, S. 9). Schukowski bezieht das Konzept primär auf Diskurse über (Homo-)Sexualität, es lässt sich aber problemlos auf andere politische oder gesellschaftliche Aspekte erweitern. 38 Vgl. Eskin: „Bakhtin on Poetry“ (wie Anm. 27), S. 387. 39 Dichtung verdeutlicht somit „the existential clashes between homogenizing and oppositional discourses in its very construction“ (ebd., S. 389). Auf eine weitere Parallele zu Michel Foucault weist Markus May hin: „Die Berührungspunkte zwischen Foucaults Konzept der Kontrollfunktionen des Diskurses als eine Folge von Regulativen, die unerwünschte anthropologische Dimensionen in diskreditierender Weise ausschließen (Wahnsinn, Sexualität, Kriminalität), um machterhaltende Stabilität zu erzeugen, und Bachtins Sprachmodell, in dem dialogisch-anarchische Tendenzen sich im Kampf mit monologisch-autoritären Tendenzen befinden, sind eklatant“ (May: „Das Ende des Erzählens?“ [wie Anm. 23], S. 156).
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F ORMEN
DES
D IALOGS
Für eine erste Orientierung seien vier Formen des lyrischen Dialogs differenziert: •
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intratextueller Dialog: Von einem intratextuellen Dialog wird im Folgenden gesprochen, wenn ein Sprecher und ein Rezipient im Rahmen der erzählten Welt kommunizieren. Wenn Sprecher und Rezipient nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, sondern sich in mehrere Stimmen aufspalten, liegt eine graduell skalierbare Verschiebung hin zu Dialogizität und Polyphonie vor. intertextueller Dialog: Ein intertextueller Dialog ist zu konstatieren, wenn das Gedicht explizit oder implizit auf einen früheren Text verweist, unter Einbeziehung aller Formen von Intertextualität.40 Anders als beim intratextuellen Dialog ist hier der Sender vom Rezipienten klar durch die Textgrenze getrennt. Für eine adäquate Dekodierung ist das Zitat in seiner wechselnden textuellen Umgebung zu rekonstruieren, also sowohl in seinem ursprünglichen als auch im neuen Kontext zu untersuchen. biographischer Dialog: Unter dem Stichwort des biographischen Dialogs wird berücksichtigt, dass reale Umstände auf den lyrischen Text einwirken. Wie in jeder biographischen Interpretation ist dieser Aspekt mit Vorsicht zu behandeln: Über psychische Disposi-
40 Zu Formen von Intertextualität vgl. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982; einführend Martínez: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“ (wie Anm. 15); differenzierend Renate Lachmann: „Ebenen des Intertextualitätsbegriffs“. In: Stierle/Warning (Hg.): Das Gespräch (wie Anm. 14), S. 133–138; Karlheinz Stierle: „Werk und Intertextualität“. In: ebd., S. 139–150; Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“. In: Ulrich Broich/Ders. (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1–30; Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“. In: ebd., S. 31–47.
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tionen oder Motive eines Autors zu spekulieren, ist wissenschaftlich haltlos. Keinesfalls soll daher einfach eine Lebenssituation zur Analyse eines literarischen Werkes herangezogen werden; es kann aber der Versuch einer Rekonstruktion des Produktionszusammenhangs erfolgen. Diese Methodik schöpft aus dem Repertoire des New Historicism oder der Konstellationsforschung. Besonders aufschlussreich verspricht die Analyse des biographischen Dialogs zu werden, wenn ein philologisch greifbarer Kontext vorliegt, etwa ein Briefwechsel, in dem die Gedichte eine Rolle spielen und damit eine Funktion in einer realen Kommunikationssituation erfüllen, die literaturwissenschaftlich beschrieben werden kann. rezipierender Dialog: Auch der rezipierende Dialog spielt sich auf einer extratextuellen Ebene des Gedichts ab, nimmt aber nicht den Entstehungskontext in den Blick, sondern Formen der real erfolgten Rezeption. Dies ist insbesondere dann von Interesse, wenn der Rezeptionsvorgang literarischen Niederschlag findet. Der Unterschied zum intertextuellen Dialog besteht darin, dass über den Blick auf die konkrete Rezeption das Augenmerk des Interpreten auf eine spezielle Form aus der unendlichen Vielfalt potentieller Reaktionen auf den lyrischen Text gerichtet wird. Ohne in einem rezeptionsästhetisch strengen Sinne auf Methoden etwa der Soziologie oder der empirischen Sozialforschung zurückgreifen zu müssen, kann so der dialogische Prozess eines Rezeptionsvorgangs rekonstruiert werden.
Selbstverständlich sind diese vier Ebenen des Dialogs weder vollständig noch absolut trennscharf. Für die grundsätzliche Begriffsbildung aber wird sich die Typologie dialogischer Elemente in Lyrik als nützlich erweisen. Der Aspekt der Dialogizität wird hier nicht weiter aufgeschlüsselt, weil die literarischen Werke eine große Spannweite von Dialogizität und Polyphonie aufweisen. Stattdessen wird auf der Basis der Konzeption von Dialogizität von Bachtin individuell herausgearbeitet, was an den Gedichten als polyphon zu bezeichnen ist und welche literarischen Mittel dazu beitragen.
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D ANK Zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden bin ich für Impulse und Anregungen zu Dank verpflichtet. Herausgehoben seien Nicolas Detering, Hendrik Schlieper und Sebastian Wilde, die das Manuskript kritisch gelesen und mit Hinweisen von unschätzbarem Wert verbessert haben, sowie Frieder von Ammon, mit dem jedes Gespräch über Gedichte eine Freude ist. Mit Judith Ryan durfte ich während eines Forschungsaufenthalts in Harvard inspirierende Diskussionen über Lyrik führen. Markus Lauerer und Adela Sabban haben das Manuskript korrigiert. Den Studentinnen und Studenten meines Seminars „Lyrik des 20. Jahrhunderts“ an der LMU München verdanke ich nicht nur begeisterte und begeisternde Diskussionen, sondern auch eine Vielzahl von Ideen, die in dieses Buch eingeflossen sind. Die FritzThyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung hat durch die Gewährung eines Postdoktorandenstipendiums die Entstehung des Textes überhaupt erst ermöglicht und die Drucklegung mit einem großzügigen Zuschuss unterstützt.
„Und er kann töten, ohne zu berühren“ Stefan George und Hugo von Hofmannsthal
L IEBE
UND
A NGST
Hugo von Hofmannsthal wird 1874 in Wien geboren. Er ist 17 Jahre alt und geht noch zur Schule, als er kurz vor Weihnachten 1891 in einem Wiener Café auf den sechs Jahre älteren Stefan George trifft. George hat nach dem Abschluss der Schule Reisen durch Europa unternommen, in Paris wurde er in den Kreis von Stéphane Mallarmé eingeführt. Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht und ist in der literarischen Szene kein Unbekannter, als er zum Studium nach Wien kommt und dort Hofmannsthal kennenlernt. Wenige Tage nach dem ersten Treffen beschreibt Hofmannsthal die Begegnung mit den folgenden Worten, die er mit Einem, der vorübergeht betitelt und brieflich an George schickt:1 Du hast mich an Dinge gemahnet, Die heimlich in mir sind, Du warst für die Saiten der Seele Der nächtige flüsternde Wind.
1
Zit. n. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 1: Gedichte, Dramen I. 1891–1898. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979, S. 121.
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Und wie das rätselhafte,
5
Das Rufen der atmenden Nacht, Wenn draußen die Wolken gleiten Und man aus dem Traum erwacht, Zu blauer weicher Weite Die enge Nähe schwillt,
10
Durch Zweige vor dem Monde Ein leises Zittern quillt.
Nur wenig später aber – nach Bemühungen von Seiten Georges, den Kontakt freundschaftlich und erotisch zu intensivieren – wandelt sich Hofmannsthals Haltung grundlegend: Er lässt sich verleugnen, zu einem Treffen im Kaffeehaus bringt er einen Freund mit, den er instruiert hat, rechtzeitig zum Aufbruch zu drängen.2 An Heiligabend 1891 sucht er George dennoch zu einem Zwiegespräch in dessen Zimmer in einer Wiener Pension auf. In seinem Tagebuch notiert er danach das Sonett Der Prophet:3 In einer Halle hat er mich empfangen, Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt, Von süßen Düften widerlich durchwallt: Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt,
5
Der Seele Atmen hemmt ein dumpfes Bangen, Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt.
2
Die Schilderung folgt Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des
3
Zit. n. Hofmannsthal: Gedichte (wie Anm. 1), S. 125.
Charisma. Biographie. München 2007, v.a. S. 9–27.
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Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.
10
Von seinen Worten, den unscheinbar leisen, Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen, Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann töten, ohne zu berühren.
Zwar verbringt Hofmannsthal die ersten Tage des Jahres 1892 in Wien, doch George lässt er ausrichten, er sei aufs Land gefahren. Als die Schule wieder beginnt, ist ihm diese Ausflucht verwehrt; vorsichtig lässt er zu, dass George wieder Kontakt aufnimmt und ihn für Spaziergänge direkt von der Schule abholt. Nur kurze Zeit geht dies gut, dann schreibt George ihm die Zeilen:4 Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge·
Ein solches Wesen sieht er in Hofmannsthal und bekräftigt damit die Ahnung, die dieser in Der Prophet lyrisch in Worte gefasst hatte. Entsprechend kühl fällt Hofmannsthals Antwort aus:5 Was soll ich Ihnen sagen ? was darf ich Ihnen erwidern ? der Ihr halbverschleiertes Bekenntnis, ein Bekennen vor sich hin und für sich selbst, vernommen hat, ein zufällig aufgefangenes mehr denn Gabe und Geschenk.
Zwar schließt er halbwegs versöhnlich mit den Worten „ich kann a u c h das lieben, was mich ängstet“,6 doch George hört die Ablehnung heraus. Unverhohlen droht er mit einer Forderung zum Duell:7
4
Zit. n. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. v. Robert Boehringer. München/Düsseldorf 21953, S. 12.
5
Ebd., S. 14.
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[Sie werden mir] sehr verbunden sein dass ich soviel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasse was mit Ihrem oder meinem tod endet
Zum Äußersten kommt es nur deshalb nicht, weil Hofmannsthal sich an seinen Vater wendet und es diesem gelingt, George zur Räson zu bringen. Dennoch ist der Dialog der Dichter nur einen Monat nach seinem Beginn an ein Ende gekommen. Von Dauer hingegen sind die entstandenen lyrischen Werke. Die biographisch geprägten Gedichte Hofmannsthals zeigen die gesamte Spannweite der Beziehung zwischen ihm und George: zwischen freundschaftlicher Zuneigung, literarischer Zusammenarbeit, erotischer Faszination und einengender Nähe.8 Beiden Texten gemein ist, dass sie sowohl auf einer persönlichen als auch auf einer ästhetischen Ebene gelesen werden können und damit über die individuelle Begegnung hinaus ihre Wirkung entfalten. Dialogisch ist das erste Gedicht zunächst in einem biographischen Sinne: als Botschaft an den Leser George. Schon in diesem Gerichtetsein kontrastiert es scharf mit dem zweiten, dessen selbstreflexiver Charakter in der monologischen Position des Tagebuchs zum Ausdruck kommt. Mit dem Aspekt des Dialogischen beschäftigen sich beide Texte aber auch inhaltlich, indem sie die Begegnung und das Gespräch thematisieren. Besonders eindrücklich ist der Wechsel vom vertrauten Du in Einem, der vorübergeht zum distanzierten Er, mit dem der Dialogpartner in Der Prophet bezeichnet wird. Charakteristisch für beide Gedichte ist, dass ihre Form dem Inhalt scheinbar konträr gegenübersteht. Während das Gedicht nach der ersten Begegnung in einem atemlosen Rhythmus gehalten ist, der durch daktylische Elemente erzeugt wird, die unter das trochäische Metrum gemischt sind,
6
Ebd.
7
Ebd., S. 16.
8
Zu George und Hofmannsthal vgl. Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende. Tübingen 1997.
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ist das zweite, das Angst und Einengung schildert, folgt der klar strukturierten Form des Sonetts. Es gibt gute Gründe für beides. Einem, der vorübergeht fasst über das Metrum die Stimmung: den Drang nach Neuem und den Wunsch, die Tür, die sich in der Wahrnehmung des sprechenden Ich geöffnet hat, auf der Suche nach Erlebnissen zu durchschreiten. Brisant wird die Situation dadurch, dass die „Dinge“, an die das Ich „gemahnt“ wird, nicht völlig neu von außen auf es eindringen, sondern die Anlage für die Erfahrung im Ich enthalten ist. Darauf deuten die Worte „gemahnet“ und „heimlich“ hin, aber auch die „Saiten der Seele“, die an die Äolsharfe erinnern und vorhanden sein müssen, damit der Wind sie zum Klingen bringen kann. Sie sind im Subjekt angelegt, doch es bedarf der Begegnung mit „einem, der vorübergeht“, um sie ertönen zu lassen. Worum es sich bei diesen heimlichen Dingen handelt, sagt das Gedicht nicht; die Leerstelle zu füllen, ist dem Leser überlassen. Zumindest zwei Vorschläge aber seien gemacht. Zum einen kann man an die erotische Faszination denken, die George für Hofmannsthal verspürt und die hier, im unmittelbaren Eindruck der ersten Begegnung, von diesem möglicherweise erwidert wird, ehe sie ins Gegenteil umschlägt. Das Heimliche wäre damit eine Ahnung des gleichgeschlechtlichen Eros. Die ‚bürgerliche Enge‘ des Alltags wird durchbrochen, eine Reihe von Metaphern unterstreicht dies. Der Traum ist zu nennen, ein Bild für das ‚Andere‘; die „blaue Weite“, Symbol romantischer Sehnsucht; das Anschwellen der „enge[n] Nähe“, das erotisch gelesen werden kann; sowie der „Mond“, der seit Sappho Zeichen der sensualisierten (und sexualisierten) Nacht ist. Zum anderen können die Heimlichkeiten, die durch die Begegnung mit dem Anderen und den Dialog ausgelöst werden, als Beginn einer neuen künstlerischen Ära verstanden werden. Der 17-jährige Dichter Hofmannsthal spürt, dass der Kontakt zu dem älteren und lyrisch erfahrenen George sein dichterisches Schaffen beeinflussen kann. Diese ‚neue Poesie‘ – die nur ein Jahrzehnt später zumindest für Hofmanns-
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thal scheitert, der Chandos-Brief zeugt davon9 – wird in der Begegnung mit George zum ersten Mal offenbar: Hier trifft das in Paris geschulte Werk des Älteren auf das Talent des Jüngeren. Die „blaue Weite“ ist somit auch das romantische Dichter-Ideal, das „Rufen der atmenden Nacht“ das Rufen einer neuen Kunst. Ganz anders, nur wenige Tage später, Der Prophet. Spürt das Ich des früheren Gedichts eine Bewegung von der Enge zur Weite, ist es hier umgekehrt. Die Begegnung mit dem Propheten findet in einer Halle statt, die luftig und weit sein müsste, doch im subjektiven Erleben durch ihre Enge den Atem abschnürt: Die Luft ist „leer“, sie kreist „beengend“. Unterstützt wird die geschilderte Entwicklung von Weite und Erwartung hin zu Enge und Ausweglosigkeit durch die Form des Sonetts. Klassisch strukturiert Hofmannsthal seine Gedanken in These, Antithese und Synthese,10 wobei das Fazit nicht in zweimal drei Verse, sondern – wie häufig im englischen Sonett – in einen vier- und einen zweizeiligen Abschnitt gegliedert ist. Dies führt dazu, dass das Fazit, das das Subjekt nach den ersten beiden Abschnitten zieht, zunächst ausführlicher, dann noch einmal pointiert geäußert wird – und schließlich in einen der erschreckendsten Verse der deutschen Literatur mündet: „er kann töten, ohne zu berühren“. Doch wie verläuft die Entwicklung konkret, und wie spiegelt sie sich in dem Wechsel des Pronomens, mit dem der Dialogpartner beschrieben wird? Im ersten Abschnitt manifestiert sich das Unbehagen des Subjekts in der Oszillation zwischen einem mysterium tremendum und einem mysterium fascinans, als das es den Propheten gleicherma-
9
Zum Chandos-Brief vgl. David E. Wellbery: „Die Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination. Anmerkungen zum Chandos-Brief und zur frühen Poetik Hofmannsthals“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 11 (2003), S. 281– 310; Wolfgang Riedel: „Schopenhauer, Hofmannsthal – und George?“. In: George-Jahrbuch 8 (2010), S. 37–52, v.a. S. 42−46.
10 Zur Struktur des Sonetts sowie zur Gattungsgeschichte bis zur Romantik vgl. Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009.
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ßen empfindet – und worin sich ein erster Aspekt der Dialogizität zeigt. Zwar wird das Ich „empfangen“, zwar ist die Halle erfüllt von „süßen Düften“, doch der Empfang ist „rätselhaft“ und „ängstet“, die Düfte sind „widerlich“. Schon dem anziehend wirkenden Mysterium sind also Aspekte des Schrecklichen einbeschrieben. Dies wird in der zweiten Strophe verstärkt, als die Reaktion des Ich auf die Gegebenheiten in der Halle geschildert wird. Konnte die Halle zunächst als Raum der Weite angesehen werden, so ist – wenn die Tür zufällt – hier ein Moment des Einschließens zu sehen. Die Enge manifestiert sich im Erleben des Subjekts, es ist gehemmt und befangen. Ein erstes Fazit bietet der Vers: „Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt“. Nur dem Ich ist eine Flucht nicht möglich, es muss sich der Begegnung mit dem Propheten stellen. Die Spannung des Gedichts ist damit an einem Höhepunkt angekommen: Die Situation und die beiden Beteiligten sind dargestellt, nun kommt es zur Konfrontation. Diese wird als Kontrast zu einer früheren inszeniert: „Er aber“ hat sich verändert, er „ist nicht wie er immer war“. Was die räumlichen Bedingungen des Schauplatzes über ihre Semantisierung vorweggenommen hatten, wird durch den Bezug auf ‚Ihn‘ nachgeholt: Wie sich die Weite der Halle im Erleben des Ich zu bedrückender Enge wandelt, hat das Gegenüber eine Metamorphose durchgemacht. Der neue Zustand ist kausal für das Erschrecken des Ich: „Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.“ Das Ich sieht sich gefesselt durch den Blick des Anderen, der ihm ein Fremder geworden ist. Zwar tut dieser nichts objektiv Erschreckendes: Er spricht. Doch eine offene Kommunikation ist unmöglich. Die beiden Begriffe, die die dritte Strophe beenden, fassen die Zerrissenheit des Ich in Worte, indem sie ein weiteres Mal den Spalt zwischen Angst und Faszination belegen: Die „Herrschaft“ des Propheten steht seinem „Verführen“ unversöhnlich gegenüber. Eine vergleichbare Kluft tut sich nun auch typographisch im Gedicht auf: durch den Abstand, der zwischen den Versen 9–12 und den letzten beiden besteht. Hier ist formal die Lücke nachvollzogen, die sich im Erleben des Ich herausgebildet hat: zwischen Unbehagen und Furcht, zwischen der ehemaligen Vertrautheit und der gegenwärtigen
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Ferne, zwischen exotischer Verführung und beengender Vernichtung. Die Lücke wird optisch in den Lesefluss eingebaut, ehe die letzten beiden Verse die Synthese wagen. Die Macht des Anderen, die zuvor auf Worte und ein Gefühl des Ich beschränkt war, wird zur existentiellen Bedrohung. Die Luft, die das Ich zum Atmen benötigt, ist leer; gleich der „schwarzen Milch“ in Paul Celans Todesfuge ist ihr das lebenspendende Element nicht nur entzogen, sondern ins Gegenteil gewandelt. Der finale Akt des Gedichts, das Potential des Anderen, das Ich zu töten, ist in seiner Drastik gesteigert, indem er ohne Berühren erfolgt, als etwas Rasches, Unverbindliches – was im krassen Widerspruch zu den geschilderten Folgen steht. War das dialogische Element in Einem, der vorübergeht Grund und Bedingung von Dichtung zugleich, ist es hier in sein gegenteiliges Extrem verkehrt. Das Ich, das neben dem Du für einen Dialog erforderlich wäre, taucht ausschließlich in den ersten beiden Versen auf – und dort nur in der passiven Flexionsform des Akkusativs. Ein Du, das vom Ich angesprochen wird, ist nicht vorhanden, stattdessen herrscht die erdrückende Präsenz der dritten Person vor, die immer stärker wird. Stehen im ersten Vers Er und Ich noch gleichberechtigt nebeneinander, so wird das Er in den letzten Versen die alles dominierende Instanz. Sechs Nennungen in sechs Versen zeigen, von wem die Macht ausgeht und wer schließlich in der Lage ist, zu töten. So sehr sich die Gedichte Einer, der vorübergeht und Der Prophet in ihrem Entstehungskontext und ihrer dialogischen Struktur also ähneln, so sehr unterscheiden sie sich in ihrer Haltung. Während das erste einen Prozess darstellt, im Zuge dessen ein monologisch ausgerichtetes Ich durch eine Begegnung anfängt, Unbekanntes zu entdecken und lyrisch zu sprechen, schildert das zweite das radikale Verstummen eines Dialogs – des Dialogs, den Hofmannsthal mit George führen könnte.
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S UBVERSIVER D IALOG Von Georges Seite gestaltet sich die Beziehung grundlegend anders: Über Jahre ist er so fasziniert von Hofmannsthal, dass er ihn an sich zu binden versucht, persönlich und künstlerisch. Mit beidem scheitert er, doch für seine Lyrik ist das Verhältnis von Eros und Kunst, das durch die Begegnung mit Hofmannsthal geprägt wird, lange Zeit zentral. Ein markantes Beispiel dafür ist das folgende Gedicht:11 Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen Der nach den schluchten-rosen kühn gehascht · Der über seiner jagd den tag vergessen · Der von der dolden vollem seim genascht? Der nach dem parke sich zur ruhe wandte ·
5
Trieb ihn ein flügelschillern allzuweit · Der sinnend sass an jenes weihers kante Und lauschte in die tiefe heimlichkeit . . Und von der insel moosgekrönter steine Verliess der schwan das spiel des wasserfalls
10
Und legte in die kinderhand die feine Die schmeichelnde den schlanken hals.
Bei der ersten Lektüre wirken die Verse kunstvoll-distanziert, fast artifiziell. Die Kleinschreibung der Substantive, die Hochpunkte, die Bildlichkeit, der Park als abgeschlossener Raum künstlicher Gestaltung
11 Zit. n. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 4: Das Jahr der Seele. Stuttgart 22005, S. 40. Zum Jahr der Seele vgl. Heidi E. Faletti: Die Jahreszeiten des Fin de siècle. Eine Studie über Stefan Georges „Das Jahr der Seele“. Bern/München 1983; Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997.
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sowie die Verweise auf Kunst als Abbild der Natur tragen dazu bei. Der letzte Aspekt – der an die Mimesis-Problematik anknüpft – lässt sich am Beispiel der Aktivitäten des Knaben entwickeln: Als seine Spiele in der ersten Strophe geschildert werden, wird der Knabe als „schönes bildnis“ bezeichnet, als erstarrtes Kunstwerk, als Abbild der ursprünglich lebendigen Natur. Auch die zweite Strophe meißelt ihn als Statue, als poetische Mischung aus der kindlichen Unbekümmertheit des Dornausziehers und der Versunkenheit des Rodin’schen Denkers. In der dritten Strophe wird das Bild als Jugendstilornament vollendet: zu einem Paar aus dem Knaben und dem Schwan, der seinen Hals in die Hand des Knaben schmiegt. In allen drei Fällen aber ist die künstlerische Fixierung nicht das einzige Bild, das das Gedicht entwickelt; stets handelt es sich um einen Wechsel zwischen Statik und Dynamik. Das „bildnis“ der ersten Strophe wird durch die Bewegungen des Knaben dynamisiert, die Versunkenheit der zweiten Strophe ist die Folge des kindlichen Spiels, und das abschließende Ornament ergibt sich aus der Begegnung des Knaben und des Schwans, die zueinander finden müssen, ehe sie in ihrer Bewegung innehalten und zu einen Kunstwerk verschmelzen können. Wenn somit zunächst die Erstarrung das Kunstwerk zu bedingen scheint, wird auf den zweiten Blick deutlich, dass Kunst ohne Natur nicht denkbar ist, dass der Ruhe stets Bewegung vorausgeht. Trotz seiner scheinbaren Absolutheit in der Entrückung von allen äußeren Einflüssen ist das Gedicht also nicht monologisch konzipiert, sondern als poetologischer Diskurs zu lesen, wie Kunst aus Natur entstehen kann: Das Spiel der Natur wird von der Kunst eingefangen und in Dauer überführt. Dies aber kann nur gelingen, wenn Natur und Kunst ein Wechselspiel eingehen, wenn Bewegung in Ruhe mündet und sich Ruhe erneut in Bewegung umsetzen lässt. Ein solches Oszillieren ist auch für die ‚Protagonisten‘ des Gedichts zu konstatieren, für den Knaben und den Schwan. Beide befinden sich zunächst in räumlich getrennten Bereichen. Zusammengeführt werden sie dadurch, dass der Knabe sich in den Park begibt, also einen Raum betritt, der sich von der umgebenden Welt unterscheidet: Hier ist
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Natur in Kunst überführt, hier ist von Menschenhand eine Gegenwelt zur ‚ungeschaffenen‘ Natur gebildet worden. In diesem abgeschlossenen Bereich (man kann ihn als Heterotop bezeichnen)12 befindet sich ein weiterer isolierter Raum, die Insel, auf der der Schwan lebt. In früheren Gedichten Georges, etwa dem Herrn der Insel, bildet die Insel den Raum des Exotischen und der Kunst; dieser Raum aber wird als bedroht wahrgenommen. Der Herr der Insel schildert, wie der Vogel, der auf der Insel „seit urbeginn gelebt“ habe, an dem Tag, an dem zum ersten Mal Menschen dort landen, „[v]erscheidend in gedämpften schmerzeslauten“ stirbt.13 Der Schwan ist zudem häufig ein Symbol für den Dichter.14 Wenn nun das Heterotop der Insel und die umgebende menschliche Welt einander nicht gegenübergestellt, sondern durch die Bewegung des Schwans zueinander geführt werden, zeigt dieser Dialog, dass Kunst nicht zwangsläufig ein in sich ruhendes, kommunikationsloses Phänomen sein muss. Wichtig ist freilich, wodurch der Schwan zum Dialog veranlasst wird: durch den Knaben. Erotisch aufgeladen ist das Zusammenspiel von Mensch und Schwan durch den Mythos von Zeus und Leda. Zeus nähert sich der Königstochter in Gestalt eines Schwans, um sie zur Untreue gegenüber ihrem Gatten zu bewegen – ein Motiv, das in unzähligen Versionen in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Auch die Literatur hat den Mythos aufgegriffen, etwa E.T.A. Hoffmann in seinen Lebens-Ansichten des Katers Murr. George knüpft also an eine reiche
12 Vgl. Michel Foucault: „Von anderen Räumen“. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Bd. 4: 1980–1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt am Main 2005, S. 931–942. 13 Zit. n. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 3: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Stuttgart 22005, S. 18. 14 Man denke etwa an Hölderlins Hälfte des Leben. Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Hg. v. Michael Knaupp. München/Wien 1992, S. 445.
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kulturgeschichtliche Tradition an,15 wenn er den Schwan – den Dichter und Gott – auf den Knaben – die Reinheit und Unschuld – treffen lässt. Der Dialog, den die beiden führen, ist ein Dialog zwischen Kunst und Natur, zwischen Artifizialität und Authentizität, zwischen Reflexion und Trieb. Im Bild des Knaben und des Schwans können die beiden Sphären vermittelt werden. Vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Tradition gewinnt das entstehende Jugendstilornament – der Hals des Schwans in der Hand des Knaben – auch eine erotische Komponente: So wie im Mythos die Interaktion von Zeus und Leda zum Geschlechtsakt führt, so wie es im Kater Murr auf den Verlust der Unschuld vorausverweist, wenn Julia den Schwan füttert, so wie die Darstellungen in der bildenden Kunst stets auch als Aktbilder gesehen werden können – so ist für Georges Gedicht der erotische Aspekt mit zu bedenken. Der Knabe ist Muse des Dichters, durch seine Jugend und Unschuld geeignet, ein poetisches Bild zu evozieren. Er ist aber auch Ziel (homo-)erotischer Phantasien, wenn sich in die Unschuld sexuell konnotierte Vorstellungen mischen – wie das „Naschen“ von „vollem seim“ oder der „schlanke[] hals“ in der Hand des Knaben. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt, das Gedicht zurück auf den Dialog zu beziehen, den George mit Hofmannsthal führt und der ähnliche Facetten aufweist: die dichterische Inspiration aus den Gesprächen, die Verortung im Leben, aber auch die erotische Faszination. Die Frage Gemahnt dich noch ist also auch eine Frage, die George an sich richtet, wenn er mit seinem Gedicht einen Dialog erschafft, der den Mythos von Leda und dem Schwan in ein Werk transformiert, das dichterische Inspiration (auch) auf erotische Attraktion zurückführt.
15 Auch an den Mythos von Narziss und die Selbsterkenntnis im Spiegelbild des Wassers ist zu denken.
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D ISKURSREAKTIVER D IALOG Expliziter noch spricht das Gedicht Es lacht in dem steigenden jahr dir von dem Wunsch nach Zweisamkeit, allerdings mit einem ganz anderen Ende, worauf bereits die Einordnung im Jahr der Seele hindeutet. Anders als Gemahnt dich noch ist es der Rubrik der Traurigen Tänze zugewiesen, also unter andere Vorzeichen gestellt als das Frühlingsgedicht. Es spielt mit der Metaphorik des Herbsts:16 Es lacht in dem steigenden jahr dir Der duft aus dem garten noch leis. Flicht in dem flatternden haar dir Eppich und ehrenpreis. Die wehende saat ist wie gold noch ·
5
Vielleicht nicht so hoch mehr und reich · Rosen begrüssen dich hold noch · Ward auch ihr glanz etwas bleich. Verschweigen wir was uns verwehrt ist · Geloben wir glücklich zu sein
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Wenn auch nicht mehr uns beschert ist Als noch ein rundgang zu zwein.
Schon bei der ersten Lektüre fällt die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form auf, zwischen dem melancholisch-resignativen Fazit, auf das der Text zusteuert, und dem tänzerisch-beschwingten Rhythmus, in dem er gehalten ist. Die Form scheint dem Inhalt entgegenzuwirken, scheint über einen optimistischen Ton das Scheitern überspielen zu wollen, mit dem das Gedicht endet. Schon diese Diskrepanz deutet an, dass – ähnlich wie bei den oben besprochenen, in ihrem dialogischen Element
16 Zit. n. George: Das Jahr der Seele (wie Anm. 11), S. 89.
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biographisch geprägten Gedichten Hofmannsthals – die Kommunikationssituation, die das Gedicht schildert, nicht frei von einem gewissen Unbehagen des Sprechers ist. Doch damit ist nur klanglich vorbereitet, was inhaltlich verhandelt wird: Eine Dialogsituation läuft in mehreren Schritten auf ihr Scheitern zu. Der erste Vers ist von Aufbruch geprägt. Das Verb „lachen“ in Kombination mit dem „steigenden jahr“ zeugt von einem Moment des Entstehens, der Öffnung, der Veränderung. Dieses Moment ist an das Du gebunden, das Ziel dessen ist, was es ‚anlacht‘: des „duft[es]“. Analog zu dieser Kommunikation, so könnte man vermuten, ist das Verhältnis des Ich zum Du zu sehen, das sich möglicherweise im Einklang mit der es umgebenden Natur befindet. Doch das Gegenteil ist der Fall; die Dekadenzbegriffe stellen dies in ihrer hämmernden Wiederholung unmissverständlich klar. „Noch“ lacht der Duft, „noch“ ist die Saat wie Gold, „noch“ begrüßen die Rosen das Du, schon aber ist ihr ehemaliger Glanz „etwas bleich“ geworden, schon ist die Saat nicht mehr „so hoch“ und „reich“. Am Ende der zweiten Strophe sind alle Motive angelegt, die das Gedicht bis zum Schluss prägen, wobei offen bleibt, worauf ihre Zusammenstellung zulaufen wird. Auffällig ist nun der Widerspruch zwischen Werden und Vergehen, zwischen Fortschritt und Verfall, zwischen Leben und Tod. Die dritte Strophe bringt die Synthese der widersprüchlichen Tendenzen, wobei auch diese in sich mehrdeutig ist. Sie beginnt mit einem Paradoxon, das paradigmatisch für die Zerrissenheit des Ich und das Scheitern des Dialogs steht: „Verschweigen wir“, hebt sie an, und negiert damit das, was sie im selben Moment erst schafft, die Zusammenführung der Dialogpartner zu einer gelingenden Kommunikation. War zuvor die Interaktion auf das Du und die umgebende Natur beschränkt, tritt hier das Ich auf den Plan: in Verschmelzung mit dem Du zum Wir. Aber es ist kein Aufgehen ineinander, sondern eine Zusammenführung von Gegensätzen, die als solche bestehen bleiben, da sie als Ziel das Verschweigen ausgeben. In dem Moment also, in dem der Dialog zu beginnen scheint, ist er bereits zu Ende.
