Die Verwandlung der Dinge: Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.] 9783839419151

Die ästhetische Strategie der Aneignung ist ein zentrales Moment in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Als Ausgangspunkt zu

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German Pages 314 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Die Entfremdung des Fremden
1 Forschungsgegenstand
2 Stand der Forschung
3 Methode
Der Wille zur Kunst: Clement Greenbergs Kunstmodell
1 Die linke Intellektualität und die Ästhetik
2 Die programmatischen Texte
2.1 Der marxistische Topos und der positivistische Schein
2.2 Das Laokoon-Paradigma und die Kontingenz des Mediums
2.3 Die Suche nach dem Wesen der Kunst
2.4 Die kantische Deckung
3 Zusammenfassung: Das Konstrukt
4 Fazit
Marcel Duchamp und der avantgardistische Topos
1 Das Moment des Bruches
1.1 Von der Sprachanwendung zur vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit
1.2 Die Kontingenz des Ausführbaren
1.3 Die Kontingenz des generierten Zufalles
2 Die fragmentierte Werkeinheit
3 Die ontologische Tiefe
4 Der Fall Richard Mutt
5 Die Immanenz des Raumes
6 Fazit
Die amerikanische Flagge und die Immanenz der Zwiespältigkeit
1 Die vorprogrammierte Visualität
2 Die Krise
3 Jasper Johns und die ästhetische Gestalthaftigkeit des Bildobjektes
3.1 Flag
3.2 Der Weltbezug
3.3 Die Aktualisierung des Symbols
4 Die Dada-Sache
5 Die Einheit des Verschiedenen
6 Fazit
Des Anderen Werk: Die Konfiguration der Aneignung
1 Das räumliche Vermächtnis der Avantgarde
2 Das objekthafte Vermächtnis der Avantgarde
3 Die Aneignung
3.1 Andy Warhols Paroxysmus des Gewöhnlichen
3.1.1 Die Box-Plastiken
3.1.2 Der Archetypus und seine Ausführungen
3.1.3 Dinglichkeit und Paroxysmus: The American Supermarket
3.2 Elaine Sturtevant und die immaterielle Entäußerung der Kunst
3.2.1 Das Environment der Aneignung
3.2.2 Das Objekt der Aneignung
3.2.3 Die immaterielle Ebene
4 Die Macht des Künstlers
5 Fazit
Schlussfolgerung
Literatur
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Die Verwandlung der Dinge: Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts [1. Aufl.]
 9783839419151

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Alejandro Perdomo Daniels Die Verwandlung der Dinge

Image | Band 32

Alejandro Perdomo Daniels (Dr. phil.) hat Kunstgeschichte, Komparatistik und Romanistik in Bonn studiert und arbeitet als Autor und Kurator. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunstgeschichte und Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Ästhetik sowie zeitgenössische Kunst.

Alejandro Perdomo Daniels

Die Verwandlung der Dinge Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts

Danksagung: Betreuer: Prof. Dr. Ulrich Rehm, Prof. Dr. Ursula Anna Frohne Lektoren: Arezou Khoschnam, Ingmar Lähnemann, Larissa Spicker, Wiebke Hermes Förderer: Cusanuswerk, Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften Von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum im Jahr 2010 als Dissertation angenommen. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Alejandro Perdomo Daniels Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1915-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Die Entfremdung des Fremden | 7

1 Forschungsgegenstand | 9 2 Stand der Forschung | 14 3 Methode | 19 Der Wille zur Kunst: Clement Greenbergs Kunstmodell | 21

1 Die linke Intellektualität und die Ästhetik | 23 2 Die programmatischen Texte | 32 2.1 Der marxistische Topos und der positivistische Schein | 35 2.2 Das Laokoon-Paradigma und die Kontingenz des Mediums | 43 2.3 Die Suche nach dem Wesen der Kunst | 53 2.4 Die kantische Deckung | 57 3 Zusammenfassung: Das Konstrukt | 68 4 Fazit | 72 Marcel Duchamp und der avantgardistische Topos | 75

1 Das Moment des Bruches | 77 1.1 Von der Sprachanwendung zur vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit | 84 1.2 Die Kontingenz des Ausführbaren | 90 1.3 Die Kontingenz des generierten Zufalles | 93 2 Die fragmentierte Werkeinheit | 98 3 Die ontologische Tiefe | 107 4 Der Fall Richard Mutt | 120 5 Die Immanenz des Raumes | 129 6 Fazit | 134 Die amerikanische Flagge und die Immanenz der Zwiespältigkeit | 137

1 Die vorprogrammierte Visualität | 139 2 Die Krise | 153 3 Jasper Johns und die ästhetische Gestalthaftigkeit des Bildobjektes | 159 3.1 Flag | 162 3.2 Der Weltbezug | 174 3.3 Die Aktualisierung des Symbols | 179

4 Die Dada-Sache | 182 5 Die Einheit des Verschiedenen | 190 6 Fazit | 197 Des Anderen Werk: Die Konfiguration der Aneignung | 201

1 Das räumliche Vermächtnis der Avantgarde | 203 2 Das objekthafte Vermächtnis der Avantgarde | 210 3 Die Aneignung | 220 3.1 Andy Warhols Paroxysmus des Gewöhnlichen | 224 3.1.1 Die Box-Plastiken | 232 3.1.2 Der Archetypus und seine Ausführungen | 237 3.1.3 Dinglichkeit und Paroxysmus: The American Supermarket | 245 3.2 Elaine Sturtevant und die immaterielle Entäußerung der Kunst | 251 3.2.1 Das Environment der Aneignung | 256 3.2.2 Das Objekt der Aneignung | 261 3.2.3 Die immaterielle Ebene | 268 4 Die Macht des Künstlers | 271 5 Fazit | 276 Schlussfolgerung | 281 Literatur | 291

Einleitung: Die Entfremdung des Fremden

Der bis in die Antike zurückverfolgbare Begriff ‚Entfremdung‘, der im 19. Jahrhundert durch die Philosophie Hegels und insbesondere Marx’ große Relevanz erreichen konnte, ist ein philosophischer Grundgedanke mit ökonomischen, juristischen, politischen, psychologischen, anthropologischen und ästhetischen Konnotationen, wobei der Kern seines semantischen Feldes – sprich ‚sich von etwas fremd machen‘ bzw. ‚sich selbst oder etwas fremd werden‘ – den Verlust einer ursprünglichen Identität beinhaltet.1 Er bezeichnet somit den Zustand einer aufgehobenen Ursprünglichkeit, die als solche noch gedacht werden kann. In seiner dialektischen Logik steht dieser Verlust in direktem Zusammenhang mit der Vorstellung von Gewinn, insoweit der Verlust einer notwendig gedachten Identität die Bedingung der Möglichkeit einer anderen Wesenseinheit ist: Durch das Fremdwerden eines Dinges, Sachverhaltes, Zustandes etc. entsteht an Stelle der entfremdeten Ursprünglichkeit notwendigerweise etwas Neues, das über das Entfremdete hinausgeht. Diese Kondition impliziert daher die Umgestaltung zu einem neuen Stadium der Beziehungen zur Welt, weshalb sie ihrem Wesen nach eine Verwandlungsfunktion erfüllt. In diesem Zusammenhang stellt der Begriff ‚Entfremdung‘ – unabhängig von allen wertbezogenen Implikationen – eine Bedingung ontologischer Umgestaltung dar. Wenn die Möglichkeit, durch Aufhebung von Ursprünglichkeit etwas Neues hervorzubringen, eine aktive Handlung ist bzw. einer sie bedingenden Determination entspringt, bedeutet sie zwangsläufig eine zielgerichtete Entäußerung des Fremden, dessen Ursprünglichkeit aufgehoben wird, so dass dieses notwendigerweise Teil der entfremdenden Determination wird: Das Fremde wird somit zu Eigen gemacht. Demnach stellt ‚Entfremdung‘ die Grundbedingung ihres Gegenbegriffes dar: sprich ‚Aneignung‘. Jenseits aller ideologischen Programmatik

1

Vgl. Franz, Michael/Trebeß, Achim: „Aneignung-Entfremdung“, in: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart 2006, S. 14-17, hier S. 15.

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ist diese dialektische Grundfigur von zentraler Bedeutung für die Ästhetik, insoweit sie eine produktionsästhetische Konstellation kennzeichnet, in der das bereits Vorhandene die Voraussetzung für das Zustandekommende ist. Das bedeutet, Entfremdung und Aneignung sind zwei Momente derselben ästhetischen Funktion, wobei die Erstere die conditio sine qua non darstellt. Dieses Prinzip der Ästhetik gewinnt eine kapitale Bedeutung bei jenen Kunstformen, die gezielt die Aneignung zur produktionsästhetischen Strategie machen, was offensichtlich der Fall bei der sogenannten ‚Appropriation Art‘ ist, einer Kunsttendenz der achtziger Jahre, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Künstler im Rahmen ihres eigenen Kunstprogramms Kunstwerke anderer Künstler reproduzieren: Ein fremdes Kunstwerk wird entfremdet und durch Reproduktion zu Eigen gemacht. Diese Strategie scheint nicht nur der von der Moderne geprägten Vorstellung von Originalität und Autorschaft zu widersprechen, nach welcher der Künstler mit seinem Werk eine Neuerung in die etablierte Tradition der Kunst einzuführen habe, um das Fortfahren der Kunst überhaupt zu ermöglichen,2 sondern auch das auf diesem Paradigma beruhende Wertesystem ad absurdum zu führen. Denn diese Tendenz rückte tatsächlich die Frage nach empirischer Autorschaft bzw. nach der stabilisierenden Funktion der künstlerischen Subjektivität kritisch in den Blickpunkt, was im Hinblick auf die in den sechziger Jahren entstandenen und zu Topoi gewordenen Theorien, welche die Autorinstanz hinterfragen (Barthes, Der Tod des Autors, 1967 und Foucault, Was ist ein Autor?, 1969), den Eindruck einer radikalen Verneinung aller Ursprünglichkeit durch Aneignung vermittelt. Dabei stellt die Appropriation Art eine Kontinuität her mit einer bis in die Avantgarde zurückreichenden Strategie, deren Entwicklung mehrere Ausprägungen aufweist und als Voraussetzung aller Aneignungsvorgänge der Postmoderne gilt: Das ist die ästhetische Strategie der Aneignung. Die Bedeutung dieser Strategie ist enorm. Denn sie war eines der wichtigsten Verfahren, auf denen das ästhetische Programm der Avantgarde fußte. Sie trug entscheidend dazu bei, die traditionelle Werkeinheit aufzulösen, wodurch ein neuer Werktypus entstehen konnte, der die Beschaffenheit des Kunstwerkes in seiner ästhetischen Unvermitteltheit fundamental erweiterte. Durch den Einsatz der Entfremdungs-Aneignungs-Gestaltungsmöglichkeit, die sich zunächst als Rückgriff auf Gegenstände aus dem alltäglichen Leben manifestierte, wurde die herkömmliche, in ihrer eigenen Tradition begründete Werkeinheit radikal negiert

2

Vgl. Krauss, Rosalind: „Die Originalität der Avantgarde“, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Leipzig 2000, S. 197-219, hier S. 204205.

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und an deren Stelle eine neue errichtet, die keinem individuellen Produktionsprozess entsprang, sondern dem Bereich des Vorgefundenen, bereits Bestehenden. Der Anfangspunkt dieser Strategie war die kubistische Fragmentierung der Dinge, deren Bruch mit der Zentralperspektive zur Verselbstständigung von Flächen und Formen führte, welche nun zu autonomen Realitätsfragmenten im Bild wurden. Das Ineinandergreifen von Flächen und Formen im Bild stellte eine ästhetische Ordnung her, bei der keine geistige Kontinuität mit dem Rezipienten mehr bestand, sondern eine körperliche: Der Betrachter des Bildes stand nicht mehr vor einem illusionistischen Fenster, sondern vor Fragmenten der Realität. Als diese Fragmente faktische Realitätsfragmente aus dem Zusammenhang des alltäglichen Lebens wurden, verwandelte sich die Einheit des Werkes in eine fragmentierte, durch Entfremdung und Aneignung konstruierte Ganzheit ästhetischer Natur. Damit wurde die Strategie der Aneignung geboren. Die weitere Entwicklung dieser Strategie ist Marcel Duchamp zu verdanken, der zur ästhetischen Autonomie des vorgefundenen Objektes entscheidend beitrug. Mit seiner Assemblage von 1913 Roue de bicyclette, bei der er zwei vorgefundene Gegenstände – die Gabel eines Fahrrades und einen gewöhnlichen Küchenschemel – zusammenmontierte, stellte er auf Entfremdungs- und Aneignungsbasis eine in sich vollständige Werkeinheit her, ohne die Gestalt der vorgefundenen Objekte zu modifizieren. Diese Möglichkeit radikalisierte er weiter, indem er unveränderte Alltagsgegenstände auswählte, signierte und mit Titel und Sinngehalt versah und sie so zu ästhetischen Einheiten werden ließ: die sogenannten Readymades. Dieser Werktypus stellt die Basis der ästhetischen Strategie der Aneignung dar, insoweit er die Möglichkeit verkörpert, vorgefundene Objekte aus fremden Kontexten zu entfremden und, ohne sie umzugestalten, in einen geistigen Zusammenhang einzuführen, der sie mit ästhetischer Identität versehen kann: Das entfremdete Objekt wird zur Gestalt eines Kunstwerkes, wobei Gestalt und Kunstwerk eine ontologische Einheit konstituieren, deren Identität das Resultat einer Entfremdungs-Aneignungs-Funktion ist.

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F ORSCHUNGSGEGENSTAND

Diese Dissertation ist eine historisch-vergleichende Untersuchung der ästhetischen Strategie der Aneignung von ihrer Entstehung bis zu ihrer selbstreferentiellen Manifestation. Dabei wird Aneignung im engeren Sinne erfasst, sprich als die gezielte Übernahme von fremden Artefakten der Kultur: Kunst- und Alltagsobjekte, die, in ihrer Erscheinungsform unverändert, zur Gestalt von Kunstwerken gemacht werden. Andere Formen künstlerischer Aneignung wie die Ausei-

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nandersetzung mit vorgefundenem Material, das ästhetisch bearbeitet und in eine geschlossene Werkeinheit integriert wird, wofür die Collage, die Assemblage, die Objektkunst und alle Formen künstlerischen Zitats Beispiele sind, gehen über die Spezifität der Fragestellung dieser Arbeit hinaus, weshalb sie nicht berücksichtigt werden können. So handelt es sich bei dieser Studie um eine gezielte Untersuchung der Faktoren, die unbedingt vorhanden sein mussten, damit die Möglichkeit reiner Aneignung als selbstständige Strategie aufkommen konnte. Folglich ist die Studie eine wirkungsgeschichtliche Analyse der ästhetischen Kräfte, die diese Strategie strukturell bedingten. Diese Fokussierung gründet auf der Erkenntnis, dass die Entstehung und die Entwicklung der Aneignung die Konjunktion mehrerer Faktoren in einem kunsthistorischen Kontext sind, in welchem ein empirisch festellbarer Prozess von Wirkungen und Folgen – als Niederschlag ästhetischer Vorgänge und Anschauungen manifestiert – stattfand. Diesem Untersuchungsparameter zufolge ist der zeitliche und räumliche Rahmen der Arbeit strikt begrenzt: Der Anfang ist der datierbare Zeitpunkt des Entstehens der Einflussgrößen, denen eine Wirkung im Hinblick auf die Konstituierung der Aneignung zugeschrieben werden kann: das Jahr 1913. Die Erscheinung der selbstreferentiellen Ausprägung der Aneignung – das heißt die Aneignung von Kunst als Kunst – markiert die zeitliche Obergrenze der Studie: das Jahr 1965. Der konkrete Schauplatz, in dem die Wirkungs- und Rezeptionsprozesse stattfanden, konstituiert den geographischen Rahmen der Arbeit: die Stadt New York. Da die ästhetischen Kräfte in der Entwicklung dieser Strategie das Ergebnis gegensätzlicher Motive und Ursachen sind, gründet der logische Aufbau dieser Studie auf einem mehrstufigen Modell, innerhalb dessen sowohl die fundamental unvereinbaren Paradigmen, welche die Konstituierung der Aneignung strukturell bestimmten, als auch die formale Manifestation ihrer Auswirkungen, das heißt die verschiedenen Ausprägungen der Aneignung, einzeln in ihrer spezifischen Wirksamkeit untersucht werden. Bei diesem Modell handelt es sich jedoch nicht um ein lineares und fortschrittsorientiertes Entwicklungsschema. Denn der ästhetische Wandel der Strategie der Aneignung entspricht keiner linearen Entwicklungsfunktion, nach welcher jede Ausprägung der Aneignung ein Stadium innerhalb einer teleologisch determinierten Verbesserungsfolge sei: Jedes Moment im ästhetischen Wandel dieser Strategie ist ein autonomer Niederschlag innerhalb

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eines wirkungsästhetischen Zusammenhanges und daher nicht eine auf die sukzessiven Veränderungen eines Parameters proportional reagierende Größe.3 Anhand dieser Untersuchungsparameter lässt sich der Korpus der Studie wie folgt darstellen: Ausgangspunkt ist eine Analyse des Kunstmodells Clement Greenbergs. Die Kunstpraxis Marcel Duchamps, Greenbergs Gegenposition auf ästhetischer Ebene, wird anschließend vorgestellt, womit die für die Konstituierung der Strategie der Aneignung grundlegenden Einflussfaktoren durchleuchtet werden. Das heterogene Moment, das aus beiden konträren Paradigmen resultiert und als Bedingung der Möglichkeit der Aneignung gilt, wird in der nächsten Stufe der Arbeit erforscht. So wird eine Untersuchung der Krise der in Greenbergs Kunstmodell fundierten Kunstanschauung durchgeführt, infolge derer die zunehmende Wirkungsmacht des entgegengesetzten Modells zur Entstehung eines Werktypus führte, der für die Strategie der Aneignung als Markstein gilt: Jasper Johns’ Werk Flag von 1954-55. Seiner Rolle entsprechend wird dieses paradigmatische Kunstobjekt ausführlich analysiert. Im letzen Abschnitt wird die wirkungsästhetische Konstellation der Aneignung zu Beginn der sechziger Jahre dargestellt. Hierzu werden zunächst die sich aus der produktiven Begegnung beider konträrer Paradigmen herauskristallisierten Wirkungsfaktoren, welche die Züge der Strategie der Aneignung bestimmten, untersucht. Diese sind spezifische, raum- und objektimmanente Funktionen aus der Tradition der Avantgarde. Hiernach widmet sich die Untersuchung den zentralsten Ausprägungen der Aneignung, wobei zwei paradigmatische Momente identifiziert werden: Andy Warhols Aneignungsstrategie, deren Höhepunkt seine Verpackungskartons gleichenden Plastiken von 1964 darstellen, und Elaine Sturtevants selbstreferentielle Strategie der Aneignung. Diese kam bereits bei ihrer ersten Ausstellung 1965 in der Bianchini Gallery konsistent zum Ausdruck und ist Kulminationspunkt des untersuchten ästhetischen Wandels, insoweit sich dort die Strategie der Aneignung zum ersten Mal als eigenständiges Kunstprogramm selbstbezogener Natur manifestierte. Die Verknüpfung der Einzelthemenbereiche des Forschungsgegenstandes entspringt der empirisch feststellbaren Struktur des ästhetischen Wandels der Aneignung. Diese Struktur gründet auf einer Erforschung der gesamten Thematik, durch welche eine Verkettung von Wirkungsvorgängen aus überlieferten Tatbeständen, Kunstanschauungen und Kunstwerken, die innerhalb der Parameter der gewählten Fragestellung eine erkennbare Rolle spielen, identifiziert wer-

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Die Verwendung des Begriffes ‚Entwicklung‘ kennzeichnet in der Untersuchung keine fortschrittliche Linearität und entspricht daher keiner ideologischen Geschichtsdeutung. Der Begriff wird im Sinne diachronischen Wandels verwendet.

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den konnte. Dabei konstituieren alle Wirkungsfaktoren in ihrer jeweiligen Spezifität eine zusammenhängende Ganzheit, in welcher sich die Dynamik der ästhetischen Prozesse der Aneignung manifestiert. So ist die Möglichkeit der Aneignung bereits im ersten Teil der Untersuchung implizit vorhanden, wobei sie erst durch die Gegenüberstellung beider gegensätzlicher Paradigmen offensichtlich wird. Denn das Kunstmodell Clement Greenbergs, dem es gelang, die Kunstanschauung im New Yorker Kunstsystem der vierziger und fünfziger Jahre maßgebend zu beeinflussen, war ein regulatives ästhetisches Modell, das produktionsund rezeptionsästhetische Anwendung finden konnte, wobei sich seine verabsolutierende Vorstellung einer formalistischen und grundsätzlich auf die visuelle Wahrnehmung gerichteten Kunst richtungsweisend durchzusetzen vermochte. Demgegenüber veranschaulichte die Kunstpraxis Duchamps ein Kunstmodell, das nicht nur die Paradigmen einer auf das Visuelle gerichteten Kunst grundsätzlich relativierte, sondern auch die Möglichkeit, neue Sinndimensionen im Kunstwerk zu eröffnen, ergründete. Dabei brachte er eine künstlerische Haltung zum Ausdruck, die auf der Basis einer intendierten Indifferenz auf ästhetischer Ebene Kunst, die auf die Produktion visueller Einmaligkeit programmatisch abzielt, hinterfragt, was die Grundlage für die Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung darstellt. Da das Kunstmodell Greenbergs im Kern seiner theoretischen Struktur eine schwerwiegende Inkonsistenz beinhaltet, brachen seine Grundsätze allmählich zusammen, was die Rezeption von Duchamps Kunstpraxis begünstigte und zur Entstehung neuer Kunstformen führte. Diese Konstellation erweist sich als die Voraussetzung für die Entfaltung der Aneignung. Sie legte die Basis für die Herstellung von Flag, dem paradigmatischen Werk Jasper Johns’, das die Züge der Strategie der Aneignung strukturell bestimmte. Dieses Werk, an dem die ästhetische Programmatik formalistischer Kunst und die entgegengesetzte, aus der ästhetischen Gedankenwelt Duchamps hervorgegangene Einflussgröße konvergieren, schuf einen neuartigen Werktypus, bei dem die Aneignung des Fremden, bereits Vorhandenen exemplarisch zum Ausdruck kommt. Dabei wurde es von der auftretenden Krise des Motivs und von der zunehmenden Betonung bestimmter Gattungseigenschaften entsprechend der Programmatik formalistischer Kunst – zwei Faktoren, die vom Kunstmodell Greenbergs maßgeblich induziert wurden – veranlasst. Zugleich griff dieses Werk auf die avantgardistische und von Duchamp entscheidend geprägte Möglichkeit zurück, durch Aneignung fremder Artefakte ein selbstständiges Kunstwerk zu gestalten. Dieses Werk markierte den Beginn einer neuen Art von Beziehung zum vorgefundenen Fremden, was im Kontext der ab Mitte der fünfziger Jahre wachsenden Rezeption von Duchamp und der Dada-Bewegung sowie des Aufkommens neuer Positionen jenseits der Paradigmen des Abstrak-

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ten Expressionismus den Rückgriff auf das Fremde als Möglichkeit ästhetischer Gestaltung verfestigte. In diesem Zusammenhang setzte sich Warhol mit den ästhetischen Möglichkeiten der Aneignung auseinander. Mit seiner programmatischen Hinwendung zur Massenkultur entwickelte er einen künstlerischen Gestaltungsmodus, durch welchen gewöhnliche Produkte aus dem Alltag in ihrer Objekthaftigkeit nüchtern wiedergegeben werden. Diese von Johns maßgeblich beeinflusste Strategie, mittels derer die objekthafte Immanenz des Kunstwerkes mit der Gestalt eines vorgefundenen Artefaktes reproduzierbaren Charakters übereinzustimmen vermag, ermöglicht die Herstellung von Kunstwerken, deren Erscheinungsform gänzlich von der bereits bestehenden Kontingenz fremder Entitäten determiniert wird. Mit der Serie der sogenannten Box-Plastiken brachte Warhol diese Strategie prägnant zum Ausdruck, was eine unmittelbare Wirkung im New Yorker Kunstsystem zeitigte. In diesem Kontext befasste sich Sturtevant mit der Strategie der Aneignung, wobei sie diese radikalisierte und zum Kunstprogramm machte. So bestand Sturtevants Beitrag darin, die Strategie der Aneignung in eine selbstreferentielle Gestaltungsfunktion zu verwandeln: Indem sie bereits vorhandene Kunstwerke von jungen zeitgenössischen Künstlern getreu reproduzierte und die Reproduktionen zu autonomen Kunstwerken erklärte, schuf sie eine Situation von Immanenz, die sich auf sich selbst bezieht, insoweit sie – wie ihre Referenz – Kunst ist. Dabei geht diese auf Aneignungsbasis geschaffene Immanenz über die sie bestimmende Referenz hinaus, so dass ihre jeweiligen Sinndimensionen grundsätzlich anders sind. Sturtevants Erweiterung der Aneignung, die aufgrund ihrer programmatischen Selbstbezogenheit als konsequenteste Ausprägung der Strategie der Aneignung gilt, verdeutlicht den konzeptuellen Charakter dieser Strategie. Sie demonstriert, dass zwei gleich aussehende Artefakte nicht gleich sind, selbst wenn sie derselben ontologischen Klasse angehören. Demnach sind es die immateriellen Dimensionen eines Dinges, die die Spezifität seiner Existenz bestimmen. Dabei erfüllt die Strategie der Aneignung eine fundamental konzeptuelle Funktion, kraft derer die Ursprünglichkeit des Fremden durch Entfremdung seiner Identität zu etwas Neuem gemacht wird, ohne dass seine ursprüngliche Erscheinung modifiziert werden muss. Die Aneignung ist somit die werkgemäße Realisierung einer ästhetischen Idee, deren Grundbedingung die Entfremdung des Fremden ist.

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In der Forschung gibt es bislang keine Studie, welche die Strategie der Aneignung entsprechend der Fragestellung dieser Dissertation untersucht. Zwar ist das Thema der Aneignung ein zentrales Moment der zeitgenössischen Kunstgeschichte, weshalb zahlreiche Untersuchungen rund um dieses Thema publiziert worden sind. Aber die jeweiligen Fragestellungen sind voneinander so unterschiedlich, dass der Gegenstand des unter demselben Begriff untersuchten Phänomens sehr verschiedene Züge aufweist. Die Aneignung ist, was ihre Definition anbelangt, ein sehr breites Phänomen: Aneignung kennzeichnet sowohl die in ihrer Programmatik eng abgegrenzte Kunstrichtung der achtziger Jahre ‚Appropriation Art‘ als auch die Verwendung vorgefundenen Materials in der Kunst des 20. Jahrhunderts, worunter Collagen, Assemblagen, Zitate und Paraphrasen verstanden werden können. Zudem reichen die Konnotationen der Aneignung vom Philosophischen bis hin zum Juristischen, was mannigfaltige Betrachtungsmöglichkeiten hinsichtlich der Strategie der Aneignung eröffnet. Dieser Sachverhalt hat dazu beigetragen, dass der Stand der Forschung in diesem Themenbereich sehr allgemein ist, es sei denn, es handelt sich dabei um Untersuchungen zu Werk und Wirken von einzelnen Künstlern. Doch diese gelten in ihrer Spezifität nicht für die umfassende Ganzheit des ästhetischen Phänomens. Somit erweist sich die Fragestellung dieser Studie als ein Desiderat in der bisherigen Forschung. In Zusammenhang mit den einzelnen Themen, aus denen die Arbeit als Ganze besteht, ist festzustellen, dass bereits zahlreiche Publikationen existieren, wobei Menge und Qualität je nach Thema sehr unterschiedlich ausfallen. Zudem ist der Blickwinkel der jeweiligen Studien verschieden konstruiert, so dass eine große Anzahl von heterogenen Untersuchungen zu gleichen Themen vorhanden ist. Dabei besteht ein Korpus von Erkenntnissen, auf dessen Basis die Fragestellungen der Forschung aufbauen. So ist in der Kunstliteratur die Rolle Greenbergs und Duchamps für die Entwicklung zahlreicher Tendenzen der Kunst des 20. Jahrhunderts allgemein bekannt: Die unmittelbare Wirkung der beiden einflussreichen Figuren der Kunstgeschichte reicht von dem Abstrakten Expressionismus und der Farbfeldmalerei bis zum Nouveau Réalisme, der Junk-Art, Pop-Art, Minimal-Art und Conceptual-Art. Aus diesem Grund werden sie sehr oft in Untersuchungen zu diesen Kunsttendenzen herangezogen, was einerseits zur Ver-

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breitung von deren kunsthistorischer Rolle beiträgt, aber andererseits zur Verflachung der Forschung führt.4 Die wissenschaftliche Qualität thematisch spezifischer Untersuchungen ist wesentlich höher. Im Forschungsbereich ‚Greenberg‘ zeigt sich dies deutlich. So ist in der Fachliteratur Greenbergs programmatische Auffassung einer selbstkritischen, ihre eigenen Grenzen hinterfragenden Kunst sowie seine puristische Vorstellung, dass man sich bei der Beurteilung von Kunstwerken stets nur an das halten solle, was man unmittelbar wahrnehmen könne, gut erforscht. Dementsprechend ist die kunsttheoretische Unhaltbarkeit seines Kunstmodells bekannt. Dabei ist die Struktur der Inkonsistenz wenig erforscht: Greenbergs wiederholte Berufung auf Kants Ästhetik hat zu Verallgemeinerungen geführt, wegen derer die Rolle Lessings und Babbitts für die Konstitution seines Modells – wenn überhaupt berücksichtigt – unterschätzt wird. Zudem wird anderen wichtigen Aspekten, die für die Analyse seines Modells von Bedeutung sind, wie sein sensualistisches Geschmacksurteil sowie seine eklektische Theoriebildung, wenig Beachtung geschenkt. Die maßgebende Studie Caroline Jones’ von 2005 Eyesight alone. Clement Greenberg’s Modernism and the Bureaucratization of the Senses5 geht auf diese Lücke in der Greenberg-Forschung ein. Dabei ist die Bestimmung der Kantischen Ästhetik in Bezug auf die Konstitution von Greenbergs Kunstmodell unbefriedigend. Die Rolle des Geniebegriffes Kants – der Ursprung von Greenbergs zentralstem Kritikbegriff ‚Kitsch‘ – ist in der Literatur nicht genügend erforscht,6 ein Desiderat, das für die Bestimmung der internen

4

Exemplarisch für diese Art von Untersuchungen sind Darstellungen, die vornehmlich auf Begriffsklärung im breiteren Sinne bzw. auf übergreifende Interpretationen bedacht sind. Die Anzahl von Publikationen dieser Art ist enorm, da sie sich großer Beliebtheit in fachfremden Kreisen erfreuen.

5

Jones, Caroline A.: Eyesight alone. Clement Greenberg’s Modernism and the Bureaucratization of the Senses, Chicago/London 2005.

6

Zwar ist Greenbergs Bezugnahme auf Kant in der Literatur bekannt, die meisten Untersuchungen zu diesem Aspekt haben jedoch eher allgemeinen Charakter. Zwei Aufsätze, die diese Problematik fokussiert behandeln, sind: Costello, Diarmuid: „Greenberg’s Kant and the Fate of Aesthetics in Contemporary Art Theory“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 65, Nr. 2, 2007, S. 217-228 und Crowther, Paul: „Greenberg’s Kant and the problem of modernist painting“, in: British Journal of Aesthetics, Vol. 25, Nr. 4, 1985, S. 317-325. Auch Arthur C. Danto setzte sich mit diesem Aspekt auseinander: Danto, Arthur C.: „Die Moderne und die Kritik der reinen Kunst: die Geschichtssicht Clement Greenbergs“, in: ders., Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 93-113.

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Inkonsistenz von Greenbergs Modell – eine der Bedingungen der Entwicklung der Aneignung – von enormer Bedeutung ist. Eines der großen Themen der Kunst des 20. Jahrhunderts ist das Werk und Wirken Marcel Duchamps, der gemeinhin als radikalster Künstler des 20. Jahrhunderts gilt. So ist die Anzahl der Publikationen zu diesem Forschungsbereich – Ausstellungskataloge, Anthologien, Monographien, Aufsätze, Interviews, Lexikonartikel – beträchtlich. Die neueste Fachliteratur widmet sich sehr spezifischen Fragestellungen, die das allgemeine Verständnis von Duchamps Werk und Wirken auf der Grundlage bereits bestehender Erkenntnisse zu erweitern sucht. Die Untersuchungen Herbert Molderings’ erweisen sich in diesem Zusammenhang als zentral. Seine Analyse der Rolle des Zufalles in Duchamps Werk – durchgeführt in seiner Studie von 2006 Kunst als Experiment. Marcel Duchamps 3 Kunststopf-Normalmaße7 – vermittelt kunstwissenschaftliche Erkenntnisse, die für die Struktur dieser Arbeit von Belang sind. So geht es bei der aktuellen Duchamp-Forschung – mehr als um den Erwerb materieller Kenntnisse – um eine wissenschaftliche Darstellung, welche neue Facetten der Deutung aufzeigt. Wie die ersten Forschungsbereiche ist das Oeuvre Jasper Johns’ auch Gegenstand zahlreicher Studien. Sein Werk Flag löste bereits nach seiner ersten Ausstellung im Jahr 1958 großes Interesse in der Kunstwelt aus, was den Beginn seiner kunstwissenschaftlichen Rezeption markierte. Eine der bedeutendsten Untersuchungen dieses Werkes stammt von Fred Orton: Figuring Jasper Johns. Allegorien eines Künstlers.8 Darin analysiert Orton das Werk nicht nur auf formaler Ebene, sondern er geht auch auf dessen historischen Kontext ein, wodurch wichtige Aspekte des Werkes verdeutlicht werden. Seine Interpretation verkennt jedoch die Verbindung von Flag zur ästhetischen Tradition Duchamps, die im Hinblick auf die Identität des Werkes eher als eine parallele Diskussion dargestellt wird. Die neueste Literatur ist sich der Rolle dieser Kunstanschauung bewusst. So findet man bei Jeffrey Weiss’ Aufsatz von 2007 Gemälde, von Mann gebissen9 diesen Aspekt treffender dargestellt. Dabei ist die ontologische Diffe-

7

Molderings, Herbert: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps 3 KunststopfNormalmaße, München/Berlin 2006.

8

Orton, Fred: Figuring Jasper Johns. Allegorien eines Künstlers, Klagenfurt/Wien

9

Bei diesem Aufsatz geht es jedoch nicht um das Werk Flag als solches, sondern um

1998. jene Gruppe emblematischer Werke, zu denen Flag gehört. Weiss, Jeffrey: „Gemälde, von Mann gebissen“, in: Jasper Johns. An Allegory of Painting, 1955-1965 (Washington, National Gallery of Art, 28.01.-29.04.2007 und Basel, Kunstmuseum Basel, 02.06.-23.09.2007), Berlin (u.a.) 2007, S. 2-56.

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renzierung der emblematischen Werke: Flaggen und Zielscheiben – entsprechend ihrer Dinglichkeit als Gebrauchsobjekte – nicht tiefgehend genug untersucht, ein Faktor, der für die Bestimmung des Wesens der Aneignung von großer Bedeutung ist. In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts genießt Andy Warhol einen vergleichbar hohen Stellenwert wie Duchamp, weshalb die Anzahl der Publikationen zu seinem Werk, Wirken und Leben entsprechend groß ist. Es überrascht daher, dass seine Plastiken im Allgemeinen genauso wie seine Ausstellung in der Stable Gallery 1964, welche die Einführung seiner Box-Plastiken in die Kunstwelt markierte, kaum analysiert worden sind.10 Den wichtigsten Beitrag zu Warhols Plastiken und zur Stable-Ausstellung liefert der Andy Warhol Catalogue Raisonné von 2004.11 Dort sind alle zentralen Fakten zum Thema aufgelistet, jedoch ermangelt der Text einer kunstwissenschaftlichen Analyse. In diesem Zusammenhang erweisen sich die Untersuchungen Arthur C. Dantos als bedeutsam. Seine Auseinandersetzung mit Warhols Plastiken, die er am Beispiel der BrilloBox veranschaulicht, brachte ihn zur Entwicklung einer ästhetischen Theorie, die sich mit der wichtigen Frage der ‚indiscernibility‘ [dt.: Ununterscheidbarkeit ] in der Kunst befasst, einem ästhetischen Problem, das er in zahlreichen Artikeln und Aufsätzen systematisch analysierte. 12 Dantos Position ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der immateriellen Dimension des Kunstwerkes, wenn auch seine Interpretation der Box-Plastiken oft die Züge eines Gedankenexperimentes aufweist. Ein sehr stringenter Beitrag der neuesten Literatur ist Michael Golecs Studie von 2008 The Brillo Box Archive. Aesthetics, Design, and Art.13 In dieser Untersuchung geht Golec auf die Box-Plastiken Warhols ein, indem er die Brillo-Verpackung als ein Konstrukt der Kultur analysiert, das designspezifische, künstlerische und kunsttheoretische Traditionen in sich verdichtet. Seine

10 Eine komparative Monographie aus dem Jahr 1999 behandelt Teilaspekte der Plastik bei Warhol: Reisenwedel-Terhorst, Gabriele: Eine Untersuchung zum Phänomen alltäglicher Dinge in der Kunst des 20. Jahrhunderts: Joseph Beuys, Andy Warhol, Dan Flavin, Mikrofiche-Ausg. Marburg 1999 (Diss. Phil. München 1999). 11 Frei, Georg/Printz, Neil (Hg.): The Andy Warhol catalogue raisonné. Paintings and sculptures 1964-1969, New York (u.a.) 2004. 12 Das Kernstück seiner ästhetischen Theorie stellt sein Buch von 1981 The Transfiguration of the Commonplace dar, dt. Ausg.: Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1991. 13 Golec, Michael: The Brillo Box Archive. Aesthetics, Design, and Art, Hannover/London 2008.

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Analyse tendiert jedoch aufgrund der fokussierten Bezogenheit ihres Blickwinkels zur Einseitigkeit.14 Das Oeuvre Elaine Sturtevants, das erst ab den neunziger Jahren Anerkennung erlangte, zählt zu den bedeutendsten Kunstpositionen des 20. Jahrhunderts. Es zeichnet sich durch eine formelle und konzeptuelle Kontinuität aus, die sich seit ihrer ersten Ausstellung im Jahr 1965 bis in die jüngste Zeit erhalten hat. Die Rezeption von Sturtevants Arbeit ist aufgrund des Charakters ihrer ästhetischen Strategie sehr polemisch gewesen. In der neuesten Literatur wird jedoch nicht mehr über den Wert der mittlerweile breit anerkannten, künstlerischen Position Sturtevants diskutiert, sondern eher über die kunstwissenschaftliche Einordnung ihres Werkes. So gibt es zahlreiche Katalogaufsätze und Artikel, die bedacht sind, begriffliche Klarheit zu schaffen.15 Hingegen existiert keine Untersuchung zu Sturtevants erster Ausstellung, die für die Herausbildung ihrer ästhetischen Strategie von außerordentlicher Bedeutung ist. Der Aufsatz Ursula Frohnes von 2000 Das Meisterwerk und sein Double16 analysiert treffend wichtige Aspekte der künstlerischen Strategie Sturtevants am Beispiel ihres Werkes Beuys La rivoluzione siamo Noi.17 Sie thematisiert die konzeptuelle Struktur von Sturtevants Strategie im Hinblick auf das programmatische Prinzip einer aktiven Indifferenz der Differenz, womit Sturtevants Situierung in der ästhetischen Tradition Duchamps verdeutlicht wird.

14 Warhols Appropriation der Verpackungskartons entspricht keiner Notwendigkeit des Objektes an sich, sondern dem subjektiven Willen des Künstlers, so dass eine Verbindung zwischen Designer (Harvey), Künstler (Warhol) und Philosoph (Danto) notwendigerweise von konstruktiver Natur ist. 15 Aufgrund der zum Teil hermetischen Aussagen Sturtevants, ihrer radikalen Haltung sowie der eher späten Anerkennung ihres Werkes ist die Forschung nicht weit fortgeschritten. Lediglich eine Monographie aus dem Jahr 2006 befasst sich ausschließlich mit ihrem Oeuvre: Vahrson, Viola: Die Radikalität der Wiederholung. Interferenzen und Paradoxien im Werk Sturtevants, Paderborn 2006. 16 Frohne, Ursula: „Das Meisterwerk und sein Double. Elaine Sturtevants Rhetorik der Reprise am Beispiel von Beuys ‚La rivoluzione siamo Noi“, in: Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart, Bd. 3, Köln 2000, S. 271-288. 17 Elaine Sturtevant, Beuys La rivoluzione siamo Noi, 1988, Siebdruck auf Papier, 95,4 x 51 cm, Neues Museum, Weimar.

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M ETHODE

Die Herangehensweise dieser Dissertation besteht aus verschiedenen Verfahren, deren Anwendung daran orientiert ist, die Spezifität aller Teilbereiche der Studie gemäß der zentralen Fragestellung herauszuarbeiten. Auf der Basis eines genau identifizierten Zusammenhanges, den die historische Untersuchung nach der kritischen Sichtung bezeugter Tatbestände und überlieferter, dinglicher und schriftlicher Gegenstände liefert, wird eine Darstellung versucht, welche die Züge der kunsthistorischen Prozesse erfasst, dank derer sich die Strategie der Aneignung konstituieren konnte. Diese Situierung bildet den Rahmen für die formale Analyse der zu untersuchenden Gegenstände der Studie: kunsttheoretischer Dokumente18 und Kunstobjekte, darunter Readymades, Gemälde, Assemblagen, Plastiken und Environments. Die Untersuchung der kunsttheoretischen Texte Clement Greenbergs beruht auf einer hermeneutischen Reproduktion ihres Sinngehalts sowohl im Hinblick auf die kunsttheoretischen Bezüge, auf deren Basis sie strukturiert sind, als auch im Hinblick auf ihre immanenten Sinnzusammenhänge und Programmatik. Dadurch werden die interne Kohärenz und die Widersprüchlichkeit der Texte dargelegt, was die Basis für die Bestimmung ihrer Wirkung liefert. Der Auslegung der Greenbergschen Theorie entsprechend, wird die Kunstpraxis Duchamps auf der Basis einer werkimmanenten Betrachtung ihrer ästhetischen Spezifität untersucht, wobei die kontextuellen Bedingungen ihrer Entfaltung einbezogen werden. Die Schaffensprozesse dieser Kunstpraxis wie ihr Resultat bieten formale Deutungsansätze, die auf das Bestehen ästhetischer Sinnzusammenhänge verweisen, die herauszulesen sind. Auf der Grundlage dieser hermeneutischen Übertragung von Sinn werden die Wirkungsinstanzen im Werk Duchamps herausgearbeitet. Die aus beiden Einflussgrößen entstandene, wirkungsästhetische Konstellation wird in der Geschichtlichkeit ihrer Emergenz untersucht. Dabei werden die konkreten Wirkfaktoren präzisiert, denen zugeschrieben werden kann, bestimmte produktionsästhetische Prozesse angeregt zu haben. Somit sind sowohl werkimmanente Beschreibungsmethoden als auch fokussierte Kontextsituierungen anzuwenden, um das Wesen der zu untersuchenden ästhetischen Gegenstände und

18 Aufgrund der sprachlich heterogenen Quellensituation und des verschiedenartigen Ranges der zu untersuchenden Dokumente (Aufsätze, Interviews, Kommentare, Kolumnen, kunstwissenschaftlicher Texte) wird in dieser Studie, wenn Standardübersetzungen vorliegen, auf Deutsch zitiert. Anderenfalls werden Zitate in Originalsprache angeführt.

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zugleich ihre Verankerung in einem wirkungsästhetischen Zusammenhang zu bestimmen. Die Bestimmung des Kunstwerkes setzt die Identifikation seines Modus von Existenz sowohl im Hinblick auf seine ontologische Bestimmtheit als ästhetische Identität als auch im Hinblick auf seine empirische Erfahrbarkeit voraus. Dies ist dadurch zu leisten, dass das vom Werk ausgelöste Verhältnis zwischen Wirkendem und Bewirktem durch werkimmanente Beschreibungen einerseits und durch rezeptionsästhetische Analysen andererseits präzisiert wird. Die Beschäftigung mit den verschiedenen zu untersuchenden Kunstwerken hängt jedoch von ihrer Relevanz innerhalb des theoretischen Rahmens der Studie ab: Einige Werke werden entsprechend ihrer wirkungsästhetischen Rolle lediglich kommentiert, andere hingegen gründlich in allen Ebenen ihres Bestehens untersucht. Dadurch wird eine differenzierte Analyse der einzelnen Positionen der Strategie der Aneignung durchgeführt.

Der Wille zur Kunst: Clement Greenbergs Kunstmodell

Über die Vorstellung davon, was als Kunst zu erachten ist und wie diese auszusehen hat, ist im Verlauf ihrer Geschichte kontinuierlich diskutiert worden. Dementsprechend haben sich die Versuche, verbindliche Kriterien zu bestimmen, als eine rekurrierende Praxis erwiesen, die in wechselseitigem Verhältnis zur Kunst deren Wandel entscheidend mitbestimmen kann. So ist die Durchsetzung einer normativen Definition von Kunst die Internalisierung regulativer Prinzipien, an denen sich die Produktion und Rezeption von Kunst innerhalb eines Kunstsystems allmählich ausrichten, bis sie allgemein geltende Grundsätze werden. Da ihr Geltungsbereich räumlich und zeitlich begrenzt ist, wird ihre Normativität beim Aufkommen neuer Paradigmen aufgelöst, wobei ihre ästhetische Wirkung nachhaltig fortdauern kann. In diesem Zusammenhang erweist sich das Kunstmodell des amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg als ein exemplarischer Fall in der Kunstgeschichte: Greenberg, der als der einflussreichste Kunstkritiker des 20. Jahrhunderts gelten darf,1 vermochte in den vierziger und fünfziger Jahren nicht nur die Kunstanschauung im New Yorker Kunstsystem zu prägen, sondern auch ein regulatives, ästhetisches Modell zu etablieren, welches die Produktion und Rezeption von Kunst in der Stadt bis in die sechziger Jahre maßgeblich beeinflusste. Da New York für die kulturelle Entwicklung Amerikas seit den zwanziger Jahren bestimmend war, spielte sein Kunstsystem und somit auch seine Anschauung von Kunst eine führende Rolle im ganzen Land, was zur breiten Akzeptanz der regulativen Prinzipen der Greenbergschen Ästhetik beitrug: Greenbergs Anschauung von Kunst prägte nachhaltig die zeitgenössische Vorstellung davon, was amerikanische Kunst

1

Vgl. Lüdeking, Karlheinz: „Vorwort“, in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 9-27, hier S. 9.

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schlechthin sei.2 Dennoch begann ihre Normativität gegen Ende der fünfziger Jahre allmählich an Gültigkeit zu verlieren, was aber ihre Wirkungsmacht nicht grundsätzlich beeinträchtigen konnte. Hingegen erwies sich die Auseinandersetzung mit seiner Ästhetik als Voraussetzung für die Entstehung neuer Positionen: In der Programmatik von Greenbergs Kunstmodell befinden sich die ästhetischen Parameter, an denen sich das amerikanische Kunstsystem durch Affirmation bzw. Negation ausrichtete.3 Um den Einfluss Greenbergs auf das New Yorker Kunstsystem der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre zu bestimmen, erweist sich eine eingehende Prüfung seiner Ästhetik bzw. der formalen Parameter, die sein ästhetisches Kunstmodell ausmachen, als unabdingbar, da sie die grundlegende Struktur aller Wirkung sind. So wird in diesem Kapitel eine gezielte Untersuchung des kunsttheoretischen Modells Greenbergs durchgeführt, um zu erhellen, worin seine Wirkungsmacht lag, was von entscheidender Bedeutung für die Präzisierung seiner Rezeption ist. Zunächst sind die intellektuellen Voraussetzungen zu erschließen, die im Kontext eines weltanschaulichen Wertesystems zur Bildung des Modells beitrugen. Damit soll seine historische Bedingtheit verdeutlicht werden, um die bestimmenden Faktoren seiner Entwicklung auszumachen. Hiernach ist das Modell im Hinblick auf seine kunsttheoretische Konstitution zu prüfen: Die dem Modell zugrundeliegenden Theorien müssen genau durchleuchtet werden, um ihre Stimmigkeit bzw. ihre Inkompatibilität zueinander innerhalb des Modells selbst aufzudecken; denn von dieser internen Struktur hängt seine theoretische Haltbarkeit ab. Anschließend wird das Modell zusammenfassend dargestellt, um die Brüchigkeit seiner Postulate präzise hervorzuheben: In der Brüchigkeit seiner theoretischen Konstitution liegen die Bedingungen seines historischen Zusammenbruches, aus welchem die Entwicklung neuer Positionen in der Kunst der sechziger Jahre resultierte. Mit der kunsttheoretischen Untersuchung des ästhetischen Modells Greenbergs sind die theoretischen Voraussetzungen für die Analyse seiner Wirkung gestellt, was im Hinblick auf die Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung entsprechend der Fragestellung dieser Studie von herausragender Relevanz ist.4

2

Vgl. Frascina, Francis: „Institutions, Culture, and America’s Cold War Years: the Making of Greenberg’s Modernist Painting“, in: Oxford Art Journal, Vol. 26, Nr. 1, 2003, S. 69-97, hier S. 69.

3

Vgl. Jones 2005, S. xxii-xxv.

4

Dieses Kapitel konzentriert sich auf Greenbergs ästhetisches Modell als solches. Der Einfluss Greenbergs auf die Entwicklung künstlerischer Vorgänge in den fünfziger und sechziger Jahren wird im Hinblick auf die Strategie der Aneignung im Kapitel

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LINKE I NTELLEKTUALITÄT UND DIE

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ÄSTHETIK

1935 fand der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale in Moskau statt. Dieser tagte vor dem historischen Hintergrund einer zunehmenden Verschärfung imperialistischer Widersprüche, die durch den Sieg des Sozialismus in der UdSSR einerseits und durch die Einrichtung faschistischer Diktaturen in Deutschland und Italien andererseits gekennzeichnet war, womit eine wachsende Kriegsgefahr unausweichlich verbunden war. Angesichts dieser bedrohlichen Lage beschloss der Kongress richtungsweisende Strategien für die kommunistischen Parteien zum Zweck der Bekämpfung von Faschismus und Krieg. Im Kern seiner Beschlüsse stand die Errichtung einer Aktionseinheit von Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten, was den kommunistischen Parteien auf einer breiteren Basis ermöglichte, demokratische sowie bürgerliche Kräfte gegen Faschismus und Krieg zu vereinen.5 Die daraus entstandene antifaschistische Volksfront, ein internationales Bündnis linker Parteien mit linksliberalen und bürgerlichen Bewegungen, griff im Rahmen ihrer politischen Zielsetzungen auf die Kultur zurück, um in einem noch breiteren Wirkungskreis agieren zu können. So rekurrierte sie auf einen bürgerlichen Kulturbegriff, der den Wert der Kultur als eine national zu verteidigende Aufgabe auffasste, was intellektuelle sowie kulturgebundene Kreise gemeinsam anzusprechen vermochte.6 Die Folgen vom Zusammenbruch der US-amerikanischen Börse im Oktober 1929 zeigten sich zu gleicher Zeit unerbittlich in der sogenannten Großen Depression, der schweren Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre, welche die politische, soziale und kulturelle Entwicklung der USA zwischen 1929 und 1941 maßgeblich beeinflusste.7 Aufgrund der daraus entstandenen sozialen Probleme8 im Land und angesichts der bedrohlichen Situation der Weltpolitik fanden links-

„Die amerikanische Flagge und die Immanenz der Zwiespältigkeit“ (S. 137-200) fokussiert behandelt. Zu einer breiten Analyse aller konstitutiven Faktoren seiner Internalisierung sowie seiner Wirkung auf die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts siehe die Studie von Caroline Jones aus dem Jahr 2005. 5

Vgl. Foster Z., William: „Der Kampf gegen Faschismus und Krieg 1935-1939“, in: ders., Geschichte der kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten, Berlin 1956, S. 522-543, hier 522-526.

6

Vgl. Guilbaut, Serge: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abs-

7

Zu dem Beginn der Depression, ihrer Entwicklung und Folgen siehe: Sautter, Udo:

8

Siehe ebd., S. 379-385.

trakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden/Basel 1997, S. 39-41. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 2006, S. 379-409.

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orientierte Ideen zunehmend Zustimmung in der Bevölkerung, die in diesen jenseits der politischen Erfahrung und der ideologischen Diskussion einen Ausweg aus der Krise zu erkennen glaubte, was besonders auf Künstlerkreise zutraf.9 Sowohl die kritische Entwicklung des Kapitalismus als auch die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber faschistischer Ungerechtigkeit und Gewalt wurden Auslöser einer vielfältigen Tendenz, welche unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft in einer generellen Weltanschauung zueinander näherte, ohne dass eine ideologisch aufgeladene Doktrin strikt verkörpert wurde.10 Die kommunistische Partei der USA ihrerseits erlebte während der Großen Depression die Zeit ihrer höchsten Popularität,11 die von der Volksfront offenkundig profitierte: Die Volksfront erschien zahlreichen progressiven Intellektuellen als eine Möglichkeit, sich in einer Krisenzeit für Kultur und Gesellschaft zu engagieren.12 Aus diesem Grund verbreiteten sich linksgerichtete Ideen mit allgemeiner Zustimmung unter Intellektuellen und Schriftstellern, die zwar von der Dynamik der kommunistischen Partei angezogen waren, jedoch keinen massiven Anteil der Wählerschaft ausmachten.13 Die linken Tendenzen der Zeit stimmten jedoch nicht in allen Punkten überein. Dementsprechend waren unter mehreren linken Intellektuellen die Aufgaben der Volksfront trotz ihres kulturfördernden Scheines umstritten. Mit der Durchführung der Moskauer Prozesse, vier Gerichtsverhandlungen zwischen 1936 und 1938, in denen die Sowjetunion hohe Partei- und Staatsfunktionäre – ehemalige Mitarbeiter Lenins – wegen angeblicher staatsfeindlicher Aktivitäten anklagte,14 verdeutlichte sich das Unbehagen an den erklärten Zielen der Volksfront und besonders an deren politischer Unterstützung durch die kommunistische Partei der

9

Vgl. Sandler, Irving: Abstrakter Expressionismus. Der Triumph der Amerikanischen Malerei, Herrsching 1974, S. 5-8.

10 Siehe: Aaron, Daniel: Writers on the Left. Episodes in American Literary Communism, New York 1969, S. 287 und Caute, David: The Fellow-Travellers. A Postscript to the Enlightenment, New York 1973, S. 142. 11 Siehe: Grace, Arnold: Zur Geschichte der kommunistischen Partei der USA, Frankfurt am Main 1976, S. 53-68. 12 Vgl. Guilbaut 1997, S. 40-41. 13 Vgl. ebd., S. 41-42, Anm. 7. 14 Siehe: Vatlin, Aleksandr: „Kaderpolitik und Säuberungen in der Komintern“, in: Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953, Paderborn (u.a.) 2001, S. 33-89, hier 70-89.

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UdSSR, was zu einer Spaltung der linken Gruppen in Amerika führte.15 Der 1939 unterzeichnete deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt trieb seinerseits zahlreiche noch nicht entschlossene Intellektuelle in die linke Opposition. Er schürte die bereits vorhandenen Zweifel an der Volksfront und ihrer politischen Legitimität, was das Vertrauen in die kommunistische Partei massiv erschütterte, ohne jedoch ihre Fundamente im Land grundsätzlich zu zerstören.16 Diese Spaltung innerhalb der links Gesinnten in Amerika hatte darüber hinaus einen ideologischen Hintergrund, der sich in der Folge als äußerst bedeutsam herausstellte. Denn es handelte sich bei diesem um zwei unvereinbare Interpretationen des Marxismus, entsprechend von den Figuren Trotzki und Stalin verkörpert: Nach dem Kampf um die ideologische und politische Nachfolge Lenins begann Trotzkis Kritik an den politischen Verhältnissen in der UdSSR unter der Führung Stalins Resonanz zu finden, die mit dem zunehmenden Unbehagen an der Machtpolitik Stalins verstärkt wurde.17 So begann die Politik Stalins im amerikanischen Kontext allmählich zum Inbegriff ideologischen Dogmatismus und Totalitarismus zu werden,18 wobei die kommunistische Partei der USA trotz aller Kritik die stalinistische Politik der UdSSR weiterhin unterstützte.19 Der Bruch innerhalb der links Gesinnten bildete sich deutlich in der New Yorker Künstler- und Intellektuellenszene ab, deren ideologische Orientierung zur Mitte der dreißiger Jahre stark durch marxistisches Gedankengut geprägt war.20 Dieses spiegelte sich am anschaulichsten in Zeitschriften wider, da sie als Meinungsorgane einer bestimmten Klasse oder Gruppe eine ideologische Linie kontinuierlich zu artikulieren vermochten. Zu den zahlreichen linksorientierten Zeitschriften der Zeit21 zählte die Partisan Review, ein politisches, literarisches

15 Siehe: Cooney, Terry A.: The Rise of the New York Intellectuals. Partisan Review and its Circle, Madison 1986, S. 95-119 und Jones 2005, S. 32-33, 374-375. 16 Vgl. Guilbaut 1997, S. 43, 49, 51-52, 61-64. 17 Vgl. Cooney 1986, S. 136-139. 18 Vgl. ebd., S. 137-138, 170-171. 19 Vgl. Guilbaut 1997, S. 43, 61-63. 20 Siehe: Guilbaut 1997, S. 39-70, Jones 2005, S. 32-33, 80 und Sandler 1974, S. 5. 21 In den dreißiger Jahren gab es in New York eine große Zahl von linksorientierten Zeitschriften: American Socialist Quarterly, 1932-1935, American Socialist Monthly, 1935-1937, Challenge, 1938-1939, Champion Labor Monthly, 1937-1938, Champion of Youth, 1936-1937, Class Struggle, 1931-1937, Communist International, 19191940, Daily Worker, 1924-1958 (Chicago and New York), Equal Justice, 1937-1942, Industrial Unionist, 1932-1950, Labor Age, 1921-1933, Labor Defender, 1926-1937 (Chicago and New York), Living Marxism, 1938-1943, Marxist Quarterly, 1937, Na-

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und kulturelles New Yorker Magazin, das zu einer der einflussreichsten Zeitschriften Amerikas werden konnte.22 Die Partisan Review, 1934 von den links Gesinnten Philip Rahv, William Phillips, Edwin Seaver und dem Jungkommunisten Joseph Freeman gegründet, fungierte zu Beginn als literarisches Organ des New Yorker John Reed Clubs.23 Mit der Proklamation der Volksfront 1935 und dem Beginn der Moskauer Prozesse 1936 offenbarte sich die Spaltung innerhalb der Redaktion des Magazins: Während Freeman und Seaver prosowjetisch eingestellt die Volksfront und deren politische Ziele unterstützten, äußerten sich Rahv und Phillips in dieser Hinsicht grundsätzlich skeptisch.24 Die Diskussion entbrannte – zuerst ohne auf die politische Legitimität der Volksfront und der stalinistischen Politik an sich einzugehen –25 an der Auffassung über die Rolle von Kunst und Literatur angesichts des kritischen Sachverhaltes der Zeit. So gründete die prosowjetische Position Freemans und Seavers auf der Überzeugung, dass Kunst und Literatur den antifaschistischen Zielsetzungen der Volksfront dienen sollen.26 Das bedeutet, dass Kunst und Literatur als politisches Instrument der Kultur bestimmten, für wichtig gehaltenen Interessen diensteifrig untergeordnet sein sollten, was notwendigerweise eine spezifische Ästhetik präfiguriert. Rahv und Phillips vertraten hingegen die Auffassung, dass eine solche Unterordnung unter die Bestimmungen einer Ideologie nichts anderes hervorbringen könne, als entäußerte Kunst und Literatur.27 Die Unvereinbarkeit beider

tional Issues, 1939, New Militant, 1934-1936, Partisan Review, 1934-2003, Party Organizer, 1927-1938, Revolutionary Age, 1929-1932, Road to Communism, 1934-1935, Socialist Appeal, 1937-1941, Socialist Review, 1937-1940, Student Advocate, 19361938, Student Review, 1931-1935, The Militant, 1928-1934, Vanguard, 1932-1939, Workers Age, 1932-1940, Young Communist Review, 1936-1940, Young Worker, 1922-1936 (Chicago and New York). Siehe: Conlin, Joseph R.: The American Radical Press 1880-1960, Westport 1974. 22 Siehe: Cooney 1986, S. 3-9. 23 Siehe: Cooney 1986, S. 38-39 und Jones 2005, S. 32-33. 24 Vgl. Jones 2005, S. 33. 25 Diesbezüglich nahm die Partisan Review eine klare Position ein, die in dem 1938 veröffentlichten Artikel „Trials of the Mind“ deutlich zur Sprache gebracht wurde. Dort stellte sich das Magazin auf die Seite der bei den Moskauer Prozessen verfolgten sowjetischen Intellektuellen und bestätigte zugleich das Scheitern des Kommunismus. Siehe: Rahv, Philip: „Trials of the Mind“, in: Partisan Review, Vol. 4, Nr. 5, 1938, S. 3-11. 26 Vgl. Jones 2005, S. 33. 27 Vgl. ebd., S. 33, 375.

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Positionen sowie deren politischer Hintergründe führte 1936 zur Spaltung und anschließend zur Unterbrechung der Publikation des Magazins, das jedoch ein Jahr später unter der Leitung Rahvs und Phillips’ mit einer erklärten antistalinistischen Haltung und gegen die Politik der Volksfront wieder verlegt wurde.28 Von jeglicher Bindung zur kommunistischen Partei befreit, verfolgte die Partisan Review dann eine neue, links-oppositionelle Linie mit hoch intellektuellen, avantgardistischen Ansprüchen.29 Die nunmehr antistalinistische Haltung der Partisan Review stand unter dem Einfluss Trotzkis, der seit 1929 im Exil gegen die Machtpolitik Stalins agierte und als bedeutendstes Symbol antistalinistischer Opposition galt.30 Im Unterschied zur anti-intellektuellen Kulturpolitik Stalins stand Trotzki für einen kulturellen Radikalismus auf marxistischer Basis, wonach eine avantgardistische und intellektuelle Elite in das marxistische, auszubauende System produktiv einzugliedern sei.31 Aus diesem Grund waren mehrere Gruppen Intellektueller von der trotzkistischen Linie angezogen, wie die Gruppe trotzkistischer Intellektueller an der Columbia University, welche 1937 die von allen Parteien unabhängige Zeitschrift Marxist Quarterly gründete und zu deren Mitgliedern herausragende Akademiker und Denker zählten.32 Einer ihrer bedeutendsten Herausgeber war

28 Siehe: Cooney 1986, S. 95-119, Guilbaut 1997, S. 44-45, 51 und Jones 2005, S. 3334, 375. 29 Die neue politische und intellektuelle Linie des Magazins wurde mit seiner ersten Ausgabe nach der Erscheinungspause deutlich postuliert: „Any magazine, we believe, that aspires to a place in the vanguard of literature today, will be revolutionary in tendency; but we are also convinced that any such magazine will be unequivocally independent. Partisan Review is aware of its responsibility to the revolutionary movement in general, but we disclaim obligation to any of its organized political expressions. […] There is already a tendency in America for the more conscious social writers to identify themselves with a single organization, the Communist Party; with the result that they grow automatic in their political responses but increasingly less responsible in an artistic sense. […] Our reappearance on an independent basis signifies our conviction that the totalitarian trend is inherent in that movement and that it can no longer be combated from within.“ Macdonald, Dwight/McCarthy, Mary/Morris, George/ Phillips, William/Rahv, Philip: „Editorial Statement“, in: Partisan Review, Vol. 4, Nr. 1, 1937, S. 3-4, hier S. 3. 30 Vgl. Cooney 1986, S. 126. 31 Siehe: Cooney 1986, S. 126-127, Jones 2005. S. 33-34 und Ranc, Julijana: Trotzki und die Literaten. Literaturkritik eines Außenseiters, Stuttgart 1997, S. 183-185. 32 Vgl. Guilbaut 1997, S. 46.

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der Kunsthistoriker Meyer Schapiro, der sich bereits in der ersten Nummer des Magazins am Beispiel abstrakter Kunst der kontroversen Problematik des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft zuwendete.33 Schapiros Artikel bezog Stellung zu zwei vieldiskutierten Aspekten der damaligen Kunstwelt: Zum einen die Rolle der Kunst gegenüber der Gesellschaft und zum anderen die Abstraktion als eine ausschließlich durch ihr eigenes Regelsystem bestimmte Kunstform. Die Frage nach der Funktion der Kunst innerhalb der Gesellschaft gewann damals aufgrund der Aktivitäten der Volksfront und deren zahlreicher Anhänger zunehmend an Aktualität, was zu einer Polarisierung führte. So wurde 1936 in dem First American Artists’ Congress,34 der sich eindeutig auf der Seite der Volksfront positionierte, für eine gesellschaftlich engagierte Kunst plädiert, was eine volksorientierte Ästhetik implizierte.35 Dieser Anschauung stand die Position des Kunsthistorikers Alfred Hamilton Barr gegenüber, des Gründungsdirektors des Museum of Modern Art in New York. Barr vertrat eine strikt formalistische Kunstauffassung, die er 1936 anlässlich der Ausstellung Cubism and Abstract Art im Ausstellungskatalog deutlich ausführte.36 Dort stellte er im Rahmen einer rein formalistischen Entwicklungsgeschichte das Wesen der modernen Kunst als einen Prozess innerhalb der Kunstgeschichte dar, in welchem jegliche historisch-gesellschaftliche Bedingungen ausgeklammert seien.37 Shapiro setzte sich sowohl mit Barrs formalistischer Kunstvorstellung als auch mit der polarisierenden Auffassung der Volksfront und ihrer Anhänger auseinander, welche die abstrakte Kunst als einen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit, als von der realen Welt und deren gesellschaftlichen Problemen abgesondert, erachteten.38 Diesen Vorstellungen widersprach Schapiro mit einem kunsthistorischen, marxistisch geprägten Gedankengang:

33 Schapiro, Meyer: „The Nature of Abstract Art“, in: Marxist Quarterly, Vol. 1, Nr. 1, 1937, S. 78-97. 34 Der in New York abgehaltene Kongress wurde 1935 von der Volksfront und der kommunistischen Partei einberufen. An der dreitägigen Veranstaltung beteiligten sich 34 Redner und 360 Delegierte. Siehe: Baigell, Matthew/Williams, Julia (Hg.): Artists against War and Fascism. Papers of the First American Artists’ Congress, New York 1936. 35 Siehe: Guilbaut 1997, S. 41-43, und Sandler 1974, S. 8. 36 Barr, Alfred H.: Cubism and Abstract Art (New York, Museum of Modern Art, 02.03.-19.04.1936), New York 1936. 37 Barrs Entwicklungsmodell der modernen Kunst ist aufgrund seiner extrem formalistischen Einseitigkeit stark kritisiert worden. Siehe: Jones 2005, S. 132, Anm. 104. 38 Vgl. Guilbaut 1997, S. 47-48.

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„Weit entfernt von der Schöpfung einer absoluten Form, verleiht jede Art abstrakter wie auch naturalistischer Kunst einem gewissen Faktor, ob nun der Farbe, der Fläche, den Konturen, der Arabeske, oder einer bestimmten formalen Methode eine herausgehobene, aber vorübergehende Bedeutung. [...] Selbst die schematischen Aspekte der Form [in der abstrakten Kunst] besitzen Eigenschaften, die von der Gewohnheit, die Gegenstände zu betrachten und die Darstellung zu konzipieren, abhängig sind [...].“39

Damit wies Schapiro darauf hin, dass die Bildlichkeitsformen in der Kultur per se verankert sind, so dass sie über jegliche scheinbare Abgeschiedenheit hinaus die Welt unausweichlich reflektieren, wonach in der Kunst Bedeutung transportiert wird. Schapiro setzte seine Argumentation stringent fort und behauptete anschließend: „Indem der abstrakte Maler auf natürliche Formen verzichtet oder sie krass verzehrt, gibt er ein Urteil über die Außenwelt ab. [...] Unter diesen Umständen zu sagen, abstrakte Kunst sei lediglich eine Reaktion auf die längst erschöpfte Nachahmung der Natur, oder sie sei die Entdeckung einer absoluten, respektive reinen Form, hieße den positiven Charakter dieser Kunst, die ihr zugrundeliegenden Kräfte und Antriebsenergie übersehen.“40

Da nach Schapiros Schlussfolgerung die abstrakte Kunst, wie jede andere Kunst, mit historischen Bedingungen korreliert, besitzt sie über jegliche kritische Bestimmung hinaus historische Legitimität, weshalb die Künstler keine politisch engagierte Kunst zu produzieren brauchen, um ein kritisches Bewusstsein ihrer Zeit gegenüber auszudrücken. Die links-oppositionelle Argumentation dieses Artikels blieb in intellektuellen Kreisen nicht unbeachtet,41 zumal aufgrund der in diesen Jahren stattgefundenen Neuorientierung der linken Intellektualität, die weder mit der einseitigen Kulturpolitik der Volksfront noch mit deren Forderungen nach einer engagierten, proletarischen Ästhetik übereinstimmen konnte. Mit dieser allmählichen Verselbstständigung der Intellektuellen war zugleich ein starkes Interesse an marxistischer Literatur und Kunsttheorie verbunden, was nicht nur zu einer Reihe von

39 Schapiro, Meyer: „Das Wesen der abstrakten Malerei“ (1937), in: ders., Moderne Kunst – 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1981, S. 209-237, hier S. 223. 40 Ebd., S. 224, 227. 41 Siehe: Schwartz, Delmore: „A Note of the Nature of Art“, in: Marxist Quarterly, Vol. 1, Nr. 2, 1937, S. 305-310.