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In diesem paradoxen Ton geht es weiter: „Geloben wir glücklich zu sein“ stellt einen Widerspruch dar, ist Glück doch nicht zu versprechen, erst recht nicht zu geloben. Das Oxymoron ‚gelobtes Glück‘ ist auf die misslingende Dialogsituation zurückzuführen. Anstatt tatsächlich miteinander zu reden und das anzusprechen, was die anfängliche Euphorie des Gedichts dämpft und zu der melancholischen Stimmung der zweiten Strophe führt, entscheiden sich die Sprecher, zu schweigen und sich selbst Glück vorzuspielen. Ich und Du müssen sich damit abfinden, dass ihnen etwas „verwehrt“ ist, dass ihnen „nicht mehr“ gestattet ist als der „rundgang zu zwein“. Die Formen des Dialogs, die in der Einleitung präsentiert wurden, bieten Möglichkeiten, diese dialogische Situation näher zu erfassen. Liest man den Dialog biographisch, kann man erneut auf das Verhältnis Georges zu Hofmannsthal verweisen. In diesem Falle würde es sich um ein Gedicht handeln, das dem gesellschaftlichen Diskurs entgegenarbeitet. Sexuelle Handlungen unter gleichgeschlechtlichen Partnern, die unter Strafe gestellt sind, können nicht vollzogen werden. Gestattet ist den handelnden Subjekten nur der unverfängliche Rundgang, nicht aber das, wonach vielleicht beide, ganz bestimmt aber das Ich, sich sehnen: eine gleichgeschlechtliche Beziehung. Als Ausdruck einer verwehrten Beziehung kann man das Gedicht auch in einer heteronormen Lesart verstehen: Zum Zeitpunkt der Abfassung ist George eng mit Ida Coblenz befreundet, wenn nicht in sie verliebt. Als sie ihm eröffnet, dass sie heiraten wird, ist George schockiert. Er bricht den Kontakt ab und ändert die Widmung des Gedichtbandes Das Jahr der Seele, der ursprünglich ihr dediziert war. Das, was dem Wir des Gedichts „verwehrt“ ist, könnte also auch eine Liebesbeziehung sein, die nicht zustande kommt. Am interessantesten aber sind die Dialoge einer potentiellen Rezeption. Indem George die Option des Schweigens ins Spiel bringt, begründet er einen Diskurs, der – freilich unter ganz anderen Vorzeichen – ein halbes Jahrhundert später von Paul Celan aufgegriffen wird: Soll Dichtung verstummen, wenn sie durch äußere Umstände dazu gezwungen wird? Oder soll sie, wie Celan postuliert, gerade gegen die
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Gefahr des Verstummens anschreiben? George entscheidet sich für einen Mittelweg, der sowohl das monologische Element des Verstummens als auch das dialogische der Kommunikation berücksichtigt. Ihm gelingt dies, indem er die Extreme nicht nur zusammenführt, sondern sich gegenseitig verstärken lässt. Für den Widerspruch zwischen dem drängenden, mitteilenden Rhythmus und dem innehaltenden, verstummenden Gedankengang wurde dies gezeigt. Auch die Tatsache, dass das Verstummen als Aufforderung gehalten ist, also einen gelingenden Kommunikationsakt darstellt, spricht für die These, dass Sprechen und Verstummen als zwei Prinzipien verstanden werden, von denen das eine das andere niemals völlig überwinden kann. Dieses Oszillieren des Gedichts kann an die biographischen Kontexte zurückgebunden werden. Für die diskursreaktive Lesart spricht, dass es extrinsische Begebenheiten sind, die das Ich zum Verstummen zwingen; dieses ist damit nicht als endgültiger Abbruch des Dialogs zu werten, sondern als vorübergehendes Aussetzen. Biographisch auf George bezogen, ist diese These jedoch Ausdruck einer vergeblichen Hoffnung. Sowohl seine Beziehung zu Hofmannsthal als auch diejenige zu Ida Coblenz fallen dem Verstummen anheim.
T RENNUNG
UND
V ERBUNDENHEIT
Nach der Episode in den Januartagen 1892 ist die Atmosphäre zwischen George und Hofmannsthal gestört. Zwar zieht George seine Duellforderung zurück, doch er setzt brieflich einen Schlusspunkt:17 ich hasse händel und pose und hätte Ihre hand nicht zurückgestossen obwol ihr schlag mir noch im gesicht brennt Ich sage also: entweder Sie suchen meine achtung und meine zuneigung (die Sie so schmählich auslegten) wieder völlig zu erlangen
17 Zit. n. George/Hofmannsthal: Briefwechsel (wie Anm. 4), S. 17.
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oder: wir setzen einen status tolerabilis fest. Einer von uns verlässt die stadt ich nämlich – denn Sie können nicht
Tatsächlich läuft es auf diesen „status tolerabilis“ hinaus. George geht nach Berlin, von wo aus er Hofmannsthal erst im Juli in formellem Ton (und dennoch bittend) wieder schreibt:18 unsre lezte unterredung in Wien war doch nur um einer form zu genügen · nichts aufgehoben und nichts neugethan · das empfanden Sie ja auch so […]. ich that alles um mich und meine handlungsweise aufzuklären wenn wir misstrauisch und uns anschielend durchs leben gehen so ist das Ihr wille.
Auf die Zweideutigkeiten, die den geschäftlichen Teil überlagern (es geht um die Zusendung einiger Gedichte), geht Hofmannsthal nicht ein. Seine Antwort beschränkt sich ebenso auf das Sachliche wie die in den Jahren darauf folgende Korrespondenz. Dennoch kommt auch Hofmannsthal nicht von George los. Ein Beispiel für die Bindung an den Verehrer ist das 1904 publizierte Gespräch über Gedichte, das als Dialog zweier Sprecher konzipiert ist. Nicht zufällig sind fast alle dort gewählten literarischen Beispiele Gedichte von George. Gleich das erste ist Georges Komm in den totgesagten park, dessen Farbigkeit einer der beiden Sprecher, Clemens, preist:19 Es ist schön. Es atmet den Herbst. Obwohl es kühn ist, zu sagen, ‚der reinen Wolken unverhofftes Blau‘, da diese Buchten von sehnsuchterregendem sommerhaften Blau ja zwischen den Wolken sind. Aber freilich nur an den Rändern reiner Wolken.
18 Ebd., S. 28. 19 Zit. n. Hugo von Hofmannsthal: „Das Gespräch über Gedichte“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 7: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979, S. 495−509, hier S. 496.
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Auffällig ist, wie Hofmannsthal bei seiner Deutung den Fokus auf die Reinheit des Erzählten legt. Gleiches gilt für seine Lesart des zweiten vollständig zitierten George-Gedichts, Gemahnt dich noch. Wiederum spricht Clemens:20 Ja, das ist schön. Das ist der Zauberkreis der Kindheit, in dem reinen tiefen Spiegel unstillbarer Sehnsucht aufgefangen. Wie rein es ist! es schwebt wie eine freie leichte kleine Wolke hoch über einem Berg. Wie rein es ist! Es drückt einen grenzenlosen Zustand so einfach aus.
Kommen nur dem Leser, der um Georges erotische Faszination für Hofmannsthal weiß, diese Zeilen geradezu naiv vor? Ein psychoanalytisch interessierter Interpret könnte die Vermutung äußern, dass das Insistieren auf der Reinheit des Gedichts einen Akt der Verdrängung darstellt, dass der Autor sich eine Reinheit einredet, die so anders ist als das, was er in der Realität durch den Verfasser des Gedichts erfahren und in Der Prophet lyrisch festgehalten hat. Und dennoch ist der Aspekt der Reinheit essentieller Bestandteil des Gedichts, beinhaltet dieses doch nicht nur die erotische Komponente, sondern auch die Möglichkeit, es als poetologisches Werk über das Verhältnis von Natur und Kunst zu lesen, in dem Kunst gerade dann aus Natur entsteht, wenn diese – wie der Dornauszieher – sich ihrer Anmut nicht bewusst ist. Trotz des Dialogs, den George und Hofmannsthal in ihren Werken fortführen, finden sie im realen Leben nicht wieder zusammen. Ihre sporadischen Briefe behalten den Ton des Geschäftlichen bei, der alles Unausgesprochene überdeckt. Ein an sich nichtiger Anlass – eine geringe finanzielle Forderung Hofmannsthals wegen des Abdrucks einiger Gedichte – führt zum endgültigen Bruch, den George in einem Brief vom 21. März 1906 vollzieht:21
20 Ebd., S. 499. 21 Zit. n. George/Hofmannsthal: Briefwechsel (wie Anm. 4), S. 229.
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Sie stellen in Ihrem Brief Behauptungen auf die jede persönliche Erörterung meinerseits ausschliessen. Manchmal scheinen die Dinge gänzlich Ihrem Sinn entfallen · trotz mündlicher und schriftlicher Zeugen. Ich werde Ihnen von geeigneter Stelle eingehend berichten lassen worin in dieser Sache Ihr Recht besteht und wozu Sie durchaus kein Recht haben.
Vermutlich ist es Zufall, dass die Entfremdung von George mit dem Ende von Hofmannsthals lyrischer Tätigkeit zusammenfällt: Beinahe alle seine Gedichte entstehen in den fünf Jahren nach der Begegnung mit George, danach verfasst er Dramen, Libretti, Erzählungen und eine Reihe weiterer Prosatexte, doch praktisch keine Lyrik mehr. Vielleicht aber hat der Dialog der Dichter zwischen George und Hofmannsthal für letzteren doch einen ausschlaggebenderen Impuls bedeutet, als das rasche biographische Ende der Begegnung es vermuten lässt.22 George hingegen findet eine Reihe von ‚Nachfolgern‘ für seine erotische Faszination, die weit über den verehrten Maximilian Kronberger – Maximin – hinausreicht, dem er 1907 einen ganzen Gedichtzyklus widmet. Und dennoch hat er die Zurückweisung durch Hofmannsthal nicht verwunden. Der Brief, der den endgültigen Bruch herbeiführt, zeugt noch fünfzehn Jahre später von der alten Wunde, die anlässlich einer Nichtigkeit wieder aufbricht. Vielleicht also sind alle von ihm fortan verehrten Jünglinge – die Liste ist lang – ein jeweils neu scheiternder Versuch, den verstummten Dialog mit Hofmannsthal wiederaufzunehmen.
22 So auch Thomas Karlauf: „Als sei das Gespräch zwischen ihnen nie abgerissen, durchziehen die Spuren der Beschäftigung mit George sein Werk vom Tod des Tizian über den Chandos-Brief und Das gerettete Venedig bis hin zum Andreas-Roman“ (Karlauf: Stefan George [wie Anm. 2], S. 25).
„Du wurdest der Abgrund, der mich verschlang“ Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke
Für Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke soll die Untersuchung nicht von einer biographischen Gegebenheit ausgehen, sondern auf eine solche zulaufen: Zunächst gilt es, anhand von drei programmatischen Gedichten Rilkes dessen Poetik des Dialogs aufzeigen. Diese ist dann tentativ, ohne auf eine rein biographische Deutung zu verfallen, auf seine (Liebes-)Beziehung zu Lou Andreas-Salomé zurückzuführen.
V ERSCHMELZUNG
DER
D IALOGPARTNER
Bei Rilkes Der Panther, im Jahre 1907 in den Neuen Gedichten publiziert, handelt es sich um eines der meistgedeuteten Gedichte der deutschen Literatur. Von vielen Aspekten1 kann hier nicht gehandelt wer-
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Aus der Forschungsliteratur vgl.: Mechthild Cranston: „From ‚Blick‘ to ‚Augenblick‘. Rilke’s Panther on the Move“. In: Neophilologus 78 (1994), S. 283–288; Manfred Back: „‚Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache…‘. Rilkes ‚Panther‘ nach dem Sprung ins Dinggedicht“. In: Ingo Wintermeyer (Hg.): Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski. Würzburg
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den, doch soll die für Rilke prägende Dialogstruktur an diesem Werk entwickelt werden, gerade weil es so bekannt ist:2 Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
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der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
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geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.
1995, S. 123–131; Gunnar Decker: „Überschreiten, aber kein Wohin“. In: neue deutsche literatur 44 (1996), S. 49–53; Marie-Hélène Quéval: „‚La panthère‘. Étude comparative sur Rilke, Nietzsche et Schopenhauer“. In: Marc Cluet (Hg.): L’amour des animaux dans le monde germanique. 1760−2000. Rennes 2006, S. 255–280; Wolfgang G. Müller: „Neue Gedichte/Der Neuen Gedichte anderer Teil“. In: Manfred Engel (Hg.): RilkeHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2004, S. 296−318; ders.: „Rilke, Husserl und die Dinglyrik der Moderne“. In: Manfred Engel/Dieter Lamping (Hg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf/Zürich 1999, S. 214–235; Peter Por: Die orphische Figur. Zur Poetik von Rilkes ‚Neuen Gedichten‘. Heidelberg 1997; Michael Kahl: Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk 1902−1910. Freiburg 1999. 2
Zit. n. Rainer Maria Rilke: „Neue Gedichte“. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895−1910. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main 1996, S. 447−510, hier S. 469.
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Das Gedicht läuft auf eine Verschmelzung der ‚Dialogpartner‘ – des Betrachters und des Panthers – hinaus. Subjekt und Objekt des Beobachtungsvorgangs werden einander angenähert, bis sie im Akt des Sehens zusammenfallen. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits in der ersten Strophe ab. Schildern die ersten beiden Verse den Blick des Betrachters auf den Panther, ist die Perspektive sodann die des Panthers auf die Welt. In beiden Verspaaren ist ein Beobachtungsvorgang dargestellt, der einem betrachtenden Subjekt ein betrachtetes Objekt beiordnet; durch die Parallelität der Vorgänge wird eine Analogie hergestellt zwischen Betrachter bzw. Panther als Subjekt und Panther als Objekt einer Betrachtung bzw. Betrachter als Teil der Welt (und damit als Teil der Betrachtung des Panthers). Von Anfang an also liegt es nahe, im Menschen den Panther und im Panther den Menschen zu sehen. Sind beide auch durch die Gitterstäbe voneinander getrennt, in ihrer Situation und ihrer Perspektivität gleichen sie sich. Dass dieses dialogische Prinzip einer Kommunikation zwischen Beobachter und Beobachtetem, bei der nach und nach unklar wird, wer eigentlich wen ansieht, nicht zufällig zustande kommt, belegen die Verweise auf die Philosophie Schopenhauers, die das Gedicht prägen. Von den Kernbegriffen des Titels Die Welt als Wille und Vorstellung wird – sogar in der ‚korrekten‘ Reihenfolge – in jeder Strophe einer aufgegriffen: Die Welt ist, was für den Panther in der ersten Strophe hinter Gitterstäben verschwindet, auf das er also nur über seine Wahrnehmung zugreifen kann. Der Wille bleibt trotz des Eingesperrt-Seins erhalten, ist also eine Triebkraft, die unkontrolliert aus dem Inneren des Erlebenden hervorbricht und nicht durch äußere Umstände beeinflusst wird. Und das Bild – als Synonym für ‚Vorstellung‘ – wird vermittelt durch die Pupille des sehenden Panthers, kommt also im Zugriff eines Subjekts auf seine Umwelt zustande. These des Gedichts ist somit die Ähnlichkeit zwischen Betrachter und Panther. Dies liegt den beiden folgenden Strophen zugrunde und bedingt die finale Verschmelzung der beiden Perspektiven. Die zweite Strophe führt den Betrachter immer näher an den Panther heran, indem sie dessen konzentrische Kreise schildert und den Betrachter auf das
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Zentrum des „große[n] Wille[ns]“ zulaufen lässt. Ist die Annäherung vollzogen, kann die dritte Strophe einen besonderen Augenblick darstellen: „der Vorhang der Pupille“ schiebt „sich lautlos auf“, das betäubte Wesen des Panthers wird für eine Sekunde unterbrochen. In diesem Moment erfolgt die Interaktion zwischen den Dialogpartnern. In einer Sekunde verwischen die Grenzen von Innen und Außen, von Beobachter und Beobachtetem, von Subjekt und Objekt. Beide treten in ein – freilich lautloses – Gespräch: Für einen Wimpernschlag, im Druckbild dargestellt durch die Gedankenstriche vor und nach dem Kommunikationsakt, fallen die Gitterstäbe zwischen Ich und Welt. Panther und Beobachter werden eins. Doch ein solcher Dialog mit der Welt, eine solche Entgrenzung ist nicht von Dauer: Sie „hört im Herzen auf zu sein“. Die Kommunikation ist ebenso rasch beendet, wie sie zustande kam.
I NVERTIERTER D IALOG Der Panther zeigt, wie die Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt zu einer augenblickshaften Verschmelzung führen kann. Wie sie eine Inversion von Subjekt und Objekt mit dauerhaften Folgen bewirkt, illustriert das Gedicht Archaïscher Torso Apollos, das den Band Der neuen Gedichte anderer Teil (1908) eröffnet:3
3
Zit. n. Rainer Maria Rilke: „Der neuen Gedichte anderer Teil“. In: Ders.: Gedichte 1895−1910 (wie Anm. 2), S. 511–586, hier S. 513. Auch hier ein Einblick in die Forschungsliteratur: Georg Braungart: „Prägnante Momente. Rainer Maria Rilkes ‚Archaischer Torso Apollos‘ und das Ende ästhetischer Beliebigkeit“. In: Dieter Heimböckel/Uwe Werlein (Hg.): Der Bildhunger der Literatur. Würzburg 2005, S. 229–236; Harald Fricke: „‚Du musst dein Leben ändern‘. Rilkes ‚Torso‘ und die Ästhetik der Individualität“. In: Sprachkunst 30 (1999), S. 11–28; Oliver Jahraus: „Die Provokation der ästhetischen Lebenserfahrung. Zu Rilkes ‚Archäischer Torso Apol-
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Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
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der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz
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und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
In seiner Schlüsselposition am Beginn des Gedichtbands korrespondiert das Gedicht mit dem Frühen Apollo, der die Neuen Gedichte einleitet. Schon die Anordnung weist also auf ein dialogisches Moment hin. Eine Vielzahl dialogischer Aspekte lässt sich aber auch textimmanent ausmachen. Besonders sticht die Sprechsituation ins Auge. Die scheinbar harmlose Beschreibung eines Kunstwerkes erhält dadurch Brisanz, dass sie an ein betrachtendes Du zurückgebunden wird. Da das Gedicht zudem mit „Wir“ eingeleitet wird, lassen sich die verschiedenen Dialogsituationen weiter aufschlüsseln: Ist das Wir kollek-
los‘“. In: Ders. (Hg.): Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie. Düsseldorf 2000, S. 159–163; Hans Körner: „Blickende Leiber, lebendige Farbe und die Krise der erotischen Kunst. Rilkes Sonett ‚Archäischer Torso Apollos‘ im Kontext“. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 43 (1998), S. 59–76; Uwe Spörl: „Rilkes poetische Bezugnahme auf die Antike“. In: Engel/Lamping (Hg.): Rilke (wie Anm. 1), S. 39–65.
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tiv gemeint, wird ein Dialog zwischen dem Sprecher und jedem potentiellen Rezipienten inszeniert; der Leser des Gedichts ist direkt angesprochen. Zumindest aber umfasst das Wir den Sprecher und das den Torso betrachtende Du, also die Gesprächspartner, aus deren Interaktion die Folgerungen des Gedichts entstehen. Bald jedoch tritt der Sprecher zurück und überlässt dem Torso die Gesprächsführung. Dessen Brust blendet den Betrachter; er ist es, der das Du mit allen seinen Elementen „sieht“; von ihm geht die Forderung an das Du aus. Anders als George und Hofmannsthal inszeniert Rilke seinen Dialog damit als einen, der sich nicht zwischen Individuen auf der Basis einer persönlichen Begegnung abspielt, sondern als Auseinandersetzung eines Betrachters mit einem Kunstwerk. Die Folgen dieser Auseinandersetzung lassen sich mit dem Begriff der sehenden Erkenntnis beschreiben, der im Gedicht vielfältig präsent ist. Auf das semantische Feld des ‚Schauens‘ macht zunächst der fehlende Kopf in Kombination mit dem „Aber“-Enjambement des zweiten Verses aufmerksam. Zwar sind die „Augenäpfel“, das Zentrum des Sehens, nicht mehr vorhanden. „Aber“ das, was das Sehen einst ausgelöst hat, zeitigt bis zum Moment der Betrachtung Folgen für den Torso: Er „glüht noch“, das Schauen ist nur suspendiert, „nur zurückgeschraubt“. Die Begründung für die merkwürdige Fähigkeit des Torsos zu Schau und (Selbst-)Erkenntnis wird im zweiten Abschnitt als Konsequenz verschiedener Beobachtungen erklärt. Ein Grund für das Potential des Torsos ist die Wirkung, die er auf den Betrachter ausübt, ein anderer das stille „Lächeln“, das er trotz des fehlenden Mundes aufzuweisen scheint. Es bezieht sich auf das archaische Lächeln der griechischen Statuen der vorklassischen Periode und kann als Zeichen dafür aufgefasst werden, dass der Torso in sich selbst ruht. Der dritte und der vierte Abschnitt führen diese Argumentation fort. Könnte man auf der Basis der Sonett-Form einen Bruch zwischen den Versen 8 und 9 erwarten, um von der These des ersten und der Antithese des zweiten Abschnitts zur Synthese der letzten Verse überzuleiten, ist bei Rilke der Bruch überspielt. Das „Sonst“ am Beginn des neunten Verses knüpft an den fünften an, das Blenden wird im Flim-
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mern aufgegriffen, den Argumenten des zweiten Abschnitts werden über eine vertiefte Betrachtung des Torsos, die sich allmählich nach unten bewegt, weitere hinzugefügt; schließlich wird im letzten Abschnitt auf das Schauen zurückverwiesen. Dieses ist nun, in Interaktion mit dem betrachtenden Du, so stark, dass es von allen Stellen des Torsos auszugehen scheint. Es sprengt das materiale Element des Steins und greift auf das Du aus: „Du mußt dein Leben ändern.“ Schritt für Schritt wird der Dialog über Form und Konsequenz des Schauens entwickelt. Die Schlussvolte aber und die Vorbereitungen, die zu ihr führen, haben nicht nur Konsequenzen für das betrachtende Du, sondern auch für das Wir des ersten Verses. Dieses bindet ein Kollektiv in das Geschehen ein, das nicht nur den Betrachter und einen oder mehrere mögliche Begleiter umfasst, sondern sich erweitern lässt auf die Zahl all derer, die beim Anblick des Kunstwerks (oder in einer vergleichbaren Situation) zu einem Akt der (Selbst-)Erkenntnis gelangen. Für den modernen Leser hat Rilkes Torso also dieselbe Funktion wie der Tempel in Delphi mit seiner Inschrift „Erkenne dich (selbst)“ für den Menschen der Antike. Erkenntnis aber ist (auch) ein poetischer Akt. Darauf macht der Archaïsche Torso Apollos nicht nur durch seine Schlüsselposition als Einleitungsgedicht aufmerksam, sondern auch durch den poetisch geschilderten Prozess. Dieser geht nicht zufällig von einem Kunstwerk aus – anders etwa, als es für Paul Celan zu zeigen ist, der ihn in der Begegnung mit einem oder mehreren Menschen verortet und daraus ein Konzept von Dialog und Dialogizität entwickelt. Bei Rilke handelt es sich um einen leblosen Stein, der in der Interaktion mit dem Betrachter zum Leben erwacht. (Selbst-)Erkenntnis wird als Folge der künstlerischen Auseinandersetzung eines Betrachters mit einem Kunstwerk beschrieben und ereignet sich im Akt der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung aber erfolgt – in platonischer Manier – über mehrere Stufen vermittelt, die sich in unterschiedlichen Formen von Medialität äußern. Indem das literarische Werk nicht einfach einen Erkenntnisprozess abbildet und damit sein mimetisches Potential ausspielt, sondern darüber hinaus das Bild einer Plastik, eines Kunstwerks
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entwirft, ist ihm eine Kraft eigen, die andere Kunstformen nicht auszeichnet. Das Gedicht kann damit – erstens – Wirklichkeit abbilden. Ein solches mimetisches Verständnis von Literatur und Realität aber wird von Rilke allenfalls zitiert. Zweitens ist eine Zwischenstufe der Abbildung von Wirklichkeit zu konstatieren: Der Torso als Kunstwerk stellt Realität dar, das Gedicht leistet dies als Darstellung der Darstellung. Dabei aber kann es – drittens – sehr viel genauer sein als jede Form der Mimesis. Dies veranschaulicht das Beispiel des Torsos, weil das Gedicht die fehlenden Körperteile ergänzt, ohne sie eigentlich zu beschreiben. Die Ergänzung findet im Kopf des Betrachters statt. Das ‚Defizit‘ der Kunst, die Unmöglichkeit, Realität originalgetreu abzubilden, wird über das größtmögliche denkbare Defizit des Abbildungsvorganges zu einer Stärke der Literatur umgewidmet. Ein literarischer Text kann nicht nur darstellen, was ist, und ergänzen, was fehlt, sondern sogar neu schaffen, was sein sollte. Der Dialog des Dichters mit dem Leser lässt diesem also die Autonomie, selbst über das zu entscheiden, was sein sollte, ja mehr: Er fordert ihn nachdrücklich auf, unmittelbar im Anschluss an die Lektüre denkend und handelnd tätig zu werden. Einen Prozess der Wahrnehmung poetisch zu schildern, der über mediale Vielfalt (und damit eine Form von Dialogizität) zu einem Ergebnis in der Realität führen kann, und dies zur Grundlage poetischen Schaffens zu machen, ist also das Postulat Rilkes für (seine) Dichtung. Funktionieren kann dies im Zusammenspiel mit einem Leser, der das Einleitungsgedicht entsprechend versteht und zum Dialog mit dem Dichter bereit ist.
S CHEITERNDER D IALOG
IM
T EXT
Was im Archaïschen Torso Apollos als gelingender Dialog und als Voraussetzung für die Rezeption von Dichtung entwickelt wird, ist in den Neuen Gedichten über einen scheiternden Dialog vorbereitet – ein Scheitern, das Rilke offenbar so sehr beschäftigt, dass er ihm fünfzehn
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Jahre später einen ganzen Zyklus widmet: die Sonette an Orpheus. Das Gedicht, in dem er den Orpheus-Stoff erstmalig aufgreift, steht kurz vor dem Ende der Neuen Gedichte und trägt den Titel Orpheus. Eurydike. Hermes. Wegen seiner Länge sei es in verschiedenen Abschnitten vorgestellt:4 Das war der Seelen wunderliches Bergwerk. Wie stille Silbererze gingen sie als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen, und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.
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Sonst war nichts Rotes. Felsen waren da und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres und jener große graue blinde Teich, der über seinem fernen Grunde hing
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wie Regenhimmel über einer Landschaft. Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut, erschien des einen Weges blasser Streifen, wie eine lange Bleiche hingelegt.
Der scheiternde Dialog, auf den das Gedicht zuläuft, ist im Titel und den ersten Versen angelegt: Eine Gesprächssituation scheint die Grundlage zu sein, doch gleich wird klargestellt, dass Rilke den Mythos im Blick auf den Abbruch der Kommunikation erzählt. Schon die kühne Metapher, den Raum der Begegnung als „Bergwerk“ der Seelen zu beschreiben, legt das Fundament dafür. Zwar gehen die drei Figuren gemeinsam durch das „Dunkel“ des Raumes, doch dass sie mit „Silbererze[n]“ und „Adern“ verglichen werden, zeigt, dass sie nicht miteinander in Interaktion treten. Ihre Wege sind getrennt. Dass Rilke die drei Figuren separat einführt, unterstützt diese These:
4
Jeweils zit. n. Rilke: „Neue Gedichte“ (wie Anm. 2), S. 500−503.
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Und dieses einen Weges kamen sie.
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Voran der schlanke Mann im blauen Mantel, der stumm und ungeduldig vor sich aussah. Ohne zu kauen fraß sein Schritt den Weg in großen Bissen; seine Hände hingen schwer und verschlossen aus dem Fall der Falten
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und wußten nicht mehr von der leichten Leier, die in die Linke eingewachsen war wie Rosenranken in den Ast des Ölbaums. Und seine Sinne waren wie entzweit: indes der Blick ihm wie ein Hund vorauslief,
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umkehrte, kam und immer wieder weit und wartend an der nächsten Wendung stand, – blieb sein Gehör wie ein Geruch zurück. Manchmal erschien es ihm als reichte es bis an das Gehen jener beiden andern,
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die folgen sollten diesen ganzen Aufstieg. Dann wieder wars nur seines Steigens Nachklang und seines Mantels Wind was hinter ihm war. Er aber sagte sich, sie kämen doch; sagte es laut und hörte sich verhallen.
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Sie kämen doch, nur wärens zwei die furchtbar leise gingen. Dürfte er sich einmal wenden (wäre das Zurückschaun nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes, das erst vollbracht wird), müßte er sie sehen,
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die beiden Leisen, die ihm schweigend nachgehn: Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft, die Reisehaube über hellen Augen, den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe und flügelschlagend an den Fußgelenken; und seiner linken Hand gegeben: sie.
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Die So-geliebte, daß aus einer Leier mehr Klage kam als je aus Klagefrauen; daß eine Welt aus Klage ward, in der alles noch einmal da war: Wald und Tal
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und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier; und daß um diese Klage-Welt, ganz so wie um die andre Erde, eine Sonne und ein gestirnter stiller Himmel ging, ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen – :
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Diese So-geliebte.
Die Zusammenführung mit der toten Eurydike, die Orpheus zu seinem Abstieg in die Unterwelt getrieben hat, ist zwar erfolgt, aber mit einer Bürde versehen: dem Verbot des Zurückschauens. So bleibt der Dialog in der Schwebe, er ist suspendiert. Der Verzicht auf den Dialog in der Gegenwart soll dazu führen, dass er in der Zukunft möglich ist. Die Zerrissenheit, die diese Situation – besonders für Orpheus – kennzeichnet, manifestiert sich im Vergessen der „leichten Leier“, in der Entzweiung seiner Sinne in einen vorauseilenden Blick und ein zurücklauschendes Gehör sowie in der Versuchung, sich umzuwenden, trotz des Wissens um „die Zersetzung dieses ganzen Werkes“ noch im Moment seines Entstehens, da es „erst vollbracht wird“. Während Orpheus also in seiner Zerrissenheit geschildert wird und damit den misslingenden Dialog vorwegnimmt, sind Hermes und Eurydike in enger Verbundenheit gezeigt, wenngleich sich diese ebenso schnell als Illusion entpuppt wie die Annahme des Orpheus, er könne Eurydike aus der Unterwelt retten: Sie aber ging an jenes Gottes Hand, den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern, unsicher, sanft und ohne Ungeduld. Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung, und dachte nicht des Mannes, der voranging, und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg.