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Publikationen und Übersetzungen marxistischer Werke führte,42 sondern auch dazu, dass regelmäßig avantgardistische Programme und theoretische Betrachtungen zu Kunst und Kultur in Zeitschriften herausgegeben wurden, so dass eine für die theoretische Diskussion fruchtbare Atmosphäre geschaffen wurde. In diesem Zusammenhang spielte die Partisan Review, ihre antistalinistische Haltung bekräftigend, eine zentrale Rolle.43 So veröffentlichte die Zeitschrift 1937 in der August/September-Ausgabe auf Bitte der Redaktion einen an sie gesendeten Brief Trotzkis, in dem der Autor seine Kunst- und Kulturauffassung umfassend darlegte.44 Diesem unter dem Titel Art and Politics veröffentlichten Brief folgte in der Oktober-Ausgabe der programmatische und radikal antistalinistische Text Toward a Free Revolutionary Art,45 ein aus politischen Gründen von André Breton und Diego Rivera unterzeichnetes Manifest, das Trotzki und Breton gemeinsam verfassten, als Breton im Juli 1938 den in Mexiko lebenden Exilrussen besuchte.46 Der Brief Trotzkis, sieben Monate nach dem Erscheinen von Schapiros Artikel veröffentlicht, trug nicht nur zum Ausbau der intellektuellen Linie der Zeitschrift bei, sondern fügte der theoretischen Diskussion der Zeit auch eine radikale Analyse zu Kunst und Kultur hinzu. Der Kern der Argumentation geht auf Trotzkis 1923 fertig gestelltes Buch Literatur und Revolution zurück, dessen Hauptthesen der Autor 1924 in einer Parteikonferenz in Moskau präsentiert hatte, woraus heftige Angriffe aus den Reihen der Partei resultierten.47 Die stalinistische Abwehr gegenüber Trotzkis Kulturtheorie gründete darauf, dass Trotzki die Möglichkeit einer proletarischen Kultur und Kunst grundsätzlich ablehnte.48

42 Die New Yorker Critics Group veröffentlichte zwischen 1937 und 1938 eine bedeutende Liste marxistischer und radikal sozialistischer Publikationen. Zu diesem Zweck ließ sie ebenfalls ins Englische noch nicht übersetzte Werke übersetzen. Siehe: Jones 2005, S. 80. 43 Siehe: Cooney 1986, S. 120-145. 44 Trotsky, Leon: „Art and Politics“, in: Partisan Review, Vol. 5, Nr. 3, 1938, S. 3-10. 45 Breton, André/Rivera, Diego: „Manifesto: Toward a Free Revolutionary Art“, in: Partisan Review, Vol. 6, Nr. 1, 1938, S. 49-53. 46 Der in den dreißiger Jahren bereits anerkannte mexikanische Maler Diego Rivera, Freund und Gastgeber Trotzkis, unterschrieb an dessen Stelle, wobei er sich an der Produktion des Manifestes nicht beteiligte. Siehe: Guilbaut 1997, S. 54, Anm. 56 und Ranc 1997, S. 190, Anm. 107. 47 Vgl. Ranc 1997, S. 182. 48 Diesbezüglich erklärt der Historiker Isaac Deutscher Folgendes: „Die trotzkistische Konzeption von Kunst geriet bald unter das Feuer der Kritik. Sie beleidigte den halb-

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Diese Auffassung hängt mit seiner auf Marx gestützten Theorie der permanenten Revolution zusammen, nach welcher, sobald die Revolution in Gang gesetzt worden ist, eine neue Kultur zu entstehen begonnen hat, so dass das Proletariat zu einem vorläufigen Moment eines größeren Zusammenhanges wird, dessen kulturelle Entwicklung, durch historische Abfolgen bedingt, die Präsenz einer sich ständig erneuernden, intellektuellen und kulturellen Führung voraussetzt, die ihrerseits für das Erhalten der Kultur sorgt.49 So stellte Trotzki am Anfang seines Briefes an die Partisan Review die provokante These auf: „Every new tendency in art has begun with rebellion.“50 Damit signalisierte er die Notwendigkeit einer kritischen Haltung gegenüber der Tradition als Voraussetzung für das Schaffen von Kunst. Trotzki leitete diese Idee von seinem fortschrittsorientierten Geschichtsbild ab, mit dem er die dialektische Logik des Bruches innerhalb der Kultur untermauerte: „All great movements have begun as splinters of older movements. In the beginning, Christianity was only a splinter of Judaism; Protestantism a splinter of Catholicism, that is to say decayed Christianity. The group of Marx and Engels came into existence as a splinter of the Hegelian Left. The Communist International germinated during the war from the splinters of the Social Democratic International. […] These splinters did not suffer from anemia; on the contrary, they carried within themselves the germs of the great historical movements of tomorrow.“51

Den Leitgedanken seiner Argumentation führte Trotzki weiter in der Auffassung einer ihren eigenen Bestimmungen folgenden Kunst aus, was eine klare Behauptung gegen die Kulturpostulate der kommunistischen Partei und der Volksfront darstellte:

gebildeten Parteimann, gerade weil sie so weit und vielgestaltig war. Sie erboste den Parteibürokarten, dem sie das Recht bestritt, das geistige Leben zu kontrollieren und zu reglementieren. Sie hatte die ultra-revolutionären Sekten gegen sich, deren Ansprüche sie zurückwies. Auf diese Weise kam eine ziemlich ausgedehnte antitrotzkistische Front auf dem Felde der Kultur zustande; und sie wurde von der politischen Front in Gang gehalten, verstärkt und schließlich aufgesaugt.“ Deutscher, Isaac: Trotzki. Der unbewaffnete Prophet, Stuttgart 1962, S. 196. 49 Vgl. Cooney 1986, S. 126-127 und Ranc 1997, S. 183. 50 Trotsky 1938, S. 3. 51 Ebd., S. 9.

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„Art, like science, not only does not seek orders, but by its very essence, cannot tolerate them. Artistic creation has its laws – even when it consciously serves a social movement. Truly intellectual creation is incompatible with lies, hypocrisy and the spirit of conformity. Art can become a strong ally of revolution only in so far as it remains faithful to itself.“52

Trotzkis Brief erwies sich nicht nur als eine Befürwortung für die Autonomie der Kunst, sondern auch als ein konsequenter Versuch, deren eigentliche Aufgabenstellung zu deuten, was die damalige Diskussion über Kunst in New York beträchtlich beeinflusste.

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PROGRAMMATISCHEN

T EXTE

In diesem von politischem Unbehagen und links-oppositioneller Intellektualität geprägten Zusammenhang schloss sich der 1909 in New York geborene junge Intellektuelle Clement Greenberg, der älteste Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie aus Litauen,53 der Redaktion der Partisan Review an. 1939 verfasste er unter dem Titel Avant-Garde and Kitsch seinen ersten kunsttheoretischen Aufsatz, der in der Herbst-Ausgabe herausgegeben wurde.54 Anlass der Veröffentlichung war Grennbergs zunächst als Brief abgefasste Bezugnahme auf den zu Beginn des Jahres im Magazin erschienenen, trotzkistisch gesinnten Artikel Soviet Society and ist Cinema, in dem sich Dwight Macdonald – seit 1937 in der Redaktion der Partisan Review – kritisch mit dem sowjetischen Kino im stalinistischen Russland auseinander setzte.55 Der ebenfalls im marxistischtrotzkistischen Gedankengut stehende Artikel Greenbergs widersprach der Auffassung Macdonalds hinsichtlich der kulturellen Konditionierung der Gesellschaft durch ein politisches Regime als kausale Ursache vom Zerfall avantgardistischer Kunstformen. Damit setzte Greenberg die rege Diskussion über die Rolle des Künstlers und das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft fort, wie es

52 Ebd., S. 10. 53 Zu einer ausführlichen Biographie Greenbergs, seiner jüdischen Herkunft und seiner persönlichen und intellektuellen Entwicklung siehe: Marquis, Alice G.: Art Czar. The Rise and Fall of Clement Greenberg, Boston 2006. 54 Greenberg, Clement: „Avant-Garde and Kitsch“, in: Partisan Review, Vol. 6, Nr. 5, 1939, S. 34-49. 55 Macdonald, Dwight: „Soviet Society and its Cinema“, in: Partisan Review, Vol. 4, Nr. 2, 1939, S. 80-95.

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bereits von Schapiro und Trotzki analysiert worden war. So formulierte Greenberg in Anlehnung an Trotzki, dass die Entwicklung der Avantgarde in dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft und der Krise des Kapitalismus verankert sei, wobei die Avantgarde über das Banausentum der Masse hinaus auf geschichtlichen, kunstimmanenten Entwicklungen beruhe. Nach diesem in Intellektuellenkreisen Aufsehen erregenden und viel gelobten Aufsatz56 veröffentlichte das Magazin in der Sommer-Ausgabe des kommenden Jahres Greenbergs zweiten kunsttheoretischen Beitrag Towards a Newer Laocoon, in dem Greenberg, von dem früheren Aufsatz ausgehend und dessen Postulate zuspitzend, seine ästhetischen Ansichten programmatisch darlegte.57 Diese bedeutenden Artikel, mit denen Greenberg seine einflussreiche Karriere als Kunstkritiker begann, vermochten über die Bedingtheit ihres historischen Momentes hinaus ein kunsttheoretisches, kritisches Denkmodell zu konstruieren, das, auf einer philosophischen Basis beruhend, die Ästhetik einer sich in der Nachkriegszeit formierenden Kunstrichtung in Amerika bestimmte. Ihre zentralen Argumente kamen trotz der ab den vierziger Jahren allmählichen Distanzierung Greenbergs von der marxistischen Ideologie, deren Sprache durch einen positivistischen Argumentationsstil grundlegend ersetzt wurde,58 in Greenbergs nachfolgenden Aufsätzen und Kritiken kontinuierlich vor: So tauchten die im Laokoon-Aufsatz entwickelten Kernargumente zwanzig Jahre später in Greenbergs kanonischem, als Manifest modernistischer Malerei erachtetem Aufsatz Modernist Painting auf,59 der zunächst 1960 als Rundfunkbeitrag für Voice of America in Washington D.C. ausgestrahlt wurde, bevor er ab 1961 in gleicher Form, leicht bearbeitet oder in überarbeiteter Fassung veröffentlicht werden sollte.60 Ebenfalls sind diese Argumente in seinen bedeutendsten Aufsätzen der vier-

56 Vgl. Marquis 2006, S. 57-58. 57 Greenberg, Clement: „Towards a Newer Laocoon“, in: Partisan Review, Vol. 7, Nr. 4, 1940, S. 296-310. 58 Vgl. Jones 2005, S. 117-118, 136. 59 Vgl. ebd., S. 38, 136. 60 Greenberg, Clement: „Modernist Painting“, in: Forum Lectures (Voice of America), Washington D.C., 1960 (als Veröffentlichung eines in Frühjahr 1960 von Voice of America ausgestrahlten Rundfunkbeitrags); wieder in: Arts Yearbook, Nr. 4, 1961, S. 103-108; leicht überarbeitet in: Art and Literature, Vol. 4, 1965, S. 193- 201; franz. „La peinture moderniste“, in: Peinture. Cahier théoretiques, Nr. 8-9, 1974; wieder in: Kostelanetz, Richard (Hg.): Esthetics Contemporary, Buffalo 1978, S. 198-205; überarbeitete Fassung (1965): Harrison, Charles (Hg.): Modern Art and Modernism. A Critical Antology, New York 1982, S. 5-10; wieder in: Greenberg, Collected 4, 1993

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ziger und fünfziger Jahre zu finden, wie in Abstract Art von 1944, The Crisis of the Easel Picture von 1948, Abstract and Representational von 1954, The Case for Abstract Art von 1959.61 Das zugrundeliegende ästhetische Modell, das Greenberg in seinen ersten Aufsätzen entwickelte, blieb also nicht nur in seinen wichtigsten Texten bestehen, sondern es determinierte auch seine maßgeblichen Tätigkeiten als Berater von Künstlern und Galeristen sowie als Kurator zahlreicher Ausstellungen. Dementsprechend bildete dieses ästhetische Modell die Basis von Greenbergs Kunstprogramm, das jedoch in seinem Kern – wie noch zu zeigen sein wird – einen unlösbaren Konflikt zwischen seiner logischen Struktur einerseits und seiner ästhetischen Programmatik andererseits beinhaltet, einen Konflikt, der trotz der konstanten Anstrengungen Greenbergs, seinem Modell argumentative Stringenz zu verleihen, mit den ästhetischen Entwicklungen innerhalb der Kunstwelt immer offensichtlicher wurde: Infolge des zunehmenden Einflusses Marcel Duchamps sowie der Entstehung neuer Kunsttendenzen in den sechziger Jahren sah sich Greenberg genötigt, sein Modell kunsttheoretisch zu verstärken, wobei paradoxerweise seine Beweisführung in deutliche Widersprüchlichkeit und theoretische Inkonsistenz geriet.62 Dies brachte Greenberg dazu, einen großen Teil seiner Aufsätze für Neuveröffentlichungen terminologisch zu korrigieren, Formulierungen zu revidieren und gar ihre Titel vollständig zu ändern, wie er es für seine Textsammlung Art and Culture63 von 1961 tat, in welcher nur wenige Aufsätze unmodifiziert erschienen.64 Bezeichnenderweise wurden die programmatischen Texte Avant-Garde and Kitsch, Towards a Newer Laocoon und Modernist Painting in diesen Sammelband nicht aufgenommen.65 Greenberg führte die Revisionen nicht nur zwecks theoretisch-terminologischer Stimmigkeit durch, sondern auch aufgrund seiner ab den fünfziger Jahren neu auftretenden, politischen Orientierung, die mit seinen früheren Überzeugungen nicht mehr zu vereinen war.66 Nichtsdestotrotz ist die Wirkung des Kunstmodells und der Tätigkeiten Greenbergs als Kritiker und Kurator in der Kunstgeschichte der Moderne gewal-

S. 85-93. Siehe: Lüdeking, Karlheinz (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 278. 61 Vgl. Jones 2005, S. 38. 62 Siehe: Crowther 1985, S. 317-325. 63 Greenberg, Clement: Art and Culture: Critical Essays, Boston 1961. 64 Vgl. Frascina 2003, S. 72 Anm. 7, 77-78. 65 Vgl. Jones 2005, S. 38. 66 Vgl. Frascina 2003, S. 76-77, 92.

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tig, so dass der allgemeine Charakter des sogenannten ‚Modernismus‘ von seinem Werk und seinem Handeln entscheidend mitbestimmt wurde.67 2.1 Der marxistische Topos und der positivistische Schein Die Deutung der Künste unter der Auffassung einer sich vollziehenden Entwicklung, als kontinuierliche Verbesserung erachtet, ist in der eigenen Tradition der Kunstgeschichte tief verankert.68 Nach diesem Fortschrittsgedanken gewinnt die Veränderung in den Künsten insoweit einen positiven Wert, als sie zu erweisen vermag, dass im Zuge der Linearität des Fortschritts eine Neuerung durchgeführt wird, die das Alte als Überholtes erscheinen lässt. So war seit den frühesten Vorläufern der Kunstgeschichte der Fortschrittsgedanke in der bildenden Kunst mit den Normen der Naturnachahmung und den Idealen einer verbesserten Natur verbunden.69 Zum Aufbau dieser Idee trug als erster der Bericht von Plinius dem Älteren über die fortschrittliche Erfindung Polyklets bei, „Statuen auf einem Bein stehen zu lassen.“70 Die normative Zuspitzung des Fortschrittsgedanken in der Kunst ist jedoch eine Leistung der Neuzeit, in der Vasari in Anlehnung an Ghiberti die Vorstellung eines Fortschrittschemas nach einem biologischen Zyklusmodell ausführte, dessen paradigmatische Einteilung die Entwicklung der Kunst im Sinne einer angestrebten Vollkommenheit untermauerte.71 Nach dem enormen Impuls, den im Zeitalter der Aufklärung der als weltgeschichtlicher Prozess erachtete Fortschrittsgedanke bekam, trat an seine Stelle in der deutschen, idealistischen Philosophie eine affirmative Geschichtsphilosophie, deren im Denken Hegels verkörperter Höhepunkt in dessen schlagkräftiger Formel postuliert wurde, „die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen ha-

67 Die enorme Wirkung Greenbergs wurde durch die kontextuellen Bedingungen seiner Zeit befördert, worin konkrete politische Interessen eine wichtige Rolle spielten. Siehe: Frascina 2003, S. 69-97. Sein nachhaltiger Einfluss wurde von seinen Nachfolgern stark ausgedehnt. Caroline Jones spricht daher von dem ‚Greenberg-Effekt‘, dessen mächtiger Wirkstoffgehalt von dem Dogmatismus seiner zahlreichen Anhänger in der Kunstwelt zugespitzt wurde. Siehe: Jones 2005, S. 343-344. 68 Siehe: Prange, Regine: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004, S. 23-28. 69 Vgl. ebd., S. 23. 70 Ebd. 71 Vgl. ebd., S. 24-25.

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ben.“72 Diese wirkungsmächtige, geschichtsphilosophische Auffassung verstand die Durchgangsstufen der geistig konstruierten Entwicklung der Weltgeschichte als dialektische Instanzen, deren konstituierende Widersprüchlichkeit in der Einheit eines weltbeherrschenden Weltgeistes aufgehoben ist, worin die teleologisch gerichteten Stufen zunehmender Einsicht zu erreichen sind.73 Die philosophische, historisch-politische und ökonomische Gesellschaftstheorie Karl Marx’ knüpfte an die dialektische Denkfigur Hegels und dessen damit verbundenen Gedanken ständiger Entwicklung an, wobei Marx im Anschluss an Ludwig Feuerbach Hegels Metaphysik ablehnte, denn nach dieser wird die Wirklichkeit von der Logik des Geistes konstruiert, so dass der Mensch mehr als Selbstbewusstsein in der Geschichte denn als tätiges Gattungswesen in der gegenständlichen Welt begriffen wird.74 Von diesem anthropologischen Befund ausgehend, konzipierte dann die marxistische Geschichtsauffassung die materiellen Voraussetzungen des Menschseins bzw. die tätigen Lebensprozesse der Gesellschaft als den entscheidenden Faktor, der das Bewusstsein der Menschen von sich und von der Welt bestimmt.75 Das bedeutet, jenseits der Vorstellung eines absoluten Weltgeistes ist die objektive Wirklichkeit explizit aus ihrer materiellen Existenz und deren Entwicklung zu erklären. Damit gestaltete der Marxismus die materialistische Ansicht einer dialektischen Geschichte.76 Die erste umfassende Annäherung der Kunsttheorie an Marx fand mit der 1933 in Russland erschienenen Studie von Mikhail Lifshitz statt, der, von den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844 ausgehend – dem ersten programmatischen Werk, in dem Marx entsprechend seiner kritischphilosophischen Gesellschaftstheorie die historisch-materialistische Wendung der Dialektik Hegels vollzog – die marxistische Kunstauffassung in einem konsequenten Korpus darzustellen versuchte, worin unausweichlich die eigenen hermeneutischen Leistungen Lifshitz’ zusammenflossen.77 Die im amerikani-

72 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte (1837), Frankfurt am Main 1970, S. 32. 73 Vgl. Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und östliches Denken, München 2002, S. 290. 74 Vgl. Senge, Angelika: Marxismus als atheistische Weltanschauung. Zum Stellenwert des Atheismus im Gefüge marxistischen Denkens, Paderborn (u.a.) 1983, S. 23-28, 6470. 75 Vgl. Helferich 2002, S. 322. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. Baxandall, Lee: „Lifshitz, Mikhail. The Philosophy of Art of Karl Marx“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 37, Nr. 4, 1979, S. 493-495, hier S. 493.

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schen Kontext rasch erfolgte Rezeption dieses theoretischen Werkes, das für die marxistisch-sozialistische Publikationsreihe der New York Critics Group fünf Jahre nach seiner Veröffentlichung vom Russischen ins Englische übersetzt wurde,78 entsprach dem enormen Interesse der Zeit an marxistischen Theorien, denen der New Yorker Intellektuellenkreis um die Partisan Review verpflichtet war.79 Greenberg, der im marxistischen Gedankengut aufgewachsen und mit den entsprechenden Theorien vertraut war,80 setzte sich konsequenterweise mit Lifshitz’ Buch auseinander, aus dem er seine Abneigung gegenüber einer auf dem Geistigen, Spirituellen oder Transzendenten beruhenden Kunst bestätigt gefunden haben dürfte,81 einer Kunst, die Marx – Lifshitz’ Buch zufolge – im Zuge seiner negativen Einstellung hinsichtlich religiöser, mittelalterlicher und orientalischer Kunst als Ausdruck von Unterdrückung, Unterwerfung oder ausschließenden Interessen unterschätzte.82 In dieser Wertschätzung sei die antike griechische Kunst hingegen Manifestation von Rationalität, reflektiert in den demokratischen Prinzipien ihrer Gesellschaft.83 Diese Deutung impliziert nicht nur die Zurückweisung von allem Metaphysischen, Traumhaften oder Imaginativen in der Kunst,84 sondern auch die Auffassung einer unerbittlichen, wechselseitigen Bedingtheit zwischen Kultur und Gesellschaft, wonach ein jedes Stadium der Kultur von den konkreten Bedingungen der geschichtlichen, äußeren Welt mitbestimmt wird. In der englischen Übersetzung von Lifshitz’ Text heißt es: „Lit-

78 Lifshitz, Mikhail: The Philosophy of Art of Karl Marx, New York 1938. 1973 wurde das Buch mit einer Einleitung von Terry Eagleton in London herausgegeben. 79 Vgl. Cooney 1986, S. 31. 80 Greenbergs Nähe zum marxistischen Gedankengut war nicht nur durch seinen intellektuellen Kreis begünstigt, sondern auch durch konkrete familiäre Umstände. Im Interview mit Caroline Jones erklärte Greenberg zu diesem Aspekt: „But you see, my family was Socialist, and that became our only religion, so it was sort of there all the time. I’d just breathe it in.“ Jones 2005, S. 450, Anm. 81. 81 Obwohl Greenberg die Relevanz von Lifshitz’ Text für die Bildung seiner eigenen Kunsttheorie am Anfang seiner Karriere verringert wissen will, sind die Parallelitäten unverkennbar. Siehe: Jones 2005, S. 80-83. Zu Lifshitz’ Buch erklärte Greenberg Mitte der achtziger Jahre in einem Interview: „I’d read what I could find of Marx on art, just to check up, and he [Lifshitz] had nothing to say, really.“ Ebd., S. 450, Anm. 83. 82 Vgl. Lifshitz (1933) 1973, S. 37. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. Baxandall 1979, S. 493.

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erature and art are conditioned by the entire historical development of society.“85 Diese Anschauung, ein marxistischer Gemeinplatz der dreißiger Jahre, wurde ebenfalls von Schapiro vertreten, der sie als Leitmotiv in der Diskussion gegen Barrs Formalismus in seinem Artikel von 1937 weiter entwickelte.86 Greenberg seinerseits formulierte in seinem Aufsatz von 1939 dem marxistischen Topos entsprechend: „Ein höherentwickeltes historisches Bewusstsein, genauer gesagt, das Aufkommen einer neuen Form von Gesellschaftskritik, [...] hat unserer gegenwärtigen Gesellschaft keine zeitlosen Utopien gegenübergestellt, sondern hat in nüchternen Begriffen der historischen Ursachen und Wirkungen die Voraussetzungen, Begründungen und Funktionen jener Formen erforscht, die in einer jeden Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen. So wurde nachgewiesen, dass unsere gegenwärtige bürgerliche Gesellschaftsordnung keine unveränderliche, ‚natürliche‘ Lebensweise darstellt, sondern nur die jüngste Stufe in einer Abfolge verschiedener Gesellschaftsordnungen. [...] Keine Kultur kann sich ohne eine gesellschaftliche Basis entwickeln [...]. Damit ein Mensch seine Zeit und Energie darauf verwenden konnte, Gedichte zu schreiben oder anzuhören, musste ein anderer genügend produzieren, um sich selbst das Lebensnotwendige und dem ersten seinen Komfort zu verschaffen.“87

Die zugrundeliegende Struktur dieser Argumentation, die in Trotzkis Kulturauffassung ebenfalls deutlich zu erkennen ist, ist ein auf dem Fortschrittgedanken beruhendes, dialektisch-materialistisches Denkmodell mit zwei aufeinander treffenden Koordinaten. Diese sind das kultursoziologische Moment der materiellen Widersprüche innerhalb der Gesellschaft und der sich zeitlich entfaltende und vom ersteren determinierte Verlauf der Geschichte, wobei das generierende Prinzip der Bewegung in beiden Achsen die Dialektik ist: Die Gegenüberstellung eines aus der Logik einer materialistischen Weltanschauung definierten Sachverhaltes mit seiner im historischen Diskurs entgegengesetzten Entsprechung zwecks einer Synthese, die im Sinne einer vermeintlichen Notwendigkeit der Geschichte als höher entwickeltes Moment eines widersprüchlichen Geschichtsvorganges und somit auch als Ausgangspunkt eines neuen Momentes der Geschichtserzählung gilt, ist die Artikulation einer fortschrittlich-teleologischen Dialektik der Geschichte. Nach dieser ist die aus dem Widerspruch gewonnene

85 Lifshitz (1933) 1973, S. 76. 86 Siehe: Schapiro (1937) 1981, S. 209-237. 87 Greenberg, Clement: „Avantgarde und Kitsch“ (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 29-55, hier S. 31, 37, 52.

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Synthese die Ebene der Einsicht und der Entwicklung, aus der heraus die Notwendigkeit der Zukunft determiniert wird. Die objektive Wirklichkeit wird also dialektisch durch die kontinuierliche Wendung von Gegensätzen in den Fortschritt vorangetrieben, dessen Triebwerk just der fortwährende Kampf von aufeinanderbezogenen Widersprüchen ist. Dieser Auffassung entsprechend, formulierte Trotzki 1938 in seinem Partisan Review Aufsatz dialektisch bedingte Postulate wie: „Every new tendency in art has begun with rebellion.“ oder: „All great movements have begun as splinters of older movements.“88 Lifshitz brachte das dialektische Moment der Kunst ebenso deutlich zur Sprache: „Marx understood that the destructive forces of capitalism are at the same time great productive forces […] Hence, paradoxical as this may seem, the decline of art in capitalist society is progressive even from the standpoint of art itself.“89 Greenberg seinerseits war in dieser Hinsicht nicht weniger deutlich als seine beiden Vorgänger: „Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen inmitten des Niedergangs unserer heutigen Gesellschaft, dass wir – einige von uns – nicht gewillt sind, ein solches Endstadium in unserer Kultur zu akzeptieren. In dem Versuch, über den Alexandrianismus [als Stillstand der Kunst verstanden] hinauszukommen, hat ein Teil der westlichen bürgerlichen Gesellschaft etwas nie zuvor Dagewesenes geschaffen: die Avantgarde-Kultur. […] Ebenso wie wissenschaftliche und industrielle tragen auch kulturelle Fortschritte dazu bei, diejenige Gesellschaft zu zersetzen, unter deren Ägide sie möglich wurden.“90

Infolge der allgemeinen Desillusionierung der Nachkriegszeit, die zunehmend zur Distanzierung der New Yorker Intellektuellen von der marxistischkommunistischen Weltanschauung führte, was sich in der Redaktion der Partisan Review deutlich reflektierte,91 entfremdete sich Greenberg allmählich von der politischen Diskussion.92 In seinen Anstrengungen, sich von der marxisti-

88 Trotsky 1938, S. 3, 9. 89 Lifshitz (1933) 1973, S. 98, 101. 90 Greenberg (1939) 1997, S. 31, 55. 91 Vgl. Guilbaut 1997, S. 137-138. 92 Diese Entfremdung deutete sich bereits in Greenbergs ersten Aufsätzen in seiner nicht zu übersehenden, negativen Sicht hinsichtlich der politischen Zustände der Zeit an. Jene Aufsätze weisen also nicht den üblichen, kämpferischen Optimismus der marxistischen Texte auf. Siehe: Jones 2004, S. 42-43, 459-460, Anm. 116. Diese Einstellung entwickelte sich ab den fünfziger Jahren zu einer Neu-Polarisierung, die in die dezi-

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schen Sprache zu befreien, deren Doktrin ab Mitte der vierziger Jahren in breiten Kreisen der Gesellschaft in Amerika massiv in Verruf geriet,93 versuchte er die strukturelle Beständigkeit des dialektisch-materialistischen Denkmodells unter das diskursive System des Positivismus zu transportieren; denn die auf dem positiven Befund basierte Geschichtsauffassung des Positivismus sowie seine vom Fortschrittsgedanken ausgehende Entwicklungsvorstellung schienen mit dem materialistischen Denkmodell des Marxismus in Greenbergs empiristischer Rhetorik nicht gänzlich inkonsistent zu sein.94 So bemühte er sich in seinem Aufsatz von 1960 darum, eine empirisch angelegte Argumentation zu liefern, um die logische Notwendigkeit seines Modells auf positivistischer Basis zu untermauern, woraus eine noch deutlichere Akzentuierung des Fortschrittgedanken resultierte: „Aus der Sicht der Kunst ist ihre Annäherung an die Wissenschaft rein zufällig, und weder die Kunst noch die Wissenschaft gibt oder verspricht der jeweils anderen heute mehr als früher. Ihre Annäherung beweist jedoch, wie weitgehend die modernistische Kunst an derselben spezifischen Tendenz unserer Kultur teilhat wie die moderne Wissenschaft, und dies ist als eine historische Tatsache von höchster Bedeutung. […] Und ich kann nicht genügend betonen, dass der Modernismus nie einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet hat. Vielleicht bedeutet er den Niedergang, die allmähliche Auflösung einer Tradition, doch er bedeutet zugleich auch eine Weiterentwicklung. Die modernistische Kunst führt die Vergangenheit lückenlos und ohne Bruch fort, und egal wohin sie führen mag, man wird sie immer im Hinblick auf ihre Vergangenheit verstehen können.“95

Über die diskursive Notwendigkeit dieser positivistischen Erklärung hinaus ist jedoch Greenbergs konkrete Darstellung der Kunstgeschichte vom Beginn seiner Laufbahn an immer eine dialektisch-materialistische. Im Zuge seiner politischen Distanzierung verzichtete er zwar auf das kultursoziologische Moment des Marxismus, das die materiellen Widersprüche innerhalb der Gesellschaft als den dialektischen Motor der Geschichte auffasste. Er pflegte aber weiterhin das damit verbundene, dialektisch-materialistische Entwicklungsmodell, nach dessen Logik der Gang der Geschichte als ein dialektischer Prozess, von den materiellen Bedingungen seiner fortschrittlichen Entwicklung determiniert, verstanden wird.

diert antikommunistische Haltung Greenbergs mündete. Siehe: Frascina 2003, S. 7677, 92. 93 Siehe: Sautter 2006, S. 459-461. 94 Vgl. Jones 2005. S. 136. 95 Greenberg, Clement: „Modernistische Malerei“ (1960), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 265-278, hier S. 275, 276.

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Da in Greenbergs Kunstphilosophie das Darstellungsobjekt dieses dialektischmaterialistischen Entwicklungsmodells die Kunstgeschichte ist, sah er sich in seinen späteren, entpolitisierten Texten96 nicht genötigt, auf einen konkreten gesellschaftlich-politischen Gehalt einzugehen. Er suchte eine chronologische Entwicklung der Kunstgeschichte zu liefern, nach deren dialektischem, fortschrittlichem Motor die traditionellen Richtungen der europäischen Kunstgeschichte kraft ihrer materiellen, visuell erfahrbaren Konstitution notwendigerweise ein fortwährendes System von aufeinanderbezogenen Behauptungen (These), Gegenbehauptungen (Antithese) und Umsätzen (Synthese) aufbauen. So formulierte er in seinem Aufsatz von 1940: „Die Avantgarde, zugleich das Kind der Romantik und ihre Negation, wird zur Verkörperung des Selbsterhaltungstriebs der Kunst.“97 Zwanzig Jahre später in seinem kanonischen Aufsatz Modernist Painting heißt es: „Als die Impressionisten das Schattieren und Modellieren und alles andere in Frage stellten, was in der Malerei an das Skulpturale erinnerte, geschah dies nicht im Namen der Farbe, sondern im Namen der rein und ausschließlich optischen Erfahrung. Im Namen des Skulpturalen, des Schattierens und Modellierens wiederum wandte sich Cézanne und nach ihm die Kubisten gegen den Impressionismus, so wie David sich gegen Fragonard gewandt hatte. Aber wie die Gegenreaktion von David und Ingres paradoxerweise in einer Malerei kulminierte, die noch weniger skulptural war als die ihrer Vorläufer, so führte die kubistische Gegenrevolution schließlich zu einer Malerei, die flächiger ist als die gesamte westliche Malerei seit Giotto und Cimabue […] Dieser Vorgang ist noch keineswegs beendet, und dass er im Laufe der Zeit immer eingehender geworden ist, erklärt die radikalen Vereinfachungen wie auch die radikalen Komplizierungen, die in der neuesten abstrakten Malerei zu sehen sind.“98

Diese dialektisch-materialistische Darstellung der Kunstgeschichte, die Greenberg seit der Veröffentlichung seiner ersten Aufsätze nur in ihrer spezifischen

96 Eine politisch konnotierte Lektüre der späteren Aufsätze Greenbergs ist möglich. Jedoch ist ihr politischer Gehalt nicht in einer sprachlich politischen Form ausformuliert. Ihre Konnotationen lassen sich durch den kontextuellen Zusammenhang ihrer Entstehung ablesen, ohne jedoch einen expliziten Bezug zu verdeutlichen. Zum politischen Gehalt in den Aufsätzen Greenbergs, insbesondere in Modernist Painting siehe: Frascina 2003, S. 90-97. 97 Greenberg, Clement: „Zu einem neueren Laokoon“ (1940), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 56-81, hier S. 64. 98 Greenberg (1960) 1997, S. 271, 272.

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Ausführung leicht änderte,99 ist in seinem Kunstmodell von größter Bedeutung. Sie ist die paradigmatische Struktur, in deren Basis Greenberg den grundlegenden Entwicklungsfaktor der Kunstgeschichte, dessen logische Notwendigkeit dem Gedankengang nach den Selbsterhaltungstrieb der Kunst ausmacht, verankert sah. Darin ist die materialistische Determination der Kunst begründet, denn entsprechend diesem dialektisch-materialistischen Modell basiert die geschichtliche Entwicklung der Kunst notwendigerweise auf deren materieller Erscheinung, so dass der dialektische Motor der Kunstgeschichte seine Antriebskraft in der veränderbaren Kontingenz des Materiellen findet: Da der dialektische Materialismus von der materiellen Außenwelt als dem unerbittlichen Bezugspunkt aller Prozesse ausging, die ihrerseits nicht nur die historischen Vorgänge aller Entwicklung, sondern auch die erkenntnistheoretischen Instanzen der Erfahrung umfassen, musste er notwendigerweise die Gültigkeit menschlicher Erkenntnis auf verifizierbare Tatsachen beschränken, was Greenberg zu der Ansicht brachte, im materiellen, faktisch verifizierbaren Medium der jeweiligen Künste sei die Notwendigkeit von deren Entwicklung vorhanden.100 Das heißt, das Medium sei

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Greenbergs spezifische Darstellung der Kunstgeschichte wird im Wesentlichen von der diskursiven Stimmigkeit bestimmt, die für die argumentative Kraft jedes seiner Aufsätze benötigt wird: Ungeachtet der Tatsache, dass in seinen früheren Texten kultursoziologische Verbindungen und Assoziationen im marxistischen Sinne deutlich ausgeführt wurden, und trotz der argumentativen Wendungen, nach deren Bedarf in seinen Aufsätzen unterschiedliche Aspekte akzentuiert oder Verbindungen konstruiert wurden, ist das strukturelle Repräsentationsmodell der Kunstgeschichte dasselbe. So ist in seinem Essay von 1940 die Rede von der Avantgarde, ihrer Entwicklung und ihrer Parallelität zu anderen Künsten, während in seinem legendären Aufsatz von 1960 es um den Modernismus und seine weitgehende historische Legitimität geht. Im ersteren ist der erste Avantgarde-Maler Courbet, während im zweiten die erste modernistische Malerei von Manet stammt. Diese Unterschiede vermögen nicht die zugrundeliegende, dialektisch-materialistische Struktur hinter den spezifischen, kunsthistorischen Darstellungen anzutasten. Siehe: Greenberg (1940) 1997, S. 64-67 und Greenberg (1960) 1997, S. 267-271.

100 Das Materialismus-Verständnis Marx’ und Engels’ ging von der Geschichtserkenntnis aus, weshalb sie sich als erbitterte Gegner des sich gleichzeitig entwickelnden, naturwissenschaftlichen Materialismus erwiesen. Trotz der Unvereinbarkeit beider Positionen stimmten sie im Hinblick auf zentrale materialistische Grundannahmen überein, wie etwa im Hinblick auf die Betonung der Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Erkenntnis oder auch im Hinblick auf die programmatische Auffassung einer Befreiung des Menschen von allem Transzendenten. Siehe:

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der unabdingbare Entwicklungsfaktor der Kunst. Dieser Auffassung zufolge verkörpern die kontinuierlichen Transformationen des Mediums im Rahmen der dialektischen Entwicklungsgeschichte den unveräußerlichen Selbsterhaltungstrieb der Kunst, worin Greenbergs Kunstmodell gemäß das Wesen der Kunst bestehen soll. 2.2 Das Laokoon-Paradigma und die Kontingenz des Mediums Die kunsttheoretische Diskussion um die Rangfolge der Künste, die in der neuzeitlichen Kunsttheorie Leonardo da Vinci – in seinem Libro di Pittura explizit für die Malerei Stellung beziehend – wegweisend ausfocht, brachte notwendigerweise die Vorstellung einer unvermeidlichen Emanzipation der Künste voneinander, wobei immer ein Idealmaßstab vorhanden war, aus dessen Normativität jegliche vergleichende Bewertung stattfinden sollte.101 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte Gotthold Ephraim Lessing den Paragone zwischen bildender Kunst und Dichtung in seiner Schrift Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 fort. Für seine Abhandlung nahm Lessing als Beispiel die antike Laokoon-Gruppe, anhand derer er die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Gattungen herausarbeitete, wobei der Vergleichsmaßstab nicht – wie in Leonardos Paragone – die möglichst getreue Mimesis der Natur war, sondern der Epoche der Empfindsamkeit entsprechend die angemessene Abbildung der Empfindungen, also die Darstellung der inneren Natur.102 Die hier entfaltete ästhetische Reflexion vermochte nicht nur eine äußerst komplexe Theorie der Empfindungen, sondern auch eine Typologie der Künste auf der Basis ihrer Gestaltungsmöglichkeiten zu konstruieren, woraus sich eine se-

Wittkau-Horgby, Annette: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S, 16. Greenbergs Modell ging eindeutig von der marxistischen Position aus, nicht von dem naturwissenschaftlichen Materialismus, wie der positivistische Anschein seiner späteren Texte suggerieren mag. Dies lässt sich deutlich daran erkennen, dass Greenbergs Argumentation von der Konstruktion eines dynamischen Geschichtsmodells strukturell abhängig ist. 101 Vgl. Hessler, Christiane: „Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts“, in: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, München 2002, S. 83-97, hier S. 83-86. 102 Vgl. Scheer, Brigitte: „Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung in der bildenden Kunst“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Vol. 46, Nr. 2, 2002, S. 255-269, hier S. 257.

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miotische Anordnung gemäß der spezifischen Gestaltungsmitteln der Kunstgattungen ergab.103 Lessing erklärt hierzu: „Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.“104

Von der traditionellen Zielbestimmung aller Künste ausgehend, nach welcher der Zweck der Künste die Nachahmung des Wirklichen sei, versuchte Lessing anhand des gewählten Beispieles zu veranschaulichen, dass der Funktion der Künste entsprechend das ureigene Wesen der Kunstgattungen, von deren spezifischen Mitteln und Gestaltungsmöglichkeiten bedingt, deren natürliche Grenzen bestimmt, woraus die Eignung bzw. der Vorzug der Künste hinsichtlich der Nachahmungsmöglichkeiten der Wirklichkeit resultiert.105 Insoweit die Ausdrucksmittel der bildenden Kunst „Figuren und Farben im Raum“ und die der Literatur „Töne in der Zeit“ sind, kann die bildende Kunst Handlungen nachahmen, „aber nur andeutungsweise durch Körper“, während die Literatur Körper schildere, „aber nur andeutungsweise durch Handlungen.“106 Das bedeutet, die bildende Kunst vermag einen Augenblick der Handlung durch Gegenstände darzustellen, während die Literatur in ihrer entwicklungsabhängigen Nachahmung nur eine Eigenschaft des Körpers im Rahmen einer Handlung vermittelt. Demnach haben die Kunstgattungen per se ihre ‚eigentlichen Gegenstände‘: Die bildende Kunst habe es mit Körpern und deren sichtbaren Eigenschaften im Raum zu tun, während die Literatur an Handlungen notwendigerweise gebunden ist.107

103 Vgl. Binczek, Natalie: „Das veränderliche Gewebe. Zur Empfindungstheorie in Lessings Laokoon“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Vol. 49, Nr. 2, 2004, S. 219-235, hier S. 219, 227-228. 104 Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ (1766), in: ders., Werke. Kritische Schriften, Bd. 2, Berlin/Darmstadt 1961, S. 271-512, hier S 348. 105 Vgl. Scheer 2002, S. 257. 106 Lessing (1766) 1961, S. 348-349. 107 Vgl. ebd., S. 348.

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Die Folgerung dieser Überlegungen, die sich in der Anerkennung der gattungsspezifischen Möglichkeiten dem Medium gemäß als fortschrittlich erwiesen,108 ist eine dogmatische Lehre mit ihrem eigenen kritischen Urteil. Denn die Kontingenz der vom Medium gegebenen Regeln einer Gattung soll unter der Normativität einer übergreifenden Zweckbestimmung der Künste – der angemessenen Darstellung der Empfindung in Lessings Abhandlung – die ureigenen Grenzen der Gattung an sich determinieren, so dass beim Verstoß gegen die normativen Regeln der Gattung notwendigerweise ein Verstoß gegen die Zweckbestimmung der Künste begangen werde. Solche ästhetischen Verletzungen ergeben sich dem kunsttheoretischen Konstrukt zufolge aus der Vermischung der zu befolgenden Regeln, welche die Normativität der eigentlichen Gegenstandbereiche der Gattungen entsprechend deren Medium bewahren.109 Hierzu formuliert Lessing: „Wenn man sagt, der Künstler ahme dem Dichter, oder der Dichter ahme dem Künstler nach, so kann dieses zweierlei bedeuten. Entweder der eine macht das Werk des andern zu dem wirklichen Gegenstande seiner Nachahmung, oder sie haben beide einerlei Gegenstände der Nachahmung, und der eine entlehnet von dem anderen die Art und Weise es nachzuahmen.“110 Das kritische Urteil fügte Lessing unmittelbar hinzu: „Bei der ersten Nachahmung ist der Dichter Original, bei der andern ist er ein Kopist. Jene ist ein Teil der allgemeinen Nachahmung, welche das Wesen seiner Kunst ausmacht, und er arbeitet als Genie, sein Vorwurf mag ein Werk anderer Künste, oder der Natur sein. Diese hingegen setzt ihn gänzlich von seiner Würde herab; anstatt der Dinge selbst ahmet er ihre Nachahmung nach, und gibt uns kalte Erinnerungen von Zügen eines fremden Genies, für ursprüngliche Züge seines eigenen.“111

Die Schlagkraft dieses Gedankens brachte Lessing gegen Ende seiner Abhandlung mit einer prägnanten Formulierung zur Sprache, in der er sich auf die natürliche Bestimmung der Dinge als unwiderlegbare Legitimation beruft: „Ich behaupte, daß nur das die Bestimmung einer Kunst sein kann, wozu sie einzig und allein geschickt ist, und nicht das, was andere Künste ebenso gut, wo sie nicht besser leisten können, als sie. […] Wer mit dem Schlüssel Holz spellen und mit der Axt die Türen öff-

108 Vgl. Scheer 2002, S. 257. 109 Siehe: Binczek 2004, S. 229-232 und Scheer 2002, S. 257-259. 110 Lessing (1766) 1961, S. 313. 111 Ebd., S. 314.

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nen will, verdirbt nicht sowohl beide Werkzeuge, als daß er sich selbst des Nutzens beider Werkzeuge beraubt.“112

Die ästhetische Reflexion in Lessings Laokoon-Aufsatz ist nicht nur für die Semiotik und die Rezeptionsästhetik, sondern auch für die kunst- und literaturtheoretische Diskursbildung von Bedeutung,113 wobei sie in der bedingten Kontingenz vorkritischer Erkenntnis unumgänglich verankert ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand im US-amerikanischen Kontext eine explizite Rezeption der Laokoon-Überlegungen Lessings statt. Bei dieser ist jedoch von der Aufnahme zentraler Gedanken der Abhandlung in ein unabhängiges Denkmodell zu sprechen, ohne dass es zu einer strukturellen Übernahme der Gesamtreflexion kam. Denn alle semiotischen und rezeptionsästhetischen Implikationen der Analyse Lessings wurden hier nicht aufgenommen. So schrieb 1910 der Harvard Professor und Literaturkritiker Irving Babbitt das Buch The New Laokoon: An Essay on the Confusion of the Arts,114 in dem er, auf Lessings Abhandlung programmatisch rekurrierend, seine eigenen literarisch-philosophischen Überlegungen entwickelte, welche in die literarisch-philosophische Richtung New Humanism, eine dogmatisch-konservative Doktrin mit ethischen Ansprüchen, strömten.115 Diese Richtung zeichnete sich durch ein konservatives Denken aus, das in der Überzeugung, sich für klassische Maßstäbe von Geschmack gegen die angebliche Dekadenz der Literatur einzusetzen, ein zugespitztes Unbehagen an der Vorstellung von Einfluss und Vermischung der Künste zeigte.116 Dementsprechend verfocht Babbitt in seinem Laokoon-Buch die polemische Auffassung einer

112 Ebd., S. 509. 113 Siehe: Bayer, Udo: „Laokoon. Momente einer semiotischen Ästhetik“, in: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 56-101, Gebauer, Gunter: „Symbolstruktur und die Grenzen der Kunst. Zu Lessings Kritik der Darstellungsfähigkeiten künstlerischer Symbole“, in: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 137-165 und Hess-Lüttich, Ernest: „Medium, Prozess, Illusion. Zur rationalen Rekonstruktion der Zeichenlehre Lessings im Laokoon“, in: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 103-136. 114 Babbitt, Irving: The New Laokoon. An Essay on the Confusion of the Arts, Boston/New York 1910. 115 Zu den Theorien des New Humanism und zur maßgebenden Rolle Babbits in dessen Entwicklung siehe: Lüking, Bernd: Geschichte und Theorie des amerikanischen New Humanism, Münster 1973 (Diss. Phil. Münster 1973). 116 Vgl. ebd., S. 215-218.

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maßgeblich von der französischen Romantik verbreiteten Verwirrung und Vermischung der Künste: „It is rare to read through a critical treatise on either art or literature, written between the middle of the sixteenth and the middle of the eighteenth century, without finding an approving mention of the Horatian simile ‚as is painting, so is poetry‘ (ut pictura poesis); or, if the mention is not of Horace, then it is of the equivalent saying of Simonides that ‚painting is mute poetry, and poetry a speaking picture‘. […] Luther protested against a Catholic Church that had colored the plain truth of Scripture with its own special tradition, perverted it with casuistry, overlaid it with false rites and ceremonies; even so Lessing protested against the critical creed the foundation of which were laid in sixteenth-century Italy, but which had been actually elaborated and imposed upon the world by the French, so as to become a sort of Catholic Church of literature, an orthodoxy which seemed to Lessing to have colored sound classical doctrine with its own special tradition, distorted it with casuistical interpretations, and turned the true spirit of the law into mere artificial rules and conventions. “117

Greenbergs Auseinandersetzung mit der Laokoon-Schrift von 1910 ist in seinem Aufsatz von 1940 nicht nur an der Tatsache zu erkennen, dass der Text Babbitts im Titel Towards a Newer Laocoon deutlich paraphrasiert und in einer Fußnote öffentlich bekannt gemacht wird, sondern auch an dem Argumentationsmodell hinter Greenbergs Essay, das unverkennbar auf Babbitts Schrift zurückgeht, wobei weder die inhaltlichen Besonderheiten von dessen Denken noch die spezifischen Beweggründe der Argumentation übernommen wurden.118 Demnach handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung um die Aktualisierung einer diskursiven Konstruktion, deren logische Struktur unabhängig von der beliebigen Singularität des zu transportierenden Inhaltes im Rahmen eines vorab gegebenen Diskussionsbereiches funktionsfähig ist. Analog dazu verhält sich die Aneignung der Laokoon-Reflexion Lessings durch Babbitt, der in Lessings Abhandlung das regulative Prinzip bzw. den Entwicklungsfaktor seiner kritischen Argumentation fand. Greenberg, der sich in seinem Laokoon-Aufsatz ebenfalls explizit auf Lessing berief, näherte sich jedoch eher der kritischen Argumentation Babbits als der Lessings: Die Elemente, welche die kritische Darstellung Babbitts ausmachen, wie die Auffassung über eine zunehmende Betonung gattungsübergreifender Instanzen in der europäischen Kunst während deren Entwicklung im 19.

117 Babbitt 1910, S. 3, 37. 118 Vgl. Jones 2005, S. 57.

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Jahrhundert,119 wurde im Essay Greenbergs übernommen, sowie auch Babbitts Vorstellung, nach welcher die Einführung fremder Elemente in eine Gattung unverkennbarer Ausdruck von Dekadenz sei.120 Über Greenbergs Entlehnungen aus der spezifischen Ausführung Babbitts hinaus sind die Zielsetzungen beider Autoren unterschiedlich: Während Babbitt sich für die ethischen Werte einer nicht verunreinigten Literatur nach klassischen Maßstäben einsetzte, versuchte Greenberg die historische Notwendigkeit einer stringenten Kunstform der Moderne zu formulieren. Das regulative Prinzip beider Laokoon-Texte ist jedoch dasselbe: die von Lessing durchgeführte Beseitigung des ut pictura poesis Prinzips des Horaz bzw. Lessings Lehre des mediumspezifischen ästhetischen Ganzen. Die Stützung auf das gattungsintrinsische Spezifikum als die zwingende Instanz aller Künste ist bereits in Greenbergs erstem Aufsatz zu erkennen. Dort ist das Bewusstsein der Avantgarde für das Medium die jüngste erreichte Entwicklung der Künste auf der Suche nach ihrem Wesen.121 Doch die mediumbezogene Argumentation, die zum Kern des Kunstmodells Greenbergs werden sollte, nahm eindeutige Gestalt in Greenbergs Laokoon-Aufsatz. Hier behauptet Greenberg mit programmatischer Deutlichkeit: „Die Künste befinden sich nur gesichert innerhalb ihrer jeweiligen legitimen Grenzen […]. Dank ihres Mediums ist jede Kunst einzigartig und ganz und gar sie selbst. Um die Identität einer Kunst wiederherzustellen, muss die Opazität ihres Mediums betont werden.“122 Diese Fixierung auf das Medium als die unabdingbare Konstante der Kunst setzte eine konkrete Kunstform, die der angestrebten Betonung des Mediums nach den spezifischen Bestimmungen der Gattung zu entsprechen vermag, notwendigerweise voraus, wie dies in Babbitts Argumentation auch der Fall war.123 Greenberg fand diese Kunstform im Gegensatz zu Babbitt in der Gegenwart, deren abstrakte Kunst die Notwendigkeit einer mediumbezogenen Ästhetik zu erfüllen schien. In diesem Zusammenhang erwies sich Schapiros Artikel von 1937 als wegweisend, denn er deutete im Hinblick auf die ideologischen Interessen der Zeit auf die Unveräußerlichkeit der Bedeutung abstrakter Kunst in der Form hin, womit die historische Legitimität dieser Kunstrichtung signalisiert wurde.124 So formulierte Greenberg in Anlehnung an Schapiro aber mit der manifestartigen Radikalität seines mediumbezogenen Programms:

119 Siehe: Babbitt 1910, S. 217-219. 120 Vgl. ebd., S. 220-223. 121 Siehe: Greenberg (1939) 1997, S. 33-36. 122 Greenberg (1940) 1997, S. 71, 72. 123 Siehe: Babbitt 1910, S. 249-253. 124 Siehe: Schapiro (1937) 1881, S. 209-237.

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„Es lässt sich leicht nachweisen, dass die abstrakte Kunst ebenso wie jedes andere Kulturphänomen die gesellschaftlichen und sonstigen Umstände der Zeit widerspiegelt, in der ihre Erschaffer leben, und dass kein von der Geschichte unabhängiges Wesensmerkmal die Kunst dazu zwingt, diese oder jene Richtung einzuschlagen. Doch es ist schwieriger, die Behauptung des Puristen zu widerlegen, dass die beste bildende Kunst heute abstrakt ist.“125

Die mediumbezogene Argumentation Greenbergs geht in deutlicher Anlehnung an Babbitt von der Vorstellung aus, dass die Kunst der letzten Jahrhunderte eine verheerende Vermischung der spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten der traditionellen Kunstgattungen erfuhr, was unausweichlich zu ihrem Niedergang, dessen absoluter Tiefpunkt die französische Kunst des 19. Jahrhunderts sei, führte.126 Lessing charakterisierte die Vermischung der Künste mit der Erklärung über die Nachahmung, die seiner Ansicht nach im Wesen der Malerei und Dichtung liege, wobei sie notwendigerweise auf verschiedenen Mitteln beruht: „Poesie und Malerei, beide sind nachahmende Künste […]. Sie haben folglich alle die Regeln gemein, die aus dem Begriffe der Nachahmung […] entspringen. Allein sie bedienen sich ganz verschiedener Mitteln zu ihrer Nachahmung; und aus der Verschiedenheit dieser Mittel müssen die besondern Regeln für eine jede hergeleitet werden.“127 Wenn aber diese Regeln nicht eingehalten werden und der Künstler oder Dichter die ‚Art und Weise‘ der Nachahmung der jeweils anderen Kunst entlehnt, bringt er als Werk lediglich „kalte Erinnerung von Zügen eines fremden Geistes.“128 Dies wird von Babbit „the confusion of the arts“ genannt und unter dem Begriff „the doctrine of imitation“ bezeichnet,129 was Greenberg seinerseits in der Phrase „die Vermischung der Künste“ umsetzte.130 Da sowohl in Lessings als auch in Babbitts Darstellung die Literatur im Vordergrund von deren jeweiliger Analyse steht, so dass die erzählliterarischen Werte als Referenzpunkt der analytischen Ausführungen deutlicher dargestellt wurden als die explizit plastischen, entwickelte Greenberg seinen Aufsatz auf der Vorstellung basierend, dass in den letzten Jahrhunderten die Literatur der Maßstab der anderen Künste war, weshalb ihre erzählerischen Elemente die bestimmende Rolle in dem Verfall der Künste spielten:

125 Greenberg (1940) 1997, S. 56-57. Siehe dazu: Schapiro (1937) 1981, S. 223-224. 126 Vgl. Greenberg (1940) 1997, S. 63. 127 Lessing (1766) 1961, S. 429. 128 Ebd., S. 313-314. 129 Babbitt 1910, S. 62. 130 Greenberg (1940) 1997, S. 57.

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„Wenn nur eine der Künste die dominierende Rolle einnimmt, wird sie zum Prototyp der Kunst schlechthin: Die anderen Künste bemühen sich dann, sich ihrer charakteristischen Eigenschaften zu entledigen und die Effekte jener einen zu imitieren. Die dominierende Kunst ihrerseits versucht, sich die Funktionen der anderen Künste einzuverleiben. So kommt es zu einer Vermischung der Künste, durch welche die untergeordneten Künste verfälscht und entstellt werden; sie sind gezwungen, ihr eigenes Wesen zu verleugnen, um den Effekten der dominierenden Kunst nachzustreben. […] Nicht nur konnte die Malerei die Skulptur imitieren und umgekehrt die Skulptur die Effekte der Malerei, sondern beide waren in der Lage, die Effekte der Literatur nachzubilden. Und literarische Effekte waren, wonach die Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem strebte.“131

Von der Annahme ausgehend, dass der Zerfall der Künste in der Vermischung der spezifischen Gestaltungsmitteln der traditionellen Gattungen liege, deren stärkster Vertreter über Jahre hinweg die Literatur war, und im Hinblick auf die Überzeugung, dass die beste bildende Kunst der Gegenwart abstrakt sei, gelang es Greenberg im Rahmen seines dialektisch-materialistischen Geschichtsmodells, eine mediumbezogene Entwicklungsstruktur zu konstruieren, nach welcher der allmähliche Verzicht der Künste auf die erzählerischen Instanzen der Repräsentation notwendigerweise zur Findung ihres eigentlichen Wesens, das in der Kontingenz ihres materiellen Vorkommens unausweichlich vorhanden ist, führen sollte. Greenberg wendete diese fortschrittsorientierte Entwicklungslogik als die normative Instanz der Künste auf der Suche nach ihrem ureigenen Wesens an, womit er in die von Lessing begonnene und von Babbitt fortgesetzte Laokoon-Diskussion eine Entwicklungsdimension einführte. So erklärte er in seinem Laokoon-Aufsatz: „Betont man das Medium und seine Schwierigkeiten, dann rücken die eigentlichen, die rein bildnerischen Werte der bildenden Kunst sofort in den Vordergrund. Unterwirft man das Medium soweit, dass keine Spur seiner Widerständigkeit mehr wahrnehmbar ist, dann werden die außerkünstlerischen Verwendungen der Kunst wichtiger. Die Geschichte der Avantgarde-Malerei ist die Geschichte ihrer schrittweisen Anerkennung der Widerständigkeit ihres Mediums, welche hauptsächlich darin besteht, dass die plane Bildfläche den Versuchen widersteht, sie zu einem realistischen perspektivischen Raum hin zu ‚durchstoßen‘. Damit befreite sich die Malerei nicht nur von der Nachahmung – und zugleich von der ‚Literatur‘ –, sondern auch von der sich aus der realistischen Nachahmung ergebenden Vermischung von Malerei und Skulptur.“132

131 Ebd., S. 58, 59. 132 Ebd., S. 75.

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Dieses mediumbezogene Entwicklungsmodell, das an sich die zugrundeliegende Struktur des Kunstprogramms Greenbergs ist, lässt sich deutlich in seinen späteren Aufsätzen wiedererkennen, in denen er die aus Lessing und Babbitt gewonnene Betonung des Erzählliterarischen als gattungsbestimmende Bedingung – wie er es im Laokoon-Aufsatz ausführte – nicht gleichermaßen darstellte, sondern in Bezug auf die Darstellung illusionistischer Dreidimensionalität transportierte. Das Modell an sich ist im Kern unberührt geblieben, denn die zugeschriebene Funktion des Literarischen in Greenbergs Laokoon-Schrift war just die Erfindung einer im Raum vorkommenden Situation, die als solche bildlich darstellbar ist.133 In den späteren Aufsätzen Greenbergs wurde der mit der Literatur assoziierte Handlungsraum von seinen erzählerischen bzw. inhaltlichen Werten abgesondert, so dass in diesen lediglich die spezifische Funktion des Raumes, dessen Dreidimensionalität unabhängig von einem handlungsbedingten Gehalt bildlich darstellbar ist, thematisiert wurde, wobei Greenberg die Dreidimensionalität und ihre ästhetische Abbildung als eine spezifische Eigenschaft der Skulptur erachtete. Das bedeutet, dass der Handlungsraum des Literarischen – wie im Aufsatz von 1940 dargestellt – bzw. die Dreidimensionalität des Bildhauerischen – wie im kanonischen Aufsatz von 1960 ausgeführt – nicht nur spezifische Möglichkeiten der Literatur und der Skulptur, sondern auch eine Eigenschaft der sich im Raum manifestierenden Welt sind, deren Nachahmung außerhalb der mediumspezifischen Grenzen der Kunst gemäß deren fortschrittsorientierter Entwicklung liegt. Aus diesem Grund habe sich die Malerei von der Repräsentation entfremdet. So ist in Greenbergs Aufsatz von 1960 zu lesen: „Die realistische oder naturalistische Kunst pflegte das Medium zu verleugnen, ihr Ziel war es, die Kunst mittels der Kunst zu verbergen; der Modernismus wollte mittels der Kunst auf die Kunst aufmerksam machen. […] die Dreidimensionalität ist das Territorium der Skulptur. Um ihre Autonomie zu gewinnen, musste sich die Malerei vordringlich all dessen entledigen, was sie mit der Skulptur gemeinsam hat […]. Zugleich zeigt die modernistische Malerei jedoch gerade in ihrem Widerstand gegen das Skulpturale, wie sehr sie, allem Anschein zum Trotz, an der Tradition festhält. Denn der Widerstand gegen das Skulpturale ist weitaus älter als der Modernismus. Die westliche naturalistische Malerei verdankt vieles der Skulptur, von der sie anfangs lernte, durch Schattierungen und Modellierungen eine Illusion des Plastischen zu erzeugen […]. So trafen sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts alle ambitionierten Tendenzen der Malerei, trotz all ihrer Unterschiede, in einer anti-skulpturalen Richtung.“134

133 Vgl. Greenberg (1940) 1997, S. 59, 65. 134 Greenberg (1960) 1997, S. 267, 270, 271.

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Da die mediumbezogene Argumentation Greenbergs die normative Bestimmung der Gattungen in einem fortschrittsorientierten Entwicklungsschema programmatisch auffasst – im Gegensatz zu Lessings transhistorischer Abhandlung und zu Babbitts kritischem Modell, welches diese normative Bestimmung an den klassischen Maßstäben der Antike findet –, wird in Greenbergs Modell die Kontingenz der Gattungen im Rahmen der fortschreitenden Manifestation des Mediums definiert. Diese Auffassung beinhaltet zwei begriffliche Achsen, deren entsprechende Implikationen die theoretische Zusammensetzung des Kunstmodells Greenbergs bestimmen: Seine Argumentation als strikt mediumbezogenes Modell führt notwendigerweise zur Betonung bestimmter Gattungseigenschaften nach der a priori bedingten Annahme, sie würden der ureigenen Bestimmung ihrer jeweiligen Gattung entsprechen, so dass jene Eigenschaften, die der Deutung nach zu den spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten anderer Gattungen gehören, aus den als konstitutiv zu erachtenden Merkmalen der zu bestimmenden Gattung ausgeschlossen werden sollen. Greenberg erklärt dies als die selbstreflexive Aufgabe, „aus den spezifischen Effekten einer Kunst all jenes herauszufiltern, was eventuell auch von dem Medium einer anderen Kunst – oder an das Medium einer anderen Kunst – entliehen werden könnte.“135 Zugleich bringt die fortschrittlich-progressive Komponente des Modells die Auffassung mit sich, dass die Definition der Gattungen auf der Basis einer kontinuierlichen Selbstkritik progressiv zu bestimmen ist: „‚Reinheit‘ bedeutet Selbstdefinition, und das Unternehmen der Selbstkritik wurde in den Künsten zu einer rigorosen Selbstdefinition.“136 Dies hat zur Folge, dass die Notwendigkeit der historisch etablierten Gestaltungsmöglichkeiten einer Gattung stets überprüft werden soll, bis ihre Unerlässlichkeit als Gattungseigenschaft entweder bestätigt oder endgültig aberkannt wird. Demnach sei die Kunst, auf der Suche nach ihrer absoluten Essenz, fortwährend einer gründlichen Revision ihrer Mittel und Gestaltungsmöglichkeiten unterzogen.137 Das bedeutet, jede Gattung solle sich all dessen entledigen, was zu ihrem ureigenen Wesen nicht gehört. Da dies im Rahmen eines fortschrittsorientierten Entwicklungsmodells stattfindet, ereignet sich im Kern der Kunst selbst eine progressive Reinigung von all dem, was zum Kern ihrer Essenz nicht zwingend gehören muss. Infolge dieser Gesamtlogik ergeben sich konkrete Prädikate für die Kunstgeschichte: Während sich die Repräsentation als ein nicht wesentliches Moment in der Entwicklung der Kunst erwiesen habe, weshalb die

135 Ebd., S. 267. 136 Ebd. 137 Vgl. ebd., S. 272.

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abstrakte Kunst aufkam,138 habe sich die Flächigkeit als die unabdingbare Bedingung der Malerei schlechthin behauptet. Hierzu erklärt Greenberg: „Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen.“139 Kraft seiner materialistischen Determination unterscheidet dieses progressive Entschlackungsmodell dennoch nicht zwischen den inneren Gestaltungsmöglichkeiten einer Gattung und deren Trägermedium, so dass die spezifische Konfiguration einer ästhetischen Form mit deren Materialität implizit gleichgesetzt wird.140 Da die angestrebte Essenz der Kunst in der materiellen Kontingenz des Mediums, das heißt also der Form, zu finden ist, darf die Notwendigkeit der Materialität selbst im Zuge der progressiven, kritischen Selbstüberprüfung der Kunst letzten Endes auch hinterfragt werden, was für die programmatische Suche nach dem Wesen der Kunst bedeutende Konsequenzen hat. 2.3 Die Suche nach dem Wesen der Kunst Das mediumbezogene Entwicklungsmodell Greenbergs impliziert, dass sich die Kunst in einem sich in der Geschichte entfaltenden Prozess auf der Suche nach ihrer immanenten Essenz befindet, die jedoch aufgrund der geschichtlichen Determination ihrer in Gang gesetzten Entwicklung keine unmodifizierbare Manifestation aufzuweisen vermag, denn eine unwandelbare Erscheinung ihres Selbst würde just den Prozess der Entwicklung verhindern. Das bedeutet, dass die Kunst, im geschichtlichen Prozess der Erkundung ihrer eigenen Grenzen und Möglichkeiten nach den Bestimmungen ihres formell zwingenden Mediums, die Unentbehrlichkeit ihrer Gestaltungsprinzipien kontinuierlich prüft, um alles Unnötige aus sich selbst auszuschließen. Da dieses Verfahren geschichtlich verankert ist, stellt jede Manifestation der Kunst per se eine Norm mit begrenzter Geltung dar, deren immanente Partikularität zwangsläufig zu hinterfragen ist, was sich als Prozess ununterbrochen in die fortschrittliche Konstante einer teleolo-

138 Vgl. ebd., S. 270. 139 Ebd., S. 268. 140 Aus diesem Grund spricht die Kunsthistorikerin Juliane Rebentisch hinsichtlich Greenbergs ‚Flächigkeit‘ Begriff von einer „ans Absurde grenzende[n] theoretische[n] Einengung der praktisch natürlich nach wie vor gegebenen Möglichkeiten der Malerei.“ Rebentisch, Juliane: „Medium und Form. Clement Greenberg, Niklas Luhmann“, in: dies., Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003, S. 82-101, hier S. 86.

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gisch determinierten Zukunft ausdehnt. Dies ist dadurch bedingt, dass die normative Bestimmung der Kunst keiner zwingenden Definition untergeordnet ist, sondern sich selbst fortwährend entsprechend der Singularität ihrer eigenen Entwicklung neu definiert, wobei das einzig Invariable über die temporal als gültig zu erachtende Kontingenz des Mediums hinaus die mediumbezogene Selbsthinterfragung der Kunst ist. In seinem Laokoon-Aufsatz formulierte Greenberg diese Idee im Hinblick auf die Gestaltungsnormen der abstrakten Kunst, hinsichtlich derer er behauptet: „Ich halte sie nur für diejenige mit der derzeit höchsten Geltung. Ich bezweifle nicht, dass sie in Zukunft durch andere Normen ersetzt werden, die vielleicht umfassender sein werden, als jetzt es möglich ist. […] Es genügt, zu sagen, dass nichts im Wesen der abstrakten Kunst sie zwingt, so zu sein, wie sie ist. Der Imperativ kommt aus der Geschichte, von unserem Zeitalter in Verbindung mit einem bestimmten Moment, welcher in einer bestimmten Tradition der Kunst erreicht worden ist.“141

Zwanzig Jahre später bestand Greenberg weiter auf dieser Auffassung. So behauptete er in Bezug auf die fortwährende Selbsthinterfragung der Kunst folgendes: „Dieser Vorgang ist noch keineswegs beendet, und dass er im Laufe der Zeit immer eingehender geworden ist, erklärt die radikalen Vereinfachungen wie auch die radikalen Komplizierungen, die in der neuesten abstrakten Malerei zu sehen sind.“142 Die logischen Konsequenzen dieses mediumbezogenen Entwicklungsmodells lassen sich deutlich verfolgen: Insoweit die Kunst ihre Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen ununterbrochen hinterfragen muss, ohne dass es in diesem Prozess eine normative Definition dessen, was ihre mediumbedingte Immanenz ausmacht, geben kann, muss die Kunst konsequenterweise im Laufe ihrer Entwicklung ihre materielle Beschaffenheit selbst hinterfragen, was zwangsläufig mit sich bringt, dass die Notwendigkeit der Kunst als ein mediumbedingtes Vorkommen an sich in Frage gestellt werden kann. Dies geht weit über die Grenzen dessen hinaus, was die programmatischen Absichten Greenbergs suchten. Denn dieses Modell impliziert an sich die Immaterialität der Kunst, die offenkundig der absolute Antipode der materialistischen Ästhetik Greenbergs ist. Dieser Konflikt zwischen logischer Konsequenz einerseits und ästhetischer Programmatik andererseits lässt sich klar am Beispiel der Formbedingung der Flächigkeit beobachten, die Greenberg als die unabdingbare Voraussetzung der Ma-

141 Greenberg (1940) 1997, S. 80. 142 Greenberg (1960) 1997, S. 272.

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lerei verstanden wissen wollte.143 Die verabsolutierende Behauptung, die plane Oberfläche des Bildträgers sei das ‚unvermeidliche‘ Mittel, das den Grenzbereich der Malerei zu bezeichnen vermag, setzt nicht nur eine ästhetische Bestimmung voraus, sondern steht auch der Logik eines freien kritischen Hinterfragens gegenüber. Sie grenzt die Entfaltungsmöglichkeiten der Malerei ein und signalisiert deren zu akzentuierenden Bereich, innerhalb dessen eine ästhetische Konfiguration suggeriert wird, welche die optischen Qualitäten einer malerisch differenzierten Oberfläche favorisiert. Indessen führt die logische Struktur des mediumbezogenen Entwicklungsmodells, nach welchem die Abbildhaftigkeit und ihr ikonographisches Moment hinterfragt werden mussten, damit die Entwicklung der Kunst fortgesetzt werden konnte, zur konsequenten Infragestellung der Flächigkeit und deren spezifischen Möglichkeiten. Daraus ergibt sich als logische Folge die Hinterfragung der mit der Flächigkeit korrelierenden, plastischmalerischen Qualitäten der Oberfläche, welche die ästhetische Gestaltung des Bildträgers als bildliche Textur konstituieren; denn die effektvolle Struktur einer bildlich differenzierten Textur ist letzten Endes für die Beständigkeit einer Bildoberfläche nicht entscheidend. Greenberg war sich dieser ästhetischen Konsequenz bewusst. Bereits in seinem Aufsatz The Crisis of the Easel Picture aus dem Jahre 1948 ging er auf diesen Umstand ein.144 Dort erklärt er im Hinblick auf die Entwicklung der modernen Malerei seit Manet, wie bei der Farbzerlegung – insbesondere in der Malerei von Monet und Pissarro – ,,jeder Teil der Leinwand mit derselben Betonung des Pinselstriches behandelt wurde. Das Ergebnis war ein dicht bedecktes, gleichmäßig und intensiv texturiertes Farbrechteck, das die Kontraste abdämpfte und dazu tendierte – aber nur tendierte –, das Bild auf eine relativ undifferenzierte Oberfläche zu reduzieren.“145 Dieser ‚Entwicklung‘ zufolge musste Greenberg Folgendes konstatieren: „Monet und Pissarro hatten bereits eine Art von Malerei vorweggenommen, die heute von einigen unserer ‚avantgardistischen‘ Künstler praktiziert wird und die die Identität des Staffeleibildes in gerade dieser Hinsicht bedroht […]. Zwar ist es, zumindest wenn es gelungen ist, immer noch eine Art Staffeleibild und es wird immer noch dramatisch an einer

143 Vgl. ebd., S. 267-268. 144 Greenberg, Clement: „The Crisis of the Easel Picture“, in: Partisan Review, Vol. 15, Nr. 4, 1948, S. 481-484. 145 Greenberg, Clement: „Die Krise des Staffeleibildes“ (1948), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 149-155, hier S. 150.

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Wand hängen, doch von allen Arten der Malerei nähert diese sich am meisten der Dekoration – Tapetenmuster, die man endlos fortsetzen kann – […].“146

Damit stellte Greenberg vorsichtig die Nähe der modernistischen Malerei zum Design von Tapetenmustern oder Gegenständen fest, deren Oberfläche bildhafte Eigenschaften besitzen mag, ohne je einen künstlerischen Anspruch zu beabsichtigen.147 Die Folgerung dieser Feststellung entsprechend der Entwicklungslogik der mediumspezifischen Eliminierung alles Unnötigen und Fremden ist, dass die effektvollen Qualitäten der Bildoberfläche für die Malerei nicht unentbehrlich sind, was dazu führt, dass die undifferenzierte Textur einer auf einen Keilrahmen gezogenen, unbemalten Leinwand gemäß der Logik des Modells auch bildhaften Status zu erreichen vermag. Zu Beginn der sechziger Jahre, als sich die ästhetischen Paradigmen der Malerei zu ändern begannen, musste Greenberg just diese Folge, die im Kern seines mediumbezogenen Entwicklungsmodells verwurzelt ist, für tatsächlich erklären. Die Unerbittlichkeit dieser Entwicklung formulierte er in seinem Aufsatz After Abstract Expressionism aus dem Jahre 1962:148 „Im Zuge der Überprüfungen durch den Modernismus erwiesen sich immer mehr Konventionen der Malerei als verzichtbar, als unwesentlich. Inzwischen scheint es festzustehen, dass die irreduzible Essenz der Malerei in nur zwei konstitutiven Konventionen oder Normen besteht: Flächigkeit und deren Begrenzung, und dass es genügt, diese beiden Normen einzuhalten, um ein Objekt zu erschaffen, das als ein Bild erfahren werden kann: Eine auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand existiert bereits als ein Bild – allerdings nicht unbedingt als ein gelungenes Bild.“149

Diese Schlussfolgerung Greenbergs zwang seine gesamte entwicklungs- und mediumbezogene Argumentation dazu, eine programmatische Konzession in Kauf zu nehmen, um die offensichtlich gewordene Disjunktion im Kern des Modells in theoretische Übereinstimmung zu bringen. Dies versuchte er, mit der aus Kants Theorie des Geschmacksurteils abgeleiteten Annahme zu regeln, es gäbe ein transzendental regulatives Wesen der Kunst, welches ihre Immanenz deter-

146 Ebd., S. 151. 147 Siehe: Danto 2000, S. 105. 148 Greenberg, Clement: „After Abstract Expressionism“, in: Art International, Vol. 6, Nr. 8, 1962, S. 24-32. 149 Greenberg, Clement: „Nach dem Abstrakten Expressionismus“ (1962), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 314-335, hier S. 331.

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miniere, worin die Kontingenz des Mediums als ästhetischer Kasus garantiert sein mag. Diese transzendentale Ebene ist just das, was über die offenkundige Dissonanz zwischen der logischen Konsequenz und der ästhetischen Programmatik seines mediumbezogenen Entwicklungsmodells hinaus Greenberg erlaubt, auf der Basis empirischer Erfahrung – die ihrerseits von der ‚transzendentalen Ebene der Kunst‘ determiniert ist – kritische Kategorien künstlerischer Qualität einzugehen, so dass ein einem Tapetenmuster ähnliches Gemälde gelungen sein darf oder nicht, während eine auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand als Bild kein gelungenes sein kann. 2.4 Die kantische Deckung Die Begriffsbestimmung des Schönen und des Hässlichen wurde seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem wichtigen Arbeitsfeld der philosophischen Ästhetik. Sie setzte sich mit der Frage auseinander, ob dieses Differenzierungsvermögen persönlich oder allgemeingültig ist und ob es dem Verstand oder eher einer angeborenen Sinnlichkeit zuzuordnen ist.150 Im Rahmen dieser Überlegungen befasste sich Immanuel Kant mit dem Begriff ‚Geschmack‘, den er als ein sinnliches Beurteilungsvermögen verstand. „Geschmack ist das Vermögen der Beurteilung des Schönen“, formulierte Kant in seinem 1790 erschienenen Werk Kritik der Urteilskraft,151 in dem er einen umfassenden Begriff der ästhetischen Erfahrung zu definieren suchte. So geht es in dieser theoretischen Untersuchung um den Rechtsgrund für den Gültigkeitsanspruch des ästhetischen Geschmacksurteils, das auf dem Empfindungsvermögen des Subjektes beruht. Demnach ist die Frage, ob etwas als schön wahrgenommen werde, nicht an dem Gegenstand der Anschauung zu bestimmen, sondern an dem wahrnehmenden Individuum.152 Geschmack als das Vermögen der Beurteilung des Schönen ist in Kants Ästhetik ein Wohlgefallen ohne alles Interesse seitens des wahrnehmenden Subjekts: Insoweit private Bestimmungsgründe – aus der Genugtuung eines körper-

150 Siehe: Dickie, George: The Century of the Taste. The philosophical Odyssey of Taste in the Eighteenth Century, New York/Oxford 1996, S. 142-151. 151 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790), Hamburg 2006. 152 Zu einer allgemeinen Einführung in die Ästhetik Kants siehe: Dickie 1996, S. 85122, Hauskeller, Michael: „Immanuel Kant“, in: ders., Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, München 2005, S. 33-38 und Liessmann, Konrad Paul: „Kant und die Grundlegung der Ästhetik: Der Gute Geschmack und das Genie“, in: ders., Philosophie der Modernen Kunst. Eine Einführung, Wien 1999, S. 17-32.

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lichen sinnlichen Bedürfnisses oder aus der Erkenntnis eines den Urteilenden begünstigenden Zwecks ergeben – bei der Beurteilung des Schönen im Spiel sind, ist das Geschmacksurteil beeinträchtigt, so dass die reine ästhetische Beurteilung eines Gegenstandes durch das Subjekt nicht stattfinden kann. Aus diesem Grund vermag das Geschmacksurteil ein über die rein subjektive Unverbindlichkeit des individuellen Urteils hinausgehendes Moment der Allgemeinheit zu beanspruchen, nach welchem das voraussetzungslose ästhetische Geschmacksurteil allgemein gültig sein darf, insofern ihm ein verbindliches Prinzip zugrundeliegt: „Die Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurteil gedacht wird, ist eine subjektive Notwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objektiv vorgestellt wird […] er sagt nicht, daß jedermann mit unserem Urteil übereinstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle. Also ist der Gemeinsinn, von dessen Urteil ich mein Geschmacksurteil hier als ein Beispiel angebe, und weswegen ich ihm exemplarische Gültigkeit beilege, eine bloße idealische Norm […] weil zwar das Prinzip nur subjektiv, dennoch aber für subjektiv-allgemein (eine jedermann notwendige Idee) angenommen, was die Einhelligkeit verschiedener Urteilende betrifft […].“153

Dies bedeutet also, dass das Schöne trotz seiner Unabhängigkeit von den Begriffen des Verstandes – „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“154 – und mangels aller privaten Bestimmungen bei dem Geschmacksurteil – „Alles Interesse setzt Bedürfnisse voraus oder bringt eines hervor, und, als Bestimmungsgrund des Beifalls, läßt es das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei sein“155 – nie nur für einen einzelnen Urteilenden schön ist.156 Dieser Gedankengang impliziert eine Bestimmung der Kunst, deren Notwendigkeit die Opposition zwischen dem Schönen und dem Nicht-Schönen ausmacht. Das bedeutet, es gäbe einen notwendig determinierten Grund für das, was in der Kunst schön ist: „In allen Urteilen, wodurch wir etwas für schön erklären, verstatten wir keinem, anderer Meinung zu sein.“157 Demnach sei die Beurteilung des Schönen eine Kondition, die in der transzendentalen Ebene einer Universalität des Schönen begründet liegt,158 ohne

153 Kant (1790) 2006, § 22, S. 97-98. 154 Ebd., § 6, S. 58. 155 Ebd., § 5, S. 57. 156 Siehe: Hauskeller 2005, S. 36 und Liessmann 1999, S. 19. 157 Kant (1790) 2006, § 22, S. 97. 158 Siehe: Danto, Arthur C.: „Von der Ästhetik zur Kunstkritik“, in: ders., Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 115-136, hier S. 122.

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dass man begrifflich dem beurteilten Kunstgegenstand eine objektiv wahrnehmbare Eigenschaft als Manifestation der Schönheit zuerkennen kann.159 Greenberg, der sich bereits in den dreißiger Jahren mit Kants ästhetischer Theorie auseinander setzte,160 entnahm seiner Kantlektüre die Auffassung einer allgemeingültigen Bestimmung der Kunst, die er schon in seinem Aufsatz AvantGarde and Kitsch deutlich zur Sprache brachte. Hier erklärt Greenberg, indem er die kantische Auffassung des Schönen durch den wertenden Begriff des Guten161 – in Opposition zum Schlechten in der Kunst – ersetzt:162 „Alle Werte sind menschliche Werte, relative Werte, in der Kunst genauso wie überall anders auch. Doch scheint es über alle Zeiten hinweg beim gebildeten Teil der Menschheit einen mehr oder weniger allgemeinen Konsens gegeben zu haben, was gute und was schlechte Kunst ist.“163 Greenberg artikulierte weiter diese transhistorische Auffassung in seinen subsequenten Aufsätzen, in denen der kantische Bezug noch deutlicher ausformuliert wurde, woraus jedoch negative Konsequenzen für die logische Stimmigkeit seines Modells resultierten.164 So stellte er in seinem Aufsatz The Identity of Art165 von 1961 die allgemeingültige Universalität ästhetischer Urteile noch präziser dar: „Im Grunde gibt es nur zwei Arten von Kunst: gute und schlechte. Dieser Unterschied überlagert alle anderen Unterschiede in der Kunst. […] Denn es bedeutet, dass die Erfahrung von Kunst trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Kunstwerken letzten Endes ihrem Wesen nach immer von gleicher Art ist. […] Qualität lässt sich in der Kunst nicht durch Logik oder diskursive Ableitung ermitteln und beweisen. […] Und doch ist die künstlerische Qualität nicht nur eine Frage der subjektiven Erfahrung. Es gibt einen Konsens des Geschmacks.“166

159 Vgl. Kant (1790) 2006, § 9, S. 66-70. 160 Siehe: Jones 2005, S. 77-78. 161 Hier ist das ‚Gute‘ nicht im Sinne des § 4 in der Kritik der Urteilskraft zu verstehen, sondern als der entsprechende Begriff des ‚Schönen‘ in dem kritischen Modell Greenbergs. 162 Siehe: Danto 2000, S. 117, 123-124. 163 Greenberg (1939) 1997, S. 44. 164 Siehe: Costello 2007, S. 217-228 und Crowther 1985, S. 317-325. 165 Greenberg, Clement: „The Identity of Art“, in: Country Beautiful, 11.1961, S.117120. 166 Greenberg, Clement: „Die Identität der Kunst“ (1962), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 309-313, hier S. 309, 310, 311.

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Greenbergs universalistische Qualitätsbestimmung der Kunst, aus Kants Theorie der Urteilskraft entnommen, erweist sich allerdings als inkonsistent mit dessen Lehre. Dies ist zunächst als eine Missdeutung von Kants Ansatz in den frühen Aufsätzen Greenbergs zu verstehen, was im Laufe seiner theoretischen Entwicklung als Kunstkritiker nicht nur durch seinen ab Mitte der vierziger Jahre zunehmend auftretenden empiristischen Argumentationsstil, sondern auch durch seinen mediumbezogenen Formalismus herbeigeführt wurde.167 Deutlich lässt sich die Inkongruenz mit der ästhetischen Theorie Kants daran erkennen, dass die kantische Bestimmung der Schönheit – als Ergebnis eines Wechselspiels zwischen einem gegebenen Gegenstand und den Erkenntniskräften, die ihrerseits im freien Spiel ihres Vermögens keinen Erkenntnisregeln untergeordnet sind – Unabhängigkeit von allen Begriffen, welche die immanente Stimmigkeit des Gegenstandes zu konstruieren vermögen, kategorisch fordert: „Wäre die gegebene Vorstellung, welche das Geschmacksurteil veranlaßt, ein Begriff, welcher Verstand und Einbildungskraft in der Beurteilung des Gegenstandes zu einem Erkenntnisse des Objektes vereinigte, so wäre das Bewußtsein dieses Verhältnisses intellektuell (wie im objektiven Schematism der Urteilskraft, wovon die Kritik handelt) […] mithin kein Geschmacksurteil.“168

In Opposition zu dieser Distinktion fasste Greenberg in seinem ersten Aufsatz die Qualitätsbestimmung der Kunst als einen intellektualistischen Prozess, nach welchem die empfangenen bildnerischen Werte vom Betrachter hineinprojiziert werden müssen, um erst dadurch die ästhetischen Qualitäten des zu beurteilenden Objektes zu erkennen.169 Die Qualitätsbestimmung des Geschmacksurteils sei also „Resultat [der] Reflexion über den unmittelbaren Eindruck, den die bildnerischen Werte hinterließen. Erst dann kommt das Wiedererkennbare, das Wunderbare und das Einfühlbare ins Spiel.“170 Diese Auffassung weicht daher grundsätzlich von dem Kantischen Begriff der reflektierenden Urteilskraft ab, die für die Erkenntnis der schönen Kunst erforderlich ist; denn nach dieser kann es nicht „durch Beweisgründe ausgemacht werden […], ob etwas für schön zu halten sei oder nicht.“171

167 Vgl. Costello 2007, S. 221. 168 Kant (1790) 2006, § 9, S. 69. 169 Vgl. Crowther 1985, S. 318. 170 Greenberg (1939) 1997, S. 46. 171 Kant (1790) 2006, § 44, S. 189.

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Mit dem auftretenden Empirismus in seiner Beweisführung änderte Greenberg im Laufe seiner Karriere diese Auffassung in eine ebenfalls mit Kants ästhetischer Theorie inkonsistente Konzeption, die nicht nur seinen Kant-Bezug trotz wiederholter Berufung auf dessen theoretische Autorität172 weiter relativierte, sondern auch sein ganzes mediumbezogenes Entwicklungsmodell beeinträchtigte, was zum massiven Verlust der theoretischen Stringenz seines ästhetischen Programms führte. Bereits in seinem programmatischen Aufsatz von 1940 zeigte sich eine sensualistisch formulierte Argumentation, abgeleitet sowohl von seinem mediumbezogenen Formalismus als auch von seinem Ideal einer musterhaften Reinheit der Kunst,173 die er am Beispiel der Musik als eine „Kunst der reinen Form“ zu belegen suchte.174 Seinem puristisch-formalistischen Gedankengang entsprechend, postulierte Greenberg die sensualistische Auffassung einer notwendig determinierten Entsprechung zwischen den verschiedenen Gattungen der Künste und deren spezifischen Wahrnehmungsorganen, wonach die Erkenntnis der Künste als konkrete Funktion der Sinneserfahrung letzen Endes auf die Empfindung physiologischer Reize reduziert wird: „Nur wenn sie [die Künste] dem Beispiel der Musik folgen und sich allein im Hinblick auf den Sinn oder das Wahrnehmungsvermögen definieren, durch welche ihre Effekte aufgenommen werden, und wenn sie alles ausschlossen, was durch einen anderen Sinn oder ein anderes Vermögen zu verstehen ist, konnten die nichtmusikalischen Künste jene Reinheit und Autonomie erreichen, welche sie anstrebten.“175

172 Die Berufung auf Kants Lehre kam in Greenbergs Werk kontinuierlich vor, wobei diese ab den sechziger Jahren häufiger wurde. Die berühmteste dieser legitimierenden Nennungen ist im Aufsatz Modernist Painting zu finden, in dem Kant als „der erste wirkliche Modernist“ bezeichnet wird. Greenberg (1960) 1997, S. 265. Im Text Review of Piero della Francesca and The Art of Constantine, both by Bernard Berenson ist sogar zu lesen: „[Kants] Fähigkeit zu abstrahieren, versetzte ihn […] in die Lage, in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft die befriedigendste Basis für die Ästhetik zu begründen, die uns bisher gegeben wurde.“ Zitiert nach: Danto 2000, S. 119. 173 Der Begriff der Reinheit in der Kunst tauchte in Greenbergs Aufsatz Towards a Newer Laocoon von 1940 auf. Er steht in direktem Zusammenhang mit dessen mediumbezogenem, auf Lessing und Babbitt zurückgehendem Modell und postuliert das programmatisch anzustrebende Ziel der Künste, sich eindeutig voneinander abzugrenzen. Siehe: Greenberg (1940) 1997, S. 57. 174 Siehe ebd., S. 70. 175 Ebd.

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Die Bedeutung dieser Behauptung ist ersichtlich: Wenn die Qualität der Kunst durch das bestimmt wird, was ohne Vermittlung anderer Instanzen allein den Sinnen in der Empfindung gefällt, ist das Geschmacksurteil Ausdruck dessen, was Kant als Wohlgefallen am Angenehmen bezeichnete, das an sich die mit Interessen verbundene Lust bei der Betrachtung eines Gegenstandes ist.176 Kant erklärte dies als die Empfindung einer Begierde nach dem zu beurteilenden Gegenstand, kraft derer „das Wohlgefallen nicht das bloße Urteil über ihn, sondern die Beziehung seiner Existenz auf [den eigenen] Zustand“ ist.177 Damit ist Greenbergs Qualitätsbestimmung der Kunst eine sensualistische Determination, vollkommen inkonsistent nicht nur mit Kants Theorie des ästhetischen Geschmacksurteils und des Schönen,178 sondern auch mit seiner eigenen Überzeugung einer transhistorischen Universalität des Geschmacks. Greenberg versuchte, diese beiden gegenüberstehenden Auffassungen in einem praktisch anwendbaren Prinzip zu vereinen, das er in der Behauptung zu begründen suchte, dass der Geschmack durch Erfahrung zu entwickeln sei: „Der beste Geschmack ist stets der Geschmack derjenigen Menschen in einer Generation, die die meiste Zeit und die meiste Mühe auf die Kunst verwenden.“179 Denn – seiner Erklärung im programmatischen Aufsatz von 1939 nach – „höhere Kultur zählt zum Ausgeklügeltsten, was der Mensch geschaffen hat.“180 Angesichts dessen sei die Erfahrung, die Greenberg explizit als erworbene Kennerschaft auffasste, „die einzige Instanz, an die man im Bereich der Kunst appellieren kann,“181 eine Behauptung, die er ungeachtet aller Widersprüchlichkeiten wiederum mit Kants Ästhetik begründet wissen wollte.182 Die konvergierende Operation ist wie folgt zu erklären: Da im Zuge der formalistischen Reinheitsauffassung Greenbergs das Auge das unabdingbare Wahrnehmungsorgan der Malerei als eine visuell zu erfassende Kunst ist, und da der von Vernunftbegriffen unabhängige Geschmack durch Erfahrung in der Betrachtung von Kunst geübt werden soll,

176 Siehe: Kant (1790) 2006, § 3, S. 50-52. 177 Ebd., S. 52. 178 Vgl. Costello 2007, S. 221. 179 Greenberg (1961) 1997, S. 311. 180 Greenberg (1939) 1997, S. 51. 181 Greenberg (1961) 1997, S. 310. 182 Unberechtigterweise sich auf Kant berufend, formulierte Greenberg im Hinblick auf die Fähigkeit des Geschmacks, Qualität in der Kunst zu erkennen: „Hier herrscht nur die Erfahrung [als Kennerschaft gemeint] und, wenn man so will, die Erfahrung der Erfahrung. Zu diesem Schluss sind alle bedeutenden Kunstphilosophen seit Immanuel Kant gekommen.“ Greenberg (1961) 1997, S. 310-311.

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wird die Beurteilung künstlerischer Qualität zu einer rein perzeptuellen, vom Auge durchgeführten Angelegenheit nach den sprachlich unvermittelbaren Kriterien einer zu erwerbenden Kunstkennerschaft.183 Dementsprechend formulierte Greenberg im Aufsatz The Identity of Art von 1961: „Das geübte Auge wird in der Kunst immer zu dem definitiv und eindeutig Guten neigen; es weiß, dass es das gibt, und es wird sich mit nichts anderem zufrieden geben.“184 Kraft dessen führte die gezwungene Konvergenz seines sensualistischen Postulats mit seinem ambivalenten Geschmacksbegriff Greenberg zu einer dogmatischen Praxis auf der Basis physiologischer Reize als die unumgänglichen Instanzen aller Erfahrung. Die praktische Anwendung bestand darin, bei der konkreten Begutachtung von Bildern eine rasche, präzis konzentrierte und von allen kontingenten Faktoren unabhängige Wahrnehmung des zu beurteilenden Exemplars durchzuführen, um eine reine, ungestörte Aufnahme seiner unmittelbar sichtbaren Merkmale zu gewinnen, wodurch das in Kunst eingeweihte Auge dessen Qualität determinieren sollte.185 Die ästhetische Qualität des Kunstwerkes ist auf der anderen Seite eine immanente Instanz, die als solche identifiziert werden kann. Das heißt, die Qualitätsbestimmung der Kunst durch die Vermittlung des Geschmacks setzt notwendigerweise die Existenz ästhetischer Eigenschaften in den Kunstgegenständen voraus, die ihrerseits vom faktischen Können der Künstler abhängig sind. Die Notwendigkeit dieser Bedingung entspricht also der unabdingbaren Möglichkeit

183 Hinsichtlich der aufgeforderten Kennerschaft erklärt Greenberg kategorisch: „Zu viele Menschen sind einfach nicht bereit, das notwendige Maß an Bescheidenheit – und an Geduld – aufzubringen, um zu lernen, wie man Kunst auf eine angemessene Weise erfährt und genießt. […] Ohne fremde Hilfe können sie nicht einmal den Qualitätsunterschied zwischen einem Kalenderbild von Petty und einem Aktgemälde von Rubens erkennen. […] Der Leser, dem die Abstrakte Kunst noch ein Geheimnis ist, sollte […] seinen Geschmack trainieren […]. Es ist ein Spiel, für das man Zeit und Geduld braucht.“ Greenberg (1961) 1997, S. 311-312. 184 Ebd., S. 313. 185 Der Ablauf dieses zur Routine geworden Verfahrens wird von Danto nach Künstlerberichten folgendermaßen beschrieben: „Greenberg stellte sich mit dem Rücken vor ein neues Bild, bis dies richtig positioniert war, um sich dann blitzschnell umzudrehen und seinem geübten Auge zu erlauben, das Bild aufzunehmen, ohne dem Verstand die Möglichkeit zu geben, ihm mit einer bereits bestehenden Theorie zuvorzukommen, als gelte es, ein Rennen zwischen der Übertragung visueller Reize und der Denkgeschwindigkeit auszutragen. Manchmal verdeckte er auch die Augen, bis es Zeit war, zu sehen.“ Danto 2000, S. 124.

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der Hervorbringung schöner bzw. guter Kunst, einem Postulat, dessen Grund Greenberg aus dem in der Kritik der Urteilskraft entwickelten Geniebegriff Kants entnahm. Dieser Begriff seinerseits erweist sich als äußerst relevant in Kants Ästhetik, denn nach dessen Gedankengang ist die Hervorbringung schöner Kunst eindeutig Werk des Genies, welches auf der Seite der Produktion die innere Stimmigkeit des für schön zu erklärenden Gegenstandes zu schaffen vermag: Insoweit es kein durch begriffliche Beweisführung zu erschließendes Regelsystem, das die Erschaffung des Schönen zu garantieren vermag, geben kann, folglich keine Wissenschaft des Schönen,186 ist die Hervorbringung schöner Kunst notwendigerweise eine sich selbst bestimmende und von aller Regel unabhängige Leistung, welche nur durch das Können des Genies möglich wird.187 Kant bringt dies folgendermaßen zur Sprache: „Schöne Kunst ist Kunst des Genies. Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. […] Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produktes von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrund habe […]. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zustande bringen soll. […] so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben.“188

Mit diesem Begriff bekräftigte Kant sowohl den autonomen, nicht regelgebundenen Charakter des Schönen, was jedoch nicht absolute Regellosigkeit, sondern Freiheit von vorgegebenen Bestimmungen meint, als auch die Vorstellung, dass jeder echte Künstler in der Lage sein muss, eigene Regeln entsprechend den internen Zwecken seiner Kunst zu schaffen, woraus die neue Maßstäbe setzende Musterhaftigkeit seiner Kunst resultiert. Das Genie vermag also das noch nicht Dagewesene zu schaffen, das für sich prädestiniert ist, Modell für alle Nachfolger zu werden, bis ein neues Genie in Erscheinung tritt und neue Paradigmen setzt.189 Greenberg seinerseits brachte diese Idee in Avant-Garde and Kitsch deutlich zur Sprache. Hier zeichnete er sogar die schöpferische Leistung des Künstlers

186 Vgl. Kant (1790) 2006, § 44, S. 189-191. 187 Vgl. ebd., § 46, S. 193-194. 188 Ebd., S. 193. 189 Siehe: Prange 2004, S. 57.

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mit einem Vergleich zu Gott zur Verdeutlichung von dessen kreativem Können als Inbegriff der Schöpfung schlechthin aus. So behauptete er: „Letzten Endes versucht der avantgardistische Dichter oder Künstler, Gott nachzuahmen, indem er etwas erschafft, das aus sich selbst heraus gültig ist, so wie eine Landschaft – nicht das Abbild einer Landschaft – ästhetisch gültig ist; etwas Gegebenes, nicht Geschaffenes, von jeglicher Bedeutung, Ähnlichkeit und Beziehung zu einem Vorbild Unabhängiges.“190

Um die Unerlässlichkeit der Freiheit von allen kontingenten und regelgebundenen Bestimmungen bei der Hervorbringung wahrer guter Kunst zu akzentuieren, führte Greenberg den Begriff ‚Kitsch‘ in die ästhetische Diskussion ein, wobei er den Kantischen Gedankengang des Geniebegriffes im Hinblick auf die von Kant genannte ‚mechanische Kunst‘, also „bloße Kunst des Fleißes und der Erlernung“191, weiter artikulierte. So ist ‚Kitsch‘ für Greenberg der Inbegriff dessen, was schöne bzw. gute Kunst nicht ist: „Kitsch, der sich die entwerteten und akademisierten Simulakren der echten Kultur als sein Rohmaterial aneignet, begrüßt und kultiviert diese Unempfänglichkeit: Sie ist die Quelle seines Profits. Kitsch ist mechanisch und funktioniert nach festen Formeln. Kitsch ist Erfahrung aus zweiter Hand, vorgetäuschte Empfindung. Kitsch ändert sich mit dem aktuellen Stil, doch er bleibt immer derselbe. […] Gemeint ist, dass das Neue, sobald genügend Zeit verstrichen ist, ausgeplündert wird auf der Suche nach neuen ‚Drehs‘, welche dann verwässert und als Kitsch aufserviert werden.“192

Greenberg vertrat lebenslang diese Auffassung, die er immer betonte und auf unterschiedliche Weise neu auszudrücken versuchte, ohne den kantischen Kern an sich anzutasten. So formuliert er in seinem kanonischen Aufsatz der sechziger Jahre: „Die unmittelbaren Ziele der Modernisten waren und sind vor allem individueller Natur, und auch die Wahrhaftigkeit und das Gelingen ihrer Werke bleiben vor allem individuell.“193 Damit betonte Greenberg wiederum die Wichtigkeit individueller, von externen Bestimmungen unabhängiger Schöpfung in der Kunst, also das Genie.

190 Greenberg (1939) 1997, S. 33. 191 Kant (1790) 2006, § 47, S. 197. 192 Greenberg (1939) 1997, S. 40. 193 Greenberg (1960) 1997, S. 275.

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Mithilfe des kantischen Geniebegriffes gelang es Greenberg, die Vorstellung der transhistorischen Gültigkeit ästhetischer Gegenstände nach deren immanenter, unabhängig erschaffener Stimmigkeit mit dem historisch determinierten Fortschrittgedanken insoweit zu verbinden, als die Hervorbringung solcher ästhetischer Artefakte von dem in der Geschichte eingegliederten Genie determiniert wird. Demnach ist die Qualität der Kunst nicht nach einer historisch progressiven, mechanisch nachvollziehbaren Folgerichtigkeit zu beurteilen, sondern nach der immanenten, durch das historische Genie ermöglichten Stimmigkeit, die in einem zum Muster werdenden Objekt innerhalb einer umfassenden Tradition herauskristallisiert wird, so dass geschichtlich folgerichtige bzw. programmatisch konstruierte Kunstwerke nicht unbedingt aufgrund ihrer zeitlichen oder programmatischen Kongruenz für gut zu halten sind. Diesem Gedankengang nach ist der immanente ästhetische Wert die entscheidendste Instanz für die Konstitution und somit für die Beurteilung der Qualität in der Kunst, kraft deren Autonomie die Determination einer jeglichen Programmatik, historisch legitimiert oder nicht, der freien Unbestimmtheit schöpferischer Kreativität entgegentritt. Aufgrund dieser logischen Konsequenz des Kantischen Geniebegriffes in der ästhetischen Reflexion Greenbergs erweist sich die interne Dissonanz von dessen Modell als gänzlich unüberbrückbar, denn das von Greenberg theoretisierte und nachdrücklich verteidigte mediumbezogene Modell, also die programmatische Akzentuierung der ureigenen Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen der Kunst, widerspricht notwendigerweise der freien Manifestation schöpferischer Kreativität, insoweit es ihre Entfaltungsmöglichkeiten richtungsweisend definiert. Zu dieser unversöhnlichen Kontradiktion, die an sich die philosophische Inkompatibilität zweier unverträglicher Denkmodelle ist, kommt noch der Versuch Greenbergs, sich wiederum auf die philosophische Autorität Kants berufend, sein formalistisches Modell als kritisch im kantischen Sinne darzustellen, insofern „[Kant] der erste war, der die Mittel der Kritik ihrerseits der Kritik unterwarf.“194 Greenberg meinte damit die Kant zugerechnete Tendenz, „die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandbereiches zu stärken.“195 Dies ist jedoch Greenbergs eigene Schlussfolgerung aus der kritischen Transzendentalphilosophie Kants, deren eigentlicher kritischer Sinn darin besteht, die Erkennbarkeit der Welt an die Bedingungen des Verstandes zu binden und dadurch zu begrenzen, womit Kant

194 Ebd., S. 265. 195 Ebd.

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dem Rationalismus und dem Empirismus entgegentritt.196 Mit dieser Lektüre der kantischen Kritik als selbstreflexiver Überprüfung eines gegebenen Kompetenzbereiches beabsichtigte Greenberg, den Kern seiner puristisch-formalistischen Argumentation, also die selbstreflexive Hinterfragung der formalen Möglichkeiten der Kunst, kantisch zu begründen, wobei sein formalistisches, mediumbezogenes Modell auf die theoretische Konstellation Lessing-Babbitt zurückzuführen ist.197 Diese fragwürdige Berufung auf Kants Kritik, die auf der Basis einer vereinfachten Analogie zu dessen analytischer Methode erfolgt,198 erweist sich daher nicht nur als klarer Versuch, eine theoretische Einheit zu behaupten, sondern auch als kalkulierte Strategie, von Greenberg vornehmlich ab den sechziger Jahren ausgeübt, um die mangelnde Stringenz seines eklektischen Modells unter der Deckung einer anerkannten Philosophie zu verteidigen.199 Damit erhoffte er, den eklatanten Widerspruch, der sich aus der Übernahme des Geniebegriffes Kants und der Aktualisierung der mediumspezifischen Lehre Lessings ergibt, zu lösen. Dies wurde dadurch begünstigt, dass Kant bei der Beschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Erscheinungswelt metaphysische Sätze ablehnte, wodurch die materielle Welt als Bereich möglicher Erfahrung, welche Greenberg seinerseits zu verabsolutieren suchte, um eine rein formalistische Ästhetik auszubauen, angesprochen wurde. Darüber hinaus stimmte die Anspielung auf die ‚kantische Selbstkritik‘ als Begriff mit Lessings Anforderung auf eine eindeutige Abgrenzung der spezifischen Gestaltungsmittel der Künste sowie mit der kritischen Auffassung Babbitts hinsichtlich einer zu verhindernden Vermischung der Künste überein, was den Eindruck theoretischer Stimmigkeit erweckte. In der Tat ist diese jedoch eine flüchtige Erscheinung unter kantischer Deckung.200

196 Vgl. Helferich 2002, S. 250-251. 197 Siehe in der vorliegenden Studie: „Das Laokoon-Paradigma und die Kontingenz des Mediums“, S. 43-53. 198 Vgl. Crowther 1985, S. 320. 199 Vgl. Costello 2007, S. 217. 200 Wenn auch die Unhaltbarkeit des Modells Greenbergs sowie sein problematischer Bezug auf Kant in der Kunsttheorie längst erkannt wurde, hat seine wiederholte Berufung auf dessen Ästhetik zu Missdeutungen geführt, die in der Literatur zum Thema immer noch bestehen. So wird die Rolle Lessings und Babbitts für die Konstitution seines Modells – wenn überhaupt berücksichtigt – unterschätzt, während der Einfluss auf die Gestaltung seines formalistischen Modells – in Greenbergs Phrase der ‚kantischen Selbstkritik‘ begründet – allein Kant zugeschrieben wird. Dabei werden andere Aspekte wie die Rolle des Geniebegriffs Kants, das sensualistische

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3

Z USAMMENFASSUNG : D AS K ONSTRUKT

Der Kunsttheorie Greenbergs, aus der gezwungenen Konvergenz verschiedener, bereits entfalteter und vollendeter Theorien entstanden, gelang es, trotz ihrer mangelnden Einheitlichkeit und ihrer deutlichen Widersprüchlichkeit ein ästhetisches Konstrukt aufzubauen, das, auf den historischen Wandel der Kunst reagierend, eine eigene Entwicklung durchlief, durch welche seine Unhaltbarkeit als Theorie enthüllt wurde. Greenbergs struktureller Ausgangspunkt war der dialektisch-materialistische Fortschrittgedanke, in dessen teleologischer Linearität, als kontinuierliche Verbesserung erachtet, der Selbsterhaltungstrieb der Kunst verankert sei. Entsprechend der materialistischen Notwendigkeit dieser Auffassung gründet die fortschrittliche Entwicklung der Kunst auf deren materieller Erscheinung: Da Greenberg in seinen marxistischen Überzeugungen der dreißiger Jahre von der materiellen Außenwelt als dem unabdingbaren Bezugspunkt aller Prozesse – sowohl historischen als auch erkenntnistheoretischen – ausging, reduzierte er die Gültigkeit der Erkenntnis auf verifizierbare Tatsachen, woraus seine Überzeugung stammte, dass im materiellen, faktisch verifizierbaren Medium der jeweiligen Künste die Essenz von deren Entwicklung besteht. Demnach sei das Medium der unerlässliche Entwicklungsfaktor der Kunst schlechthin. Greenberg verknüpfte diese Idee mit Lessings ästhetischer Lehre des mediumspezifischen Ganzen, nach welcher es ein ureigenes Wesen der Künste entsprechend ihrer Gattung gäbe. Das heißt, die spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten der Künste, die als solche von den Gattungen determiniert sind, bestimmen deren natürliche Grenzen als selbstständige Kunstformen, woraus nicht nur die Behauptung der gattungsspezifischen Möglichkeiten dem Medium gemäß, sondern auch die Normativität einer Zweckbestimmung der Künste resultiert. Ein Verstoß gegen die normativen Regeln der Gattungen bedeutet also einen Verstoß gegen die natürliche Zweckbestimmung der Künste. Solches wird durch die Vermischung der zu befolgenden Regeln, den als ureigen anzunehmenden Gattungsgrenzen entsprechend, begangen.

Geschmacksurteil Greenbergs oder seine eklektische Theoriebildung in der konstruierten Widersprüchlichkeit ihrer Ganzheit nicht entsprechend analysiert oder sogar nicht behandelt, also Aspekte, die für die Identifikation des Modells Greenbergs wesentlich sind. Ausgenommen die Studie Caroline Jones’ von 2005, bei der jedoch der kantische Bezug Greenbergs nicht grundlegend analysiert wird, tendieren die meisten Untersuchungen dazu. Mit dieser ungenauen Betrachtung korreliert eine entstellte Interpretation der Kantischen Ästhetik als solche. Vgl. Costello 2007, S. 222-226.

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Greenbergs Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen Diskursen brachte ihn in Berührung mit der kritischen Lehre Babbitts, der sich seinerseits Lessings Kunstauffassung angeeignet und ihren kritischen Gehalt zugespitzt hatte, indem er die transhistorische Reflexion Lessings kritisch historisch aktualisierte: Die Kunst der letzten Jahrhunderte solle seiner Meinung nach eine verheerende Vermischung der spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten der traditionellen Kunstgattungen erfahren haben. Dies habe ihren Niedergang zu Folge, dessen Tiefpunkt die französische Kunst des 19. Jahrhunderts sei. Greenberg übernahm diese Vorstellung vom Zerfall der Künste als Folge der Vermischung der traditionellen Gattungsmittel, eine Auffassung, die ihn im Rahmen seines dialektischmaterialistischen Geschichtsmodells und im Hinblick auf seine Überzeugung, dass die beste bildende Kunst der Gegenwart abstrakt sei, zum Konstrukt einer mediumbezogenen Entwicklungsästhetik brachte. Nach dieser sei der allmähliche Verzicht der Malerei auf narrative Erzählmittel der Weg zur Findung ihres eigentlichen Wesens, das unausweichlich in der Beständigkeit ihrer Materialität liege. Da Greenberg die normative Bestimmung der Gattungen in einem Entwicklungsschema programmatisch auffasste, wird in seinem Modell die Kontingenz der Gattungen im Rahmen der fortschrittlich bedingten Manifestation des Mediums definiert. Das heißt, dass konkrete Gattungseigenschaften entsprechend der Annahme, sie würden der ureigenen Bestimmung ihrer jeweiligen Gattung korrespondieren, akzentuiert werden sollen. Im Zuge dessen müssen andere Eigenschaften, von denen ein unbedingter Bezug auf die spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten anderer Gattungen anzunehmen ist, aus den als konstitutiv zu definierenden Merkmalen der zu bestimmenden Gattung ausgeschlossen werden. Die Definition der Gattungen sei also progressiv auf der Basis einer kontinuierlichen Selbstkritik zu bestimmen. Daraus ergibt sich das programmatische Postulat, nach welchem die historisch etablierten Gestaltungsmöglichkeiten einer Gattung stets überprüft werden müssen, bis ihre Unentbehrlichkeit entweder bestätigt oder endgültig verneint wird. So sei jede Manifestation der Kunst per se eine Norm mit begrenzter Geltung, da sie eben als identifizierte Norm zu hinterfragen ist. Demnach befindet sich die Kunst, in ihrer kontinuierlichen Selbstrevision, auf der Suche nach ihrer absoluten Essenz. Hier fügte Greenberg jedoch eine Begründung mit problematischen Konnotationen hinzu, deren Beleg er in seiner Deutung der Kunstgeschichte suchte: In der prozessartigen, kritischen Selbsthinterfragung der Kunst habe sich die Repräsentation nicht als ein wesentliches Moment für deren Entwicklung erweisen können, womit die Entstehung der abstrakten Kunst zu begründen sei. Hingegen habe sich die Flächigkeit als die unabdingbare Voraussetzung der Malerei schlechthin behauptet. Dieser ästhetisch-

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programmatischen Deutung nach setzt die plane Oberfläche des Bildträgers als das unvermeidliche Mittel der Malerei schlechthin nicht nur eine ästhetische Bestimmung voraus, sondern widerspricht auch dem Prinzip des freien kritischen Hinterfragens. Denn sie schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten der Malerei ein, indem sie deren zu akzentuierendes, ästhetisches Medium determiniert, das, als unerlässlich erachtet, nicht in Frage gestellt werden sollte. Darüber hinaus wird, entsprechend dieser normativen Bestimmung der Oberfläche als die unabdingbare Bedingung der Malerei, nicht zwischen den inneren Gestaltungsmöglichkeiten einer Gattung und deren Trägermedium differenziert. Dies bedeutet, dass die spezifische Konfiguration einer ästhetischen Form mit deren Materialität gleichgesetzt wird. Die logische Konsequenz ist also, dass die effektvollen Qualitäten der Bildoberfläche für die Malerei nicht unverzichtbar sind: Gemäß der Logik des Modells vermag die undifferenzierte Textur einer auf einen Keilrahmen gezogenen, unbemalten Leinwand auch bildhaften Status zu erreichen. So führt die logische Zuspitzung dieses Modells unausweichlich zur programmatischen Entmaterialisierung der Kunst: Da die Kunst im Laufe ihrer fortschrittlichen Entwicklung ihre Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen ununterbrochen zu hinterfragen habe, ohne dass es in diesem Prozess eine normative Definition ihrer mediumbedingten Immanenz geben kann, ist die materielle Beschaffenheit der Kunst als solche, wie alle anderen ihr zur Verfügung stehenden Mittel, auch zu hinterfragen. Diese Auffassung nähert sich dem im kantischen Geniebegriff implizierten Fortschrittgedanken: Da es dem Geniebegriff Kants nach kein durch Verstandsbegriffe zu definierendes Regelsystem geben kann, das im Stande ist, für die Produktion schöner bzw. guter Kunst zu bürgen, ist die Hervorbringung solcher Kunst eine von aller Regel unabhängige Leistung des Genies, welches angesichts der Unfähigkeit der Kunst, sich selbst eigene Erschaffungsregeln zu geben, diese Aufgabe durchführt, um das Neue, noch nicht Dagewesene bzw. wahre Kunst zu schaffen, Kunst also, die aufgrund ihres paradigmatischen genialen Charakters prädestiniert ist, neue Maßstäbe zu setzen, die als solche von anderen Genies zu überschreiten sind. Nichtsdestotrotz divergiert die Auffassung Greenbergs von der Kantischen, insoweit in Greenbergs mediumbezogener Entwicklungsästhetik ein programmatisch Invariables über die temporal als gültig zu erachtende Kontingenz des Mediums hinaus existiert: die normative, mediumbezogene Selbsthinterfragung der Kunst. Diese fest gegründete Invariante, die an sich die Stärke des Modells Greenbergs ausmacht, wurde jedoch innerhalb dessen eigenen Programms massiv geschwächt: Aus der normativen Bestimmung, die Oberfläche sei das unabdingbare Merkmal der Malerei, resultiert notwendigerweise eine ästhetische Konfiguration, deren optische Qualitäten nicht allein durch die Not-

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wendigkeit des Mediums zu begründen sind. So musste Greenberg sein gesamtes mediumbezogenes Entwicklungsmodell dazu zwingen, eine programmatische Konzession anzunehmen, nach welcher es ein transzendental regulatives Wesen der Kunst gäbe, das ihre Immanenz als ästhetischen Kasus determiniere. Das ist die ästhetische Qualität, die in einem Kunstgegenstand vorzukommen vermag. Sie ist also die Stimmigkeit, die in einem zum Muster werdenden Objekt innerhalb einer umfassenden Tradition herauskristallisiert wird. Um diese zu begründen, griff Greenberg auf den Geniebegriff Kants zurück: Die Hervorbringung qualitativ hervorragender Kunst sei nämlich eine Leistung des Genies, welches auf der Seite der Produktion die innere Stimmigkeit des für schön zu erklärenden Werkes entsprechend einer Allgemeingültigkeit des Schönen gestaltet. Um die regulative Qualitätsleistung des Genies zu verdeutlichen, führte Greenberg den Begriff ‚Kitsch‘ als Antipode genialer Kunst ein. Dabei artikulierte er die kantische Argumentation des Geniebegriffes im Hinblick auf die sogenannte ‚mechanische Kunst‘ bzw. ‚bloße Kunst des Fleißes und der Erlernung‘. Für Greenberg ist Kitsch also der Inbegriff von im Sinne des Geniebegriffes qualitätsloser Kunst schlechthin. Die notwendige Fähigkeit, gute von schlechter Kunst zu unterscheiden, brachte Greenberg erneut zu Kants Ästhetik, mit deren Begriff des Geschmacksurteils er diese Fertigkeit zu begründen suchte, um mit philosophischer Legitimation kritische Kategorien künstlerischer Qualität einzugehen: Da es in der Kritik der Urteilskraft Kants um den Rechtsgrund für den Gültigkeitsanspruch des ästhetischen Geschmacksurteils geht, ist die Frage, ob ein Werk der bildenden Kunst gut ist oder nicht, nicht an dem Gegenstand selbst, sondern an dem wahrnehmenden Individuum zu bestimmen. Dabei solle es einen Konsens in der Bestimmung dessen geben, was das Urteil der schönen Kunst ausmacht. Dies möge an der allgemeingültigen Universalität des ästhetischen Urteils liegen, welches Greenberg, von Kants Auffassung abweichend, empirisch zu begründen versuchte: Zunächst erklärte er die Qualitätsbestimmung der Kunst als einen intellektualistischen Prozess, insoweit die empfangenen bildnerischen Werte vom Betrachter hineinprojiziert werden müssen, wodurch die ästhetischen Qualitäten des zu beurteilenden Kunstwerkes erst erkannt werden können. Dann fasste er diesen Prozess im Sinne eines empiristischen Gedankengangs, nach welchem es eine notwendig determinierte Entsprechung zwischen den verschiedenen Gattungen der Künste und deren spezifischen Wahrnehmungsorganen gäbe, so dass die Erkenntnis der Künste und damit deren Qualitätsbestimmung eine Funktion der Sinneserfahrung ist. Die Qualität der Kunst sei also das, was ohne Vermittlung anderer Instanzen allein den Sinnen in der Empfindung gefällt, was an sich eine sensualistische, mit Kants Theorie des ästhetischen Geschmacksurteils voll-

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kommen inkonsistente Determination ist. Um diese Behauptung zu untermauern, formulierte Greenberg dann, der Geschmack sei durch Erfahrung, die einzige Instanz, an die man im Bereich der Kunst appellieren könne, zu entwickeln. Damit wird die Beurteilung künstlerischer Qualität zu einer rein perzeptuellen Angelegenheit nach den sprachlich unvermittelbaren Kriterien einer zu erwerbenden Kunstkennerschaft. Die theoretische Inkonsistenz sowie die unversöhnliche Zwiespältigkeit innerhalb des ästhetischen Modells Greembergs erweisen sich als Produkt eines eklektizistischen Versuchs, die Inkompatibilität zwischen bereits entwickelten und abgeschlossenen aber miteinander unverträglichen, ästhetisch-philosophischen Denkmodellen zu überwinden, um ein ästhetisches System zu bilden, das jedoch unter dem Anschein philosophisch-theoretischer Neutralität eine spezifische Ästhetik favorisierte. Nichtsdestotrotz vermochte diese kunsttheoretische Konstruktion trotz ihrer mit den Jahren offensichtlich gewordenen Dissonanz ein mächtiges Kunstprogramm zu etablieren, das den ästhetischen Diskurs mehrerer Künstlergenerationen im US-amerikanischen Kontext determinierte und damit ihr Schaffen beeinträchtigend oder fördernd beeinflusste.

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F AZIT

Greenbergs kunsttheoretische Versuche, verbindliche Kriterien hinsichtlich des Wesens und der Natur der Kunst zu begründen, konsolidierten eine mächtige Kunstanschauung im New Yorker Kunstsystem, die nicht nur das Denken über Kunst, sondern auch die Produktion von Kunst selbst beträchtlich beeinflusste. Die breite Etablierung der New York School diente dabei als Nachweis für die Richtigkeit und Tauglichkeit seines kunsttheoretischen Modells, insoweit die frühzeitige Verteidigung und Theoretisierung von deren Ästhetik kunsttheoretische Gründe anführten, welche den künstlerischen Wert, die Gültigkeit und die Entwicklungsfähigkeit dieser Kunstrichtung im Sinne einer Notwendigkeit der Kunstgeschichte a priori zu behaupten wussten, was die Aussagekraft des Modells im Kunstsystem garantierte. So erwiesen sich die Kriterien, dank derer diese Kunst wahrgenommen wurde, als konstitutive Instanzen der Erkenntnismatrix des Modells. Demnach ist die Einheit stiftende Kraft von Greenbergs Kunstmodell eine programmatische Begrenzung der Erkennbarkeit der Kunst nach den Bedingungen seiner eigenen Normativität.201

201 Siehe: Jones 2005, S. 303-343.

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Die Durchsetzung der regulativen Prinzipien von Greenbergs Kunstmodell, dessen theoretisches Grundfundament – entgegen der selbstdefinitorischen Behauptung eines unabhängigen amerikanischen Modernismus – auf den linksoppositionellen, trotzkistischen Anschauungen der dreißiger Jahre fußt, erwies sich als ein wachsender Internalisierungsprozess im New Yorker Kunstsystem, in dem sich diese Prinzipien wirkungsvoll zu aktualisieren vermochten. Vor ihrer Übernahme als diskursives Instrument des Kunstsystems spiegelten sie sich schon als regulierendes Instrument im Produktions- und Rezeptionsprozess individueller Kunsterscheinungen wider, bei denen ihr ästhetisches Wertesystem notwendig bestimmend vorkam, worin die Verwirklichung kunsthistorischer Notwendigkeit aufzutreten schien. Im nachfolgenden Internalisierungsprozess im New Yorker Kunstsystem gelang es dem Modell – auch von historischpolitischen Faktoren begünstigt –, sein Wertesystem als wirkungsfähigen Diskurs über seine kunsttheoretische und zeitlich determinierte Bedingtheit hinaus zu etablieren, so dass es sich sogar aus seinem Ursprungsbereich ausdehnen konnte, um Gültigkeit bei der Wahrnehmung von Kunst im Allgemeinen zu beanspruchen.202 So beschränkte sich der Einfluss Greenbergs nicht allein auf Künstler, Kunstkritiker oder Kunstkenner. Bekannt ist auch seine enorme Einwirkung auf Editoren, Händler, Galeristen, Kuratoren, Sammler, die in Greenbergs Modell die argumentativen Leitlinien fanden, um kritische Kategorien, schematische Abgrenzungen und Qualitätsurteile zu erstellen.203 Nichtsdestotrotz verlor dieses mächtige Kunstmodell mit dem ästhetischen Wandel innerhalb der Kunstwelt allmählich an Gültigkeit, bis seine Autorität zusammenbrach. Dabei spielte die Kunst der sechziger Jahre eine entscheidende Rolle; denn in ihrer Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Erbe Greenbergs löste sie eine ästhetische Umwälzung aus, welche die gesamte Ordnung der Kunst veränderte.

202 Ein bedeutendes Beispiel dafür ist der Fall von zwei Akquisitionen durch das Metropolitan Museum of Art: Als Thomas Hoving während seiner Amtszeit als Direktor dieser Institution zwei Gemälde des spanischen Barockmalers Diego Velázquez anzukaufen beschloss, waren seine Kriterien zur Bestimmung von deren Qualität als Garant von Echtheit durch Greenbergs sensualistisches Verfahren des ästhetischen Urteils naheliegend beeinflusst, worin die Etablierung der ästhetischen Auffassungen Greenbergs in breiteren Kreisen der Kultur deutlich zu erkennen war. Siehe: Danto 2000, S. 125. 203 Jones bezeichnet das als den mächtigen, nachhaltigen „Greenberg-Effekt“. Siehe: Jones 2005, S. 343.

Marcel Duchamp und der avantgardistische Topos

In Paris, im Klima der ästhetischen Umwälzungen durch Fauvismus, Kubismus und Futurismus, begann der aus der Normandie stammende, junge Künstler Marcel Duchamp seine künstlerische Ausbildung. Nach seinem Umzug in die Stadt 1906 erfolgte rasch seine Einbindung in die Pariser Kunstszene und deren Aktivitäten, was zunächst durch die Vermittlung seiner älteren Brüder geschah, die in Paris als Künstler – als schaffende Anhänger des Kubismus – tätig waren.1 Bevor er um 1912 seine vom Kubismus ausgehende Bildsprache, eine kubistische Konfiguration mit vom Futurismus angeregter, bildlicher Aufnahme suggerierter Bewegungsabläufe, entwickelte, setzte er sich mit den Stilrichtungen seiner Zeit auseinander.2 Zugleich versuchte er sich in öffentlichen Kunstveranstaltungen und Salon-Ausstellungen: Von 1908 bis 1912 beteiligte sich Duchamp wiederholt an dem Salon d’Automne, dem Salon des Indépendants, der Société Normande de Peinture Moderne sowie an der Ausstellung der Section D’Or im

1

Duchamps Brüder, Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon, gehörten zum Kern der sogenannten Puteaux-Gruppe. Diese Gruppe war ein Kreis kubistischer Künstler, die, von den Gründern des Kubismus Picasso und Braque getrennt, zur intellektuellen und formalen Entwicklung dieser Kunstrichtung beitrugen. Das regelmäßige Treffen in Jacques Villons Haus im Pariser Vorort Puteaux diente diesen Künstlern dazu, die von Picasso und Braque eingeführte Richtung zu analysieren und zu diskutieren, um sie auf theoretischer Ebene zu untermauern, was die eigene stilistische Einheitlichkeit sichern sollte. Siehe: Cottington, David: Cubism and its Histories, Manchester/New York 2004, S. 141-146.

2

Siehe: Mink, Janis: Marcel Duchamp 1887-1969. Kunst als Gegenkunst, Köln 2004, S. 11-27.

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Jahr 1912.3 Dieses Jahr erwies sich als ein Wendepunkt in seiner künstlerischen Karriere, denn nach der aus puristischen Gründen ausgesprochenen Aufforderung der Jury des Salon des Indépendants von 1912, sein für die diesjährige Ausstellung eingereichtes Bild Nu descendant un escalier no. 24 von 1912 zurückzuziehen, unterzog Duchamp seine ästhetischen Vorstellungen einer gründlichen Revision, was er als „Befreiung von der Vergangenheit“ empfand.5 Vor dem Hintergrund dieser kontextuellen Situierung im Kern der historischen Avantgarde, der Grundvoraussetzung für die Herausbildung von Duchamps Kunstposition, beschäftigt sich dieses Kapitel mit dessen Werk und Wirken. Marcel Duchamps kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen der Kunst sowie mit den Bedingungen von deren Produktion, Rezeption und Vermittlung löste eine ästhetische Revolution aus, welche die Kunstauffassung der Neo-Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre massiv beeinflusste. Um ein Erklärungsmodell zu Duchamps Kunstpraxis und dessen ästhetischer Gedankenwelt herzustellen, werden in diesem Kapitel die wichtigsten Aspekte seines Schaffens ausführlich dargelegt. Die Züge seiner künstlerischen Entwicklung sind daher im Rahmen ihres kunsthistorischen Kontextes bei genauer Untersuchung ausgewählter Werke eingehend zu erforschen, nicht nur um die Radikalität seiner künstlerischen Praxis zu verdeutlichen, sondern auch um die ästhetischen Voraussetzungen zu erschließen, welche das Aufkommen eines solchen Kunstprogramms ermöglichten. Dabei sollen die Grundzüge der Position Duchamps, die für die Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung voraussetzend waren, durchleuchtet werden. Diese Betrachtung wird von einer kunsttheoretischen Analyse untermauert, welche die ästhetische Grundlage von Duchamps Kunstpraxis zu ergründen sucht, um eine systematische Darstellung der Funktion, der Konstitution und der zugrundeliegenden Gesetzlichkeiten seines Kunstmodells zu gewinnen, was für die Bestimmung seiner Wirkung von erheblicher Bedeutung ist.

3

Vgl. Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 1992, S. 19-36.

4

Marcel Duchamp, Nu descendant un escalier no. 2, 1912, Öl auf Leinwand, 146 x 89

5

Daniels 1992, S. 28.

cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia.

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1

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B RUCHES

Das Erbe der ästhetischen Auflehnung, welche die historische Moderne gegen den akademischen Lehrbetrieb institutionalisierter Kunst führte, verwandelte sich mit der Radikalität der künstlerischen Tendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum definitorischen Markenzeichen einer Positionsnahme in der Kunst, deren ästhetische Größe gerade aus der Progressivität ihrer der Tradition entgegengesetzten Kunstauffassung resultierte.6 In diesem Zusammenhang erwies sich das Moment intendierter Neuerung der Avantgarde als ein programmatisches Postulat gegenüber dem, was als Tradition identifiziert wurde. Hinter dieser Gegenbehauptung stand das konstituierende Prinzip einer auf Veränderung beruhenden Kunstpraxis, deren Grund in der Geschichte ihrer eigenen Entwicklung verankert war, insoweit in ihrer kontinuierlichen Entfaltung das Erhalten der normierungsunabhängigen Kondition ihres Wesens perpetuiert wurde.7 Adorno brachte die implizite Notwendigkeit dieser Haltung mit der Aussage zur Sprache: „Die Autorität des Neuen ist die des geschichtlich Unausweichlichen.“8 Die avantgardistische Neuerung wich jedoch ihrer traditionsfeindlichen Bestimmung entsprechend von der Auffassung eines über Jahre hinweg vollzogenen Stil- oder Gattungswandels ab, der geschichtlich als Stil- bzw. Gattungsentwicklung zu erachten war. Bei der avantgardistischen Neuerung ging es also nicht um die Fortentwicklung innerhalb eines vorab Gegebenen, sondern um das Durchbrechen einer Tradition bzw. um das Moment des Bruches, das von dem einzelnen Künstler9 und seinen Verbündeten jenseits der etablierten Kunstanschauungen durchgeführt wurde.10 So war die Besonderheit des avantgardistischen Bruches hinsichtlich früherer Brucherscheinungen seine Radikalität gegenüber dem, was bis zu seinem Aufkommen galt.11 Aus der Betrachtung der Grundzüge der historischen Avantgardebewegungen lässt sich die Struktur einer Kunstpraxis entnehmen, die als sich konfigurierende Erscheinung innerhalb eines gegebenen, historischen Kontextes von der

6

Siehe: Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 81-86.

7

Siehe: Liessmann, Konrad Paul: „Theodor W. Adorno und die Wahrheit der ästhetischen Avantgarde“, in: ders., Philosophie der Modernen Kunst. Eine Einführung, Wien 1999, S. 123-134, hier S. 128-129.

8

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 38.

9

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in dieser Studie, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mit gemeint.

10 Vgl. Bürger 1974, S. 81-82. 11 Vgl. ebd., S. 82-84.

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freien Willkür und der Kausalität des Willens ihrer Akteure generiert wurde. Darin sind die Prinzipien ihrer geschichtlichen Definition zu finden. So war das Aufkommen der Avantgarde in Paris ein konzentriertes System, innerhalb dessen die Züge dieser künstlerischen Tendenz in ihren verschiedenen Ausprägungen verdinglicht erschienen, wobei der Notwendigkeit der Avantgarde entsprechend Gegenströmungen innerhalb des als avantgardistische Strömung Etablierten auffindbar waren. Dies lässt sich deutlich anhand von Duchamps künstlerischer Praxis und Haltung innerhalb der damaligen Kunstwelt beobachten, als die allmähliche AkademiAbbildung 1: sierung des Kubismus in Paris zutage trat, Marcel Duchamp, Nu descendant un was entscheidend zur Vollendung des escalier no. 2, 1912, Öl auf Leinwand, avantgardistischen Bruches beizutragen 146 x 89 cm. vermochte.12 In diesem Zusammenhang erwies sich die Ablehnung von Duchamps Gemälde Nu descendant un escalier no. 2 durch die Jury des Salon des Indépendants von 1912, bei deren Beschluss Künstler der kubistischen Puteaux-Gruppe entscheidend mitwirkten,13 als ausschlaggebend, denn dadurch wurde die akademische Geschlossenheit eines puristisch gewordenen Kubismus offensichtlich, was an sich einen eklatanten Widerspruch darstellte: Was einige Jahre zuvor als die radikalste Bewegung der Moderne begann, wurde zum konservativen Stil, dessen Zeichencode und Bildsprache sich programmatisch genau ausformulieren ließen.14 Sich dieser eine neue Tradition etablierenden Akademisierung entge-

12 Zur Akademisierung des Kubismus bzw. seiner Konsolidierung und seiner Auflösung siehe: Cottington 2004, S. 137-161. 13 Vgl. Tomkins, Calvin: Marcel Duchamp. Eine Biographie, München/Wien 1999, S. 100. 14 Die kubistischen Maler und Theoretiker Albert Gleizes und Jean Metzinger, die in der kubistischen Puteaux-Gruppe eine führende Rolle innehatten und für den Salon von 1912 eine einheitliche Ausstellung der Gruppe in einem großen Saal zusammenstellen wollten, waren zu dieser Zeit dabei, in ihrem gemeinsamen Buch Du Cubisme eine theoretische Untermauerung des Kubismus zu veröffentlichen. So verstanden sie im

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gensetzend, aufgrund derer sein Bild von dem Salon, der als bedeutendes Forum der Avantgarde in Paris galt, ausgeschlossen werden musste, begann Duchamp die Grenzen der ihn betreffenden Kunstpraxis neu zu definieren.15 Denn der Kubismus, der in seiner Herauslösung aus allen funktionellen Bezügen zu einer Selbstständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen gelangt war, vermochte sich als institutionalisiertes Teilsystem der Gesellschaft – auf der Basis einer nicht zweckrational-gebundenen Sinnlichkeit mit ästhetischer Autonomie – zu behaupten, was jedoch dem Grund einer jeden radikalen bzw. traditionsfeindlichen Strömung in der Kunst gegenüberstand.16 Infolgedessen bezog Duchamp eine Gegenposition, die, ohne die ästhetische Kontingenz des Kubismus als Stil an sich zu kritisieren, Kunst als bedingtes System der bürgerlichen Gesellschaft hinterfragte, indem er die Mittel der angewandten Ästhetik jenseits der tradierten Bestimmungen von deren Herausdifferenzierung radikal ausdehnte. Dies führte zur Überführung der durch eine hermetische Bildsprache vom Leben abgesonderten Kunst in die Lebenspraxis,17 was sich zunächst dadurch

Zuge ihres puristischen Unterfangens Duchamps Gemälde als Affront gegen die Richtlinien des Kubismus. Ihrer Meinung nach stand es dem Futurismus viel zu nahe. Sie wollten nämlich die Position des Kubismus gegenüber anderen Richtungen deutlich definiert wissen. Siehe: Daniels 1992, S. 28, Tomkins 1999, S. 100-101 und Zimmermann, Michael: „Kritik und Theorie des Kubismus. Ardengo Soffici und Daniel-Henry Kahnweiler“, in: Prenez garde à la peinture! Kunstkritik in Frankreich 1900-1945, Berlin 1999, S. 425-480, hier 435-437. 15 Dazu äußerte Duchamp: „Der Vorfall [die Ablehnung des Salons] löste in mir, ohne dass mir das sogleich klar war, eine komplette Revision meiner Werte aus.“ Diese Revision erwies sich als äußerst bedeutend, denn sie brachte Duchamp zu einer „völligen Befreiung von der Vergangenheit.“ Weiter erklärte der Künstler: „Ich sagte mir: Na, wenn das so ist, dann kommt es nicht in Frage, einer Gruppe beizutreten, man kann nur mit sich selbst rechnen, man muss allein stehen.“ Zitiert nach: Daniels 1992, S. 28. 16 Siehe: Bürger 1974, S. 81-86. 17 Dies entspricht einer der zentralen Thesen der Theorie der Avantgarde von Peter Bürger, nämlich der Überführung von Kunst ins Leben: „Mit der historischen Avantgardebewegung tritt das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein. [...] Erst nachdem im Ästhetizismus die Kunst sich gänzlich aus allen lebenspraktischen Bezügen gelöst hat, kann einerseits das Ästhetische sich ‚rein‘ entfalten, wird aber andererseits die Kehrseite der Autonomie, die gesellschaftliche Folgenlosigkeit, erkennbar. Der avantgardistische Protest, dessen Ziel es ist, Kunst in Lebens-

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äußerte, dass Duchamp neue Bezüge zur Kunst sowohl außerhalb der etablierten Pariser Künstlerkreise als auch außerhalb der bildenden Kunst überhaupt suchte.18 Dabei spielten zwei Faktoren eine zentrale Rolle: Der erste ist Duchamps zunehmende Geringschätzung einer ‚retinalen‘ bzw. einer strikt visuell bezogenen Kunst, unter der er eine Kunst verstanden wissen wollte, die ohne jegliche intellektuelle Vermittlung allein an die sinnliche Wahrnehmung gerichtet sei: „Ich war an Ideen interessiert, nicht bloß an visuellen Produkten.“19 Dies entspricht allerdings einer kritischen Meinung, der mehrere Künstler der Zeit zustimmten.20 Der zweite Faktor ist Duchamps zwiespältiges Interesse an der Funktion und den Möglichkeiten der Sprache, mittels derer es ihm gelang, sich endgültig von den traditionellen Formen der bildenden Kunst zu lösen.21 Dementsprechend ist der Stellenwert der Sprache in Duchamps Werk sehr hoch. Bereits in seinen frühen Arbeiten zeigte er ein großes Interesse an der Beziehung zwischen dem Titel als einer sprachlichen Instanz des Werkes und dem von diesem bezeichneten Gegenstand, was seinen Ursprung in Duchamps Vor-

praxis zurückzuführen, enthüllt den Zusammenhang von Autonomie und Folgenlosigkeit.“ Bürger 1974, S. 28-29. 18 Siehe: Mink 2004, S. 29-41. 19 Marcel Duchamp im Interview mit James Johnson Sweeney 1946, in: Stauffer, Serge (Hg.): Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Stuttgart 1992, S. 36-39, hier S. 37. Laut Duchamp war es Courbet gewesen, der die Kunst zu einer ‚retinalen‘ Angelegenheit gemacht habe: „Courbets Revolution war hauptsächlich eine visuelle Revolution, was Sie eine retinische Revolution nennen. [...] Er insistierte darauf, ohne es überhaupt zu erwähnen, dass die Malerei zum Anschauen und nur zum Anschauen da ist und die Reaktionen visuell oder retinal sein sollten, schiere physische Reaktion vor einem Gemälde. Und das ist so weitergegangen seit Courbet, ist heute, wenn ich das sagen darf, in vogue.“ Marcel Duchamp im Interview mit George Heard Hamilton 1959, in: Stauffer 1992, S. 177. 20 Auch andere Künstler der Zeit waren dieser kritischen Auffassung: Bekanntlich befanden sich führende Figuren der klassischen Moderne wie Kandinsky, Malewitsch und Mondrian auf der Suche nach einer geistigen Kunst über die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung hinaus, was sich auch in dem Buch Du Cubisme von Gleizes und Metzinger findet. Dort wird impressionistische Kunst geringschätzig dargestellt, denn in dieser „herrscht mehr noch als bei Courbet die Retina über das Hirn.“ Siehe: Tomkins 1999, S. 73-74. 21 Vgl. Streitberger, Alexander: Ausdruck-Modell-Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 2004 (Diss. Phil. Köln 2002), S. 46-47.