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Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle. Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel
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so war sie voll von ihrem großen Tode, der also neu war, daß sie nichts begriff. Sie war in einem neuen Mädchentum und unberührbar; ihr Geschlecht war zu wie eine junge Blume gegen Abend,
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und ihre Hände waren der Vermählung so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes unendlich leise, leitende Berührung sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit. Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau,
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die in des Dichters Liedern manchmal anklang, nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland und jenes Mannes Eigentum nicht mehr. Sie war schon aufgelöst wie langes Haar und hingegeben wie gefallner Regen
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und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. Sie war schon Wurzel.
Anders als Orpheus, der der Welt der Lebenden angehört, und Hermes, der als Götterbote als Mittler zwischen der göttlichen und der menschlichen sowie der diesseitigen und der jenseitigen Sphäre fungieren kann, ist Eurydike ganz in die Unterwelt eingegangen. Eindrücklich veranschaulicht dies das Polysyndeton „Sie war“, das sechsmal wiederholt wird und in das Fazit mündet: „Sie war schon Wurzel“. Mit diesem Satz sind die unterschiedlichen Welten, in denen Orpheus und Eurydike sich bewegen, rigide festgelegt. Er, der mit dem emporstrebenden Ölbaum verglichen wird, steht den nach unten wachsenden Wurzeln, die seine Geliebte kennzeichnen, diametral entgegen.
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Damit verleiht Rilke dem Mythos eine neue Wendung: Er macht ihn zu einem Kommunikationsproblem. Dass Eurydike in der Unterwelt verbleibt und Orpheus nicht zurück ins Leben begleiten darf, ist keine Strafe für Ungehorsam, sondern Folge einer ausweglosen Situation, in der zwei Figuren, zwei Dialogpartner, zwei Prinzipien zusammengeführt werden sollen, die nicht (mehr) zusammengehören. Bezeichnenderweise empfindet nicht Orpheus Schmerz darüber, dass Eurydike in die Unterwelt zurückkehrt, sondern Hermes: Und als plötzlich jäh der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf die Worte sprach: Er hat sich umgewendet –,
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begriff sie nichts und sagte leise: Wer? Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang, stand irgend jemand, dessen Angesicht nicht zu erkennen war. Er stand und sah, wie auf dem Streifen eines Wiesenpfades
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mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen, die schon zurückging dieses selben Weges, den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern, unsicher, sanft und ohne Ungeduld.
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Hermes fühlt nicht nur den Schmerz über das Scheitern der Tat, er ist trotz seiner Rolle als „Gott der Botschaft“ zum Schweigen verdammt; der Dialog verstummt endgültig. Orpheus ist zu diesem Zeitpunkt aus dem Kommunikationsraum bereits entschwunden, er spielt für Eurydike keine Rolle mehr, da sie völlig in der Introspektion aufgeht. Selbst das deiktische, auf Orpheus verweisende „Er“, das Hermes zu ihr spricht, um ihr den Grund der Umkehr zu erklären, versteht sie nicht. Die von ihr verwundert gestellte Frage „Wer?“ ruft den gescheiterten Dialog in Erinnerung, indem sie auf das einzige andere kursiv gesetzte Wort des Gedichts verweist, auf das „sie“, das Orpheus zu sich spricht,
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als er über die Situation und die beiden Personen nachdenkt, die ihm folgen. Die zarte Wechselbeziehung, die zwischen der Frage „Wer?“ und der Aussage „sie“ durch das kursiv Druckbild besteht, verweist gleichermaßen auf das Potential des Dialogs, das zwischen den beiden Sprechern bestanden hat, wie auf die Unmöglichkeit, ihn unter den gegebenen Umständen zu führen. Während Orpheus, der Welt verhaftet, in Kategorien der Ordnung denkt, seinen Weg in ein Vorne und ein Hinten teilt, seine Zeitwahrnehmung in ein Vorher und ein Nachher gliedert und zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt unterscheidet – und über all dies zu einer dialogischen Kommunikation gelangt, in der ein sprechendes Subjekt von einem angesprochenen Objekt getrennt werden kann –, ist Eurydike in einem Zustand angekommen, der nicht nur von räumlichen und zeitlichen Maßstäben gelöst, sondern auch ganz auf das Subjekt beschränkt ist: „Sie war in sich“ und, so mag man ergänzen, sich selbst genug. Welche Konsequenzen sich aus diesem scheiternden Dialogversuch für Orpheus ergeben, nachdem er in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist, entwickelt Rilke fünfzehn Jahre später in seinen Sonetten an Orpheus. Im 13. Gedicht des zweiten Zyklus findet sich die Zeile „Sei immer tot in Eurydike“,5 die der Sprecher des Sonetts direkt an Orpheus richtet. Ein Dialog, eine Zusammenführung der Gegensätze ergibt sich auch zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch es gibt einen Vorschlag, der in einer Andeutung die Versöhnung der unterschiedlichen Prinzipien umfasst: Indem Orpheus als Lebender „tot in Eurydike“ ist, kann er trotz der fehlenden Dialogpartnerin für seinen dichterischen Gesang versuchen, die Präsenz der Geliebten zu beschwören. Er muss sie bei sich tragen, muss sie als einen Teil seiner Persönlichkeit in sich aufnehmen, muss mit ihr ebenso verschmelzen, wie es Beobachter und Beobachteter im Panther gezeigt haben.
5
Zit. n. Rainer Maria Rilke: „Die Sonette an Orpheus“. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 2: Gedichte 1910−1926. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main 1996, S. 237−272, hier S. 263.
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Unter dieser Voraussetzung erfolgt zwar kein realer Dialog, doch das Scheitern kann fruchtbar gemacht werden: für die Antizipation einer Erfahrung, die die andere Hälfte des Ich bereits vollzogen hat. Entsprechend fährt das Gedicht fort: „Sei – und wisse zugleich des Nichtseins Bedingung“. Hier zeigt sich die Vereinigung der Gegensätze, die zuvor das Scheitern des Dialogs bedingt hatte – ein Scheitern, das nun zu einem scheinbaren wird.
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Im Anschluss an die Untersuchungen zu den dialogischen Elementen in Rilkes Lyrik soll nun der Bogen zu einem biographischen Ereignis in Rilkes Leben gespannt werden, das nicht nur ebenfalls als ‚dialogisch‘ bezeichnet werden kann, sondern sich auch in einer Reihe von Texten als Dialog niederschlägt: seine Liebesbeziehung zu der 14 Jahre älteren Lou Andreas-Salomé.6 Die beiden lernen sich im Frühjahr 1897 in München kennen. Von einem Freund war Rilke zuvor auf Andreas-Salomés Essay Jesus der Jude aufmerksam gemacht worden; dieser hatte in ihm den Wunsch geweckt, die Verfasserin persönlich zu treffen.7 Andreas-Salomé ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine bekannte Dame in intellektuellen Kreisen; sie hat einige Zeit mit Friedrich Nietzsche und Paul Ree in Rom
6
Über Andreas-Salomé sind eine Reihe von Biographien verfasst worden, auch ihr Verhältnis zu Rilke war Thema der Forschung. Vgl. einführend Joachim W. Storck: „Leben und Persönlichkeit“. In: Engel (Hg.): RilkeHandbuch (wie Anm. 1), S. 1−25. Eher populär orientiert ist die Biographie von Irmgard Hülsemann: Lou. Das Leben der Lou Andreas-Salomé. München 1998.
7
Vgl. Rilkes Brief an Andreas-Salomé vom 13. Mai 1897 in: Rainer Maria Rilke/Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main 1975, S. 7.
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verbracht und 1887 den Berliner Orientalisten Friedrich Carl Andreas geheiratet – angeblich erst, nachdem er vor ihren Augen mit Selbstmord gedroht hatte, falls sie ihn nicht zum Mann nehme, und unter der Bedingung, dass die Ehe nie vollzogen werde. Als sie Rilke kennenlernt, ist sie also nicht nur eine der schillerndsten Intellektuellen des Landes, sondern auch zu gleichen Teilen gebunden wie frei. Ihre Liebe zu Rilke bleibt auf wenige Momente des Glücks in den folgenden vier Jahren beschränkt. Zu diesen zählt der Sommer des Jahres ihrer ersten Begegnung, den sie gemeinsam mit ihrer Freundin Frieda von Bülow in Wolfratshausen, im Süden von München, verbringt. Rilke begleitet die beiden. Schon kurz vor der Abreise schreibt er an Andreas-Salomé:8 Mein klarer Quell. Durch Dich will ich die Welt sehen; denn dann seh ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich! Mein Festtag bist Du. Und wenn ich im Traum zu Dir geh’, trag’ ich immer Blumen im Haar.
Sie verbringen unbeschwerte Wochen auf dem Lande, ehe Andreas-Salomé im September zurück in die Stadt zieht. Rilke bleibt noch einige Tage und schreibt ihr: „[Mein Tag] ist arm, denn Du bist ihm fern; er ist reich, denn Deine Güte liegt leuchtend über seinen Dingen.“9 Im Juli 1898 zieht Rilke nach Berlin, wo Andreas-Salomé mit ihrem Mann wohnt. Sie treffen sich häufig; dabei gewinnt Rilkes dichterisches Werk rasch an Umfang. Besonders bedeutend für Rilkes weiteres Leben sind die beiden Reisen nach Russland, die er mit Andreas-Salomé im Frühjahr 1899 und im Sommer 1900 unternimmt. Gemeinsam treffen sie den alten Leo Tolstoi in Moskau; Rilke liest russische Autoren, lernt die Sprache und knüpft Kontakte zur dortigen Künstlerszene.10 Die zweite Reise bedeutet für ihn Erfüllung und Vollendung zugleich.
8
Ebd., S. 17.
9
Ebd., S. 25.
10 Zu Details vgl. Storck: „Leben und Persönlichkeit“ (wie Anm. 6), S. 3f.
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Sein lyrischer Stil gelangt in den Monaten dort zu einer Präzision, die ihm das Stunden-Buch und das Buch der Bilder zu schreiben erlaubt. Seine Beziehung zu Andreas-Salomé erreicht eine Vertrautheit, wie sie zuvor nur in ihrem ersten Sommer zu spüren war. Zugleich aber ist beiden bewusst, dass eine Veränderung ansteht. Nach der Rückkehr hält Rilke am 27. September in seinem Tagebuch fest:11 Die russische Reise mit ihren täglichen Verlusten ist mir ein so unendlich banger Beweis meiner unreifen Augen, die nicht zu empfangen, nicht zu halten und auch loszulassen nicht verstehen, die, mit quälenden Bildern beladen an Schönheiten vorübergehen und zu Enttäuschungen hin.
Andreas-Salomé notiert zum Jahreswechsel den Wunsch: „[W]as ich brauche, ist fast nur Stille, – mehr Alleinsein, so wie es bis vor vier Jahren war“.12 Dieses Bedürfnis wird in den kommenden Wochen immer stärker. Am 26. Februar trennt sie sich von Rilke. In einem Brief mit dem programmatisch-dramatischen Titel Letzter Zuruf führt sie dies auf den Umstand zurück, dass sie,13 trotz unseres Altersunterschiedes, seit Wolfratshausen immer noch wachsen mußte, – weiter und weiter wachsen, bis in das hinein, was ich Dir beim Abschied so froh erzählte, – ja, so seltsam es klingt: b i s i n m e i n e J u g e n d h i n e i n ! denn erst jetzt bin ich jung, erst jetzt darf ich sein, was Andere mit 18 Jahren werden: ganz ich selbst. Darum verlor Deine Gestalt, – in Wolfrathshausen [!] noch so lieb und deutlich dicht vor mir, – sich mir mehr und mehr wie ein Einzeltheilchen in einer Gesammtlandschaft […], und die kleine Hütte darin war nicht die Deine.
Für Rilke bricht trotz seiner Ahnungen eine Welt zusammen. Kurz nachdem er den Brief erhalten hat, verfasst er drei Gedichte auf die
11 Zit. n. Rilke/Andreas-Salomé: Briefwechsel (wie Anm. 7), S. 46. 12 Ebd., S. 49. 13 Ebd., S. 54.
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neue Situation. Das erste beginnt mit den Zeilen „Ich steh im Finstern und wie erblindet“,14 das dritte zieht eine Bilanz der Beziehung:15 Warst mir die mütterlichste der Frauen,
15
ein Freund warst Du wie Männer sind, ein Weib so warst du anzuschauen, und öfter noch warst Du ein Kind. Du warst das Zarteste, das mir begegnet, das Härteste warst Du, damit ich rang.
20
Du warst das Hohe, das mich gesegnet – und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.
Welche Empfindungen diesen Worten zugrunde liegen, ist Spekulation. Festzuhalten aber ist, dass für Rilke die Beziehung zu Andreas-Salomé bis zum Schluss eine zutiefst poetische ist, die seinen lyrischen Stil über Jahre prägt. Es ist die biographische Gegebenheit, die ihn zum Schreiben drängt, zunächst im Hymnisch-Positiven, dann auch in der Rückschau auf das Erlebte. Stets sind die Gedichte ein Dialog mit der Adressatin, ein konkreter, da sie ihr brieflich zugehen, aber auch ein literarischer, da sie Ich und Du als konstitutive Elemente der Poesie begreifen. Kaum irgendwo wird das so deutlich wie in Rilkes Abschiedsgedicht, das das Du als bestimmendes Element des Ich fasst und den Anderen als Antrieb entwirft, ohne den das Ich nicht bestehen, ja nicht einmal entstehen kann. In der Gegensätzlichkeit, die das Gedicht in seinen zu Paaren geordneten Versen prägt, kommt dieses Moment des Dialogs zusätzlich zum Ausdruck: Das angesprochene Du verbindet die Eigenschaften von Mutter und Freund, von Mann und Frau, von Erotik und Unschuld, von Zartheit und Entschlossenheit, von Höhe und Erniedrigung, von Segen und Fluch. Eine solche Verbindung der Gegensätze beruht auf
14 Ebd., S. 55. 15 Ebd., S. 55f.
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der Annahme, dass ein Dialog möglich ist, zumindest einer des Sprechers mit sich selbst, mittelbar aber auch mit der Angesprochenen. Auch wenn der biographische Dialog mit Lou Andreas-Salomé an ein Ende kommt, zieht Rilke aus ihm die Konsequenz, dass Dichtung als Gespräch konzipiert ist – und dass dieses Gespräch oft eines der Liebe ist. Beides prägt seine Dichtung fortan, wenn etwa die Duineser Elegien gleich im ersten Vers der ersten Elegie die Frage eines (potentiell scheiternden) Dialogs thematisieren: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“16 Auch die Sonette an Orpheus kreisen um das Motiv des versuchten Dialogs zwischen Dichter und Geliebter und nehmen damit das Bild wieder auf, das Orpheus. Eurydike. Hermes programmatisch entworfen hatte. Nur zwei Monate nach der Trennung von Andreas-Salomé, am 28. April 1901, heiratet Rilke in Bremen die Bildhauerin Clara Westhoff. Wenngleich sie im Dezember eine Tochter bekommen, steht die Ehe unter keinem guten Stern. Schon im August 1902 geht Rilke nach Paris, zunächst zusammen mit Clara, später bleibt er dort, während sie nach Deutschland zurückkehrt. Auf Reisen nach Italien, Schweden, Dresden, erneut nach Italien und Prag begleitet sie ihn nicht. Doch die scheiternde Ehe mit Clara soll hier nicht Thema sein, stattdessen abschließend die Begegnung Rilkes mit Auguste Rodin. Nachdem Rilke den Bildhauer bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Paris kennengelernt hat und von dessen Arbeitsweise beeindruckt war, lädt Rodin ihn ein, nach seiner Rückkehr in einem Gartenhaus neben seiner Villa zu wohnen und als sein Privatsekretär zu arbeiten. Die Position in unmittelbarer Nähe zu dem bildenden Künstler gibt Rilke entscheidende Impulse für seine Dichtung.17 Obwohl es vergleichsweise rasch zum Bruch mit Rodin kommt – im Mai 1906 zieht Rilke aus und nimmt sich eine eigene Wohnung in Paris –, ist der Einfluss, den der Bildhauer in einem guten halben Jahr auf den Dichter ausgeübt hat,
16 Zit. n. Rainer Maria Rilke: „Duineser Elegien“. In: Ders.: Gedichte 1910−1926 (wie Anm. 5), S. 199−234, hier S. 201. 17 Vgl. Storck: „Leben und Persönlichkeit“ (wie Anm. 6), S. 7.
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von ähnlicher Relevanz wie der der Liebesbeziehung zu Lou AndreasSalomé. Hat Rilke sich zuvor der lyrischen Sprache angenähert und im literarischen Dialog mit seiner Geliebten das Prinzip des Gerichtetseins von Dichtung entwickelt, so schärft der Kontakt mit der Kunst nun seinen Blick auf die Dinge. Wie stark die zwei Bände der Neuen Gedichte hiervon geprägt sind, zeigt nicht nur die Funktion der beiden Apollo-Texte jeweils am Beginn, sondern auch die Widmung des zweiten Bandes: „À mon grand ami Auguste Rodin“. Hier – und bei Lou Andreas-Salomé – hat Rilkes dichterischer Dialog seine Wurzeln.18
18 Ein spätes Aufleben des Dialogischen zeigt Rilkes brieflicher Kontakt zu Erika Mitterer. Vgl. dazu Katrin Kohl: „Dialogische Verwandlungen. Der poetische Briefwechsel zwischen Erika Mitterer und Rainer Maria Rilke“. In: Karen Leeder/Robert Vilain (Hg.): Nach Duino. Studien zu Rainer Maria Rilkes späten Gedichten. Göttingen 2010, S. 70–92.
„Ich bin dein Wegrand“ Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn
Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler lernen einander 1912 in Berlin kennen. Lasker-Schüler ist mit Herwarth Walden verheiratet, dem Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm. Es ist ihre zweite Ehe nach der mit dem Arzt Berthold Lasker, von dem sie sich 1903 hat scheiden lassen. Seit 1901 hat sie mehrere Gedichtbände veröffentlicht; mit Beiträgen im Sturm beeinflusst sie maßgeblich die Entstehung des Expressionismus. Auch die Ehe mit Walden wird geschieden; die folgende Zeit ist durch ständige finanzielle Not geprägt. In dieser Situation trifft sie Gottfried Benn. Dieser, eines von acht Kindern eines protestantischen Pfarrers, hat auf Wunsch des Vaters zunächst Theologie und Philosophie studiert, ehe er 1905 an der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin ein Studium der Medizin beginnt. 1912 zum Dr. med. promoviert, ist er kurzzeitig als Militärarzt tätig, dann Assistenzarzt an verschiedenen Kliniken in Berlin. Im selben Jahr wird er als Lyriker bekannt, durch ein Flugblatt mit dem Titel Morgue, das neun Gedichte enthält, die seine Erfahrungen als Arzt aufgreifen und mit poetischer Schärfe überformen.1
1
Zu Lasker-Schüler vgl. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie. Frankfurt am Main 2006; Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Karlsruhe 1985. Zu Benn vgl. Hans Egon Holthusen: Gottfried Benn. Leben,
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Wie zwischen George und Hofmannsthal entspinnt sich zwischen Lasker-Schüler und Benn in kurzer Zeit eine (Liebes-)Beziehung, die die Lyrik der beiden in den folgenden Jahren prägt.2 Relevant ist Benn für den Dialog der Dichter aber auch deswegen, weil er sich vehement gegen ein dialogisches Moment von Dichtung ausspricht und dies nicht nur in seinen lyrischen Werken zum Ausdruck bringt, sondern auch in einer theoretischen Stellungnahme unterstreicht.
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Der Dialog der Liebe zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn lässt sich an Texten aus zwei Phasen nachzeichnen: anhand der Gedichte, die im Kontext der Begegnung in den Jahren 1912/13 entstehen, und anhand der Rede, die Benn sieben Jahre nach dem Tod Lasker-Schülers im Jahre 1952 auf diese hält. Dort fällt der in Publikationen zu Lasker-Schüler bald als Mantra zitierte Satz:3
Werk, Widerspruch. 1886−1922. Stuttgart 1986; Werner Rübe: Provoziertes Leben. Gottfried Benn. Stuttgart 1993. 2
Vgl. Dieter Burdorf: „Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn. Ein Gespräch in Gedichten als ‚Liebender Streit‘“. In: Ders. (Hg.): Liebender Streit. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn. Iserlohn 2002, S. 7–14; Jiang Aihong: „‚Meine Träume fallen in die Welt‘. Else Lasker-Schülers Widmungsgedichte für Gottfried Benn“. In: Literaturstraße. Chinesischdeutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur 6 (2005), S. 227– 237; Jakob Hessing: „Momentaufnahmen. Gottfried Benn und Else LaskerSchüler“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Gottfried Benn. München 2006, S. 139–148; Helma Sanders-Brahms: Gottfried Benn und Else LaskerSchüler. Giselheer und Prinz Jussuf. Berlin 1997.
3
Zit. n. Gottfried Benn: „Else Lasker-Schüler“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 6: Prosa 4. Hg. v. Gerhard Schuster u. Holger Hof. Stuttgart 2001, S. 54–57, hier S. 55.
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[Else Lasker-Schüler] war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. […] Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen.
Wie kommt es zu einem solch hymnischen Lobpreis vierzig Jahre nach der Begegnung – und zu welchem Grade verdankt sie sich Benns politisch-ästhetischem Kalkül? Schließlich ist Benn zu diesem Zeitpunkt – sieben Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, die er zu Beginn begrüßt hatte – möglicherweise nicht undankbar über seine biographische Nähe zu einer jüdischen Dichterin.4 Der Versuch einer Antwort sei mit dem Blick auf einige Gedichte begonnen, die sich der Beziehung verdanken. Einer der einschlägigen Texte von Benn – Mann (Strand am Meer) – ist nicht nur insofern als Dialog konzipiert, als er sich an Lasker-Schüler als Rezipientin richtet, er ist auch allgemein ein Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Das erste Paar von Rede und Antwort lautet:5 Mann: Nun aber ist dies alles festgefügt, Geschlossen wie ein Stein und unentrinnbar: Du und ich. Es stösst mich nieder und ich schlage
5
Mich an mir selber wund,
4
Das Maß der Verstrickung Benns in nationalsozialistische Aktivitäten und der Grad seiner Überzeugung sollen hier nicht Thema sein. Für eine kritische Stellungnahme vgl. Hessing: „Momentaufnahmen“ (wie Anm. 2), differenzierter Albrecht Schöne: „Gottfried Benn?“ In: Ders.: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur. Hg. v. Ulrich Joost, Jürgen Stenzel u. Ernst-Peter Wieckenberg. München 2005, S. 299–310.
5
Hier und im Folgenden zit. n. Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 2: Gedichte 2. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1986, S. 14−16.
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Wenn ich an dich nur denke. […] Es gäbe Eines nur, dies zu vergelten, Das Frieden brächte. Dass ich jetzt dich frage: Liebst du mich?
15
Frau: Ja, ich will an dir vergehn. Greif meine Haare, küsse meine Knie. Du sollst die braune Hand des Gärtners sein Im Herbst, die all die warmen Früchte fühlt.
20
Sehr konkret setzt der Dialog ein mit dem Wunsch nach einer ‚Definition‘ der Beziehung: „du und ich“ sind zwar „geschlossen wie ein Stein“, doch scheint dem Mann das Ausmaß der Bindung unklar zu sein. Mit dem Dialogizitätskonzept von Bachtin kann der Wunsch des Mannes nach liebender Vereinigung mit der Figur des ästhetischen Vollendens beschrieben werden: In der Liebe – wie auch als Sprecher (oder Dichter) – scheint sich der Mann eines Defizits bewusst zu sein, das er durch ein anderes Subjekt beseitigen kann. Der Wechsel seines Blickpunkts in die Perspektive des bzw. der Anderen führt dazu, dass er sich selbst vollständig wahrnimmt; erst durch den Blick von außen wird er selbst vollendet. Da sich dieses Oszillieren auf verschiedenen Ebenen des Gedichts abspielt, kann man von einem dialogischen Text sprechen. Ebenso wie der sprechende Mann die ästhetische Vollendung durch die antwortende Frau wünscht, erbittet der dichtende Benn eine lyrische Antwort durch Lasker-Schüler – und der biographisch-erlebende Benn möglicherweise eine reale Antwort, wie sie in derjenigen der Frau im Text vorgezeichnet ist. Diese geht auf das Werben des Mannes ein, gibt sich ihm hin und ermöglicht ihm so, zu sich selbst zu finden. Eindeutig erotische Züge nimmt dies in einem späteren Abschnitt des Dialogs an, den die Frau spricht:
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− In langen Lauten singt das Licht An mir entlang. O Sonne, Du Rosenmutter – komm, du, wir wollen nieder Auf diesen warm vom Meer besamten Strand
50
(sinkt hin).
Doch schon im folgenden Abschnitt wird das Problem deutlich, das die Beziehung bestimmt. Der Mann als letzter Sprecher des Dialogs gibt sich nach ihrer überschwänglichen Antwort nicht dem Liebesangebot der Frau hin, sondern antwortet ihr mit weiteren Fragen: Was soll behaarte Brust, behaarte Schenkel Auf Haut voll Schweiss und Talg, blutflüssigem Schoss? Was hat das denn mit dir und mir zu tun?
55
Was liegst du nun im Sand, du weisses Fleisch, Was rinnst du nicht und sickerst in das Meer? Was kommen keine Vögel über dich Wie über anderes Fleisch? Halt deine Falten still!
60
Heimkehr! Nun grüss ich euch, zerfressene Steine, Und dich, mein Blut, von Leichen aller Meere Beworfen, du zerklüftet Gelände ohne Frucht, das taumelnd Am Rand der Erde steht.
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Nun wird offenbar, dass der Dialog durch ein Missverständnis gekennzeichnet ist. Während der Mann auf ästhetische Vollendung abzielt, beschränkt die Frau die Begegnung auf die körperliche Ebene. Nur so ist zu erklären, weswegen sie auf die Bitte des Mannes, ihm zu sagen, ob sie ihn liebe, mit den Worten „ich will an dir vergehn“ antwortet, die auf die petite mort verweisen, den ‚kleinen Tod‘ des Orgasmus. Die sexualisierte Wahrnehmung behält die Frau bis zum Ende des Dialogs bei. Auch scheinbar nicht erotisch semantisierte Dinge wie der
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Raum, in dem sich der Dialog abspielt, bekommen in ihrer Perspektive eine sexuelle Konnotation: Der Strand sei „vom Meer besamt“. Gegen diese Sichtweise wendet sich der Schlussmonolog des Mannes. Sein Ziel ist keine körperliche Vereinigung; diese wird in den drastischen Bildern der ersten rhetorischen Frage zurückgewiesen. Nicht Sinnesfreuden wünscht er sich, sondern etwas, das er als „Heimkehr“ beschreibt und das ebenfalls im Sinne Bachtins verstanden werden kann. Eine Heimkehr ist erforderlich, weil das Ich das Du zur ästhetischen Vollendung benötigt. Erst wenn beide „geschlossen wie ein Stein“ sind, kann das Ich zum vollwertigen Subjekt werden. Durch die fehldeutende Rezeption des Du, die das Ansinnen des Ich auf die sexuelle Ebene reduziert, ist der Stein nicht geschlossen, sondern „zerfressen[]“. Die Frucht der Liebe, die das Du beschworen hatte, kann in einem solch zerklüfteten Gelände nicht existieren; stattdessen schließt das Gedicht mit dem Bild des Taumelnden, der „am Rand der Erde steht“, schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert. Liest man den Dialog der Liebe, den Benn in Mann (Strand am Meer) entwickelt, in der Abfolge der einzelnen Argumentationsschritte, ist vorweggenommen, was später nicht nur seine Theorie des Monologs, sondern auch die lyrischen Antworten Lasker-Schülers bestätigen: Ein tatsächlicher Dialog, ein Verstehen durch das Gegenüber, wie der Mann es sich wünscht, ist nicht möglich; stattdessen reden beide Sprecher so sehr aneinander vorbei, dass der Mann am Ende verzweifelter scheint als am Anfang. Eine solche Verzweiflung ob des Scheiterns des Dialogs von Liebenden beschreibt auch das Gedicht Hinter Bäumen berg ich mich von Lasker-Schüler, das in einem Zyklus von 17 Gedichten erscheint, der Benns Namen trägt:6
6
Zit. n. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 1.1: Gedichte. Hg. v. Norbert Oellers, Heinz Rölleke u. Itta Shedletzky. Frankfurt am Main 1996, S. 151f.
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Hinter Bäumen berg ich mich – Bis meine Augen Ausgeregnet haben. Und halte sie tief verschlossen, Daß niemand dein Bild schaut.
5
Ich schlang meine Arme um dich Wie Gerank; Bin doch mit dir verwachsen, Warum reißt du mich von dir? Ich schenkte dir die Levkoje
10
Meines Leibes, Alle meine Schmetterlinge scheuchte ich In deinen Garten. Immer ging ich durch Granaten, Sah durch mein Blut
15
Die Welt überall brennen Vor Liebe. Schlage mit der Stirn nun Meine Tempelwände düster. Du falscher Gaukler, Du spanntest ein loses Seil. Wie kalt nun alle Grüße sind. Mein Herz liegt bloß,
20
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Mein rot Fahrzeug Pocht grausig;
25
Bin immer auf See O, ich fühl, ich lande nie.
Anders als durch das männliche Ich bei Benn, das vorsichtig um eine ‚Definition‘ der Beziehung zum weiblichen Du bittet und das Verhältnis eher als geistige Verbindung denn als sexuelle Interaktion fassen möchte, wird hier die Situation nach einer Beziehung geschildert. An die Stelle des „geschlossenen Steins“, der bei Benn die Verbindung der beiden Liebenden symbolisiert, tritt das Bild der Ranke, die sich um das Du windet und mit ihm verwachsen ist. Das Geschehen ist das gleiche: So wie sich der Stein als zerfressen und zerklüftet erweist und damit der Festigkeit entbehrt, die ihn zum Symbol der Liebe macht, wird das Bild der Ranke zerstört, indem das Du, um das sich die Ranke windet, sich dieser brutal entledigt. Die Konsequenzen zeugen von der misslingenden Kommunikation. Das Ich verbirgt sich im Wald; es hält seine Augen geschlossen; es bezichtigt das Du des Betrugs und der Täuschung; es sieht sich alleine auf dem Meer, ohne Hoffnung, an Land zu kommen. All dies sind Momente, die mit der fehlenden Akzeptanz des Ich durch den Dialogpartner begründet werden können. Der Wunsch, sich mit ihm im Gespräch zu treffen und dieses biographisch wie intertextuell zu einem Fundament der Liebe zu machen, hat sich nicht bestätigt. So rasch, wie die Beziehung zwischen Lasker-Schüler und Benn begonnen hat, endet sie knapp ein Jahr später. Zwar versucht LaskerSchüler ein letztes Mal, Benn für sich zu gewinnen, indem sie ihm eine Möglichkeit aufzeigt, die Beziehung zu leben, doch auch dieses Angebot weist er zurück. Beides spielt sich erneut in poetischen Texten ab. Lasker-Schüler beginnt mit dem Imperativ Höre!:7
7
Zit. n. Lasker-Schüler: Gedichte (wie Anm. 6), S. 172f.
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Ich raube in den Nächten Die Rosen deines Mundes, Daß keine Weibin Trinken findet. Die dich umarmt, Stiehlt mir von meinen Schauern,
5
Die ich um deine Glieder malte. Ich bin dein Wegrand. Die dich streift, Stürzt ab. Fühlst du mein Lebtum
10
Überall Wie ferner Saum?
Hier ist die Stimmung eine andere als in Hinter Bäumen. Als dort das Ich das Scheitern des Dialogs konstatiert, ist seine Reaktion durch Resignation gekennzeichnet. Hier geht es einen Schritt weiter: An die Stelle von Melancholie und Verstummen tritt die Konfrontation. Der Ton des Gedichts, der durch den Imperativ des Titels vorgegeben wird, ist selbstbewusst und dominant. Das „Ich“, mit dem der erste und der dritte Abschnitt beginnen, trägt zu dieser Stärke bei. Anders als in Hinter Bäumen kennt es seine Rolle in Bezug auf das Du sehr genau, es ist sein Liebespartner, der von Eifersucht gequält wird, und seine Stütze, sein „Wegrand“ für eine Rast auf dem Weg des Lebens. War zuvor monologische Einsamkeit das Mittel der Wahl, um die Situation der sterbenden Liebe zu bewältigen, wird hier der Dialog aufgegriffen: fordernd, drängend. Das Ich kennt seinen Ort, es weiß, was es für das Du sein kann und möchte, und schließt mit einer Frage, die keine eigentliche Frage, sondern – wie der Titel Höre! suggeriert – ein Befehl ist. „Fühlst du mein Lebtum?“ heißt auch: „Fühle mein Lebtum!“ Zu dieser selbstbewussten Entscheidung kommt das Ich nach der Phase der Reflexion und der Einsamkeit.
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Benn tritt in den Dialog ein, doch nicht mit der erwünschten Reaktion, sondern einer brutalen Zurückweisung in Hier ist kein Trost:8 Keiner wird mein Wegrand sein. Laß deine Blüten nur verblühen. Mein Weg flutet und geht allein. Zwei Hände sind eine zu kleine Schale. Ein Herz ist ein zu kleiner Hügel,
5
um dran zu ruhn. Du, ich lebe immer am Strand und unter dem Blütenfall des Meeres, Ägypten liegt vor meinem Herzen, Asien dämmert auf.
10
Mein einer Arm liegt immer im Feuer. Mein Blut ist Asche. Ich schluchze immer vorbei an Brüsten und Gebeinen den tyrrhenischen Inseln zu: Dämmert ein Tal mit weißen Pappeln
15
ein Ilyssos mit Wiesenufern Eden und Adam und eine Erde aus Nihilismus und Musik.
Das Gedicht ist drastisch. Schon der Titel Hier ist kein Trost gibt vor, worum es geht: um einen Schlag ins Gesicht derjenigen, die Benn trotz ihrer Verzweiflung angeboten hatte, sein „Wegrand“ zu sein. Schon die erste Zeile greift die Metapher auf, um ihre Wirkungslosigkeit zu betonen: Das Ich wird keinen „Wegrand“ benötigen, es geht seinen Weg alleine. Das Sich-Einlassen auf einen anderen Menschen weist der zweite Abschnitt zurück. An die Stelle der Zweisamkeit auf klei-
8
Zit. n. Benn: Gedichte 2 (wie Anm. 5), S. 32.
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nem Raum, die Lasker-Schüler vorgeschlagen hatte, setzt Benn ein umfassendes Konzept der Welterfahrung. Der Horizont, in dem sich das Ich bewegt, umfasst Ägypten und Asien, Italien und Griechenland, er erstreckt sich bis zum Paradies. Damit greift er nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich in Dimensionen aus, die die einfache Beziehung zu einem Du nicht bieten kann. Die paradoxen Bilder des dritten, vierten und fünften Abschnitts # unterstreichen dies. Das Ich lebt „immer am Strand“, zugleich aber auch „unter dem Blütenfall des Meeres“; während sein einer Arm „immer im Feuer“ liegt, ist sein Blut „Asche“; „Eden und Adam“ ist kein Widerspruch, sondern eine Konstante; die Erde ist geprägt von „Nihilismus und Musik“. All dies deutet darauf hin, dass eine einfache Ich-Du-Beziehung dem evozierten kosmischen Anspruch nicht gerecht werden kann. Indem Benn ein Konzept des All-Umfassenden entwirft, das auf Kommunikation und Dialog verzichtet, nimmt er Teile der monologischen Lyriktheorie vorweg, die er später entwickelt. Das letzte Gedicht hingegen, das Lasker-Schüler dem an Benn gerichteten Zyklus zuweist, trägt den Titel „O ich möcht aus der Welt!“.9 In Bezug auf das, was sie sich von Benn erhofft hatte, scheint sie resigniert zu haben.
M ONOLOGISCHE L YRIK Was sich in dem scheiternden Dialog zwischen Lasker-Schüler und Benn andeutet, wird poetologisches Prinzip von Benns Lyrik und schließlich Fundament seiner Lyriktheorie. Eine entscheidende Station auf diesem Weg ist das Gedicht Einsamer nie –:10
9
Zit. n. Lasker-Schüler: Gedichte (wie Anm. 6), S. 190.
10 Zit. n. Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1986, S. 135.
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Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde – im Gelände die roten und die goldenen Brände doch wo ist deiner Gärten Lust? Die Seen hell, die Himmel weich,
5
die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich? Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
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im Weingeruch, im Rausch der Dinge –: dienst du dem Gegenglück, dem Geist.
Das ‚Motto‘ des Gedichts bildet die Überschrift, die eine maximale Steigerung von Einsamkeit in zwei Worten und einem Gedankenstrich zusammenfasst: „Einsamer nie –“ heißt nicht nur, dass das sprechende Subjekt diese Einsamkeit erlebt, sondern auch, dass der Leser sie in der Pause am Ende der Überschrift in der Lektüre performativ mitvollzieht. Woraus aber entsteht die Einsamkeit und worauf läuft sie zu? Es fällt die Gliederung in zwei gegensätzliche Sphären auf. In den ersten beiden Strophen werden beschreibende Passagen jeweils mit „doch“ eingeleiteten Fragen gegenübergestellt. Unterstrichen ist dies durch das Du, das im letzten Vers der Strophen jeweils in einer unterschiedlichen Flexionsform erscheint. In der dritten Strophe bleibt die antithetische Struktur mit leichten Modifikationen erhalten. Der Kontrast zwischen den allgemein-beschreibenden Abschnitten der ersten Verse und dem persönlich-appellativen Du des letzten wird fortgeführt, diesmal allerdings nicht in Form einer Frage, sondern als Feststellung. Über den Doppelpunkt davor, der mit demjenigen am Ende des ersten Verses korrespondiert, wird ein Bogen gespannt zwischen Anfang und Ende des Gedichts. Erster und letzter Vers sind wie These und Argument aufeinander bezogen:
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Einsamer nie als im August: […] dienst du dem Gegenglück, dem Geist.
Zu Beginn wird der Einsamkeit des Subjekts die „Erfüllungsstunde“ gegenübergestellt, die der August für andere bedeutet. Wie dieser Kontrast betont wird, zeigt der Gedankenstrich nach „Erfüllungsstunde –“, der auf das Paradoxon zwischen „Einsamkeit“ und „Erfüllungsstunde“ verweist. Sodann wird ein Gegensatz zwischen der in voller Blüte stehenden Natur und den „Gärten“ des Du geschaffen. Er entsteht durch die ‚Gefährdung‘ der Gärten, deren „Lust“ – anders als die der wuchernden Natur – anscheinend nicht (länger) selbstverständlich ist. Das eingehegte Element des Gartens – im Unterschied zu den unkontrollierbaren „Brände[n]“ der Natur – unterstreicht dies. In der zweiten Strophe wird die Antithese gesteigert, indem sie von der ursprünglichen Metaphorik weggeführt und abstrahiert wird. Auf der einen Seite bleibt das Naturbild erhalten und wird um weitere Aspekte („Seen“, „Himmel“, „Äcker“) ergänzt. Auf der anderen Seite tritt an die Stelle des Gegenpols, der sich im gleichen semantischen Feld bewegt wie die Natur („Garten“), die überraschende Rede von „Sieg“, „Siegsbeweise[n]“ und „Reich“. Naheliegend ist, dies biographisch im Hinblick auf Benns Hinwendung zum und seine spätere Abkehr vom Nationalsozialismus zu deuten. Das Gedicht Einsamer nie – entsteht 1936, drei Jahre nach Benns Begeisterung für das neue Regime und zwei Jahre nach seiner Desillusionierung und (zumindest innerlichen) Abkehr von faschistischem Gedankengut. Dennoch soll diese Lesart im Folgenden erweitert werden. Zunächst sind dazu die beiden Sphären des Gedichts für die dritte Strophe zu differenzieren: Der Blick des Betrachters löst sich von der Natur und richtet sich auf die Menschen eines unbestimmten Kollektivs. Sie sind frisch verliebt oder im Augenblick einer langfristigen Verbindung angetroffen. Die Parallele zwischen „Blicke tauschen“ und „Ringe tauschen“ bildet eine metonymische Steigerung erotischer Interaktion ab, die auf engstem Raum alle Register bürgerlicher Gefühlsökonomie durchspielt. Die Atmosphäre ist die weinselige eines Fests.
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Zu diesem dionysischen Gedränge wird nun der schärfste Kontrast installiert: der apollinische des Geistes, des „Gegenglücks“, dem das Du dient. Besonders krass ist er wegen der Vokabel „Gegenglück“, die keine einfache Differenz aufmacht, sondern durch das Präfix „Gegen-“ auf die absolute Unversöhnlichkeit hinweist, mit der diese Form individuellen Erlebens derjenigen des kollektiven Glücks gegenübersteht. Die erotischen Tauschgeschäfte bilden die Folie, vor der sich die monologische Abgrenzung des Sprechers vollzieht. Hier haben zwei unvereinbare Sphären nebeneinander Bestand. Unter den Sammelbegriffen „Glück“ und „Gegenglück“ sind – über die drei Strophen des Gedichts verteilt – die Aspekte ‚Erfüllung‘, ‚reiche Natur‘, ‚Helligkeit‘, ‚Reinheit‘, ‚Klarheit‘, ‚Interaktion‘, ‚Zusammenhalt‘, ‚Rausch‘ auf der einen Seite und ‚Isolation‘, ‚Künstlichkeit‘, ‚Absenz‘, ‚Geist‘ auf der anderen Seite vereint. Ein Austausch findet nicht statt, der Sprecher kann nur die Trennung konstatieren, die konstitutiv ist für seine Einsamkeit. Das Du, an das sich das Gedicht richtet, kann dabei als polyphon verstanden werden. Für eine biographische Lesart spricht der monologische Charakter des Gedichts, den die Überschrift bedingt und der die Ansprache eines Dialogpartners unwahrscheinlich macht. Das Du ist dann der Dichter, der in seinem Werk zu sich spricht, eine Reihe von Selbstanklagen äußert und die Unversöhnlichkeit seiner Position mit der Welt hinnehmen muss. Vor dem politischen Hintergrund, der dem Gedicht und Benns Biographie zugrunde liegt, gewinnt diese selbstkritische Lesart zusätzliches Gewicht: Welche Rechtfertigung hat Literatur, sich den Zeitläufen zu entziehen und eine Präferenz des Geistes zu proklamieren? Inwieweit ist der Dichter verantwortlich für etwas, das er in der Vergangenheit vertreten hat und das sich im Nachhinein als Illusion oder gar als gefährlicher Irrtum erweist? Zu welchem Grade verfehlt ein Leben, das dem Geist gewidmet ist, Momente von Gegenwärtigkeit, von Präsenz, die die ungezähmte Natur (auch des Menschen) bieten kann? Der monologische Charakter selbstkritischen Bilanzierens ist auch dann erfüllt, wenn man die autobiographischen Anklänge des Gedichts be-
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wusst ignoriert. Aber eine Lektüre des Textes sollte nicht bei diesem Ergebnis stehenbleiben, verlangt doch das Du geradezu danach, tentativ auch anders besetzt zu werden als mit dem Ich des Sprechers. Zum einen ist ein rezipierender Dialog angelegt: Die drängenden Fragen der ersten beiden Strophen und das Fazit der dritten richten sich auch an den Leser des Gedichts, gerade weil er ein Leser ist und im Zuge seiner Lektüre bestätigt, dass er dem Geist dient: Als Leser ist er eben gerade nicht dabei, die wilde Natur zu bestaunen, er steht gerade nicht in liebender Interaktion mit seinen Mitmenschen und er nimmt gerade nicht an einem Bacchanal zur Feier des Augenblicks teil. Stattdessen dient er „dem Gegenglück, dem Geist“ – und muss sich die Frage gefallen lassen, ob er bei seiner Lektüre nicht „Einsamer nie“ ist. Eine solche Lesart des Gedichts funktionalisiert das Dialogische in ganz neuer Weise: Der Dialog zwischen Text und Rezipient hat eine Aufforderung an den Rezipienten zur Folge, das dialogische Prinzip (über das Mittel der Selbstkritik) außerhalb der Fiktion einzusetzen, durch eine Abkehr von der monologischen Geist-Betätigung und eine Hinwendung zur Realität. Eine andere Form, das Du dialogisch zu lesen, ist eine intertextuelle. Hat man zentrale Begriffe des Œuvres wie auch das poetische Programm Stefan Georges im Blick, ist es nahezu unumgänglich, das Du nicht versuchsweise mit der Person dieses Dichter-Kollegen zu besetzen, der drei Jahre vor der Abfassung des Textes gestorben ist. Begriffe wie ‚Garten‘, ‚Ring‘ und ‚Reich‘ können auf George zurückgeführt werden, sogar auf die Titel seiner Gedichtsammlungen Das Buch der hängenden Gärten (1895), Der siebente Ring (1907) und Das neue Reich (1928). Eine Reihe weiterer Referenzen ist zu identifizieren: Wohl für keinen Dichter des frühen 20. Jahrhunderts spielt das Konzept des Gartens eine so große Rolle wie für George, der damit den Raum der Kunst (also auch den Raum des Geistes) von dem der Natur abgrenzt. Garten und Park erleben bei ihm eine Renaissance im Zuge eines ästhetisierenden Kunstprogramms: „Komm in den totgesagten park“ bedeutet auch, sich auf ein Verständnis von Lyrik einzulassen, das nicht realisti-
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schen oder naturalistischen Prinzipien folgt, sondern von der ‚Nähe zum Leben‘ so weit entfernt ist, wie bei Benn das „Gegenglück“ des Geistes vom „Glück“ des sinnlichen Rausches. Mit der Frage nach „deiner Gärten Lust“ bezieht sich Benn auch auf Georges Algabal und dessen Zyklus Im Unterreich. Konkret wird auf den Vers „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme“11 angespielt: auf die Frage, ob und wie der einsame Dichter im hortus conclusus seiner abgeschlossenen Kunstwelt produktiv sein kann. Darüber hinaus spricht die politische Problematik, wie sie für Benn umrissen wurde, für eine Bezugnahme des Gedichts auf George: Zwar hat George sich – anders als Benn – nie aktiv für die Belange einer neuen Kunst unter den Vorzeichen nationalsozialistischen Denkens stark gemacht, sondern alle Versuche seitens des Regimes, ihn für eigene Zwecke einzuspannen, zurückgewiesen; doch die Tatsache, dass besonders das Spätwerk Das neue Reich mit seiner Verbindung einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur und der Erneuerung einer herrschenden Klasse die Aufmerksamkeit nationalsozialistischer Kreise fand, ist ein Indiz dafür, dass Benn dies als Parallele zu seinem eigenen Verhältnis zu den Nationalsozialisten verstanden haben könnte. Soweit sich dies auf einen biographischen Bezug erstreckt, sei es hier nur angedeutet. Für die Deutung des Gedichts aber ist festzuhalten, dass der Rückzug der Kunst in die Sphäre des Geistes, wie er wegen des Gegenwelt-Charakters unausweichlich scheint, als problematisch dargestellt wird. Ein Geist, der sich von der Welt abschottet und zugunsten einer Verabsolutierung des apollinischen Prinzips die in Teilen dionysische Natur des Menschen leugnet, kann auch in einem umfassenderen Kontext versagen als in dem einer Kunst, die sich auf das Prinzip l’art pour l’art zurückzieht. Ein solcher Geist kann sehr reale politische oder persönliche Folgen zeitigen.
11 Zit. n. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 2: Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal. Stuttgart 1987, S. 63.
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Eine Lösung für dieses Dilemma findet Benn nicht, im Gegenteil: Der monologische Charakter seiner Werke nimmt nicht nur im Rahmen der Lyrik zu, er wird auch – wie im nächsten Abschnitt im Detail auszuführen ist – auf seine Dichtungstheorie erweitert. Auf dem Weg dorthin sei knapp ein Blick auf ein Gedicht geworfen, in dem Benn seine auf jedes Zwiegespräch verzichtende Lyrik noch umfassender als in Einsamer nie – und durch die Überschrift zugleich programmatisch entwickelt, auf Monolog:12 Den Darm mit Rotz genährt, das Hirn mit Lügen – erwählte Völker Narren eines Clowns, in Späße, Sternelesen, Vogelzug den eigenen Unrat deutend! Sklaven – aus kalten Ländern und aus glühenden,
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immer mehr Sklaven, ungezieferschwere, hungernde, peitschenüberschwungene Haufen: dann schwillt das Eigene an, der eigene Flaum, der grindige, zum Barte des Propheten!
Nach diesem brachialen, die Entwicklung des NS-Regimes karikierenden Einstieg folgt ein Rückblick auf die Geschichte, deren Lauf als Kontinuum von Verfall und Brutalität gesehen wird. Plötzlich aber ist ein Abschnitt eingefügt, der die wütende Tirade unterbricht und auf den Titel Monolog verweist: − Ein Klang, ein Bogen, fast ein Sprung aus Bläue stieß eines Abends durch den Park hervor,
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darin ich stand −: ein Lied, ein Abriß nur, drei hingeworfene Noten und füllte so den Raum und lud so sehr die Nacht, den Garten mit Erscheinungen voll und schuf die Welt und bettete den Nacken
12 Zit. n. Benn: Gedichte 1 (wie Anm. 10), S. 214−216.
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mir in das Strömende, die trauervolle erhabene Schwäche der Geburt des Seins −: ein Klang, ein Bogen nur −: Geburt des Seins − ein Bogen nur und trug das Maß zurück, und alles schloß es ein: die Tat, die Träume…
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Das einsame Ich im Dunkel des Abends bildet die Grundlage für den Monolog, der so gestaltet ist, wie das frühe Gedicht Hier ist kein Trost es mit seiner Schlusszeile vorgegeben hatte: ein Monolog „aus Nihilismus und Musik“. In der Einsamkeit der hereinbrechenden Nacht ist das Ich auf genau diese beiden Komponenten zurückgeworfen, die es umschließen und in seiner Umwelt verorten. Dort, wo zunächst kein Raum ist, kann durch „drei hingeworfene Noten“ eine ganze Welt entstehen, in der das Ich zu Hause ist. Hier lässt sich alles wiederfinden: die „Geburt des Seins“, „die Tat, die Träume“. Doch es ist, wie für Einsamer nie – gezeigt und für Benns Lyriktheorie nun zu entwickeln, eine Situation des Monologs, aus der die Welt für das Ich entsteht. Nicht in der Interaktion mit einem Anderen, nicht in der Vielfalt mehrerer Stimmen ereignen sich Welt und Ich, sondern im Rahmen einer einsamen Gegenwelt, in der das Ich auf sich selbst zurückgeworfen ist.
L YRIKTHEORIE
DES
M ONOLOGS
Im Anschluss an die intertextuellen Referenzen auf Stefan George soll der folgende Abschnitt, der sich mit Benns Rede Probleme der Lyrik auseinandersetzt, bei der Positionsbestimmung beginnen, die Benn für sein poetisches Schaffen vornimmt. Gleich am Anfang der Rede taucht George in einer Reihe von Dichtern auf, die Benn als Vertreter einer „neue[n] Lyrik“ (12)13 charakterisiert:
13 Hier und im Folgenden zit. n. Gottfried Benn: „Probleme der Dichtung“. In: Ders.: Prosa 4 (wie Anm. 3), S. 9−44.
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Aus Deutschland gehören die berühmten Namen George, Rilke, Hofmannsthal zum mindesten begrenzt hierher. Ihre schönsten Gedichte sind reiner Ausdruck, bewußte artistische Gliederung innerhalb der gesetzten Form, ihr Innenleben allerdings, subjektiv und in seinen emotionellen Strömungen, verweilt noch in jener edlen nationalen und religiösen Sphäre, in der Sphäre der gültigen Bindungen und der Ganzheitsvorstellungen, die die heutige Lyrik kaum noch kennt. (12f.)
Wenn Benn das Dreigestirn George-Rilke-Hofmannsthal als Verfasser einer Lyrik nennt, die er als ‚neu‘ bezeichnet und die bis zu seinem eigenen Schaffen reicht, stellt er eine Linie der Kontinuität her. Diese besteht in der Fokussierung auf den „reine[n] Ausdruck“ und die „bewußte artistische Gliederung innerhalb der gesetzten Form“. Den Bruch zu seinem eigenen Schaffen sieht Benn im gesellschaftlichen Ort des Gedichts. Von einer „nationalen und religiösen Sphäre“ zu sprechen, in die sich seine Werke einfügen, ist Benn zwei Weltkriege nach George, Rilke und Hofmannsthal nicht möglich. Ein ‚subjektives Innenleben‘ von Lyrik schließt er aus. Der Kontrast zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip in Einsamer nie – hatte poetologisch bereits darauf hingedeutet. Benn spricht vom „monologische[n] Charakter der Lyrik“ (16). Gedichte seien an eine Muse gerichtet, an niemanden sonst. Dies müsse so sein, weil „das Andichten“ nicht mehr möglich sei, das Erzeugen eines unmittelbaren Bezugs zwischen dem bedichteten Gegenstand und dem dichtenden Ich. Wie Benn damit erörtert, was er in seiner eigenen Lyrik bereits 15 Jahre zuvor entwickelt hatte, zeigt der Vergleich mit Einsamer nie –. Darin ist die Situation beschrieben, die Benn mit dem Begriff des ‚Andichtens‘ belegt, doch sie scheitert, weil keine Kommunikation zwischen dem Dichter und der Welt möglich ist. Beide Sphären existieren nebeneinander, Glück trifft auf Gegenglück. Unterstrichen wird die Distanz durch die Abkehr von einer ‚metaphysischen‘ Komponente von Lyrik, wie Benn sie dadurch vollzieht, dass er auf einen „seraphische[n] Ton“ (18) zu verzichten behauptet und stattdessen den Dichter einen großen nennt, der „ein großer Realist sei, sehr nahe
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allen Wirklichkeiten“ (19). Der einzige Dialog, den Benn für Lyrik zulässt, spielt sich konsequenterweise bei der Produktion im Inneren des Dichters ab. Es ist ein inneres Ringen zwischen subjektiven und objektiven Elementen, zwischen Ursprünglichkeit und Geist: Irgendetwas in Ihnen schleudert ein paar Verse heraus oder tastet sich mit ein paar Versen hervor, irgendetwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat […]. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite ganz etwas anderes: raffiniert und skeptisch. Ist das erste vielleicht subjektiv, bringt das zweite die objektive Welt heran, es ist das formale, das geistige Prinzip. (21)
Die beiden Prinzipien, die in Einsamer nie – im Zuge der scheiternden Kommunikation zwischen dem Dichter und seiner Außenwelt entworfen worden waren, treten hier erneut auf, allerdings mit der Modifikation, dass sie in das Innere des Dichters verlegt sind. Einen Dialog gibt es, doch nicht im Sinne verschiedener Sprecher, sondern nur in Gestalt verschiedener Stimmen innerhalb einer Person. Von der Außenwelt ist die Poesie abgeschlossen. Benn zitiert Hofmannsthal: „‚es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie‘ – das kann nichts anderes heißen, als daß die Poesie, also das Gedicht, autonom ist“ (23). Außenwelt existiere nur als geschaute, vom Subjekt internalisierte Welt, wie George – hier kommt Benn erneut auf ihn zu sprechen – es mit seinem Gedicht Komm in den totgesagten park gezeigt habe. Erst die Auseinandersetzung im Inneren des Subjekts forme aus dem Sinneseindruck ein Kunstwerk. Die Welt und der Dialog mit ihr könnten dem Künstler bei diesem Schöpfungsakt nicht behilflich sein, denn: Er steht allein, der Stummheit und der Lächerlichkeit preisgegeben. […] Er folgt einer inneren Stimme, die niemand hört. Er weiß nicht, woher diese Stimme kommt, nicht, was sie schließlich sagen will. Er arbeitet allein, der Lyriker arbeitet besonders allein […]. (30)
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Aus dieser Einsamkeit des Dichters entstehe das absolute Gedicht, das zwar seinen Ursprung in der Welt habe, doch von dieser abgetrennt sei: „das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet“ (36). Der argumentative Schritt, aus der Einsamkeit des Dichters auf die Einsamkeit des Gedichtes zu schließen, ist derjenige, den Benn dabei nicht explizit reflektiert, dabei aber derjenige, der ihn am stärksten von Paul Celan unterscheidet, der nur wenige Jahre später in seiner Meridian-Rede sagen wird, das Gedicht sei stets gerichtet, es wolle stets zu einem Anderen. Benn hingegen schließt seine Rede mit der erneuten Betonung des monologischen Aspekts.
M ONOLOG
UND
D IALOG
Benns Position hinsichtlich der Frage, ob – und wenn ja: inwieweit – Dichtung dialogisch gestaltet ist, kann von der Begegnung mit Else Lasker-Schüler über einzelne Text-Stationen bis hin zu seiner Rede Probleme der Lyrik verfolgt werden. Für dieses heterogene, über die Dauer von knapp fünfzig Jahren entwickelte Programm ein vereinheitlichendes Fazit zu ziehen, wäre ein Akt der Schematisierung, der sich nicht konsequent aus den Texten herleiten lässt. Anstatt einen solchen Versuch zu unternehmen, soll daher zum Abschluss ein Blick auf das Gedicht Nur zwei Dinge geworfen werden. Der Text eignet sich für ein tentatives Fazit zu Benns monologischer Lyrik, weil er die aufgeworfenen Fragen implizit und explizit thematisiert:14
14 Zit. n. Benn: Gedichte 1 (wie Anm. 10), S. 320. Vgl. dazu Achim Geisenhanslüke: „Energie der Zeichen. Zur Tradition artistischer Lyrik bei Gottfried Benn, Paul Celan, Thomas Kling und Marcel Beyer“. In: literatur für leser 1 (2002), S. 2–16.
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Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu? Das ist eine Kinderfrage.
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Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – dein fernbestimmtes: Du mußt. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
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was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.
Wenig überraschend ist nach den Ausführungen zu Benns Theorie des Monologs, dass das „Ich“ den Text beschließt. Umso spannender aber sind der Weg, den das Gedicht hin zu diesem Ich beschreitet und der es ein „gezeichnete[s]“ sein lässt, sowie die Instanz, die Benn dem Ich unter Rückbezug auf den Titel beiordnet: die Leere. In der Erweiterung des Ich um das Attribut ‚gezeichnet‘ und die es umgebende Leere kann die Summe von Benns lyrischem Schaffen gesehen werden. Nur zwei Dinge beginnt mit der Feststellung, dass ein nicht näher bestimmtes Etwas (man darf vermuten: das Gedicht bzw. das Dichten) zwar die Perspektiven verschiedener Betrachter oder Sprecher durchlaufe, dabei jedoch immer wieder bei der „ewige[n] Frage: wozu?“ ankomme. Die Relevanz, die diese Frage nicht nur dadurch gewinnt, dass sie den Endpunkt einer jeden Überlegung darstellt, sondern auch dadurch, dass sie im Zuge eines ‚Erleidens‘ – folglich im Zuge eines emotionalen Vorgangs – gestellt wird, wird in der zweiten Strophe revidiert. Die Frage „wozu?“ wird als „Kinderfrage“ bezeichnet. An ihre Stelle tritt das Wissen um die Ausweglosigkeit einer jeden individuellen Entscheidung. Determination sorgt für „dein fernbestimmtes Du
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mußt“. Dies wird auf drei Bereiche bezogen, auf „Sinn“, „Sucht“ und „Sage“. Während der Sinn die Frage nach dem Wozu? aus der ersten Strophe aufgreift, sind Sucht und Sage mehrdeutig. Sucht ist nicht nur der Zwang einer körperlichen Abhängigkeit, sondern auch der Verweis auf eine ewige Suche, die mit der „ewige[n] Frage“ korrespondiert. Und ‚Sage‘ bindet nicht nur einen Erzählkontext ein, sondern über den lautlich identischen Imperativ des Verbums ‚sagen‘ auch einen weiteren Zwang, der dem Subjekt auferlegt sein könnte: den Zwang, überhaupt zu sprechen. Die Folge dessen, was die erste Strophe als ewige Frage und die zweite Strophe als Determination beschreibt, wird in der letzten Strophe als Zeichen der Vergänglichkeit gefasst. In diesem Kontext steht das Fazit, das Benn – vielleicht insgesamt für Dichtung – zieht: „es gibt nur zwei Dinge: die Leere | und das gezeichnete Ich.“ Der monologische Charakter von Lyrik findet hier seinen Kulminationspunkt. Nicht nur ist das Ich die einzige Instanz, die von den drei zu Beginn genannten – „Ich und Wir und Du“ – erhalten bleibt, es befindet sich zudem in einem Raum, der keine Interaktion mit der Umwelt zulässt, einem Raum der Leere. Dort ist alles verblichen, was von Leben und Lebendigkeit gezeugt hat, indem es „erblühte“. Übrig bleiben das Ich und das Nichts, das es umgibt. Und doch steht am Ende nicht Resignation. Ein Wort, ein Partizip spricht dagegen: Das Ich ist nicht einfach, wie zu Beginn, ein „Ich“, sondern „das gezeichnete Ich“. Durch den Perspektivwechsel, den das Ich erlebt hat, gewinnt das Gedicht eine Bedeutung, die über das Monologische hinausweist. Zwar mag die Ich-Einsamkeit das Fazit sein, mit dem Benns Lyrik schließt; der scheiternde Dialog mit Else LaskerSchüler und Einsamer nie – haben diese Tendenz angedeutet. Dennoch zeigt das späte Werk Nur zwei Dinge, dass nicht das autonome Kreisen eines Subjekts um sich selbst das letzte Wort ist, sondern die Einsicht, dass Erkenntnis – selbst wenn sie, wie hier, auf eine Bejahung des Monologischen hinausläuft – zumindest in Teilen dialogisch durch Gespräche und Perspektivwechsel erreicht wird. Das Ich kann sich nur unter der Voraussetzung als einsames Ich im leeren
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Raum definieren, dass es „durch Ich und Wir und Du“ geschritten ist. Es hat den Dialog gesucht, um ihn zugunsten eines Monologs hinter sich zu lassen. Somit ist für die Lyrik Benns die Spannung zentral, die sich zwischen Interaktion und Isolation, Welt und Geist, Dialog und Monolog ergibt.
„Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten“ Ingeborg Bachmann und Paul Celan
Für Bachmann und Celan ist der Dialog von Beginn an durch die unterschiedlichen Lebenssituationen geprägt, in denen sie sich befinden.1 Während Bachmann in Wien, wo sie sich begegnen, zu Hause ist, kommt Celan nach mehreren Stationen dort an, die ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von seiner Heimatstadt Czernowitz in der Bukowina über Bukarest nach Westen geführt haben. Celans Eltern sind als Juden in einem Arbeitslager ums Leben gekommen; Bachmann schreibt ihre Dissertation über Heidegger, dessen zweifelhaftes Verhältnis zum Nationalsozialismus Legende geworden ist – der aber später Celan so sehr fasziniert, dass er ihm das Gedicht Totnauberg widmet. Für Bachmann ist die Begegnung Teil ihrer Heimat, für Celan eine Station im Exil. Nur zwei Monate hält die Beziehung, dann zieht Celan weiter nach Paris, wo er bis zu seinem Lebensende bleibt. Die
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Zur Biographie Bachmanns vgl. Monika Albrecht/Dirk Göttsche: „Leben und Werk im Überblick. Eine Chronik“. In: Dies. (Hg.): BachmannHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2002, S. 2–21. Zu Celan vgl. Markus May/Jürgen Lehmann: „Leben und Werk im Überblick“. In: Dies./Peter Goßens (Hg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008, S. 1–15.