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liebe für Literatur haben mag.22 In diesem Zusammenhang waren der Dichter Jules Laforgue und der Schriftsteller und Philologe Jean Pierre Brisset von Bedeutung. Für das Werk des späten Symbolisten Jules Laforgue interessierte sich Duchamp während seiner Pariser Jahre in hohem Maße, was sich in seinem Schaffen deutlich widerspiegelte: Nicht nur tauchen Themen und Titel des Dichters in Duchamps Werk auf, sondern auch übten sein Nihilismus, seine Ironie und sein zynischer Humor auf Duchamp einen großen Reiz aus.23 Ebenso war für Duchamp der autodidaktische Philologe Jean Pierre Brisset eine wichtige Referenzfigur, dessen sprachliche Erfindungskraft Duchamps philologische Neugierde besonders weckte: Die philologischen Analysen Brissets, für deren Assoziationsfreiheit sich Duchamp in erster Linie interessierte, gründeten auf einem komplexen System von Alliterationen, Homophonien, Klangwiederholungen und Wortspielen, mittels derer Brisset eine notwendige Verbindung zwischen Sprachklang, Gedanken und bezeichnetem Objekt zu belegen suchte.24 Duchamps konkrete Auseinandersetzung mit Sprache begann jedoch erst um 1912: „At that time [spring 1912] I was becoming literary. Words interested me and the bringing together of words to which I added a comma and ‚even‘, an adverb which makes no sense. [...] When I did it, I had no idea of its value.“25 Damit markierte Duchamp den Beginn seines Bruches mit den tradierten Mitteln der Ästhetik zwecks einer neuartigen Werkkategorie, deren ästhetische Einheit durch Sprache determiniert wird. Dieser Ausstieg aus den traditionellen Ausdrucksformen der bildenden Kunst wurde von einem konkreten Ereignis im Jahr 1912 entscheidend angeregt, welches Duchamps Hinwendung zur Sprache und deren Möglichkeiten als Funktion der bildenden Kunst bestimmte. Es handelte sich um die Begegnung mit dem

22 Vgl. Tomkins 1999, S. 108. 23 Zu Duchamps Rezeption von Laforgues Werk erklärt Tomkins, dass sogar viele der Zeichnungen, die Duchamp für Le Rire und andere satirische Zeitschriften verfertigte, Themen Laforgues deutlich widerspiegeln. Diese Rezeption ist folgerichtig in Duchamps formalen Werken zu erkennen: Das Gemälde Trauriger Jüngling in einem Eisenbahnzug hieß ursprünglich Pauvre Jeune Homme M; das ist der Titel eines Klageliedes Laforgues. So geht die Idee zu Akt eine Treppe herabsteigend auf eine Zeichnung zurück, die Duchamp für Laforgues Gedicht Encore à cet astre im Rahmen einer geplanten Reihe von Zeichnungen zu Gedichten des Dichters anfertigte. Siehe: Tomkins 1999, S. 108-110. 24 Vgl. Streitberger 2004, S. 52-53. 25 Zitiert nach: Samaltanos, Katia: Apollinaire. Catalyst for Primitivism, Picabia and Duchamp, Michigan 1984, S. 65.

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Werk des französischen Schriftstellers Raymond Roussel:26 Im Juni 1912 besuchte Duchamp zusammen mit Picabia, dessen Frau Gabrielle Buffet-Picabia und Apollinaire die Theatervorstellung des Romans Impressions d’ Afrique27 von Roussel, was ihn zum Überdenken tradierter ästhetischer Auffassungen führte.28 Diesbezüglich erklärte der Künstler in den vierziger Jahren: „Dieses Stück [...] half mir auf einer Seite meines Ausdrucks in hohem Maße. Ich sah plötzlich, dass ich Roussel als einen Einfluss benutzen konnte. Ich spürte, dass es für einen Maler viel besser war, von einem Schriftsteller beeinflusst zu werden als von einem anderen Maler. Und Roussel zeigte mir den Weg. [...] Dies ist die Richtung, welche die Kunst einschlagen sollte: mehr hin zu einem intellektuellen Ausdruck als zu einem tierischen Ausdruck. Ich bin angewidert von der Bezeichnung ‚bête comme un peintre‘ – dumm wie ein Maler.“29

26 Zu Roussel, seinem Werk und seiner literarischen Wirkung siehe: Volmer, Astrid: Ästhetische Reflexionen in Raymond Roussels Romane Impressions d’ Afrique und Locus Solus, Bonn 1995 (Diss. Phil. Münster 1995) und Weller, Claudia: Zwischen Schwarz und Weiß. Schrift und Schreiben im selbstreferentiellen Werk von Edgar Allan Poe und Raymond Roussel, Frankfurt am Main 2001 (Diss. Phil. Bochum 1998). 27 Roussels Roman Impressions d’ Afrique erschien 1910 in Paris. Zum Roman verfasste der Autor eine Bühnenfassung, die 1911 auf eigene Kosten im Theater Femina inszeniert wurde. Im Jahr darauf ließ Roussel eine überarbeitete Fassung mit professioneller Besetzung im Theater Antoine aufführen. Das Stück, das wiederum von seinem Autor finanziert werden musste, wurde vier Wochen lang gespielt, ohne außerhalb der Pariser Avantgarde positive Resonanz zu finden. Siehe: Tomkins 1999, S. 110-111 und Weller 2001, S. 20-21. 28 Vgl. Mink 2004, S. 29. 29 Im selben Interview erklärt Duchamp weiter: „Roussel war ein weiterer großer Enthusiasmus von mir in den frühen Tagen. Der Grund, weshalb ich ihn bewunderte, war, dass er etwas produzierte, das ich noch nie gesehen hatte. Das ist das einzige, was meinem innersten Wesen Bewunderung entlockt – etwas völlig Selbständiges, das nichts mit großen Namen oder Einflüssen zu tun hat. Apollinaire zeigte mir als erster Roussels Werk. Es war Poesie. Roussel glaubte, er wäre ein Philologe, ein Philosoph und ein Metaphysiker. Doch er bleibt ein großer Dichter. Es war grundlegend Roussel, der für mein Glas Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar verantwortlich war. Aus seinen Impressions d’ Afrique enthielt ich den allgemeinen Zugang.“ Marcel Duchamp im Interview mit James Johnson Sweeney 1946, in: Stauffer 1992, S. 38.

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Das Werk des exzentrischen Schriftstellers und Dichters Raymond Roussel vermochte aufgrund seiner verblüffenden, in äußerst verschachtelten Handlungsabläufen gestalteten Bildsprache, welche eine in sich geschlossene Phantasiewelt konstituiert, nicht nur Duchamps Beachtung zu erringen, sondern auch die eines engen Kreises der Pariser Avantgarde, während ihm die Anerkennung des bürgerlichen Massenpublikums und der literarischen Kritik völlig verwehrt blieb.30 Die hoch verwickelten Fiktionen Roussels werden von seiner systematisch angewendeten Schreibmethode generiert, was heißt, dass die Genese des Textes in seinem eigenen Schreibverfahren besteht, welches seinerseits einer strengen, vorab definierten Methode folgt.31 Roussels Schreibverfahren basiert nämlich auf weit definierten, sprachlichen Funktionen, zu denen als grundlegendes Instrumentarium die Homophonie, die Doppeldeutigkeit und die Bedeutungsverschiebung gehören, aus welchen unzählige Wortspiele mit eigener Dynamik resultieren.32 Das Entstehungsverfahren besteht darin, zwei willkürlich verfasste Sätze, die voneinander nur in einem zwar ähnlichen aber unterschiedlichen Lexem abweichen, als Rahmenkonstruktion bzw. Anfang und Ende einer Erzählung festzulegen, deren Entwicklung die erzwungene Verbindung beider homophonen Sätze bestimmt, so dass der gesamte Text eine willkürliche Brücke innerhalb einer gedichteten Homophonie darstellt. Dieses System erzeugt wiederum auf der Basis von Bedeutungsverschiebung, Doppeldeutigkeit und Homophonie eine sich selbstregulierende Mechanik, welche die spezifische Entwicklung der Handlung aufbaut.33 Damit wird die Selbstreferentialität einer Literatur zum Ausdruck gebracht, die ihre eigene Genese zum Thema hat; es wird also die Autonomie der Sprache ihrem Inhalt gegenüber als regulierendes Entwicklungsprinzip einer selbstständigen Ästhetik behauptet.34 Das impliziert an sich den Rückzug des Autors hinter die Dynamik seines eigenen, sich selbst regulierenden Textes. Die Komplexität der ineinander verschachtelten Handlungsabläufe, die in einer Theatervorstellung zu verblüffenden, unerwarteten Darbietungen führte, durfte nicht nur dem bürgerlichen Publikum als Zumutung erscheinen, sondern auch der Pariser Avantgarde, die im Gegensatz zum breiten Publikum von dem mächtigen Überraschungsmoment der Aufführung begeistert war.35 „Das war

30 Vgl. Volmer 1995, S. 17-23. 31 Vgl. Weller 2001, S. 31. 32 Vgl. Streitberger 2004, S. 51-52. 33 Siehe: Volmer 1995, S. 37-41 und Weller 2001, S. 29-32. 34 Siehe: Weller 2001, S. 22-23, 27-28. 35 Vgl. ebd., S. 21.

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absolut der Gipfel des Ungewöhnlichen“ erklärte Duchamp Jahre später hinsichtlich Roussels Inszenierungen.36 Seine Begeisterung über Roussels Werk ging allerdings über die unmittelbare Ebene der verblüffenden Theaterdarstellung hinaus. Denn er fand in Roussels Werk nicht nur die durch Wortspiel, Homophonie und Bedeutungsverschiebung generierte Selbstreferentialität einer radikalen Literatur, sondern auch die Möglichkeit umgesetzt, in der Kunst jenseits ihrer sichtbaren Kontingenz neue, von der Tradition unabhängige Sinnzusammenhänge mittels der Sprache zu erzeugen.37 1.1 Von der Sprachanwendung zur vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit Roussels Sinn generierendes Instrumentarium verkörpert eine spezifische Einstellung gegenüber Sprache und Wirklichkeit; denn der durch Wörter vermittelte Inhalt seiner literarischen Konstruktionen gründet auf einer zur reflektierten Bedeutung unfähigen Sprachmaschinerie, die ein objektives Erfassen von Wirklichkeit und Sinn kategorisch verneint.38 Dieser negativen Haltung entsprach Duchamps Sprachskepsis, die nicht nur die welterschließende Funktion der Sprache, sondern auch deren Funktion als Kommunikationsmittel in Zweifel zog.39 In diesem Zusammenhang behauptete der Künstler: „Das ist eine Formel, an die ich überhaupt nicht glaube, dass die Sprache oder die Wörter auf exakte oder präzise Art all das übersetzen können, was auf der Welt wirklich passiert, das heißt, was unter dem Individuum und nicht außerhalb des Individuums passiert. [...] Die Übersetzung dieser Phänomene in Wörter ist sehr approximativ, mehr als approximativ, und oft falsch.“40

Dementsprechend war für Duchamp die Erfahrung von Sinn als sprachlicher Vorgang eine Funktion, in der sich die zwischenmenschliche Verständigung sowie das Erfassen von Wirklichkeit unbefriedigend vollziehen. Das impliziert, dass die Bedeutung, die Wörtern, Sätzen und Diskursen in der Sphäre des durch

36 Zitiert nach: Mink 2004, S. 30. 37 Vgl. Streitberger 2004, S. 77, Anm. 120. 38 Vgl. ebd., S. 52. 39 Zu Duchamps Sprachskepsis siehe: Schwarz, Arturo: The Complete Works of Marcel Duchamp, New York 2000, S. 31 und Streitberger 2004, S. 47. 40 Marcel Duchamp im Interview mit Georges Charbonnier 1960, in: Stauffer 1992, S. 101.

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Sprache vermittelten Sinnes zukommt, eine Form der Welterkenntnis ist, die nicht die immanente Totalität der Erfahrung von Sinn zu belegen vermag. Dieser Nihilismus hinsichtlich der welterschließenden Funktion der Sprache und deren kommunikativer Eigenschaft ermöglicht auf der anderen Seite eine andere Dimension von Sinn, die nicht von einer sinnhaften Ordnung von Aussagen abhängt, sondern von der freien Bestimmung einer ästhetischen Ordnung, in deren konstruierte Kontingenz notwendigerweise Sinn einfließt. So war Duchamps ästhetischer Rückgriff auf die Sprache die Suche nach innersprachlichen Funktionen, die bewusst nicht auf die Postulierung logischer, definitorischer oder synthetischer Sätze abzielten, sondern auf die Eröffnung neuer, von sich selbst bestimmter Bedeutungsebenen. Dabei spielten Anwendungsinstanzen wie Assoziation, Freiheit und Spiel eine sinnstiftende Rolle.41 Dementsprechend fand Duchamp in der von rationalen Voraussetzungen unabhängigen Sprachlichkeit des Poetischen eine ästhetische Ausdrucksmöglichkeit mit gestalterischer Wirkung: „Es ist eine Lust, mit Wörtern zu spielen, obwohl... Sie wissen ja, was ich von den Wörtern halte, aber sobald Sie Poesie hinzufügen oder zumindest das Wort der Kommunikation in ein poetisches Wort verwandeln, da akzeptiere ich, weil das Wort wie eine andere Farbe wird, [...] nicht bloß eine Kommunikation.“42 Dieses ästhetische, einer sinnbedingten Kommunikation entledigte Anliegen Duchamps rekurrierte nicht nur auf die assoziative Freiheit des Poetischen, sondern auch auf die offene Sinnhaftigkeit, derer Wortspiele mächtig sind. So formulierte der Künstler: „Für mich sind Wörter nicht bloß ein Kommunikationsmittel. [...] Sie [Wortspiele] sind eine Quelle der Anregung, sowohl wegen ihres tatsächlichen Klangs wie wegen unerwarteter Bedeutungen, die mit der Wechselbeziehung ungleichartiger Wörter verknüpft sind. Für mich ist das ein unendliches Feld des Vergnügens – und ist stets richtig zur Hand. Manchmal kommen vier oder fünf Bedeutungsebenen durch. Wenn Sie ein wohlvertrautes Wort in eine fremde Atmosphäre verlegen, so haben Sie etwas, das mit der Distorsion in der Malerei vergleichbar ist, etwas Überraschendes und Neues.“43

Die Auseinandersetzung mit Roussels Werk regte Duchamp zur Produktion eigener sprachlicher Konstruktionen an, die der Künstler nicht nur in den über sich

41 Vgl. Streitberger 2004, S. 49-50. 42 Marcel Duchamp im Interview mit Georges Charbonnier 1960, in: Stauffer 1992, S. 102. 43 Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 118119.

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selbst hinausweisenden, immer länger und rätselhafter werdenden Titeln seiner Werke einsetzte, sondern in denen er auch Gedankenfragmente aus Wortspielen, Homophonien, Wortverdrehungen und Alliterationen zum Ausdruck brachte. Daraus resultierte die kreative Materialsammlung für spätere Werke, bei denen die Sprache über die sichtbare Kontingenz des Werkobjektes hinaus zum bestimmenden Faktor wurde.44 Im Zuge dieser ästhetischen Verselbstständigung mittels der Sprache verfasste Duchamp vier Monate nach den Theateraufführungen Roussels in Paris ein zweiseitiges Manuskript, in welchem er eine Fülle von Eindrücken aus seinem Ausflug mit Picabia und Apollinaire im Jura-Gebirge niederschrieb.45 Dieses für Duchamps Befreiung von einer rein visuellen Kunst bedeutende Manuskript erweist sich als ein einer sinnbedingten Kommunikation entzogenes Kompositum aus Wortspielen, bildlichen Beschreibungen, erotischen Phantasien, rätselhaften Wortverdrehungen und Kontextverschiebungen, wobei eine produktionsästhetische Beziehung zu einem auszuführenden Werk, dessen Realisierung nicht unternommen wurde, erstellt wird.46 Damit generierte Duchamp neue, jenseits einer vernunftbedingten Sinnhaftigkeit verankerte Sinndimensionen im Bezug auf Kunstobjekte. Diesem Text folgte die Produktion zahlreicher Arbeitsnotizen und Entwurfsskizzen auf losen Papierfetzen,47 in denen Duchamp ein breites Spektrum semantischer und semiotischer Funktionen ausführte, wobei sowohl deskriptive und spekulative als auch handlungsverweisende Anwendungen auf vernunftwidriger bzw. nicht-rational artikulierter Basis zu finden sind. So werden in diesen Notizen, die Duchamp später in Faksimileform in der Boîte de 1914,48 der Boîte verte 193449 und der Boîte Blanche 196750 teilweise veröffentlichte,51 nicht nur hand-

44 Vgl. Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 1987, S. 135-160. 45 Zum Ausflug Duchamps im französischen Juragebirge und seiner Bedeutung für die Entwicklung von dessen Werk siehe: Mink 2004, S. 37-41 und Tomkins 1999, S. 131137. 46 Vgl. Tomkins 1999, S. 135-136. 47 Zum plastisch-zeichnerischen Charakter der Notizen und der damit verbundenen Bedeutung siehe: Steiner, Theo: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst, München 2006, S. 207-217. 48 Marcel Duchamp, Boîte de 1914, 1914, Edition (5 Exemplare), 16 Fotografien je 24 x 18 cm. 49 Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses célibataires même [Boîte verte], 1934, Edition (320 Exemplare), 94 Faksimiles in Pappschachtel 33,2 x 28,2 cm.

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werkliche Einzelheiten sowie Repräsentations- und Sinngehalt anderer Werke zur Sprache gebracht, sondern auch spekulativ-theoretische Überlegungen, fortschreitende Denkprozesse, hermetische Gedankenfragmente sowie auszuführende Ideen und Handlungen.52 Duchamp zeigte die Relevanz dieser Notizen bereits 1914, als er eine Auswahl von sechzehn Notizen traf und fünf Fotografien von jeder machen ließ, die er dann in Pappschachteln legte, woraus die limitierte Ausgabe der Boîte de 1914 entstehen sollte.53 Die aufwendige Faksimilierung von Arbeitszetteln, die sich einem vernunftbedingten Denken intendiert entziehen, deutet unverkennbar auf deren Stellenwert hin. Denn diese von Abbildung 2: Roussels sprachspielerischer Praxis beein- Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu flussten Notizen häuften sich als Kontroll- par ses célibitaires, même, 1915-1923, parameter in Duchamps verschiedenen Ar- Öl, Lack, Bleifolie auf Glasplatten, 277 beitsphasen, so dass sie nicht nur schöpfe- x 175,8 cm. rische Prozesse reflektieren, sondern auch semantische Dimensionen in die Werke einfügten, wie es sich in Duchamps Werk La Mariée mise à nu par ses célibataires, même, auch als Das Große Glas bekannt, deutlich beobachten lässt.54 Dieses zwischen 1912 und 1915 konzipierte Werk, dessen Realisierung Duchamp 1915 in Amerika begann, bis er es 1923 als „endgültig unvollendet“ erklärte, stellt einen sexuellen Prozess auf der Basis schematisch-abstrakter Abläu-

50 Marcel Duchamp, À l’infinitif [Boîte Blanche], 1967, Edition (150 Exemplare), 79 Faksimiles in Acrylglas-Schachtel 33,3 x 29 cm. 51 Siehe: Schwarz 2000, S. 598-603, 723-724, 867, Steiner 2006, S. 110-111, Tomkins 1999, S. 153, 166, 347. 52 Vgl. Steiner 2006, S. 212. 53 Vgl. Tomkins 1999, S. 166. 54 Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses célibitaires, même, 1915-1923, Öl, Lack, Bleifolie auf Glasplatten, 277 x 175,8 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia.

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fe dar.55 Dabei wird eine komplexe Maschinerie konstruiert, deren intendierte Willkürlichkeit und vernunftwidrige Sinnhaftigkeit mit den fiktionalen Konstruktionen Roussels vergleichbar sind, was bereits in der Rätselhaftigkeit und der phonetischen Doppeldeutigkeit des Titels zu erkennen ist.56 Zudem erweist sich dieses Werk trotz seiner bildlichen Verweise als visuell nicht entschlüsselbar, so dass die Bestimmung seines Repräsentationsgehalts und seiner Bedeutung notwendigerweise auf sprachliche Erklärungen angewiesen ist.57 Duchamp lieferte diese Erklärungen in seinen Notizen, die jenseits ihrer unmittelbaren Aufgabe, zugrundeliegende Gedanken zum Werk und seinem Inhalt abzugeben, als struktureller Bestandteil des Werkes konzipiert waren, wonach sie der materiellen Realisierung des Objektes gleichbedeutend sein sollten.58 Da Duchamp sein Großes Glas nie beendete, wurde das in katalogartiger Form geplante Sprachmaterial des Werkes auch nicht fertiggestellt, wobei der Künstler auf eine andere Lösung zur Behebung dieses Mangels rekurrierte: 1934, elf Jahre nach der Erklärung, das Große Glas sei endgültig unvollendet, gab Duchamp die Grüne Schachtel heraus, in welcher er eine bedeutende Auswahl der zwischen 1912 und 1915 angefertigten Notizen, die einen direkten Bezug zu dem Werk haben, aufwendig faksimiliert veröffentlichte. Die unter dem Titel La Mariée mi-

55 Die Fülle von Assoziationsmöglichkeiten, die das Große Glas anbietet, hat zu zahlreichen Interpretationen geführt. Manche von diesen bringen gewagte und schwer beweisbare Behauptungen vor, wie Arturo Schwarz’ Deutung: Duchamp habe auf verborgene alchemistische Symbole zurückgreifen wollen, um Inzestgefühle zu sublimieren. Schwarz 2000, S. 149-182. Diese wie andere Deutungen sprengen den Rahmen einer belegbaren Interpretation. Robert Lebel vermutet, dass Duchamp sich nicht auf ein festes Konzept beschränkte, sondern ständig an dem Werk arbeitete, so dass sich die Bedeutungen in mehreren Bereichen teilweise überdecken. Lebel, Robert: Duchamp. Von der Erscheinung zur Konzeption, Köln 1972, S. 93-104. Zu einer allgemein anerkannten Deutung siehe: Mink 2004, S. 73-84, Steiner 2006, S. 108-117. 56 Der Werktitel [dt.: Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar oder Die Braut von ihren Junggesellen entkleidet, sogar] erweist sich zweifellos als rätselhaft. Zudem enthält der Titel im Französischen eine phonetische Doppeldeutigkeit: Das französische Adverb même [dt.: sogar] stimmt phonetisch mit dem Prädikat m’aime [dt.: mich liebt] überein, was ähnlich den Sprachspielen Roussels verschiedene Deutungen suggeriert. Duchamp selbst behauptet, es handle sich um ein Adverb. Dabei bleibt die phonetische Doppeldeutigkeit bestehen. Siehe: Mink 2004, S. 81-84. 57 Vgl. Steiner 2006, S. 110. 58 Siehe: Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 117.

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Abbildung 3: Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses célibataires meme [Boîte verte], 1934, Edition (320 Exemplare), 94 Faksimiles in Pappschachtel 33,2 x 28,2 cm.

se à nu par ses célibataires même publizierte Schachtel59 beinhaltete vierundneunzig ungebundene Blätter, unter denen sich einige Abbildungen sowie siebenundsiebzig Notizen und Skizzen befanden, die meist in Zusammenhang mit dem Großen Glas standen, wobei auch andere Themen aufgenommen wurden.60 Die Faksimilierung der ausgewählten Notizen ermöglichte Duchamp, einerseits die dort ausgedrückten Gedanken und Formulierungen weiter zu vermitteln, und andererseits den formalen Charakter der Originalnotizen mit ihren durchgestrichenen Stellen, Nachbesserungen, Widersprüchen und all ihrer visuellen Akzidentalität genau zu reproduzieren, was angesichts der formalen Vielfältigkeit der Zettel eine äußerst aufwendige Arbeit darstellte.61 Mit der Veröffentli-

59 Es handelt sich um denselben Titel des Großen Glases. Nur wurde das Komma zwischen célibataires und même ausgelassen. Vgl. Tomkins 1999, S. 347. 60 Für die thematische Gliederung der Grünen Schachtel schlägt Michel Sanouillet eine Einteilung in dreiundzwanzig Kapitel vor, in denen auch Aspekte ohne direkten Zusammenhang mit dem Großen Glas einbezogen sind, die von erheblicher Bedeutung für das Schaffen Duchamps sind wie die Sprache, die Readymades und der Zufall. Siehe. Sanouillet, Michel (Hg.): The essential writings of Marcel Duchamp. Marchand du Sel, London 1975, S. 26-71. 61 Dazu erklärt Duchamp: „Ich wollte sie so exakt wie möglich wiedergeben. Ich habe also all diese Gedanken in derselben Tinte wie im Original lithographieren lassen. Um die Papiere von absolut gleicher Qualität zu finden, musste ich [in den] unwahrschein-

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chung der Grünen Schachtel wurde also sowohl der Bedeutungshorizont des Werkes beträchtlich erweitert, als auch eine neue, semantisch-semiotische Konstellation hinsichtlich der Funktion der Sprache und deren visueller Erscheinung als sinnstiftende Instanz der bildenden Kunst eröffnet.62 1.2 Die Kontingenz des Ausführbaren Duchamps Notizen konstruieren ein System linguistischer Komponenten, die innerhalb seiner Kunstproduktion eine sinngenerierende Metaebene in Bezug auf die stofflich umgesetzten Werkeinheiten bilden, so dass sie die einheitsstiftenden Eigenschaften der anschaulich erfahrbaren und als Ausdrucksträger fungierenden Gestalt der Werke zu bestimmen vermögen. Dabei zeigt die Gestalt der Werke ein stoffliches Moment als Gegenstand und zugleich ein transzendentes Moment als Wesenseinheit einer zum Ausdruck gebrachten Form, der verkörperten Manifestation einer ästhetischen Bestimmung, deren Notwendigkeit im immateriellen Bereich der Ideen liegt. Diese in Gestalt der Notizen transportierten Ideen stehen ihrerseits in einem komplexen Verhältnis zu den Gegenständen, Sachverhalten und Handlungen, die sie mit Sinngehalt versehen. Denn sie erstellen nicht nur eine bestimmende Relation zwischen dem in stofflicher Gestalt ausgeführten Werk und dessen interpretierbarem Sinngehalt, der bewusst auf einer vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit gründet – wie das Große Glas zeigt –, sondern auch zwischen spekulativen Konstruktionen der Vorstellung und deren möglicher

lichsten Ecken von Paris herumstöbern. Anschließend mussten dreihundert Exemplare aus jeder Lithographie unter Zuhilfenahme von Zinkschablone ausgeschnitten werden, die ich entsprechend dem Umriss der Originale zugeschnitten hatte. Es war eine Menge Arbeit [...].“ Zitiert nach: Daniels 1992, S. 105. 62 Die Bedeutung des angewendeten Faksimilierungsverfahrens ist nicht zu übersehen. Denn der beharrliche Versuch Duchamps, die Einmaligkeit seiner Notizen genau zu reproduzieren, deutet offenkundig darauf hin, dass es bei diesem Unterfangen nicht allein um die dort ausgedrückten Gedanken und Ideen ging. Es zeigt sich, dass die formalen Eigenschaften der Zettel nicht nur eine sinnbedingte Beziehung zu dem transportierten Inhalt haben, sondern auch zu sich selbst als Zeichenkörpern mit ästhetischer Autonomie. In diesem Zusammenhang sind die Untersuchungen DidiHubermans zu erwähnen, der die Bedeutung von Abdruck und Reproduktion in Duchamps Werk analysiert, wobei er in Hinblick auf handwerkliche Werkaspekte die „Singularität des Objektes“ einseitig betont. Siehe: Didi-Huberman, Georges: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 108-189.

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Ausführung als autonomen, mit Sinngehalt versehenen Entitäten ästhetischer Natur. Diese handlungsverweisenden, ausführbaren Gedankeneinheiten beruhen ihrerseits auf arbiträren Mutmaßungen hinsichtlich der phänomenologischen Kluft zwischen einem nicht gegenständlichen Sein und einem konkreten Seienden als Dasein eines Gegenstandes in der Zeit. So lautet der Inhalt einer jener ausführbaren Gedankeneinheiten, die in der Grünen Schachtel veröffentlicht wurde: „Eine Eiszange kaufen als Readymade.“63 In einer anderen heißt es: „Einen Rembrandt als Bügelbrett benutzen.“64 Insofern spekulieren diese ausführbaren Gedankeneinheiten mit der Möglichkeit einer ontologischen Verschiebung als Kunstpraxis, wonach ein bereits fertig vorgefundener Gegenstand, der auf ontologischer Ebene etwas Bestimmtes ist und zu einer konkreten Klasse gehört, etwas anderes werden kann, das Kunststatus verlangen darf. Duchamp brachte die implizite Logik dieser Gedankeneinheiten in einer Notiz aus dem Jahr 1913 präzise zum Ausdruck, indem er die Frage stellte: „Kann man Werke schaffen, die keine Kunst-Werke sind?“65 Damit spezifizierte er den Bereich einer ontologischen Bestimmung in Bezug auf die Ästhetik: die Ausführbarkeit einer ontologischen Verschiebung als Kunst, was mit der ideellen Funktion seiner Notizen übereinstimmt. Denn Duchamps Notizen bilden – wie bereits erklärt – eine ästhetische Beziehung sowohl zu Gegenständen, die als solche erfahrbar sind, als auch zu Möglichkeiten, die sich in Erfahrung manifestieren können. Dabei sind diese in ihrer Potenzialität gedachten Möglichkeiten ebenfalls als Werkeinheiten konzipiert, deren transzendentes Moment als Wesensbestimmtheit der erfahrbaren Form keine notwendige Erscheinung in stofflicher Gestalt aufzuweisen hat, um eine ästhetische Identität zu verkörpern.66 Dies bedeutet, dass die Notwendigkeit von deren Existenz immateriell ist. Demnach ist die stoffliche Realisierung eines von den Notizen spezifizierten Werkes eine relationale Funktion zwischen einem immateriell Notwendigen und einem stofflich Kontingenten, wobei sie derselben ästhetischen Entität entsprechen.

63 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von S. Stauffer: Stauffer, Serge (Hg.): Marcel Duchamp. Die Schriften, Zürich 1981, S. 101. 64 Zitiert nach: Stauffer 1981, S. 100. 65 Zitiert nach: Tomkins 1999, S. 157. 66 Die Tatsache, dass diese Notizen als Werkeinheiten mit eigener Identität konzipiert sind, bzw. dass sie nicht als private Arbeitsnotizen angesehen werden können, lässt sich deutlich daran erkennen, dass sie in der Grünen Schachtel bzw. in der Weißen Schachtel veröffentlicht wurden. Das heißt, sie bieten sich als ausführbare Werkeinheiten dem Rezipienten dar. Siehe: Faust 1987, S. 153 und Streitberger 2004, S. 59.

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Da den gegebenen Voraussetzungen zufolge die ideelle Bestimmtheit dieser auf der Möglichkeit ontologischer Verschiebung gegründeten Werkeinheiten immateriell ist, ist ihr stoffliches Moment – wenn sie tatsächlich ausgeführt werden – notwendigerweise das Resultat einer ästhetischen Determination Duchamps, kraft derer das materielle Stadium des Werkes erreicht wird. Die stoffliche Konkretisierung dieser Werkeinheiten erfolgt entsprechend ihrer ästhetischen Bestimmtheit dadurch, dass auf einen bereits fertig hergestellten Gegenstand zurückgegriffen wird, um eben die Funktion des stofflichen Momentes des Werkes zu erfüllen, ohne dass eine kausale Beziehung zu seiner spezifischen Stofflichkeit besteht. Dabei wird der Existenzstatus des angeeigneten und von seinem ursprünglichen Kontext abgesonderten Gegenstandes verwandelt, so dass er, von seiner ontologischen Kategorie entfremdet, zum Immanenzobjekt eines mit Sinngehalt versehenen Werkes wird, das an sich Verkörperung ästhetischer Autonomie ist. Das Resultat dieser Wesensverwandlung heißt ‚Readymade‘,67 das bereits fertig zum direkten Gebrauch vorgefundene Werk.68 Unter den Notizen der Grünen Schachtel befindet sich auch ein anderer Zettel, dessen paradoxer Sinngehalt auf die Möglichkeit verweist, das stoffliche Moment der Form über die kategorialen Gesetzlichkeiten ihrer Erscheinung hinaus zu entfremden, so dass die Möglichkeit, eine Erkenntnis über diese zu gewinnen, kein differenziertes Urteil zulassen würde: „Die Möglichkeit verlieren, 2 gleichartige / Dinge zu unterscheiden zu identifizieren – Domäne / der Farb 2 Farben, 2 Rockspitzen, / 2 Hüte, 2 belieb. Formen / zur Unmöglichkeit gelangen der Trans / Transfusion an genügendem visuellen Gedächtnis / um von 2 von einem Punkt zum anderen Gleichartigen zum anderem / den Eindruck in xxx im Ge-

67 In der vorliegenden Studie wird das Thema des ausgeführten Readymades und seines Konstitutionsverfahrens im Unterkapitel „Die ontologische Tiefe“ (S. 107-119) ausführlich behandelt. 68 Entsprechend der Ausführbarkeit dieser Werke führt Faust eine Distinktion zwischen ‚Readymades‘ als vollständig ausgeführten Werken und ‚Readymades-Konzepten‘ als auszuführenden Ideen ein, wobei er die Notwendigkeit beider Werkmöglichkeiten lediglich als eine Funktion der Sprache ansieht. Die ausführbaren Werkeinheiten erklärt er folgendermaßen: „Das Readymade-Konzept, eine Konsequenz aus der intellektuellen Begründung der Dingintegration in den Kunstkontext, benennt zum einen Möglichkeiten von Readymades, zum anderen ist es die alleinige, nur über das Medium Sprache erfahrbare Formulierung eines Readymades.“ Faust 1987, S. 136.

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dächtnis / zu transportieren. – Gleiche Möglichkeit / in der Domäne der Töne / mit Klängen; mit Gehirnlichkeiten.“69

Diese Notiz, die sich auch als eine ausführbare Handlung erweist, gründet auf der Einsicht einer vom Bewusstsein einer empirischen Wahrheit geprägten Erfassung der Dinge, die jedoch keinen Anspruch auf Wahrheit zu erheben vermag. Dies impliziert, dass die Abgrenzbarkeit der Dinge ihrem Wesen gegenüber zu einer Funktion ästhetischen Denkens werden kann, wonach entsprechend einer ästhetischen Determination die Wahrnehmung einer konkreten stofflichen Gestalt als Annahme für das Bestehen eines beliebigen Wesens fungiert. Die Konsequenz dieses Gedankens ist, dass auf kognitiver Ebene zwei gleichartige Gestalten jeweils zwei unterschiedliche Kategorien von Sein aufweisen können. Mit diesen ausführbaren Denkkonstruktionen eröffnete Duchamp neue Möglichkeiten im Bereich der Ästhetik: die ideelle Bestimmtheit ästhetischer Funktionen in Bezug auf das Kunstobjekt, woraus eine ontologische Verschiebung als Kunstpraxis über die Notwendigkeit kategorialen Seins hinaus entsteht. Darin liegt das Grundprinzip einer der einflussreichsten Kunststrategien Duchamps begründet, welche die Kunstgeschichte der Moderne umzuwälzen vermochte: das Readymade. 1.3 Die Kontingenz des generierten Zufalles Das von Roussels angewendete Prinzip des Zufalles als Generator literarischer Werke entsprach einem im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Frankreichs philosophischer Gemeinde auftretenden Skeptizismus hinsichtlich der zweckrationalen Gestaltung des Wahrheitsbegriffes. Ein Skeptizismus, der aus der Erkenntnis resultierte, dass die Parameter zur Erstellung aufschlussreicher Sinnzusammenhänge von der empirischen Zweckrationalität einer kontingenten bzw. relativen Anschauung abhängen.70 Wichtiger Auslöser dieser Betrachtungsweise

69 Von Duchamp zwischen 1912-1915 geschriebener, mit durchgestrichenen Stellen versehener und 1934 in der Grünen Schachtel veröffentlichter Zettel. Zitiert nach: Stauffer 1981, S. 101. 70 Zum Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich in Frankreich eine auf Kant beruhende, philosophische Strömung, auch Critique de la science genannt, welche die methodischen Grenzen eines an Francis Bacon und August Comte orientierten Positivismus aufzuweisen suchte. Grundmerkmal dieser Richtung ist die Hervorhebung der Unabdingbarkeit des schöpferischen Geistes zur Bestimmung des Gegenstandsbereiches der exakten Wissenschaften. Vgl. Heinzmann, Gerhard: Zwischen Objektkonstruktion

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waren die kritischen Ansichten des renommierten Naturwissenschaftlers Henri Poincaré, der behauptete, dass die wahrheitsbeanspruchenden Axiome der Physik und der Geometrie auf bloßem Übereinkommen beruhen würden, wonach der Wahrheitsgehalt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse fragwürdig sei.71 Dieser Zweifel an der Möglichkeit objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis veranlasste eine philosophische Debatte, an der sich mit öffentlichen Beiträgen die Société française de philosophie und die Revue de métaphysique et de morale beteiligten.72 In der Debatte spielte neben Poincaré der Mathematiker und Philosoph Édouard Le Roy eine wichtige Rolle. Denn er radikalisierte die kritischen Ansichten Poincarés dahingehend, dass die Naturwissenschaften zur Welterfassung nicht taugen würden, insoweit sie auf den willkürlichen Blick ihrer Forscher angewiesen seien.73 Demnach sei die Weltergründung eine von mangelhaftem Erkenntnisvermögen gekennzeichnete Angelegenheit, deren epistemologischen Schlussfolgerungen kausal unbestimmt sind, was das Wissen und seine Sinnzusammenhänge in die Nähe des Zufalles rückt. Diese intellektuelle Diskussion entging Duchamp nicht,74 der gegen Ende des Jahres 1912 eine Arbeit in der Bibliothek Sainte-Geneviève annahm, was ihm die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen ermöglichte. Bekanntlich befasste er sich mit Fachgebieten wie Mathematik und Physik und kam so in Berührung mit Schriften von Henri Poincaré, Pascal Esprit und Édouard Le Roy.75 Aus der Lektüre dieser Schriften gewann Duchamp seine erkenntniskritischen Überzeugungen, die in Übereinstimmung mit den nominalistischen Ansichten Le Roys der Auffassung verpflichtet waren, dass mit den allgemeinen Begriffen des Denkens jenseits ihres theoretischen Geltungsbereiches nichts Reales korrespondiert, so dass die Entsprechung von Begriffen und Dingen als Möglichkeit wirklichen Wissens nicht als wahr anzunehmen ist.76 Darauf gründet ein radikaler,

und Strukturanalyse. Zur Philosophie der Mathematik bei Jules Henri Poincaré, Göttingen 1995, S. 16. 71 Vgl. Molderings 2006, S. 102. 72 Vgl. ebd., S. 102-104. 73 Vgl. ebd., S. 102. 74 Vgl. ebd., S. 103. 75 Siehe: Mink 2004, S. 43, Molderings 2006, S. 103-104, Tomkins 1999, S. 153-154. 76 Vgl. Molderings 2006, S. 103-104. Duchamp brachte seinen Skeptizismus sowie seinen erkenntnistheoretischen Zweifel an der Übereinstimmung von Begriff und Sache mehrmals zur Sprache, z.B. 1960 im Interview für die RTF-Sendung France-Culture. Siehe: Marcel Duchamp im Interview mit Georges Charbonnier 1960, in: Stauffer 1992, S. 101.

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die Gesetze und Axiome der Wissenschaft hinterfragender Skeptizismus, der grundsätzlich von der Unmöglichkeit einer kausalen Erklärung der Welt ausgeht. Diesbezüglich behauptete Duchamp in den sechziger Jahren: „Alles ist zweifelhaft. Das heißt, sehen Sie, Descartes’ Idee des Zweifels auf einen weit ferneren Punkt zu schieben, als sie das in der Schule des Kartesianismus je getan haben: Zweifel an mir selbst, Zweifel an allem. An erster Stelle nie an die Wahrheit zu glauben. Letztlich führt es zum Zweifel am Sein.“77 Mit der Diskussion um den Wahrheitsgehalt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse war die Frage nach der konstruierten Gesetzlichkeit und dem wissenschaftlichen Wert apriorischer Konventionen der Naturwissenschaften verbunden, was Poincaré in Auseinandersetzung mit Le Roys theoretischen Ansichten thematisierte, um die Funktion der Wissenschaft in ihren analytischen und synthetischen Komponenten zu kennzeichnen: „Wenn ich zum Beispiel sage, die Längeneinheit ist das Meter, so ist das ein Gesetz, das ich aufstelle, nicht eine Feststellung, die sich mir aufdrängt.“78 Diese Beobachtung brachte die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die Konventionen der Wissenschaft nicht auf Eigenschaften der Welt zurückzuführen sind, sondern auf zweckrationale Bestimmungen, die als solche gegen Willkürlichkeit nicht gefeit sind. In diesem Zusammenhang bezog Duchamp Position, indem er ein von der Kontingenz des Zufalles bestimmtes Experiment zur Aufstellung eines Gesetzes durchführte, aus welchem neue Maßeinheiten erschlossen werden sollten. Dadurch offenbarte Duchamp spielerisch seine Auffassung zur Wissenschaft: „Die Wissenschaft ist lediglich eine Mythologie, ihre Gesetze, ja ihr Gegenstand selbst sind reine Mythen, ihnen eignet nicht mehr und nicht weniger Wirklichkeit als den Konventionen irgendeines Spiels.“79 Das gegen Ende 1913 durchgeführte Experiment, aus dem ein visuell schwer entschlüsselbares Objekt resultierte, bestand darin, drei gewöhnliche Fäden von genau einem Meter Länge, horizontal in einer Höhe von einem Meter straff gespannt, auf bemalte Leinwände fallen zu lassen, auf denen sie dreimal hintereinander landeten, so dass sie bei ihrem Auftreffen zufällige Formen annahmen, welche dann mit Firnis festgehalten wurden. Danach brachte Duchamp die Leinwandstreifen auf Glasscheiben auf, schnitt Holzleisten an einem Längsrand entsprechend den Formen der Fäden zurecht und ordnete sowohl Glasscheiben

77 Marcel Duchamp im Interview mit William Seitz 1963, in: Stauffer 1992, S. 145. 78 Poincaré, Henri: Der Wert der Wissenschaft, Leipzig 1906, S. 169. 79 Marcel Duchamp im Interview mit Denis Rougement 1945. Zitiert nach: Molderings 2006, S. 108.

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als auch Holzleisten in einem Krocket-Kasten an.80 Daraus entstand das Werk Trois Stoppages étalon,81 eine Anspielung auf die international etablierte Längeneinheit des Meters, der 1799 in Frankreich nach mehrjährigen Vermessungen als Längensystem entsprechend dem Zehnmillionstel des Erdmeridianbogens zwischen dem Nordpol und dem Äquator definiert wurde, um ein gleiches Maß an Land festzulegen.82 Aus Platin wurde dann ein Prototyp der Längeneinheit hergestellt, der als Urmeter im Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Sèvres aufbewahrt wird.83 Abbildung 4: Marcel Duchamp, Trois Stoppages étalon, 1913-1914, Ensemble: Krocket-Kasten, Holzlineale, Glasplatten, 129,2 x 28,2 x 22,7 cm.

Ähnlich der Funktion des Metermaßes als Referenzeinheit wurde Trois Stoppages étalon in Duchamps Werk zum Referenzmodell, welches, aus einer vom Zufall determinierten, nicht euklidischen Geometrie entstanden, als Parameter graphischer Formen innerhalb einer ästhetischen Konfiguration diente. So fand

80 Siehe: Mink 2004, S. 44-45, Tomkins 1999, S. 157-159. Zu einer genauen Analyse dieses wichtigen Werkes, seinen theoretischen Implikationen und Bedeutung siehe die umfassende Studie von Herbert Molderings Kunst als Experiment. Marcel Duchamps 3 Kunststopf-Normalmaße: Molderings 2006. 81 Marcel Duchamp, Trois Stoppages étalon, 1913-1914, Ensemble: Krocket-Kasten, Holzlineale, Glasplatten, 129,2 x 28,2 x 22,7 cm, The Museum of Modern Art, New York. 82 Vgl. Molderings 2006, S. 104-105. 83 Vgl. ebd., S. 106.

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das Werk Anwendung als Modell für den Verlauf der ‚Kapillarröhrchen‘, die im Repräsentationssystem des Großen Glases die ‚Junggesellen‘ mit den ‚Sieben‘ verbinden.84 Sowie in vorbereitenden Studien zum Großen Glas85 fanden die Trois Stoppages étalon auch in Duchamps letztem Ölgemälde Tu m’86 intensive Verwendung.87 Dieses Werk erwies sich also als ein regulativer, sich der rationalen Überprüfung entziehender Bezugspunkt, in welchem Duchamp die Hauptquelle seiner künftigen Kunst sah: „Es war an sich kein wichtiges Kunstwerk, aber mir öffnete es den Weg – den Weg, um jenen traditionellen Ausdrucksmethoden zu entfliehen, die lange Zeit mit Kunst verbunden waren. Damals wurde mir nicht bewusst, wo ich da hineingestolpert war. [...] Für mich waren die Drei Stoppagen eine erste Geste, die mich von der Vergangenheit befreite.“88 Mit diesem Werk stellte Duchamp nicht nur die euklidische Geometrie in Frage, sondern auch die Gestaltung einer zweckrationalen Wirklichkeit. 89 Dabei generierte er einen Maßstab für ästhetische Aussagen, wodurch eine vollkommen kongruente, aber von kognitiv-rationalem Denken unabhängige Sinnhaftigkeit zum

84 Vgl. ebd., S. 54-60. 85 Zu diesen Studien zählt das Ölgemälde Réseaux des Stoppages von 1914, in welchem Duchamp die welligen Formen der Trois Stoppages étalon auf seinem Ölgemälde aus dem Jahr 1911 Jüngling und Mädchen im Frühling mit schwarzer Farbe übertrug: Marcel Duchamp, Réseaux des Stoppages, 1914, Öl auf Leinwand, 147,7 x 197 cm, The Museum of Modern Art, New York. Zur konkreten Anwendung im Großen Glas fotografierte Duchamp dieses Gemälde aus dem perspektivisch entsprechenden Projektionswinkel. Marcel Duchamp, Réseaux des Stoppages, 1914, Fotografie, Silbergelatineabzug, 2,1(2,9) x 9 cm, Archives Marcel Duchamp, Villiers-sous-Grez. Eine Perspektivzeichnung mit den welligen Formen der Trois Stoppages étalon und den Jungessellen sowie eine entsprechende Ausführung auf Glas wurden ebenfalls angefertigt: Marcel Duchamp, Neuf Moules Mâlic, 1914, Aquarell auf Papier, 66 x 99,8 cm, Yale University Art Gallery, New Haven; Marcel Duchamp, Neuf Moules Mâlic, 1914-1915, Öl, Bleidraht und Bleifolie auf Glas, 66 x 101,2 cm, Musée National d’ Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. 86 Marcel Duchamp, Tu m’, 1918, Öl auf Leinwand, 69,8 x 313 cm, Yale University Art Gallery, New Haven. 87 Siehe: Molderings 2006, S. 97-101. 88 Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 117. 89 Vgl. Molderings 2006, S. 96.

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Ausdruck gebracht wurde, deren Notwendigkeit in der Zweckungebundenheit des Zufalles lag.90

2

D IE

FRAGMENTIERTE

W ERKEINHEIT

Die ästhetischen Errungenschaften des Kubismus vermochten einen Werktypus zu konstituieren, der die traditionelle Beschaffenheit des Kunstwerkes als ästhetische Einheit neu definierte, was sich als eine allgemeine Tendenz avantgardistischer Kunst erwies. In diesem Zusammenhang stellte der deutsche Theoretiker Rüdiger Bubner fest: „Die Auflösung der traditionellen Werkeinheit lässt sich ganz formal als gemeinsamer Zug der Moderne nachweisen. Kohärenz und Selbstständigkeit des Werkes werden bewusst in Frage gestellt oder gar planmäßig zerstört.“91 Diese programmatische Infragestellung der traditionellen Werkeinheit als ein geschlossenes Ganzes, mit dem sich der Kubismus programmatisch auseinander setzte, übte unverkennbar eine enorme Wirkung auf Duchamps Werkauffassung aus: „Der Geist meines Werkes stand der kubistischen Idee nahe, die ich ‚Demontage‘ nannte – nicht Zerstörung, sondern Auseinandernehmen der Dinge.“92 Es war die kubistische Fragmentierung der Dinge, die zur Auflösung der traditionellen Werkeinheit bzw. zur Konstitution eines neuen Werktypus führte: Da der kubistische Bruch mit der mittels der Zentralperspektive konstruierten Darstellung illusionistischen Raumes eine neue Art von Repräsentation ermöglichte, die, vom Naturvorbild ausgehend, verschiedene Ansichten eines Objektes wiederzugeben vermochte, begann die innerbildliche Beziehung von Flächen und Formen im kubistischen Darstellungssystem zunehmend Eigenständigkeit zu

90 Peter Bürger fasst den ‚Zufall‘ als eine konstitutive Kategorie der Avantgarde mit einem impliziten Protestwert: „Da das aktive Moment der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen von der zweckrationalen Gesellschaft gleichsam okkupiert ist, bleibt dem gegen die Gesellschaft protestierenden Individuum nur noch übrig, sich einer Erfahrung zu überlassen, deren Merkmal und Wert in der Nichtzweckgebundenheit besteht. Dass der im Zufall gesuchte Sinn dabei stets ein unfassbarer bleiben muss, hat seinen Grund darin, dass als bestimmter er sogleich wieder in zweckrationale Beziehung eingehen und damit seinen Protestwert verlieren würde.“ Bürger 1974, S. 89-90. 91 Bubner, Rüdiger: „Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik“, in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 5, 1973, S. 38-73, hier S. 49. 92 Marcel Duchamp im Interview mit Dorothy Norman 1950, in: Stauffer 1992, S. 41.

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gewinnen, so dass sowohl Flächen als auch Formen allmählich zu autonomen Realitätsfragmenten wurden.93 Das Ineinandergreifen von eigenständig werdenden Flächen und Formen im Bild generierte eine neue ästhetische Ordnung, bei der das neue Repräsentationssystem keine geistige Kontinuität mehr herstellte, sondern eine körperliche: Der Betrachter des Bildes stand nicht mehr vor einem illusionistischen Fenster, sondern vor mit Bezügen versehenen Fragmenten von Realität. Als 1911/12 in den Papiers Collés von Picasso und Braque diese Fragmente von Realität tatsächliche Realitätsfragmente aus dem Lebenszusammenhang wurden, wurde die Einheit des Werkes zu einer fragmentierten Ganzheit, die nicht von einer in sich geschlossenen Kategorie ästhetischer Konventionen determiniert war, sondern von dem Auseinandernehmen und der Zusammenfügung autonomer Realitätseinheiten.94 Der neue Werktypus ergibt sich also aus der Fragmentierung einer umschließenden Totalität, aus der ein aus Bruchstücken erschaffenes Gebilde als Immanenzobjekt einer ästhetischen Bestimmung gewonnen wird.95 Dabei werden die von ihrem Funktionszusammenhang isolierten Realitätsfragmente von ihrer ontologischen Klasse entfremdet, so dass sie in der fragmentierten Einheit ihres neuen Zusammenhanges zur Funktion einer ästhetischen Ordnung werden. Das Gestaltungsprinzip der neuen Technik bestand demnach aus zwei interdependenten Momenten auf produktionsästhetischer Ebene: Das eine ist die Fragmentierung einer im Lebenszusammenhang verankerten Totalität, wobei das erkenntnisabhängige Verfahren des Auswählens aus der vorabgegebenen Ganzheit performativ erfolgt. Das zweite Moment ist die formale Werkkonstitution, deren Kernfunktion die Zusammenfügung der Fragmente entsprechend einer vom Künstler determinierten, ästhetischen Bestimmung ist. Daraus resultiert die Gestalt des Werkes, in der dessen Sinngehalt zur Anschauung gebracht wird. Zwar

93 Vgl. Cottington 2004, S. 53-54. 94 Vgl. Waldman, Diane: Collage und Objektkunst vom Kubismus bis heute, Köln 1993, S. 23-25. 95 Der Fragmentcharakter dieses Werktypus entspricht dem Begriff des nichtorganischen Kunstwerkes, den Peter Bürger in Anlehnung an den Allegoriebegriff Benjamins als Werktypus avantgardistischer Kunst postulierte. „Der Allegoriker reißt ein Element aus der Totalität des Lebenszusammenhangs heraus. Er isoliert es, beraubt es seiner Funktion. Die Allegorie ist daher wesenhaft Bruchstück und steht damit im Gegensatz zum organischen Symbol. [...] Der Allegoriker fügt die so isolierten Realitätsfragmente zusammen und stiftet dadurch Sinn. Dieser ist gesetzter Sinn, er ergibt sich nicht aus dem ursprünglichen Kontext der Fragmente.“ Bürger 1974, S. 9394.

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wurde mit diesem Werktypus die geschlossene Werkeinheit traditioneller Kunstwerke gesprengt, aber die Kategorie einer zur Herstellung ästhetischer Gegenstände disponierten Kunst nicht grundsätzlich hinterfragt.96 Dieses um 1912 entwickelte Verfahren setzte notwendigerweise das Bestehen stofflicher Körper voraus, deren Objekthaftigkeit ungeachtet der im Gestaltungsverfahren durchzuführenden Kontextverschiebung programmatisch zu erhalten war, was zur Betonung der räumlichen Konfiguration im Werkzusammenhang führen sollte.97 Das heißt, das angeeignete Objekt verdinglicht sich als stofflicher Bestandteil einer im Raum wirkenden Konfiguration mit ästhetischen Ansprüchen. Als Korollar begann die Objekthaftigkeit des Fundstückes, ästhetische Autonomie zu gewinnen, so dass nicht nur eine neue, vom Fundstück ausgehende, plastische Kategorie im internen Werkzusammenhang generiert werden konnte,98 sondern auch die Verselbstständigung des Fundstückes als vollständige Werkeinheit. Das bedeutet, die Einbeziehung von Alltagsmaterialien in die generierte Kontingenz des Kunstwerkes ermöglichte die Einführung des Dinges an sich in die Kunst, des vorgefundenen Objektes, dessen in sich vollständige Beständigkeit als stofflicher Gegenstand nicht aus einem individuellen Produktionsprozess resultiert, sondern aus den mechanischen Verfahren industrialisierter Bereiche des Lebenszusammenhanges, was den Bruch mit der Tradition einer Kunstpraxis markierte, die von den etablierten Produktionsverfahren zur Herstellung ästhetischer Einmaligkeit ausging. Denn die Möglichkeit, ein industriell hergestelltes Objekt als Kunstgegenstand zu gewinnen, setzt seine technische Reproduzierbarkeit voraus, die als solche nicht auf einem individuellen Produktionsprozess beruht, was die Einmaligkeit und somit den Status des traditionellen Kunstwerkes grundsätzlich relativiert. 99

96

Siehe ebd., S. 99-101.

97

Vgl. Wescher, Herta: Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 1987, S. 21.

98

Vom Collage-Verfahren ausgehend, gelang es der von Picasso konstruierten Plastik Gitarre von 1912, neue Wesensmerkmale hinsichtlich der traditionellen Skulptur einzuführen: Sie besteht aus zusammenmontierten Fundstücken, die als Ganzes eine dreidimensionale Konstruktion ausmachen, wobei sie wie ein Bild, das an die Wand gehängt werden soll, auszustellen ist. Siehe: Spies, Werner: Picasso Sculpteur, Paris 2000, S. 68-69.

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Aus diesem Grund erklärte Walter Benjamin: „Die Reproduktionstechnik [...] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweili-

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In dieser Entwicklung zur ästhetischen Autonomie des vorgefundenen Objektes spielte Duchamp eine entscheidende Rolle. Indem er 1913 zwei vorgefundene Gegenstände, das in seiner Gabel verzahnte Vorderrad eines Fahrrades und einen gewöhnlichen Küchenschemel, zusammenmontierte, stellte er, die Beständigkeit des Lebenszusammenhanges fragmentierend, eine in sich vollständige, ästhetische Einheit her, deren plastische Konfiguration einen eigenständigen Gegenstand im Raum bildet. Dieser Konstruktion, die lediglich darin bestand, die Gabel des Rades vertikal auf die Sitzfläche des Schemels zu schrauben, gelang es, ohne die formalen Eigenschaften der vorgefundenen Objekte zu Abbildung 5: modifizieren, ein Kompositum zu gestalMarcel Duchamp, Roue de bicyclette, ten, das weitaus mehr war als die Summe 1913, Ensemble: Fahrradrad, Schemel der angeeigneten Gegenstände.100 Dabei (Original verschollen). wirkten mehrere Anwendungsinstanzen: Zuerst wurden die Gegenstände aus ihrem Kontext gelöst und von ihrer Funktion entfremdet, wodurch sie eine neue Identität als Seiendes aufnahmen, die mit ihrer ontologischen Klasse als Alltagsgegenstände nichts mehr zu tun hatte. Als stoffliche Dinge ohne immanenten Sinngehalt wurden sie dann nach den Parametern einer ästhetischen Determination montiert, wobei eine perspektivische Dislokation hinsichtlich ihres gewöhnlichen Vorkommens im Alltagszusam-

gen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“ Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1977, S. 13. 100 Marcel Duchamp, Roue de bicyclette, 1913, Ensemble: Fahrradrad, Schemel (Original verschollen). Nach dem Verlust des Originals sind mehrere Repliken hergestellt worden. 1916 produzierte Duchamp selber ein neues Exemplar, das ebenfalls verloren ging. 1951 fertigte er für die Ausstellung Climax in 20th Century Art in New York ein weiteres Exemplar an. Zwei Repliken wurden 1960 und 1963 jeweils von Ulf Linde und Richard Hamilton hergestellt. Im Jahr 1964 genehmigte Duchamp die Anfertigung einer Edition von acht Exemplaren nach den fotografischen Vorlagen der Replik von 1916. Siehe: Schwarz 2000, S. 588-599.

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menhang stattfand, so dass sie, noch als Alltagsgegenstände erkennbar, eine gänzlich unabhängige Werkeinheit zu konstituieren vermochten. Die gewonnene Form als Gestalt ihres Selbst erwies sich dann als Trägerin der sie generierenden Determination. Diese Determination ihrerseits ist rätselhaft. Duchamp selbst verstand dieses Werk als eine bereits fertig vorgefundene Skulptur, wie man aus einem Brief von 1916 an seine Schwester Suzanne deutlich entnehmen kann,101 und fügte es in die von ihm selbst erfundene Kategorie des Readymades ein, das er als bereits fertig vorgefundenen Kunstgegenstand verstanden wissen wollte.102 Für Duchamp war also die durch Fundstücke gewonnene Beschaffenheit des erschaffenen Gegenstandes von Belang. So erklärt er bezüglich dieses Werkes das Folgende: „The Bicycle Wheel is my first Readymade, so much so that at first it wasn’t even called a Readymade. It still had little to do with the idea of the Readymade. Rather, it had more to do with the idea of chance. In a way, it was simply letting things go by themselves and having a sort of created atmosphere in a studio, an apartment where you live. Probably, to help your ideas come out of your head. To set the wheel turning was very soothing, very comforting, a sort of opening of avenues on other things than material life of every day. I liked the idea of having a bicycle wheel in my studio. I enjoyed looking at it, just as I enjoy looking at the flames dancing in a fireplace.“103

Aus dieser Erklärung lässt sich entnehmen, dass eine semantische Beziehung zwischen der stofflichen Gestalt der generierten Form und einem spezifischen vernunftbedingten Sinn nicht im Vordergrund des ästhetischen Anliegens zur Herstellung dieses Werkes stand. Zudem sind die immanenten Bezüge der angeeigneten Gegenstände durch das Herausnehmen und die Verschiebung aus ihrem ursprünglichen Kontext verlorengegangen, so dass sie als erklärte Gegenstände unfähig sind, für sich einen Sinn zu ergeben. Das heißt, das Verfahren der Werkkonstitution verwandelt die angeeigneten Gegenstände in leere bzw. inhaltslose Immanenzkörper. Die bewusste Weigerung, einen rationalen Sinn zu vermitteln, sowie die semantische Entfremdung der angeeigneten Gegenstände

101 Es handelt sich um den berühmten Brief Duchamps an seine Schwester Suzanne vom 15. Januar 1916. Dort findet Roue de bicyclette zum ersten Mal Erwähnung. Siehe: Daniels 1992, S. 168-169. 102 Im selben Brief an Suzanne Duchamp taucht die Definition von Readymade als bereits fertigem Kunst-Objekt auf. Siehe ebd. 103 Zitiert nach: Schwarz 2000, S. 588.

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deuten dennoch auf die Existenz von sinnstiftenden Instanzen im Werk hin, die sich jedoch nicht als eine sprachlich erfassbare Funktion im konventionellen Sinne zu erkennen geben. Demnach sind die Einführung von entfremdeten Realitätseinheiten in die stoffliche Gestalt des Kunstwerkes sowie die Tatsache seines Vorkommens als fragmentierte, sich einem vernunftbedingten Sinn entziehende Konstruktion Instanzen von Sinn, die im kontextuellen Zusammenhang eine programmatische Bedeutung darstellen. Der sich in der äußeren Gestalt der Form offenbarende Sinngehalt des Werkes ist also eine Sinnfunktion, die sich aus dessen Produktionsgeschichte und dessen formaler Beschaffenheit innerhalb des historischen Kontextes der Avantgarde ergibt. Denn die Entscheidung, eine spezifische Werkkonstitution auszuführen, ist eine Zurückweisung anderer Arten von Werkgestaltung, was notwendigerweise einen sinnhaften Bezug sowohl zum generierten Werk als auch zu dessen umschließendem Zusammenhang hervorbringt.104 Von dem in Roue de bicyclette ausprobierten Konstitutionsprinzip ausgehend, aus dem die paradigmatische Kontingenz einer fragmentierten Werkeinheit resultierte, erprobte Duchamp andere Gestaltungsarten, mittels derer die geschlossene Beschaffenheit herkömmlicher Kunstwerke grundlegend hinterfragt wurde. Ausgangspunkt war wiederum die Bestimmung einer umschließenden Totalität im Lebenszusammenhang, aus der Realitätsfragmente ausgesondert werden sollten, um die formale Konfiguration eines herzustellenden Werkes zu konstituieren. Da dieses Verfahren auf Gegenstände zurückgreift, die notwendigerweise in einem vorab gegebenen Kontext verankert sind, verkörpern sie vor ihrer programmatischen Entfremdung eine bestimmte Art von Bezug zur Welt, die deren Erscheinung bestimmt. So stellt das 1914 ausgeführte Werk Pharmacie105 einen Typus fragmentierter Werkeinheit dar, dessen Konfiguration auf den historischen Kontext eines von der technischen Reproduzierbarkeit geprägten Lebenszusammenhanges zurückzuführen ist. Dieses mit drei Originalen angefertigte Werk besteht aus dem seriell reproduzierten Abdruck eines für den künstlerischen Schulunterricht geschaffenen Landschaftsmodells, das Duchamp nach dessen systematischer Aneignung und Funktionsentfremdung mit zwei abstrahierten, im Bildhintergrund winzig abgebildeten Figuren in Wasserfarbe ein-

104 In diesem Zusammenhang erklärt Danto: „Die absichtliche Zurückweisung einer Darstellungsart schließt die Zurückweisung einer gesamten Art des Bezuges auf die Welt und auf die Menschen ein.“ Danto 1991, S. 87. 105 Marcel Duchamp, Pharmacie, 1914, Kunstdruck überarbeitet mit Gouache, 26,2 x 19,3 cm, Privatsammlung.

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griff und mit dem Titel Pharmacie und seiner Signatur versah. Duchamp erklärte hinsichtlich dieses Werkes: „It was the idea of using something readymade. [...] It was made by some unknown artist who did a series of landscapes as models for art schools. A winter landscape at night. It was a commercial print reproduced in thousands of copies, and thus it had the same character as a manufactured object. [...] There were a great number of them, in the same way that there are a great number of snow shovels in the world.”106

Demnach ging dieses Werk von der Erkenntnis einer fragmentierbaren Totalität aus, deren Realitätseinheiten eine pluralische Daseinsweise verkörpern können. Abbildung 6: So ist jeder Abdruck die stoffliche VerMarcel Duchamp, Pharmacie, 1914, vielfältigung eines paradigmatischen ArKunstdruck überarbeitet mit Gouache, chetypus, dessen Realisierung notwendi26,2 x 19,3 cm. gerweise auf die Funktion einer Autorinstanz hindeutet, die wegen des praktischen Zwecks der abgedruckten Reproduktionen und deren subsequenter Vermarktung verschwand. Zu dieser ersten Enteignung der Autorinstanz fügte Duchamp eine weitere, indem er zwecks einer ästhetischen Determination das Serienprodukt von dessen Ursprung und Funktion endgültig absonderte. Dabei kam eine neue Autorfunktion jenseits aller gestaltenden und wirkenden Ursache zum Ausdruck: das Auswählen, worin eine der zentralen Auffassungen Duchamps hinsichtlich des Machens von Kunst liegt: „Das Wort Kunst bedeutet übrigens etymologisch machen, ganz einfach machen. Was heißt machen? Etwas machen heißt eine Tube Blau, eine Tube Rot zu wählen, etwas davon auf seine Palette zu drücken und immer noch die Qualität des Blau, die Qualität des Rot zu wählen, und immer noch den Platz zu wählen, an dem man es auf die Leinwand auftragen wird, immer bedeutet es auswählen. Also, um zu wählen, kann man sich Farbtuben bedienen, man kann sich Pinseln bedienen, aber man kann sich auch einer vorgefertig-

106 Zitiert nach: Schwarz 2000, S. 597.

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ten Sache bedienen, die entweder mechanisch oder sogar von der Hand eines anderen Menschen gemacht worden ist, wenn Sie so wollen, und sich ihrer zu bemächtigen, da Sie derjenigen sind, der sie gewählt hat. Die Wahl ist die Hauptsache in der Malerei, sogar in der normalen.“107

Demgemäß hängt für Duchamp die Autorfunktion als Ursache des Seins eines Kunstwerkes nicht in erster Linie mit dessen Stoff-, Gestaltungs- oder Wirkursache zusammen. Sie ist mehr eine Kategorie des Verstandes, welche, die geschlossene Einheit des Lebenszusammenhanges aufsplitternd, die ontologische Kategorie von dessen Realitätseinheiten mittels einer ästhetischen Bestimmung zu verwandeln vermag. Diese ästhetische Bestimmung ist demnach die Ursache aller nachfolgenden Verfahren, die zur Erstellung der Werkidentität führen. So sind das Entfremden, das Kombinieren bzw. Nebeneinanderstellen verschiedener Realitätseinheiten im Werkganzen sowie das Betiteln und das Signieren anschließende Instanzen der Werkkonstitution, die sich als Verkettung innerhalb der sie bedingenden Determination erweisen. Darin besteht die von der Autorinstanz verantwortete Ausübung der Möglichkeit der Entscheidung.108 Dieser Auffassung zufolge ist die Wahl eines vorgefertigten Gegenstandes als Immanenzform eines Kunstwerkes mit der Wahl einer zum Malen bestimmten Farbtube vergleichbar, insoweit beide vorgefundene und seriell hergestellte Waren als Instrumente zur Kunsterschaffung fungieren.109 Demnach kann man sich laut Duchamp sowohl die Eigenschaften der Farbe als auch die Form des vorgefundenen Objektes aneignen, um ein ästhetisches Vorkommen zu ermöglichen, ohne dass der Künstler in einer kausalen Beziehung zu ihrem formalen Substrat steht: „Ein Readymade ist ein Kunstwerk ohne Künstler, der es hervorbringt. [...] Eine Farbtube, die ein Künstler benutzt, wird nicht vom Künstler hergestellt; sie wird hergestellt vom Fabrikanten, der die Farbe herstellt. So erzeugt der Maler tatsächlich ein Readymade, wenn er mit Hilfe eines industriell hergestellten Artikels malt, der sich Farbe nennt.“110

107 Marcel Duchamp im Interview mit Georges Charbonnier 1961. Zitiert nach: De Duve, Thierry: Kant nach Duchamp, Wien 1993, S. 148. 108 Siehe: De Duve 1993, S. 150. 109 Vgl. Judovitz, Dalia: Unpacking Duchamp. Art in transit, Berkeley (u.a.) 1995, S. 136. 110 Zitiert nach: De Duve 1993, S. 150.

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Auf dem Symposium anlässlich der Ausstellung The Art of the Assemblage 1961 im Museum of Modern Art in New York spitzte Duchamp diese Auffassung bis zur Behauptung zu, dass „alle Gemälde auf der ganzen Welt nachgeholfene Readymades und Assemblage-Werke sind.“111 Dieser Ansicht entsprechend, ist Duchamps malerischer Eingriff in den bildlichen Hintergrund des angeeigneten Abdruckes die Kombination zweier vorgefundener Produkte, die aus ihrem Ursprungszusammenhang genommen wurden, um eine Werkeinheit zu bilden. Duchamps kombinatorische Leistung ist dann die Ausübung der Möglichkeit der Entscheidung, wobei ein gewichtiger Faktor als Programm in Erscheinung tritt: die ästhetische Indifferenz, ein Aspekt, den Duchamp auf demselben Symposium mit Nachdruck betonte: „Einen Punkt möchte ich ganz besonders hervorheben, nämlich den, dass die Wahl dieser Readymades nie von einer ästhetischen Lust diktiert wurde. Diese Wahl beruhte auf einer Reaktion visueller Indifferenz, bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack: In der Tat eine völlige Anästhesie.“112 Dementsprechend ist das Konstitutionsprinzip von Pharmacie als fragmentierter Werkeinheit eine ästhetische Indifferenz hinsichtlich der Elemente, die ihre Gestalt ausmachen. Dies lässt sich nicht nur an der ästhetischen Anspruchslosigkeit der angeeigneten Graphik erkennen, sondern auch an der malerischen Intervention Duchamps, deren schematische Realisierung und visuelle Schlichtheit auf einen bewussten Verzicht auf jeglichen Qualitätsanspruch hindeutet. Zudem besteht kein harmonisches Verhältnis zwischen den zusammengebrachten Teilen im Werkganzen, sondern eher eine widerspruchsvolle Beziehung heterogener Einheiten. Die Einheit des Werkes entsteht auf semantischer Ebene als inhaltlicher Gehalt, den Duchamp folgendermaßen erklärt: „That landscape had, in fact, another source, another raison d’être [...]. I saw that landscape in the dark from the train, and in the dark at the horizon there were some lights, because the house were lit and that gave me the idea of making those two lights of different colors, green and red, to become a pharmacy.“113 Diese inhaltliche Referenz wurde mit dem im Vordergrund des Bildes eingefügten Bildtitel vermerkt, wodurch die Ebene einer intendierten Bezogenheit über das Moment reiner Gestalthaftigkeit

111 Abschnitt aus Duchamps Ansprache „Hinsichtlich der Readymades“, gehalten am 19. Oktober 1961 auf dem Symposium anlässlich der Ausstellung The Art of the Assemblage im Museum of Modern Art in New York. Duchamp, Marcel: „Hinsichtlich der Readymades“ (1961), in: ders., Marcel Duchamp. Die Schriften, Zürich 1981, S. 242. 112 Ebd. 113 Zitiert nach: Schwarz 2000, S. 597.

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hinaus verdeutlicht wurde. Das fragmentierte Einheitsmoment des generierten Werkes wurde dann mit einer deutlich zu erkennenden Signatur herausgehoben, die als institutionalisiertes Symbol des kreativen Schöpfungsprozesses die Individualität des Werkes festhält. So beruht Duchamps programmatische Infragestellung der traditionellen Werkeinheit als ein geschlossenes Ganzes auf präzisen Instanzen der Werkkonstitution bruchstückhafter Kunstobjekte: Dem Konstitutionsprinzip der avantgardistischen Technik der Collage entsprechend, bestand Duchamps Verfahren aus zwei grundlegenden Momenten: der Fragmentierung einer im Lebenszusammenhang verankerten Ganzheit durch Absonderung einzelner Elemente und der Zusammenfügung der Fragmente in einen neuen Zusammenhang. Beide Momente sind ihrerseits von einer ästhetischen Instanz determiniert, deren Grund die Negation aller tradierten Bestimmungen der Ästhetik ist: nämlich die ästhetische Indifferenz. Das ist die programmatische Gleichgültigkeit hinsichtlich der Beziehung zwischen dem stofflichen Moment der Form und deren Erfahrbarkeit als mit Sinngehalt versehener Entität der Ästhetik. Demnach sind sowohl die vollzogene Aneignung des stofflichen Momentes eines Gegenstandes als auch dessen subsequente Integration in den Kunstkontext eine ästhetische Funktion, welche in Opposition zur tradierten Annahme dessen, was die Leistung der bildenden Kunst ausmacht, den Anspruch des Ästhetischen als Ganzes hinterfragt.

3

D IE

ONTOLOGISCHE

T IEFE

Bereits im Zeitraum zwischen 1913 und 1915 probierte Duchamp alle strukturellen Aspekte aus, die seine Kunstproduktion langfristig charakterisieren sollten. So erkundete er bestimmte, neue Wege im ästhetischen Schaffen zulassende Mittel wie die Möglichkeit einer vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit als Produktionsinstanz, den Zufall, die Ausführbarkeit immaterieller Werkeinheiten, die Fragmentierung und die Aneignung sowie die ästhetische Indifferenz. Im Zuge dieser künstlerischen Erkundungen führte Duchamp 1914 ein für die Kunstgeschichte äußerst bedeutendes Unterfangen durch: Er kaufte in einem großen Haushaltswarenkaufhaus im Zentrum von Paris einen gewöhnlichen gusseisernen Ständer zum Flaschentrocknen.114 Das ringförmige und mehrstufige Gestell, das in Frankreich als gängiger Trockner von wieder zu verwendenden Weinflaschen benutzt wurde, brachte er in sein Atelier, jedoch nicht um Flaschen zu trocknen. Den Zweck dieses Erwerbs machte Duchamp erst einige Zeit später bekannt, als

114 Vgl. Tomkins 1999, S. 162.

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er, in New York ansässig, sich auf diesen Gegenstand in einem Brief vom 15. Januar 1916 an seine Schwester Suzanne bezog.115 So ist in diesem Brief, in welchem er sie auch um die Auflösung seiner Pariser Wohnung und die Übernahme seiner zurückgebliebenen Sachen bittet, Folgendes zu lesen: „Nun, wenn du hinaufgegangen bist, hast du in meinem Atelier das Rad eines Fahrrads und einen Flaschentrockner gesehen. Ich habe das als eine bereits fertigte Skulptur gekauft. Und ich habe eine Idee, was den besagten Flaschentrockner betrifft. Hör zu. Hier in New York habe ich Objekte desselben Stils gekauft und sie ‚Readymade‘ genannt, du kannst genug Englisch, um den Sinn von ‚bereits fertig‘ zu verstehen, den ich diesen Objekten gebe. Ich signiere sie und gebe ihnen eine Inschrift in Englisch. Ich gebe dir ein paar Beispiele: So habe ich eine große Schneeschaufel, auf welche ich unten geschrieben habe: In advance of the broken arm, französische Übersetzung: Dem gebrochen Arm voraus. Bemühe dich nicht zu sehr, dies im romantischen oder impressionistischen oder kubistischen Sinn zu verstehen – das hat damit nichts zu tun; ein anderes Readymade heißt: Emergency in favor of twice, mögliche französische Übersetzung: Gefahr (Krise) auf Grund von 2mal. Diese ganze Vorrede, um dir zu sagen: Nimm für dich diesen Flaschentrockner. Ich mache aus ihm ein Readymade aus der Entfernung. Du wirst ihn unten und im Inneren des unteren Rings beschriften, in kleinen Buchstaben mit einem Pinsel für Öl in der Farbe silbernes Weiß mit der Inschrift, die ich dir hier anschließend gebe, und wirst ihn in derselben Schrift signieren wie folgt: Marcel Duchamp.“116

Die Seite des Briefes mit der vorgesehenen Inschrift für den Flaschentrockner ist verlorengegangen, so dass man deren Inhalt nicht erfahren kann. Jahrzehnte später konnte sich Duchamp nicht mehr an den vorgesehenen Satz erinnern. Darüber hinaus wurden beim Ausräumen von Duchamps verlassener Pariser Wohnung der Flaschentrockner sowie der Fahrradrad-Schemel weggeworfen, ohne dass es einen Hinweis darauf gab, ob der originale Flaschentrockner überhaupt diese Inschrift bekam.117 Diese Tatsache ist jedoch von nicht allzu großer Bedeutung, denn die Parameter einer reflektierten Determination in Bezug auf eine spezifische Möglichkeit ästhetischen Schaffens sind vollständig gegeben. Dennoch erfolgte die vollständige Verwirklichung dessen, was Duchamp mit dem Flaschentrockner versuchte, erst im Werk In advance of the broken arm,118 von

115 Siehe Anm. 101 und 102. 116 Zitiert nach: Daniels 1992, S. 168-169. 117 Siehe: Daniels 1992, S. 169, Mink 2004, S. 59-60, Tomkins 1999, S. 188. 118 Marcel Duchamp, In advance of the broken arm, 1915, Schneeschaufel: Holz und verzinktes Eisen (Original verschollen). Nach dem Verlust des Originals wurden von

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dem ebenfalls in diesem Brief berichtet wird. Das heißt, mit diesem 1915 in New York realisierten Werk wurde die ideelle Bestimmtheit der ästhetischen Möglichkeit des Flaschentrockners, der bereits um 1914 konzipiert war, exemplarisch offenbart.119 So verlief das Verfahren zur Konstitution von In advance of the broken arm analog zu dem des Flaschentrockneres: Im Winter 1915 kaufte Duchamp eine gewöhnliche Schneeschaufel in einem Eisenwarengeschäft an der Columbus Avenue in New York, was angesichts des Wintereinbruches keinen großen Aufwand darstellte.120 Duchamp, der nie zuvor solche in Amerika üblichen Gegenstände gesehen hatte, da sie damals in Frankreich nicht angefertigt wurden, brachte die aus einem flachen, verzinkten Eisenschieber und einem Holzstiel bestehende Schneeschaufel in sein Atelier, wo er sie einer systematischen Verwandlung Abbildung 7: unterzog: Auf die verstärkende Metallleiste am unte- Marcel Duchamp, ren Ende der Schaufel schrieb Duchamp den Satz In In advance of the advance of the broken arm, anschließend signierte er broken arm, 1915, den Gegenstand, wobei er anstatt der üblichen Präposi- Schneeschaufel: Holz und tion ‚by‘ als Referenz zur Autorinstanz die Präposition verzinktes Eisen (Original ‚from‘ benutzte, die eher einen Entstehungsbezug verschollen). markiert.121 Im Anschluss an dieses Verfahren band Duchamp einen Draht um den Stiel und hängte die Schaufel an der Decke auf.122

Duchamp mehrere Exemplare zum Werk erklärt, jeweils 1945, 1963, 1964. Siehe: Schwarz 2000, S. 636-637. 119 In der Literatur wird das Werk In advance of the broken arm als das erste Objekt seiner Klasse angesehen. Denn die Verbindung zum schon gemachten, vorgefertigten Massengebrauchsartikel ist erst in diesem Werk mit dem Begriff ‚Readymade‘ belegt, der auf konzeptuelle Intentionalität hindeutet. Darüber hinaus wurde das vollständige Verfahren zur Konstitution eines solchen Werkes zum ersten Mal in diesem Kunstobjekt ausgeführt. Siehe: Streitberger 2004, S. 46, Tomkins 1999, S. 186, Schwarz 2000, S. 190. 120 Man fand solche Schneeschaufeln in Eisenwarengeschäften in Amerika im Überfluss. Vgl. Tomkins 1999, S. 186. 121 Vgl. Schwarz 2000, S. 636. 122 Vgl. Tomkins 1999, S. 186.

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Dieses Verfahren sowie das daraus resultierende Werk erweisen sich als die konsequente Herauskristallisierung vorheriger Erkundungen ästhetischen Charakters durch Duchamp: Seine angewandten Untersuchungen zur Sprache als gestaltender Funktion der bildenden Kunst, zum Zufall als Konstitutionsprinzip ästhetischer Gestalthaftigkeit, zur Fragmentierung und Aneignung sowie zur Möglichkeit einer ästhetischen Indifferenz finden in diesem Werk eine paradigmatische Aktualisierung. All diese künstlerischen Mittel, die nicht nur in der Produktion von In advance of the broken arm, sondern auch in der Entstehung anderer Werke derselben Art eine konstitutive Rolle spielten, zeigen eine ausführbare Beschaffenheit, deren gemeinsame Anwendung das Gestaltungsprinzip der Werke dieses Immanenzmodus ausmacht. Das heißt, das Verfahren zur Werkkonstitution besteht aus differenzierten Anwendungsinstanzen, deren systematische Verkettung eine Funktion ist, in welcher pluralische Momente ästhetischer Natur gemäß einer vom Künstler definierten Determination ausgeführt werden. Abbildung 8: Marcel Duchamp, 3 ou 4 gouttes de hauteur n’ont rien à faire avec la sauvagerie, 1916, Eiserner Hundekamm, 16,6 x 3 x 0,3 cm.

Diese Prozesshaftigkeit lässt sich deutlich im darauf folgenden Werk beobachten. Im Frühjahr 1916 brachte Duchamp ein weiteres Readymade zustande, dessen Immanenzobjekt aus einem industriell hergestellten, eisernen Hundekamm gewonnen wurde, auf dessen schmale Oberkante Duchamp mit weißer Farbe den Satz „3 OU 4 GOUTTES DE HAUTEUR N’ONT RIEN À FAIRE AVEC LA SAUVAGERIE“123 schrieb, das Datum FEB. 17 1916 11 A.M. festhielt und seine Signatur mit den Initialen M.D. eintrug.124 Die Realisierung dieses Werkes

123 „Drei oder vier Tropfen von Höhe (oder Hochmut) haben nichts mit Unzivilisiertheit zu tun.“ Übersetzung nach: Tomkins 1999, S. 190. 124 Marcel Duchamp, 3 ou 4 gouttes de hauteur n’ont rien à faire avec la sauvagerie, 1916, Eiserner Hundekamm, 16,6 x 3 x 0,3 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia. Siehe: Schwarz 2000, S. 643.

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geht auf eine später in der Grünen Schachtel veröffentlichte Notiz zurück, in der Duchamp die systematische Ausführung eines Readymades vorschreibt: „Die Readymades präzisieren, indem man für einen Moment der Zukunft (den und den Tag, Datum, Minute), ein Readymade vormerkt. Das Readymade kann hierauf gesucht werden (mit genügender Frist). Die Hauptsache ist also dieser Chronometrismus, diese Momentaufnahme, wie eine Rede, die bei irgendeinem Anlass gehalten wird aber zu der und der Stunde. Es ist eine Art Rendezvous. Datum, Stunde, Minute, natürlich auf dem Readymade eintragen, als Information.“125

Mit dieser Notiz, die an sich eine ausführbare Werkeinheit ist, und ihrer subsequenten Realisierung verdeutlichte Duchamp nicht nur den performativen Charakter der Findung eines Readymades, sondern auch die bedingende Prozesshaftigkeit bei dessen Entstehung, die von der Annahme einer Werkkategorie als einheitliche Ganzheit ausgeht. Die mit diesen Werken generierte Möglichkeit künstlerischen Schaffens findet ihren leitenden Gedanken in Duchamps ästhetischen Überlegungen hinsichtlich der ontologischen Beschaffenheit der Kunst und deren Abgrenzbarkeit als Anschauungsgestalt: Bereits in einer seiner Notizen aus dem Jahr 1913 stellte Duchamp, von der Auffassung einer umschließenden Totalität im Lebenszusammenhang ausgehend, die Frage nach der Wesensbestimmung der Kunst bzw. nach der Notwendigkeit von deren Manifestation als Kunst: „Kann man Werke schaffen, die keine Kunst-Werke sind?“126 Im Zusammenhang mit dieser Überlegung spekulierte er in seinen Notizen auch über die Seinsverfassung der Dinge und deren phänomenologische Dimension: „Die Möglichkeit verlieren, zwei gleichartige Dinge zu unterscheiden zu identifizieren.“127 Trotz des logischen Widerspruches in diesem Satz wird die Frage nach Erkenntnis und Bestimmung in Bezug auf Dinge artikuliert, womit eine Möglichkeit ästhetischen Erkennens über die Notwendigkeit kategorialen Seins hinaus eröffnet wird.128 Diese Überlegungen fanden eine erste Ausdrucksmöglichkeit in der Herstellung fragmentierter Werkeinheiten, insoweit diese Werke sich in ihrer spezifischen Gestaltung vorgefundener Objekte bedienten: Da die Fragmentierung des Lebenszusammenhanges als Gewinnungsprinzip zur Gestaltung des Immanenzkörpers eines

125 1934 in der Grünen Schachtel veröffentlichter, mit durchgestrichenen Stellen versehener Arbeitszettel Duchamps. Zitiert nach: Stauffer 1981, S. 100. 126 Wie Anm. 65. 127 Wie Anm. 69. 128 Siehe in der vorliegenden Studie: „Die Kontingenz des Ausführbaren“, S. 90-93.

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Kunstwerkes zu fungieren vermochte, markierten die Absonderung und die darauffolgende Aneignung von Realitätseinheiten die künstlerische Verselbstständigung des im Lebenszusammenhang verankerten Dinges. Das ist „das objet trouvé, das Ding, das gerade nicht Resultat eines individuellen Produktionsprozesses ist, sondern zufälliger Fund.“129 Damit die Auswahl des als Readymade geeigneten Objektes erfolgen konnte, sollte es konkrete Eigenschaften aufweisen, die seine Rezeption als erfahrbaren Gegenstand bestimmen. In Bezug auf seine stoffliche Konstitution sollte es ein maschinell vervielfältigtes Massenprodukt duplizierbaren Charakters sein, das an sich eine Verkörperung von Pluralität darstellt, „um dadurch den Kult der Einmaligkeit, der großgeschriebenen Kunst, zu vermeiden.“130 Zudem sollte es ihm hinsichtlich seiner wahrnehmbaren Form an jeglicher Qualität mangeln, die auf Produktionsebene auf ein differenziertes Urteil ästhetischer Natur hindeuten könnte, so dass die gestaltete Form auf ästhetischer Ebene den Anschein von Sachlichkeit bzw. Undifferenziertheit zu erwecken vermöchte. In diesem Zusammenhang erklärte Duchamp: „Selbstverständlich finde ich, dass selbst wenn man einen Flaschentrockner hübsch finden kann zum Ansehen, er zunächst geschmacklos ist, ganz eindeutig. Das hat eindeutig keinen Geschmack, und das erfüllte genau das, was ich wollte.“131 Wurden beide Bedingungen von dem Gegenstand, dessen Fund programmatisch auf der Grundlage bedingten Zufalles gründet, erfüllt, dann erfolgte ein kritisches Urteil auf der Basis visueller Indifferenz bei ernsthaft gewollter Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack, damit die Wahl des Dinges zum Readymade überhaupt stattfinden konnte:132 „Ich erachte den Geschmack – den schlechten oder guten – als den größten Feind der Kunst. Im Falle der Readymades versuchte ich, mich vom persönlichen Geschmack frei zu halten und mir dieses Problems voll bewusst zu

129 Bürger 1974, S. 78. 130 Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 120. 131 Marcel Duchamp im Interview mit Georges Charbonnier 1960, in: Stauffer 1992, S. 106. 132 Duchamp war sich der Problematik einer absoluten Abwesenheit von Geschmack bewusst. Denn die Auswahl eines Gegenstandes impliziert an sich die Ausübung einer Art von Geschmack, der den persönlichen Geschmack zu verdrängen versucht. In diesem Zusammenhang erklärt Duchamp: „Natürlich widersteht das alles schwerlich einer transzendentalen Diskussion, weil viele Leute beweisen können, dass ich ein bestimmtes Objekt eher auswähle als ein anderes und damit etwas von meinem eigenen, persönlichen Geschmack aufdränge.“ Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 120.

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sein. Die Folge war, dass ich über einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren nur eine kleine Anzahl von Readymades akzeptiert habe.“133 Das Konstitutionsprinzip, das Duchamp bei dem Flaschentrockner, der Schneeschaufel oder dem Kamm zur Anwendung brachte, erweist sich als eine radikale Zuspitzung dessen, was er bei Pharmacie und Roue de bicyclette als fragmentierte Werkeinheiten erprobt hatte. Denn in erstgenannten Gegenständen wurde bis auf den fragmentierenden Auswahlakt und den Betitelungs- und Signierungsprozess auf jeglichen Eingriff in die erfahrbare Gestalt der angeeigneten Formen verzichtet. Somit wurde der anspruchsvolle Auswahlakt des Readymades zum Entstehungsmoment seiner erfahrbaren Gestalt, die jenseits aller Veränderung in ihrer stofflichen Beständigkeit dadurch zum Kunstobjekt wurde, dass ihre ontologische Klasse mittels Entfremdung, Kontextverschiebung und Identitätsgebung modifiziert wurde. Das heißt, auf dem Auswahlakt, der als erste strukturelle Handlung innerhalb der Werkkonstitution fungiert,134 folgte eine systematische Veränderung der Identität des Seienden des zum Readymade designierten Gegenstandes, woraus eine neue Klasse von Objekt resultierte, das über seine beliebige Stofflichkeit hinaus mit kunstbezogenen Eigenschaften und Sinngehalt versehen ist: das reine Readymade.135 Auf produktionsästhetischer Ebene folgt die ontologische Verwandlung des Dinges einem strikten Verfahren: Nach dem besagten Auswahlakt erfolgt unmittelbar der Aneignungsprozess, die systematische Appropriation der stofflichen Gestalt eines gewöhnlichen Alltagsgegenstandes, dessen ontologische Klasse keine Art von Bezogenheit außerhalb seines Vorkommens als Ding aufweist. Das bedeutet, der Flaschentrockner, die Schneeschaufel oder der Kamm stehen nicht mehr für das, was ihre Funktion als Objekte ausmacht. Diese erste Stufe der Aneignung erweist sich daher als die Entfremdung eines gegebenen Gegen-

133 Marcel Duchamp im Interview mit Katharine Kuh 1961, in: Stauffer 1992, S. 120. 134 Vgl. De Duve 1993, S. 148-149. 135 In diesem Zusammenhang erklärt Arthur C. Danto: „Aber der ontologische Erfolg von Duchamps Werk, bei dem es sich ja um Kunst handelt, die gelungen ist, obwohl geschmackliche Erwägungen fehlen oder aufgehoben wurden, macht deutlich, dass das Ästhetische eben keine wesentliche oder bestimmende Eigenschaft der Kunst ist. [...] Um die philosophische Frage der Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit zu lösen, mussten die Kritiker sich daran machen, Kunst zu analysieren, die der Wirklichkeit so nahe war, dass sich durch bloße Wahrnehmung keine Unterschiede entdecken ließen.“ Danto, Arthur C.: „Die Malerei außerhalb der Geschichte: das Verschwinden des Reinen“, in: ders., Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 139-156, hier S. 153.

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standes von seiner ontologischen Klasse, sprich als die Trennung des Dinges von seinem Funktionszusammenhang. Die Ausführung dieses Aktes erfolgt als aktive Handlung durch Übernahme des Gegenstandes, was notwendigerweise zur Verschiebung seines Kontextes führt. In diesem Stadium ist der Gegenstand lediglich eine wahrnehmbare Gestalt ohne einen expliziten Identitätsbezug. Das ist das entäußerte Ding, die leere Stelle einer stofflichen Konfiguration. Die Identitätsgebung ist die folgende Stufe im Konstitutionsverfahren. Diese erfolgt als Ausübung einer ästhetischen Determination, welche imstande ist, die entfremdete Gestalt des angeeigneten Gegenstandes mit einer vom Künstler definierten Werkidentität zu besetzen. Diese Identität, die als transzendentaler Werkgehalt fungiert, stellt eine kognitive Beziehung zum Objekt her, sie macht also die Gestalt der Form als intendierte Manifestation ästhetischen Willens erfahrbar, ohne deren formales Moment an sich zu modifizieren.136 Somit hängt ihre spezifische Beständigkeit mit den Instanzen zusammen, die im Werkzusammenhang Sinn jenseits der Form zu stiften vermögen. In dieser Hinsicht erweist sich der Titel als zentral, insoweit er als immaterieller Bestandteil innerhalb der Werkganzheit per se eine sinnstiftende Funktion erfüllt, bzw. auf das Bestehen von Sinndimensionen im Werk verweist. So vermag der Titel als semantische Einheit den Bedeutungsgehalt des Werkes in die zur Anschauung gestellte Form zu transportieren, wodurch die spezifische Art von Bezogenheit zwischen Form und Inhalt offenbart wird. Und eben in dieser kognitiven Konfiguration entsteht die Werkidentität, die ganzheitliche Übereinstimmung der zur Erfahrung gebrachten Form mit den in ihr vorkommenden Sinndimensionen. Aus diesem Grund behauptete Duchamp: „Es gibt eine Spannung zwischen meinen Titeln und den Bildern. Die Titel sind nicht die Bilder oder umgekehrt, aber sie wirken aufeinander ein. Die Titel fügen eine neue Dimension hinzu, sie sind wie neue oder zusätzliche Farben.“137 Demzufolge ist der Titel im Konstitutionsverfahren mehr als ein Inhaltsbezug. Er bringt die Form als tragende Gestalt mit ihrem Sinngehalt in Verbindung, wodurch die Identität des Werkes generiert wird. Duchamp offenbarte den hohen Stellenwert dieser Funktion, indem er die angeeigneten Gegenstände mit den ihnen gegebenen Titeln beschriftete, wie die Readymades 3 ou 4 gouttes de hauteur n’ont rien à faire avec la sauvagerie und In advance of the broken arm exemplarisch zeigen. Mit der Beschriftung gelang es

136 Dies entspricht Dantos Distinktion zwischen Medium und Botschaft: „Das Medium ist nicht die Botschaft, sondern die Form, in der die Botschaft überreicht wird, und dies wird von den Künstlern, die sich der Struktur der Medien bewusst geworden sind, als stilistisches Mittel benutzt.“ Danto 1991, S. 224. 137 Marcel Duchamp im Interview mit Laurence Gold 1958, in: Stauffer 1992, S. 69.

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ihm auch, die Identität des Werkes als Kunstwerk zu signalisieren, bzw. dessen ontologische Klasse offen zu legen, was angesichts der formalen Bedingungen der Aneignung als unabdingbar erscheint. Die Relevanz dieses Aktes machte Duchamp bereits in Hinblick auf den Flaschentrockner, das erste Werk seines Typus, deutlich, als er seine Schwester damit beauftragte, den besagten Gegenstand mit einem heute unbekannten Titel zu beschriften. Die angeeigneten Gegenstände zeigen keine offensichtliche Beziehung zu den ihnen gegebenen Titeln, die darüber hinaus keine sinnhaften Sätze bilden: Die auf syntaktischer Ebene korrekt gebildeten Sätze 3 ou 4 gouttes de hauteur n’ont rien à faire avec la sauvagerie und In advance of the broken arm ergeben auf semantischer Ebene nicht nur keinen logischen Sinn, sondern stellen auch keinen notwendigen Zusammenhang zu irgendeinem Alltagsgegenstand her. Dieser Sachverhalt zeigt jedoch eine Intentionalität, die in Duchamps Werk konsequent weitergeführt wird. So entspricht die Verneinung sinnbedingter Zusammenhänge in den Titeln der Einstellung Duchamps hinsichtlich Sprache und deren Erfassen von Sinn und Wirklichkeit, einer Haltung, die Duchamp bereits ab 1912 bei seiner Auseinandersetzung mit Roussels Werk zu entwickeln begann.138 Die gewählten Titel, deren hermetische Sinnhaftigkeit keinen Schluss auf mögliche Gegenstände der Erfahrung zulässt, ermöglichen in ihrer Eigenartigkeit jedoch andere Dimensionen von Sinn jenseits einer sinnhaften Ordnung von Aussagen. Sie stellen eine dem rationalen Erkennen unzugängliche Referenz dar, die eine Beziehung zu Vorstellungen vermittelt, ohne sich auf etwas Konkretes zu beziehen.139 Sie erweisen sich folglich als abstrakte Sprachkonstruktionen mit individueller Prägung, die, wie Duchamp es formulierte, der ästhetischen Besonderheit der Farbe ähneln.140 Bringt man diese abstrakten Sprachkonstruktionen mit Alltagsgegenständen in Verbindung, fügen sie den Gegenständen eine neue Dimension von abstraktem Charakter hinzu. Das bedeutet, sie färben die Gegen-

138 Siehe in der vorliegenden Studie: „Von der Sprachanwendung zur vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit“, S. 84-90. 139 Arturo Schwarz versucht in Duchamps Werktiteln trotz ihrer hermetischen Abstraktheit konkrete Bedeutungen zu finden, die offensichtlich weder festlegbar noch beweisbar sind. Dabei rekurriert er mitunter auf psychoanalytische Diskurse. So solle In advance of the broken arm ein Phallussymbol darstellen und auf Duchamps Kastrationskomplex verweisen. Vgl. Schwarz 2000, S. 190. 140 Siehe: Marcel Duchamp im Interview mit Laurence Gold 1958, in: Stauffer 1992, S. 69.

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stände auf ontologischer Ebene und machen aus ihnen abstrakte Entitäten.141 Also vermögen diese Konstruktionen die ontologische Natur der angeeigneten Gegenstände mit ‚sprachlicher Farbe‘, die sich einer Reduktion auf Vernunftbegriffe programmatisch entzieht, grundlegend zu modifizieren. Diese sinnstiftende Beziehung zwischen Gegenstand und Titel, die im Konstitutionsverfahren als unerlässliches Mittel zur Identitätsgebung fungiert, erweist sich als eine Konstante in Duchamps Oeuvre, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei dem jeweiligen Werk um ein ‚reines‘ oder um ein ‚nachgeholfenes‘ Readymade handelt.142 Jedoch variiert in dieser relationalen Funktion der Abstraktionsgrad des Titels als Signifikat gegenüber dem Objekt als Signifikant: In einigen Readymades stellt der Titel eine Art von Beziehung zum Objekt her, die, ohne eine offensichtliche Verbindung zu dessen Gestalt und Funktion zu zeigen, das Verknüpfen von Zusammenhängen zulässt, welche, auf die Beständigkeit des Objektes als Objekt anspielend, seine Kategorie als Seiendes verändern. So lautet der Titel einer zu einem Readymade verwandelten Staubschutzhaube für eine Büroschreibmaschine Traveler’s Folding Item.143 Ein anderes Readymade, ein Garderobenbrett aus Holz, das Duchamp in seinem New Yorker Atelier auf dem Boden befestigte, betitelte der Künstler Trébuchet.144 Air de Paris ist der Ti-

141 Thierry De Duve thematisiert die Verbindung, die zwischen Farbe und Sprache in Duchamps Werk besteht – entsprechend einer Notiz Duchamps – als „eine Art pikturalen Nominalismus“, welcher Duchamp in die Nähe der abstrakten Malerei rücke. De Duves Erklärung ist jedoch problematisch, denn er verallgemeinert die Kategorie des Readymades als „Kunst aus Anlass der Malerei,“ wonach die Readymades die „allegorische Apparenz“ der Farbtuben seien. Siehe: De Duve 1993, S. 131192. 142 Entsprechend manchen Erklärungen Duchamps wird in der Literatur von ‚reinen‘ und von ‚nachgeholfenen‘ Readymades gesprochen. Die ersten sind bereits fertige Gegenstände, die keine Eingriff bzw. Hilfe brauchen, um zum Readymade zu werden, während die zweiten gewisse Eingriffe bzw. Nachhilfe seitens des Künstlers brauchen, um sich in ein Readymade zu verwandeln. Siehe: Duchamp (1961) 1981, S. 242 und De Duve 1993, S. 149-150. In der vorliegenden Studie werden die ‚nachgeholfenen‘ Readymades in Hinblick auf ihre Struktur analysiert, das heißt als fragmentierte Werkeinheiten. 143 Marcel Duchamp, Traveler’s Folding Item, 1916, Schreibmaschinenhülle der Marke Underwood (Original verschollen). Siehe: Schwarz 2000, S. 645-646. 144 Marcel Duchamp, Trébuchet, 1917, Garderobenbrett aus Holz und Metall (Original verschollen). Siehe ebd., S. 655.

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tel eines weiteren Readymades, dessen Ausgangobjekt eine leere Glasampulle war, die Duchamp in einer Apotheke in Paris erwarb.145 Nach der Identitätsgebung folgt im Konstitutionsverfahren die Behauptung individuellen Schöpfertums. Das ist die öffentliche Festlegung des Individuums als Schöpfer des ausgeführten Kunstwerkes, wie es sich als Definitionsprinzip ästhetischer Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft etabliert hatte, die von der Vorstellung ausging, „das Individuum sei das Subjekt des künstlerischen Schaffens.“146 Da keine kausale Beziehung zum stofflichen Moment des Werkes besteht, erweist sich die Behauptung individuellen Schöpfertums als die Proklamierung der Ursache von dessen Bestehen als Kunst. Diese Bekundung, welche die Identität des Objektes als künstlerisches Artefakt signalisiert, erfolgt durch die Signatur, das Erkennungszeichen, das auf das Bestehen einer Autorinstanz verweist, die, ohne im Werk gegenwärtig zu sein, sich für sein Dasein als schöpferische Ursache erklärt. Die Signatur ist folglich der Verweis auf die Echtheit dessen, wofür der Künstler als Schöpfer verantwortlich ist.147 Als handschriftliches Zeichen ist sie zugleich die Behauptung der einmaligen Gegenwärtigkeit des Werkes, welches jedoch ein multiples Vorkommen aufzuweisen vermag.148 Des Funktionszusammenhanges der Signatur bewusst, wie das vorgesehene Entstehungsverfahren des Flaschentrockners als Readymade zeigt, sorgte Duchamp dafür, dass seine Readymades mit Signatur versehen sind, so dass die für das Werk verantwortliche Autorinstanz deutlich gemacht wird.149 Die nächste Stufe im Verfahren ist die Ausstellung des vollständig verwandelten Readymades. Dieser Akt ist von großer Bedeutung, insoweit die auf produktionsästhetischer Ebene durchgeführte, ontologische Verwandlung des Dinges zur Schau gestellt wird, wodurch die wichtigste Bedingung der Erfahrung von Kunst erfüllt wird. Die Wahrnehmung als Grundlage der Kunsterfahrung setzt notwendigerweise die Wahrnehmbarkeit des Gegenstandes voraus, dessen

145 Marcel Duchamp, Air de Paris, 1919, Glasampulle, Höhe 13,5 cm, Umfang 20,5 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia. Siehe ebd., S. 676-677. 146 Bürger 1974, S. 71. 147 Vgl. ebd., S. 70-71. 148 Siehe: Benjamin 1977, S. 11-14. 149 Die Autorinstanz kann verschiedenen, vom Künstler erfundenen, auktorialen Identitäten entsprechen. Bekanntlich erfand Duchamp andere Künstleridentitäten, unter deren Namen er sonstige Werke signierte. So tauchte 1917 die Identität Richard Mutt auf, der als Autor des Werkes Fountain fungierte. Ab 1920 signierte Duchamp sonstige Werke mit dem Namen Rose Sélavy, Duchamps weiblicher Künstleridentität. Siehe: Mink 2004, S. 67-73.

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bewusste Aufnahme von den Bedingungen seines Erscheinens in einem gegebenen Raum abhängt. Dabei kann die Ausstellung des Objektes, bzw. der Übergang von Produktion zu Rezeption, zunächst eher eine private Angelegenheit sein, die außerhalb der institutionellen Rahmen des Kunstsystems geschieht, wie es der Fall bei den ersten Readymades war.150 Duchamp stellte sie zunächst in einem komplexen räumlichen Zusammenhang in seinem New Yorker Atelier aus, ohne dass eine öffentliche Präsentation für die Sicherung ihrer Identität notwendig gewesen wäre.151 Das heißt, unabhängig davon, ob sie von einem bestimmten Publikum als Readymades erkannt wurden oder nicht, sind sie entsprechend ihrer ontologischen Dimension Readymades, die zur privaten Schau ausgestellt wurden. Dies deutet unverkennbar auf eine ästhetische Intentionalität hin.152 Die Präsentation im öffentlichen Raum setzt hingegen konkrete Bedingungen voraus: In den öffentlichen Ausstellungen sind nicht nur Exponate notwendigerweise involviert, sondern auch ein Ausstellungsraum, der als Klammer für das Vorkommen von Kunst außerhalb des täglichen Geschehens fungiert, und ein Publikum, dem die ausgestellten Werke als zur Kunsterfahrung dargebotene Gegenstände präsentiert werden.153 Die konstruierte Besonderheit der Ausstellungssituation beeinflusst die Wahrnehmung des Werkes durch den Rezipienten, wonach die kategoriale Identifikation des Werkes als ästhetisches Konstrukt eine Funktion seiner kontextuellen Vermittlung ist.154 Das bedeutet, auf rezeptionsästhetischer Ebene hängt die phänomenologische Dimension des in ein Readymade verwandelten Gegenstandes mit den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit seiner Erfahrung als intendierte Werkeinheit zusammen, so dass seine Erfahr-

150 Vgl. Seigel, Jerrold: The Private Worlds of Marcel Duchamp. Desire, Liberation, and the Self in Modern Culture, Berkeley (u.a.) 1995, S. 127. 151 Diesbezüglich erklärt Seigel: „Visitors to his studio in New York were struck by the way he had filled it with what seemed to them mysterious objects; in 1917 Gabrielle Buffet-Picabia described him there, inhabiting what she called ‚a kind of Capernaum surrounded by chosen objects‘; [...] She could perceive only disorder in the collection (that is what ‚Capernaum‘ means) because Duchamp alone knew the private language in which his objects spoke to him.“ Ebd., S. 127. 152 Siehe ebd., S. 126-127. 153 Zu Bedeutung, Funktion und Implikationen des Ausstellungsraumes in Hinblick auf seine bedingende Beziehung zu dem Betrachter und den Exponaten siehe: O’Doherty, Brian: „Notes on the Gallery Space“, in: ders., Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Berkeley (u.a.) 1999, S. 13-34. 154 Siehe ebd., S. 24-25.

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barkeit als Kunst nicht nur von dem Wissen um seine Verwandlungsgeschichte bedingt ist, sondern auch von der Kontingenz seiner Präsentation. Denn die Anschauung allein ist nicht imstande, die Identität eines Readymades, dessen stoffliches Moment mit der Gestalt eines gewöhnlichen Alltagsgegenstandes übereinstimmt, zu enthüllen: „Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig sie wahrzunehmen.“155 Dies impliziert zugleich das Bewusstsein einer Kunstwelt als Kontext, in deren von Theorien und Kunstanschauungen bedingter Kontingenz Objekte zu Kunstwerken werden können, die sich als solche identifizieren lassen. Somit ist dieses Wissen konstitutiver Bestandteil des zu erfahrenden Werkes.156 Duchamps erster Versuch, mit seinen Readymades am institutionellen Kunstsystem teilzunehmen, erfolgte 1916 in New York, als er in einer Gruppenausstellung der Bourgeois Gallery, einer auf moderne Kunst spezialisierten Galerie, zwei Readymades präsentierte.157 Diese Werke, von denen bis heute nicht gewiss ist, um welche es sich handelte, wurden in der Eingangshalle der Galerie ausgestellt, wobei sie trotz ihres neuartigen und provozierenden Charakters nicht einmal wahrgenommen wurden.158 Dies deutet darauf hin, dass die Bedingungen der Erkenntnis ihrer ontologischen Tiefe auf rezeptionsästhetischer Ebene nicht ausreichend erfüllt wurden, was aber ihre ontologische Beständigkeit als solche nicht anzutasten vermochte. Als Entlarvung des institutionellen Kunstsystems erwies sich hingegen Duchamps beabsichtigte Teilnahme an der ersten Ausstellung der Society of Independent Artists, in der er sein Readymade Fountain auszustellen versuchte. Dies markierte zugleich den Beginn der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit dem Readymade.

155 Adorno 1970, S. 502. 156 Aus diesem Grund spricht Danto vom konstitutiven Charakter der Interpretation: „Aufgrund des konstitutiven Charakters der Interpretation war das Objekt solange kein Werk, wie es nicht zu einem solchen gemacht wurde. Als Verwandlungsprozedur ist die Interpretation so etwas wie eine Taufe, aber nicht im Sinne einer Namensgebung, sondern einer neuen Identitätsgebung, einer Teilnahme an der Gemeinschaft der Auserwählten.“ Danto 1991, S. 193. 157 Vgl. Daniels 1992, S. 172-176. 158 Siehe: Daniels 1992, S. 327, Anm. 19, De Duve 1993, S. 88-89, Anm. 1 und Tomkins 1999, S. 193.

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Duchamps Erfahrung mit dem Kunstsystem und dessen Institutionen spielte bei seinem Bruch mit der Tradition zum Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang erwies sich die Ablehnung seines Gemäldes Nu descendant un escalier no. 2 durch die Jury des Salon des Indépendants von 1912 als ausschlaggebend. Denn diese Ablehnung offenbarte nicht nur die puristische Geschlossenheit einer akademisch gewordenen Avantgardebewegung, sondern auch den institutionalisierten Charakter der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft, was an sich einen Widerspruch gegenüber dem darstellte, was von ihrem Ursprung her die Grundlage der Avantgardekunst ausmachte, einer Kunst, die keine institutionelle, von einer Jury abhängige Legitimierung benötige, um künstlerische Legitimität zu verdienen. Duchamp war sich dieses Umstandes vollkommen bewusst: Wie damals in Paris bekannt war, hielten sich die Gründer des Kubismus, Picasso und Braque, die ihre Missbilligung hinsichtlich jeglicher institutionellen Legitimierung der Kunst zeigten, von allen Kunstsalons fern, während die akademisch gewordenen Kubisten der PuteauxGruppe, derentwegen Duchamps Gemälde abgelehnt wurde, willig waren, an der legitimierenden Tradition der Gruppenausstellungen und der Kunstsalons teilzunehmen.159 Dabei erlebte Duchamp auch, wie sein in Paris aus puristischen Gründen abgelehntes Bild mit einem unvorstellbaren Skandalerfolg in der Armory Show rehabilitiert wurde, was ihm solch enormes Ansehen in Amerika brachte, dass er bei seiner Ankunft in New York 1915 große Privilegien genoss.160 Als im Dezember 1916 die American Society of Independent Artists in Anlehnung an den Pariser Salon des Indépendants in New York gegründet wurde, offenbarten sich erneut die legitimierenden Mechanismen des Kunstsystems und sein institutionalisiertes Instrumentarium. Das Hauptziel dieser Organisation, an deren Gründung sich mehrere Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen beteiligten, war die Veranstaltung jährlicher Ausstellungen, an denen – entsprechend dem Grundpostulat des Salon des Indépendants „Ni récompense ni jury“ – „alle Künstler unabhängig von Juryentscheidungen teilnehmen können.“161 Demnach konnte „jeder Künstler, der Staatsbürger der Vereinigten Staaten oder jedes beliebigen ausländischen Staates ist, Mitglied der Gesellschaft werden, in-

159 Vgl. De Duve 1993, S. 120, Anm. 1. Siehe dazu: Cottington 2004, S. 141-146. 160 Siehe: Tomkins 1999, S. 171-188. 161 Society of Independent Artists, Vorwort im Katalog der ersten Ausstellung am 10. April 1917. Zitiert nach: De Duve 1993, S. 85.

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dem er zu diesem Zweck ein Formular ausfüllt, einen einmaligen Beitrag von einem Dollar sowie einen Jahresbeitrag von fünf Dollar bezahlt und an der Ausstellung der Gesellschaft in dem Jahr teilnimmt, in dem er Mitglied geworden ist.“162 Hinter diesem demokratischen Beschluss verbargen sich Beweggründe, die mit den eigenen Interessen der Gründer der Gesellschaft zusammenhingen: So wollten die Vertreter der Ash Can School, die eigentlichen Promotoren bei der Gründung der Gesellschaft, eine Plattform schaffen, um ihre Kunst – einen von der Historienmalerei distanzierten Realismus mit gesellschaftskritischen Inhalten amerikanischen Charakters163 – außerhalb der restriktiven Strukturen der National Academy of Design, die deren künstlerische Legitimität verweigerte,164 zu präsentieren.165 Dabei war ihr Anspruch auf ‚Modernität‘ von der in Amerika sich ausdehnenden, europäischen Avantgarde, deren enorme Wirkungskraft auf ästhetischer Ebene 1913 während der Armory Show deutlich wurde, sichtlich relativiert, so dass sie genötigt waren, eine eigene legitimierende Bühne für ihre Kunst zu finden.166 Mit dem Zweck, neue Ausstellungsmöglichkeiten für eine eigenständige amerikanische Kunst, die jedoch an dem puristischen Kanon der in Europa entfalteten, ästhetischen Moderne orientiert war, zu ermöglichen, setzte sich der Vertreter der Gruppe um den bedeutenden Galeristen und Fotograf Alfred Stieglitz ein.167 Der von Duchamp eifrig frequentierte Kreis um den Kunstförderer Walter Arensberg war eher um die Einrichtung eines Ausstellungsraumes für avantgardistische Kunst nach dem bahnbrechenden Modell der Armory Show bemüht.168 Diese Konstellation bei der Gründung der Gesellschaft war von Anfang an dissonant und genauso problematisch wie ihre scheinbar neutrale Absicht, eine Plattform für Kunst zu schaffen. Dieses Ideal verschleierte einen auf die Institution des Kunstsalons zurückgreifenden Legitimationsbedarf entsprechend den Interessen der Gründer der Gesellschaft, so dass von vornherein eine bestimmte Art von Kunst vorausgesetzt wurde, selbst wenn andere künstlerische Richtungen auch präsentiert werden konnten. Dabei sollte der Rahmen des Salons in sei-

162 Statuten der Society of Independent Artists. Zitiert nach: De Duve 1993, S. 84. 163 Siehe: Zurier, Rebecca: Picturing the City. Urban Vision and the Ashcan School, Berkeley (u.a.) 2006, S. 24-34. 164 Vgl. ebd., S. 25. 165 Vgl. ebd., S. 118. 166 Siehe: Camfield, William A.: Marcel Duchamp. Fountain, Houston 1989, S 14-20, De Duve 1993, S. 114 und Tomkins 1999, S. 212. 167 Vgl. De Duve 1993, S. 114. 168 Vgl. ebd.

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ner geschichtlichen Verankerung als Qualitätsgarant fungieren, was auf der Folgerung beruhte, dass Kunst ein Attribut des sie definierenden Raumes werden kann, der dann entsprechend seinen Eigenschaften und Konnotationen die ihm zuerkannte Funktion als Träger von Kunst erfüllt. Der institutionalisierte Kunstsalon besaß per se Eigenschaften mit legitimierendem Wert, insoweit er ein Ort war, in dem erwartungsgemäß ‚Kunst‘ zu sehen war. In diesem Zusammenhang stellte seine Geschichte eine Legitimationsinstanz von großer Bedeutung dar; denn sie konnte als kunsthistorischer Beleg für das gelten, was Kunstsalons auch jenseits ihrer unvermeidlichen Misserfolge zu ermöglichen vermochten. So galt der Pariser Salon des Indépendants – trotz seiner unverkennbaren Akademisierung – als musterhafte Institution, da er als kunsthistorische Voraussetzung für die Etablierung der ästhetischen Moderne angesehen wurde. Aus diesem Grund berief sich die Gesellschaft bewusst auf die Tradition des Pariser Kunstsalons, wie es in ihrer Broschüre zu lesen ist: „The program of the Society of Independent Artists, which is practically self-explanatory, has been taken over from the Société des Artistes Indépendants of Paris. The later Society [...] has done more for the advance of French Art than any other institution of its period.“169 Die Armory Show kam ebenfalls sehr gelegen als Bezugspunkt. Denn sie war die für die Öffentlichkeit und die Kunstwelt bedeutendste Schau zeitgenössischer Kunst, die je in Amerika veranstaltet worden war. Es gelang ihr darüber hinaus, die damalige Kunstwelt so zu erschüttern, dass nach der Ausstellung nicht nur die National Academy of Design einen bedeutenden Mitgliederverlust verzeichnete, sondern auch neue Galerien für zeitgenössische Kunst gegründet wurden, was den Beginn der Moderne in Amerika markierte.170 Der in den Medien wegen der avantgardistischen Radikalität der europäischen Exponate ausgelöste Skandal trug als wirkungsvolle Werbung zu einer großen Verbreitung der Ausstellung in der Öffentlichkeit bei, was unweigerlich zusätzliche Besucher anzog. Duchamps Gemälde Nu descendant un escalier no. 2 spielte dabei eine wichtige Rolle. Das Gemälde allein löste solche Furore aus, dass die Besucher Schlange standen, um sich das Bild anzuschauen, über welches nicht nur die Zeitungen spöttisch berichteten, sondern für welches sogar ein Preis ausgesetzt wurde: Die beste Erklärung des Bildes durch die Zuschauer sollte mit zehn Dollar belohnt werden.171 Dies machte Duchamp zu einer berühmten Persönlichkeit in New York. So galt er bei der Gründung der Gesellschaft als eine der Figuren, die bei

169 Zitiert nach: Camfield 1989, S. 19. 170 Siehe: Watson, Peter: „291 and the Armory Show“, in: ders., From Manet to Manhattan. The Rise of the Modern Art Market, New York 1992, S. 174-184. 171 Vgl. Tomkins 1999, S. 140.

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der Armory Show entscheidend dazu beigetragen hatten, dass die Ausstellung in breiteren Kreisen der Öffentlichkeit bekannt wurde. In diesem Zusammenhang schien die Präsenz Duchamps, der sich dazu bereit erklärte, an der institutionellen Gründung der Gesellschaft und an ihrer Gestaltung mitzuwirken, von großem Nutzen für das geplante Unternehmen zu sein. Denn er hatte nicht nur Erfahrungen mit Kunstsalons von anerkanntem Status,172 sondern er war auch eine öffentliche Figur in New York, die als Garant für Avantgardismus und Internationalität angesehen war. Demzufolge sprach man Duchamp den Vorsitz des Hängungskomitees zu, ein Amt, das einen umfassenden Überblick über die Ausstellungssituation und ihre Exponate ermöglichte. Seine Haltung dem Unternehmen gegenüber manifestierte sich bereits bei der Ausübung des ihm anvertrauten Amtes: So schlug er vor, die demokratischen Ansprüche der Ausstellung zuspitzend, dass die Exponate nach der alphabetischen Reihenfolge der Familiennamen der Künstler aufgehängt werden sollten, was nicht nur eine ästhetische Privilegierung, sondern auch jeglichen Versuch einer ästhetischen Vereinheitlichung verhindern sollte. Angesichts dieses Beschlusses zog sich Robert Henri, der Anführer der Ash Can School, aus der Gesellschaft zurück173 und der Rechtsanwalt und Sammler John Quinn, der Rechtsberater der Organisation, der mit Duchamp freundschaftlichen Umgang pflegte,174 erklärte, das sei „wild gewordene Demokratie.“175 Duchamps Einstellung zeigte sich noch deutlicher, als er einen Tag vor der Ausstellungseröffnung am 10. April 1917 die Qualität der Exponate auf ästhetischer Ebene bewertete. So erklärte er, dass die besten Werke der Ausstellung – bis dahin die größte, je in Amerika veranstaltete Kunstausstellung – Supplication von Louis Eilshemius und Claire Twins von Dorothy Rice seien.176 Diese Aussage ist von großer Bedeutung angesichts der formalen Beschaffenheit der besagten Gemälde. Denn unter den 2125 Exponaten von 1235 Künstlern, deren große Mehrheit jedoch Amateurkünstler waren, befanden sich Werke aller Art und Qualität: von einigen anspruchsvollen Arbeiten avantgardistischen Charak-

172 Während seiner Pariser Zeit hatte Duchamp mehrfach an dem Salon d’Automne, dem Salon des Indépendants, der Société Normande de Peinture Moderne sowie an der Ausstellung der Section D’Or im Jahr 1912 teilgenommen. Siehe: Daniels 1992, S. 19-36. 173 Vgl. Tomkins 1999, S. 213. 174 Vgl. Camfield 1992, S. 18, Anm. 8. 175 Vgl. Tomkins 1999, S. 213. 176 Vgl. De Duve 1993, S. 100-101.

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ters – wie Brancusis Plastik Prinzessin Bonaparte,177 die Walter Arensberg für seine Sammlung erwarb178 – über künstlerisch bedeutsame Fotografien – wie Stieglitz’ The Steerage oder The Hand of Man179 – bis zu kubistischen Stillleben, realistischen Genredarstellungen der Ash Can School, akademischen Landschaften sowie Arbeiten unterschiedlicher Art und Vollendung auf Amateurniveau.180 In dieser Konstellation erschien Duchamps Beurteilung als befangen, da die von ihm ausgezeichneten Gemälde eine sichtliche amateurhafte Gestaltung zeigten: In beiden Gemälden wird der Versuch offensichtlich, sich an die Konventionen einer traditional darstellenden Malerei anzupassen, mit der sie in ihrer äußerst prekären Beschaffenheit unbefriedigend konvergieren. So handelt es sich bei Eilshemius’ Bild um eine in primitiver Technik angefertigte Darstellung einer sichtlich unproportionierten Figur im Freien; Rices Gemälde ist ein ans Karikierende grenzendes Doppelporträt zweier übergewichtiger Damen in seltsam anmutenden Kostümen. Das Amateurniveau sowie die unbeholfene Nachlässigkeit der Ausführung sind in beiden Werken unverkennbar. Die Anmerkung Duchamps schien jedoch noch tiefsinniger zu sein als die offensichtliche Ironisierung im Vordergrund.181 Denn sie signalisiert den vorprogrammierten ‚Fehler‘

177 Constantin Brancusi, Prinzessin Bonaparte bzw. Prinzessin X, 1916, Bronze, 58,4 x 41,9 x 22,9 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia. 178 Vgl. Camfield 1989, S. 55. 179 Alfred Stieglitz, The Hand of Man, 1910, Fotogravüre, 24,2 x 31,9 cm, National Gallery of Art, Washington D.C. und The Steerage, 1907, Fotogravüre, 32,2 x 25,8 cm, National Gallery of Art, Washington D.C. 180 Vgl. De Duve 1993, S. 85. 181 Duchamps Bewunderung für Louis Eilshemius, einen verarmten, gescheiterten und in den Wahnsinn getriebenen, autodidaktischen Maler aus New York, dem Duchamp 1920 und 1924 zwei Solo-Ausstellungen in der Société Anonyme ermöglichte, spricht für eine Solidarisierung mit Eilshemius tragischem Schicksal. Duchamp erkannte in Eilshemius eine bemerkenswerte künstlerische Naivität, die offensichtlich nicht mit der spitzfindigen Kunstwelt übereinstimmt. So erschien im Mai 1917, anlässlich der Ausstellung der Gesellschaft, in der zweiten Nummer des von Duchamp zusammen mit Henri-Pierre Roché und Beatrice Wood herausgegebenen Magazins The Blind Man ein Interview der Redakteurin Mina Loy mit Eilshemius. Am Ende des Artikels schrieb Loy, sich auf die Meinung Duchamps beziehend: „Anyhow, Duchamp meditating the levelling of all values, witnesses the elimination of sophistication.“ Diese Anmerkung deutet auf die Position Duchamp gegenüber der Sophistikation der Kunstwelt hin, welcher Eilshemius’ Primitivismus zum Opfer

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der sich kontinuierlich zuspitzenden Sophistikation einer auf das Visuelle gerichteten Ästhetik, also einer Ästhetik, deren visuelle Spitzfindigkeit in Kunstsalons gefeiert wird. Vor diesem Hintergrund entschied sich Duchamp, sowohl die ästhetischen Ansprüche der American Society of Independent Artists bzw. ihren strikt vorprogrammierten Ästhetizismus als auch ihre institutionellen Legitimationsmechanismen auf die Probe zu stellen. Zu diesem Zweck fertigte er ein neues Readymade an, das speziell für diese Ausstellung konzipiert wurde: Etwa eine Woche vor Beginn der Ausstellung machte sich Duchamp zusammen mit Walter Arensberg und Joseph Stella an die Aufgabe, das Immanenzobjekt des zu realisierenden Readymades zu besorgen. So kaufte er bei der Firma J.L. Mott Iron Works, einem Hersteller von Klempnerbedarf in der 118 Fifth Avenue in New York,182 ein Porzellan-Urinal Modell ‚Beldforshire‘,183 brachte es in sein Atelier, gab ihm den Titel Fountain, drehte es auf den Kopf und trug mit schwarzen Buchstaben unten auf den linken Rand den Namen R. MUTT als Autorreferenz und die Jahreszahl 1917 ein. Abbildung 9: Zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung Marcel Duchamp, Fountain, 1917, traf das Werk am Ausstellungsort ein, zuPorzellanes Pissoirbecken (Original sammen mit einem Umschlag, in dem der verschollen). Alfred Stieglitz, The Name und die Adresse des fiktiven Künstexhibit refused by the independents, lers Richard Mutt, sowie sein Mitgliedsbei1917, Fotografie. trag, die Aufnahmegebühr und der Titel des 184 eingereichten Werkes standen. Als das Kunstwerk die Society erreichte, wusste keiner ihrer Gründer bis auf Joseph Stella und Walter Arensberg, die Duchamp in seinem Vorhaben unterstützten, dass sich hinter Richard Mutt Marcel Duchamp verbarg, der mit seiner eigentlichen Künstleridentität bei der Ausstellung der Gesellschaft nicht vertre-

fiel. Siehe: Loy, Mina: „Pas de commentaires!“, in: The Blind Man, Nr. 2, 1917, S. 11-12. 182 Vgl. Camfield 1989, S. 21, Anm. 18. 183 Vgl. Tomkins 1999, S. 214. 184 Vgl. ebd., S. 214-215.

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ten war.185 Duchamp wollte die Stringenz seines Vorhabens nicht dadurch kompromittieren, dass die Autorschaft des Werkes mit einem der Direktoren der Gesellschaft in Verbindung gebracht wurde; denn der institutionelle Zwang, der diese Verbindung bedeutet hätte, hätte die erwünschte Unabhängigkeit des Werkes verhindert.186 Aus diesem Grund erfand Duchamp eine völlig unbekannte Künstleridentität, die er in Anspielung auf den Namen des Herstellers des Urinals ‚J.L. Mott Iron Works‘ und auf die Comicfiguren ‚Mutt and Jeff‘ konzipierte; der Vorname ‚Richard‘ bezieht sich auf das französische Wort ‚richard‘, das umgangssprachlich für ‚reichen Mann‘ stehende Lexem ‚Geldsack‘.187 Die Reaktion auf das Werk in der Gesellschaft mündete in seiner Ablehnung, was angesichts ihres Grundpostulates „no jury, no prizes“ zu einer äußerst heiklen Angelegenheit wurde. Durch Beatrice Woods Augenzeugenbericht ist bekannt, wie sich vor dem Objekt in einem der Aufbewahrungsräume eine heftige Diskussion unter zwei Gründern der Gesellschaft abspielte: George Bellows, ein bedeutender Vertreter der Ash Can School, der auch Mitglied des Hängungskomitees war, argumentierte gegen das Werk: „We cannot exhibit it. [...] It is indecent. [...] Someone must have sent it as a joke. It is signed R. Mutt; sounds fishy to me. [...] It is gross, offensive!“188 Auf diese mit Irritation und Empörung formulierten Argumente erwiderte Arensberg mit redlicher Überlegenheit: „We cannot refuse it, the entrance feet has been paid. [...] A lovely form has been revealed, free from its functional purpose, therefore a man clearly has made an aesthetic contribution. [...] This is what the whole exhibition is about; an opportunity to allow an artist to send in anything he chooses, for the artist to decide what is art, not someone else. [...] This Mr. Mutt has taken an ordinary object, placed it so that its useful significance disappears, and thus has created a new approach to the subject.“189

Die Uneinigkeit innerhalb der Gesellschaft führte zu einer Krisensitzung des Vorstandes, um den Fall zu besprechen, wobei sich aufgrund des Zeitmangels – die Versammlung fand erst am 9. April etwa eine Stunde vor der privaten Eröffnung statt – lediglich zehn Mitglieder versammeln konnten. Ihre mit knapper Mehrheit gefallene Entscheidung, die in eklatantem Widerspruch zu den Grün-

185 Vgl. ebd., S. 214. 186 Vgl. Camfield 1989, S. 22. 187 Vgl. ebd., S. 23-24. 188 Wood, Beatrice: I Shock Myself. The Autobiography of Beatrice Wood, California 1985, S. 29-30. 189 Ebd.

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dungspostulaten der Gesellschaft stand, war die Weigerung, dem Künstler Richard Mutt das Recht zuzugestehen, sein Werk in der Ausstellung zu präsentieren. Darauf folgte der unmittelbare Rücktritt von Arensberg und Duchamp vom Vorstand der Gesellschaft.190 Die Zensur löste die Reaktion der Presse aus, die jedoch aus Informationsmangel mit unzutreffenden Zeitungsartikeln über den Fall berichtete. Dabei waren die wichtigsten Fakten des Falles nicht bekannt: Da das Objekt nie ausgestellt wurde, wusste man nicht, um welche Art von Gegenstand es sich handelte. Man beschrieb es, entsprechend den Mitteilungen des Vorstandes der Gesellschaft, als ein Badezimmerzubehör, nicht jedoch als ein Urinal, dessen Bezeichnung und Funktion empfindliche Schamgefühle in der damaligen Gesellschaft auslösten.191 Es war auch nicht bekannt, wer Richard Mutt eigentlich war bzw. welche Rolle Duchamp dabei spielte, der aus Sicht der Öffentlichkeit aus ethischen Gründen angesichts der fragwürdigen Entscheidung der Gesellschaft von deren Vorstand zurücktrat.192 Zudem wusste niemand, was mit dem Werk passierte, das bald nach der Vernissage für immer verschwand, was bis heute aufgrund widersprüchlicher Aussagen ungeklärt ist.193 Durch Beatrice Woods Berichte ist jedoch bekannt, was Duchamp einige Tage nach der Ablehnung mit dem Objekt machte: Er brachte es um den 19. April in Stieglitz’ Galerie ‚291‘, um eine fotografische Aufnahme des Werkes anfertigen zu lassen, welche im Magazin The Blind Man veröffentlicht werden sollte: „At Marcel’s request, he [Stieglitz] agreed to photograph the Fountain for the frontispiece of the magazine. He was greatly amused, but also felt it was important to fight bigotry in America. He took great pains with the lighting, and did it with such skill that a shadow fell across the urinal suggesting a veil.“194 Stieglitz’ fotografische Abbildung erschien im Mai 1917 in der zweiten Nummer der Zeitschrift The Blind Man, eines kleinen satirischen Magazins, das Duchamp zusammen mit Henri-Pierre Roché und Beatrice Wood anlässlich der Ausstellung herausgab, wobei ihre Herausgeberschaft erst in der zweiten Nummer durch die Initialen P.B.T. (P für Pierre Roché, B für Beatrice Wood und T für Totor, Duchamps Spitzname) kryptisch vermerkt wurde.195 In der besagten Nummer, auf deren Umschlag eine Reproduktion von Duchamps Broyeuse de

190 Vgl. Camfield 1989, S. 26. 191 Vgl. De Duve 1993, S. 89-90. 192 Vgl. Tomkins 1999, S. 217-218. 193 Vgl. ebd., S. 216-217. 194 Wood 1985, S. 30. 195 Vgl. De Duve 1993, S. 92-93.

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chocolat, no. 2196 zu sehen war, erschien nicht nur die Abbildung von Fountain unter der Überschrift „The exhibit refused by the independents“ – mit dem entsprechenden Verweis auf ihren fiktiven Künstler und ihren prominenten Fotografen –197, sondern auch ein unsignierter Artikel betitelt „The Richard Mutt Case“.198 Mit dieser Publikation wurde also die erste bildliche Reproduktion des bis dahin vage angesprochenen Skandalobjektes sowie die erste Erklärung des Falles veröffentlicht, wodurch die fragwürdige Legitimationsmaschinerie einer sich selbst behauptenden Anschauung von Kunst entlarvt und zugleich eine kurze und präzise Erläuterung des Readymades als legitime, über die Konventionen der institutionalisierten Kunst hinausgehende Kunstform geliefert wurde: „They say any artist paying six dollars may exhibit. Mr. Richard Mutt sent in a fountain. Without discussion this article disappeared and never was exhibited. What were the grounds for refusing Mr. Mutt’s fountain: 1. Some contended it was immoral, vulgar. 2. Others, it was plagiarism, a plain piece of plumbing. Now Mr. Mutt’s fountain is not immoral, that is absurd, no more than a bath tub is immoral. It is a fixture that you see every day in plumbers’ show windows.

196 Marcel Duchamp, Broyeuse de chocolat, no. 2, 1914, Öl und Fäden auf Leinwand, 65 x 54 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia. 197 Die Tatsache, dass Duchamp für die fotografische Dokumentation von Fountain Stieglitz auswählte, ist von großer Bedeutung. Denn Stieglitz war nicht nur ein Fotograf, der für die Anerkennung der Fotografie als eine autonome Kunstform Enormes geleistet hatte, sondern er war auch der Besitzer der Galerie ‚291‘, die mehr als eine kommerzielle Galerie ein Forum für die Avantgarde in New York war. Er hatte erstmals in Amerika Werke von hoch renommierten Künstlern der ästhetischen Moderne wie Rodin, Matisse, Cézanne, Toulouse-Lautrec ausgestellt, was seiner Galerie einen Qualitätsstatus sicherte. Seine Rolle bei der Veranstaltung der Amory Show, bei der er Vizepräsident gewesen war, machte ihn ebenfalls zum Garant der Avantgarde. So war Stieglitz’ Fotografie von Fountain eine indirekte Qualitätsbestätigung. Aus diesem Grund wurde seine Autorschaft bei der Veröffentlichung deutlich vermerkt. Darüber hinaus war es unvermeidlich, dass Stieglitz’ eigene künstlerische Befähigung in die Aufnahme des Objektes einfließen würde. Siehe: Camfield 1989, S. 38, De Duve 1993, S. 107-108 und Watson 1992, S. 177. 198 Die Autorschaft dieses Artikels ist auf die Herausgeber des Magazins zurückzuführen. Siehe: Camfield 1989, S. 37 und Tomkins 1999, S. 218.

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Whether Mr. Mutt with his own hands made the fountain or not has no importance. He CHOSE it. He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disappeared under the new title and point of view – created a new thought for that object. As for plumbing, that is absurd. The only works of art America has given are her plumbing and her bridges.“199

Diese Veröffentlichung erwies sich als die Kulmination einer kritischen Hinterfragung, durch welche es Duchamp gelang, mit dem Readymade das institutionalisierte Kunstsystem in seinen geschlossenen, sich selbst legitimierenden Strukturen zu enthüllen. Dabei zeigte sich das Kunstsystem als eine rigide Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft, die sehr stark dazu neigte, die Vorstellung von Kunst in vordefinierte Bahnen zu lenken, so dass die Kunstproduktion entgegen ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit den wiederkehrenden Regelmäßigkeiten abgrenzender Ordnungsmechanismen unterworfen war.

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Duchamps ästhetische Erkundungen erreichten zum Ende der dreißiger Jahre nach mehrjähriger Absonderung vom Kunstbetrieb eine neue Ebene künstlerischen Schaffens, was durch das Interesse der Surrealisten, Duchamp für ihre Sache zu gewinnen, ermöglicht wurde. So gelang es André Breton, für die Konzeption und Gestaltung der 1938 in Paris stattzufindenden Exposition Internationale du Surréalisme Duchamp als ‚générateur-arbitre‘ – den kuratorischen Leiter der Ausstellung – zu engagieren. Die in den großzügigen Räumlichkeiten der Galerie des Beaux-Arts stattfindende Ausstellung, an der sechzig Künstler aus vierzehn Ländern teilnahmen, sollte nicht nur surrealistische Bilder und Objekte präsentieren, sondern auch als Ganzes ein surrealistisches Ereignis werden.200 Diese Aufgabe stellte sich als avantgardistische Positionierung dar angesichts der etablierten Tradition des Ausstellens als das bloße Aneinanderreihen von in sich abgeschlossenen Gegenständen ästhetischer Natur in einem zum Ausstellungszweck bestimmten Raum.201 Denn mit dem Aufkommen der Avantgarde begann der Akt des Ausstellens ein Mittel zu werden, um die Radikalität einer ästheti-

199 P.B.T. (Duchamp, Marcel/Roché, Henri-Pierre/Wood, Beatrice): „The Richard Mutt Case“, in: The Blind Man, Nr. 2, 1917, S. 5. 200 Vgl. Tomkins 1999, S. 364. 201 Vgl. O’Doherty 1999, S. 15-16.

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schen Erscheinung zu verdeutlichen, bzw. um ihren Unterschied zu anderen Tendenzen zu markieren, wodurch die Ausstellung als solche einen ideologischen Charakter zu gewinnen begann.202 Dabei stellte die geplante Ausstellung der Surrealisten einen neuen Anspruch auf: die Inszenierung ihrer ästhetischen Haltung. Dies setzte notwendigerweise eine spezifische Art räumlicher Gestaltung voraus, was der Ausstellung eine raumbezogene Spezifität verleihen sollte. Abbildung 10: Exposition Internationale du Surréalisme, 1938, Gruppenausstellung in der Galerie des Beaux-Arts, Paris.

Von der Auffassung des Raumes als ein Medium künstlerischen Ausdrucks ausgehend, setzte sich Duchamp mit der Aufgabe auseinander, den mit ästhetischem Gehalt aufzuladenden Ausstellungsort zu gestalten, wobei er als SchöpferVermittler und Generaldirektor auf die Intervention mehrerer an der Ausstellung teilnehmender Künstler rekurrierte.203 Dies entsprach der gewünschten Absicht, die gesamte Ausstattung der Galerie grundlegend zu modifizieren, um im Innenraum eine völlig neue Situation herzustellen. So wurde in der Empfangshalle Salvador Dalís Regentaxi platziert, ein an eine Wasserleitung angeschlossenes Taxi, in dessen Innerem ständiger Nieselregen auf die Insassen, eine fischköpfige Figur und eine mit Chicorée, Salatköpfen und lebendigen Schnecken verzierte

202 Vgl. Bishop, Claire: Installation Art. A Critical History, London 2005, S. 20. 203 Vgl. ebd.

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Schaufensterpupe, fiel.204 Hinter der Empfangshalle folgte ein langer Gang, die sogenannte Surrealistische Straße, auf deren beiden Seiten sich mehr als zwanzig weibliche Schaufensterpupen befanden, die jeweils von sechzehn an der Ausstellung beteiligten Künstlern unabhängig voneinander gestaltet wurden. Emailleschilder mit den Namen von realen und fiktiven Straßen hingen in bestimmten Abständen dazwischen.205 Der Gang führte in den Hauptsaal, den zentralen Raum der Ausstellung, der von Duchamp in eine räumliche Einheit ästhetischen Charakters verwandelt wurde: Zwölfhundert Kohlensäcke, welche, mit Zeitungspapier statt Kohle ausgestopft, täuschend den Eindruck von Volumen und Gewicht echter Kohlensäcke suggerierten, hingen dicht aneinander von der Decke herab, so dass die Oberlichtbeleuchtung drastisch verdunkelt wurde, was eine einheitliche Atmosphäre im Raum erzeugte.206 Auf dem Boden befanden sich Herbstlaub, Farn und Gras zerstreut; vier luxuriöse Betten waren in jeder Raumecke platziert, während die Exponate im Dunkeln an den Wänden und an umgedrehten Türen, die mitten im Raum als Ausstellungsfläche fungierten, dicht aneinander hingen.207 Diese räumliche Gestaltung erwies sich als ein konsequent ausgeführtes Projekt Duchamps, den ganzen Raum einer Galerie in eine einheitliche Situation ästhetischer Natur zu verwandeln, wobei im Raum andere für sich allein bestehende Kunstwerke vorhanden waren.208 In der Kunstgeschichte stellt diese in situ Produktion – zusammen mit El Lissitzkys Proun-Raum (1923)209 und Kurt Schwitters’ Merzbau (1923-1937)210 – den Beginn einer neuen, vom Raum ausgehenden Funktion ästhetischer Gestalthaftigkeit dar, kraft derer der Rezipient in seiner vollständigen Körperlichkeit – im Gegensatz zum traditionellen Betrachter der bildenden Kunst – als eine reale Präsenz im zur ästhetischen Einheit gewordenen Raum vorausgesetzt wird. So ging es Duchamp bei der Realisation dieser Ausstellung um die Erstellung einer räumlichen Konfiguration, in deren Kontingenz Kunst- und Alltagsgegenstände über ihre spezifische Beschaffenheit

204 Vgl. Tomkins 1999, S. 364. 205 Vgl. ebd., S. 264-265. 206 Vgl. O’Doherty, Brian: „Context as Content“, in: ders., Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Berkeley (u.a.) 1999, S. 65-86, hier 67-69. 207 Vgl. Bishop 2005, S. 20. 208 Vgl. O’Doherty 1999, S. 69. 209 Siehe: Bishop 2005, S. 80-81. 210 Siehe ebd., S. 41-42.