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Zerrissenheit, im Zeichen derer der Dialog der beiden von der ersten Minute an steht, kommt nirgends so intensiv zum Ausdruck wie in dem Gedicht, das Celan Bachmann wenige Wochen nach der ersten Begegnung in einen Matisse-Bildband schreibt und ihr zum Geburtstag schenkt. Unter der Widmung „Für Ingeborg“ und dem Titel In Aegypten stehen dort die folgenden Zeilen:2 Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser! Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen. Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam! Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst. Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.
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Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen: Seht, ich schlaf bei ihr! Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken. Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi. Du sollst zur Fremden sagen:
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Sieh, ich schlief bei diesen!
Darunter schreibt Celan: „Wien, am 23. Mai 1948. Der peinlich Genauen, 22 Jahre nach ihrem Geburtstag, Der peinlich Ungenaue.“ Mit diesen drei Koordinaten – der persönlichen Begegnung, dem Gedicht und der Widmung – ist nicht nur das biographische Verhältnis von Celan und Bachmann umrissen, sondern auch die Bedingungen, unter denen die beiden ihr Leben lang Lyrik schaffen. Bestimmend für In Aegypten ist ein doppeltes dialogisches Element. Dialogisch ist zum einen die anaphorische Reihung der normativen Zeilenanfänge „Du sollst“, die an die biblischen Gebote angelehnt
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Zit. n. Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. u. komm. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2008, S. 7.
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sind und sich an ein noch näher zu charakterisierendes Gegenüber richten. Dialogisch ist zum anderen die Situation, die für die Figuren im Gedicht geschildert wird. Zunächst stehen diese einander kontrastiv gegenüber, worauf sowohl das Attribut „fremd“ für die eine Seite als auch die Vertrautheit mit der anderen Seite hindeuten, die sich in der Ansprache mit Namen äußert. Dass dieser Kontrast aber nicht dauerhaft Bestand hat, dass er gerade durch einen Dialog zu überwinden ist, das deutet die Verbindung der „Fremden“ mit den namentlich bezeichneten Mädchen an, die über den Begriff des Wassers erfolgt. In dem Wasser, das sich im Auge der Fremden sammelt, sollen die Vertrauten aufscheinen. Ein doppelter Chiasmus führt die Verbindung von Vertrautem und Fremdem fort. Die Mädchen sollen geschmückt werden „mit dem Wolkenhaar der Fremden“, während die Fremde zu schmücken ist „mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi“. Das Du hingegen soll dem Dialogpartner sagen, dass es bei dem jeweils anderen geschlafen hat bzw. schläft. Es lässt sich somit ein Argumentationsgang konstatieren, der getrennte Sphären nicht nur zusammenführt, sondern durch die wechselseitige Attribuierung nahezu miteinander verschmelzen lässt. Was aber bezeichnen die beiden Sphären, die Celans Poesie verbindet? Unmittelbar aus dem Text lassen sich die erwähnten kontrastiven Attribute Nähe und Fremde sowie – über den unterschiedlichen Tempusgebrauch in den Zeilen 7 und 11 – Vergangenheit und Gegenwart mit entsprechenden Konnotationen destillieren: Das Vertraute ist vergangen, das Fremde gegenwärtig. Eine weitere Zuschreibung kann unter die Begriffe ‚Individuum‘ und ‚Kollektiv‘ subsumiert werden: Während die Fremde alleine auftritt, ist das Vertraute mit den Namen Ruth, Noemi und Mirjam verbunden. Wegen der jüdischen Herkunft dieser Namen und der Anspielungen auf das Alte Testament liegt es nahe, einen Gegensatz zwischen einem jüdischen Kollektiv und einem nicht-jüdischen Individuum anzunehmen. Bezieht man nun aber die biographischen Komponenten des Gedichts ein, beantwortet dies die Frage, an wen es sich richtet. Wenn es einen Gegensatz zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Identität ent-
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wickelt, der sich zudem auf die Attribute nah und fern, gegenwärtig und vergangen sowie allein und kollektiv erstreckt, fordert es heraus, nicht – wie man zunächst denken könnte – das Du mit Bachmann in Verbindung zu bringen, sondern die „Fremde“ mit ihr gleichzusetzen. Sie ist die Gegenwärtige, bei der das Ich schläft. Unter dieser Voraussetzung ist das Ich der Zeilen 7 und 11 mit dem Du der anderen Zeilen identisch. Es handelt sich also nicht um einen fiktionsontologisch realen Dialog, sondern um einen Monolog im Inneren des sprechenden Subjekts. Setzt man – ebenso hypothetisch wie Bachmann für die Fremde – für dieses Ich/Du den Namen Celan ein, wird deutlich, warum die der Fremden entgegengesetzten, dem Ich hingegen vertrauten Namen jüdische Namen eines Kollektivs der Vergangenheit sind: In Form eines drängenden Monologs setzt sich das Gedicht mit der Frage auseinander, welcher Kontakt wenige Jahre nach der Shoah zwischen einem Juden, der sein Volk verloren hat, und einer Nicht-Jüdin, die diesem Verlust in ihrer unmittelbaren (auch sexuellen) Gegenwärtigkeit gegenübersteht, möglich ist. Über die sexuelle Gegenwärtigkeit der Dialogpartnerin wird zudem der intertextuelle Hintergrund des Gedichts erweitert: Wie nun deutlich wird, beziehen sich die Imperative „Du sollst“ nicht nur auf den Dekalog der zehn Gebote, sondern auch auf die Verbote sexueller Verwirrungen im 3. Buch Mose. Das Gedicht wirft somit grundsätzlich die Frage auf, ob der Kontakt zwischen einem Juden und einer Nicht-Jüdin ‚zulässig‘ ist und – wenn ja – unter welchen Voraussetzungen er funktioniert. Es gibt eine Antwort in mehreren Schritten: Der Kontakt funktioniert erstens nur, wenn scheinbar unvereinbare Gegensätze zueinander geführt werden. Zweitens hat er sowohl im Biographischen als auch in der Lyrik seinen Platz. Drittens kann er das Exil In Aegypten überwinden, indem er dem jüdischen Volk neue Gebote gibt, Gebote für ein Leben nach der Shoah, damit es nicht im Schweigen versinkt. Gestaltet werden kann das Zusammensein also, wenn ein Dialog die Grundlage bildet, sowohl in der Lyrik als auch im Leben.
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Umso bitterer muss es anmuten, wenn der Dialog, den Bachmann und Celan im Leben führen, schon wenige Wochen nach der Widmung dieses Gedichtes (vorerst) beendet ist. Nach der Trennung und Celans Umzug nach Paris führen nur jeweils ein (erhaltener) Brief und wenige Telefonate das Gespräch fort, ehe ein Jahr verstrichen ist und Celan Bachmann erneut zum Geburtstag gratuliert. Auf einer Postkarte schreibt er ihr, er wünsche sich,3 daß niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebensoviel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf Deinen Geburtstagstisch stelle.
Wie bei seinem Geburtstagsgruß im Jahr zuvor nimmt Celan eines seiner Gedichte zum Anlass, den fiktionalen Dialog auf die reale Welt zu übertragen. Mohn und Gedächtnis entstammen dem Gedicht Corona und sind titelgebend für Celans ersten in einer größeren Öffentlichkeit publizierten Gedichtband, der im Jahre 1952 erscheint. Im Anschluss an die Nachricht sprechen die beiden brieflich über ihre Beziehung. Am 20. August 1949 schreibt Celan:4 Ein langes Jahr ist nun verstrichen, ein Jahr, in dem Dir sicherlich manches begegnet ist. Aber Du sagst mir nicht, wie weit unser eigener Mai und Juni hinter diesem Jahr zurückliegen… [...] Wie weit oder wie nah bist Du, Ingeborg? Sag es mir, damit ich weiß, ob Du die Augen schließt, wenn ich Dich jetzt küsse.
Bachmann antwortet auf diesen Brief zunächst mit einem Entwurf am 25. August, den sie nicht abschickt. Am 24. November verfasst sie einen zweiten Brief, den sie Celan kurz nach dessen Geburtstag sendet und dem sie den Entwurf vom August beilegt. In Bachmanns erstem Brief stehen u.a. die Worte:5
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Ebd., S. 11.
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Ebd., S. 13.
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Ebd., S. 15.
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Wie lange wohl unser Mai und unser Juni hinter all dem zurückliegen, fragst Du: keinen Tag, Du Lieber! Mai und Juni ist für mich heute abend oder morgen mittag und noch in vielen Jahren.
In ihrem zweiten Brief schreibt sie:6 Ich sehe mit viel Angst, wie Du in ein grosses Meer hinaustreibst, aber ich will mir ein Schiff bauen und Dich heimholen aus der Verlorenheit. […] Schreib mir bald, bitte, und schreib, ob Du noch ein Wort von mir willst, ob Du meine Zärtlichkeit und meine Liebe noch nehmen kannst, ob Dir noch etwas helfen kann, ob Du manchmal noch nach mir greifst und mich verdunkelst mit dem schweren Traum, in dem ich licht [!] werden möchte.
Was In Aegypten für das Verhältnis zwischen Ich/Du und der Fremden galt, hat also auch ein Jahr später für die Realität zweier sich liebender Menschen Bestand. Die Gegenwart, die die Fremde im Gedicht einnimmt, beansprucht sie auch im Brief; die sexuelle Nähe, die das Gedicht charakterisiert, lebt in Celans Briefschluss wieder auf. Und den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart erwähnt Bachmann, wenn sie Celan „heimholen“ möchte „aus der Verlorenheit“. Die Realität aber gibt beiden unrecht. Ein einziges Mal, viele Jahre später, flackert die Liebesbeziehung wieder auf, als Celan längst verheiratet ist. Eine Zukunft, die nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die unterschiedlichen Kulturen verbindet, ist Bachmann und Celan nicht beschieden. Und dennoch ist der neunfache Appell von In Aegypten nicht vollständig verhallt, er lebt in der Dichtung fort, die bis in beider Spätwerk hinein dialogischen Prämissen folgt.
6
Ebd., S. 14.
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D IALOG
VON
L YRIK
UND
R EALITÄT
Dass Corona eine zentrale Rolle in Celans Gedichtband Mohn und Gedächtnis einnimmt, zeigen die häufig gemachten Beobachtungen,7 dass ihm nicht nur der Titel des Bandes entstammt, sondern dass es auch am Ende des ersten Zyklus und damit direkt vor der Todesfuge steht, die alleine den zweiten Zyklus bildet. Im Folgenden wird im Anschluss an diese strukturelle Feststellung die These vertreten, dass das Gedicht auch inhaltlich im Zentrum von Celans früher Lyrik steht. In Corona entwickelt Celan seine Poetologie in so grundlegender Weise,8 dass die dort geäußerten Gedanken fundamental für sein weiteres lyrisches Schaffen werden und sich auch in der wichtigsten theoretischen Äußerung zu seiner Poetik wiederfinden lassen: in der Rede Der Meridian anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises. Insbesondere ist das dialogische Moment zu fokussieren, das in der Meridian-Rede betont wird und Celans Lyrik im Allgemeinen ebenso prägt wie Corona im Speziellen:9
7
Vgl. z.B. Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis „Sprachgitter“. Heidelberg 1998, hier S. 127; Barbara Wiedemann. „Fermate im Herbst“. In: Hans-Michael Speier (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Paul Celan. Stuttgart 2002, S. 28–41, hier S. 30.
8
Der Versuch, Celans Gedichte im Blick auf poetologische Aussagen zu untersuchen, ist für das Spätwerk häufig unternommen worden. Vgl. HansGeorg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans „Atemkristall“. Frankfurt am Main 1973; Ute Maria Oelmann: Deutsche poetologische Lyrik nach 1945. Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan. Stuttgart 1980.
9
Zit. n. Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Lyrik und Prosa. Bd. 2/3,1: Der Sand aus den Urnen. Mohn und Gedächtnis. Hg. v. Andreas Lohr unter Mitarbeit v. Holger Gehle u. in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main 2003, S. 97.
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Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: die Zeit kehrt zurück in die Schale. Im Spiegel ist Sonntag, im Traum wird geschlafen,
5
der Mund redet wahr. Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
10
wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes. Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: es ist Zeit, daß man weiß! Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
15
daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird. Es ist Zeit.
Als eines der bekanntesten Gedichte Celans ist Corona vielfältig interpretiert worden. Besonders beachtet wurden dabei das Thema ‚Zeit‘ und die Gegensätzlichkeit der Metaphorik, die sich in den Spannungsfeldern des dritten Abschnitts äußert (Mohn vs. Gedächtnis, Wein vs. Muscheln, Meer vs. Blutstrahl des Mondes), aber auch in der räumlichen Situation (Fenster vs. Straße) und den geschilderten Bewegungsrichtungen (gehen lehren vs. zurückkehren) zum Tragen kommt.10
10 Vgl. Bernhard Böschenstein: „Celan und Rilke“. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 19 (1992), S. 173–185, hier S. 174–176; Helmut Böttiger: Orte Paul Celans. Wien 1996; Joachim Seng: „‚Mohn und Gedächtnis‘“. In:
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Die dialogische Situation, die das Gedicht evoziert, schließt an die Gegensätzlichkeit der Metaphorik an. Zunächst stehen der Herbst und das Ich einander gegenüber. Der Herbst ist dem Ich vertraut (im Gegensatz zu früheren Gedichten Celans, etwa Schwarze Flocken, wo der Herbst die Zeit unheilvoller Nachrichten war). Beide kommunizieren als gleichberechtigte Dialogpartner: Der Blickpunktwechsel zwischen ihnen zeigt sich daran, dass der Herbst sein Blatt aus der Hand des Ich „frißt“. Der Nachsatz „wir sind Freunde“ fasst dieses Verhältnis zusammen. Sodann wird ein neues dialogisches Verhältnis installiert, indem Herbst und Ich als Kollektiv auftreten und der „Zeit“ gegenübergestellt werden. Wieder ist dabei der Dialog oszillierend gestaltet: Die Zeit kann erst die Schale verlassen, nachdem sie herausgeschält worden ist. Kaum aber hat sie eine Form von Selbst-Bewusstsein erlangt, kehrt sie in die Schale zurück und schafft die Voraussetzungen, den Zyklus von Neuem zu beginnen. Im zweiten Abschnitt wird durch die Metaphorik ein Dialog erzeugt. Das Bild des Spiegels erschafft eine Situation, in der ein Ich seinem Abbild gegenüber und mit diesem in Interaktion steht. Wieder scheint das Subjekt ohne seinen Dialogpartner unvollständig. Erst im Spiegel wird der Sonntag erfahren, erst im Traum wird Schlaf erreicht, erst unter diesen Voraussetzungen kann die Lüge vermieden werden. Im dritten Abschnitt stehen ein Ich und die Geliebte(n) einander gegenüber: Sie sehen sich an, sprechen miteinander, lieben sich und schlafen. Für alles muss die Frage offen bleiben, ob es sich bei dem Genitiv-Attribut „der Geliebten“ um ein Femininum im Singular handelt, ob das „Geschlecht“ also erotisch einer geliebten Frau zugewiesen wird, oder ob es sich um eine Pluralform handelt, das „Geschlecht“ also im Sinne von gens gelesen werden muss und auf verschiedene Angehörige einer geliebten Familie Bezug genommen wird.
May/Goßens/Lehmann: Celan-Handbuch (wie Anm. 1), S. 54–63; Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung (wie Anm. 7), v.a. S. 128–130; Wiedemann: „Fermate“ (wie Anm. 7), v.a. S. 30–39.
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Je nach Lesart des Genitiv-Attributs kann das anaphorisch wiederholte „wir“, das die folgenden Verse einleitet, unterschiedlich verstanden werden – wobei die jeweils andere Lesart nie ausgeschlossen ist: Deutet man die Verse als Momente eines Liebesaktes, wie die erotische Lesart es nahelegt, scheint im Vollzug der erotischen Liebe das Zwiegespräch mit der geliebten Familie auf, so dass es die individuelle Liebe begleitet und ergänzt. Versteht man hingegen das „Geschlecht der Geliebten“ als die jüdischen Opfer der Shoah,11 entwickelt das Gedicht einen Abstieg in die Welt der Toten, so dass sich Anklänge an die Orpheus-Motivik ergeben.12 Zugleich beschränkt sich der Effekt einer solchen memoria-Lesart nicht auf eine Verortung in der Vergangenheit, sondern kann im polyphonen Klang mit der individuellen Liebe des Ich Gegenwart und Zukunft schaffen. Die letzte dialogische Situation erzeugt der vierte Abschnitt. Nun bilden das Ich und die Geliebte(n) eine Einheit, der die Öffentlichkeit der Straße gegenübergestellt wird. Wie sich dieser Dialog vollzieht, legen die vier anaphorisch mit „es ist Zeit“ beginnenden Forderungen fest: Das Subjekt bedarf eines Anderen. Die Polyphonie des dritten Abschnitts gilt weiterhin: Ob es die erotische Beziehung zu einer geliebten Frau ist oder die memoria-Beziehung zu den toten Verwandten, für beides können die Forderungen des vierten und fünften Abschnittes als gültig angesehen werden. Nun richten sich die Aussagen auf die Gegenwart und darüber hinaus auf eine Poetik für die Zukunft. Die Konsequenz besteht in der Hinwendung zu einer Auffassung von Zeit, die nicht länger als zyklisch verstanden wird, sondern sich am Augenblick orientiert. Das Mittel, über das dies erreicht werden kann, ist die Dialogizität des Gedichts.
11 Das Hinabsteigen des Auges ist dabei der erinnernde Gang in das Reich des Todes. Vgl. Peter Mayer: Paul Celan als jüdischer Dichter. Landau 1969, S. 65; Wiedemann: „Fermate“ (wie Anm. 7), S. 35. 12 Vgl. Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt am Main 1976, S. 52–55.
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Lässt man die textimmanente Deutung für einen Moment beiseite und wendet sich dem Verhältnis zwischen dem Gedicht als ästhetischem Artefakt und seinem Autor bzw. dem Leser als ‚Co-Autor‘ zu, können weitere dialogische Elemente identifiziert werden. Eines richtet sich auf Texte der Vergangenheit, etwa auf Rilkes Herbsttag.13 Fasst man Bachtins Konzept dafür in der Form, wie Julia Kristeva es verallgemeinernd getan hat,14 und dehnt Dialogizität auch auf das fremde Wort im Sinne anderer Texte aus, kann diese ästhetische Transgression zum anderen Text als Intertextualität bezeichnet werden.15 Der andere Text kommt implizit zum Tragen. So verweist das Gedicht auf seinen Ursprung zurück und lässt diesen durch die ästhetische Tätigkeit des Rezipienten im eigenen Text wirksam werden. Für Corona und Herbsttag bedeutet dies, dass die beiden Gedichte einander wechselseitig beleuchten. Wo Rilke das Angebot einer von Gott geordneten Welt macht, ist für Celan ein menschliches Leben im Rahmen eines göttlichen Heilsplanes nicht länger vorstellbar. Allerdings weicht Celan weder auf ein alternatives ‚Sinnangebot‘ aus noch zerstört er das Konzept, das Herbsttag prägt. Stattdessen führt er die verschiedenen Vorstellungen zusammen über die Mittel der Dialogizität und der Polyphonie.
13 Vgl. dazu Böschenstein: „Celan und Rilke“ (wie Anm. 10), S. 174–176. 14 Vgl. Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375. 15 Vgl. Renate Lachmann: „Ebenen des Intertextualitätsbegriffs“. In: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München 1984, S. 133–138; Karlheinz Stierle: „Werk und Intertextualität“. In: Ebd., S. 139–150; Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“. In: Ulrich Broich/Ders. (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1–30; Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“. In: Ebd., S. 31–47.
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Darüber hinaus kann das dialogische Moment von Corona auf die Rezeption durch einen realen Leser bezogen werden. Über die Hinwendung zur Öffentlichkeit ist eine solche Rezeptionssituation im Text angelegt. Der Dialog zwischen dem Wir und den Zuschauern auf der Straße kann erweitert werden zu demjenigen zwischen dem Gedicht und seinen Lesern. Dass ein solcher poetisch fruchtbar ist, zeigt Ingeborg Bachmanns Gedicht Dunkles zu sagen:16 Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen.
5
Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch naß war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluß sahst,
10
der an dir vorbeizog. Die Saite des Schweigens gespannt auf die Welle von Blut, griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke
15
ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz. Und ich gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun.
20
16 Zit. n. Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte. München 2004, S. 42.
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Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.
Ein Gedicht aus dem Jahre 1953, das in der ersten Zeile einen expliziten Orpheus-Bezug herstellt, ist nicht nur im Blick auf Corona als intertextueller Dialog anzusehen. Viel näher liegt zunächst der Gedanke an Rilke und dessen Auseinandersetzung mit dem Sänger-Mythos. Orpheus steht bei Rilke – wie oben dargelegt – für den Versuch eines Dialogs, der an unüberwindlichen Grenzen scheitert: an der Grenze zwischen Leben und Tod, aber auch an der zwischen Kunst und Realität. Das Gedicht Orpheus. Eurydike. Hermes deutet den Mythos als Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen den getrennten Sphären der Lebenden und der Toten. Doch die Sonette an Orpheus verfolgen eine andere Tendenz, wie sie auch für Bachmann einschlägig ist: Sei allem Abschied voran fordert einen Dialog, der trotz der Trennung bestehen kann: „Sei – und wisse zugleich des Nichtseins Bedingung“,17 heißt es dort. Die Forderung, das Wissen um den Tod dergestalt ins Leben hineinzutragen, dass nicht resignativer Rückzug, sondern eine Bejahung des Seins im Vordergrund steht, wird von Bachmann doppelt aufgegriffen. In Dunkles zu sagen erprobt sie die Konzepte, die von Rilke und Celan verhandelt werden: das einer strikten Trennung von Leben und Tod und das einer Verbindung. Die jeweiligen Polaritäten werden gleich im ersten Abschnitt eingeführt: Die „Saiten des Lebens“ stehen dem Tod gegenüber, ein Ich einem Du. Anders als es für Celans Gedichte gezeigt werden konnte, geht Dunkles zu sagen aber nicht von einer Trennung der Extreme aus, sondern stellt von der ersten Zeile an
17 Zit. n. Rainer Maria Rilke: „Die Sonette an Orpheus“. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 2: Gedichte 1910−1926. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main 1996, S. 237−272, hier S. 263f.
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eine Verbindung her, die sich im sprechenden Subjekt äußert. Das Subjekt – das nicht zufällig mit dem Dichtersänger schlechthin gleichgesetzt wird, also auch einen poetologischen Anspruch erhebt – befindet sich zwar, wie Orpheus, auf der Seite des Lebens (lautlich ist diese Assoziation bei den „Saiten“ mitzudenken), doch seine Dichtung handelt vom Tod, und es weiß „nur Dunkles zu sagen“. Das Gedicht erzeugt damit einen Kontrast zu den Zeilen, die von der „Schönheit der Erde“ sowie den „Augen, die den Himmel verwalten“, sprechen und sehr weit von dem Dunkel entfernt sind, das für das Ich prägend ist. Entsprechend erinnert das Ich im zweiten Abschnitt das Du daran, dass es ebenfalls Erfahrungen mit dem Dunkel gemacht hat. Der „Tau“ ist die zweite Celan-Referenz des Gedichts. Tau spielt etwa in Zähle die Mandeln eine wichtige Rolle, wo er – als Metapher mit polyvalenten Deutungsmöglichkeiten – den Kontakt zwischen Lebenden und Toten ermöglicht. Da in Corona die Zeile „Wir sagen uns Dunkles“ neben dem Bezug auf das weibliche Gegenüber auch auf die Verstorbenen verweist, ist eine vergleichbare Konnotation für Bachmanns Gedicht naheliegend. Wie stark sie tatsächlich ist, zeigt der dritte Abschnitt, der die Bezüge auf Celan erneut erweitert: Die „Welle von Blut“ erinnert an den „Blutstrahl des Mondes“, das „Schattenhaar der Nacht“ an das „aschene Haar Sulamith[s]“ aus der Todesfuge, die „schwarze[n] Flocken“ rufen das gleichnamige Celan-Gedicht auf. Und das Schweigen, das in der ersten Zeile erwähnt wird, prägt nicht nur die Lyrik Celans, sondern auch den Dialog zwischen Celan und Bachmann. Ohne Zweifel also führt Bachmann mit Dunkles zu sagen den Dialog fort, den sie mit Celan begonnen hat. Ihre Antwort aber bietet mehr als die reine Rezeption von Gedanken aus dem Werk Celans. Dunkles zu sagen entwickelt auch einen Vorschlag, wie der gefährdete Dialog zwischen ihr und ihm, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Nähe und Fremde nicht nur fortgesetzt, sondern auch poetisch fruchtbar gemacht werden kann. Wichtig hierfür ist erneut der Orpheus-Bezug, der sich ebenfalls von
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Corona herleiten lässt, aber – durch Rilkes Erweiterung des Mythos – neu funktionalisiert wird. Gleich dem Orpheus, der in Sei allem Abschied voran „immer tot in Eurydike“ ist und deswegen die Aufforderung erhält: „singender steige, preisender steige zurück in den reinen Bezug“, kann Bachmanns Orpheus eine neue Form von Dichtung schaffen. Der Orpheus, der sowohl „auf den Saiten des Lebens den Tod“ gespielt hat als auch „auf der Seite des Todes das Leben“ weiß, schafft eine Form von Lyrik, die angesichts des Todes nicht verstummt. Was der vierte Abschnitt als Möglichkeit des scheiternden Dialogs in den Raum stellt („[I]ch gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun.“), ist eine Option, die nur kurz erwogen wird. Sofort setzt das „Aber“ ein, das von Rilkes scheiterndem Orpheus der Neuen Gedichte zu dem Orpheus überleitet, der in den Sonetten an Orpheus den Tod zwar nicht bezwingen, doch als essentiellen Bestandteil des Lebens begreifen kann. Der Dialog zwischen Leben und Tod wird also für Bachmanns Dichtung als poetologische Konzeption maßgeblich. Der Dialog mit der Vergangenheit, den Corona angestoßen hatte, greift tatsächlich aus in die Zukunft nach dem Abfassen des Gedichts, wenn dieses die Vergangenheit abbildet und in die Gegenwart eines Lesers oder eines neuen ästhetischen Artefakts hineingeholt werden kann. Die Forderung einer Hinwendung zur Gegenwart, mit der Corona schließt, ist eine Forderung an den Leser und seinen Lektüreakt, mehr noch: Es ist die poetologische Beschreibung dieses Lektüreakts. Denn was leistet der Leser, indem er das Gedicht aktualisiert, mit jeder Lektüre des Gedichts anderes als ebenjene Hinwendung zur Gegenwart? Zugleich aber vollzieht sich dies vor dem Hintergrund des Vergangenen, des Gedichts, womit es im Wechsel steht zwischen (dem Text) der Vergangenheit und der Hinwendung zur Gegenwart. „Es ist Zeit“ – diese Feststellung gewinnt, wenn man Dialogizität und Polyphonie des Gedichts berücksichtigt, die Vieldeutigkeit eines Zeitkonzepts, das in die Gegenwart unauslöschlich Elemente der Vergangenheit aufnimmt und dadurch Zukunft schaffen kann.
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In dieser Polyphonie korrespondiert die letzte Zeile mit dem Titel des Gedichts. Das Wort ‚Corona‘ mit seiner Vielzahl an Bedeutungen18 setzt um, was das neue Zeitkonzept und die Poetologie von Celans Gedicht fordern: Betont man die memoria-Lesart, ist Corona (und das Gedicht Corona) der Kranz, den Celan poetisch flicht, um ihn auf das fehlende Grab der jüdischen Opfer zu legen. Zugleich aber bezeichnet ‚Corona‘ den Dichterruhm der Gegenwart und Zukunft. Verbunden werden die Ebenen durch die zyklischen Modelle von Zeit, die im Gedicht und über die runde Form der Corona angesprochen sind. Ebenso wie die Zeit aus den Nüssen geschält wird, gehen lernt und anschließend „zurück in die Schale“ kehrt, verweist der Titel auf ein zyklisches Verständnis von Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen sich im letzten Vers des Gedichts. Diese dialogische Verbindung bildet die Grundlage von Celans Poetik.
18 Vgl. den Eintrag in Georges’ Handwörterbuch: „corōna, ae, f. (κορώνη), der Kranz, I) eig., der Kranz, die Krone aus Blumen (natürlichen od. künstlichen), Zweigen u. dgl. (als Schmuck der Menschen bei fröhlichen u. ernsten, feierlichen Gelegenheiten, wie der Gäste beim Mahle um Kopf und Hals, der Opfernden, der Toten, der Mischkessel u. Becher bei Trinkgelagen, sowie der Götterbilder, der Gebäude, der Schiffe u. der Opfertiere; als Geschenk für Geliebte, Freunde usw.) […] poet., corona perenni fronde, d.i. unsterblicher Dichterruhm“ (Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges. Darmstadt 1988, Sp. 1701f.).
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P OETIK
DES
D IALOGS
Dass Gemeinsamkeiten zwischen Corona und der Meridian-Rede bestehen, wurde verschiedentlich angemerkt.19 Am auffälligsten ist die Nähe zwischen dem dialogischen Moment, das sich als die zentrale poetologische Gestaltungskraft von Corona erwiesen hat, und der Bewegungsrichtung, die im Meridian für jedes Gedicht formuliert wird. Dort schreibt Celan den Satz: „Das Gedicht will zu einem Anderen […]“.20 Auf dieses „Andere“ sollen sich die folgenden Bemerkungen konzentrieren.21 Celan kommt dazu, indem er von der These ausgeht, dass „jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt“.22 Mit diesem Verweis auf Georg Büchners Lenz geht er über zu dem 20. Januar, der für sein Schaffen zentral ist: dem Datum der Wannseekonferenz 1942, auf der die genauen Beschlüsse zur Vernichtung der Juden gefasst
19 Barbara Wiedemann deutet einen Zusammenhang an, wenn sie vorschlägt, die „unter den besonderen Entstehungsbedingungen der Büchner-PreisRede erst 1960 geprägten Begriffe ‚Involution‘ und ‚Faltung‘ […] auf die Rückkehrbewegung der Zeit“ in Corona zu übertragen. Wiedemann: „Fermate“ (wie Anm. 7), S. 33. Ähnlich formuliert Böschenstein: „Celan und Rilke“ (wie Anm. 10), S. 182. Vgl. auch ders.: „L’involution – réponse à une constellation biographique. À propos de la genese du ‚Meridien‘“. In: Andrea Corbei-Hoisie (Hg.): Paul Celan. Biographie und Interpretation. Konstanz/Paris 2000, S. 193–200. 20 Zit. n. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkop. Frankfurt am Main 1999, hier S. 9. 21 Zur Rolle des ‚Anderen‘ vgl. Gerhard Buhr: Celans Poetik. Göttingen 1976, S. 79–111. Die Abschnitte der Meridian-Rede, die sich mit Büchner auseinandersetzen, werden hier zugunsten einer Konzentration auf Celans Poetik des Dialogs bewusst zurückgestellt. 22 Celan: Meridian (wie Anm. 20), S. 8.
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wurden.23 Von diesem Datum leitet er seine Poetik her. Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass das Gedicht trotz der ursprünglichen Gebundenheit an ein Ereignis diesem nicht verhaftet bleibt. Im Gegenteil: An die Stelle der monologischen Konzeption von Lyrik im Sinne Benns setzt Celan, was er in Corona zehn Jahre zuvor formuliert hatte. Zunächst hält er fest, dass das Gedicht zwar mit seinem Ursprungsereignis verknüpft bleibe. Nichtsdestoweniger könne es zugleich „in eines Anderen Sache“24 sprechen. Zwar sei es dem Gedicht nicht gegeben, das Andere zu erreichen, es könne aber darauf zuhalten. So befinde es sich in einem Spannungsfeld von „Schon-nicht-mehr“ und „Immer-noch“.25 Zum Ausdruck komme das „Immer-noch“ in dem Akt des Sprechens, in dem das Gedicht aktualisiert werde. Damit sei das Gedicht „seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz“.26 Unmittelbar an diese ‚Definition‘ des Gedichts schließt der Abschnitt an, der für den Bezug zu Corona der wichtigste ist:27 Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung? Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.
23 Vgl. Bernhard Böschenstein: „‚Der Meridian‘“. In: May/Goßens/Lehmann: Celan-Handbuch (wie Anm. 1), S. 167–175, hier S. 170f. 24 Celan: Meridian (wie Anm. 20), S. 8. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 9. Buhr: Celans Poetik (wie Anm. 21), S. 107 fasst ‚Präsenz‘ als „das aktualisierte Vermögen der Wahrnehmung und des Fragens“. 27 Celan: Meridian (wie Anm. 20), S. 9.
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Das Andere stellt den Dialogpartner dar, der das Gedicht vollendet. In diesem Austausch können die „einmalige, punktuelle Gegenwart“28 des Gedichts und die Zeit des Anderen einander berühren. Celan schließt:29 Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde … einen Meridian.
Wesentliche Aspekte der Meridian-Rede fußen auf Gedanken, die in Corona aufscheinen. Exemplarisch kann dies gezeigt werden für das ‚geschichtliche Datum‘ von Corona, für die Dialektik von ‚SchonNicht-Mehr‘ und ‚Immer-Noch‘ sowie für die Formen des ‚Anderen‘. Ist für Celan in der Meridian-Rede „das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, […] daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten [wie des 20. Jänner] eingedenk zu bleiben“,30 so hat dies für Corona ebenso entschieden Gültigkeit. Der Herbst mit dem fallenden, den Tod ankündigenden Blatt ist ein Indiz dafür; die Feststellung, dass der Sonntag als Tag der Ruhe nur im Spiegel, der Schlaf als Phase der Erholung nur im Traum existiert, ein weiteres. Auch die Möglichkeit zur Wahrheit ist eine illusorische, wenn man sie im Kontext des Spiegels oder des Traumes liest. Die Metapher des Steines, die keine Metapher ist, wenn man sie auf die Grabsteine der ermordeten Juden bezieht, bildet eine weitere Anspielung auf die Vergangenheit; der orphische Gang in die Unterwelt die wichtigste. Auch wenn diese Metaphern oder Symbole nicht eindeutig zu ‚entschlüsseln‘ sind, stellen sie das semantische Feld dar, durch das sich der Bezug auf das geschichtliche Datum konstituiert.
28 Ebd. 29 Ebd., S. 12. 30 Ebd., S. 8.
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Die Dialektik von ‚Schon-Nicht-Mehr‘ und ‚Immer-Noch‘ zeigt sich im Anschluss an die Vergangenheit: Wo die Gefahr bestünde, Lyrik nur zur Bewältigung geschichtlicher Ereignisse zu funktionalisieren, fügt Corona Elemente der Gegenwart ein. Der Herbst, der auf das Vergangene verweist, ist mit dem Ich der Gegenwart verbunden. Das Sprechen vom „Geschlecht der Geliebten“ schwankt zwischen der erotischen und der memoria-Lesart. Eine Entscheidung wird nicht getroffen. Stattdessen speist sich das Gedicht aus der Spannung zwischen den zeitlichen Polen und im Gerichtetsein auf die Zukunft, in der es rezipiert und dialogisch erweitert werden wird. Der bzw. das Andere manifestiert sich in Corona in den ersten vier Abschnitten jeweils unterschiedlich, aber in vergleichbarer Funktion: In jedem Fall handelt es sich um etwas, das einem bestimmten Ausgangspunkt gegenübergestellt ist. Ausgangspunkte sind die Formen von Ich und Wir, aber auch der ‚Normalzustand‘ vor dem Spiegel bzw. im Wachen. Dadurch, dass der Ausgangspunkt mit dem Anderen konfrontiert wird und dessen heterodoxe Gesetze auf ihn zurückspiegeln, beginnt er zu wirken. Sowohl das Gedicht im Rahmen des Anderen als auch der/das Andere im Rahmen des Gedichts bilden ein Spannungsfeld, das sich aus der Chronologie sowie aus unterschiedlichen individuellen und kollektiven Erfahrungshorizonten oder sozialen Rahmenbedingungen ergibt. Ästhetisch produktiv werden können diese Differenzen im Kunstwerk, wenn das Einsame, das unterwegs ist, auf das Andere trifft, das es vollendet. Wie dieser Vorgang gestaltet sein kann, führt Corona vor. Dort stehen lineare und zyklische Zeit, Aufbruch und Vergehen, Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Präsenz, Erotik und Pietät, Einheit und Zweiheit, Individuum und Kollektiv jeweils in Widerspruch und in Ergänzung. Das Gedicht spricht keiner der Stimmen die (Deutungs-)Hoheit zu, sondern lässt sie gleichberechtigt erklingen, so dass es am Rezipienten als dem vorübergehend letzten Dialogpartner ist, für seinen Akt der Lektüre deutend zu entscheiden.
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D IALOGPARTNER
UND ÄSTHETISCHE
V OLLENDUNG
Wie sehr die Vorstellung einer ästhetischen Vollendung Celans Lyrik prägt, sei zusätzlich anhand des Gedichts vorgeführt, das Mohn und Gedächtnis beschließt. Es trägt keinen Titel: Zähle die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl mich dazu: Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah, ich spann jenen heimlichen Faden,
5
an dem der Tau, den du dachtest, hinunterglitt zu den Krügen, die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet. Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, schrittest du sicheren Fußes zu dir,
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schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens, stieß das Erlauschte zu dir, legte das Tote den Arm auch um dich, und ihr ginget selbdritt durch den Abend. Mache mich bitter.
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Zähle mich zu den Mandeln.
Im Falle von Zähle die Mandeln ist das Verhältnis zwischen Sprecher und Angesprochenen in einer Weise polyphon, die die Zuweisung einzelner Sprecherrollen unmöglich macht. Die Frage ist zunächst, ob Du und Ich (wie bei Corona) als zwei bzw. mehrere voneinander zu trennende Instanzen oder (wie bei In Aegypten) als ein einzelner Sprecher im Zwiegespräch mit sich selbst anzusehen sind. Die imperativische Aufforderung des Zählens richtet sich an ein Subjekt, das außerhalb des Sprechers zu situieren ist. Besonders deut-
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lich wird dies, wenn man ‚zählen‘ nicht nur im numerischen Sinne, sondern auch als ‚erzählen‘ fasst. Unter diesen Umständen kann ein Dialog zwischen dem Imperativ-Sprecher des ersten bzw. letzten Abschnitts und dem Mittelteil gestaltet sein. Die Macht, die das (Er-)Zählen beinhaltet, scheint dem Subjekt nicht gegeben; die Wiederholungen zu Beginn und in den letzten beiden Zeilen unterstreichen dies. Auch der zweite Abschnitt ist nur schwer verständlich, wenn man nicht von zwei beteiligten Figuren ausgeht: Der Vorgang, „Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst“, ist nur bei Annahme einer komplexen Metaphorik der Selbstbeobachtung als monologisch zu betrachten. Und doch bietet das Gedicht eine Reihe von Ansatzpunkten, die einen Monolog nahelegen: Auffällig ist, wie genau das sprechende Ich über das angesprochene Du Bescheid weiß. Es ist informiert, was für das Du „bitter war und dich wachhielt“, es war die einzig anwesende Instanz, als „niemand dich ansah“, es kennt die Bewegung des „Taus“ über den „heimlichen Faden“ hin zu den „Krügen“ sowie das Ereignis, das das Du mit dem „Erlauschte[n]“ und dem „Tote[n]“ zusammengeführt hat. Eine solche Vertrautheit mit Vorgängen, die in einem hohen Maße semantisch aufgeladen sind, kann nur schwerlich als Blick von außen auf die Erlebnisse einer zweiten Person angesehen werden. Für Zähle die Mandeln ist somit ein Fall von Dialogizität zu konstatieren, der sich noch stärker zu Polyphonie ausweitet. Nicht mehr liegt hier – wie bei In Aegypten – ein eindeutiges Verhältnis von einem Sprecher und zwei weiteren Instanzen vor, auch nicht ist – wie bei Corona – zwar eine Vieldeutigkeit zu konstatieren, diese aber durch eine grammatikalische Ambivalenz zu erklären. Stattdessen kommen (mindestens) zwei sprechende und angesprochene Instanzen zu Wort, die nicht nebeneinander bestehen, aber auch nicht vollständig in eins fallen. Je nach Lektüre treten andere Aspekte in den Vordergrund. Der für das Gedicht zentrale Begriff der „Mandel“ erschließt sich im Lichte eines späteren Gedichts von Celan, das den Titel Mandorla trägt. Dort wird der Begriff ‚Mandel‘ – über einen mehrfachen Bild-
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wechsel – auf die „Judenlocke“ bezogen.31 Es ist also naheliegend, dass auch in dem früheren Gedicht die Mandel einen Bezug zum Judentum aufweist. Unter diesen Umständen gewinnt die Bitte des Sprechers, ihn „zu den Mandeln“ zu zählen, neues Gewicht. Fasst man die „Mandeln“ – ohne den Begriff zu stark vereindeutigen zu wollen – als Symbol für Judentum oder jüdisches Volk, so legt die Bitte des Sprechers nahe, dass er sich nicht (oder nicht adäquat) als Jude fühlt. Erneut scheint hier der Gegensatz zwischen Lebenden und Toten auf: Wenn der Sprecher (zumindest in Teilen) mit dem angesprochenen Du identisch ist und „das Tote den Arm“ um das Du legt, ist auf die kategoriale Verschiedenheit zwischen dem Ich und den Toten verwiesen. Zusammen aber mit dem empfundenen Defizit des Ich, nicht „zu den Mandeln“ zu gehören, und unter Berücksichtigung der vorigen Gedichte, liegt es nahe, das ‚Defizit‘ damit zu erklären, dass das Ich die Shoah überlebt hat. Die jüdische Identität, die es erreichen möchte, ist dadurch gefährdet, dass es die fundamentale ‚Erfahrung‘ nicht teilt, die einer Vielzahl anderer Juden widerfahren ist: die der Vernichtung. Die Fähigkeit aber, das Ich zu den Mandeln zu zählen, hat nicht nur das Ich selbst, sondern zu einem ebenso großen Part das beteiligte Du. Sieht man dieses Du im Kontext der anderen Gedichte in Mohn und Gedächtnis, liegt es nahe, es auch hier mit der „Fremden“ bzw. der „Geliebten“ in Verbindung zu bringen: mit der Instanz, die der Erinnerung entgegengesetzt ist, weil sie Vergessen und Gegenwart bedeutet. Wenn es aber diese Instanz ist, die dem Ich die ersehnte jüdische Identität verleihen kann, ist dies eine bemerkenswerte Schlussfolgerung. Ein solcher Wechsel der Sprecher- und Machtverhältnisse bedeutet, dass der Dialog erfolgreich war. Von der Vergangenheit kann zumindest erzählt werden, im Dialog mit einem Du der Gegenwart. Eine Dreier-Figur tritt an die Stelle der
31 Zit. n. Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Lyrik und Prosa. Bd. 6,1: Die Niemandsrose. Hg. v. Axel Gellhaus unter Mitarbeit v. Holger Gehle u. Andreas Lohr in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main 2001, S. 46.
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binären Ich-Du-Beziehung: Der Sprecher berichtet dem Du von den Toten der Vergangenheit, dies wird durch den (Erzähl-)Faden ermöglicht. Die dunklen Metaphern klären sich im Zuge eines – zumindest teilweise erfolgenden – Verständnisprozesses. Der Sprecher weiht sich selbst, aber auch das angesprochene Du in das Wissen um die Vergangenheit ein, beiden wird „von den Mandeln“ erzählt, beide werden damit „zu den Mandeln“ gezählt. Der Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Nähe und Fremde, Erinnern und Vergessen, Pietät und Rausch, Kollektiv und Individuum, Dauer und Augenblick kommt damit an ein vorläufiges Ende. Jüdische und nicht-jüdische Identität stehen einander nicht länger unvereinbar gegenüber, sie können zumindest im Gedicht vermittelt werden, ja mehr: sie können einander sogar bedingen. Lyrisches Mittel dafür ist die Dialogizität, die ein Sprechen ermöglicht, das das Schweigen überwindet, ohne eindeutig zu sein.
P OLYPHONIE
ALS POETOLOGISCHES
P RINZIP
Die Gemeinsamkeiten, die zwischen Corona und dem Meridian sowie zwischen den Gedichten Celans und Bachmanns herausgearbeitet werden konnten, sollen die Deutung in keiner Weise festlegen. Stattdessen kann gerade das Element der Lyrik beider, das im Anschluss an Bachtin als polyphon bezeichnet wurde, zu einem vertieften Verständnis beitragen, warum gerade Celans Lyrik sich gegen eindeutige Interpretationen sperrt.32 Mit dem dialogischen bzw. polyphonen Element kann erklärt werden, wie es zu Lektüreeindrücken wie dem folgenden
32 Als Beispiel eines anderen Ansatzes, diese Vieldeutigkeit konzeptionell zu erfassen, vgl. Christoph Parry: „Meridian und Flaschenpost. Intertextualität als Provokation des Lesers bei Paul Celan“. In: Celan-Jahrbuch 6 (1995), S. 25–50, hier S. 27f.
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kommt, den Hans-Georg Gadamer exemplarisch als „die Erfahrungen eines Lesers“ in Worte fasst:33 Es sind Entzifferungsversuche, wie die von fast unleserlich gewordenen Schriftzeichen. Niemand zweifelt, da stand etwas. Man muß vieles erwägen, erraten, ergänzen – und schließlich wird man entziffert haben, wird lesen und hören – und vielleicht richtig.
Mit dem Wissen um die Konzeption der Gedichte und ihre polyphonen Muster kann diese Leseerfahrung auf Strukturen zurückgeführt werden, die sich am Text belegen lassen. Eine objektivierbare Interpretation erweist sich als nahezu unmöglich. Stattdessen ist Celans Lyrik als extrem ‚dialogbedürftig‘ gestaltet:34 Nur im Zusammenspiel mit dem Leser, für das die (Spiel-)Regeln poetologisch in Corona und theoretisch in der Meridian-Rede festgelegt werden, kann sie ihre Wirkung entfalten – aktualisiert von und in einer jeweils neuen Gegenwart. Bereits Corona stellt also den ersten Schritt der Atemwende dar, die Celan nicht nur im Meridian als essentiellen Bestandteil von Dichtung fordert, sondern im Jahre 1967 auch als Titel eines Gedichtbands wählt. Da der Atemwende eine dialogische Struktur untrennbar einbeschrieben ist, erweist sich das Konzept der Dialogizität bzw. der Polyphonie als poetologisches Prinzip von Celans Gesamtwerk.
33 Gadamer: Wer bin Ich (wie Anm. 8), S. 7. 34 Gadamers Feststellung, „wie eng sich der Anspruch einer jeden Interpretation begrenzt“ (ebd., S. 133) ist daher ebenso zuzustimmen wie zu widersprechen: Begrenzt ist der Anspruch von Interpretationen durch das dialogische Moment insofern, als die Suche nach einer ‚richtigen‘ Interpretation zum Scheitern verurteilt ist. Sehr weit ausgreifen kann die Interpretation jedoch, wenn sie über das dialogische Moment verschiedene Facetten desselben Gedichts zum Vorschein bringt.
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L YRIK
ALS DAS
B LEIBENDE
Für einen abschließenden Blick auf die poetologischen Prinzipien von Bachmanns Lyrik bietet sich ein Gedicht an, das – wie Zähle die Mandeln – in mehrfacher Hinsicht einen Abschluss bildet: Die Liebe hat einen Triumph. Es steht am Ende von Bachmanns zweitem Gedichtband, Die Anrufung des Großen Bären aus dem Jahre 1956, zugleich am Ende des letzten Zyklus, der den Titel Lieder auf der Flucht trägt. Es hat keinen Titel, nur die Nummer XV im Zyklus:35 Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, die Zeit und die Zeit danach. Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen, Abglanz und Schweigen. Doch das Lied überm Staub danach
5
wird uns übersteigen.
Was sich in Bachmanns Lyrik von Dunkles zu sagen bis zum Ende der Anrufung des Großen Bären als Konstante (und als steter Rekurs auf Celan) identifizieren lässt, ist die Dialektik von Leben bzw. Liebe und Tod. Dieses orphische Motiv wird hier aufgegriffen und fruchtbar gemacht, jedoch – nicht zufällig in der prominenten Position am Ende des Gedichtbands – um einen Aspekt ergänzt. Zunächst werden Liebe und Tod als unvereinbare, doch nicht zu trennende Prinzipien aufgerufen. Verbindendes Element ist, dass beide „einen Triumph“ haben, über das Individuum siegen. Warum das so ist, erklärt die vierte Zeile, die die Rolle des Wir als eine passive, umgeben von „Abglanz und Schweigen“ deutet. Doch das Wir wird ersetzt durch „das Lied“, und dieses Lied „wird uns übersteigen“.
35 Zit. n. Bachmann: Sämtliche Gedichte (wie Anm. 16), S. 157.
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Deutlich ist die Rolle von Lyrik umrissen. Sie ist das Bleibende, das – im Horazischen Sinne – dauerhafter als Erz ist: aere perennius. Der Dialog, der sich im Individuum abspielt und Züge der orphischen Dialektik trägt, ist langfristig ein scheiternder, weil dem Individuum keine Dauer beschieden ist. An die Stelle des Individuums aber tritt das Gedicht als Möglichkeit, den Gedanken über Liebe und Tod Ausdruck zu verleihen. Hier kommt es nicht darauf an, Leben und Tod als Prinzipien zu verbinden, sondern sie hinter sich zu lassen, um ein Werk zu schaffen, das über sie hinaus Dauer haben kann.
„ein gedicht von zweifellos einem von uns“ Friederike Mayröcker und Ernst Jandl
Friederike Mayröcker und Ernst Jandl waren von 1954 bis zu seinem Tod im Jahre 2000 ein Paar. Ihnen gelingt damit etwas, das den anderen hier vorgestellten Dichterpaaren verwehrt blieb: eine persönliche Beziehung über Jahrzehnte hinweg mit einem gegenseitig inspirierenden Schreibprozess zu verbinden. Für Mayröcker reicht dies über den Tod Jandls hinaus und erfährt damit eine geradezu existentielle Dimension. Welche zentrale Rolle die biographische Komponente spielt, zeigen nicht nur die publizistischen Äußerungen, mit denen Mayröcker und Jandl ihr poetisches Werk begleiten,1 sondern auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Duo, die sich häufig auf die biographische Konstellation konzentriert.2 Hier sollen demgegenüber – der methodologischen Ausrichtung entsprechend – die Gedichte Jandls und Mayröckers im Vordergrund der Analyse stehen, insbesondere im Blick auf mögliche dialogische Elemente.
1
Vgl. z.B. Mayröckers Und ich schüttelte einen Liebling (Frankfurt am
2
So etwa Gerda Marko: Schreibende Paare. Liebe – Freundschaft – Kon-
Main 2005), worin sie Episoden aus dem Leben mit Jandl erzählt. kurrenz. Zürich/Düsseldorf 1995, S. 438–453; Heinz F. Schafroth: „Paarweisheit“. In: du 55 (1995/1996), S. 52–57.
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B IOGRAPHISCHE V ERSCHMELZUNG Dass der Dialog der Dichter nicht nur die Grenzen zwischen Leben und Werk verschwimmen lässt, sondern sogar auf die Autorpersönlichkeiten übergreifen kann, illustriert die Anmerkung, die Jandl seiner Gedichtsammlung serienfuss voranstellt:3 das zweite gedicht dieser sammlung, „o schrei“, [...] erscheint unter meinen manuskripten als ein gedicht von mir, unter friederike mayröckers manuskripten als ein gedicht von ihr. ich veröffentliche es hier im einverständnis mit ihr als ein gedicht von zweifellos einem von uns.
In der intensiven Zusammenarbeit scheinen die Grenzen so fließend zu werden, dass selbst die Verfasser ihr Werk nicht mehr zweifelsfrei als das ihre identifizieren können. Wie sich dies inhaltlich niederschlägt, belegt Jandls Aus der Fremde, eine „Sprechoper in 7 Szenen“, in der zwei Figuren auftreten, die Jandl und Mayröcker zum Verwechseln ähnlich sind:4 der „Schriftsteller, ca. 50 Jahre, ca. 170 cm groß, sehr kurzes, schütteres Haar, von blond zu grau“ und die „Schriftstellerin, ca. 50 Jahre, doch unverbraucht, in einer Weise alterslos; ca. 173 cm groß, mittellanges schwarzes Haar, das die Stirn fast bis an die Augenbrauen verdeckt“.5 Insbesondere als Verfasser von Hörspielen sind Jandl und Mayröcker auch als Autoren-Duo aufgetreten und dafür u.a. mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden.
3
Zit. n. Ernst Jandl: poetische werke. Bd. 6: übung mit buben. serienfuss. wischen möchten. Hg. v. Klaus Siblewski. München 1997, S. 81.
4
Mit dem Dialog im Drama beschäftigt sich Monika Schmitz-Emans: „Aus der Fremde der Sprache. ‚er‘ und ‚sie‘ und die Poesie“. In: Dieter Burdorf (Hg.): „An seiner Seite hätte ich sogar die Hölle ertragen“. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Iserlohn 2005, S. 31–72.
5
Zit. n. Ernst Jandl: poetische werke. Bd. 10: peter und die kuh. die humanisten. Aus der Fremde. Hg. v. Klaus Siblewski. München 1997, S. 178.
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Im Folgenden aber sollen die lyrischen Werke im Vordergrund stehen, zunächst ein Text Jandls aus dem erwähnten Band serienfuss mit dem Titel doppelporträt jesolo 66, gewissermaßen die sommerliche Momentaufnahme eines biographischen Dialogs:6 E
F
schwitzen
schwimmen
schwitzen
schwimmen
schwitzen
schwimmen
schwitzen
schwimmen
schwimzen schwimmen
5
Dass der Dialog, den das Gedicht inszeniert, aus einer biographischen Situation heraus entstanden ist, deuten sowohl der Ort der Sommerfrische wie auch die Initialen der Figuren – E(rnst) und F(riederike) – an. Die Aktivitäten, denen die beiden nachgehen, sind über vier Wiederholungen strikt getrennt; das dialogische Moment ist also zunächst eines des Kontrasts, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Und doch erweist sich die Grenze als nicht so beständig, wie die bildliche und semantische Trennung es vermuten lassen: Bei der fünften Durchführung schleicht sich ein Buchstabe von rechts nach links, der den Leser stolpern lässt und damit das Stolpern veranschaulicht, das die beteiligte Figur durchleiden mag, wenn sie ihre angestammte Aktivität aufgibt und sich an einer neuen versucht: Wer lieber auf einer Liege am Strand schwitzt, schwimzt vermutlich eher, als dass er schwimmt, wenn er sich ins Meer stürzt. Der Dialog der Dichter ist in diesem Fall ein simultan sich vollziehender Monolog. Das Hinüberwechseln in die andere Sphäre bleibt auf den Versuch beschränkt; Dichtung aber bietet das Medium, diesen Versuch sprachlich darzustellen.
6
Zit. n. Jandl: poetische werke. Bd. 6 (wie Anm. 3), S. 88.
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M EHR
ALS I CH
Dass der Dialog sich jedoch über das halbironische Nachzeichnen einer Urlaubsimpression hinaus erstrecken, ja essentieller Bestandteil von Biographie und Werk sein kann, zeigt das weitere intertextuelle Gespräch zwischen den beiden Dichtern. Jandl setzt sich in seiner Abhandlung über Die poetische Syntax in den Gedichten von Friederike Mayröcker7 detailliert mit dem Werk seiner Lebensgefährtin auseinander; dialogisch orientiert sind auch zahlreiche Gedichte Mayröckers im Blick auf den Rezipienten Jandl. So verzeichnen die Gesammelten Gedichte der Autorin über fünfzig Texte, die explizit Jandl gewidmet sind; darüber hinaus eine Reihe, für die Jandl implizit eine zentrale Rolle spielt. Einige Werke nehmen wechselseitig aufeinander Bezug. So entspinnt sich zwischen Jandls liegen, bei dir und Mayröckers habe niemand wo ich liegen kann ein Dialog, der sich über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert erstreckt. Im Jahr 1956 schreibt Jandl:8 ich liege bei dir. deine arme halten mich. deine arme halten mehr als ich bin. deine arme halten, was ich bin wenn ich bei dir liege und
5
deine arme mich halten.
Mayröcker reagiert darauf nach Jandls Tod im Jahr 2000 mit den folgenden Versen, ihm gewidmet:9
7
Ernst Jandl: poetische werke. Bd. 11: Autor in Gesellschaft. Aufsätze und
8
Zit. n. Ernst Jandl: poetische werke. Bd. 5: dingfest. verstreute gedichte 4.
Reden. Hg. v. Klaus Siblewski. München 1997, S. 14–33. Hg. v. Klaus Siblewski. München 1997, S. 86. 9
Zit. n. Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. 1939–2003. Hg. v. Marcel Beyer. Frankfurt am Main 2004, S. 732.
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habe niemand wo ich liegen kann wenn öffnen die Blumen wenn öffnen die Sterne der Mond habe niemand dasz ich sprechen kann wie damals zu dir weil kein Wort ist zu jenen die noch am Leben. Kalt ist und einsam
5
die Nacht, 1 wenig Ende der Lippenzauber in 1 Café
So nahe die Gedichte einander auf den ersten Blick sind, so sehr unterscheiden sie sich auf den zweiten. Sie können damit als Beispiel eines poetischen Dialogs fungieren, der in der Gemeinsamkeit gerade auch die Differenzen betont. Jandls Gedicht lebt von seiner Gegenwärtigkeit, seiner spürbaren körperlichen Nähe und dem im Text in Szene gesetzten Sprachspiel. Wie Ying und Yang ineinander verschlungen sind, bringt die viermalige Wiederholung der haltenden Arme zum Ausdruck, dass ein beinahe ewiger Prozess geschildert wird. Entwickelt wird dies sukzessive, fast im Sinne einer sprachlogischen Argumentation: Die ersten zwei Sätze als reine Feststellungen entwerfen die Situation. Problematischer ist der dritte Satz, der gleichermaßen Steigerung wie logischer Bruch der vorangegangenen ist. Wenn die Arme des Du plötzlich nicht nur das Ich, sondern mehr als das Ich halten, ist dies einerseits logisch unmöglich, andererseits aber höchst konsequent, weil damit das Ganze einen Mehrwert gegenüber der Summe seiner Teile gewinnt. Die zweite Hälfte besteht aus einem einzigen, scheinbar tautologischen Satz: Dieselbe Aussage – die Arme des Du halten das Ich – wird am Anfang und am Ende wiederholt. Durch die Repetition, die an die Struktur der ersten drei Verse anknüpft, wird der These des ersten Teils eine zweite hinzugefügt: In der erotischen Nähe zweier Personen kann nicht nur das Ganze die Summe seiner Teile übersteigen, es kann zudem ein Hauch von Ewigkeit aufscheinen. Verstärkt wird dies dadurch, dass der Leser das Gedicht nach der Lektüre bruchlos wieder von vorne beginnen kann – und sich dabei nicht unbedingt das Gefühl einstellen muss, etwas Überflüssiges zu tun (weil die ‚Aussage‘ des
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Textes bereits kommuniziert und verstanden wurde), sondern, im Gegenteil, etwas geradezu Notwendiges, weil der Akt des Lesens den ewigen Augenblick fortsetzt. Bei Mayröcker hingegen steht ein Aspekt im Vordergrund, der von dem intratextuellen Dialog bei Jandl zu einem intertextuellen sowie zu einer poetologischen Lesart führt. Nach dem Tod ihres Lebens- und Dichtergefährten greift Mayröcker dessen Zeilen auf und bezieht sich auf beide Thesen: Sie hat niemanden mehr, bei dem sie liegen kann, das zyklische Element ist nun ein Zyklus der Einsamkeit, der sich vom Morgen bis zum Abend und in die Nacht hinein erstreckt. Sehr viel wesentlicher aber als die körperliche Einsamkeit ist für das Ich die monologische: Es hat niemanden mehr, zu dem es sprechen kann. Mit den verbleibenden Menschen redet es kein Wort, und darin besteht der eigentliche Grund, warum die Nacht „[k]alt und einsam“ ist. Der poetische Dialog, der für Mayröcker und ihre Gedichte immer auch ein Dialog mit Jandl war, ist nach dessen Tod an ein Ende gekommen. Und doch ist es kein absolutes Ende: Im Gedicht kann das Gespräch fortgesetzt werden. So erklärt sich die Formulierung von „1 wenig Ende der Lippenzauber“ als ein Sprechen, das nicht vollends verstummt, sondern in der Realität zum monologischen Sprechen wird, während es sich im Gedicht an den Dialog erinnern kann. Dass das Ich dabei auf sich gestellt und allein ist, führt die letzte Zeile vor Augen. Es ist genau die Zeile, die im Vergleich mit Jandls Gedicht ‚zu viel‘ ist; sie bricht nach der zweiten Hebung ab, während die vorangehenden Zeilen stets sechs Hebungen aufweisen. Das Abbrechende und zugleich Bleibende, als das das Ich sich nach dem Ende des poetischen Dialogs empfindet, wird also auch in der Form des Gedichts vollzogen. Der „Lippenzauber“ des Dialogs wird in die Leere eines Hopper’schen Cafés gesprochen, in dem das Ich alleine seine Verse schreibt.
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D IALOG
UND
D IALOGIZITÄT
BEI
J ANDL
Dialogisch orientiert ist Jandls Lyrik nicht nur – wie oben gezeigt – in biographischer, sondern auch in intertextueller Hinsicht: Teils sind seine Werke Kontrafakturen auf bekannte Gedichte, etwa auf Goethes Ein Gleiches, teils bestehen sie praktisch ausschließlich aus Zitaten, etwa – im Falle von sanft und klar – in einer Neukombination der Stimmen verschiedener Jahrhunderte:10 das stürmische doch die bei den fetter grüne du hast du besser sucht mich ein
5
daß dich der im trauern soll sich da was mein friedel [...]
In diesem Gedicht ist jede Zeile ein Zitat, hier steht Goethe neben Rilke, Isolde Kurz neben Walther von der Vogelweide. Der Dialog mit der lyrischen Tradition wird über die Intertextualität zu einer Polyphonie der Stimmen, zu einer radikalisierten Form von Dialogizität, aus der kaum ein ‚Sinn‘ zu destillieren ist. Der Dialog bewegt sich auch deshalb an der Grenze der Verständlichkeit, weil einzelne Zeilen so gewählt sind, dass sie einer Vielzahl von Texten entstammen könnten. Während „da was mein friedel“ oder „fetter grüne du“ durch sprachgeschichtliche Alterität oder stilistische Gestaltung darauf aufmerksam machen, dass sie einem speziellen Kontext entnommen sind, können die Worte „daß dich der“ oder „die bei den“ praktisch in jedem Text zu
10 Zit. n. Ernst Jandl: poetische werke. Bd. 2: Laut und Luise. verstreute gedichte 2. Hg. v. Klaus Siblewski. München 1997, S. 138.