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hinaus einheitlich subsumiert wurden, so dass sie in ihrer vielfältigen Totalität eine einzige Entität der Erfahrung bildeten.211 Vier Jahre nach der Maßstäbe setzenden Surrealistenausstellung, deren Realisierung zum aufsehenerregenden Ereignis wurde, veranstalteten die Surrealisten eine weitere internationale Ausstellung, welche in New York zugunsten des Koordinationsrats französischer Nothilfegesellschaften stattfinden sollte. Es gelang Breton erneut, Duchamp für diese Ausstellung zu gewinnen, die in Anspielung auf einen Antrag auf die amerikanische Staatsbürgerschaft First Papers of Surrealism genannt wurde.212 Duchamp sollte, wie in der Pariser Ausstellung, für ein passendes raumübergreifendes Projekt sorgen, in das die Exponate dem avantgardistischen Charakter der Ausstellung entsprechend integriert werden sollten. So kaufte Duchamp sechzehn Meilen Bindfaden, den er mit Hilfe von Breton und anderen an der Ausstellung beteiligten Künstlern durch die Räumlichkeiten des Ausstellungsortes spannte: Über Säulen, Kamine, Kronleuchter und Stellwände wurde der Bindfaden in alle Richtungen gespannt, so dass ein überdimensionales plastisches Gewebe innerhalb des gesamten Ausstellungsraumes konstruiert wurde, was eine einfache Wahrnehmung der Exponate – einige Werke waren kaum noch zu sehen – beeinträchtigte.213 Diese Ausstellungssituation machte den Raum zu einer geschlossenen Umgebung, deren räumliche Immanenz eine Erfahrungseinheit bildete, in der autonome Kunstgegenstände gemäß der Kontingenz des Raumes ausgerichtet waren. Dabei wurde eine tatsächliche Sperre zwischen dem Betrachter, den Exponaten und der ihre Stofflichkeit begrenzenden Leere generiert, so dass der Ausstellungsraum zu einem labyrinthischen System von Wahrnehmungswegen wurde.214 Darüber hinaus vermochte der Bindfaden, der an sich kein Symbol für etwas war bzw. auf nichts Spezifisches hinwies, den Raum mit Sinngehalt aufzuladen, indem er eine Situation schuf, die dem ästhetischen Charakter der Exponate entsprach.215 Bei der Eröffnung sorgte Duchamp dafür, dass die labyrinthische Dislokation des Ortes noch deutlicher wurde, indem er mit einer Gruppe von Kindern die Vereinbarung traf, dass sie beim Eröffnungsabend erscheinen und in den Räumlichkeiten der Ausstellung frei spielen sollten.216

211 Vgl. O’Doherty 1999, S. 67-69. 212 Vgl. Demos, T.J.: „Duchamp’s Labyrinth: First Papers of Surrealism 1942“, in: October, Vol. 97, 2001, S. 91-119, hier S. 91. 213 Vgl. Tomkins 1999, S. 388. 214 Vgl. Demos 2001, S. 94. 215 Vgl. O’Doherty 1999, S. 72-73. 216 Vgl. Tomkins 1999, S. 388.

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Abbildung 11: First Papers of Surrealism, 1942, Gruppenausstellung in Whitelaw Reid Mansion, New York.

Es gelang Duchamp bei beiden Projekten mit den Surrealisten, nicht nur die Idee des Ausstellens als bloßes Aufhängen von Bildern grundlegend zu erweitern, sondern auch eine ästhetische Ordnung zu zeigen, die sich der Eigenschaften des Raumes bedient, um eine neuartige Form künstlerischer Gestalthaftigkeit zu schaffen. Diese neue Möglichkeit künstlerischen Schaffens als Produktion in situ machte den Ausstellungsakt zu einer spezifischen raumbezogenen Gestaltungsfunktion, die imstande ist, die für sich bestehende Beschaffenheit anderer im Raum vorhandener Gegenstände in der sie umgebenden Kontingenz des Raumganzen einzubinden, so dass die generierte Raumsituation zur Immanenzform einer pluralischen Einheit ästhetischer Natur wird. Dabei wird ein Spannungsverhältnis zwischen dem umgebenden Raum als Werkganzem und seinem Rezipienten generiert, insoweit der Raum als einzelne Situation nicht nur eine geistige, sondern auch eine körperliche Beteiligung seitens der Zuschauer voraussetzt: Der Ausstellungsbesucher wird in seiner körperlichen Präsenz im Raum dazu aufgefordert, sich in die generierte Situation hineinzubegeben, diese in ihrer räumlichen Ganzheit wahrzunehmen, um ihren Sinnzusammenhang ausmachen zu können. Mit beiden Projekten eröffnete Duchamp eine ästhetische Kategorie

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sowohl bei der Gestaltung als auch bei der Betrachtung von Kunst, was eine beachtliche Wirkung auf die Entwicklung raumbezogener Kunst ausübte.217

6

F AZIT

Die gewaltige Wirkung von Duchamps Werk auf die Neo-Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre sowie auf die Postmoderne scheint angesichts seiner indifferenten Haltung unverhältnismäßig zu sein.218 Dennoch gelang es ihm, eine grundlegende Revolution auf ästhetischer Ebene zu bewirken, woraus ein neues Verständnis von Kunst resultierte. Aus einem unsicheren Beginn im Kern der historischen Avantgarde, in deren ästhetischen Ausprägungen – Impressionismus, Postimpressionismus, Kubismus und Futurismus – Duchamp sich versuchte, gelangte er zu einer eigenen künstlerischen Sprache, in der er das kubistische Prinzip der simultanen Repräsentation unterschiedlicher Perspektiven mit der Darstellung von Bewegung vereinte. Dabei begann Duchamp, sich von der zunehmenden Akademisierung des Kubismus zu distanzieren, was ihn allmählich dazu brachte, die Grenzen einer auf das Visuelle gerichteten Kunst in Frage zu stellen. Duchamps Bruch mit der historischen Avantgarde begann mit der Suche nach neuen Bezügen zur Kunst außerhalb der etablierten Pariser Künstlerkreise und jenseits der traditionellen bildenden Kunst. Den Ausstieg aus den tradierten Ausdrucksformen der bildenden Kunst fand Duchamp in der Sprache, deren Funktionszusammenhänge ihm neue Formen bildlich-semantischer Gestalthaftigkeit ermöglichten. Damit hing Duchamps skeptische Haltung hinsichtlich der welterschließenden Funktion der Sprache und deren kommunikativen Eigenschaften zusammen, eine Skepsis, die ihm als Ausgangspunkt für eine Revision der Ästhetik diente. In diesem Zusammenhang entstand die Auffassung anderer Dimensionen von Sinn, die nicht von einer sinnhaften Ordnung von Aussagen abhängen, sondern von der freien Willkür ästhetischen Denkens. Diese Willkür ist die Manifestation einer vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit, in der Duchamp eine ästhetische Konstante zur Kunstproduktion fand. Er wendete diese Art von Sinnhaftigkeit nicht nur in den rätselhaften und über sich selbst hinausweisenden Ti-

217 Siehe in der vorliegenden Studie: „Des Anderen Werk: Die Konfiguration der Aneignung“, S. 201- 279. 218 Duchamps Wirkung auf die Entwicklung der Neo-Avantgarde wird im Kapitel „Die amerikanische Flagge und die Immanenz der Zwiespältigkeit“ (S. 137-200) ausführlich behandelt.

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teln seiner Werke an, sondern auch in der Produktion von Arbeitsnotizen, denen ein ästhetischer Wert zukam und welche als bestimmende Metaebene – einen sinngenerierenden Bezug zu anderen Werkeinheiten schaffend – fungierten. Duchamps Arbeitsnotizen, die an sich einen Werkcharakter aufweisen, stehen nicht nur in Verbindung mit stofflich ausgeführten Werken, sondern sie stellen auch spekulative Konstruktionen der Vorstellung dar, die als Einheiten ästhetischer Natur ausgeführt werden können, was eine relationale Funktion zwischen einem immateriell Notwendigen und einem stofflich Kontingenten impliziert. Demnach stellen diese Notizen eine Beziehung sowohl zu Gegenständen der Erfahrung als auch zu Möglichkeiten her, die stofflich erfahrbar werden können. Im Zuge dieser konzeptuell werdenden Versuche gelangte Duchamp auch zu theoretischen Schlüssen, welche die zweckrationalen Bestimmungen der Wissenschaft hinterfragten, was auf der Überzeugung gründete, dass die Parameter zur Herstellung aufschlussreicher Sinnzusammenhänge – Duchamps Skeptizismus zufolge – von der empirischen Zweckrationalität willkürlicher Anschauungen abhängen. So griff Duchamp, von diesen Überlegungen ausgehend, auf den Zufall als legitimen Generator künstlerischer Werkeinheiten zurück. Der Zufall und die vernunftwidrige Sinnhaftigkeit wurden somit gestaltende Funktionen im Kern von Duchamps Oeuvre, was die Bedingungen für das Aufkommen eines neuen Werktypus ermöglichte, der die Beschaffenheit des Kunstwerkes als ästhetische Einheit neu konzipierte. Die Verselbstständigung des neuen Werktypus begann auf der Basis von Aneignung und Zusammenfügung, was auf der Fragmentierung einer im Lebenszusammenhang verankerten Totalität beruht: Ein im Alltag vorhandenes Objekt wird aus seinem Funktionszusammenhang herausgezogen, um entsprechend einer künstlerischen Bestimmung, die programmatisch auf Indifferenz hinsichtlich Qualitätskriterien ästhetischer Natur gründet, Bestandteil einer Werkganzheit zu werden, die ihrerseits für zusätzliche Interventionen des Künstlers empfänglich ist. Dies markierte die Einführung des vorgefundenen Objektes in die Kunst, welches als stofflicher Gegenstand nicht aus einem individuellen Produktionsprozess resultiert, sondern aus den mechanischen Verfahren des industrialisierten Lebenszusammenhanges. Diese Werkeinheiten, die in der Literatur als ‚nachgeholfene Readymades‘ bezeichnet werden, markieren zugleich den Beginn der programmatischen Verselbstständigung des vorgefundenen Objektes, was auf der Grundlage einer ontologischen Verschiebung erfolgt. Denn die Auswahl eines zum Readymade designierten Gegenstandes, der in seiner Erscheinungsform nicht modifiziert wird, bedeutet die systematische Veränderung seiner Identität als Seiendes: Das vorgefundene Objekt wird zum Immanenzobjekt einer ästhetischen Werkeinheit, indem seine ontologische Klasse mittels Entfremdung, Kon-

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textverschiebung und Identitätsgebung verwandelt wird. Dabei wird seine formale Beschaffenheit als Gegenstand vom Künstler nicht verändert. Folglich besteht seitens der Autorinstanz keine kausale Beziehung zu seinem stofflichen Moment. Das ist das formale Grundmerkmal der sogenannten ‚reinen Readymades‘. Diese polemische Strategie wurde und wird häufig als ‚Anti-Kunst-Geste‘ bezeichnet, da sie nicht nur eine kunsttheoretische Herausforderung darstellt, sondern auch alle herkömmlichen Vorstellungen von Kunst ad absurdum führt. Duchamps künstlerische Praxis erlaubte ihm mittels der offenkundigen Schwierigkeiten, die das Readymade auf rezeptionsästhetischer Ebene darstellt, das institutionelle Kunstsystem und seine Legitimationsmechanismen in Frage zu stellen. Dies gelang ihm 1917 mit der Einsendung seines Readymades Fountain für die Ausstellung der Society of Independent Artists. Die Ablehnung dieses Werkes durch die Ausstellungsleitung machte deutlich, dass Kunst eine Vereinbarungssache ist, die der institutionellen Legitimation des Kunstsystems bedarf, um Kunststatus zu erlangen, was die Negation der künstlerischen Autonomie bedeutet. Mit Fountain vermochte Duchamp die Macht des Kontextes über die Kunst zu verdeutlichen, wobei dieser auch, wie Duchamp noch einmal bahnbrechend vorzuführen wusste, eine Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks werden kann, denn unabhängig von seiner wertbestimmenden, institutionellen Seite ist der Kunstkontext per se eine formale Eigenschaft, die das Vorkommen von Kunst auf ästhetischer Ebene beeinflusst. Sein Grundmerkmal ist die umgebende Kontingenz des Raumes, die als solche ästhetische Immanenz und Sinngehalt aufweisen kann, was Duchamp wegweisend demonstrierte: Mit seiner Ausstellungsgestaltung für die Surrealisten 1938 und 1942 gelang es ihm, die Möglichkeiten des Raumes als ein Medium künstlerischer Gestalthaftigkeit exemplarisch zu erproben, woraus eine neue ästhetische Ordnung resultierte, die sich der formalen Eigenschaften des Raumes bedient: die Installation. Duchamps Schaffen machte ihn zu einer der einflussreichsten Figuren der Kunstgeschichte der Moderne. Seine bahnbrechende Kunstpraxis vermochte nicht nur neue Paradigmen zu setzen, welche eine nachhaltige Wirkung auf die Kunst des 20. Jahrhunderts ausübten, sondern auch eine neue Basis für die Ästhetik zu etablieren, ohne welche die gegenwärtige Vorstellung von Kunst nicht möglich wäre. So resultierte aus seinen ästhetischen Erkundungen die Erkenntnis, dass die Notwendigkeit der Kunst – im Gegensatz zu allen tradierten Grundannahmen hinsichtlich ihres Wesens – nicht unbedingt in der Kontingenz der Form besteht. Die gestaltete Form und ihr Immanenzraum sind lediglich ein fakultatives Stadium dessen, was die Essenz der Kunst ausmacht: die Ideen. Darin liegt das Vermächtnis von Marcel Duchamp.

Die amerikanische Flagge und die Immanenz der Zwiespältigkeit

Die Kunstwelt ist bekanntlich ein ganzheitlicher Zusammenhang unterschiedlicher Komponenten, die derart aufeinander bezogen sind und in einem Verhältnis komplexer Wechselwirkungen stehen, dass sie ein zweckgebundenes System innerhalb der Gesellschaft bilden.1 Dabei hängt ihre selbstregulative Dynamik mit den kontextuellen Bestimmungen des zeitlichen Geschehens eng zusammen. Das heißt, dass alle konstitutiven Instanzen der Kunstwelt: Künstler, Galeristen, Kunstsammler, Mäzene, Kritiker, Kenner, Kuratoren sowie Kunstakademien und institutionelle, private oder kommerzielle Kunsteinrichtungen, in einem wechselseitigen Verhältnis mit der sich ändernden Umwelt stehen, was im System innerlich verbundene Wirkungen zeitigt. Der Aufstieg und die Etablierung einer Kunstrichtung hängen also von dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren bzw. von der Interaktion wirksamer Kräfte in der vielschichtigen Makroebene des Kunstsystems ab, wonach die kulturelle und institutionelle Realisierung der Kunst der Entfaltung kontextbedingter Abläufe im Kunstsystem entspricht.2 In dieser Beziehung spielen die herrschenden Vorstellungen der Ästhetik eine zentrale Rolle. Denn sie sind die Anschauungen, welche die Parameter dessen, was Kunst sein soll, bestimmen, woraus das ästhetische Selbstverständnis des Kunstsystems resultiert. Das dynamische Zusammenspiel wirksamer Kräfte innerhalb der Kunstwelt lässt sich im selbstregulativen New Yorker Kunstsystem der fünfziger Jahre, einem dichten Netzwerk von Galerien, Ausstellungsräumen, Kunstschulen, Zeit-

1

Vgl. Crane, Diane: The Transformation of the Avant-Garde. The New York Art World

2

Vgl. ebd., S. 25-27, 35-36.

1940-1985, Chicago 1987, S. 35-36.

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schriften, Künstlergruppen und -vereinen, deutlich beobachten.3 Dabei fand auch eine Begegnung zweier einander ausschließender Anschauungen der Ästhetik statt, die durch historisch begründete Faktoren in demselben Kunstsystem zusammentrafen. Dies waren die vom Kunstmodell Clement Greenbergs geprägte Kunstauffassung des Abstrakten Expressionismus und die gegensätzliche Anschauung im Umfeld der avantgardistischen Gedankenwelt Marcel Duchamps. Dieses Kapitel nimmt eine Analyse der Wirkung und der Folgen vor, die diese Begegnung für die Entwicklung der Kunst der fünfziger Jahre in New York hatte. Dabei wird ein paradigmatisches Werk des amerikanischen Künstlers Jasper Johns, das in dieser Wirkungsgeschichte eine zentrale Rolle spielt, untersucht. Denn der Einfluss beider gegensätzlicher Anschauungen im selben Kunstsystem wirkte sich auf die Schaffung einer über alles Vorherige hinausgehenden, ästhetischen Möglichkeit aus, die Jasper Johns mit seinem Werk Flag eröffnete, einem Kunstwerk, das neue Paradigmen in Bezug auf die Gestaltung und die Natur des Kunstgegenstandes setzte. Diese kunsthistorische Gegebenheit erwies sich somit als ästhetische Voraussetzung für die Entstehung einer neuen Anschauungsweise von Kunst, was zur Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung entscheidend beitrug. Um die Entfaltung dieses Wirkungsprozesses zu veranschaulichen, wird in diesem Kapitel zunächst auf die kunsttheoretischen, historischen und politischen Faktoren eingegangen, welche die Etablierung des Abstrakten Expressionismus und seiner formalistischen Programmatik bedingten. Im Hinblick auf die Mitte der fünfziger Jahre auftretende Stagnation und die subsequente Akademisierung dieser Kunstrichtung werden dann die Gründe untersucht, die innerhalb ihrer Kunstanschauung dazu führten, dass ihre Ästhetik gerade durch ästhetische Umwälzungen kollabierte. Denn die ‚Krise‘ dieser Bewegung schuf die Voraussetzungen für die Herstellung von Flag, einem Werk, das, von der ästhetischen Kunstpraxis des Abstrakten Expressionismus ausgehend, dessen grundsolide Kunstanschauung ad absurdum führte. So wird Flag in Anbetracht sowohl seiner formalen Struktur als auch seines Weltbezuges gründlich untersucht, wodurch sein Bezug zur ästhetischen Gedankenwelt Duchamps verdeutlicht wird, dessen Einfluss im New Yorker Kunstsystem anschließend zu analysieren ist. Dies ist deshalb wichtig, weil der Einfluss Duchamps, der in den frühen fünfziger Jahren gering war, eine große Wirkung auf einige neo-avantgardistische Kreise in New York hatte, was sich in der Konzeption und der Gestaltung von Flag deutlich widerspiegelte.

3

Siehe ebd., S. 19-42.

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VORPROGRAMMIERTE

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V ISUALITÄT

1952 organisierte das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) die Ausstellung Fifteen Americans.4 Diese zeigte bedeutende Arbeiten von Künstlern der sogenannten New York School, einer Künstlergeneration aus New York, deren geografische Bezeichnung5 – bewusst in Opposition zur bis in die vierziger Jahre als international führend erachteten École de Paris – auf die ästhetische Selbstständigkeit ihrer sich etablierenden Produktion hinwies. Die ästhetische Aussage der New York School beruht auf einer frei konfigurierten Abstraktion, deren Bezogenheitsgrad und plastische Ausdruckskraft je nach Künstler von einer weit abstrahierten, expressiv gestalteten Figuration bis hin zu einer subtil aufgetragenen, vollkommen gegenstandlosen Bildgestaltung reicht. Die Verselbstständigung von vorherigen Kunstformen begann mit einer zunehmenden Hervorhebung der Eigendynamik des Farbmaterials im Malprozess, was nicht nur zur Betonung subjektiver Gestaltungsimpulse, sondern auch zur Akzentuierung der Spontaneität des Malprozesses selbst als Vorgang der Motivfindung führte. Somit wurden die Gemälde zum Dokument eines spontanen Malvorganges bzw. zur ‚Arena‘, in der es zu agieren galt, wie es der Kunstkritiker Harold Rosenberg 1952 darstellte: „What was to go on the canvas was not a picture but an event.“ 6 Diese expressiv gestische Maltendenz, in der auch gegenständliche Motivzusammenhänge eingebunden sein können, wird übergreifend als ‚action painting‘ bezeichnet7 und war die Voraussetzung für eine großformatige Abstraktion, bei welcher der Umgang mit dem Farbmaterial nüchterner sowie die Distanzierung von allen gegenständlichen Bezügen radikaler war als bei der action painting selbst.8 Diese Tendenz, die als ‚color-field painting‘ bezeichnet wird, brachte neue ästhetische Voraussetzungen mit sich: Da die großformatige Leinwand als Ganzes von einem einzelnen Standpunkt aus nicht erfassbar ist, erzwingt ihre Monumentalität einen ständigen Standpunktwechsel seitens des Betrachters, was

4

Fifteen Americans (New York, Museum of Modern Art, 9.04.-27.07.1952).

5

Die Bezeichnung New York School geht auf die 1951 von Robert Motherwell organisierte Ausstellung The School of New York in der Frank Perls Gallery in Beverly Hills zurück. Dort waren alle Künstler der ersten Generation dieser Kunstströmung mit Werken vertreten. Siehe: Hess, Barbara: Abstrakter Expressionismus, Köln 2005, S. 7.

6

Rosenberg, Harold: „The American Action Painters“ (1952), in: Art Theory and Criticism. An Anthology of Formalist, Avant-garde, Contextualist and Post-modernist Thought, Jefferson NC 1991, S. 55-64, hier S. 57.

7

Vgl. Hess 2005, S. 7-8.

8

Vgl. ebd., S. 8.

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unvermeidlich eine Auseinandersetzung mit der materiellen Präsenz des Gemäldes erfordert.9 Während der vierziger Jahre, als die erste Künstlergeneration der New York School ohne den bremsenden Druck unmittelbar sichtbarer Erfolgsperspektiven daran arbeitete, eine ästhetische Autonomie zu schaffen, war der gegenseitige Austausch unter ihnen die regulierende Instanz, durch welche sie die Entwicklungsparameter ihres künstlerischen Unternehmens prüfen konnten.10 Denn die Arbeit jenseits der normativen Bestimmungen einer etablierten Ästhetik garantierte den Künstlern einerseits ästhetische Freiheit, die andererseits darauf angewiesen war, eine regulative Prüfung innerhalb der sich formierenden Kunstanschauung zu bestehen. Diese Anschauung war nicht nur die ästhetische Verarbeitung der vorangegangenen künstlerischen Tradition, sondern auch das Ergebnis eigener ästhetischer Erkundungen, wobei die Interpretationen und die theoretische Verbalisierung der Kritik, die bemüht war, die ästhetischen Errungenschaften der neuen Tendenz zum Ausdruck zu bringen, eine entscheidende Rolle spielten.11 Trotz des ausgeprägten individualistischen Charakters der Künstler der New York School war die Einschätzung des ästhetischen Wertes ihrer Werke zunächst eine Entwicklung innerhalb eines begrenzten Kreises.12 Dies war dadurch bedingt, dass in den vierziger Jahren ein stark gebundenes, von historischen Faktoren begünstigtes Netzwerk unter den Künstlern dieser Richtung entstand, was ihnen untereinander nicht nur den Gedankenaustausch ermöglichte, sondern auch einen direkten Blick auf den jeweiligen individuellen Schaffensprozess, wodurch die gegenseitige Beeinflussung verstärkt wurde.13 Eine der be-

9

Vgl. Crow, Thomas: Die Kunst der sechziger Jahre. Von der Pop-Art zu Yves Klein und Joseph Beuys, Köln 1997, S. 59-67.

10 Vgl. Crane 1987, S. 26. 11 Vgl. ebd., S. 36. 12 Vgl. ebd., S. 22-25. 13 Die gegenseitige Beeinflussung der Künstler der New York School wurde von sozialhistorischen Umständen begünstigt. In diesem Zusammenhang spielte das 1935 ins Leben gerufene Federal Arts Project (FAP), ein von der Regierung Franklin D. Roosevelts initiiertes Förderungsprogramm für Künstler, eine sehr wichtige Rolle. Es ermöglichte zahlreichen Künstlern – darunter William Baziotes, Willem de Kooning, Arshile Gorky, Philip Guston, Lee Krasner, Jackson Pollock und David Smith –, sich durch ihre künstlerische Arbeit zu finanzieren, brachte aber auch die beteiligten Künstler miteinander in Kontakt. Andere Organisationen wie die Artists’ Union, der Verein American Abstract Artists (AAA) oder die Federation of Modern Painters and Sculptors (FMPS) trugen ebenfalls dazu bei. Faktoren wie geographische Nähe – in

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deutendsten Organisationen, welche die soziale Vernetzung der Künstler der New York School förderten, war der im Herbst 1949 gegründete Künstlerverein Eighth Street Club, der bis zu seiner Schließung 1962 sehr aktiv war: Dort fanden Diskussionsrunden und Vorträge statt, an denen sowohl Künstler und Kritiker als auch Schriftsteller, Galeristen und Museumskuratoren teilnahmen, was vielschichtige produktionsästhetische Prozesse anregte.14 Die allmähliche Etablierung der New York School korrelierte mit der vom allgemeinen Wirtschaftswachstum im Amerika der vierziger Jahre beschleunigten Expansion des New Yorker Kunstsystems, eines engen Netzes aus neu gegründeten Galerien, Ausstellungsräumen, Kunstschulen, Zeitschriften sowie Künstlertreffpunkten.15 Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die New York School zunehmend jenseits ihres eingeschränkten Netzwerkes von der breiten Kunstwelt aufgenommen. Dies zeigte sich in den legitimierenden Organen der Kultur sowohl durch institutionelle Ausstellungen und Ankäufe16 als auch durch ein wachsendes Interesse der Medien, was eine weitreichende Resonanz hervorrief. So erschienen, zum Beispiel, 1951 in der renommierten New Yorker Modezeitschrift Vogue anspruchsvolle Modefotografien, welche einige Monate zuvor in den Räumlichkeiten der Betty Parsons Gallery vor dem Hintergrund von Ex-

den vierziger Jahren lebte und arbeitete die Mehrheit der Künstler der New York School in Greenwich Village oder in der Nähe – und ähnliche Lebensumstände unterstützten auch den regen Austausch der Künstler untereinander. Siehe: Crane 1987, S. 26 und Guilbaut 1997, S 52-53, 63-65, 69. 14 Siehe: Crane 1987, S. 27, Guilbaut 1997, S. 208, Anm. 49 und Hess 2005, S.13. 15 Siehe: Crane 1987, S 19-42 und Hess 2005, S.11-13. 16 Noch vor der Planung der bedeutenden Ausstellung Fifteen Americans von 1952 hatte das MoMA ein repräsentatives Gemälde von Jackson Pollock erworben. Diesem Ankauf im Jahr 1950 folgten dann weitere Akquisitionen von Werken der New York School. Die Ankäufe waren zu dieser Zeit noch umstritten: Als 1952 das Museum ein Werk von Mark Rothko erwarb, traten sogar einige konservative Mitglieder der Committee on Museum Collections zurück. Siehe: Crane 1987, S. 36. Ungeachtet dessen war die Lage zu Beginn der fünfziger Jahre für Künstler dieser Richtung deutlich günstiger als zuvor; denn in den vierziger Jahren erfolgten die Anschaffungen amerikanischer Kunst seitens des MoMA eher nach spekulativen Gesichtspunkten und wurden nicht konsequent verfolgt, während Kunstwerke europäischer Künstler deutlich bevorzugt wurden, was sich im Ausstellungsprogramm des Museums klar reflektierte. Siehe: Robson, Deirdre: „Der Markt und das institutionelle Netz für die erste Generation abstrakter Expressionisten“, in: Abstrakter Expressionismus. Konstruktionen ästhetischer Erfahrung, Dresden 2000, S. 77-89.

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ponaten aufgenommen worden waren, bei denen es sich um Gemälde von Jackson Pollock, einem der bedeutendsten Künstler der New York School, handelte.17 Zwei Jahre zuvor, als die ästhetische Bedeutsamkeit dieser Gruppe noch strittiger war, erschien im Magazin Life, einer weit verbreiteten New Yorker Zeitschrift für Fotojournalismus, ein mehrseitiger Artikel über den kontroversen Künstler unter dem provokanten Titel: Jackson Pollock. Is he the greatest living painter in the United States?18 Der Artikel stellte den Künstler als eine hoch umstrittene Figur der gegenwärtigen Kunst dar, angesichts derer der sich keinen Rat wissende Verfasser auf einen „formidably highbrow New York critic“ rekurrierte, dem er die schlagkräftige Aussage zuschrieb: Pollock sei „the greatest American painter of the 20th Century.“19 Der spürbar skeptische Text nahm klaren Bezug auf Greenbergs Aufsatz von 1947 The Present Prospects of American Painting and Sculpture,20 in welchem der „hochintellektuelle Kritiker“ selbstbewusst behauptete, dass „der kraftvollste Maler des gegenwärtigen Amerika, und der einzige, der ein bedeutender Künstler zu werden verspricht, ein düsterromantischer, morbider und zu Extremen neigender Schüler von Picassos Kubismus und Mirós Postkubismus ist, ein wenig auch von Kandinsky und vom Surrealismus inspiriert. Sein Name ist Jackson Pollock.“21 Die am Ende der vierziger Jahre entfachte Polemik um die umstrittene Malweise Pollocks bzw. um den ästhetischen Wert seiner Malerei gelangte allmählich durch periodisch erscheinende Kolumnen und Artikel in breitere Kreise der Öffentlichkeit, wobei auf unterschiedlichem Diskussionsniveau eine heftige Auseinandersetzung um die Vorstellung von zeitgenössischer Kunst geführt wurde. In diesem Zusammenhang standen Pollock und Greenberg besonders seit 1948 im Blickfeld der Öffentlichkeit dank einer Diskussionsrunde, die das Magazin Life zum Thema ‚moderne Kunst‘ eröffnete und an der sich bedeutende Kritiker und Kenner be-

17 Fotografien von Cecil Beaton, erschienen unter dem Titel „Spring Ball Gowns“, in: Vogue, 01.03.1951, S. 156-159. 18 Newman, Arnold: „Jackson Pollock. Is he the greatest living painter in the United States?“, in: Life, 08.08.1949, S. 42-45. 19 Ebd., S. 42. 20 Greenberg, Clement: „The Present Prospects of American Painting and Sculpture“, in: Horizon, Vol. 16, Nr. 93-94, 1947, S. 20-29. 21 Greenberg, Clement: „Die gegenwärtigen Aussichten der amerikanischen Malerei und Skulptur“ (1947), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S.123-140, hier S. 133.

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teiligten,22 woraus offenkundig der Beleg für die Ohnmacht der Kritiker resultierte, Pollocks Kunst einzuordnen und deren ästhetischen Wert zu erkennen.23 In diesem Gegensatz wurde Greenbergs intellektuelle Kompetenz deutlich. Greenberg, der in den vierziger und fünfziger Jahren als Kunstkritiker dank seiner intellektuell anspruchsvollen Analysen und seiner regelmäßigen Beiträge für die Zeitschriften Partisan Review, The Nation und Commentary eine intellektuelle Machtposition im Kunstsystem erreichte,24 hatte bereits 1943 die erste Einzelausstellung Pollocks kommentiert, die in Peggy Guggenheims Ausstellungsraum ‚Art of This Century‘ stattfand, als der Künstler noch am Beginn seiner Laufbahn mit einer sich entwickelnden Ausdrucksweise wenig Beachtung in der breiten Kunstwelt fand.25 Dabei erkannte Greenberg – lange bevor die Mehrheit der Kunstkritik die bahnbrechende Bedeutung von Pollocks Malerei bestätigte – eine malerische Qualität in den Gemälden, so dass er sie als einige der „strongest abstract paintings I have yet seen by an American“ pries.26 Mit dieser Darstellung tauchte eine bedeutende Komponente in der Kritik auf, nämlich die Auffassung einer qualitätsvollen, von einem Amerikaner geschaffenen Kunst. 1947 veranschaulichte Greenberg diesen Gedankengang in einem Artikel für The Nation mit einer vergleichenden Besprechung zweier Ausstellungen von Jean Dubuffet und Jackson Pollock.27 Im Artikel merkte Greenberg an, „wie vollständig Dubuffet sich alles angeeignet hat, was die Pariser Schule seit 1908 zu lehren wusste.“28 Zugleich wird hinsichtlich Pollocks ästhetischer Entwicklung behauptet, sie sei „die bislang Wichtigste innerhalb der jüngeren Generation der amerikanischen Maler.“29 Der kritische Vergleich kam anschließend hinzu:

22 Davenport, Russell W.: „A Life Round Table on Modern Art: Fifteen Distinguished Critics and Connoisseurs Undertake to Clarify the Strange Art of Today“, in: Life, 11.10.1948, S. 56-79. 23 Vgl. Guilbaut 1997, S. 216-217. 24 Vgl. Jones 2005, S. 216-217. 25 Siehe: Hess 2005, S. 26, 36 und Jones 2005, S. 211. 26 Greenberg, Clement: „Review of Exhibition of Marc Chagall, Lyonel Feininger, and Jackson Pollock“ (1943), in: ders., The Collected Essays and Criticism. Perception and Judgments, 1939-1944, Chicago/London 1986, S. 164-166, hier S. 166. 27 Greenberg, Clement: „Art“, in: The Nation vom 01.02.1947, S. 138. 28 Greenberg, Clement: „Jean Dubuffet und Jackson Pollock“ (1947), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S.114-119, hier S. 116. 29 Ebd., S. 117.

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„Pollock neigt, wiederum wie Dubuffet, dazu, die Leinwand mit einer durchgängigen Gleichmäßigkeit zu behandeln; aber er scheint jetzt zu einer größeren Vielfalt fähig als jener und kann mit riskanteren Elementen – Silhouetten und frei erfundenen ornamentalen Motiven – arbeiten, die er mit erstaunlicher Kraft in die plane Bildfläche integriert. Dubuffets Rafinesse ermöglicht es ihm, seine Gemälde geschickter und gefälliger zu ‚packen‘ und eine größere, sofort ersichtliche Einheitlichkeit zu erzielen, aber Pollock, so scheint mir, hat letzten Endes mehr zu sagen und besitzt im Grunde, beinahe weil ihm dieser Charme fehlt, die größere Originalität. […] Er ist Amerikaner, er ist rauer und brutaler, aber er hat auch mehr Substanz.“30

Mit diesem Vergleich demarkierte Greenberg eine kritische Gegenüberstellung, die er in subsequenten Aufsätzen systematisch ausarbeitete, um die Definition dessen, was als Inbegriff der Schule von Paris und der von New York gelten sollte, zu profilieren. Dieser Gegenüberstellung entsprechend, kommentierte der Kritiker die 1947 im Whitney Museum of American Art veranstaltete Ausstellung Painting in France, 1939-194631 mit folgenden Worten: „If the Americans seem stodgy and dull, the liveliness and the knowingness of the French are empty. Nor, contrary to expectations, are the French more facile or tasteful. They are just as coarse, just as inept for the most part – and hysterical in the bargain. […] I myself feel more hopeful about American Art. We lack poise, but we do seem to have on the whole – and at the moment – more originality and more honesty.“ 32

Greenbergs Bemühungen um die Darstellung einer sich formierenden amerikanischen Malerei jenseits des europäischen Einflusses brachten einen programmatischen Faktor nationalistischer Prägung mit sich, den er als richtungsweisend und allgemein geltend zu artikulieren wusste: „Ausgeglichenheit, Weite, Präzision, Aufklärung […] das ist die große, nicht vorhandene Kunst unserer Zeit. Die Kultur steht in Amerika, ein Milieu zu erschaffen, das eine solche Kunst und Literatur hervorbringen wird und uns (endlich!) von der Obsession für extreme

30 Ebd., S. 118. 31 Painting in France, 1939-1946 (New York, Whitney Museum of American Art, 25.01.-02.03.1947). 32 Greenberg, Clement: „Review of the Exhibition Painting in France, 1939-1946“ (1947), in: ders., The Collected Essays and Criticism. Arrogant Purpose, 1945-1949, Chicago/London 1986, S. 128-131, hier S. 129, 131.

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Situationen und Geisteszustände befreit. […] Wir bedürfen einer viel größeren Infusion von Bewusstsein in das, was wir das Schöpferische nennen.“33

Im Aufsatz The Situation at the Moment, der 1948 in der Zeitschrift Partisan Review erschien, zögerte Greenberg nicht, die Überlegenheit der amerikanischen Malerei gegenüber der europäischen zu behaupten, als stünden beide Maltraditionen im Wettbewerb um die Weiterentwicklung der Kunst: „One has the impression […] that the immediate future of Western art, if it is to have any immediate future, depends on what is done in this country. As dark as the situation still is for us, American painting in its most advanced aspects – that is, American abstract painting – has in the last several years shown here and there a capacity for fresh content that does not seem to be matched either in France or Great Britain.“34

Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte sich die Auffassung einer der malerischen Tradition Europas – insbesondere der von Paris – gegenüberstehenden Schule von New York bereits als ein fester Begriff in der New Yorker Kunstszene etabliert, was sich als selbst-definitorische Abgrenzung in der generellen Kunstanschauung der New Yorker Künstler deutlich widerspiegelte: In einem vom Studio 3535 im Jahr 1950 organisierten Symposium über zeitgenössische Kunst entwickelte sich eine Diskussion um die Idee der ‚Vollendung‘, die nach Auffassung der eindeutig auf Greenbergs Gedankengang anspielenden Teilnehmer die Vollkommenheit der Bilder beinträchtigen könne, wie man bei den Franzosen bemerkt habe, die gewöhnlich durch die Vollendung des Bildes gefälliger malen würden als die Amerikaner.36 Die Identifikation dessen, was die Kunst Pollocks und die der New York School ausmacht, erwies sich somit als ein Internalisierungsprozess entsprechend einer spezifischen Art von Kunstanschauung bzw. einer programmatisch

33 Greenberg (Horizont, 1947) 1997, S. 136. 34 Greenberg, Clement: „The Situation at the Moment“, in: Partisan Review, Vol. 15, Nr. 1, 1948, S. 80-84, hier S. 82. 35 Das 1949 in New York gegründete Studio 35 war nicht nur Atelier, Ausstellungsraum und Treffpunkt für junge Künstler, sondern auch ein öffentlicher Ort, an dem regelmäßig Vorlesungen und Symposien über Kunst gehalten wurden. Siehe: Guilbaut 1997, S. 205, Anm. 40. 36 Nach Robert Motherwells Aussage, Symposium im Studio 35 vom 21.-23.04.1950. Ross, Clifford (Hg.): Abstract Expressionism: Creators and Critics. An Anthology, New York 1990, S. 215.

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vorgedachten Visualität, die maßgeblich von der Kritik als regulative Instanz des Wahrzunehmenden im Laufe eines ästhetischen Umbruches konstruiert und im Kunstsystem von seinen Mitgliedern allmählich zum ästhetischen Parameter gemacht wurde. Denn die ästhetische Wahrnehmung impliziert notwendigerweise die Existenz von Kriterien, kraft derer die ästhetische Beschaffenheit der Kunstobjekte festgestellt wird, was innerhalb eines regulativen Systems eine wirkungsästhetische Referenz für die Produktion und Rezeption von Kunst darstellt. In diesem Zusammenhang erwies sich die Rolle Greenbergs als ausschlaggebend, was sich deutlich in seiner Beschäftigung mit Pollocks Malerei zeigte: 1945 formulierte Greenberg in der Besprechung der zweiten Einzelausstellung Pollocks im Ausstellungsraum Peggy Guggenheims kunstkritische Kriterien, welche nicht nur eine auf bestimmte Merkmale des Bildes gerichtete Betrachtungsweise trotz der Evidenz anderer feststellbarer Komponenten der Werke vorgeben – wodurch eine ästhetische Identität konstruiert wird –, sondern welche auch wirkungsfähige ästhetische Bestimmungen programmatisch postulieren.37 In diesem Artikel, in welchem Pollock erneut als „the strongest painter of his generation and perhaps the greatest one to appear since Miró“ bezeichnet wird, behandelt Greenberg zwei Abbildung 12: Gemälde,38 die ungeachtet ihrer deutlich Jackson Pollock, Totem Lesson 1, surrealistischen Elemente aus einem strikt 1944, Oil auf Leinwand, 177,8 x 111,8 formalistischen Standpunkt beschrieben cm. werden, wobei die kritische Analyse an sich eine Ästhetik präfiguriert, die Pollock erst zwei Jahre später realisieren würde:39

37 Greenberg, Clement: „Art“, in: The Nation vom 07.04.1945, S. 397. 38 Jackson Pollock, Totem Lesson 1, 1944, Öl auf Leinwand, 177,8 x 111,8 cm, Privatsammlung; Totem Lesson 2, 1945, Öl auf Leinwand, 182,8 x 152,4 cm, National Gallery of Australia, Canberra. 39 Siehe: Jones 2005, S. 209, 219-220.

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„The only optimism in his smoky, turbulent painting comes from his own manifest faith in the efficacy, for him personally, of art. There has been a certain amount of self-deception in School of Paris art since the exit of cubism. In Pollock there is absolutely none, and he is not afraid to look ugly – all profoundly original art looks ugly at first. […] Among the latter [oils] are two – both called Totem Lesson – for which I cannot find strong enough words of praise. Pollock’s single fault is not that he crowds his canvases too evenly but that he sometimes juxtaposes colors and values so abruptly that gaping holes are created.“40

Abbildung 13: Jackson Pollock, Totem Lesson 2, 1945, Oil auf Leinwand, 182,8 x 152,4

Diese Darstellung entspricht im Grunde cm. nicht den surrealistisch konfigurierten Gemälden Pollocks, die Greenberg im Diskurs eines formalistischen Programms zu verbalisieren wusste.41 Sie erweist sich also als eine vorkonstruierte Projektion, welche die Parameter einer ästhetischen Entwicklung programmatisch signalisiert und auf die Notwendigkeit ihrer Entfaltung hindeutet. So kam Greenbergs Tätigkeit als Kritiker einer regulativen Funktion im New Yorker Kunstsystem gleich:42 Durch die Errichtung einer sich auf die Produktion und Rezeption von Kunst auswirkenden Anschauung schuf er die notwendige Kongruenz für die Entfaltung einer ästhetischen Möglichkeit a priori über den Grund anderer Mög-

40 Greenberg, Clement: „Review of Exhibition of Mondrian, Kandinsky, and Pollock; of the Annual Exhibition of the American Abstract Artists; and of the Exhibition European Artists in America“ (1945), in: ders., The Collected Essays and Criticism. Arrogant Purpose, 1945-1949, Chicago/London 1986, S. 14-18, hier S. 16-17. 41 Siehe: Jones 2005, S. 216, 220. 42 Greenbergs richtungsweisende Rolle im Kunstsystem wurde nicht nur durch seine einflussreiche Aktivität als Kunstkritiker für verschiedene Zeitschriften verstärkt, sondern auch durch seine persönliche Bekanntschaft mit Künstlern und Galeristen. Legendär ist die enge Freundschaft zwischen Greenberg, Pollock und Lee Krasner. Bereits Ende der dreißiger Jahre lernte Greenberg Krasner in Hans Hofmanns Kunstschule kennen, noch bevor sie ihre Beziehung mit Pollock begann. Durch die frühere Bekanntschaft mit Krasner kam Greenberg um 1943 mit Pollock in Kontakt, woraus sich eine enge Freundschaft entwickelte. Siehe: Jones 2005, S. 469, Anm. 7.

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lichkeiten hinaus, wodurch die Einheit dessen, was ästhetisch wahrgenommen werden sollte, konstruiert wurde. Greenberg übte diese Praxis als regulierende Instanz im Kunstsystem konsequent aus, so dass er die Stringenz der ästhetischen Entwicklungen nachprüfte und sprachlich einordnete, um eine präfigurierte, programmatisch konsequente Identität in den neu geschaffenen Werken zu sichern. Somit liege ‚Pollocks Stärke‘, nach Greenbergs Darstellung in Horizont 1947, „in der emphatischen Oberfläche seiner Bilder, und er ist bemüht, in ihnen die ganze dichte, dunkle Flächigkeit zu bewahren und noch zu intensivieren.“43 Dementsprechend wollte Greenberg den spontanen Malvorgang der New York School ungeachtet von dessen Bezug zur surrealistischen Technik der ‚écriture automatique‘ und zu deren Motivzusammenhängen als einen strikt formalistischen Vorgang verstanden wissen, dank dessen die amerikanische Malerei – die Greenberg als wahre Avantgarde darstellt – die überkommenen Konventionen der Kunst hinterfragt habe, „um das Niveau und die Vitalität der Kunst unter den sich ständig verändernden Bedingungen der letzten hundert Jahre aufrechtzuerhalten.“44 Diese richtungsweisende Darstellung einer unabhängigen amerikanischen Malerei, die als nüchterner Gipfel der Avantgarde sich all dessen entledigt habe, was der Kunst als universaler Größe nicht eigen ist, reflektiert eine Voreingenommenheit, die vom politischen Konflikt der Zeit stark beeinflusst war: dem Kalten Krieg. Als es der New York School zu Beginn der fünfziger Jahre allmählich gelang, nicht nur ihre innere Vernetzung durch die Bildung mehrerer Organisationen zu festigen, sondern auch einen Kern von Kritikern, Galeristen, Kuratoren, und Sammlern aufzubauen, was ihren historischen Durchbruch markierte,45 begann ebenfalls ein politisches Interesse an einigen Merkmalen des Abstrakten Expressionismus zu wachsen, insoweit sie Wertvorstellungen amerikanischer Politik zu veranschaulichen schienen: Freiheit, Liberalismus, Risiko, Fortschritt.46 Die Tendenz, Kunst im Sinne der Politik zu deuten und somit zu instrumentalisieren, war im Kontext der ideologischen Überzeugungen des Kalten Krieges geläufig. Wohl bekannt sind die Versuche des erklärten Antikommunisten und republikanischen Kongressabgeordneten George Dondero, modernistische Kunst als politische Waffen fremder Nationen zu diffamieren: „All die-

43 Greenberg (Horizont, 1947) 1997, S. 133. 44 Greenberg, Clement: „Amerikanische Malerei“ (1955), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 194-224, hier S. 195. 45 Zu einer ausführlichen Darstellung der historischen und kulturellen Umstände hinsichtlich des Erfolges der New York School siehe: Guilbaut 1997, S. 193-225. 46 Vgl. ebd., S. 219-220.

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se Ismen haben ihren Ursprung im Ausland und sollten eigentlich überhaupt keinen Platz in der amerikanischen Kunst haben. Zwar stehen nicht alle im Zeichen sozialen und politischen Protests, doch alle sind Instrumente und Waffen der Zerstörung.“47 Diese Deklaration brachte die mit moderner Kunst vertrauten Direktoren des MoMA in New York, des Institute of Contemporary Art in Boston und des Whitney Museum of American Art in New York zu einer gemeinsamen Erwiderung: „Wir […] weisen die Behauptung zurück, wonach eine ästhetisch innovative Kunst gesellschaftlich oder politisch subversiv wirkt und deshalb unamerikanisch sein muss. Wir bedauern den fahrlässigen und ignoranten Gebrauch von politischen und moralischen Begriffen, um die moderne Kunst zu attackieren.“48 Die Aussage der Direktoren war eine institutionell akkreditierte Bestätigung des unpolitischen Charakters des Abstrakten Expressionismus, was jedoch im politischen Diskurs des Kalten Krieges instrumentalisiert werden konnte. Dabei erwies sich die Argumentation Greenbergs als hilfreich, welche die Auffassung einer echten amerikanischen Malerei, die fortschrittlich bzw. ‚wirklich avantgardistisch‘ sei, kunsttheoretisch zu untermauern suchte. Denn diese Deutung erlaubt eine einfache Gleichsetzung von Begriffen unterschiedlicher Natur: Sie ermöglicht einen Parallelismus zwischen der wirtschaftlichen, militärischen Vorherrschaft Amerikas, die – im Diskurs des Kalten Krieges – die freie Welt gegen die Bedrohung der kommunistischen Staaten verteidige, und der Auffassung einer allgemeingültigen amerikanischen Avantgarde, welche „die Vitalität der Kunst unter den sich ständig verändernden Bedingungen der letzten hundert Jahre aufrechterhält.“ Das heißt in der Rhetorik des Kalten Krieges, wirtschaftliche und militärische Macht entspreche künstlerischer Überlegenheit.49 Zugleich ermöglicht das formalistische Modell Greenbergs die Überführung von abstrakten Begriffen, die in der Ästhetik eine programmatische Verwendung finden, in das politische Feld, in dem sie positiv konnotierte Prinzipien darstellen können. So finden manche programmatischen Begriffe Greenbergs hinsichtlich der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus – wie Fortschritt, Freiheit, Ausgeglichenheit, Stärke, Selbstbestimmung – eine generelle Entsprechung zu einer Politik, die sich gerne als fortschrittlich, liberal, ausgeglichen, ri-

47 Aus George Donderos Rede vom 16. August 1949 im Repräsentantenhaus. Zitiert nach: Orton, Fred: „Fußnote Eins: Die Idee des Kalten Krieges“, in: Abstrakter Expressionismus. Konstruktionen ästhetischer Erfahrung, Dresden 2000, S. 39-52, hier S. 44. 48 Zitiert nach: Orton 2000, S. 45. 49 Vgl. Saunders, Frances Stonor: Wer die Zeche zahlt... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg, Berlin 2001, S. 238.

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sikofreudig verstanden wissen will.50 Darüber hinaus lässt sich eine rein formalistische Interpretation ästhetischer Werte mit bestimmten Inhalten, die im sozial-politischen Sinne einen vergleichbaren Orientierungswert haben, verknüpfen, ohne dass eine Instrumentalisierung der Kunst, wie dies bei totalitären Regimes der Fall ist, offensichtlich wird. In diesem Kontext erscheint der unpolitische Charakter des Abstrakten Expressionismus als eine programmatische Tugend, kraft derer diese Richtung als Manifestation ‚reiner Kunst‘ jenseits aller politischen Propaganda und sozialen Kritik wirkt, was alle sozial-realistische bzw. politisch engagierte Kunst eingeschränkt aussehen lässt.51 Das im Rahmen des Kalten Krieges entstandene Interesse der Politik an dem Abstrakten Expressionismus kanalisierte sich durch verschiedene Förderungsmittel, die dazu dienen sollten, diesem zu internationaler Etablierung zu verhelfen.52 Denn der Abstrakte Expressionismus als eine formalistische, programmatisch nicht-figurative und bewusst unpolitische Kunsttendenz konnte im politisierten Klima der Zeit nicht nur als ästhetische Antithese zum sozialistischen Realismus gelten, sondern auch als Verkörperung des freien Unternehmungsgeistes eines modernen, liberalen Amerikas.53 Folglich war die Förderung des Abstrakten Expressionismus im Sinne einer Politik, die sich sowohl eine zunehmende Wertschätzung von Amerika und seiner Kultur als auch die Neutralisation bzw. die Bekämpfung anti-amerikanischer Haltungen im Ausland erhoffte, um parallel zur militärischen und ökonomischen Macht auch eine kulturelle Hegemonie beanspruchen zu können.54 Die äußerst vielschichtigen Strukturen dieser politischen Zielsetzung wurden von mehreren Organisationen und Privatpersonen unterstützt. Dabei sollte die CIA eine wichtige Rolle spielen: Sie bezuschusste bestimmte Zeitschriften wie Encounter, Kenyon Review, New Leader sowie die links gerichtete, aber antikommunistische Partisan Review, für die Greenberg regelmäßig schrieb.55 Dadurch wurde eine linksliberale Intellektualität unterstützt, die der Washington-Linie nicht entgegenstand und die vor allem eine anti-stalinistische Anschauung vertrat. Zugleich wirkte die CIA an der Gründung der internationalen Kulturorganisation Congress for Cultural Freedom (CCF) mit, zu dessen erklärten Zielen die Förderung westlicher Kultur gehörte,

50 Vgl. Guilbaut 1997, S. 221-222. 51 Vgl. Saunders 2001, S. 250. 52 Siehe: Frascina 2003, S. 82-90, Guilbaut 1997, S. 193-225 und Saunders 2001, S. 235-267. 53 Vgl. Saunders 2001, S. 254. 54 Vgl. Frascina 2003, S. 88. 55 Vgl. ebd., S. 76, 77 Anm. 48.

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wobei der Abstrakte Expressionismus als Kunstrichtung deutlich favorisiert wurde.56 Die vielschichtigen Verbindungen der CIA zu Kulturinstitutionen, die dem Kongress zu Rechenschaft nicht verpflichtet sind, ermöglichten die Einflussnahme der Politik auf die Entfaltung bestimmter Anschauungen im Kunstbetrieb. In diesem Zusammenhang war das MoMA, das als Privatinstitution von politischen Bestimmungen unabhängig agiert, eine Kulturinstanz von zentraler Bedeutung: Obwohl die renommierte New Yorker Institution mit der CIA nicht direkt verbunden war, sind inoffizielle Verknüpfungen zur Regierungsdienststelle seitens einflussreicher Personen in den Ausschüssen und Beratungsgremien des Museums bekannt.57 Dies war Ausdruck einer allgemeinen Vernetzung im damaligen anti-kommunistischen Amerika, die zur Konsolidierung einer stark politisierten Weltanschauung während des Kalten Krieges führte, was unweigerlich eine direkte Auswirkung auf die Vermarktung und Förderung des Abstrakten Expressionismus hatte.58 Mitte der fünfziger Jahre war der Abstrakte Expressionismus längst nicht mehr eine marginale Tendenz im Kunstsystem, sondern die maßstabgebende Richtung der Zeit, die von bedeutenden Galerien vertreten und von renommierten Sammlern, Kunstliebhabern und Museen angekauft wurde, wodurch sie einen festen Platz im Kunstmarkt mit stets steigenden Preisen einnahm.59 Sein ästhetisches Programm wurde sowohl von wortgewandten Bewunderern als auch von anerkannten Intellektuellen und Kunstkritikern in Zeitungen, Zeitschriften und Katalogen propagiert, was ihm einen führenden Status als ästhetische Position verlieh. Abstrakt-expressionistische Werke waren darüber hinaus im nationalen wie im internationalen Ausstellungsbetrieb stark präsent, was zu einer insti-

56 Siehe: Saunders 2001, S. 310-325. Die Einbindung von Intellektuellen und Kritikern in den Congress for Cultural Freedom ist bekannt. Greenberg, der – wie andere Intellektuelle – zu Beginn der fünfziger Jahre Antikommunist wurde, trat 1950 nicht nur dem American Committee for Cultural Freedom (ACCF) bei, sondern wurde auch Vorstandmitglied. Siehe: Frascina 2003, S. 76. 57 Vgl. Saunders 2001, S. 250-255. 58 Vgl. Frascina 2003, S. 87-89. 59 Das repräsentativste Beispiel ist der Fall Pollock. Sein wachsender Erfolg spiegelte sich schnell sowohl in seiner kunstkritischen als auch in seiner ökonomischen Wertschätzung wider. Bereits 1950 kaufte das MoMA – als legitimierende Instanz künstlerischer Qualität im Bereich moderner Kunst – ein repräsentatives Bild des Malers (Pollocks Number 1, 1948). Der bezahlte Preis (2.350 Dollar) vervielfachte sich rasch im Laufe der fünfziger Jahre, bis zu Beginn der sechziger Jahre ein Bild Pollocks den Rekordpreis von 100.000 Dollar erreichte. Siehe: Frascina 2003, S. 74.

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tutionellen Konsolidierung führte: Nicht nur die Partizipation an den Biennalen von Sao Paulo 1957 und Venedig 1958, wo die New York School große Aufmerksamkeit erregte,60 sondern auch ambitionierte Wanderausstellungen und Retrospektiven markierten die Durchsetzung des Abstrakten Expressionismus auf breiter Ebene. Dabei spielte das MoMA als eine der einflussreichsten Kulturinstitutionen der Moderne eine zentrale Rolle: Dieses New Yorker Museum schickte von 1958 bis 1959 die Ausstellungen Jackson Pollock. 1912-1956 und The New American Painting, welche die bedeutendste Ausstellung des Abstrakten Expressionismus im Ausland werden sollte, auf Europatournee und stellte sie anschließend im eigenen Haus zusammen – als die führende Richtung der Moderne – unter dem Titel The Triumph of American Painting aus.61 Das MoMA war ebenfalls verantwortlich für die Präsentation der Vereinigten Staaten bei den Biennalen von Sao Paulo und Venedig, wo die New York School – als Vertreter des Landes ausgewählt – einen Ehrenplatz einnahm.62 Dies deutet auf die Hegemonie des Abstrakten Expressionismus als ästhetische Richtung in den fünfziger Jahren sowie auf seine bevorzugte Stellung bei den damaligen Kulturinstitutionen hin, was seine Akademisierung zur Folge hatte: In den fünfziger Jahren wurde diese Richtung allmählich zu einer erlernbaren Methode, die Erfolg versprach, wobei ihre formale Sprache einen zunehmenden Mangel an Innovationskraft aufzuweisen begann.63 Die institutionelle Durchsetzung brachte ebenfalls

60 Bei der Biennale von Venedig 1958 gewann Mark Tobey den ersten Preis für Malerei als erster Amerikaner seit 1895, als der Preis Whistler verliehen wurde. Die amerikanische Teilnahme an der Biennale von Sao Paulo 1957 erregte ebenfalls Aufsehen mit einer großen Retrospektive von Pollock, die parallel zu den anderen Exponaten präsentiert wurde. Siehe: Frascina 2003, S. 88. 61 Beide Ausstellungen, von dem ‚International Program‘ des MoMA organisiert, wurden in Basel, Berlin und Paris gemeinsam und in Amsterdam, Brüssel, Hamburg, London und Rom einzeln gezeigt. Die Ausstellungstour begann am 18. April 1958 in Basel und endete am 23. März 1959 in London, anschließend folgte die Präsentation in New York mit Eröffnung am 28. Mai 1959. Siehe: Barr, Alfred H.: The New American Painting: As Shown in Eight European Countries, 1958-1959, New York 1959. 62 Vgl. Frascina 2003, S. 88. 63 Die ab Mitte der fünfziger Jahre immer ersichtlicher werdende Erschöpfung des Abstrakten Expressionismus wurde in der New Yorker Kunstgemeinde unweigerlich thematisiert. So erklärte 1958 Alfred H. Barr Jr., der frühere Direktor des MoMA und zu dieser Zeit dessen Sammlungsleiter, bei der Teilnahme an einer Podiumsdiskussion im Eighth Street Club, dass „die Ader der gestischen Malerei reich genug war, um von

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die Konsequenz mit sich, dass die Kulturinstitutionen die Definition dessen, was avantgardistische Kunst sein sollte, entsprechend dem Modell des Abstrakten Expressionismus bestimmten, so dass andere Tendenzen – insbesondere die, die dem anerkannten Modell gegenüberstanden – vom Ausstellungsbetrieb ausgeschlossen wurden.64 Die Folge war eine unumschränkte Machtposition im New Yorker Kunstsystem.65

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Die ästhetischen Merkmale des Abstrakten Expressionismus kamen durch die begrifflichen Darstellungen seiner Funktionsabläufe und Steuerungsimpulse zur programmatischen Einheit im Kunstsystem, wobei sich eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Kunstanschauung aus der wechselseitigen Beziehung zwischen Kunstpraxis und Theorie bildete. Diese im ästhetischen Diskurs konstruierte Visualität erwies sich als die Erkenntnismatrix des Wertesystems, das die vielfältige Immanenz der Werke dieser künstlerischen Richtung auf ästhetischer Ebene regulierte. Somit entsprachen die programmatischen Leitlinien des Abstrakten Expressionismus der Funktion eines kunstanschaulichen Modells, das sich im New Yorker Kunstsystem zu verankern vermochte. Die Struktur des Modells besaß eine selbstbestimmende Ordnungsrelation mit regulativen und konstitutiven

einer ganzen Generation ausgeschöpft zu werden. […] und dennoch – bereits erschlossene Stollen auszubeuten, konnte nur minderwertige Entdeckungen hervorbringen.“ Zugleich sprach Barr die jüngeren Künstler an, sie mögen sich ihren Vätern in stärkerem Maße verweigern: „Ist die jüngere Generation eine rebellische oder sonnt sie sich im Licht einer Handvoll führender Persönlichkeiten?“ Zitiert nach: Orton 1998, S. 119. 64 Diese Abgrenzung lässt sich deutlich am Beispiel der New Yorker Gruppierung figurativer Maler beobachten, die sich radikal ausgeschlossen sahen. Aus dem Tagebuch von Edward Hoppers Gattin Jo Hopper lässt sich das Ausmaß dieser Umstände ersehen, gegen welche die figurativen Maler zu kämpfen hatten, um – Jo zufolge – „das Fortbestehen des Realismus in der Kunst gegen die Pauschalübernahme des Abstrakten durch das Modern Museum, das Whitney und über diese durch die meisten Universitäten für all jene zu gewährleisten, die es nicht ertragen können, dass man le dernier cri aus Europa nicht mit offen Armen aufnimmt.“ Zitiert nach: Danto, Arthur C.: „Pop Art und vergangene Zukunft“, in: ders., Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 159-178, hier S. 162. 65 Siehe: Danto 2000, S. 159-165.

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Ideen, mittels derer die Prinzipien zum Gebrauch der abstrakt-expressionistischen Ästhetik an sich – Kunstproduktion – sowie die Maßstäbe zur Feststellung einer ästhetischen Normativität – Kunstrezeption – determiniert wurden. Dabei spielte die Kunstkritik, die im damaligen Kontext entstand, eine entscheidende Rolle: Zu Beginn der fünfziger Jahre war die ernstzunehmende Kritik in Amerika, die durch ihre stark theoretische Fundierung gekennzeichnet war, im Wesentlichen von zwei Positionen bestimmt, die jeweils durch die untereinander rivalisierenden Kunstkritiker Harold Rosenberg und Clement Greenberg vertreten waren. Dabei konnte sich die programmatische Linie Greenbergs gegen die Position Rosenbergs durchsetzen, was zur Festigung von Greenbergs Machtstellung im New Yorker Kunstsystem führte.66 Die wechselseitige Beziehung zwischen Kunstpraxis und ihrer Theoretisierung spiegelte sich in der faktischen Entwicklung der ästhetischen Tendenz derart wider, dass die programmatischen Inkonsistenzen des ästhetischen Modells in die Werke als solche einflossen. Demnach bestimmte die Struktur des Modells nicht nur die Richtung der Entwicklung der abstrakt-expressionistischen Ästhetik, sondern sie übertrug auch ihre innere Inkongruenz, was entsprechend zur Krise sowohl des ästhetischen Modells als auch der künstlerischen Richtung führte. Dies stellte ein Stadium dar, in dem die Entfaltungsmöglichkeiten der festgelegten Ästhetik auf der Basis ihrer eigenen Programmatik zur Erschöpfung gelangten. Bereits zu Beginn der fünfziger Jahre, bevor die allgemeine Akademisierung des Abstrakten Expressionismus begann, waren die Anzeichen seiner Stagnation zu erkennen, was die Kritik, die für die Konstitution seiner ins Schwanken geratenen Visualität mitverantwortlich war, unweigerlich zur Sprache brachte. So formulierte 1952 der New Yorker Kunstkritiker Harold Rosenberg hinsichtlich des auffällig gewordenen Mangels an ausdruckvollen Neuerungen innerhalb der formalen Sprache des Abstrakten Expressionismus Folgendes: „When a tube of paint is squeezed by the Absolute, the result can only be a Success. The painter needs keep himself on hand solely to collect the benefits of an endless series of strokes of luck. His gesture completes itself without arousing either an opposing movement within itself nor the desire in the artist to make the act more fully his own. Satisfied with wonders that remain safely inside the canvas, the artist accepts the permanence of the commonplace and decorates it with his own daily annihilation. The result is an apocalyptic wallpaper.“67

66 Vgl. Jones 2005, S. 21. 67 Rosenberg (1952) 1991, S. 62.

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Diese Äußerung enthüllte die schwerwiegende Bedrängnis des Motivs in der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus: Da die Motivzusammenhänge unausweichlich von der Akzidentalität der Handlung beim Malprozess abhingen und die Mittel der formalen Sprache programmatisch auf ihre eigenen stofflichen Bedingungen reduziert waren, war die Motivfindung ein vom subjektiven Ausdruckswillen des Künstlers gesteuerter Vorgang des Zufalles, dessen Gelingen jedoch vom Geschmacksurteil, das die normative Visualität des Abstrakten Expressionismus durchgesetzt hatte, bestimmt war. Diese Bedingungen führten zu einer Verringerung der Innovationskraft der Motivzusammenhänge im Bild, was eine bedenkliche Nähe zur Dekoration bzw. zu Papiertapeten bewirkte. Die ab den fünfziger Jahren immer offensichtlicher werdende Krise des Motivs in der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus bestand als Möglichkeit von Anfang an in den programmatischen Parametern seiner Entwicklungslogik. Bereits 1948 merkte Greenberg an: „Monet und Pissarro hatten bereits sehr früh eine Art der Malerei vorweggenommen, die heute von einigen unserer ‚avantgardistischen‘ Künstler praktiziert wird und die die Identität des Staffeleibildes […] bedroht: das ‚dezentralisierte‘, ‚polyphone‘, ‚All-over‘-Bild, dessen Oberfläche sich aus einer Vielzahl identischer oder ähnlicher Elemente zusammensetzt und das sich in dieser Weise ohne größere Variationen über die gesamte Leinwand wiederholt und auf Anfang, Mitte und Ende zu verzichten scheint. […] von allen Arten der Malerei nähert sich diese am meisten der Dekoration – Tapetenmuster, die man endlos fortsetzen kann – […].“68

Diese Feststellung thematisierte die unausweichliche Konsequenz einer ästhetischen Disposition im Kern der eigenen Programmatik des Abstrakten Expressionismus, deren Entfaltung mit der richtungsweisenden Argumentation von Theoretikern im Kunstsystem zusammenhing. Dabei spielte Greenbergs Kunstmodell mit der kunsttheoretischen Unhaltbarkeit seiner Ansätze – der progressiven Selbsthinterfragung der Kunst auf der Basis eines gattungsbezogenen Formalismus trotz der gleichlaufenden Bestimmung kritisch-sensualistischer Qualitätskriterien – eine zentrale Rolle als Katalysator, insoweit es die Aktivierungsparameter einer kunstanschaulichen Möglichkeit, die gemäß der Stringenz einer präfigurierten Programmatik für notwendig erachtet wurde, maßgeblich beeinflusste. Es stellte eine äußere Entwicklungsinstanz dar.69

68 Greenberg (1948) 1997, S. 151. 69 Zu einer breiten Untersuchung der Wirkung Greenbergs auf die Kunstproduktion im New Yorker Kunstsystem siehe: Jones 2005, S. 205-344.

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Die Entwicklungslogik von Greenbergs Modell, nach welcher das Fortleben bzw. die historische Entwicklung der Künste dadurch gewährleistet wird, dass sie auf ihre konstitutiven Gestaltungsmöglichkeiten progressiv reduziert werden, bis die ureigene Essenz der Gattung in ihrer Reinheit herausgefunden wird, ergab gravierende Probleme für die Motivzusammenhänge im Bild, Probleme, die im Hinblick auf die kritisch-sensualistische Komponente desselben Modells noch verschärft wurden.70 Der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs zufolge sollten bestimmte, als entbehrlich interpretierbare Gestaltungsmittel der Malerei – wie der Illusionismus, die Repräsentation oder sogar die Komposition, die für eine puristische Auffassung der Malerei nicht zwingend erforderlich sind, insoweit sie auch als Gestaltungsmöglichkeiten anderer Künste wie der Literatur oder der Skulptur betrachtet werden können – von den Konventionen der Gattung abgesondert werden, um die ureigene ‚Kraft‘ der Malerei als solche zum Ausdruck zu bringen. Die theoretische Stringenz dieses programmatischen Postulates spiegelte sich in der Entwicklung des Abstrakten Expressionismus wider, so dass seine produktionsästhetischen Handlungsmöglichkeiten entsprechend den festgelegten Entwicklungsparametern eingeschränkt wurden. Dies hatte den sowohl von Rosenberg als auch von Greenberg erkannten Rückgang der Motivzusammenhänge im Bild zur Folge: das ‚dezentralisierte‘, ‚polyphone‘, ‚All-over‘-Bild, welches wie dekorative Papiertapete wirken kann. Diese nach Greenbergs formalistischem Programm des Modernismus konsequent gestalteten Werke veranschaulichten, dass der progressive Verzicht auf Motivzusammenhänge im Bild entweder zur Weiterentwicklung oder zur Stagnation der Malerei führt: Aus rein formalistischer Sicht kann man in Bezug auf dieses entwicklungsbezogene Programm die Frage nach der Notwendigkeit einer differenzierten Textur im Bild stellen, da für die formale Beschaffenheit der Bildebene eine oberflächliche Differenzierung nicht unabdingbar ist. Dieser zur Weiterentwicklung prädestinierten Konsequenz stand der kritisch-sensualistische Gehalt des Modells gegenüber, der von der Auffassung einer im Werk manifestierbaren Stimmigkeit auf ästhetischer Ebene ausgeht, kraft derer allgemeingültige Qualitätsbestimmungen auszumachen sind. Demnach ist die Qualität eines Werkes unabhängig von aller Programmatik unmittelbar am Werk selbst zu erkennen, was die Notwendigkeit eines jeden Programms überflüssig macht. An diesem Punkt wurde das Motiv über die formalistische Disposition eines sich progressiv entschlackenden Programms hinaus dem ‚Genie‘ überlassen, welches jedoch in den gattungsbezogen-formalistischen Bestimmungen der ihm gegebenen ästheti-

70 Zum inneren Widerspruch in Greenbergs ästhetischem Modell siehe in der vorliegenden Studie „Der Wille zur Kunst: Clement Greenbergs Kunstmodell“, S. 21-73.

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schen Sprache zu agieren hatte. Dies mündete in die tiefgehende, ontologische Krise des Motivs, was sowohl zur Stagnation als auch zur Weiterentwicklung des Abstrakten Expressionismus führte.71 Im Kern des formalistischen Modells Greenbergs verbarg sich ein noch gravierenderes Problem, das die Identität des Bildes als Objekt ernsthaft zu problematisieren vermochte. Da die gattungsbezogene Entwicklungsästhetik Greenbergs eine progressive Betonung bestimmter Gattungseigenschaften, die aus rein formalistischer Sicht dem ureigenen Wesen der Gattung notwendigerweise entsprechen würden, als Bestimmungsfaktor voraussetzte, bildete sich im Modell eine normative Bestimmung programmatischen Charakters, nach der die Flächigkeit die unabdingbare Bedingung der Malerei sei: „Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen.“72 Bereits in den vierziger Jahren sprach Greenberg von den formalistischen Kriterien ‚Frontalität‘ und ‚Flächigkeit‘ als Bestandteil des Wesens der Malerei,73 eine Auffassung, die er zunächst im Sinne seiner sich für den permanenten Fortschritt einsetzenden Entwicklungslogik, welche das Fortleben der Kunst an die kontinuierliche Selbsthinterfragung ihrer erreichten Entwicklungen bindet, nicht als dogmatische Wahrheit ansah, was jedoch ab den fünfziger Jahren der Fall wurde. Diese normative Bestimmung hatte beträchtliche Konsequenzen ästhetischer Natur. Denn der Begriff ‚Flächigkeit‘ ist eine auf die äußere Form des Bildes bezogene Kategorie a priori, das heißt ein Werkzeug des ästhetischen Urteils, bei welchem auf ästhetischer Ebene das formale Trägermedium der Malerei und ihre spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten voneinander nicht differenziert werden, wonach das Trägermedium nicht nur in einem strukturell bedingenden Bezug zur Malerei steht, sondern ihren ästhetischen Gestaltungsmitteln auch entspricht. Somit ist die Flächigkeit als apriorische Kategorie eine in Greenbergs Ästhetik strukturell verankerte Anwendungsinstanz programmatischen Charakters, welche die ästhetische Bildfläche mit deren Materialität gleichsetzt. Die ästhetische Konsequenz dieser programmatischen Kategorie ist, dass das Trägermedium – entsprechend der Logik des gattungsbezogenen und zugleich entwicklungsdeterminierten Programms Greenbergs – ästhetische Autonomie gewinnt, so dass dieses als unabdingbare Instanz der Malerei über alle anderen Gestaltungsmöglichkeiten hinaus,

71 Zu einer generellen Darstellung der Weiterentwicklung des Abstrakten Expressionismus Siehe: Crow 1997, S. 59-67. 72 Greenberg (1960) 1997, S. 268. 73 Siehe: Greenberg (1948) 1997, S. 149-155.

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die – als kontingente Mittel – als abdingbar zu erachten sind, im Kunstwerk programmatisch zu erscheinen hat. Das heißt also, dass die flächige Struktur des Bildträgers bzw. dessen Materialität im Bild erfahrbar sein soll, so dass jenseits der imperativen Qualitätsurteile eines ästhetischen Kanons eine objekthafte Einheit zwischen der farbigen Textur des Gemäldes und dessen materieller Gestalt entsteht, eine Einheit folglich, bei der Objekthaftigkeit gleichermaßen Bildlichkeit ist: Das Trägermedium vermag programmgemäß zum Werk zu werden. Dieser richtungsweisende Parameter, der das ästhetische Programm der Minimal-Art bestimmte, entsprach der formalen Entwicklung des Abstrakten Expressionismus ab den fünfziger Jahren, der sogenannten ‚color-field painting‘: Der Umgang mit Farbmaterial und Bildoberfläche der Künstler Barnett Newman, Mark Rothko, Clyfford Still oder Ad Reinhardt betonte die objekthafte Präsenz ihrer zunehmend reduktionistischen Werke, bei deren Betrachtung die Materialität des angewendeten Stoffes durch dessen flächige Einfärbung in den Vordergrund tritt. Solche Gemälde, so erklärt Greenberg, bringen „eine emphatischere Flächigkeit mit sich.“74 Ihre in den Raum hinein wirkende Objekthaftigkeit war, wie der Kritiker selbst erkennen musste, nicht zu übersehen: „Weil sie [die betonte Flächigkeit] von keinen scharfen Helligkeitsunterschieden und von nur wenigen strukturierenden zeichnerischen Elementen durchbrochen wird, atmet die Farbe aus der Leinwand in den Raum hinein, wo sie alles umschließt – […]. Der Betrachter reagiert darauf eher wie auf ein Dekor oder ein Interieur als in der Art, wie es üblicherweise bei an der Wand hängenden Bildern zu erwarten wäre.“75

Damit konstatierte Greenberg die ab den fünfziger Jahren auftretende und im Wesentlichen aus seinem eigenen Modell hergeleitete Verdinglichung des Bildes bzw. dessen historische Objektwerdung, infolge derer der Betrachter, anstatt in das Bild hinein zu blicken, sich mit dessen objekthafter Präsenz im Raum auseinandersetzen muss, was die Auflösung der traditionellen Identität des Bildes zur Folge hatte. Die Krise des Motivs sowie die programmatische Objektwerdung des Bildes führten zu einer tiefgehenden Transformation, die, über die ästhetischen Grundpostulate des Abstrakten Expressionismus hinausgehend, eine neue Konstellation im Bereich der Ästhetik hervorbrachte. Diese Entwicklung markierte den Beginn eines neuen Stadiums produktionsästhetischer Funktionen mit schwerwiegenden Folgen für die Kunstgeschichte.

74 Greenberg (1955) 1997, S. 219. 75 Ebd.

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3 J ASPER J OHNS UND DIE ÄSTHETISCHE G ESTALTHAFTIGKEIT DES B ILDOBJEKTES Jasper Johns, 1930 in South Carolina geboren, studierte einige Semester bildende Kunst an der University of South Carolina, bevor er im Dezember 1948 nach New York kam, um dort seine künstlerische Ausbildung fortzusetzen. Dort studierte er an der Parson School of Design, einer privaten Hochschule für angewandte Kunst in Manhattan. Das Studium in New York, dem geographischen Mittelpunkt des Abstrakten Expressionismus, brachte ihn geradewegs in Berührung mit der Kunstwelt und dem regen Kulturleben der Stadt. Diese kulturelle Immersion unterbrach Johns im Zeitraum zwischen 1951-1953, als er in die Armee eingezogen war. Ab Mai 1953 ließ sich Johns definitiv in New York nieder. 1954 entschied er, sich endgültig der Malerei zu widmen.76 Diese Entscheidung korrelierte mit einer Umbruchsituation im New Yorker Kunstsystem, wo zunehmend neue künstlerische Impulse an Einfluss gewannen, wodurch eine neue Haltung gegenüber der Kunst und der Ästhetik entstand. In diesem Zusammenhang waren einzelne Persönlichkeiten aus anderen künstlerischen Bereichen von großer Bedeutung wie die Komponisten John Cage und Morton Feldman, oder der Tänzer und Choreograph Merce Cunningham. Ihre jeweilige Auffassung von Ästhetik zeigte eine erfrischende Radikalität gegenüber der bestehenden Tradition der Moderne.77 Dieser brechenden Haltung schloss sich unter den bildenden Künstlern der Maler und Objektkünstler Robert Rauschenberg an, der, ebenfalls in New York ansässig, den Beginn des künstlerischen Werdegangs Johns’ entscheidend prägte, und somit auch dessen Einstellung zum Abstrakten Expressionismus: Exemplarisch für diese neue Sichtweise ist Rauschenbergs künstlerische Aktion im Jahr 1953, welche darin bestand, eine Zeichnung des viel gepriesenen, abstrakt-expressionistischen Malers Willem de Kooning – zu dessen Bewunderern Rauschenberg selbst gehörte – mit dessen Zustimmung auszuradieren und das Ergebnis als sein eigenes Werk zu präsentieren.78

76 Zu einer ausführlichen Biographie von Jasper Johns siehe: Tone, Lilian: „Biographie“, in: Jasper Johns. Retrospektive (Köln, Museum Ludwig, 08.03.-01.06.1997), München/New York 1997, S. 124-408. 77 Vgl. Josek, Suzanne: The New York School, Earle Brown, John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff, Saarbrücken 1998, S. 19-24. 78 Siehe: Davidson, Susan: „Frühe Arbeiten, 1949-1954“, in: Robert Rauschenberg. Retrospektive (New York, Solomon R. Guggenheim Museum (u.a.), 19.09.199707.03.1999), Ostfildern-Ruit 1998, S. 42-97, hier S. 44, 92.

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Johns’ Erfahrung bei der Armee war für den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn ebenfalls von Bedeutung, nicht nur weil er dort ein Ausstellungsprogramm für Soldaten entwickelte, was eine gestaltende Tätigkeit in der Vermittlung von Kunst darstellte, sondern auch, weil er mit der ikonographischen Welt des Militärs und dessen Ordnungssystem in Berührung kam.79 Dieser Aspekt spielte bei der Produktion seiner ersten Werke insoweit eine wichtige Rolle, als spezifische abstrakte Motive aus dem umfassenden Zeichensystem der Militärwelt Johns als Grundlage für die Bilder dienten, mit denen er später in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Es handelt sich dabei um die flachen, emblematischen Motive der Zielscheiben und Flaggen, die er im Zeitraum zwischen 1954/55 und 1960 in verschiedenen Techniken und Formaten beständig variierte.80 Den Beginn dieser Reihe von Bildern markierte das Werk mit dem Titel Flag von 1954/55,81 dank dessen Johns rasch in der New Yorker Kunstwelt berühmt wurde, wie der Kunstkritiker Alan R. Solomon bemerkte: „The mature work of Johns begins with the first Flag, painted in 1955. Since he has never shown anything done before this, the extraordinary initial impact of the flag image and the authority with which it is painted give the impression of a finished artist, suddenly sprung from nowhere.“82

Dieser Eindruck wurde in der Tat von dem systematisch durchgeführten Vorsatz Johns’ erweckt, sich eine eigene Künstleridentität zu verschaffen, die sich nicht in eine spezifische Kunstrichtung einordnen lässt und Stringenz auf ästhetischer Ebene aufweist.83 Aus diesem Grund begann Johns um 1954/55, seinen künstlerischen Anfang für die Kunstgeschichte nachträglich zu konstruieren, indem er frühere Arbeiten – das heißt Werke, die vor der Entstehung von Flag realisiert worden waren – systematisch zerstörte, soweit sie noch in seinem Besitz oder ihm sonst erreichbar waren: Bekanntlich kaufte er in diesem Bestreben Arbeiten

79 Vgl. Morris, Robert: „Jasper Johns: Das erste Jahrzehnt“, in: Jasper Johns. An Allegory of Painting, 1955-1965 (Washington, National Gallery of Art, 28.01.29.04.2007 und Basel, Kunstmuseum Basel, 02.06.-23.09.2007), Berlin (u.a.) 2007, S. 208-233, hier 209-210. 80 Vgl. Weiss 2007, S. 6-9. 81 Jasper Johns, Flag, 1954-55, Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff, dreiteilig auf Sperrholz aufgezogen, 107,3 x 153,8 cm, The Museum of Modern Art, New York. 82 Solomon, Alan R.: Jasper Johns. Paintings, drawings and sculptures 1954-1964, London 1964, S. 7. 83 Vgl. Hess, Barbara: Jasper Johns. Die Tätigkeit des Auges, Köln 2007, S. 15.

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zurück, um die auf destruktiver Basis beruhende Formgebung seiner künstlerischen Anfänge konsequent durchzuführen.84 Bei dieser Selbstzensur entgingen nur wenige Werke der kritischen Zerstörung. Eines dieser Werke ist ein grünmonochromes, gegenstandloses Bild von 1954, welches aus einer geometrischen Anordnung von Quadraten aus aufgeklebten, grün bemalten Papierstücken – auf gleichmäßig angeordneten Horizontalstreifen platziert – besteht, so dass auf der Bildoberfläche ein regelmäßiges Raster zu sehen ist.85 Dieses gegenstandlose Bild weist in seiner formalen Gestaltung einen klaren Verzicht auf kompositorische Maßstäbe im traditionellen Sinne auf, insoweit es sich auf eine symmetrische Anordnung von seriellen Elementen festlegt, die ohne größere Variation auf der gesamten Leinwand wiederholt werden. Das Resultat dieser nüch- Abbildung 14: ternen Kompositionsweise ist eine radikale Jasper Johns, Untitled, 1954, Öl und Reduktion aller Motivzusammenhänge im Collage auf Stoff, 22,9 x 22,9 cm. Bild bzw. „das – wie Greenberg es nannte – ‚dezentralisierte‘, ‚polyphone‘, ‚All-over‘-Bild, dessen Oberfläche sich aus einer Vielzahl identischer oder ähnlicher Elemente zusammensetzt.“86 In diesem Bild scheint also die in den fünfziger Jahren auftretende Krise des Motivs, der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs entsprechend, ihren Niederschlag gefunden zu haben. Ein anderes Werk, dem die Zerstörung erspart blieb, ist Star, ebenfalls von 1954.87 Das Trägermedium dieses objekthaften Werkes ist ein fünf Zentimeter breiter, dreieckiger Kasten, an dessen drei Seiten jeweils drei kleinere, dreieckige Schachteln zu sehen sind, was im Ganzen die Form eines Davidsterns ergibt. Dabei bilden die drei Schachteln – im Gegensatz zum großen Kasten – drei plastische Hohlräume, welche die weiße, mit sichtbaren Pinselstrichen und abgetrockneten Tropfen bearbeitete Oberfläche des Hauptdreiecks umgeben. Entsprechend dem kleinen Bildformat, bei dem der Träger wesentlich breiter ist als

84 Vgl. Orton 1998, S. 123-125. 85 Jasper Johns, Untitled, 1954, Öl und Collage auf Stoff, 22,9 x 22,9 cm, The Menil Collection, Houston. 86 Wie Anm. 68. 87 Jasper Johns, Star, 1954, Öl, Bienenwachs und Anstreichfarbe auf Stoff und Holz, 57,2 x 49,5 x 4,8 cm, The Menil Collection, Houston.

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dies bei kleinformatigen Bildern üblich ist, betonen das Verhältnis zwischen Länge, Höhe und Breite sowie die Einbeziehung von Hohlräumen im Werkganzen und der Verzicht auf einen Rahmen die Objekthaftigkeit des Bildes, dessen malerische Qualitäten in ihrer ästhetischen Wirkung durch die in den Raum hineingreifende Konfiguration des Trägermediums stark neutralisiert werden. Dabei wird die bemalte Fläche zu einem äußeren Merkmal der Form, Abbildung 15: die als Ganzes den Status eines Objektes Jasper Johns, Star, 1954, Öl, Bienenim Raum beansprucht. In diesem Werk hewachs und Anstreichfarbe auf Stoff und ben sich also die spezifischen GestalHolz, 57,2 x 49,5 x 4,8 cm. tungsmittel der Malerei als ästhetische Gattung nicht von der flächigen Struktur des Trägermediums ab, so dass sie eine räumliche, ästhetische Einheit bilden. Die Erfahrung der zur Anschauung gebrachten Form als Trägerin einer ästhetischen Intention wird dabei von der dimensionalen Gestalthaftigkeit des Objektes im Raum maßgebend determiniert. Folglich ist die manifestierte Form des Werkes die Verkörperung eines auf sich selbst bezogenen Seienden, insoweit sie jenseits ihrer kulturellen Implikationen das verdinglicht, was sie als Gegenstand im Raum ist, ohne dabei in einem darstellenden Bezug zu stehen. Die Oberfläche des Gemäldes bildet also eine formale, ästhetische Einheit mit dessen Trägermedium, so dass sie eine einzige, phänomenologische Entität konstruieren, die als solche die Manifestation einer ästhetischen Determination ist. Das bedeutet die uneingeschränkte Entsprechung zwischen Bildlichkeit und Objekthaftigkeit. Die spezifische Gestaltung dieses Werkes, welche die objekthafte Verdinglichung der Malerei deutlich zum Ausdruck bringt und damit die ureigene Identität der Malerei als solche ernsthaft problematisiert, findet ihre Voraussetzungen in der ästhetischen Matrix, welche sich aus der Programmatik Greenbergs herleitete und die Entwicklung des Abstrakten Expressionismus bestimmte. 3.1 Flag Das Werk mit dem Titel Flag, ein großformatiges Kunstobjekt (107,3 x 153,8 cm), das Johns zwischen Ende 1954 und Anfang 1955 schuf, markierte den Beginn einer Gruppe von Werken mit abstrakten, emblematischen Motiven in Johns’ Oeuvre. Flag besteht aus drei separaten Bildträgern, deren Zusammen-

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stellung die gesamte Fläche des Werkes bildet: Links oben befindet sich eine rechteckige Fläche, die etwa ein Viertel der Gesamtfläche des Werkes ausmacht. Die Oberfläche dieses Rechtecks bedecken mehrere Malschichten blauer Farbe, die durch gestische Pinselstriche und plastisch abgetrocknete Tropfen, Spritzer und Kleckse gekennzeichnet sind, wobei sie die aus zerrissenen Zeitungsstücken bestehende Grundierung sichtbar lassen. Auf dieser als Untergrund fungierenden, collageartigen Malpartie befinden sich achtundvierzig, symmetrisch angeordnete, fünfeckige Sterne, ikonenhafte Pentagramme in weißer Farbe, deren schematische Form sich entsprechend dem schlichten Kompositionsprinzip des Aneinanderreihens ohne größere Variation über das gesamte Bildfeld wiederholt. Insgesamt ist die plastische Gestaltung der sorgfältig bearbeiteten Oberfläche dieses Rechtecks reich differenziert. Neben diesem Bildfeld befindet sich ein weiteres Rechtecks auf der rechten Seite, das genauso hoch wie das erste ist, aber um mehrere Zentimeter breiter. Auf diesem Feld ist ein regelmäßiges Raster aus sieben gleichmäßigen Streifen zu sehen, die – einheitlich angeordnet – horizontal platziert sind, wobei drei weiße Streifen von vier roten abwechselnd umgeben sind. Diese Anordnung von horizontal nebeneinanderliegenden, roten und weißen Streifen wiederholt sich im unteren Rechteck, das aus drei roten und drei weißen Streifen besteht und die gesamte Breite der beiden, oben stehenden Bildfelder einnimmt. Die plastische Gestaltung jedes Streifes im Bild zeigt eine reich differenzierte Handhabung ästhetischer Mittel, wodurch sich die farbigen Malschichten im Vordergrund in die aus einer collageartigen Struktur bestehende Grundierung ästhetisch integrieren. Die plastischen Qualitäten der Oberfläche von Flag verdanken sich der komplexen Technik, die Johns für die Herstellung des Werkes entwickelte und die auf der Grundlage von Wachs, Öl und Collage auf gewebtem Stoff gehandhabt wurde. Im Wesentlichen bestand dieses Verfahren in dem „Eintauchen von zerschnittenem und zerrissenem Papier und Stoff in heißes, mit Pigmenten blau, rot und weiß gefärbtes Wachs, um die Stücke sofort danach auf der Leinwand zu fixieren, bevor das Wachs auskühlte und erstarrte.“88 Diese besondere Technik, die verallgemeinernd der antiken Maltechnik der Enkaustik zugeordnet wird, insoweit Wachs als Material verwendet wurde,89 ermöglichte gerade durch die

88 Orton 1998, S. 159. 89 Bezüglich des technischen Verfahrens bei der Herstellung von Flag erklärt Fred Orton Folgendes: „In den Beschreibungen der Beschaffenheit von Flagge hat es sich eingebürgert, die von Johns suggerierten Begriffe ‚Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff‘ zu verwenden. Zwei dieser Begriffe sind irreführend. Enkaustik ist hier nur als Hinweis auf Wachs als Material sinnvoll, nicht als Beschreibung der Technik, die Johns be-

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Verwendung von heißem Wachs die Betonung der spezifischen Materialität des Mediums bzw. der ästhetischen Plastizität von dessen stofflichen Eigenschaften: Da der Trocknungsprozess bei heißem, mit Pigmenten vermischtem Wachs sehr schnell erfolgt, erlaubt das Medium, dass kurz nach dem Auftragen eines Pinselstriches ein neuer darüber gemalt werden kann, ohne den ersten zu verwischen, so dass die Spuren jedes Striches, Tropfens und Spritzers auf der Bildoberfläche unmittelbar sichtbar sind.90 Aufgrund der stofflichen Eigenschaften des Wachses weisen die verschiedenen Malpartien im Bild – je nach unterschiedlicher Dichte der Wachsschichten und entsprechend der Konsistenz der in der Wachslösung vermischten Pigmente – eine gewisse Durchsichtigkeit bzw. Opazität auf, welche den plastisch aufgetragenen Papieruntergrund in den monochrom wirkenden Farbzonen durchscheinen lässt. Der Papieruntergrund seinerseits, der bei der Phase der Werkkonstitution – der Tradition der Collage entsprechend – die Fragmentierung der äußeren Welt voraussetzt, besteht aus ausgeschnittenen und ausgerissenen Fragmenten der New Yorker Zeitungen The New York Times, Daily News und The Nation.91 Diese Methode fußt auf einer ästhetischen Strategie, die auf den Kubismus und den Dadaismus verweist, insoweit die Kubisten und Dadaisten die Verwendung von Zeitungspapier in die Kunst einführten.92 Abbildung 16: Jasper Johns, Flag, 1954-55, Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff, dreiteilig auf Sperrholz aufgezogen, 107,3 x 153,8 cm.

nutzte. Enkaustik war eine Technik, die in der Antike entwickelt und praktiziert wurde.“ Orton 1998, S 161. 90 Vgl. ebd., S. 157-160. 91 Vgl. ebd., S. 173. 92 Siehe: Bürger 1974, S. S. 98-111.

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Die Papierstücke sind auf der Leinwand unterschiedlich angebracht, wobei sie trotz ihrer Bruchstückhaftigkeit eine geschlossene Einheit unter den homogenisierenden Farbschichten an der Oberfläche bilden. Einige Zeitungsfragmente sind gut sichtbar, so dass sie gelesen werden können, andere hingegen sind hinter der plastischen Textur der Maloberfläche kaum zu identifizieren. Die lesbaren Texte weisen keinen direkten Bezug zueinander auf, deuten jedoch auf einen spezifischen Bereich des Lebens im Amerika der fünfziger Jahre hin, in dem sich gesellschaftliches und persönliches Handeln widerspiegelt, wobei jegliche Ernsthaftigkeit oder politische, historische Bedeutsamkeit vermieden wird: Die Texte in Flag zeichnen sich durch ihre ausgeprägte Banalität und ihre historische Belanglosigkeit aus.93 Als Realitätsfragmente stehen sie in einer unmittelbaren Beziehung zur Wirklichkeit sowohl im Sinne eines semiotischen Welt-Bezugs als auch im Sinne einer sinnlich wahrnehmbaren Stofflichkeit, die eine ästhetische Funktion in einem Werkzusammenhang innehat. In Bezug auf die Werkganzheit betonen die Papierfragmente in ihrer Stofflichkeit die physische Oberfläche, die sie bilden, und heben dadurch die materielle Realität des Werkes als ein flächiges, aus physischen Eingriffen bestehendes Objekt hervor, welches an sich eine Konfiguration von wahrnehmbaren Elementen als Resultat einer ästhetischen Determination verkörpert. Jenseits aller vorhandenen Bezüge zur Welt stehen die unterschiedlichen zusammengesetzten Zeitungstexte mit ihren Texturen und Farbkontrasten in einer plastisch-ästhetischen Wechselwirkung mit den darüber befindlichen, reich differenzierten Malschichten, die ihrerseits durch eine kalkulierte Akzidentalität – das heißt eine künstlerisch tradierte Willkürlichkeit – gekennzeichnet sind.94 Die Folge dieser Gestaltungsweise ist die Herstellung einer komplexen Textur mit hohen ästhetischen Ansprüchen, wobei die Geschichte des Schaffensprozesses selbst – wie im Abstrakten Expressionismus üblich – eine wesentliche Komponente des fertigen Objektes wird.95 In diesem Zusammenhang erörtert Johns:

93 Zu einer genaueren Untersuchung des Textmaterials von Flag siehe: Carpenter, Joan: „The Infra-Iconography of Jasper Jonhs“, in: Art Journal, Vol. 36, Nr. 3, 1977, S. 221-227 und Orton 1998, S. 173-180. 94 Siehe: Orton 1998, S. 161-164. 95 Die plastisch-malerischen Qualitäten der Textur von Flag, die naheliegend mit der gestischen Ästhetik des Abstrakten Expressionismus zusammenhängen, wurden in der Literatur von Anfang an erkannt, was auf ihre enorme Bedeutung im Werk hinweist. Bereits 1958 sprach Robert Rosenblum von der „sinnlichen Präsenz“ der Gemälde Johns’ und davon, dass sie „die Potenz“ des Abstrakten Expressionismus besäßen. Rosenblum, Robert: „Jasper Johns“, in: Arts, Vol. 32, Nr. 4, 1958, S. 54-55. 1960

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„Ich bin der Meinung, dass, sagen wir, in einem Bild die Prozesse, durch die das Bild entstanden ist, größere Sicherheit und, wie ich glaube, auch größere Bedeutung vermitteln als seine Bezugspunkte. Ich glaube, dass die Prozesse, durch die das Bild entstanden ist, per se genauso viel bedeuten wie jede Bezugnahme, die das Bild aufweist, wenn nicht sogar noch mehr.“96

Die sorgfältig ausgearbeitete Oberfläche von Flag zeigt somit eine Auseinandersetzung sowohl mit dem stofflichen Moment der Malerei, was von dem Abstrakten Expressionismus als Bezugssystem eindeutig präformiert wurde, als auch mit den ästhetischen Konventionen, die der Programmatik der Avantgarde zugrunde liegen.97 Folglich war die Akzentuierung der formalen Bedingungen der Bildoberfläche als farbige und zugleich flächige Struktur eine programmatische Positionsnahme gegenüber der tradierten Auffassung von Malerei. Dabei ist die Definition dessen, was die Oberfläche von Flag als ästhetischer Konfiguration ausmacht, ambivalent. Denn sie entspricht sowohl den konstitutiven Bedingungen einer Collage als auch denen eines Gemäldes, wonach die Oberfläche von Flag sowohl eine Collage als auch ein Gemälde ist, ohne dass eine kategorische Identität über der anderen steht: Weder auf rezeptions- noch auf produktionsäs-

schrieb William Rubin über die malerischen Qualitäten von Johns’ Gemälden, dass sich die „Finesse“ von dessen Strich mit dem erlesensten der französischen Tradition messen könne. Rubin, William: „Younger American Painters“, in: Art International, Vol. 4, Nr. 1, 1960, S. 24-31, hier S. 26. Harold Rosenberg sprach davon, dass in Johns’ Händen die vertraute Sprache der action painting und deren intendierte Zufälligkeit zu einer kalkulierten Anordnung ästhetischer Elemente werde. Rosenberg, Harold: „Jasper Johns: Things the Mind already knows“, in: ders., The Anxious Object, London 1964, S. 176-184, hier S. 179. Max Kozloff seinerseits sprach von „fließenden Texturen“, „zärtlichen Pinselstrichen“, vom „träumerischen Spiel mit Oberfläche und Illusion“. Kozloff, Max: Jasper Johns, New York o.J. (ca. 1969), S. 16-17. Fred Orton behauptet, dass Johns’ Strich die konventionelle Metaphorik des Abstrakten Expressionismus von sich weise, allerdings innerhalb des Raumes, den die Praxis der Abstrakten Expressionisten einnahm. Orton 1998, S. 172. 2007 erklärt Jeffrey Weiss, die zerlaufende Enkaustik-Farbschicht sei eine Art körperhafter Fläche von spürbarer Dichte wie Wachs oder Fett, was auf eine selbstreflexive Beschäftigung mit dem Material der Malerei hindeute. Dabei sei der gestaltende Prozess, der das Werk als solches ausmacht, eine Folge von Interventionen statt Inventionen. Weiss 2007, S. 2-5. 96 Jasper Johns im Interview mit David Silvester 1965. Zitiert nach: Orton 1998, S. 156. 97 Siehe: Bürger 1974, S. 98-111.

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thetischer Ebene ist eine formale Differenzierung oder Aussonderung beider Gestaltungsformen möglich. Auf der Oberfläche von Flag bilden also Collage und Malerei mit ihren jeweiligen Eigenschaften eine einzige phänomenologische Entität.98 Diese strukturelle Beschaffenheit der Oberfläche setzt eine Interpretation der Malerei voraus, die jenseits der Vorstellung von Bild als einem subjektiven Farbraum den Zugang zur Ästhetik in deren stofflichem Moment findet, wobei die grundlegenden Bedingungen der Malerei als Fläche und Farbe über jeden illusionistischen Bezug hinaus favorisiert werden. Dieser Auffassung entsprechend erklärt Johns: „Ich möchte, dass das, was ich sehe, wirklich ist oder meiner Vorstellung von Wirklichkeit entspricht. […] ich habe eine Art von Widerwillen gegen die Illusion, weil ich sie erkennen kann. Und ein Großteil meiner Arbeit hat mit dem Bild als Objekt zu tun, als ein realer Gegenstand an sich. Und angesichts dieser ‚Tragödie‘ hat sich meine allgemeine Entwicklung bisher, so scheint mir, in die Richtung bewegt, dass ich reale Gegenstände als Malerei einsetzte.“99

In einer anderen Erklärung bringt Johns die implizite Logik hinter dieser Behauptung auf den Punkt: „Ich habe […] das Gemälde schon immer als Fläche aufgefasst.“100 Das ästhetische Konzept in Johns’ Gedankengang gründet auf einer strikt formalistischen Kunstanschauung, wie sie von ihrem Hauptideologen im New Yorker Kunstsystem artikuliert wurde. So formulierte Greenberg im November 1948 in seiner Kolumne für The Nation beim Aufzeigen der formalistischen Notwendigkeit der modernen Kunst und der Bedeutung der Collage in deren Entwicklung:

98

Bereits 1968 formulierte Kozloff angesichts dieser besonderen Eigenschaft der Oberfläche von Flag: „Physically speaking (there is yet no technical term), this would be a hidden collage. But one is entitled to ask whether, pictorially, the ‚paint‘ is not itself the collage element, affirming the newsprint ground (although concealed behind this layer is still another surface, the actual canvas). If it is true that Johns has reversed the normal constitutes of the collage process, then surely he has done the same with its play on reality. The ‚real‘ is whatever is underneath, partially withheld from sight.“ Kozloff 1969, S. 16.

99

Jasper Johns im Interview mit David Silvester 1965, in: Johns, Jasper: Ziele auf maximale Schwierigkeiten beim Bestimmen dessen, was passiert ist. Interviews, Statements, Skizzenbuchnotizen, Dresden 1997, S. 56.

100 Jasper Johns’ Aussage in „His Heart Belongs to Dada“, in: Time vom 04.05.1959. Zitiert nach: Weiss 2007, S. 20.

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„Das Medium der Collage hat in der Malerei und Skulptur des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle gespielt, und sie ist der prägnanteste und direkteste Schlüssel zur Ästhetik der genuin Modernen Kunst. Sobald man die Collage […] verstanden hat, ist man in der Lage, zu begreifen, worum es in der Malerei geht.“101

Diese richtungsweisende Interpretation der Collage durch Greenberg stellte eine direkte Verbindung zwischen Collage und Malerei her, wobei der Collage als „dem prägnantesten Schlüssel zur Ästhetik der genuin Modernen Kunst“ die Fähigkeit zugesprochen wird, den eigentlichen Sinn der Malerei entschlüsseln zu können. Denn Greenberg zufolge ermöglichte die Collage, wie sie „von den Meistern des Kubismus praktiziert“ wurde, die „Zerstörung der illusionistischen Mittel und Effekte, die für die westliche Malerei seit dem 15. Jahrhundert charakteristisch waren. Die fiktive Tiefe des Bildes wurde entleert, das Geschehen nach vorne verlagert und mit der unmittelbaren physischen Oberfläche der Leinwand, des Kartons oder des Papiers identifiziert.“102 Greenbergs formalistische Deutung, die im Wesentlichen auf der Vorstellung einer zwischen Collage und Malerei gestalteten Werkeinheit beruht, postuliert damit die Aufgabenstellung der Collage, die im Sinne der Entwicklungslogik seiner gattungsbezogenen Programmatik als notwendig aufzufassen ist. Mithin erklärt der Kritiker im selben Artikel: „Durch einen auf die Leinwand geklebten Zeitungsausschnitt lenkte man die Aufmerksamkeit auf die materielle Realität des Kunstwerks und machte diese Realität zu derjenigen der Kunst. Die großen Zeitungslettern hielten den Blick des Betrachters fest und hinderten ihn daran, durch die physische Bildfläche hindurch in einen illusionistischen Raum einzudringen. Der Malerei ging es nicht mehr um eine fiktive Projektion oder Beschreibung, und das Bild wurde unauflöslich eins mit den Pigmenten, der Textur und der planen Oberfläche, aus denen es als ein Objekt besteht.“103

Die formale Beschaffenheit der Oberfläche von Flag und ihre strukturelle Gestaltung entsprechen gänzlich der Auffassung Greenbergs von Collage und Malerei, die ungeachtet aller Bezüge zur Welt auf einer strikt formalistischen Interpretation der Kunst beharrt.

101 Greenberg, Clement: „Collage“ (1948), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 156-162, hier S. 156-157. 102 Ebd., S. 157. 103 Ebd., S. 157-158.

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Flag wurde aber auf der Grundlage eines konkreten Motivs ausgeführt, dessen Konfiguration – eine graphische Anordnung von klar definierten Feldern und geometrischen Elementen – in Bezug zur realen Welt steht. Dabei ist das Motiv in seiner spezifischen Gestaltung eine abstrakte Formvorgabe, die jenseits aller Bezüge zur Welt ein flächiges Muster bildet, das ohne große Schwierigkeiten auf eine Leinwand übertragen werden kann. In diesem Zusammenhang erklärt Johns unter Bezugnahme auf das Motiv von Flag und andere Werke desselben Typus: „It all began with my painting a picture of an American flag. Using this design took care of a great deal for me because I didn’t have to design it. So I went on to similar things like the targets – things the mind already knows. That gave me room to work on other levels. For instance, I’ve always thought of a painting as a surface; painting it in one colour made this very clear.“104

Aus dieser Aussage kann deutlich ersehen werden, dass das Motiv von Flag ein Mittel zur Ermöglichung eines Malprozesses ist, was an sich heißt, dass im Gegensatz zur gängigen Praxis des Abstrakten Expressionismus die Motivzusammenhänge im Bild nicht von der Akzidentalität des Malvorganges selbst abhängen, sondern von einem vorbestimmten Muster. Darin drückt sich eine grundlegend neue Haltung gegenüber der performativen, vom subjektiven Ausdruckswillen des Künstlers determinierten Motivfindung in der künstlerischen Praxis des Abstrakten Expressionismus aus. Diesbezüglich erläutert Johns: „Ich wollte nicht, dass meine Arbeiten meine Gefühle bloßlegen. Der Abstrakte Expressionismus war so lebendig – die persönliche Identität und das Bild, das war mehr oder weniger dasselbe, und ich versuchte, das auch zu machen. Aber ich stellte fest, dass es mir nicht gelang, etwas zu machen, was mit meinen Gefühlen übereinstimmte. Deshalb habe ich dann so gearbeitet, dass ich sagen konnte: das sei nicht ich.“105

Diese Haltung bedeutet zugleich eine Absage sowohl an die gestalterischen Bestimmungen der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus als auch an das damit verbundene, normative Geschmacksurteil, was letzten Endes auf die schwerwiegende Krise des Motivs innerhalb dieser Kunstrichtung hindeutet. Der Rückgang der Innovationskraft bei der Gestaltung der Motivzusammenhänge im abstrakt-

104 Jasper Johns’ Aussage in „His Heart Belongs to Dada“, in: Time vom 04.05.1959. Online veröffentlicht unter: www.time.com/time/magazine/article/0,9171,892526, 00.html, Stand vom 16.03.2009. 105 Jasper Johns im Interview mit Vivien Raynor 1973, in: Johns 1997, S. 109-110.

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expressionistischen Bild, eine sich entfaltende Entwicklung, die Greenberg und Rosenberg bereits zu Beginn der fünfziger Jahre feststellten, manifestierte sich zunehmend in seiner Abhängigkeit von einem dem ‚Genie‘ überlassenen Können, bzw. von der Fähigkeit des Künstlers, sich selbst als Individuum vor der Leinwand so auszudrücken, dass ein nach vorgegebenen Qualitätsbestimmungen, künstlerisch gelungenes Produkt geschaffen wird. In diesem Zusammenhang präzisiert Johns: „Wenn du mit der Absicht beginnst, sagen wir, einen ganz bestimmten psychologischen Zustand zu evozieren, dann hast du so viel aus dem Malprozess ausgeschlossen, dass du eine artifizielle Aussage machst, was ich nicht für wünschenswert halte. […] Ich glaube, man möchte von der Malerei ein Gefühl der Lebendigkeit bekommen.“106

Dabei interessiert er sich für andere Aspekte, die bei der Kunstproduktion auch eine wichtige Rolle spielen: „Mich interessieren Dinge, die die Welt statt die Persönlichkeit evozieren. Mich interessieren Dinge, die Dinge evozieren, die es gibt, statt Werturteile. Der herkömmlichste Gegenstand, der allergewöhnlichste Gegenstand – es scheint mir, als könnte man mit solchen Dingen umgehen, ohne sie bewerten zu müssen; sie scheinen mir als klare Fakten zu existieren und keine ästhetischen Hierarchien einzubringen.“107

Die Krise des Motivs in der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus erwies sich also als äußerst produktive Voraussetzung, kraft derer es Johns gelang, die konkrete Problematik um die Motivfindung so zu bewältigen, dass ein radikal neuer Ansatz entstehen konnte: das durch Aneignung gewonnene Motiv, das mit der Gesamtoberfläche des Bildes übereinstimmt. Die Übereinstimmung des Motivs mit der gesamten Bildoberfläche bedeutet zugleich die Übereinstimmung des Trägermediums mit dem Motiv. Da das aus der Wirklichkeit adoptierte Motiv von Flag – eine nationale Flagge – in seinem Status von Existenz eine stets aktualisierbare Wesenseinheit ist, sind seine konstitutiven Merkmale die Summe der Attribute, die seine Erkennbarkeit ermöglichen.108 Diese Attribute, die an sich formale Eigenschaften sind, können entspre-

106 Jasper Johns im Interview mit David Silvester 1965, in: Johns 1997, S. 53-54. 107 Ebd., S. 41. 108 Die Frage nach dem Modus von Existenz einer Flagge als stets aktualisierbares Motiv wird in der vorliegenden Studie im Unterkapitel „Die Aktualisierung des Symbols“ (S. 179-182) ausführlich behandelt.

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chend konkreten Produktionsbestimmungen in stofflicher Gestalt verdinglicht werden, so dass sie einen erfahrbaren Gegenstand bilden, der sowohl akzidentelle als auch wesentliche Momente aufweist. Während die ersteren zur Definition des Motivs nicht gehören, sind die letzteren für dessen Definition notwendig und allgemeingültig, so dass sie jenseits aller lokalen Akzidentalität das Wesen des Motivs konstituieren, das im Sinne der ontologischen Bestimmung der Flaggen per se emblematischer Natur ist. Dieser letzte Aspekt beinhaltet, dass dem Motiv einer Flagge – entsprechend seiner ontologischen Bestimmung – eine Repräsentationsfunktion zukommt, wobei zwei konstitutive Faktoren notwendigerweise konvergieren: zum einen der archetypische Zeichenkörper in seiner sinnlichen Erscheinungsform, also die formale Anordnung von gestalterischen Elementen auf der vorbestimmten Fläche, welche die Flagge ausmacht, zum anderen die Bedeutungsebene, also die Sinndimensionen und der kulturelle Gehalt der Flagge als solche, was den Weltbezug des Symbols ausmacht. Der erste Faktor entspricht den wesentlichen Eigenschaften der Flagge im Sinne ihrer formalen Attribute, wovon die Bedingung abhängt, dass das Wesen der Flagge als Motiv über jede lokale Aktualisierung hinaus in seinen spezifischen Attributen als mustergültige Form besteht. Dabei sind zwei Eigenschaften bestimmend: der rechteckige Bezug der Form und die mit gestalterischen Elementen versehene, zweidimensionale Konfiguration der Oberfläche. Aus einer formalistischen Betrachtungsweise decken sich diese Eigenschaften mit Greenbergs Kategorien ‚Frontalität‘ und ‚Flächigkeit‘, was im Hinblick auf die Krise des Motivs in den fünfziger Jahren bedeutete, dass das Motiv einer Flagge eine gute Grundlage für ein Bild darstellte.109 Da die spezifische Anordnung des Motivs im Rahmen einer klar abgegrenzten Oberfläche definiert ist, kann es in seiner formalen Ganzheit mit der Oberfläche eines gegebenen Trägermediums übereinstimmen, so dass eine vollkommene Deckungsgleichheit zwischen Motiv und Trägermedium entsteht. Diese Möglichkeit, die im Grunde die strukturelle Bedingung jedes auf dingliche Aktualisierung angewiesenen Motivs ist, was bei Nationalflaggen oder Verkehrssymbolen immer der Fall ist, findet eine produktive Entsprechung im formalistischen Programm des Modernismus. In dieser Hinsicht ist Greenbergs Kategorie der ‚Flächigkeit‘ von großer Bedeutung. Denn diese programmatische, auf die äußere Form des Bildes bezogene Kategorie a priori – wie bereits erläutert – unterscheidet nicht zwischen dem formalen Trägermedium der Malerei und deren spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Bildoberfläche, was

109 Dieser Meinung waren auch Jasper Johns’ enge Freunde Robert Rauschenberg und Rachel Rosenthal, mit denen Johns über sein Vorhaben gesprochen haben soll. Siehe: Orton 1998, S. 126 und Crow 1997, S. 15.

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heißt, dass in einem strikt formalistischen Bild die stoffliche Gestalt des Trägermediums den ästhetischen Gestaltungsmitteln deckungsgleich entspricht.110 Diese Bedingung induziert eine Art von Rezeption, in welcher der Rezipient in seiner faktischen Körperlichkeit sich mit dem in seiner eigenen Gestalt verdinglichten Bild zu befassen hat, wonach auf rezeptionsästhetischer Ebene der Betrachter, anstatt in einen konstruierten Bildraum hineinzublicken, wie es bei der Betrachtung traditioneller Staffeleimalerei üblich ist, den Raum mit der objekthaften Gestalt des Bildes teilt: Das Bild vergegenständlicht sich in seiner Gestalt von Immanenz als Objekt. Diese Wahrnehmungssituation ähnelt dem allgemeinen Rezeptionsverhältnis zur objekthaften Immanenz von Flaggen, Zielscheiben oder Verkehrsschildern im Wahrnehmungsraum des empirischen Erkennens.111

110 Das strikt formalistische Bild im Sinne von Greenbergs Programmatik gelangte zu seiner konsequentesten Manifestation – jedoch jenseits dessen sensualistischen Geschmacksurteiles, von dem sich die neuen Künstlergenerationen befreiten – im Minimalismus, in dem Form und Oberfläche eine voneinander nicht differenzierbare Einheit bilden. Exemplarisch für diese Entwicklung in der Malerei ist das Werk Frank Stellas, an dem man die formalistische Übereinstimmung des Trägermediums mit den ästhetischen Gestaltungsmitteln des Bildes beobachten kann. Nicht nur sein Schaffen bezeugt den Einfluss der formalistischen Parameter Greenbergs, sondern auch seine Aussagen. So erklärte Stella 1964 in einem Interview: „Ich gerate immer wieder in Streit mit Leuten, die die alten Werte in der Malerei erhalten wollen – die humanistischen Werte, die sie immer auf der Leinwand finden. Wenn man sie auf etwas festlegen will, behaupten sie am Ende immer, dass da außer der Farbe noch mehr auf der Leinwand sei. Meine Malerei basiert dagegen darauf, dass nur das, was gesehen werden kann, auch da ‚ist‘. Es ist tatsächlich ein Objekt. Jedes Bild ist ein Objekt, und jeder, der sich intensiv damit beschäftigt, muss sich schließlich der Objekthaftigkeit dessen, was er macht, stellen. […] Ich verliere schon mal die Tatsache aus den Augen, dass meine Bilder auf Leinwand gemalt sind, obwohl ich weiß, dass ich auf Leinwand male.“ Frank Stella und Donald Judd im Interview mit Bruce Glaser 1964, in: Glaser, Bruce: „Fragen an Stella und Judd“, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995, S. 35-57, hier S. 46-47, 50. 111 Die Wahrnehmungssituation bei objekthaften Kunstwerken setzt eine bestimmte Beziehungsart zum Betrachter voraus: Da die strukturelle Beschaffenheit derartiger Werke zwangsläufig ihre Objekthaftigkeit hervorhebt, wird ihre Präsenz im Raum unvermeidlich akzentuiert. Ihre spezifische Kontingenz als ästhetischer Gegenstand greift in den realen Raum des Betrachters hinein und erfordert daher eine entsprechende Rezeptionshaltung, die von den konkreten Bedingungen der Ausstellungssituation abhängig ist. Dieser Aspekt der Rezeption wurde bereits 1967 von Michael

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So gründet im formalistischen Bild das strukturelle Verhältnis zwischen der konfigurierten Oberfläche und dem Trägermedium – also die spezifische Kontingenz des Werkes – auf der Vergegenständlichung anstelle der Repräsentation. Das heißt, das Bild, das an sich die Verdinglichung seines Selbst ist, existiert in Bezug zu sich, indem es sich selbst über alle Repräsentationsverhältnisse hinaus entspricht. Dieser Bezug ist in Flag klar zu erkennen. Denn Johns aktualisierte ein bereits bestehendes Motiv, vergegenständlichte dessen formale, mustergültige Attribute, anstatt sie zu repräsentieren, was sich deutlich anhand der strukturellen Verhältnisse im Werk sowie anhand dessen Herstellungsprozesses beobachten lässt. So zeigen die inneren Verhältnisse im Werk, dass die Übereinstimmung des Motivs mit dem Trägermedium keinen Raum für illusionistische Wirkungen zulässt: Im Werkzusammenhang sind also keine formalen Elemente vorhanden, die auf den Versuch hindeuten, durch technische Mittel die Realität einer nicht gegenwärtigen Flagge vorzutäuschen.112 Darüber hinaus besteht das

Fried in Bezug auf minimalistische Kunstwerke analysiert, hinsichtlich derer er ein negatives Urteil aussprach, insoweit die ästhetische Präsenz dieser Kunstwerke – die Fried unter dem Begriff ‚Literalism‘ als eine „Art des Theaters“ auffasste, die er als Negation von Kunst verstanden wissen wollte – von den Bedingungen einer spezifischen Rezeptionssituation determiniert wird. Siehe: Fried, Michael: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995, S. 334-374. 112 Da es im Werk keinen immanenten Verweis auf den Versuch einer illusionistischen Wiedergabe gibt, wurde schon sehr früh in der Rezeption dieses Werkes die Frage gestellt, ob Flag eine Flagge darstellt oder an sich eine ist. Vgl. Solomon 1964, S. 9. Bereits 1962 behandelte Greenberg diese Problematik in seinem berühmten Aufsatz After Abstract Expressionism. Darin erklärte er: „Die Motive von Johns’ Gemälden sind […] immer von vornherein zweidimensionale und aus einem Repertoire von menschengemachten Zeichen und Bildmotiven gewählt, ähnlich den aufschablonierten oder aufgeklebten Elementen im Kubismus von Picasso und Braque in den Jahren 1911 und 1913. Im Gegensatz zu den beiden kubistischen Meistern interessiert sich Johns durchaus für die Ironie, die sich daraus ergibt, zweidimensionale und künstlich hergestellte Konfigurationen ‚abzubilden‘, die tatsächlich nur ‚reproduziert‘ werden können; […] Alles, was sonst der Darstellung und der Illusion dient, dient hier nur noch sich selbst, das heißt, der Abstraktion, wohingegen alles, was sonst der Abstraktion und dem Dekorativen dient – Flächigkeit, Umrisshaftigkeit, All-Over- oder symmetrischer Aufbau –, hier in den Dienst der Darstellung gestellt ist.“ Greenberg (1962) 1997, S. 322-324. Treffend merkte Greenberg an, dass Johns’

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Trägermedium von Flag – wie bei aller stofflichen Aktualisierung der angeeigneten Flagge – aus drei Einzelteilen, die zusammen die Gesamtfläche des gewonnenen Gegenstandes konstituieren. Dabei ist das Verhältnis jeder einzelnen Tafel zur Werkganzheit ein konstruktives. Dies bedeutet, jede Tafel fügt sich in die strukturelle Ordnung einer vorgeschriebenen Ganzheit gemäß den formalen Vorgaben des Motivs. Jedes Einzelteil steht also in Bezug zu den anderen, so dass die spezifische Beschaffenheit des Einzelnen zur Funktion des Ganzen wird. Zwar besitzen alle Tafeln in ihrer konkreten Gestaltung individuell differenzierbare, ästhetische Eigenschaften, sind aber aufgrund ihrer jeweiligen Positionierung im Werkganzen keine selbstständigen Erscheinungen, wodurch sie zwangsläufig zu Baueinheiten werden. Das heißt, jedes Element steht gegenwärtig für sich selbst, eine Werkganzheit bildend. Somit ist der Verzicht auf mimetische Mittel eine strukturelle Voraussetzung für die Konstitution eines Werkes, das in sich selbst ein allgemeingültiges Motiv vergegenständlicht. 3.2 Der Weltbezug Eine Flagge ist eine flächige Anordnung gestalterischer Elemente innerhalb eines meist langrechteckigen Feldes und dient dazu, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer Körperschaft jeglicher Art zu signalisieren. Sie ist also die symbolhafte Vertretung einer bestimmten Nation oder Körperschaft.113 Dieser Funktion entsprechend, steht die amerikanische Flagge für die Einheit, Freiheit und Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika, sowohl in Bezug auf die grundsätzliche Unabhängigkeit von anderen Ländern als auch in Bezug auf die staatliche Selbstbestimmtheit. Als Sinnbild des Landes besteht sie aus klar definierten Elementen, die eine innere, auf das Bestehen des amerikanischen Gesamtstaats bezogene Symbolik haben. Somit besitzen alle konstitutiven Elemente der Flagge eine präzis festgelegte Darstellungsfunktion: So stehen die dreizehn nebeneinanderliegenden roten und weißen Streifen für die dreizehn Gründungsstaaten, die weißen Sterne im blauen Feld symbolisieren je einen Bundesstaat – vor 1960 waren es achtundvierzig Sterne, seit dem Eintritt von Alaska und Hawaii sind es fünfzig. Auch die Farben haben eine eigene Bedeutung: Die Farbe Weiß soll Reinheit und Unschuld symbolisieren, Rot Tapferkeit und Wider-

Gemälde sich zwar auf konkrete Motive der realen Welt beziehen, aber es sich dabei kategorisch nicht um illusionistische Wiedergabe handelt. 113 Vgl. Hesmer, Karl-Heinz: Flaggen und Wappen der Welt, München 2008, S. 5.

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standsfähigkeit, Blau Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Gerechtigkeit.114 Gemäß der strikt stipulierten Symbolik der amerikanischen Flagge sind deren Proportionen durch einen Erlass aus dem Jahr 1912 genau definiert: Das Höhe-LängeVerhältnis entspricht 1:1,9; dabei macht die Höhe des Sternenfeldes 7/13 der Gesamthöhe aus, während jeder Streifen 1/13 der Gesamthöhe konstituiert; die Breite des Sternenfeldes entspricht ihrerseits 2/5 der Gesamtbreite.115 Für den Umgang mit der Flagge besteht ein Kodex aus dem Jahr 1923, der 1942 Teil des öffentlichen Rechts wurde. Dieser beinhaltet genaue Regelungen zum Gebrauch der Flagge, wobei Verhalten und Respektbezeugung sowie Hissen und Salutieren der Flagge in ihren Einzelheiten vorgeschrieben sind.116 Der politische Charakter der Flagge als symbolhafte Vertretung des amerikanischen Gesamtstaats war im Kalten Krieg von enormer Bedeutung, da dieser Konflikt zwischen den Westmächten unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika und den sozialistischen Ländern unter der Führung der Sowjetunion mit allen möglichen Mitteln unterhalb eines offenen Krieges geführt wurde, wobei die Verwendung nationaler Symbolik zur ideologischen Darstellung der eigenen Position diente. Darüber hinaus nahm in den fünfziger Jahren die Bedeutung der nationalen Symbole mit den repressiven Aktivitäten des Gremiums des Repräsentantenhauses House Un-American Activities Committee (HUAC) und insbesondere mit der antikommunistischen Kampagne des republikanischen Senators Joseph McCarthy in Amerika massiv zu.117 Durch ihre Bemühungen, eine Unterwanderung der amerikanischen Gesellschaft durch vermeintlich antiamerikanische Haltungen und vom amerikanischen System abweichende Ideologien zu bekämpfen, gewann die Flagge als Symbol der Zusammengehörigkeit und des Patriotismus an Aktualität.118 In diesem politischen Kontext erwiesen sich die nationalen Symbole, die ihrer Funktion nach mit Affekten besetzt sind, als ein wirksames Instrument, um die ideologische Kohäsion der Gesellschaft im

114 Vgl. Ide, Emily Katherine: The History and Significance of the American Flag, Cambridge 1917, S. 56 und Whipple, Wayne: The Story of the American Flag, Philadelphia 1910, S. 9. 115 Zu den offiziellen Maßen der amerikanischen Flagge siehe: http://www.usflag.org/ flagspecs.html, Stand vom 23.06.2009. 116 Siehe: Kodex der amerikanischen Flagge (United States Code Title 32 Chapter 10). Online veröffentlicht unter: http://www.usflag.org/uscode36.html, Stand vom 23.06.2009. 117 Siehe: Niess, Frank: Schatten auf Hollywood. McCarthy, Bush Jr. und die Folgen, 2005 Köln, S. 71-138. 118 Vgl. Orton 1998, S. 146.

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Kampf gegen Fremdgruppen zu festigen. Denn der Identifikationsfaktor solcher Symbole schweißt die Eigengruppe dicht zusammen, so dass Affekte gegen die Ideologie und den Zusammenhalt fremder Gruppen unausweichlich mobilisiert werden.119 In diesem Zusammenhang war die amerikanische Flagge im Jahr 1954 – als die antikommunistischen Exzesse des Senators McCarthy, seine unzureichend begründeten Anschuldigungen und seine unrechtmäßigen Ermittlungsmethoden in breiten Kreisen der Öffentlichkeit durch das Fernsehen bekannt wurden – ein aktueller Gegenstand als Symbol nationaler Identität. Diese Demaskierung bedeutete die Offenlegung einer innerhalb des eigenen Systems bestehenden Gefahr, die für die interne Stabilität der Eigengruppe genauso schädlich sein konnte wie fremde Ideologien – der Logik des Systems nach.120 Die Folge dieser durch historische, politische und soziologische Faktoren bedingten Umstände war die Festigung der Gesellschaft in ihren grundlegenden Überzeugungen. Hierbei spielten die Identitätssymbole eine Herausragende Rolle. Die offiziellen Ansprachen zum Flag Day 1954, einem Festtag, der zu Ehren der Flagge jeden 14. Juni gefeiert wird, verwiesen auf die Notwendigkeit dieses Symbols der amerikanischen Einigkeit, das über alle Differenzen hinaus stehen solle, wie sich den einschlägigen Reden des Präsidenten Eisenhower und des Bürgermeisters von New York entnehmen lässt.121 Dementsprechend spiegelte sich die Hervorhebung der Bedeutung der Flagge auch in den Medien wider, welche vergleichbare Darstellungen über dieses nationale Symbol publizierten,

119 Im Zusammenhang mit der Bildung nationaler Kollektive als Identifikationsfaktor der Gesellschaft erklärte Adorno treffend: „Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die von Denken gerade aufzulösen wären. Ungewiß, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen, überhaupt gibt. Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzißmus. Das, womit man sich identifiziert, die Essenz der Eigengruppe, wird unversehens zum Guten; die Fremdgruppe, die anderen, schlecht.“ Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 2003, S. 691. 120 Siehe: Herman, Arthur: Joseph McCarthy. Reexamining the Life and Legacy of America’s Most Hated Senator, New York 2000, S. 295-308. 121 Siehe: Orton 1998, S. 146-147.

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was auf das in diesem Jahr offensichtlich verstärkte Bedürfnis hindeutete, die Flagge als Symbol nationaler Identität zu betonen.122 In diesem gesellschaftlich-politischen Klima entschied sich Johns gegen Ende des Jahres 1954, sich des Motivs der amerikanischen Flagge zu bedienen, um ein Kunstobjekt herzustellen. Er erklärte diese Entscheidung zunächst mit der Behauptung, dass ihm die Verwendung des Designs der amerikanischen Flagge bereits einen Großteil an Arbeit abgenommen habe, weil er dieses nicht erst habe entwerfen müssen.123 Johns bekräftigte diesen radikal formalistischen Grund später noch durch einen Vergleich mit Zielscheiben: „Die Zielscheibe scheint mir eine bestimmte Art von Beziehung zum Sehen […] und zu den Dingen in der Welt […] einzunehmen, und das ist dieselbe Beziehung, die auch die Flagge hatte. […] Beides sind Dinge, die gesehen, aber nicht untersucht werden, und beide haben klar begrenzte Flächen, die ausgemessen und auf Leinwand übertragen werden können.“124

Ohne dieser formalistischen Erklärung zu widersprechen, bei welcher der politische Gehalt der Flagge ausgeklammert wurde, fügte Johns in subsequenten Behauptungen hinzu, dass die Idee, diesen äußerst konnotierten Gegenstand zu malen, auf einen Traum zurückzuführen sei: Er habe eines Nachts geträumt, eine große Flagge zu malen, was er daraufhin in die Tat umgesetzt habe.125 Zu dieser auf das Unbewusste als Quelle künstlerischen Schaffens anspielenden Erklärung ergänzte Johns, die Bestimmtheit des Traumes akzentuierend: „Ich habe von keinem anderen Bild geträumt. Ich muss für so einen Traum dankbar sein! Der unbewusste Gedanke wurde von meinem Bewusstsein wohlwollend angenommen.“126 Der Gehalt dieser nicht verifizierbaren Aussage deutet nicht nur auf die Verarbeitung bestimmter Inhalte des Alltags hin: die Tätigkeit des Malens einerseits und die Existenz der amerikanischen Flagge andererseits, zwei alltägliche

122 Die zunehmende Betonung der Bedeutung der Flagge zur Mitte der fünfziger Jahre zeigte sich, wie Orton erklärt, nicht nur in den öffentlichen Ansprachen zum Flag Day und in Zeitungsartikeln, sondern auch in anderen Bereichen des Alltags: Ein aussagekräftiges Beispiel ist die Einweihung eines prominenten Denkmales 1954 in Virginia, das wirkungsvoll die amerikanische Flagge (die Errichtung der Flagge auf dem Mount Suribachi 1945) zum Thema macht. Siehe: Orton 1998, S. 147-148. 123 Vgl. „His Heart Belongs to Dada“, in: Time vom 04.05.1959. 124 Jasper Johns im Interview mit Walter Hopps 1965, in: Johns 1997, S. 26-27. 125 Vgl. Jasper Johns im Interview mit Emile de Antonio 1972, in: Johns 1997, S. 96. 126 Jasper Johns im Interview mit Peter Fuller 1978, in: Johns 1997, S. 150.

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Gegebenheiten für den in New York lebenden Maler, sondern auch auf die Vorstellung, dass eine Verbindung zwischen beiden voneinander unabhängigen Realitäten – der Malerei und der amerikanischen Flagge – durch ihn selbst als Individuum herstellbar ist. Dieser letzte Aspekt suggeriert einen Bezug zur amerikanischen Flagge: Jasper Johns’ Name – wie Johns selbst andeutet – wurde ihm in Erinnerung an Sergeant William Jasper gegeben, eine Heldenfigur des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs. Er ging in die Geschichte ein, weil er als Sergeant im zweiten Infanterieregiment von South Carolina 1776 während eines Angriffes der Briten die gefallene Regimentsflagge wieder aufrichtete. Als er 1779 in einem anderen Gefecht die gefallene Flagge des Regiments noch einmal zu hissen versuchte, wurde er tödlich getroffen, was seinen Ruhm besiegelte.127 Diese patriotische Heldentat gehört zum Allgemeinwissen in South Carolina, wo William Jasper geboren wurde und später Jasper Johns aufwuchs, was die Vermutung der soziologischen Internalisierung kultureller Werte stützt: Auf die Frage, ob die amerikanische Flagge ein Platzhalter für ihn sei, antwortete Jasper Johns: „Das glaube ich nicht. Dazu fällt mir nur ein, dass in Savannah, Georgia, eine Statue von Sergeant William Jasper in einem Park steht. Einmal ging ich mit meinem Vater durch diesen Park, und er sagte, dass wir nach ihm so hießen. […] Sergeant kam ums Leben, als er die amerikanische Fahne über einen Fort hisste. Aber nach dieser Geschichte könnte die Fahne genauso gut für meinen Vater [William Jasper Johns] stehen wie für mich.“128

Tatsächlich handelte es sich bei der Flagge, die Sergeant William Jasper in beiden Gefechten hisste, um die Flagge von South Carolina im Jahre 1775, nicht um die amerikanische Flagge, wie es eindeutig aus der Geschichtsschreibung zu entnehmen ist.129 Nichtsdestotrotz betont Johns in seiner Darstellung die ehrenhafte Handlung, ungeachtet der eigenen Gefährdung die amerikanische Flagge zu hissen, wodurch die Vorstellung einer Verbindung zwischen einem geschichtlichen Subjekt und einem nationalen Symbol ausgesprochen wird.

127 Die patriotischen Heldentaten von Sergeant William Jasper sind in der amerikanischen Geschichtsschreibung wortreich beschrieben. Dementsprechend sind mehrere amerikanische Städte und Landkreise zu seinen Ehren nach ihm benannt. Zu einer ausführlichen Darstellung seiner Taten in Bezug auf Jasper Johns siehe: Orton 1998, S. 150-156. 128 Jasper Johns im Interview mit Paul Taylor 1990, in: Johns 1997, S. 288-289. 129 Siehe: Orton 1998, S. 152-154.

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3.3 Die Aktualisierung des Symbols Die Gestaltung von Flag zeigt Unterschiede zu den standardisierten Maßen der amerikanischen Flagge gemäß dem am 24. Juni 1912 erlassenen Exekutivbefehl, der die Maße des Designs der amerikanischen Flagge festlegt.130 Während bei der normierten Flagge die Breite der rechten oberen Ecke 3/5 der Gesamtbreite entspricht, ist sie in Johns’ Kunstobjekt sichtlich schmaler: Sie entspricht 8/15 der gesamten Bildbreite. Dies bedeutet, dass bei der standardisierten amerikanischen Flagge das Höhe-Länge-Verhältnis 1:1,9 entspricht, während in Johns’ Objekt dieses Verhältnis 1:1,5 beträgt.131 Neben dieser bedeutenden Differenz auf Proportionsebene weicht auch die fremdartige Behandlung der Farboberfläche von der homogenen Farbbeschaffenheit der amerikanischen Flagge beträchtlich ab. Trotz dieser durch bloßes Anschauen feststellbaren Abweichungen verweisen die formalen Eigenschaften des Kunstobjektes Johns’ in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Beschaffenheit unmittelbar auf das spezifische Muster der amerikanischen Flagge als präzise definierte, graphische Konfiguration. Die Erkennbarkeit dieses Symbols nationaler Identität ist auf die individuelle Gestaltung seiner sinnlich wahrnehmbaren Form angewiesen, die zwar willkürlich, aber in ihrer Konfiguration genau festgelegt ist, so dass die vorgeschriebenen Parameter seiner äußeren Gestalt als unabdingbare Invarianten dienen. Die Manifestation der konstitutiven Eigenschaften der Form leitet den Empfänger im Rezeptionsprozess zu dem Bedeutungsgehalt des Symbols, dessen Sinndimensionen im Wahrnehmungsobjekt durch konventionelle Festlegungen konvergieren. Dabei entsteht eine unauflösbare Einheit zwischen Materialität und Vorstellung, was das Wesen der Flagge als Symbol ausmacht. Jede korrekte Umsetzung der konstitutiven Eigenschaften der Flagge – entsprechend ihren bestimmungsgemäßen Vorschriften – stellt einen Einzelfall der Flagge dar, das heißt eine Aktualisierung ihres pluralischen Wesens als Symbol, ohne in einem nachahmenden Bezug zu einer Protoflagge zu stehen. Denn die Flagge als phänomenologische Entität ist ein notwendig auf Wiederholung angelegter Zeichenkörper, der kein

130 Vom Präsidenten William H. Taft erlassener Exekutivbefehl Nr. 1556 vom 24.06. 1912. 131 In diesem Zusammenhang erklärt Fred Orton, dass die obligatorischen Proportionsangaben der amerikanischen Flagge oft missachtet werden. Sie sind bei allen Flaggen, welche die Regierungsabteilungen aushängen, ohne Vorbehalt zu beachten, werden aber im gängigen Gebrauch leicht geändert. So wird oft das Höhe-LängeVerhältnis 2:3 benutzt, was den Proportionen von Johns’ Werk ähnelt. Siehe: Orton 1998, S. 117.

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Original aufzuweisen vermag, das einen expliziten Standard formaler Korrektheit erfüllt. Jedes regelrechte Exemplar der Flagge ist dadurch eine gültige Flagge, die als Original fungiert. Das bedeutet, für die Produktion neuer Einzelstücke der Flagge bzw. für die Identifikation bereits vorhandener Exemplare ist die stoffliche Ausführung von deren normativen Invarianten bzw. die Verifikation dieser Invarianten erforderlich: Sind diese Invarianten bei dem hergestellten Exemplar vorhanden, dann handelt es sich schlichtweg um eine amerikanische Flagge.132 Die korrekte Erfüllung der normativen Invarianten der Flagge schließt jedoch nicht die Erscheinung kontingenter Eigenschaften im Gegenstand aus. Denn jede stoffliche Aktualisierung einer Flagge ist per se ein einzelnes Objekt von Immanenz, das zwangsläufig in der Kontingenz seiner eigenen Materialität existiert. Diese kontigenten Eigenschaften können je nach Ausführung beträchtlich voneinander divergieren: Sie können in formalen Aspekten wie Textur, Stoffqualität, Farbintensität und Größe variieren, ohne gegen die vorgeschriebenen Invarianten der Flagge zu verstoßen. Demzufolge kann die spezifische Erscheinung einer einwandfreien Aktualisierung sich von anderen ebenso korrekten Exemplaren der Flagge in ihrer Wirkung im Raum beträchtlich unterscheiden, ohne dass dabei eine Missachtung der konstitutiven Eigenschaften der Flagge auftritt. Zu diesen ausführungsspezifischen Differenzen kommen Abweichungen hinzu, die durch die historische Faktizität des Symbols bedingt sind: Da das Symbol als solches historisch bedingt ist, ist die Normativität seiner festgelegten Invarianten von konkreten Zeitbestimmungen abhängig. Das heißt, dass die festgelegte Konfiguration der amerikanischen Flagge als Trägermedium der Vorstellung, welche die Einheit, Freiheit und Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika vergegenwärtigt, im Laufe der Zeit formale Änderungen erfuhr, die die Immanenz des Symbols in seiner konkreten Erscheinung bestimmten, ohne dass sich in diesem Prozess ihre Funktion als Träger ihres unbedingten Bedeutungsgehalts än-

132 Das Symbol als Werk menschlicher Schöpfung steht im direkten Zusammenhang mit Kunst und Ästhetik, insoweit es eine Darbietung menschlichen Denkens ist, die im Sinnlichen einen konkreten Ausdruck erhält. Auf erkenntnistheoretischer Ebene zeigt der Status von Existenz des Symbols eine evidente Parallelität zu Kunstwerken, wobei das Symbol eine Form von Immanenz ist, die ihrer Gestaltung nach sowohl autographisch als auch allographisch ist: Ein ausgeführtes Symbol ist das Endprodukt eines Einzelfalles, das jedoch entsprechend einer genau festgelegten Notation bzw. einer definierten Konvention hergestellt wird, so dass es als Einzelfall stets wiederholbar ist. Siehe: Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main 1997, S. 112-122.