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finden sein. Es geht also nicht darum, eine konkret und bewusst gesetzte Referenz auf einen Prätext anzubringen und damit in einem neuen Kontext eine neue Aussage zu formulieren, sondern darum, das dialogische Verfahren selbst präsent zu machen. Während sich das Gedicht sanft und klar mit dieser poetischen Technik insofern nahtlos in den Band Laut und Luise aus dem Jahr 1966 einfügt, als es – wie die meisten darin publizierten Texte – die Grenzen von Sprache und Sagbarkeit auslotet, folgt der acht Jahre später erschienene Band dingfest anderen poetischen Prinzipien. Exemplarisch sei ein Gedicht in Augenschein genommen, das Mayröcker gewidmet ist. Es trägt den Titel zur bewältigung der stille:11 gib uns ein messer für die stille. die grillen hämmern. gib uns eine drahtschere für die stille. der bach kaut steine. gib uns eine stecknadel für die stille.
5
die vögel trällern. gib uns einen stachel für die stille. telegramme drängen über die berge.
Das Dialogische ist in diesem Werk implizit präsent. Alternierend werden zwei Sphären beschrieben, die miteinander ringen – und im Endeffekt möglicherweise zur titelgebenden bewältigung der stille führen. Die eine Sphäre ist durch das Zusammensein von Ich und Du sowie die alles überdeckende Stille geprägt und weist zahlreiche repetitive Momente auf. Die andere Sphäre führt eine Reihe von Entitäten an, die gegen die Stille arbeiten: „grillen“, „bach“, „vögel“ sowie – nach den Natureindrücken durchaus überraschend – „telegramme“. Zieht man zusätzlich die Widmung an Mayröcker in Betracht, scheint eine poetologische Lesart auf. Das, was – wie vom Sprecher unaufhörlich gewünscht – die Stille durchdringen kann, ohne dabei
11 Zit. n. Jandl: poetische werke. Bd. 5 (wie Anm. 8), S. 79.
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von der bedrohlichen Art der Naturgestalten mit ihrem Hämmern, Kauen, Drängen zu sein, ist das Gedicht. Das Gedicht, das sich an eine Rezipientin wendet, die ihm schriftlich Rede und Antwort stehen wird, kann „messer“, „drahtschere“, „stecknadel“ und „stachel“ gegen die Stille sein. Die poetische Beziehung überwindet das Schweigen, ohne dass das dabei erzeugte Produkt ein bloßes Lärmen wäre, das die Stille zwar übertönt, sie aber nicht bewältigt. Dass hingegen gerade die poetische Kommunikation vor jeder anderen Form des Gesprächs ausgezeichnet ist, zeigt das Gedicht, indem es sich als Kontrast zu den Telegrammen inszeniert.
D IALOG
MIT
V ERGANGENHEIT
UND
G EGENWART
Wie für Jandl am Beispiel von sanft und klar gezeigt, kommuniziert auch Mayröcker intertextuell mit anderen Dichtern. Marcel Beyer, Ulrike Draesner und Thomas Kling sind nur einige der Autoren, denen Gedichte gewidmet sind,12 Pindar, Hölderlin und Raoul Schrott nur einige der Autoren, auf die explizit Bezug genommen wird.13 Zum Ende dieses Kapitels soll aus diesem weiten Feld ein Text in den Blick genommen werden, der mit seinem Bezug auf die Antike zum folgenden Kapitel über Thomas Kling und Durs Grünbein überleitet: das Gedicht „deinetwegen ist..“ (Pindar/Hölderlin):14
12 Vgl. aus Mayröcker: Gesammelte Gedichte (wie Anm. 9) die Werke man wacht von innen nach auszen auf, für Marcel Beyer (S. 599f.), es nämlich sei alles verschlüsselt, oder ein Tränen Flirt (S. 618f.) sowie an Thomas Kling für sein Buch „Botenstoffe“ (S. 715f.). 13 Vgl. aus Mayröcker: Gesammelte Gedichte (wie Anm. 9) die Werke „deinetwegen ist..“ (Pindar/Hölderlin) (S. 631), „ihr sicher gebauten Alpen“, Hölderlin (S. 721f.) sowie „und dasz die Vögel sich schlafen legen“ (Raoul Schrott) (S. 725f.). 14 Zit. n. Mayröcker: Gesammelte Gedichte (wie Anm. 9), S. 631.
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diese Pelargonien-Flur als Stäubchen ich meine so aus dünnem Auge! und flieszend : winziger Globus milchfarben orangefarben tomatenfarben ich meine diese Flora Flocke und Staub diese Spur von Liebe und Bluten und gleiszenden Blättchen im Weh-
5
bezirk, abermals, und schreien durch Gassen WO BIST DU? –
so dein Auge : flammendes Wort / ich : jagend /
weder der brennenden Freude noch ...... (zugewandt)
10
Das titelgebende Zitat aus Hölderlins Übertragung von Pindars 14. Olympischer Ode folgt in seiner Kürze und Verweislosigkeit scheinbar der für Jandl konstatierten Dekonstruktion des intertextuellen Signifikats zugunsten der Transparenz des Verfahrens. Dass Mayröckers Liebesgedicht aber doch einiges mit Pindars Ode auf den Knaben Asopichos, den Sieger im Wettlauf, verbindet, lässt sich erschließen, wenn beide Werke zunächst getrennt betrachtet und dann enggeführt werden. Mayröcker beginnt mit einem umfassenden Natureindruck aus Blumen und Blättern. Scheint dieser zunächst für sich selbst zu stehen, wird alsbald deutlich, dass der Natur anthropomorphe Aspekte einbeschrieben sind: solche der Erinnerung an einen verlorenen Geliebten. In der Tradition hymnischer Gedichte, die – wie Klopstocks Frühlingsfeyer – einen kosmischen Zusammenhang in allerkleinsten Wesenheiten entdecken, bilden die Blumen einen „winzige[n] | Globus“. Doch nicht nur kosmische Phänomene spiegeln sich im Blumen-Bild, auch der Kontakt zum Du ist darin verborgen. Liest man die Titelzeile als Enjambement mit den ersten beiden Zeilen zusammen, wird die Pracht der Natur unmittelbar auf das Du zurückgeführt: Nur weil das Du lebt, kann die Natur vom Ich als wunderbar empfunden werden. Nur wegen der „Spur von Liebe“, die sich durch „Flora Flocke und Staub“ zieht, erstrahlen die Blüten in bunter Pracht. Doch nicht von einer glücklichen, erfüllten Liebe ist die Rede. Die Blüten werden zum „Bluten“, die sonnenbeschienene Natur zum „Wehbezirk“, denn das Du ist fort.
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Nur im „flammende[n] Wort“ ist es kurzzeitig präsent, dabei aber kaum zu erhaschen, schon entschwindet es. Gleichzeitig bricht das Gedicht ab. Bei Pindar hingegen ist von Liebe nicht die Rede. Die in zwei Teile gegliederte, streng gebaute Hymne besingt zunächst das allumfassende Wirken der Chariten, der drei Göttinnen der Anmut, die den römischen Grazien entsprechen, und deren Einfluss auf den Sieg des Asopichos. Im zweiten Teil wird der Zusammenhang zwischen göttlichem Wirken und menschlichem Geschick poetologisch funktionalisiert: Der Dichter ruft die Grazien an, um von ihnen Kraft für seinen Lobgesang zu erbitten, und stellt damit für sich dieselbe strukturelle Beziehung her, die zwischen diesen und dem siegreichen Knaben besteht:15 Herrliche Aglaja, gesängeliebende Euphrosyna, von Göttern des Mächtigsten Kinder, Zuhörend nun, und Thalia, gesängebelustigt, sehend dieses Loblied, zu wohlgesinntem Glük
5
Leicht wandelnd; lydisch nemlich Zum Asopichus in der Weise, In Sorgen der Sänger Geh ich, weil olympischsiegend Minyä Deinetwegen ist. [...]
10
Eine Verbindung zwischen Mayröckers Gedicht und der Pindar-Ode schafft der poetologische Aspekt. Bei Pindar verdankt die Dichtung ihren Ursprung der sportlichen Leistung des Siegers; im doppelt dialogischen An-Singen des Asopichos mit Unterstützung durch die Grazien steht das poetische Werk in einem klaren Funktions- und Kommunikationszusammenhang. Die hymnische Dichtung Pindars inszeniert sich als zielgerichtet sowie einer Inspirationsquelle bedürfend. Vergleichba-
15 Zit. n. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Hg. v. Michael Knaupp. München/Wien 1992, S. 200.
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res gilt für die Dichtung Mayröckers, wobei Inspirationsquelle und Ansprechpartner bei ihr in derselben Person zusammenfallen: in derjenigen, die nicht mehr ist, sondern nur noch durch ihr „flammendes Wort“ Präsenz zeigt. Sie ist sowohl Grund für Mayröckers Dichtung als auch ihr Ziel. Ihre Lyrik ist „(zugewandt)“, wie es die letzte, einsam stehende Zeile im Stile einer Regieanweisung ausdrückt; sie bedarf des Gesprächspartners, weil dieser erst die unbelebte Natur lebendig und damit zur Quelle von Dichtung macht. Der Titel „deinetwegen ist..“ kann daher über die unmittelbare Einbettung in das Gedicht (über das Enjambement) sowie über die intertextuelle Referenz (auf Hölderlin und Pindar) hinaus in einem quasi-ontologischen Sinne verstanden werden. Das Du ist Ursache von Leben und Dichtung; ohne das Du hingegen wird das Leben sinnlos, die Dichtung bricht mitten im Vers ab. Die Notwendigkeit, die das Du für das Ich darstellt, zeigt abschließend das programmatische, Jandl gewidmete Gedicht an seiner Seite hätte ich sogar die Hölle ertragen. Dessen erste Zeilen lauten:16 wo wo wo wo bist du
o fuchsäugige Welt
des Frühlings, Spuren : Sporen im Himmel
wo
bis du, o finkende Welt des Frühlings
wo
bist du, aufgelöst vermutlich in die Azur Stösze deines Atems damals wo bist du [...]
5
Paradoxerweise – und doch höchst folgerichtig – wird gerade nach dem Verlust des Ansprechpartners das Du der Dichtung besonders relevant. Im poetischen Text kann das Gespräch beschworen werden, das in der Realität nicht mehr stattfindet. Der Dialog der Dichter ist damit auch ein Dialog zwischen Realität und Fiktion, zwischen Lebenden und Toten.
16 Zit. n. Mayröcker: Gesammelte Gedichte (wie Anm. 9), S. 714.
„antike, beschleunigt, als jagdstück“ Thomas Kling und Durs Grünbein
Thomas Kling stirbt am 1. April 2005 im Alter von nur 47 Jahren. Zwei Jahre später verfasst sein Dichterkollege Durs Grünbein in der Süddeutschen Zeitung einen Nachruf auf ihn, unter dem Titel Dioskurenklage. Mit dieser mythologischen Referenz auf Castor und Pollux behauptet Grünbein scheinbar eine programmatische Nähe zwischen sich und Kling, wie sie größer kaum sein könnte, sind die Zeussöhne und Zwillingsbrüder im Mythos doch unzertrennlich. Aber Grünbein geht nur begrenzt von einer solch ewigen Verbundenheit aus. Nicht nur positioniert er sich mit dem Nachruf in der Rolle des unsterblichen Pollux, er wirft Kling auch dessen Rede vom „zuletzt leicht statuarisch wirkende[n] Grünbein“1 vor, wenn er von dem „einen oder anderen unkontrollierten Nebensatz, Anthologie-Kommentar“2 spricht. Und er betont, dass der Dioskuren-Vergleich ursprünglich kein von ihm gewählter, sondern ein von außen an beide herangetragener gewesen sei. Gewiss war gerade für das kurz vor der Wiedervereinigung stehende Deutschland die Vorstellung eines west- und eines ost-
1
Thomas Kling: „Einleitung zu Kap. VII“. In: Ders. (Hg.): Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Köln 2001, S. 310f., hier S. 311.
2
Durs Grünbein: „Dioskurenklage“. In: Süddeutsche Zeitung (21.06.2007), S. 14.
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deutschen Dichters faszinierend, die wie Zwillingsbrüder sind und sich über eine unüberwindliche Grenze hinweg treffen.3 Grünbein relativiert auch dies. Bei einer Begegnung in Berlin habe er „begriffen, dass meine Zuneigung allzu einseitig gewesen war. Ich hatte ihn [Kling] gern gehabt, doch equal affection kommt selten vor [...].“4 Dennoch widmet er Kling ein Gedicht. Es trägt den Titel O Heimat, zynischer Euphon und ist auf den 20. März 1989 datiert:5 Soviele Flickerbilder in den Künstlerhirnen, Gewalt, durch Spiegelscherben exorziert, – Uns nackte Welpen, Erben hoher Stirnen, Hat man schon früh mit Nervennelken tätowiert. Der kranken Väter Brut sind wir, der Mauern
5
Sturzgeburt. ‚Tief, tief im Deutsch...‘, ertränkt. Enkel von Städtebauern, Fleischbeschauern: Jedem die fremde Wirklichkeit. (‚Geschenkt.‘) ‚Noch Bombensplitter?!‘ Gut für Stachelgaumen, In violetten Babyschädeln installiert.
10
Sag, welche Schwester drückte ihren Daumen Ins zarte Fontanell uns ungerührt? Geröntgt, geimpft, dem deutschen Doppel-Klon, Gebrochnen Auges, das nach Weitblick giert, böse verfallen sind wir, pränatal dressiert.
15
‚Deutschland?‘... O Heimat, zynischer Euphon.
3
Nicht zufällig treffen sich Grünbein und Kling auch in der von A.R. Penck
4
Grünbein: „Dioskurenklage“ (wie Anm. 2).
5
Zit. n. Durs Grünbein: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt am Main
herausgegebenen deutsch-deutschen Anthologie Proë (Berlin 1992).
1991, S. 111.
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Mit der im Titel und am Ende des Gedichts anklingenden Referenz auf Bertolt Brechts Vers „O Himmel, strahlender Azur“6 ist das Koordinatensystem gesetzt: Bei Grünbein wird Himmel durch Heimat, Strahlen durch Zynismus und Azur durch wohlklingendes Sprechen ersetzt. Diese drei Momente bilden die Gemeinsamkeiten zwischen West und Ost, sie vereinen den „deutschen Doppel-Klon“. Beide Dichter, der Widmende und der Empfangende, teilen eine Heimat, deren Bewohner durch „Flickerbilder“ und „Bombensplitter“ so verletzt wurden, dass ihre Augen gebrochen sind, ihre Gaumen voll Stacheln – Bewohner, die dem Zynismus verfallen sein müssten. Dass dennoch der Wohlklang das letzte Wort hat, zeigt die Hoffnung, die Grünbein hinsichtlich seiner Generation ausspricht: Wo ein Dichter ist, der – in West oder Ost – geteilte Erfahrungen in Worte fasst, kann die Vergangenheit das Bindeglied hin zur gemeinsamen Zukunft sein, können – wie er knapp zwanzig Jahre später in dem zitierten Nachruf auf Kling schreibt – sich auch scheinbar diametral entgegengesetzte poetologische Positionen begegnen: „Unsere Ansichten über Dichtung gingen weit auseinander, aber wer weiß, ob sie sich nicht im Unendlichen wieder treffen.“7 Als eine solche Gemeinsamkeit des poetischen Werks von Grünbein und Kling kann die Auseinandersetzung mit Konzepten von Zeit gelten, insbesondere im Blick auf die Antike. Grünbein spannt in Nach den Satiren einen historischen Bogen von Juvenal bis zum Rom der 1990er Jahre und entwirft damit ein Modell von Zeit, das sich aus formalen, motivischen und poetologischen Bezugnahmen auf die Antike speist. Kling positioniert seine Gedichte in einem Raum umfassender Simultaneität, der Referenzen auf Antike, Mittelalter, Barock und klassische Moderne ermöglicht. Sein Gedichtzyklus Actaeon. 1−5 greift
6
Vgl. dazu Jörg Döring: „Von den Nachgeborenen. Brechts ‚Ballade von den Seeräubern‘ und Durs Grünbeins ‚O Heimat, zynischer Euphon‘“. In: Walter Delabar/Ders. (Hg.): Bertolt Brecht (1898–1956). Berlin 1998, S. 355–377.
7
Grünbein: „Dioskurenklage“ (wie Anm. 2).
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zurück auf Ovid und kann mit Grünbeins Augustinus-Rezeption zusammengebunden werden. In diesem maximal gespannten zeitlichen Rahmen zwischen Antike und Gegenwart treten weitere Aspekte von Dialog und Dialogizität hervor.
T HOMAS K LING
UND
O VID
Thomas Kling verzichtet in seinen Gedichten zugunsten klanglicher Effekte auf korrekte Orthographie, er mischt Hoch- und Umgangssprache und bewegt sich auf der Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Er begibt sich damit in einen Spagat zwischen Kultur und Pop, Tradition und Moderne, Anschlussfähigkeit und Provokation.8 Mit folgenreichen Abwandlungen greift Kling auf Vorbilder zurück. Legendär ist seine Version von Gottfried Benns skandalumwittertem Vers „Oh Nacht! Ich nahm schon Kokain […]“,9 aus dem er als Motto für sein Gedicht ratinger hof, zettbeh (3) die Zeilen „oh nacht! ich nahm schon flugbenzin…“10 macht. Damit steigert er die Drastik des Zitats und nimmt es als Skandalon zurück, ja ironisiert es. Ein ähnliches Wechselspiel aus verpflichteter Nähe und ironischer Distanz ist für Klings Umgang mit antikem Material zu beobachten,11
8
Vgl. Peer Trilcke: Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings. [http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2012/trilcke/trilcke.pdf (01.05.15)].
9
Zit. n. Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1986, S. 46.
10 Zit. n. Thomas Kling: Gesammelte Gedichte. 1981−2005. Hg. v. Marcel Beyer u. Christian Döring. Köln 2006, hier S. 67. 11 Die Verweise auf die Antike sind nicht die einzigen Rezeptionsvorgänge in Klings Werk, sie sind jedoch „deutlich privilegiert“ (Frieder von Ammon: „‚Originalton nachgesprochen‘. Antikerezeption bei Thomas Kling“. In: Stefan Elit/Kai Bremer/Friederike Reents (Hg.): Antike – Lyrik – Heute.
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wenn seine Catull- oder Ovid-Referenzen Fragen der Zeitlichkeit sowie der im Zitat erzeugten Dialogizität verhandeln. Aufschlussreich ist schon das Motto des Actaeon-Zyklus:12 „nunc tibi me posito visam velamine narres, si poteris narrare, licet.“ „erzähl jetzt nur rum, daß nackt du gesehen mich hast, wenn du’s erzählen noch kannst.“ „Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!“ verba animo desunt: resonat latratibus aether. „ich bin es, Actaeon, erkennt euren herrn!“ doch fehlte die sprache dem geist: von kläffern hallt wieder [!] der äther.
Auffällig ist, dass Kling aus der langen Erzählung des Actaeon-Mythos bei Ovid gerade die Dialogstellen auswählt, die Funktionen der Sprache thematisieren.13 Actaeon ist auf der Jagd versehentlich in die Grotte geraten, in der die Jagdgöttin Diana badet. Die keusche Göttin erträgt es nicht, dass ein Mensch sie unbekleidet erblickt, und verwandelt Actaeon in einen Hirsch. Ihre Rede als performativer Akt bildet die Grundlage für die Metamorphose und Actaeons Sprachverlust. Nach der Verwandlung wird Actaeon von seinen eigenen Jagdhunden aufgespürt und zerfleischt. Die Worte, die er zu seinen Hunden sagen will, zeigen das Scheitern der Kommunikation. Besonders eklatant ist das Scheitern dadurch, dass der Kommunikationsvorgang auf anderen Dialogebenen problemlos funktioniert. In-
Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart. Remscheid 2010, S. 209–240, hier S. 210). 12 Zit. n. Kling: Gedichte (wie Anm. 10), S. 641. 13 Vgl. Aniela Knoblich: „Fragmentierung und Heilung. Zu Thomas Klings Gedicht ‚ACTAEON 5‘“. In: Frieder von Ammon/Alena Scharfschwert/ Peer Trilcke: Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Göttingen 2012, S. 373−380.
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tratextuell bewirkt er – über die Worte Dianas – eine körperliche Verwandlung. Als Dialog zwischen Ovid und Kling ermöglicht er ein Fortschreiben der Geschichte von Actaeon nicht nur über die Zeiten, sondern auch über die Sprachen hinweg. Und im Dialog mit dem Leser passt das Motto die antiken Verse dem zeitgenössischen Sprachgebrauch an. Schon mit den Mottoversen sind demnach die Wirkung von Sprache und das dialogische Element (einschließlich des Scheiterns von Kommunikation) als Themen des Zyklus vorgegeben. Die Fokussierung auf das Dialogische lässt sich im ersten Gedicht des Zyklus, KRIEGSBEGINN: ACTAEON 1, nach Pound, weiter verfolgen:14 Ein bild der Lethe, und den feldern Voll stumpfen lichts, doch golden, Graue kliffs,
5
und unter ihnen Ein meer Strenger als granit, unruhig, niemals aufgebend; Hohe gestalten
10
mit den gesten von göttern, Gefährliche aussichten; Und einer sagte: „Das ist Actaeon.“ Actaeon mit den beinschienen von gold!
15
Über helle wiesen, Übers überlegene gesicht dieses felds, Unruhig, immer in bewegung, Heere eines antiken volks, Das stumme gefolge.
14 Zit. n. Kling: Gedichte (wie Anm. 10), S. 643.
20
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Widmung und Überschrift verweisen auf einen doppelten Dialog, den das Gedicht führt. Es richtet sich an Klings Frau Ute Langanky und es greift auf eine Vorlage des amerikanischen Dichters Ezra Pound zurück, auf dessen Gedicht The Coming of War: Actaeon:15 An image of Lethe, and the fields Full of faint light but golden, Gray cliffs,
5
and beneath them A sea Harsher than granite, unstill, never ceasing; High forms
10
with the movement of gods, Perilous aspect; And one said: “This is Actaeon.” Actaeon of golden greaves!
15
Over fair meadows, Over the cool face of that field, Unstill, ever moving Hosts of an ancient people, The silent cortège.
20
Indem Kling seinen Actaeon-Zyklus nicht nur mit einem Motto aus den Metamorphosen überschreibt, sondern als erstes Gedicht die gewidmete Übersetzung einer ‚Zwischenstufe‘ des Actaeon-Stoffs wählt, betont er erneut die vermittelnde Position seiner Dichtung, die im dialogischen Aspekt des Mottos angeklungen war. Seine Rezeption des Mythos will keine originäre Lyrik schaffen, nicht ‚genieästhetisch‘
15 Zit. n. Ezra Pound: Selected Poems 1908−1959. London 1975, S. 52.
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verfahren, sondern einen Kommunikationsakt vollführen. Zu diesem Zweck werden die bestehenden Fassungen des Stoffs nicht einfach rezipiert und zeitgenössisch überformt, sondern sehr bewusst in die eigene Arbeit eingebunden und in ihrer Alterität ausgestellt. Die Referenz auf Pound ist kalkuliert. Schon die räumliche Situation verweist über das paradoxe Bild der ersten Zeilen auf den Kommunikationsakt, um den es geht: „An image of Lethe“ | „Ein bild der Lethe“ ist unmöglich, wenn man ‚Lethe‘ als Metapher des Vergessens versteht. Ein ‚Bild des Vergessens‘ kann ebenso wenig existieren wie eine ‚Kunst des Vergessens‘:16 Sobald ein Bild des Vergessens greifbar wäre, würde das Vergessen hinfällig. An die Stelle der Lethe tritt daher die Erinnerung, und zwar diejenige an den Mythos von Actaeon, auf den mit der einzigen Zeile in wörtlicher Rede verwiesen wird: „This is Actæon“ | „Dies ist Actaeon“, ohne dass dieser Verweis erläutert würde. Das einzige Attribut des Helden sind seine goldenen Beinschienen; auf sein Ende wird an keiner Stelle Bezug genommen. Gerade im Kontext von Klings Zyklus erweist sich dieses scheinbare Defizit aber als Kalkül, wird doch die Handlung des Mythos in den folgenden vier Gedichten umso genauer, beinahe filmisch geschildert. Aus diesem Grund dient das einleitende Gedicht dazu, eine Situation zu umreißen, die zwischen Vergessen und Erinnern, zwischen Sprechen und Verstummen schwankt. An mehreren Stellen wird ein dynamisches Element beschworen: Zweimal ist das Attribut „unstill“ | „unruhig“ verwendet, die Wendungen „never ceasing“ | „niemals aufgebend“ und „ever moving“ | „immer in bewegung“ verweisen auf die Dynamik von Text und Mythos. Dies setzt sich in den folgenden Gedichten fort. Der Dialog der Dichter, der sich zwischen Ovid, Pound und Kling entspinnt, ist also ein Dialog unter Gleichberechtigten, in dem sich der Gegenwartsautor ohne Scheu dem Spiel von imitatio und aemulatio
16 Zur Unmöglichkeit einer ‚Kunst des Vergessens‘ vgl. den ironischen Beitrag von Umberto Eco: „An ‚Ars Oblivionalis‘? Forget It!“ In: PMLA 103 (1988), S. 254−261.
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aussetzt. Besonders relevant für die poetologischen Prinzipien dieses Dialogs ist das letzte Gedicht, Actaeon 5:17 funde von bildchen am rand, die ramponierten idole. verlautbarungen aus der idyllenanstalt. bildfunken eines angeschlagenen römischen reliefs, gewaltdarstellung. hier hat natur in abgelegenem gelände ein kunstwerk hingeklotzt. Dianas täuschend echte badegrotte, aus der,
5
durchsichtig bis zum grund, die quelle klingelt, plot. wo D., nackt, von A. ertappt, nicht lange fackelt, wenig worte macht: was mit tabubruch, poren, haarigem tod. rasant führt das zu sprachverlust, hirschzellen, hornschwer wird sein kopf. ein röhren-echo, keine stille, da bis zum
10
schluß ja dieser hirschprojektor schnurrt. dann riß. antike, beschleunigt, als jagdstück. wie schlafstörungen das licht.
Auf die Antike wird gleich im ersten Vers mehrfach Bezug genommen. Das Versmaß ist das des Hexameters, womit formal der Anschluss an Ovid hergestellt, in den folgenden Versen aber – durch eine freiere Verwendung des Metrums – wieder gelöst wird. Poetologisches Potential wird ebenfalls über den Rückgriff auf antikes Material erzeugt: Die Begriffe „bildchen“, „bildfunken“, „Darstellung“, „kunstwerk“, „quelle“ und „plot“ scheinen direkt auf Ovid zu verweisen oder sogar dem Epos selbst entnommen und verleihen Klings Gedicht damit selbstreferentiellen Charakter.18 Auf diese Weise gewinnen die Begriffe eine Polyphonie, die sich einerseits auf den fiktionsimmanenten Handlungsverlauf beziehen lässt, andererseits auf generelle Aussagen zum Potential von Lyrik.
17 Zit. n. Kling: Gedichte (wie Anm. 10), S. 647. 18 Vgl. Knoblich: „Fragmentierung“ (wie Anm. 13), S. 379.
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Das Gedicht handelt von der antiken Mimesis-Problematik. Seine Stellungnahme zu dieser Frage ist scheinbar eindeutig: „Nur noch ramponiert, angeschlagen und in ‚bildfunken‘ […] kommt der antike Stoff beim heutigen Dichter an, und er lässt sich auch nur noch so darstellen, nicht mehr zu einem zusammenhängenden Gebilde verarbeiten.“19 Für diese Form der Fragmentierung wählt Kling das Bild des „hirschprojektor[s]“, in dem der Film reißt. Doch es gibt eine Möglichkeit, wie der Dialog mit der Antike trotz der Gefahr der Verluste funktionieren kann. Anders als in Form der „ramponierten idole“, die für eine akademische Rezeption der Antike in der „idyllenanstalt“ der Universitäten stehen mögen (die lautliche Anlehnung an „Irrenanstalt“ ist sicher kein Zufall), kann der literarische Dialog über die Zeiten ausgreifen und den antiken Mythos zu neuem Leben erwecken. Die Mimesis-Problematik, die sich unmittelbar auf die Vorlage bezieht, wird im Kontext des 20. Jahrhunderts neu beleuchtet: Neben der Option, Natur über bildende Darstellung oder Sprache in Kunst zu überführen, wird diejenige der filmischen Repräsentation von Realität einbezogen. Doch diese ist ebenso wenig (allenfalls „täuschend“) echt wie die anderen Medien, da der Film mit einem abrupten „riß“ zum Ende kommt. Und so bleibt, nachdem sowohl die philologische als auch die bildliche Rezeption des antiken Mythos in ihre Grenzen verwiesen worden sind, die Literatur als adäquates Medium eines belebenden Dialogs mit fremden und fernen Texten. Auch über die Frage nach dem ‚richtigen‘ Medium der Kunst hinaus erweist sich das Gedicht als komplex: Der dialogische Umgang ist nicht nur mit dem antiken Material, sondern auch im Rahmen der erzählten Welt zu beobachten. Das Gespräch zwischen Diana und Actaeon, das im Motto angelegt war, wird wieder aufgegriffen. Es ist kein Gespräch im eigentlichen Sinne, sondern ein HerrschaftsMonolog der Göttin, die „wenig worte macht“, damit aber den „sprachverlust“ beim Menschen – und auf diese Weise seinen Tod – herbeiführt.
19 Ebd.
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Tritt an die Stelle von Kommunikation die monologische (und monoperspektivische) Wahrnehmung der Welt, ist sie zum Scheitern verurteilt, nicht nur medial durch den „riß“, sondern auch konkret durch die Beschleunigung, die den antiken Mythos zu einem „jagdstück“ werden lässt und den Tod des Protagonisten herbeiführt. Der Dialog und das Dialogische von Dichtung sind bei Kling also Teil eines literarischen Programms, das sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit antiker Lyrik, sondern auch vor dem Hintergrund der Diskussionen des 20. Jahrhunderts über den monologischen bzw. dialogischen Charakter von Lyrik abspielt.20 Neben den Aspekten der Medialität ist für den Actaeon-Zyklus daher die Auseinandersetzung mit einem ‚postmodernen‘ Zeitkonzept relevant. Fasst man ‚Postmoderne‘ als die „auf ein neues Zeitbewußtsein gegründete Gegenwart, verstanden als Folgezeit nach dem Ende einer als Sequenz von Epochen gedachten Moderne“,21 so wird die Gegenwart nicht länger als unbedeutende, flüchtige Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft angesehen, sondern als breiter Raum an ‚Simultaneitäten‘ im Erleben, Verhalten und Handeln.22 Literarisch manifestiert sich dieses Zeitverständnis etwa in der Rolle, die dem historischen Er-
20 „Die Referenzlosigkeit, die für die – von Kling mit der Begriffsbezeichnung ‚hermetisch‘ durchaus vordergründig in Anspruch genommene – Tradition ‚absoluter Lyrik‘ verschiedentlich als Charakteristikum angesetzt wurde, wird verabschiedet: Programmatisch führt Kling […] die Referenzialität in die hermetische Lyrik der Moderne ein und ersetzt die hermetische obscuritas durch seine Vorstellung von hermetischer ‚Klarheit‘ […]“ (Frieder von Ammon/Peer Trilcke: „Einleitung“. In: Dies./Scharfschwert [Hg.]: Das Gellen der Tinte [wie Anm. 13], S. 9–22, hier S. 17). 21 Hans Ulrich Gumbrecht: „Postmoderne“. In: Georg Braungart [u.a.] (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin/New York 2003, S. 136–140, hier S. 136. 22 Vgl. ebd., S. 137.
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zählen in der Postmoderne zukommt.23 Aber auch der dialogische Umgang mit früheren Texten, wie ihn der Actaeon-Zyklus vorführt, kann als Indiz einer Gegenwart der Simultaneitäten gewertet werden: Ein antiker Mythos wird aufgegriffen und – sprachlich wie medial – für die Gegenwart adaptiert, so dass Autor und Leser des Textes in einen Dialog mit Autoren und Texten treten, die von ihnen Jahrhunderte, gar Jahrtausende entfernt sind. Das unvermeidliche Phänomen der Alterität wird dabei nicht durch eine ‚naive‘ Aktualisierung gelöst, in der den Protagonisten der Antike Gedanken und Emotionen eines gegenwärtigen Menschen eingeschrieben werden, sondern durch die Simultaneität in seiner Andersartigkeit (aber auch Ähnlichkeit) betont. Auch wenn die Geschichte von Actaeon – etwa durch die fremde Sprache oder das Spannungsfeld zwischen Göttern und Menschen – dem heutigen Leser fremd erscheinen mag, wird sie doch – über die Sprache Klings mit ihrer Nähe zum Mündlichen, über die Anpassung an aktuelle Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten sowie über die Thematisierung der Distanz zum antiken Vorbild – an die Gegenwart herangeholt und in einem Akt der Simultaneität mit ihr in einen Dialog geführt. Durch die Simultaneität ist zudem eine Reihe von Präsenzerlebnissen bedingt, die den Dialog zwischen Antike und Gegenwart vertiefen. Der Begriff der Präsenz kann dazu als ein Aspekt der Wahrnehmung, des ‚ästhetischen Erlebens‘ gefasst werden: Dieses ist „ein Oszillieren (und mitunter auch Interferenz) zwischen ‚Präsenzeffekten‘ und ‚Sinneffekten‘“.24 Präsenzerlebnisse spielen sich in einem Moment vor jeder hermeneutischen Durchdringung ab, gehen also dem Verstehen voran. Deswegen eignen sie sich besonders, um einen Bogen zwischen verschiedenen Zeiten, Kulturen und Sprachen zu spannen.
23 Vgl. Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur. Heidelberg 2012. 24 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004, S. 18.
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Schon der Anblick der nackten Diana, der die Grundlage für das Motto des Zyklus bildet, kann als Präsenzerlebnis gefasst werden: Keine hermeneutische Durchdringung der Situation wird geschildert, sondern einzig der Blick auf die nackte Göttin und dann – gewissermaßen nach einem filmischen Schnitt – Verfluchung und Verwandlung. Als Präsenzerlebnis kann auch das Paradoxon der ersten Zeilen des Pound-Gedichts verstanden werden. Sich „ein bild der Lethe“, eine Vorstellung vom Vergessen zu machen, ist rational eben gerade nicht möglich, sondern allenfalls als vor-hermeneutische Intuition, die von der Logik des Verstandes als irrational enttarnt wird. Doch in der Literatur kann eine solche Intuition – als paradoxes Bild – bestehen bleiben. Ein Präsenzerlebnis schließlich gestaltet auch der letzte Abschnitt von Actaeon 5. Der assoziative Charakter von Klings Lyrik wird dort noch einmal gesteigert, so dass sich Wahrnehmungsfetzen aneinanderreihen, die ohne Kenntnis des Plots bei Ovid nicht zu verstehen sind, mit diesem Vorwissen aber als poetischer Versuch aufgefasst werden können, die hermeneutische Differenz zwischen Sprecher und Rezipienten durch ein Präsenzerlebnis zu überbrücken. Das Feuerwerk der Bilder – „röhren-echo“, „keine stille“, „riß“, „antike, beschleunigt, als jagdstück“, „wie schlafstörungen das licht“ – reißt den Leser hinein in die Perspektive des Protagonisten, in dessen „augenkamera“25 die Bilder schließlich zu flackern beginnen und erlöschen: „ein bildverdampfen findet statt“.26 Auf diese Weise entwickelt Kling einen literarischen Dialog, der nicht nur – intertextuell – einen Bogen zwischen Antike und Gegenwart spannt, sondern auch – metatextuell bzw. metapoetisch – einen Vorschlag unterbreitet, wie die hermeneutische Differenz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Zeithorizonten literarisch überbrückt werden kann: durch das poetische Erzeugen vor-hermeneutischer Präsenzerlebnisse, die keine kulturelle Prägung und keinen Versuch rationalen Verstehens voraussetzen. Selbstverständlich ist diese Form von
25 Zit. n. Kling: Gedichte (wie Anm. 10), S. 644 (= Actaeon 2). 26 Zit. n. ebd., S. 645 (= Actaeon 3).
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Präsenz eine Fiktion, weil sie ohne den hermeneutischen Prozess der Lektüre nicht möglich ist. Nichtsdestoweniger erweitert sie die Dimension des Dialogischen um einen grundsätzlichen Aspekt: Die Vielzahl widerstreitender Stimmen, die in Klings Gedichten integriert (aber nicht synthetisiert) werden, um Simultaneität und Präsenz zu erzeugen, trägt zu einer Polyphonie seiner Lyrik bei, die gerade keine eindeutigen Zuschreibungen und Interpretationen ermöglicht.
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UND
A UGUSTINUS
Durs Grünbein beschäftigt sich in seinen Werken oft mit dem Verhältnis der Gegenwart zur Antike.27 So betont er in einem Essay:28 Ja, auch ich verdanke die wichtigste Schreiblektion der römischen Literatur. […] In welcher Epoche, Sprache oder Poesietradition auch immer, die Spur führte noch jedesmal zurück auf den harten Kern römischer Ausdruckskunst.
Diese poetische Hinwendung zur Antike erfolgt insbesondere seit dem Band Nach den Satiren (1999). Das darin enthaltene Gedicht Aporie Augustinus (Über die Zeit) zeugt von einem Umgang mit Simultaneität
27 Zur Antikerezeption bei Grünbein vgl.: Michael von Albrecht: „‚Nach den Satiren‘. Durs Grünbein und die Antike“. In: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Berlin 2002, S. 101–116; Hans G. Huch: „Der Blick auf die griechischen und römischen Gründerväter westlicher Kultur. Durs Grünbeins Beziehung zur Kultur der Antike“. In: Akzente 53 (2006), S. 12–27; Ulrich Krellner: „‚Zwischen Antike und X‘. Zur Poetologie Durs Grünbeins“. In: Martin Hellström/Edgar Platen (Hg.): Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 2008, S. 41–52. 28 Durs Grünbein: Antike Dispositionen. Frankfurt am Main 2005, S. 393.
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als Basis von Dialogizität, der demjenigen Klings in Grundzügen vergleichbar und doch im Detail anders konzipiert ist. Indem Grünbein die Frage nach der Möglichkeit eines literarischen Dialogs mit der Antike nicht nur poetisch umsetzt, sondern über den Rückgriff auf eine der bedeutendsten Zeittheorien der Antike – die des Augustinus – auch theoretisch inszeniert, erweitert er das bei Kling evozierte Spannungsfeld um die Frage, was Zeit überhaupt ist. Aporie Augustinus spielt für die hier verhandelten Fragen eine wichtige Rolle: Der intertextuelle Dialog zwischen Grünbein und Augustinus besitzt eine intratextuelle Entsprechung, indem auch Augustinus in einer dialogischen Situation geschildert wird, im Zwiegespräch mit seinem Freund Alypius.29 Wegen seiner Länge sei das Gedicht in mehreren Schritten zitiert und besprochen:30 Die brennende Hornhaut im Salzschaum, Im Tuffstein die Augenhöhlen, Alypius, Das Meer das dein Wort schluckt – Nichts was du kennst, ist die Zeit.
29 Auf die Dialogizität, die Grünbeins Werk sonst prägt, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Michael Eskin: „‚Stimmengewirr vieler Zeiten‘. Grünbein’s Dialogue with Dante, Baudelaire, and Mandel’shtam“. In: The Germanic Review 77 (2002), S. 34–50; Daniele Vecchiato: „‚Benn schmort in der Hölle‘. Durs Grünbein und der Monologismus des späten Gottfried Benn “. In: Elena Agazzi/Emilia Valtolina (Hg.): Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren. Heidelberg 2012, S. 3–23; Michael Braun: „‚Ohr für die vielen, widerstreitenden Stimmen‘. Durs Grünbeins dialogisches Schreiben“. In: Paul Michael Lützeler/Jennifer M. Kapczynski (Hg.): Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Göttingen 2011, S. 50–61. 30 Hier und im Folgenden zit. n. Durs Grünbein: Nach den Satiren. Frankfurt am Main 1999, S. 33–36.
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Die Wölbung des Himmels, den Schädel
5
Umfassend, die Hände in Hohlform Über der kreisenden Töpferscheibe – Nichts was du siehst, ist die Zeit. Die Stimmen längst Toter, im Herdloch Das Rascheln der Knöchel, Alypius,
10
In den Schläfen dein Blut Nichts was du hörst, ist die Zeit.
Schon die Überschrift nimmt zahlreiche Aspekte vorweg, um die es im Folgenden geht: um den bedeutendsten Philosophen des fünften Jahrhunderts, um die Frage, wie das Phänomen ‚Zeit‘ zu beschreiben ist, die Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones behandelt, und um die Aporie, zu der die Beschäftigung mit dem Wesen der Zeit führt. Auf die Unmöglichkeit einer Bestimmung von Zeit verweisen die ersten Abschnitte des Gedichts in einer Reihe von Beispielen, die in das dreifach wiederholte und jeweils variierte Fazit münden, dass die Zeit nicht zu kennen, nicht zu sehen und nicht zu hören sei. Diese erste These von der Aporie der Zeiterfahrung wird dabei nicht abstrakt entwickelt, sondern im Gespräch mit Alypius. Mit leichter Variation (die Aporie ist in eine einleitende These überführt) wird das Verfahren einer auf Beispielen gestützten Aporie der Zeiterfahrung in den folgenden Abschnitten fortgesetzt: Nichts was du fassen kannst, ist sie. Kein Brusthaar, Das nach dem Baden gezupft wird, und keine Tafel, Die in den Stadien die Runden anzeigt beim Wagenrennen.
15
Weder die Greisenstirn noch die rosa Fingerbeeren des Kindes. Nichts was sich messen läßt, ist die Zeit. Weder der Staub Im Tiegel der Goldwaage noch der gestiegene Kaufpreis für Fische. Auch nicht der wandernde Schatten am Gnomon Oder die Zahl der Regierungen in einem Leben, der Kriege.
20
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Nichts was sich regt, ist die Zeit. (Vergiß den Skorpion…). Doch auch kein Sternbild, nach dem sich die Seeleute richten. Keine der Routen nach Troja, kein Heimweg von dort Durch Familien und Länder ans bittere Ende – Erinnerung. Keine der Krankheiten ist sie, nichts was zerstört.
25
Sie ist kein Gigant, der die Steine zermalmt in der Brandung, Keiner der Erdrutsche, Wirbelstürme, keiner der Götter. Noch das Gestöhn der Helden in den welken Ohren Homers.
Die Dialogelemente dienen auch hier dazu, den abstrakten Gedanken greifbar zu machen. Die Monotonie des wiederholten „Nichts was“ in allen vier Abschnitten unterstreicht die These von der Unfassbarkeit der Zeit. Einen neuen Schritt in der Argumentation vollziehen erst die folgenden Zeilen: Gestern habe ich angefangen mit zuzuhören, Alypius. Aus jedem Satz sprang ein Wort, das mich älter zurückließ.
30
Irgendein Bald, ein Nicht mehr, ein Von altersher. Als wäre da immer nur Richtung im Sprechen, kein Stillstand. Da war dieses Noch… Dieses Schon… Dieses Einst…
35
Und nichts davon ist die Zeit. Was aber ist sie?
Nachdem die Zeit zuvor als nicht greifbare Instanz beschrieben und allenfalls punktuell auf Alypius bezogen wurde, liegt hier die erste Wende des Gedichts vor: Das Ich tritt in das Gespräch ein. Es beschreibt seine eigene Zeiterfahrung, und dies in paradox-ironischer Weise: Indem es mit dem Wort „Gestern“ einsetzt, schafft es eine Verortung des Subjekts im Strom der Zeit; jedoch wird gerade eine solche Verortung in den nächsten Versen argumentativ bestritten.
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Mit der Erfahrung des Ich, dass die Zeit zwar im alltäglichen Gespräch zu fassen ist, in der theoretischen Erörterung jedoch entgleitet, schließt das Gedicht zum ersten Mal deutlich an Augustinus an. In den Kapiteln 19−21 des elften Buchs der Confessiones umreißt dieser genau den Zwiespalt zwischen der Möglichkeit, Zeit im Alltag mit Sprache zu beschreiben, und der Unmöglichkeit, grundsätzliche Aussagen über die Zeit zu treffen. Augustinus wählt als Beispiel die Dauer von Zeitabschnitten, die – wie die Begriffe ‚Jahr‘, ‚Monat‘, ‚Tag‘, ‚Stunde‘ illustrieren – zunächst unproblematisch scheinen, bei näherer Betrachtung aber in der subjektiven Erfahrbarkeit ihrer Ausdehnung als klare Termini zu entgleiten drohen. Die erfahrbaren Elemente von Zeit schrumpfen immer weiter, so dass das, was ‚Gegenwart‘ heißen soll, praktisch nicht zu beschreiben ist. Augustinus skizziert zwei Möglichkeiten einer ‚objektiven‘ Gegenwartserfahrung, um beide gleich darauf zu verwerfen:31 Entdecken wir etwas an der Zeit, was in keine, aber auch nicht in die geringsten Teile geteilt werden kann, dann ist dies das einzige, was ‚gegenwärtig‘ heißen sollte. Aber dies fliegt so rasch aus der Zukunft in die Vergangenheit hinüber, daß es sich zu keiner noch so kleinen Dauer […] dehnt.
Objektive Zeiterfassung ist dem Subjekt nicht möglich. Weder kann sie in der immer kleineren Zerteilung von Zeiteinheiten erfolgen, weil ein solcher Prozess niemals zum Abschluss kommt, noch kann sie in ihrer Ausdehnung erfahren werden, weil diese stets in Vergangenheit und Zukunft zerfällt.
31 Zit. n. Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo: Das XI. Buch der „Confessiones“. Historisch-Philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar. Frankfurt am Main 1993, S. 252−255. Im lateinischen Original: „Si quid intellegitur temporis, quod in nullas iam uel minutissimas momentorum partes diuidi possit, id solum est, quod praesens dicatur; quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transuolat, ut nulla morula extendatur.“
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In der entstehenden Verzweiflung wendet sich der Sprecher bei Augustinus (der ebenso Augustinus ‚selbst‘ ist wie bei Grünbein) an Gott mit der Bitte, trotz der Aporie nach dem Wesen der Zeit weiterfragen zu dürfen. Auch diesen Teil des Zwiegesprächs greift Grünbein auf, allerdings ist bei ihm der sprechende Augustinus kein Zweifler, der trotz seiner Zweifel im Glauben an Gott geborgen ist, sondern einer, der über der Verzweiflung den Glauben verloren hat, was sich in der Erinnerung an seine betende Mutter äußert: Die kleine Enttäuschung, wenn ein Kind sich davonstiehlt, Weil es weitersieht als Dein zweifelndes Wort? Ein Gedicht aus den Tagen des Plinius, in falschen Metren,
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Das vom Verliebtsein handelt, und die zwei sind längst tot, Und es kommt dennoch ein Lied an, ein Herzton, ein Schauder? Ist sie das Wiedersehn, wenn der Pfirsich erkannt wird, Weil es das Wissen vom Pfirsichkern gibt? Ist sie der Fluch, Der auf allem, was schlachtet und Dämme baut, liegt?
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Ist sie der stetige Herzschlag, der sich in Sicherheit wiegt: Daß jemand lacht und weiß nichts vom Treppensturz morgen? Daß wir uns selbst kaum kennen, den Blick zur Erde gerichtet, Über uns Sirius, im Rücken Ödipus … ist sie das? Ist sie die Maus, die im Kornspeicher raschelt, das Rieseln,
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Wenn durch ein ganz kleines Loch die üppige Ernte, Die Arbeit so vieler Wochen, verschwindet? Ist sie ein Kind, ahnungslos, das mit Glimmstäbchen spielend Bibliotheken in Brand setzt, und Tempel, und Gärten? Ein Kind, das noch nie was gehört hat von Herostrat … Ist sie die Panik, die zu erwachen scheint überall, Seit der Große Pan tot ist, das Scheusal, der stinkende Tiergott. Seit er die Landschaften räumte wie Städte nach einer Epidemie,
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Grund, daß sich jeder beeilt mit dem Sterben, die Paare Wie gehetzt kopulieren und alles beschleunigt geht und ins Leere?
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Fragen, Alypius, die ich mir selbst oft gestellt hab, Betäubt von Veränderung, seekrank vom dauernden Wechsel. Ach, und wenn ich der Mutter zusah beim Beten, befremdet.
Grünbeins Augustinus kann fragen, zweifeln, verzweifeln, aber die Instanz des rettenden Glaubens ist ihm verloren. Vom Beten der Mutter ist er „befremdet“, die Wunder der göttlichen Schöpfung in ihrem nicht zu greifenden Verhältnis zwischen dauernder Größe und sekundenschnellem Verlust versteht er nicht: Warum kann ein Kind die Arbeit von tausenden Menschen vernichten, indem es – mühelos und aus Versehen – eine Bibliothek in Brand setzt? Warum ist dem Kind dies möglich, obwohl es nie von seinem berühmten ‚Vorgänger‘ Herostrat gehört hat, der den Tempel von Ephesos in Brand steckte und damit in kürzester Zeit die Arbeit Tausender vom Erdboden tilgte? In diesem wie in den anderen Beispielen wird das bildlich umrissen, was Grünbein – im Anschluss an Augustinus – als Zwischenfazit zieht: Zeit kann nur subjektiv erlebt werden. Obwohl aber eine solche Verlagerung der Zeit in das Individuum eine Befreiung darstellen könnte, erlebt das Subjekt die Unfassbarkeit der Zeit als Bedrohung. Wenn „alles beschleunigt geht und ins Leere“, wenn das Ich „[b]etäubt von Veränderung“ ist, „seekrank vom dauernden Wechsel“, dann erreicht es gerade keine meditative Distanz zum Lauf der Zeit, sondern fühlt sich von ihm ähnlich hinweggerissen wie das Ich in Hyperions Schicksalslied:32 […] Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer
32 Zit. n. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Hg. v. Michael Knaupp. München/Wien 1992, S. 745.
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Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Auch bei Hölderlin wird das menschliche Erleben von Zeit als etwas Furchterregendes dargestellt, das der seligen Ruhe der Götter entgegengesetzt ist. Es handelt sich also um eine Konstante, die sich durch verschiedene Formen von Literatur und Philosophie zieht. Anders jedoch als von Hölderlin, der mit diesem resignierenden Fazit schließt, wird von Grünbein eine Rettung zumindest in den Raum gestellt: Drei Arten von Gegenwart sind in dir aufgespart. Die eine heißt Gestern, die andere Heute und Morgen die dritte.
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Sie alle sind rege in dir, nur in dir, nirgendwo sonst.
Die Verlorenheit, die das Ich angesichts der Subjektivität von Zeit empfindet, kann von einer Schwäche umgewertet werden in eine Stärke. Gegenwart kann im Subjekt empfunden werden. Das Ich unterscheidet zwischen Gestern, Heute und Morgen, und nicht nur das: Ihm obliegt auch die Fähigkeit (und die Pflicht), dies zu differenzieren. Hier zeigt sich erneut, was das Konzept des Dialogischen und der Dialogizität für die Analyse von Dichtung leisten kann. Das Paradox, dass die Aussage „nur in dir“ auf jedes angesprochene Du zutrifft und damit beliebig wird, weil die subjektive Begründung der Zeit im Individuum keine Abstraktion zulässt, kann über das Modell des Dialogischen verallgemeinert werden. Wie das Ich bei Bachtin nur dann ästhetische Vollendung erfahren kann, wenn es in den Dialog mit einem Du tritt, ist die Zeit als abstrakte Vorstellung solange unvollendet, wie sie nicht von einem erlebenden Subjekt vollendet wird, bis also ein Du das Zeit-Kontinuum mit den Begriffen des Gestern, Heute und Morgen belegt. Da diese Vollendung aber – wegen der unterschiedlichen Subjekte – höchst verschieden ausfallen kann, liegt kein einfacher Dialog mit klaren Sprecherrollen und Aussagen vor, sondern eine Vielzahl von
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Stimmen, die einander ergänzen, widersprechen oder einfach gleichzeitig anwesend sind: ein Fall von Polyphonie. Das subjektive Element der Zeit wird bei Grünbein im Dialog mit Augustinus intensiviert und über die grundsätzliche Referenz auf die Gedanken des Philosophen hinaus auf eine philologische Ebene überführt. In Buch 11, 26 der Confessiones liest man:33 Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen […], die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten.
Hier wird deutlich, was Grünbein in verkürzter Form übernimmt: das Zustandekommen der ‚drei Arten von Gegenwart‘ im Subjekt. Wenn, so die Argumentation bei Augustinus, eine objektive Einteilung der Zeit nicht möglich ist und selbst eine subjektive an ihre Grenzen stößt, können zumindest im Subjekt drei Formen der Gegenwartserfahrung unterschieden werden: die memoria (Erinnerung), der contuitus (Anschauung) und die expectatio (Erwartung). Unter Zuhilfenahme dieser drei Begriffe kann nicht nur das Problem der unaufhörlich verstreichenden (und damit nicht fassbaren) Gegenwart gelöst werden, es ist auch ein Ort der Zeitwahrnehmung festgelegt, an dem die Formen von Zeit tatsächlich sind: die anima, die Seele des Individuums. Das Wissen um diese (freilich begrenzt gültige) Lösung, die Augustinus anbietet, ist erforderlich, um den weiteren Gang von Grünbeins Gedicht nachzuvollziehen. Hier erstreckt sich der Dialog der Dichter nicht nur auf einen einfachen intertextuellen Verweis oder eine
33 Zit. n. Flasch: Was ist Zeit? (wie Anm. 31), S. 258f. Im lateinischen Original: „[T]empora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non uideo, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio.“
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Anspielung, sondern seine Präsenz (und das Nachvollziehen dieser) ist Voraussetzung für das Verständnis des Gedichts. Die Argumentation von Augustinus wird verdeutlicht und verteidigt: Und laß dich nicht täuschen von sterblichen Astrologen. Daß Zeit nur Bewegung sei, sichtbar am Himmel. Was messen sie, wenn sie die Phasen des Mondes vermessen? Oder Gedichte mit wechselndem Versfuß, zum Beispiel Horaz.
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Zwischen „Lydia, schläfst du?“ und „…Erz überdauernd“ Eilt sein Vers hin und her, die geschäftige Zunge – Zwischen Schamhaar und Ewigkeit. Einmal kurz, einmal lang sind die Silben, und der sie spricht, Dehnt die Zeit und wird selbst gedehnt, rafft sie und wird gerafft.
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Oder der Mörder, todgeweiht längst bevor ihn die Strafe ereilt – An jedem Grenzstein schätzt er den Weg ab zum Tatort. Terminus wird ihm zum Quälgeist. Er läuft im Kreis. Denn wie sonst soll er laufen, wenn Schuld immer vorn liegt? In jede Richtung reicht Raum, aber Zeit ist die Klammer,
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Die nach vorn spannt die Stirnen, die Deichseln und jedes Lied, Das in Strophen zerfällt wie ein Menschenleben in Anekdoten. Augenschein erst, bald schon Erinnern, genährt von Erwartung: So hält uns hin, was sich Zeit nennt. Seltsam, Alypius, Wenn niemand fragt, weiß ich genau, was es ist. Aber fragst du, Fällt mir nur Unsinn ein. Zeit, eine Krankheit zum Tode. Oder im leeren Amphitheater ein stummer Chor Mit den Mundhöhlen schwarz vor Empörung und Schmerz. Sind hundert Jahre Gegenwart eine lange Zeit?
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Mit der letzten Zeile wird ein letztes Mal wörtlich auf Augustinus Bezug genommen, auf Kapitel 19, wo es heißt: „Sag mir, sind etwa hundert gegenwärtige Jahre eine lange Zeit?“34 Darüber hinaus fügt der Verweis auf Horaz dem Dialog der Dichter eine weitere Instanz hinzu. Angespielt wird auf das „wechselnde Versmaß“ der Carmina mit dem genau festgelegten Wechsel zwischen langen und kurzen Silben in den Odenstrophen. Der Verweis auf die Länge der Silben muss jedoch verwundern, stellt er doch scheinbar das objektive Maß dar, die Zeit zu erfahren, das die Argumentation als unmöglich verworfen hatte. Doch weil der Sprecher beim Vortrag „selbst gedehnt“ oder „gerafft“ wird, kehrt das Subjektive in die Zeitwahrnehmung zurück. Zudem wird das Subjektive im Verweis auf Horaz inhaltlich betont. Die beiden Carmina, die zitiert werden („Lydia, dormis?“, I, 25 sowie „aere perennius“, III, 30),35 verweisen auf das weite Spektrum, das Horazens Lyrik für Zeitwahrnehmung kennt, auf das „[z]wischen Schamhaar und Ewigkeit“, wobei die beiden Begriffe als ironisch konnotierte Bilder für die Extrempole stehen. Die erste Zeile entstammt einer Ode, die sich an Lydia richtet und sie auffordert, die Möglichkeiten ihrer körperlichen Reize nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Wie die berühmte Aufforderung des carpe diem verweist die Ode auf die Geschwindigkeit, mit der körperliche Vorzüge schwinden, so dass sich die zahllosen Verehrer, die nächtelang vor Lydias Tür sitzen und darauf warten, von ihr erhört zu werden, rasch ein anderes Ziel für ihr Werben suchen und die einst Verehrte alleine zurücklassen werden. Ganz anders die zweite Ode, die letzte des dritten Buches und damit ursprünglich auch die letzte, die von Horaz überhaupt konzipiert worden war:36 Hier geht es dem Dichter nicht um die Feier des Augen-
34 Ebd., S. 252f.: „An centum anni praesentes longum tempus est?“ 35 Zit. n. Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Karl Bayer, Manfred Fuhrmann u. Gerhard Jäger. München 111993, S. 46f. 36 Das vierte Buch der Carmina ist später entstanden als die ersten drei. Zu den Oden vgl. Hans Peter Syndikus: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. Bd. 1: Erstes und zweites Buch. Darmstadt 1972, v.a.
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blicks, der zu erhaschen und zu genießen ist, sondern um den prospektiven Blick auf die Ewigkeit, der sich in seiner (nicht ganz unberechtigten) Vermessenheit äußert, seine Verse mögen dauerhafter sein als Erz. Wie die Wahrnehmung der Zeit durch das Subjekt erweist sich die ‚Wahrnehmung‘ der Zeit durch die Lyrik als ambivalent. Der Dialog, in den das Gedicht eintritt, kann ein kurzfristig gedachter sein, der auf das Erhaschen des Augenblicks abzielt und dem Rezipienten vor Augen führt, dass die Zeit unaufhaltsam verstreicht, wenn er sie nicht zu nutzen weiß. Der Dialog kann aber auch aufzeigen, welches Rezeptionspotential Literatur diachron innewohnt: eines, das die Zeiten überdauert, wie es der intertextuelle Dialog zwischen Grünbein und den antiken Autoren belegt. Doch dieser läuft nicht ohne Ironie ab. Weder übernimmt Grünbein vorbehaltlos die Argumentation von Augustinus noch schließt er fraglos an Horaz an. Stattdessen erweist er sich im letzten Abschnitt seines Gedichts ebenso als Kind seiner Zeit wie Thomas Kling bei seiner Antikerezeption. Ein ‚naives‘ Zitieren früherer Texte steht für Grünbein – Jahre nach den Hauptwerken von Poststrukturalismus und Postmoderne37 – ebensowenig als Option im Raum wie für Kling. Ohne Zitate – also scheinbar ‚genieästhetisch‘ – kann keine neue Literatur entstehen, das wissen beide. Und so bietet das Mittel der Ironie die Möglichkeit, das Vorhandene zwar zu akzeptieren, doch mit einem selbstreflexivkritischen Akzent zu versehen. Umberto Eco hat dies als ‚postmoderne Ironie‘ bezeichnet:38
S. 1−20; ders.: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. Bd. 2: Drittes und viertes Buch. Darmstadt 1973 37 Zum ironischen Zitieren der Postmoderne vgl. Klaus Birnstiel/Erik Schilling: „Postmodernes Erzählen und Konsequenzen für die Theorie“. In: Dies. (Hg.): Literatur und Theorie seit der Postmoderne. Mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Stuttgart 2012, S. 83–91. 38 Umberto Eco: Nachschrift zum „Namen der Rose“. München 1984, S. 78f.
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Die postmoderne Haltung erscheint mit wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: „Ich liebe dich inniglich“, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: „Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.“ In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat […], hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe.
Von einer solchen Form postmoderner Ironie in einer Zeit der verlorenen Unschuld zeugt das Ende von Grünbeins Gedicht: Schläfrig bin ich, Alypius. Was hast du gesagt?
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Zeit ist das Seil, das ein Esel frißt und herausscheißt, verknotet? Und der Esel gehört einem Mann, der die Knoten löst Und dem Tier von neuem das Seil hinhält, mangels Futter. Und der Esel macht statt zu rülpsen den Laut, Den nur Esel beherrschen, vollendet.
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Zeit ist kein Rätsel, Alypius. Vergiß es.
Das scheinbar resignierende Fazit „Zeit ist kein Rätsel, Alypius. Vergiß es“ stellt genau die Vermeidung einer ‚falschen Unschuld‘ dar, die Eco beschreibt. Das Gedicht zeigt sich dessen bewusst, dass es nicht in einer Zeit der ‚Unschuld‘ verfasst wurde, in der zwar am Wesen der Zeit und damit an den Möglichkeiten der Erkenntnis gezweifelt werden kann, aber diese Zweifel im Glauben an Gott aufgefangen werden. Und doch bietet das Medium Literatur – wie Grünbein demonstriert – eine Möglichkeit, unter Vermeidung jeder naiven Komponente nach dem Wesen von Zeit zu fragen und so ein weiteres Mal an ihrer Beschreibung zu verzweifeln. Es ist also ein ambivalenter Zweifel. Er wird über die meisten Abschnitte des Gedichts ernst genommen; am Ende aber – und in Kulmi-
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nation in der letzten Zeile – verweist Grünbein aus der Position seines Sprechers Augustinus heraus auf die (partielle) Sinnlosigkeit der diskutierten Fragen. Das Bild des Esels und die vulgären Ausdrücke zeigen, dass jeder Versuch, in Sprache eine logische Argumentation zu vollziehen, zum Scheitern verurteilt ist und schlussendlich dem „Laut, den nur Esel beherrschen“, ähnelt. Und doch fügt Grünbein sich mit seinem Gedicht – auf der Basis von Ironie – in die Reihe derjenigen ein, die trotz der Grenzen von Sprache und Erkenntnis nicht auf den Versuch verzichten, im Medium der Sprache einen Erkenntnisprozess zu vollziehen – wie Novalis in seinem Monolog. Grünbein kennt seinen Augustinus und die Grenzen der Erkenntnis, er kennt seinen Kierkegaard und die Grenzen der Immanenz, er kennt seinen Wittgenstein und die Grenzen der Sprache. Und dennoch versucht er sich an der Trias von Erkenntnis, Transzendenz und Sprache. Er tut dies im Dialog mit der literarischen Tradition und dem Leser sowie in dem Wissen darum, dass seine Äußerungen polyphonen Charakter aufweisen, also nicht nur das sagen, was sie zu sagen scheinen, sondern unter der Oberfläche andere Konnotationen besitzen. Dieser Dialog mit Tradition und Leser sowie die entstehenden polyphonen Texte sind das Faszinosum nicht nur seiner Lyrik.
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