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derte. Daraus entstand eine strukturelle Entsprechung zwischen den historisch sich entfaltenden Sinndimensionen des Symbols und seiner formalen Entwicklung. Denn genauso wie die Bedeutung und die Konnotationen des politischpatriotischen Gehalts der Flagge sich in der Geschichte erweitern, ohne dass sich dabei der symbolische Kerngedanke, die Idee der Einheit, Freiheit und Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika, in seiner Festigkeit modifiziert, passt sich die formale Konfiguration der Flagge in ihrer graphischen Anordnung den Bestimmungen der Zeit an, ohne ihre symbolische Struktur einzubüßen. Demnach ist eine amerikanische Flagge, die vor der Verkündung des Erlasses von 1912 hergestellt wurde, durch welchen die Hinzufügung zweier neuer Sterne infolge des Eintritts von New Mexico und Arizona in den amerikanischen Gesamtstaat verordnet wurde, woraus die Flagge mit achtundvierzig Sternen resultierte, weiterhin eine vollkommene, amerikanische Flagge, auch wenn ihre Anzahl an Sternen nicht mehr aktuell ist und folglich deren Distribution auf dem blauen Rechteck anders aussieht. Genauso ist die Flagge mit achtundvierzig Sternen nach 1960, als zwei weitere Sterne mit dem Eintritt zweier neuer Mitgliedsstaaten in den amerikanischen Bund eingefügt wurden, eine in ihrer ontologischen Ganzheit vollständige Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika, obwohl sie nicht mehr aktuell ist. Diese Gegebenheiten deuten darauf hin, dass über die normativen Invarianten der Flagge hinaus nicht nur kontigente, sondern auch konstitutive Variationen in ihrer formalen Erscheinung vorprogrammiert sind, ohne dass bei diesen Änderungen die ontologische Notwendigkeit des Symbols eingebüßt wird. Demnach besteht stets Spielraum für Abweichungen innerhalb der vorgeschriebenen Beschaffenheit des Symbols, so dass eine gültige Aktualisierung, die von der historisch festgelegten Normativität leicht differiert, möglich ist. Denn das Wesen des Symbols entwirft sich auf das Strukturmoment seiner Möglichkeit, die als solche nie vollständig abgeschlossen ist. Die Unabgeschlossenheit der Flagge als Symbol lässt seine ontologische Ganzheit dort greifbar werden, wo die Bedingungen der Möglichkeit seiner Immanenz nicht akzidentell sind, das heißt, wo die Erfahrbarkeit seiner Kontingenz von der Notwendigkeit seines Daseins unumgänglich determiniert ist.133 Dabei sind die Bedingungen für die Erfüllung

133 Die ontologische Ordnung der Dinge ist, jenseits der kognitiven Dimension des Erkennens, von der Infrastruktur ihres Wesens determiniert. In diesem Zusammenhang erklärt Arthur C. Danto, auf die Handlungstheorie zurückgreifend, dass „eine Körperbewegung eine Handlung ist, wenn sie von irgendeinem inneren, d.h. mentalen Ereignis wie eine Volition oder einem Motiv verursacht wurde – und eine reine Körperbewegung, wenn ihr eine mentale Ursache fehlt.“ Diese ontologische Distink-

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der erforderlichen Merkmale, welche einen gültigen Einzelfall der Flagge ausmachen, Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit: Die Aktualisierung muss über alle Kontingenz hinaus eine amerikanische Flagge sein, indem sie als nicht zufälliger Einzelfall deren unabdingbare Immanenz verkörpert; zugleich muss sie die Eigenschaften, die allen amerikanischen Flaggen aus Regelmäßigkeit gemeinsam sind, enthalten, so dass sie allgemeingültig für alle amerikanischen Flaggen stehen kann. Beide untrennbaren Bedingungen garantieren, dass trotz Abweichungen das Wesen der Flagge in ihrer ontologischen Ganzheit wiedergegeben wird. Aus diesem Grund wird bei der Herstellung von Flaggen in Amerika noch immer bemerkt, dass die Ausführung von deren normativen Invarianten nicht immer dem gesetzlich vorgeschrieben Standard entspricht, wobei sie die erforderlichen Merkmale aufweisen, um gültige Einzelfälle bzw. korrekte Aktualisierungen der amerikanischen Flagge zu sein.134 In diesem Zusammenhang erweisen sich die Abweichungen von Johns’ Kunstobjekt Flag gegenüber den normativen Invarianten der amerikanischen Flagge als kontingent, insoweit die konstitutiven Eigenschaften der amerikanischen Flagge in Johns’ Werk determinierend sind: Sie bestimmen die Struktur des Gegenstandes in seiner Ganzheit, so dass die Notwendigkeit der amerikanischen Flagge als Identität des Seienden regelrecht vorgebracht wird. Somit vergegenständlicht dieses Kunstwerk als nicht zufälliger Einzelfall die unbedingte Immanenz der amerikanischen Flagge, wodurch die ontologische Klasse aller amerikanischen Flaggen aktualisiert wird. Demzufolge handelt es sich bei Johns’ Werk Flag um eine gültige Aktualisierung des Symbols, das die Idee der Vereinigten Staaten von Amerika vergegenwärtigt.

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Zu Beginn der fünfziger Jahre war der Einfluss Marcel Duchamps in der New Yorker Kunstwelt trotz seines ehemals großen Bekanntheitsgrades in den zwan-

tion trifft gemäß Danto auf die Ästhetik zu: „Der Unterschied zwischen einer Basishandlung und einer bloßen Körperbewegung lässt sich mit den Unterschieden zwischen einem Kunstwerk und einem bloßen Ding gleichsetzen.“ Danto 1991, S. 22, 24. Diese Erklärung verdeutlicht treffend, dass die Bedingungen für die Möglichkeit einer ästhetischen Immanenz nicht akzidentell sind, was auf die Unterschiede in der spezifischen Ordnung der Dinge auf ontologischer Ebene hindeutet, das heißt auf deren innewohnende Notwendigkeit als Identität des Seienden. 134 Siehe: Orton 1998, S. 117.

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ziger Jahren gering. Zu diesem allmählichen Entschwinden, das Duchamp selbst mit seiner Distanzierung vom Kunstbertrieb veranlasste, trug der ab den fünfziger Jahren rasant zunehmende Erfolg der New York School im institutionellen Kunstbetrieb entscheidend bei. Denn diese Kunstrichtung verkörperte eine sich entfaltende und ästhetisch selbstständige Kunstform, die der umstrittenen Kunstauffassung Duchamps diametral entgegengesetzt war. Dementsprechend spielte Duchamp für die Künstler des Abstrakten Expressionismus eine unbedeutende Rolle,135 was auf einer Einschätzung beruhte, die Greenberg bereits 1943 signalisiert hatte, indem er, ohne auf die Radikalität und die Bedeutung von Duchamps ästhetischer Indifferenz und ‚anti-retinaler‘ Kunst einzugehen, dessen Kunstproduktion als „less-than-successful little quasi cubist paintings“ lapidar abtat.136 Nichtsdestotrotz genoss Duchamp bei einigen einflussreichen Personen im amerikanischen Kunstbetrieb weiterhin hohes Ansehen. Zu diesen gehörten nicht nur seine bekannten Mäzene und Sammler: die Kunstliebhaberin und Mäzenin Katherine Dreier und das bedeutende Sammler-Ehepaar Walter und Louise Arensberg, deren angesehene Sammlung musealen Charakter beanspruchen konnte – in den fünfziger Jahren vermachten sie dem Philadelphia Museum of Art ihre gesamte, aus über tausend Objekten bestehende Kunstsammlung, die zugleich auch die weltweit größte Sammlung von Werken Duchamps war, was konsequenterweise Duchamps Oeuvre musealen Status verlieh.137 Große Achtung vor Duchamp hatte auch der einflussreiche Kunsthändler und Galerist Sidney Janis, dessen Galerie nicht nur zur wichtigsten Plattform der New York School wurde, sondern auch zum bedeutenden Schaufenster europäischer, moderner Kunst.138 Unter den Kunstschaffenden der jüngeren Generation war Robert Motherwell – als einziger Künstler der New York School – mit Duchamp befreundet, für den er ungeachtet seiner eigenen ästhetischen Richtung große

135 Vgl. Tomkins 1999, S. 440. 136 Zitiert nach: Jones 2005, S. 461 Anm. 6. 137 Der aus siebenunddreißig Arbeiten bestehende Werkkomplex Duchamps war das Herzstück der Arensberg-Sammlung, deren Schenkung die Arensbergs bereits in den vierziger Jahren beschlossen hatten. Sie verstanden die mit strengen Bedingungen stipulierte Gabe als ein würdigendes Denkmal für Duchamp, mit dem sie seit 1915 befreundet waren. Nach langen Verhandlungen mit mehreren Museen setzte sich das Philadelphia Museum of Art gegenüber anderen Institutionen durch. Am 27. Dezember 1950 wurde die Schenkungsurkunde unterschrieben, wonach die ArensbergSammlung nach deren Tod an das Museum fallen sollte. Die offizielle Eröffnung fand am 16. Oktober 1954 statt. Siehe: Tomkins 1999, S. 432-435. 138 Vgl. Tomkins 1999, S. 440.

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Bewunderung empfand, eine Haltung, die der avantgardistische Komponist John Cage – einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts – in gesteigerter Form teilte.139 Diese Bewunderung für Duchamp trug wesentlich zur Wiederentdeckung seines Werkes im amerikanischen Kunstsystem bei. So organisierte die Sidney Janis Gallery in den frühen fünfziger Jahren eine Reihe anspruchsvoller Ausstellungen von kunsthistorischem Charakter, in welchen Duchamps Oeuvre mit Arbeiten immer vertreten war, wodurch seine Rolle in der Kunstgeschichte der Moderne hervorgehoben wurde: Bei der Ausstellung Twentieth Century Old Masters im Jahr 1950 war das Gemälde Jeu d’échecs140 von 1910 zu sehen; für die einige Monate später veranstaltete Ausstellung Challenge and Defy besorgte Janis mit Duchamps Genehmigung ein Urinal, das als Replik des berüchtigten Werkes Fountain von 1917 fungierte; in der Ausstellung von 1951 Climax in XXth Century Art: 1913 zeigte die Galerie das Werk Trois Stoppages étalon und eine Replik von Roue de bicyclette; im selben Jahr waren die Gemälde Nu assis dans une baignoire141 und Portrait de Chauvel142 in der Ausstellung Brancusi to Duchamp zu sehen.143 Auch außerhalb der Sidney Janis Gallery war Duchamps Werk im New Yorker Kunstsystem der fünfziger Jahre in Ausstellungen präsent. Von Bedeutung war die aufsehenerregende Ausstellung in der Rose Fried Gallery: Duchamp Frères & Sœur, Œuvres d’Art von 1952, eine auf Duchamps Vorschlag an die Galeristin Rose Fried zurückzuführende Ausstellung, welche Duchamps Familienzusammenhang thematisierte und Werke von ihm selbst und von seinen Geschwistern – Raymond Duchamp-Villon, Jacques Villon und Suzanne Crotti – präsentierte. Die Reaktion der Medien auf diese Ausstellung erfolgte unverzüglich. So veröffentlichte die Zeitschrift Life einen umfangreichen Artikel, der, auf Duchamps Rolle in der Kunstgeschichte der Moderne eingehend, ihm große Anerkennung zollte: Duchamp wird darin nicht nur als der geis-

139 Vgl. Sanio, Sabine: Alternativen zur Werkästhetik. John Cage und Helmut Heißenbüttel, Saarbrücken 1999 (Diss. Phil. Berlin 1995), S. 64-66. 140 Marcel Duchamp, Jeu d’échecs, 1910, Öl auf Leinwand, 114 x 146 cm, Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia. 141 Marcel Duchamp, Nu assis dans une baignoire, 1910, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm, The Art Institute of Chicago, Chicago. 142 Marcel Duchamp, Portrait de Chauvel, 1910, Öl auf Leinwand, 52,4 x 40 cm, Privatsammlung, Frankreich. 143 Vgl. Tomkins 1999, S. 440.

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tige Führer der Dada-Bewegung, sondern auch als ihre bedeutendste Figur eingestuft.144 Im Jahr 1953 kuratierte Duchamp selbst die epochale Ausstellung Dada 1916-1923 in der Sidney Janis Gallery, die erste umfangreiche Kunstschau des internationalen Dada in New York. Die Ausstellung zeigte mehr als zweihundert Kunstwerke und Dokumente, darunter vier Arbeiten von Duchamp. Der Ausstellungskatalog wurde ebenfalls von Duchamp entworfen: ein Flugblatt aus Seidenpapier mit Texten verschiedener Künstler, welches zu einer Art Kugel zusammengeknüllt wurde.145 Wie die Zeitschrift Time berichtete, erklärte Duchamp zum Anlass der Ausstellung: „Dada is not passé. The Dada spirit is eternal. Our art will always exist as a concrete expression of freedom.“146 Duchamps Verbindung zur Dada-Bewegung, die er mit der zitierten Aussage öffentlich zu verstehen gab und durch seine Teilnahme an der von ihm selbst kuratierten Ausstellung bestätigte, war in der Tat ambivalent. Denn Duchamp, der mit der Gründung des Dadaismus in Zürich nichts zu tun gehabt hatte und der jeder künstlerischen Richtung grundsätzlich abgeneigt war, verstand seine eigene Position – die Zurückweisung einer auf das Visuelle gerichteten Kunst – nicht im Sinne des verpflichtenden Dogmatismus der Dadaisten. Er sah seine ästhetische Haltung sowie seine künstlerischen Erkundungen als etwas Undogmatisches und Unabhängiges: „Es war nicht Dada. Doch es war im selben Geiste,“ erklärte Duchamp später, auf seine Nähe zur Dada-Haltung Bezug nehmend.147 Dennoch war Du-

144 Siehe: Sargeant, Winthrop: „Dada’s Daddy. A New Tribute is paid to Duchamp, Pioneer of Nonsense and Nihilism“, in: Life, Vol. 32, Nr. 17, 1952, S. 100-110. 145 Vgl. Tomkins 1999, S. 440-441. 146 „Dadadadada“, in: Time vom 27.04.1953. Online veröffentlicht unter: www.time. com/time/magazine/article/0,9171,818332,00.html, Stand vom 29.05.2009. 147 Siehe: Tomkins 1999, S. 224-227. Duchamps mehrdeutige Verbindung zu Dada war in avantgardistischen Kreisen bekannt. Bereits 1922 erklärte André Breton dazu: „The situation of Marcel Duchamp in relation to the contemporary movement is unique in that the most recent groupings invoke the authority of his name, although it is impossible to say up to what point he has ever given them his consent, and although we see him turning with perfect freedom away from the complex of ideas whose originality was in large part due to him, before it took the systematic turn that alienates certain others as well. […] in 1920, at a time when nothing more was to be expected and when Tzara, who was organizing the Dada Salon, considered himself authorized to count Marcel Duchamp among the exhibitors, Duchamp cabled from America these simple words: Balls to you.“ Breton, André: „Marcel Duchamp“

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champ für die amerikanische Öffentlichkeit das Paradigma des Dadaismus schlechthin.148 Diese Deutung wurde größtenteils von der Anthologie attestiert, die Robert Motherwell 1951 zur Dada-Bewegung herausgab und die zur Wiederentdeckung des Dadaismus und des Werkes Duchamps entscheidend beitrug.149 In der Einleitung der umfangreichen Publikation berief sich Motherwell für die Erklärung dessen, was unter Dada verstanden werden soll, auf die Readymades Duchamps. Er sah in dessen Flaschentrockner „das perfekte Beispiel des Dada-Geistes“: „Duchamp’s Bottle Rack (1914), a mass-produced utilitarian object, was his first readymade, that is, a manufactured commercial object from everyday life that he selected and exhibited under his own name, conferring on it the status of a ‚sculpture‘, an anti-art and consequently dada gesture.“150

Diese Auffassung von Dada, Duchamp und den Readymades verbreitete sich in den fünfziger Jahren mit dem allmählich wachsenden Interesse am Dadaismus, wodurch Duchamp eine überragende Autorität als Urvater der radikalsten Avantgarde gewann. Aus diesem Grund wurde er in der Öffentlichkeit ohne weiteres als „Dada’s Daddy, Pioneer of Nonsense and Nihilism“ dargestellt.151 Der sich erweiternde Wahrnehmungshorizont des amerikanischen Publikums der fünfziger Jahre gegenüber dem Werk und den Gedanken Duchamps geschah infolge der Rezeption seiner ästhetischen Wertvorstellungen und Ideen in avantgardistischen Kreisen. So war Duchamps ästhetisches Erbe zu Beginn der fünfziger Jahre zunächst eine offene, interpretationsbedürftige Ganzheit, deren Auslegung die Kenntnis avantgardistischen Gedankengutes voraussetzte. Diese Aufgabe erforderte eine geistige Offenheit, die grundsätzlich auf einer Vorstellung von Kunst gründen musste, die für eine Erweiterung des Erwartungshorizontes hinsichtlich der Rezeption und der Produktion von Kunst bereit war. Diese neoavantgardistische Verständnisbereitschaft der ersten Rezipienten des künstlerischen Werkes und des ästhetischen Nihilismus Duchamps markierte den Beginn

(1922), in: The Dada Painters and Poets. An Anthology, Cambridge/London 1989, S. 207-218, hier S. 209-110. 148 Vgl. Sargeant 1952, S. 105. 149 Motherwell, Robert (Hg.): The Dada Painters and Poets. An Anthology, Cambridge/London 1989. 150 Motherwell, Robert: „Introduction“, in: The Dada Painters and Poets. An Anthology, Cambridge/London 1989, S. xxi-xliii, hier S. xxiii. 151 Siehe: Sargeant 1952, S. 100-110.

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einer neuen radikalen Kunstauffassung im New Yorker Kunstsystem. Diese sich von den Paradigmen der dominierenden Ästhetik distanzierende Haltung zeigte sich zunächst nicht im Bereich der bildenden Kunst, die in den fünfziger Jahren vom Abstrakten Expressionismus bestimmt war, sondern in anderen Kunstgattungen. Von herausragender Bedeutung hierbei war die Rolle des avantgardistischen Komponisten, Musikers und Künstlers John Cage. Denn Cage zog als erster die ästhetischen Konsequenzen der künstlerischen Praxis Duchamps und setzte sie als produktionsästhetische Funktion avantgardistischer Kunst bzw. Musik um.152 Bereits in den frühen vierziger Jahren frequentierte Cage den avantgardistischen Kreis um Marcel Duchamp in New York: Eingeladen von Max Ernst, den der Komponist einige Monate zuvor in Chicago kennengelernt hatte, wohnte er in dessen Haus, das heißt in Peggy Guggenheims Hale House an der 51. Street; dort hatte Cage die Gelegenheit, renommierte Persönlichkeiten der Avantgarde kennenzulernen, unter anderem Piet Mondrian, André Breton, Virgil Thomson und Marcel Duchamp.153 Obwohl die Begegnungen Cages mit Duchamp in diesen Jahren eher flüchtig waren, war er schon über dessen Ästhetik und Haltung unterrichtet: Cage hatte bereits in den dreißiger Jahren das Ehepaar Arensberg kennengelernt, die ihm ihre Duchamp-Sammlung zeigten und ihn entsprechend mit Duchamps Ästhetik vertraut machten.154 Cages Auseinandersetzung mit Duchamp war ein Reflexionsprozess, in dem auch das avantgardistische Gedankengut anderer Künste konvergierte, wobei Duchamps Gedankenwelt für Cages Kunstverständnis maßgebend war: Entsprechend der Kunstpraxis Duchamps fasste Cage die Rolle des Künstlers im Sinne eines ständigen Austausches zwischen dem schaffenden Individuum und der werdenden Umwelt auf, was innerhalb einer ästhetischen Gesamtsicht der Welt eine Vereinigung von Kunst und

152 Obwohl Cage, der mit mehreren Kunstgattungen vertraut war und dem buddhistischen Gedankengut nah stand, vom Schaffen bedeutender Figuren der Literatur – wie Henry David Thoreau, James Joyce und T.S. Eliot – und der Musik – wie Arnold Schönberg und Erik Satie – angeregt wurde, war Marcel Duchamp ein Leitbild in seiner künstlerischen Entwicklung, wie der Komponist selbst wiederholt erklärte. Siehe: Jürging, Stefan: Die Tradition des Traditionsbruches. John Cages amerikanische Ästhetik, Frankfurt am Main 2002 (Diss. Phil. Düsseldorf 2000) und Kösterke, Doris: Kunst als Zeitkritik und Lebensmodell. Aspekte des musikalischen Denkens bei John Cage (1912-1992), Regensburg 1996 (Diss. Phil. Mainz 1995). 153 Vgl. Tomkins 1999, S. 385. 154 Vgl. Sanio 1999, S. 64.

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Leben ermöglicht.155 Demgemäß fasste der Komponist im Text 26 Statements Re Duchamp von 1963 seine Haltung zu Duchamp mit der lapidaren Formulierung zusammen: „One way to write music: study Duchamp.“156 Für die Vermittlung von Duchamps ästhetischem Gedankengut, das in den fünfziger Jahren in Amerika allgemein unter dem Begriff ‚Dada‘ bekannt wurde, spielte Cages Lehrtätigkeit eine bedeutende Rolle. Diese akademische Aktivität erwies sich als produktiver Austausch mit der jüngeren Künstlergeneration, was nicht nur zur Verbreitung der ästhetischen Ideen Duchamps und der damaligen Avantgarde beitrug, sondern auch zur Entwicklung neuer Kunstformen führte. Ein fruchtbarer Moment dieser gegenseitigen Beeinflussung war die Zeit, in der Cage am Black Mountain College bei Asheville in North Carolina unterrichtete. Dort lernte er 1948 den Kunststudenten Robert Rauschenberg kennen, mit dem er einen hochproduktiven ästhetischen Austausch hatte.157 So nahm Rauschenberg an Cages erstem multimedialem Werk Theater Piece No. 1 von 1952 teil, das auf die ästhetische Möglichkeit abzielte, eine von simultanen Abläufen generierte Situation zu schaffen, bei der die Bestimmtheit der Kunst in der Akzidentalität des realen Lebens abgelöst werden sollte. Dadurch entstand eine neue Kunstform: das Happening.158 Im Zuge dieser ästhetischen Wechselbeziehung mit der bildenden Kunst schuf Cage 1952 sein Meisterwerk: die avantgardistische Komposition in drei Sätzen 4'33'', ein musikalisches Stück ohne intendierte Klänge, bei dem nur die zufälligen Klänge wirken, die während der Aufführung der von der Partitur vorgeschriebenen, völligen Stille entstehen.159 Dieses von Rauschenbergs White Paintings160 inspirierte Werk161 war einerseits eine

155 Siehe: Jürging 2002, S. 161-165, Kösterke 1996, S. 66-75 und Sanio 1999, S. 64-66. 156 Cage, John: „26 Statements Re Duchamp“, in: ders., A Year from Monday, London/New York 1985, S. 70-72, hier S. 72. 157 Vgl. Josek 1998, S. 35. 158 Dieses zunächst nicht betitelte, multimediale Werk, das in Cages Zeit am Black Mountain College entstand, wird heute mehrheitlich als das erste Happening der Kunstgeschichte angesehen. Siehe: Davidson, Susan/Young, Joan: „Chronologie“, in: Robert Rauschenberg. Retrospektive (New York, Solomon R. Guggenheim Museum (u.a.), 19.09.1997-07.03.1999), Ostfildern-Ruit 1998, S. 550-591, hier S. 552 und Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozess. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München/New York 1993, S. 15. 159 Zu 4'33'' siehe: Josek 1998, S. 37-41, Jürging 2002, S. 93-95 und Kösterke 1996, S. 219-223. 160 Die White Paintings sind eine Bilderserie von 1951. Die Serie besteht aus mehreren Leinwänden, auf die Rauschenberg mit einer Rolle weiße Ölfarbe gleichmäßig auf-

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tiefsinnige Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Musiktheorie, andererseits aber auch eine eigenständige Umsetzung des ästhetischen Gedankenguts Duchamps: Auf die Strategie des Readymades rekurrierend, schaffte Cage das vom schöpferischen Individuum erschaffene Kunstobjekt im traditionellen Sinne ab und brachte an dessen Stelle eine vom Zufall generierte Werkeinheit hervor, deren werdende Kontingenz – kraft einer programmatischen Indifferenz gegenüber den traditionellen Begriffen der Ästhetik – künstlerischen Anspruch erhebt. Dadurch werden akzidentelle bzw. durch nicht intendierte Klangquellen erzeugte Klänge zum Inhalt eines musikalischen, das heißt ästhetischen Vorganges.162 Der rege Austausch mit Vertretern verschiedener Kunstgattungen machte Cage in bestimmten Kreisen des New Yorker Kunstsystems zu einer einflussreichen Figur. Er fand Anklang bei einigen jungen Künstlern in New York, die unabhängig vom mächtig gewordenen Abstrakten Expressionismus eine Künstlerkarriere im Sinne einer neuen Avantgarde anstrebten.163 Aus diesem Austausch entstanden künstlerische und persönliche Beziehungen bzw. soziale Netzwerke, in denen der Umgang mit der ästhetischen Gedankenwelt Duchamps und seinem avantgardistischen Wertesystem geläufig war und die eine zentrale Rolle in der Entfaltung einer ästhetischen Alternative zur dominierenden Richtung der Zeit spielten. So entstand aus der persönlichen und gedanklichen Nähe zwischen Cage und Rauschenberg eine avantgardistische Künstlerverbindung, der 1954 auch Jasper Johns beitrat.164 Aus diesem Kreis um Cage, der in den späten fünfziger

trug. Serie: eine Tafel 121,9 x 121,9 cm; drei Tafeln, Gesamtmaße 182,9 x 274,3 cm; vier Tafeln, Gesamtmaße 182,9 x 182,9 cm; sieben Tafeln, Gesamtmaße 182,9 x 320 cm. 161 Vgl. Emons, Hans: Komplizenschaften. Zur Beziehung zwischen Musik und Kunst in der amerikanischen Moderne, Berlin 2006, S. 70. 162 Vgl. Jürging 2002, S. 94-95. 163 Vgl. Crow 1997, S. 15-16. 164 Die persönliche und künstlerische Beziehung zwischen Johns, Rauschenberg und Cage, aus der ein eng verbundenes Netzwerk resultierte, zu dem auch der avantgardistische Tänzer und Choreograph Merce Cunningham gehörte, ist ein bekanntes Thema in der Kunstgeschichte. Der kreative Austausch unter ihnen war ein produktionsästhetisches Prinzip von großer Wirkung. Cage erklärte z.B. über seine gedankliche Nähe zu Rauschenberg: „Es war phantastisch, als ich Rauschenberg das erste Mal traf. Fast sofort hatte ich das Gefühl, dass es für uns nicht unbedingt notwendig war miteinander zu sprechen. So viele Berührungspunkte hatten wir. […] Wir waren die geborenen Komplizen.“ Zitiert nach: Josek 1998, S. 35. Dementsprechend be-

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Jahren allgemein als ‚Neo-Dada‘ bezeichnet wurde,165 ging eine neue künstlerische Ordnung hervor, welche, den ästhetischen Geist Duchamps reflektierend, neue Paradigmen in die Kunst einführte.166 Diese künstlerische Atmosphäre bildete den produktionsästhetischen Rahmen für die Entstehung von Flag, einem Werk, das sowohl im ‚Dada-Geist‘ als auch in der formalistischen Kunstanschauung des Abstrakten Expressionismus verankert war und eine radikal neue Möglichkeit in Bezug auf die Konstitution und die Natur des Kunstwerkes schuf.

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Der wirkungsästhetische Zusammenhang, der durch den künstlerischen Austausch in dem von Duchamps Gedankengut angeregten Kreis um John Cage geschaffen wurde, erwies sich als eine grundlegende Voraussetzung für die Konzeption von Flag. Die Nähe zur Gedankenwelt Duchamps manifestierte sich insbesondere in dem künstlerischen Verzicht auf die Produktion eines an die Ästhe-

richtete Rauschenberg über seinen künstlerischen Austausch mit Johns: „Jasper und ich trieben buchstäblich Handel mit Ideen. Er sagte, ich habe eine tolle Idee für dich, und dann musste ich eine für ihn finden.“ Zitiert nach: Hess 2007, S. 19. In dieser schöpferischen Konstellation spielte Cage eine führende Rolle, wie Cunningham erklärte: „I think that by his presence and his continued concern with visual things as well as writing, he [Cage] has affected artists. I remember times with Jasper Johns and Bob Rauschenberg in the early fifties when we would be together talking. I would mostly listen because the ideas were so interesting to me. It had nothing to do with dancing but simply brought something else to my experience: the way they looked at things and talked about them.“ Merce Cunningham im Interview mit Peter Dickinson 1987, in: Dickinson, Peter (Hg.): Cage Talk. Dialogues with and about John Cage, Rochester 2006, S. 65. 165 Bei der Besprechung einer Ausstellung der Castelli Gallery 1957 prägte der Kunstkritiker Robert Rosenblum den Begriff ‚Neo-Dada‘. In seiner Ausführung zu Jasper Johns’ Werk äußerte der Kritiker den Verdacht, dass ein vitaler Neo-Dada-Geist am Werk sei. Siehe: Rosenblum, Robert: „Castelli Group“, in: Arts, Vol. 31, Nr. 8, 1957, S. 53. In den darauffolgenden Jahren wurde der Begriff weiter gebraucht, um eine avantgardistische Bewegung zu bezeichnen, unter welcher nicht nur Johns und Rauschenberg, sondern auch Künstler wie Cy Twombly, Allan Kaprow und Ray Johnson gefasst wurden. Siehe: Orton 1998, S. 191. 166 Vgl. Jones, Amelia: Postmodernism and the En-gendering of Marcel Duchamp, Cambridge 1994, S. 31-32.

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tik des Sinneseindruckes appellierenden Kunstobjektes, anstelle dessen ein bereits bestehender Gegenstand, dessen gewöhnliche, im alltäglichen Leben verankerte Immanenz keine im künstlerischen Sinne intendierte Beschaffenheit aufweist, zur Kunst erklärt wird. Im Sinne dieser phänomenologischen Entfremdung gewinnt das zur Kunst erklärte Objekt eine spezifische Identität als ästhetisches Ganzes jenseits seiner ursprünglichen Wesensbestimmtheit, so dass es zu einer autonomen Wesenseinheit wird, deren Erkennbarkeit als Kunst notwendig von einem im Rezipienten angeregten Denkprozess abhängt. Diese auf Duchamp zurückzuführende Möglichkeit der Ästhetik kommt in Cages Werk 4'33'' deutlich zum Ausdruck. Denn in diesem musikalischen Stück werden die bei der Aufführung produzierten Klänge – die als solche das Endprodukt der Musik als zweiphasige Kunstform darstellen –167 durch nicht intendierte Klangquellen erzeugt, was den Verzicht auf die Produktion eines musikalischen Endproduktes im traditionellen Sinne bedeutet. Stattdessen werden zufällige Klänge, deren Spektrum an Entfaltungsmöglichkeiten während der vom Komponisten vorgeschriebenen Stille nicht begrenzt ist, zum musikalischen Endprodukt des Werkes – das heißt zur Musik – erklärt, so dass sie jenseits ihres beliebigen Ursprunges ästhetische Autonomie verkörpern.168 Diese Erweiterung der ästhetischen Möglichkeit des Readymades fand eine klare Entsprechung in Flag.169 Denn analog zu dieser radikalen Herangehensweise schaffte Johns mit diesem Werk das herkömmliche Kunstobjekt ab, indem er einen bereits bestehenden Alltagsgegenstand ohne immanente Eigenschaften als Kunstartefakt zur Kunst erklärte: Insoweit Flag eine gültige Aktualisierung der amerikanischen Flagge ist,170 ist sein ontologischer Status – ungeachtet der Tatsache, wer es als Gegenstand hervorbrachte – eindeutig festgelegt: Es ist die vergegenständlichte Manifestation eines existierenden Symbols, also ein vollendeter Einzelfall des konventionellen Zeichens, das die Idee der Vereinigten Staaten von Amerika vergegenwärtigt. Das heißt folglich, Flag ist eine Hervorbringung der Kultur, die zur Kunst erklärt wurde. Ob dieses Erzeugnis mit einer be-

167 Siehe: Goodman 1997, S. 112-115. 168 Vgl. Jürging 2002, S. 94-95. 169 In der Literatur wurde sehr früh die Nähe von Flag – sowie der Gruppe von Werken emblematischen Charakters (Flaggen und Zielscheiben), die Johns auf ähnliche Weise schuf – zu den Readymades Duchamps erkannt. Bereits 1957 stellte der Kunstkritiker Robert Rosenblum als erster diese Verbindung fest. Dabei ist sein Vergleich eine allgemeine Behauptung, die eher eine kritisch-skeptische Deutung vermittelt. Siehe: Rosenblum 1957, S. 53. 170 Siehe in der vorliegenden Studie: „Die Aktualisierung des Symbols“, S. 179-182.

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stimmten Person in einer kausalen Beziehung steht oder nicht, ist für seine Existenz als vergegenständlichtes Symbol unbedeutend; denn die unabdingbare Daseinsberechtigung des Symbols liegt in der Entsprechung seiner ontologischen Notwendigkeit – das ist in diesem Fall die symbolische Vergegenwärtigung der Vorstellung eines spezifischen Landes – nicht jedoch in der Vermittlung einer von einem bestimmten Individuum zu verantwortenden Aussage. Die Aussage Jasper Johns’ als Urheber von Flag besteht in diesem Zusammenhang darin, gerade jene Hervorbringung der Kultur auszuwählen und von ihrem ursprünglichen Kontext zu trennen, um sie anschließend, ohne ihre Funktion und Form zu verändern, zu einer ästhetischen Entität zu erklären. Mit dieser Gestaltungsweise, die bewusst auf die Produktion eines ästhetischen Kunstobjektes im traditionellen Sinne verzichtet, reihte sich Jasper Johns in dieselbe ästhetische Gedankenwelt von Duchamp und Cage ein, wobei er eine neue Sinndimension in diese ästhetische Strategie einführte. Denn im Gegensatz zu Duchamps Readymades oder zu Cages radikalstem Stück 4'33'' modifizierte Johns nicht den ontologischen Status des angeeigneten Gegenstandes: Während alle Alltagsobjekte, derer sich Duchamp für die Herstellung seiner Readymades bediente, sowie die Klänge, die während der Aufführung von 4'33'' entstanden, in ihrer Existenzbestimmtheit grundlegend geändert wurden, so dass sie ästhetische Werkeinheiten wurden, blieb die amerikanische Flagge nach ihrer ästhetischen Verdinglichung durch Johns – das heißt nach ihrer Verwandlung in eine ästhetische Werkeinheit – weiterhin eine vollkommen gültige amerikanische Flagge. Dies bedeutet also, Johns’ Werk mit dem Titel Flag ist auf ontologischer Ebene eine Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Erweiterung dieser ästhetischen Strategie, welche weitreichende Konsequenzen für die Kunstgeschichte haben sollte, wurde dadurch ermöglicht, dass zwei diametral entgegengesetzte Einflussgrößen der Ästhetik auf produktionsästhetischer Ebene ineinanderflossen. Denn bei der Konstitution von Flag spielte auch – wie bereits erklärt – die ästhetische Tradition des Abstrakten Expressionismus mit seiner formalistischen Programmatik eine entscheidende Rolle. Das Aufeinandertreffen beider ästhetischen Positionen war der determinierende Faktor bei der Gestaltung von Flag und folglich bei der Konfiguration seiner ontologischen Struktur. Diese Möglichkeit ergab sich aus der Bedingung, dass jenseits der spezifischen Programmatik beider miteinander völlig unvereinbaren Kunstanschauungen eine Entsprechung von Instanzen in Bezug auf die formale Beschaffenheit des ästhetischen Objektes bestand, wobei die Koinzidenz ihrer Bestimmungen aus entgegengesetzten Richtungen entsprang: Die formale Gestaltung von Flag erfolgte im Sinne grundlegender ästhetischer Konventionen der Moderne und insbesondere des Abstrakten Expressionismus, wobei Johns,

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sich mit diesen Konventionen auseinandersetzend, eine neue Art von Kunstobjekt schuf,171 welches zugleich der Strategie des Readymades entsprach. Dabei ist das formalistische Moment des hergestellten Objektes ein kontingentes Attribut der angeeigneten Hervorbringung der Kultur, während die ontologische Bestimmtheit der angeeigneten Wesenseinheit für die Notwendigkeit des Objektes lediglich eine kontingente Referenz ist. Dies konnte durch zwei ästhetische Entwicklungen, die mit dem Kunstmodell Clement Greenbergs in direkter Verbindung standen, auftreten: zum einem durch die Krise des Motivs in der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus und zum anderen durch die formalistische Objektwerdung des Bildes infolge der zunehmenden Betonung bestimmter formaler Bildeigenschaften. Die Krise des Motivs – das heißt der Rückgang der Innovationskraft bei der Gestaltung der Motivzusammenhänge im abstrakt-expressionistischen Bild – war dadurch bedingt, dass die progressive Selbsthinterfragung der Malerei – entsprechend der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs – mit den Paradigmen des in der abstrakt-expressionistischen Ästhetik etablierten Geschmacksurteils – den Garanten ästhetischer Qualität im Bild – allmählich kollidierte, was die Motivfindung zunehmend von der Metaphysik eines auf das ‚Genie‘ angewiesenen Pathos abhängig machte.172 Gegenüber dieser subjektbezogenen, von der Akzidentalität eines dynamischen Malprozesses abhängigen Vorgabe, deren Gelingen letzten Endes auf sensualistische Kriterien reduziert war, nahm Johns eine kritische Haltung ein. So gelangte er zu einem radikalen Ansatz bei der Motivfindung, indem er – ganz im produktionsästhetischen Sinne des Abstrakten Expressionismus – einen Kunstgegenstand herstellte, dessen Motiv jedoch das normative Geschmacksurteil des Abstrakten Expressionismus ablehnte und dessen Pathos ad absurdum führte: Das Motiv wurde aus dem Alltag durch Aneignung gewonnen. Dabei stimmt das Motiv in seiner spezifischen Gestaltung mit der Gesamtoberfläche des Bildträgers überein, so dass beide eine objekthafte Einheit bilden, mit welcher der Betrachter konfrontiert wird. Das heißt, das Motiv stellt eine untrennbare Totalität mit seinem Trägermedium her, so dass sie zum gleichen ästhetischen Phänomen werden. Auf rezeptionsästhetischer Ebene ist also eine Auseinandersetzung mit dem realen Raumbezug der zur Schau gestellten Werkeinheit aufgrund ihrer objekthaften Konfiguration unausweichlich, wodurch ihre Gestalt als Objekt über ihre spezifische Immanenz als Bild hinaus akzentuiert wird. Darin manifestiert sich die untrennbare Verbindung zwischen der ontologischen Bestimmtheit des Bildes und jener des Objektes. Diese Möglich-

171 Siehe in der vorliegenden Studie: „Flag“, S. 162-174. 172 Siehe in der vorliegenden Studie: „Die Krise“, S. 153-158.

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keit entspringt der reduktionistischen Betonung spezifischer Gattungseigenschaften in der Programmatik des Abstrakten Expressionismus gemäß der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs. Denn kraft dieses puristischreduktiven Modells konnte das Trägermedium ästhetische Autonomie beanspruchen, insoweit dieses nicht nur als strukturelles Gestaltungsmittel der Malerei, sondern sogar auch als deren fundamentale Instanz auf ästhetischer Ebene galt: Greenbergs programmatische, auf die äußere Form des Bildes bezogene Kategorie ‚Flächigkeit‘ – die im New Yorker Kunstsystem internalisiert wurde, bis sie zum ästhetischen Prinzip des Minimalismus wurde – setzte das formale Trägermedium der Malerei mit deren spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten gleich, wonach das Trägermedium in seiner geschlossenen Kontingenz zum Werk werden kann. Sie verweist also auf eine objekthafte Werkeinheit, bei der die Stofflichkeit des Trägermediums den ästhetischen Gestaltungsmitteln gleichkommt: Das ist die programmtische Objektwerdung des Bildes.173 Aus dieser spezifischen Konstitutionsweise ergeben sich zwei Prädikate hinsichtlich des Wesens von Flag: Es ist eine amerikanische Flagge, aber zugleich ein Kunstgegenstand.174 Dies bedeutet, dass im selben Immanenzobjekt zwei voneinander unabhängige Entitäten existieren, die jeweils dadurch bestimmt sind, in Bezug zu einer konkreten Seinsverfassung zu stehen, welche die Notwendigkeit ihrer Existenz determiniert. Sie sind im Objekt kraft struktureller Gesetzlichkeiten verankert, welche die Bedingungen von deren Konstitution als Sein festlegen. Demzufolge koexistieren beide Wesenseinheiten im selben stofflichen Gebilde, ohne wechselseitig die Grundbestimmung ihrer ontologischen Notwendigkeit zu beeinträchtigen. Denn sie sind gemeinsam auf die Vergegen-

173 Wie Anm. 171. 174 Die Frage nach dem Existenzstatus von Flag als amerikanischer Flagge oder als Bild wurde in der kunsttheoretischen Rezeption des Werkes früh thematisiert. Am prägnantesten formulierte Alan R. Solomon 1964 diese ontologische Gegebenheit mit der lakonischen Frage: „Is it a flag, or is it a painting?“ Solomon 1964, S. 9. Seine Analyse, die sich stärker auf rezeptionsästhetische Fragestellungen konzentriert, kommt zur Schlussfolgerung, dass diese Frage nicht lösbar ist: „It can never be resolved because Johns insists on keeping the situation ambiguous and incapable of resolution.“ Ebd. Für die formalistische Kunstkritik hingegen ist der Status von Flag als reiner Malerei eindeutig und somit die Frage irrelevant. Siehe: Greenberg (1962) 1997, S. 322-324. In der aktuellen Diskussion ist Fred Ortons Position von Bedeutung. Er weist zutreffend darauf hin, dass die Bestimmung der Identität von Flag nicht im Sinne eines Entweder-Oder-Verhältnisses zu stellen ist, wenn man Flag in seiner ästhetischen Ganzheit erfassen will. Siehe: Orton 1998, S. 195.

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ständlichung einer Gestalt angewiesen, deren spezifische Konfiguration als Form bestimmte notwendige Bedingungen zu erfüllen hat, um die Offenbarkeit ihrer ontologischen Ganzheit zu gewährleisten. Bei der Erfüllung dieser notwendigen Bedingungen können jedoch Eigenschaften auftreten, die für die Grundbestimmung einer Wesenseinheit unwesentlich bzw. kontingent, aber für die ontologische Struktur einer anderen konstitutiv bzw. notwendig sind. Dadurch wird es möglich, dass im selben Immanenzobjekt Notwendigkeit und Kontingenz gleichzeitig vorkommen, wobei Notwendigkeit – im Hinblick auf die Grundbestimmung der einen Wesenseinheit – zu Kontingenz wird und Kontingenz – im Hinblick auf die Grundbestimmung der anderen Wesenseinheit – zu Notwendigkeit. Diese spezielle Struktur charakterisiert die ontologische Ganzheit von Flag, die beständig zwischen beiden konstitutiven Momenten ihres Daseins schwankt. Als Kunstgegenstand ist Flag eine bildlich-plastische Konfiguration, die – auf der Basis einer hochraffinierten Technik, deren Handhabung gleichermaßen zwischen Collage und Malerei schwankt – einem geometrischen, aus dem Alltag entlehnten Muster körperhafte Substanz verleiht. Als amerikanische Flagge ist Flag trotz der fremdartigen Behandlung ihrer Oberfläche eine gültige Aktualisierung des Symbols, das die Idee der Vereinigten Staaten von Amerika vergegenwärtigt. Der Kunstgegenstand setzt sich mit der vorangegangenen Tradition der bildenden Kunst auseinander, bezieht Stellung zu dieser und eröffnet eine Möglichkeit ästhetischer Verdinglichung, die an die Strategie des Readymades anknüpft. So wird ein nationales Symbol umgesetzt und zur ästhetischen Einheit erklärt, was nicht nur eine Reihe ambivalenter Bedeutungen in Bezug auf Staatsbürgertum, Nationalismus, Patriotismus suggeriert, sondern auch eine Aussage über Kunst und Ästhetik vermittelt.175 Dabei ist der Status von Existenz beider

175 Die politische Bedeutung von Flag ist unklar, weil Johns in dieser Hinsicht keine eindeutige Position bezog. Deshalb kann man nicht behaupten, dieses Werk sei ‚patriotisch‘ oder ‚unpatriotisch‘. Seine Entstehung im politischen Kontext der Zeit ist jedoch aussagekräftig. Denn ungeachtet der unpolitischen Haltung Johns’ kann sich Flag nicht seinem historisch-politischen Kontext entziehen, zumal das Jahr 1954 in Amerika einen Höhepunkt in dem angespannten gesellschaftlich-politischen Klima während des Kalten Krieges darstellte. Siehe in der vorliegenden Studie das Unterkapitel „Der Weltbezug“, S. 174-178. Dementsprechend war die Frage nach dem politischen Stellenwert von Flag von Anfang an von großer Bedeutung: Als 1958 das New Yorker Museum of Modern Art sich für den Ankauf einiger Werke von Johns entschied, gab es bei der Diskussion, ob man Flag ankaufen solle oder nicht, ernsthafte Überlegungen politischen Charakters seitens des Komitees der Museumssammlung und des Vorstandes. Aufgrund der politischen Ambivalenz des Werkes

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Entitäten unwiderruflich: Als amerikanische Flagge ist Flag uneingeschränkt eine amerikanische Flagge, die trotz ihrer Einführung in den Bereich der Kunst ihre ursprüngliche Gebrauchsfunktion nicht verliert; selbst im bedeutungsbestimmenden Galeriekontext bzw. im Museum behält sie ihre Ursprungsfunktion als Flagge.176 Als Kunstgegenstand ist Flag ein künstlerisch gestalteter Gegenstand mit eindeutigem Status als Artefakt der bildenden Kunst. Somit ist Flag im Hinblick auf den Status seiner ontologischen Ganzheit ein vollendetes Objekt mit zweifacher Daseinsberechtigung, das heißt mit Doppelnatur auf ontologischer Ebene. Diese Art ästhetischer Produktion, die an sich eine produktive Verbindung zwischen dem kunsttheoretischen Programm Greenbergs als regulative Instanz der abstrakt-expressionistischen Visualität und dem avantgardistischen Gedankengut Duchamps als radikaler Gegenposition darstellt, ermöglichte einen Zugang zur Kunst, der grundlegende Kategorien der Ästhetik neu definierte. Ihre Radikalität lag nicht nur an den produktionsästhetischen Parametern, die Flag als eine Werkeinheit mit zweifacher Daseinsberechtigung ermöglichten, wodurch die in den fünfziger Jahren etablierte Auffassung von der Beschaffenheit und der Identität des Kunstobjektes erweitert wurde, sondern auch an der Expansion zweier wesentlicher Begriffe der Ästhetik: Autorschaft und Originalität. Denn die produktionsästhetischen Bestimmungen bei der Konstitution von Flag beruhen auf einer ästhetischen Funktion, bei welcher die kausale Beziehung vom Künstler zum Werk entsprechend dessen ontologischer Struktur zweischichtig ist, was eine fundamentale Erweiterung der bis dahin geläufigen Produktionsbegriffe im Urheber-Werk-Verhältnis bewirkte. So steht Johns als Urheber von Flag in einem Wirkursache-Verhältnis zum Werk im traditionellen Sinne, das

entschied sich das Museum gegen dessen Erwerb, denn es wurde befürchtet, Flag könne patriotische Gefühle verletzen. Erst 1973 wurde das Werk Teil der Museumssammlung, allerdings durch eine Schenkung. Siehe: Orton 1998, S. 122-123. 176 Die Beschaffenheit von Flag sowie aller Werke mit emblematischen Motiven (Flaggen und Zielscheiben), die Johns, auf dasselbe Konstitutionsprinzip zurückgreifend, zwischen 1955 und 1960 herstellte, steht in direkter Verbindung zur ästhetischen Strategie der Readymades kraft des unmittelbaren Bezugs zu Gebrauchsgenstanden und deren ontologischer Aneignung. Dabei hat Flag einen besonderen Stellenwert. Denn im Gegensatz zu den Zielscheiben, deren tatsächliche Funktion als Zielscheibe im Kunstkontext annulliert wird, bleibt die Funktion von Flag als amerikanische Flagge in allen Kontexten ungehindert bestehen. Dies liegt an der Tatsache, dass Flag kein stoffliches Objekt vergegenständlicht, sondern ein Symbol, das jederzeit umgesetzt werden kann.

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heißt, er verursachte die stoffliche Konfiguration von dessen Gestalt. Dabei steht er auch in einem kausalen Verhältnis zum Werk, jedoch jenseits aller wirkenden und gestaltenden Ursache: Durch die ästhetische Handlung, ein fremdes Artefakt der Kultur – das in seiner Ursprünglichkeit in keiner Beziehung zum Künstler steht – aus seinem Ursprungskontext herauszunehmen und, ohne seine Gestalt zu modifizieren, in einen ästhetischen Zusammenhang einzuführen, kreierte der Künstler eine ästhetische Werkeinheit, zu der er in einer kausalen Beziehung steht. Das heißt, er verursachte ihr Bestehen als Kunst, ohne ihre spezifische Gestalt erfunden zu haben. Dadurch wurde der Glaube an den ästhetischen Imperativ, laut dessen Innovation in Bezug auf das Erschaffen materieller, sichtbarer Objekte zu vollbringen ist, grundsätzlich relativiert. Diese künstlerische Gestaltungsmöglichkeit bedeutet deshalb eine neue Stufe der Ästhetik im Hinblick auf die ontologische Notwendigkeit des Kunstwerkes und den kausalen Zusammenhang zwischen Kunstwerk und Künstler. Das zugrundeliegende Prinzip bei diesem Gestaltungsvorgang ist das der ästhetischen Strategie der Aneignung. Denn der Künstler schuf eine Situation von Immanenz auf der Grundlage eines bereits bestehenden Gegenstandes, mit dessen ursprünglicher Wesensbestimmtheit er in keiner Beziehung steht. Johns’ produktionsästhetische Vorgehensweise machte diese Strategie zu einer Verdinglichungsfunktion, welche die herkömmliche Bedeutung von Autorschaft, Originalität, Echtheit und Schöpferkraft obsolet werden lässt und damit eine enorme Wirkung auf die Kunst der sechziger Jahre in New York ausübte.177 Demnach ermöglichte die Koinzidenz von diametral entgegengesetzten Paradigmen der Ästhetik eine ästhetische Einheit, die, über ihre eigenen Bedingungsfaktoren hinausgehend, neue Paradigmen bewirkte. Dabei blieb sie dem Grundprinzip der Avantgarde treu: dem Bruch mit dem bisher Geltenden.

6

F AZIT

Die Entstehung von Kunst ist durch ihre Stellung in der Geschichte ebenso bestimmt wie durch ihr Verständnis seitens der Künstler, die entsprechend ihrer eigenen Geschichtlichkeit den Zugang zur Kunst in der Rezeption von deren bestehenden Ausprägungen finden. Die Entfaltung künstlerischer Tendenzen hängt daher von den immanenten Bestimmungen ab, die innerhalb eines Kunstsystems ästhetische Wertvorstellungen darstellen. So bestehen in einem zeitlich und räumlich gebundenen Kontext herrschende Anschauungen, welche die Parameter

177 Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel ausführlich behandelt.

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der Ästhetik bestimmen, was sich in dem ästhetischen Selbstverständnis der Künstler und somit in der Produktion von Kunst reflektiert. Diese wirkungsästhetischen Prozesse bilden die Voraussetzungen und Grenzen der ästhetischen Kräfte, die als Ergebnis vieler gegensätzlicher Motive innerlich verbundene Wirkungen im Kunstsystem zeitigen, wobei die ästhetische Autonomie der Künstler die treibende Kraft darstellt. In diesem Zusammenhang spielt das Verhältnis zwischen zwei einander ausschließenden Positionen der Ästhetik, die aufgrund historischer Faktoren aufeinandertreffen, eine hoch produktive Rolle als Voraussetzung für die Entstehung neuer ästhetischer Möglichkeiten, da die Konvergenz des grundlegend Verschiedenen in ihrer Widersprüchlichkeit die Möglichkeit einer Differenz impliziert, die als solche über ihre Voraussetzungen hinausgeht. Im New York der fünfziger Jahre war die herrschende Vorstellung von dem Wesen der Kunst durch die Kunstanschauung des Abstrakten Expressionismus bestimmt. Dies manifestierte sich als ein ästhetisches Selbstverständnis bei den Beteiligten im Kunstsystem, womit sowohl kunstimmanente als auch historische Faktoren korrelierten. So wurde die allmähliche Etablierung der New York School durch das damalige Wirtschaftswachstum in Amerika begünstigt, wobei auch ein zunehmendes Interesse seitens der Politik an der Kunst im Kontext des Kalten Krieges eine wichtige Rolle spielte. Die kunsttheoretischen Bemühungen des einflussreichen Kritikers Clement Greenberg zur Darstellung einer sich unabhängig von fremden Einflüssen formierenden amerikanischen Malerei schufen nicht nur eine Programmatik, sondern verbreiteten auch eine Kunstvorstellung nationalistischen Charakters, woraus ein entsprechendes Geschichtsbild hervorging. In diesem Zusammenhang entfaltete sich die Kunst des Abstrakten Expressionismus als ein Internalisierungsprozess ästhetischer Wertvorstellungen aus einer sehr spezifischen Kunstanschauung. So spielte die Kritik im New Yorker Kunstsystem eine richtungsweisende Funktion als regulative Instanz des ästhetisch Wahrzunehmenden. Sie war ein Herrschaftsbereich, in dem Greenberg eine unbestrittene Machtposition innehatte. Seine richtungsweisenden Darstellungen postulierten die Auffassung einer amerikanischen Malerei, die als hoffnungstragende Kunstrichtung der Moderne dabei gewesen sei, sich bewusst all dessen zu entledigen, was die Entwicklung der Kunst in ihrer formalistischen Reinheit beeinträchtigt habe. Mitte der fünfziger Jahre war der Abstrakte Expressionismus die maßgebende Kunstrichtung der Zeit, obwohl die Anzeichen einer Stagnation – entgegen allen Erwartungen – bereits zu erkennen waren. Denn im Kern seiner eigenen Programmatik befanden sich die Voraussetzungen für konkrete Entwicklungen, die, über seine ästhetischen Parameter hinausgehend, neue Möglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung des Kunstobjektes begünstigten. Die

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Stagnation wurde in ihren Auswirkungen deutlich erkennbar: die schwerwiegende Krise des Motivs und die programmatische Objektwerdung des Bildes, zwei mit dem Kunstmodell Greenbergs eng zusammenhängende Konsequenzen, die sich als hochproduktiv für die Entstehung neuer künstlerischer Positionen erwiesen. Im Zuge dieser kunstgeschichtlichen Prozesse machte sich eine andere Anschauung von Kunst, die der Programmatik des Abstrakten Expressionismus diametral entgegengesetzt war, im Kunstsystem bemerkbar: die Kunstanschauung Marcel Duchamps. Das ab den fünfziger Jahren allmählich wachsende Interesse an der Dada-Bewegung führte zu einer Wiederentdeckung des Werkes und der ästhetischen Haltung Duchamps, der für die amerikanische Öffentlichkeit zum Inbegriff des Dadaismus wurde, was ihm eine gewaltige Autorität als Urvater der Avantgarde verlieh. Die künstlerische Rezeption seiner ästhetischen Wertvorstellungen begann zunächst nicht im Bereich der bildenden Kunst, sondern in anderen Kunstgattungen. In diesem Kontext war der avantgardistische Komponist John Cage von großer Bedeutung. Denn Cage zog in den frühen fünfziger Jahren ästhetische Schlussfolgerungen aus der künstlerischen Praxis Duchamps, wodurch er den Ansatz für eine Neo-Avantgarde schuf, die im Austausch mit jungen Künstlern Entfaltung fand. Diese Atmosphäre bereitete den produktionsästhetischen Rahmen für die Entstehung einer ästhetischen Alternative zur dominierenden Richtung der Zeit, eine wirkungsästhetische Konstellation, in der Jasper Johns eine zentrale Rolle spielte. Mit seinem Werk Flag brachte Johns einen radikalen ästhetischen Ansatz in Bezug auf die Konstitution und die Natur des Kunstobjektes hervor, wobei sowohl die ästhetische Tradition des Abstrakten Expressionismus mit seiner formalistischen Programmatik als auch das ästhetisch entgegengesetzte Paradigma nach der avantgardistischen Kunstpraxis Duchamps auf produktionsästhetischer Ebene konvergierten. Die spezifische Herstellung von Flag stimmt mit der ästhetischen Praxis des Abstrakten Expressionismus überein, wenngleich Johns, indem er sich mit den Konventionen der Ästhetik dieser Kunstrichtung kritisch auseinandersetzte, ein Kunstobjekt schuf, welches der auf Duchamp zurückgehenden Strategie der Readymades entspricht. Diese Möglichkeit, die durch die Krise des Motivs und durch die Betonung bestimmter Gattungseigenschaften in der Programmatik des Abstrakten Expressionismus strukturell begünstigt wurde, fußt formell auf der vollständigen Deckungsgleichheit des Motivs mit der Oberfläche des Trägermediums. Dies ermöglichte die Gestaltung einer Formvorgabe, die auf der Grundlage eines realen Artefaktes aus dem Alltag ausgeführt werden konnte. Da das Motiv – die amerikanische Flagge – eine stets umsetzbare Wesenseinheit ist, kann es bei der Erfüllung ihrer konstitutiven Merkmale wie im

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Falle von Flag zu einem gültigen Einzelfall ihres multiplizierbaren Daseins werden. So handelt es sich bei diesem Werk um eine gültige Umsetzung des Symbols, das die Einheit, Freiheit und Souveränität, sprich die Idee der Vereinigten Staaten von Amerika vergegenwärtigt. Demgemäß ist Flag auf ontologischer Ebene sowohl ein Kunstgegenstand als auch eine Flagge. Dieses Kunstwerk erweiterte nicht nur die Auffassung hinsichtlich der Beschaffenheit und der Identität des Kunstobjektes, sondern auch das herkömmliche Urheber-Werk-Verhältnis. Denn entsprechend dem ontologischen Status von Flag ist Johns’ kausale Beziehung zu seinem Werk zweischichtig: Er verursachte die stoffliche Konfiguration von dessen Gestalt, was dem traditionellen Wirkursache-Verhältnis der bildenden Kunst entspricht. Zugleich steht er auch in einer kausalen Beziehung zum Werk, aber im Sinne einer ästhetischen Verklärung: Er verursachte dessen Bestehen als Kunst, ohne die Grundlage des Werkes als Gestalt ursprünglich verursacht zu haben, was eine Erweiterung von grundlegenden Begriffen der Ästhetik wie Autorschaft, Originalität oder Kreativität darstellte. Demzufolge schuf Johns mit diesem Werk eine neue Möglichkeit in Bezug auf die ontologische Beschaffenheit des Kunstwerkes und dessen kausale Beziehung zum Künstler. Dabei erweiterte er die Strategie der Aneignung im Sinne einer ästhetischen Verdinglichung des bereits bestehenden Fremden. Dieser ästhetische Beitrag veranschaulicht in seiner Komplexität, dass die historische Koinzidenz konträrer Paradigmen der Ästhetik ein hoch produktives Moment ist, welches die Entfaltung der Kunst durch Erneuerung ihres Wesens anzuregen vermag.

Des Anderen Werk: Die Konfiguration der Aneignung

Der wachsende Wohlstand der fünfziger Jahre in Amerika sowie die technische Entwicklung der Industrie, deren Errungenschaften eine fortschreitende Technisierung des Lebens bewirkten, ermöglichten eine progressive Verengung der Verbindungen zwischen Kunst und Industrie, was die Vorstellung von Kultur und ihren Möglichkeiten unausweichlich erweiterte. So konstatierte 1958 der Kunstkritiker Lawrence Alloway in seinem Artikel The Arts and the Mass Media, wie die Künste, indem sie auf die technischen Möglichkeiten ihrer Zeit reagieren, von diesen profitieren, was letzten Endes die als gegenwärtig anzunehmende Kultur ausmache. Diese Feststellung thematisierte nicht nur die Entstehung einer neuen Sensibilität hinsichtlich des Konsums und der Produkte der Massenkultur zu Ende der fünfziger Jahre in Amerika, sondern auch die Rolle der durch die technische Entwicklung begünstigten, medienkulturellen Bedingungen der Zeit als Konstituierungsfaktor einer visuellen Kultur, welche die Produktion von Kunst unvermeidbar umklammert.1 In diesem kulturellen Klima erklärte Clement Greenberg 1962 in Art International das Aufkommen einer Zeit, die ihrer sich etablierenden visuellen Kultur entsprechend das Ende des Abstrakten Expressionismus markieren sollte. Die radikale Haltung der neuen Tendenzen, die durch die Ablehnung der abstraktexpressionistischen Ästhetik gekennzeichnet waren, machte sie im Laufe der sechziger Jahre zu einem Trend mit breiter Resonanz, dessen Etablierung dadurch begünstigt wurde, dass die New Yorker Kunstwelt schon seit den fünfziger Jahren in sich sehr verdichtet war. So war die Stadt in den sechziger Jahren durch unterschiedliche, ästhetische Traditionen und künstlerische Positionen ge-

1

Siehe: Alloway, Lawrence: „The Arts and the Mass Media“, in: Architectural Design, Vol. 28, Nr. 2, 1958, S. 84-85.

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prägt, was sich in der überschaubaren Welt der Galerien, in der sich die Konstituierung der neuen Tendenzen abspielte, deutlich widerspiegelte. Dieser künstlerische Wandel hatte eine eigene, durch interne Wirkungsprozesse bedingte Dynamik, kraft derer bestimmte, im Kunstsystem bereits entstandene Strategien und ästhetische Möglichkeiten durch die aktive Leistung der Künstler, die sie entsprechend ihrem erfahrungsbedingten Erwartungshorizont jenseits eines mechanischen Wirkungszusammenhanges selektiv aufgriffen, produktionsästhetisch erneuert wurden. Die ästhetische Strategie der Aneignung ist in diesem Zusammenhang ein paradigmatisches Beispiel für die Entfaltung von Wirkungsvorgängen, die der ästhetischen Tradition des Abstrakten Expressionismus ein Ende setzten, wobei sie, von dieser Tradition selbst geprägt, das ästhetische Erbe der Avantgarde vorantrieben. Die Wirkungsvorgänge, auf deren Basis die ästhetische Strategie der Aneignung zu ihrer selbstreferentiellen Ausprägung, der Aneignung von Kunst als Kunst, gelangte, werden in diesem Kapitel genau untersucht: Ausgehend von den vorherigen Untersuchungen, welche die Voraussetzung für die Entfaltung der Aneignung prüfen, werden hier die rezeptions- und produktionsästhetischen Prozesse durchleuchtet, welche diese Strategie in ihren ästhetischen Möglichkeiten erweiterten, so dass sie zu einer selbstreferentiellen Gestaltungsfunktion werden konnte. So wird zunächst auf die wirkungsästhetischen Faktoren, welche zu Beginn der sechziger Jahre die Konstituierung dieser Strategie beeinflussten, näher eingegangen. Diese sind konkrete produktionsästhetische Praktiken avantgardistischer Prägung, das räumliche und objekthafte Vermächtnis der Avantgarde, deren Rezeption ab Mitte der fünfziger Jahre bestimmte Reize in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Kunstwerkes auslöste, auf welche sich die strukturellen Züge der Aneignung stützten. Hiernach werden die intrinsischen Verfahren der Aneignung im Hinblick auf die Spezifität ihrer zentralsten Momente untersucht. Es werden die Ausprägungen durchleuchtet, welche diese Strategie nach den Beiträgen von Marcel Duchamp und Jasper Johns strukturell erweiterten: Diese sind Andy Warhols Serie von Plastiken, welche Verpackungskartons aus dem Alltag gleichen, und Elaine Sturtevants Kunstgegenstände, die dadurch gekennzeichnet sind, Kunstwerken von zeitgenössischen Künstlern zu gleichen. Beide Momente der Aneignung werden entsprechend dem Niederschlag ihrer wirkungsgeschichtlichen Vorgänge untersucht. So wird zunächst Andy Warhols Aneignungsstrategie im Kontext ihrer eigenen Entwicklung, deren Kulmination die Box-Plastiken von 1964 darstellen, analysiert. Als Folge empirischer Wirkungsvorgänge, die mit Johns’ und Warhols Kunstpraxis verbunden waren, wird dann die Ausstellung The American Supermarket 1964 untersucht, da sie, die Strategie der Aneignung verdichtend, einen formalen und

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konzeptuellen Übergang zu Sturtevants Werk markiert. Anschließend wird die Aneignungsstrategie Sturtevants, welche die Konsequenzen der Aneignung am radikalsten zog, gründlich geprüft. Untersucht wird ihre erste Ausstellung im Jahr 1965, da sie eine rezeptionsästhetische Verbindung mit dem kunsthistorischen Kontext, der sie ermöglichte, deutlich zeigt und dabei als exemplarisch für Sturtevants gesamtes Oeuvre gilt. Abschließend wird die Rolle des Autors in Bezug auf die Strategie der Aneignung herausgearbeitet.

1

D AS

RÄUMLICHE

V ERMÄCHTNIS

DER

AVANTGARDE

Mit den Ausstellungen, die Duchamp für die Surrealisten 1938 – Exposition Internationale du Surréalisme – und 1942 – First Papers of Surrealism – kuratierte, gelang es ihm – wie im Kapitel „Die Immanenz des Raumes“ erörtert –, die Idee des Ausstellens als bloßes Aufhängen von Bildern grundlegend zu erweitern, indem er eine räumliche Situation gestaltete, die für sich ästhetische Ansprüche zu erheben vermochte. In beiden Ausstellungen verwandelte er jeweils den Ausstellungsort in eine räumliche Konfiguration ästhetischer Natur, wobei die im Raum vorhandenen Gegenstände – Kunstwerke und Gebrauchsobjekte – in die sie umgebende Ganzheit des Raumes einheitlich integriert wurden, so dass sie ähnliche Charakteristika erhielten. Damit wurde der Ausstellungsakt zu einer ästhetischen Gestaltungsfunktion, die sich der räumlichen Eigenschaften eines vorgegebenen Ortes und der spezifischen Beschaffenheit von Kunst- und Alltagsgegenständen bedient, um eine ästhetische Einheit im Raum zu schaffen. Die daraus entstandene Konfiguration, die notwendigerweise einen in situ Charakter aufweist, setzt eine Art von Rezeption voraus, die den Rezipienten in seiner körperlichen Ganzheit – im Gegensatz zum traditionellen Betrachter von visuell wahrnehmbarer Kunst – als reale Präsenz im Raum erfordert: Um die ästhetische Spezifität der generierten Raumsituation wahrzunehmen, was die Voraussetzung für deren Rezeption als künstlerische Totalität ist, muss der Rezipient zwangsläufig den Ort begehen. Dies impliziert sowohl eine projektspezifische Immanenz, das heißt Zeit- und Ortsgebundenheit, als auch eine auf die Präsenz des Rezipienten bezogene Gestaltung. Duchamps Ausstellungsprojekte erwiesen sich zusammen mit El Lissitzkys Proun-Raum (1923)2 und Kurt Schwitters’ Merzbau (1923-1937)3 als die kunsthistorische Eröffnung einer neuartigen Möglichkeit ästhetischer Gestalthaftig-

2

Siehe: Bishop 2005, S. 80-81.

3

Siehe ebd., S. 41-42.

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keit, die über die traditionellen Gattungen der bildenden Kunst hinaus die dreidimensionale Beschaffenheit des Raumes ästhetisch verwendet. Diese auf die faktische Anwesenheit des Rezipienten gerichtete Gestaltungsform wird in der Kunstgeschichtsschreibung unter dem Begriff ‚Installation Art‘ zusammengefasst.4 Aufgrund ihrer zahlreichen Berührungspunkte mit anderen Künsten ist ihre produktionsästhetische Übernahme kein linearer Prozess, so dass ihre Entfaltung – wie die voneinander unabhängige Entstehung der räumlichen Konfigurationen Duchamps, El Lissitzkys und Schwitters’ zeigt – auf die Konfluenz verschiedener Einflüsse verweist.5 Dementsprechend sind in den verschiedenen Ausprägungen dieser Gestaltungsform mehrere Momente zu erkennen, an denen verschiedene Aspekte der Avantgarde konvergieren. So waren bei ihrer partikulären Herausbildung im New Yorker Kunstsystem konkrete ästhetische Verfahren avantgardistischen Charakters von Bedeutung, unter denen insbesondere die Assemblage, deren Verbreitung in New York mit Duchamp und der DadaBewegung zusammenhing, eine wichtige Rolle spielte. Die Entfaltung dieser ästhetischen Gestaltungsform zu einer systematischen Kunststrategie wurde gegen Ende der fünfziger Jahre von dem amerikanischen Künstler Allan Kaprow geleistet. Kaprow, der Kunst, Kunstgeschichte und Komposition in New York studierte, war mit der avantgardistischen Gedankenwelt der Zeit vertraut:6 Er kannte nicht nur die radikalen Ideen der dadaistischen Bewegung durch die Lektüre von Robert Motherwells Anthologie The Dada Painters and Poets, die in den fünfziger Jahren zur Verbreitung von Duchamps Gedankengut und dem des Dadaismus beträchtlich beitrug,7 sondern er befasste sich auch mit den ästhetischen Vorstellungen John Cages, bei dem er Komposition an der New School for Social Research studierte. Im Zusammenhang mit Cages Unterricht schuf Kaprow 1957 eine raumgreifende und auf die Mitwir-

4

Vgl. ebd., S. 6-8.

5

Vgl. ebd., S. 8.

6

Die künstlerische Ausbildung Kaprows wurde von bedeutenden Figuren der amerikanischen Kunstwelt geprägt: Er studierte Malerei bei Hans Hofmann, dem einflussreichen Lehrer der New York School, Kunstgeschichte bei Meyer Schapiro, Komposition bei John Cage und war mit den kunsttheoretischen Positionen seiner Zeit vertraut. Siehe: Ursprung, Philip: Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening. Robert Smithson und die Land Art, München 2003, S. 57-60, 67-70, 87-92.

7

Die Bedeutung dieser Publikation für die künstlerische Entwicklung Kaprows bzw. für die Bildung seiner kunsttheoretischen Anschauungen ist in der Forschung bekannt. Siehe: Reiss, Julie: From Margin to Center. The Space of the Installation Art, Cambridge/London 1999, S. 6-7.

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kung des Betrachters ausgelegte Werkeinheit, die er unter dem Begriff ‚Happening‘ fasste.8 Die Verselbstständigung dieser räumlichen Gestaltungsart, bei der alltägliche Materialien sowie Handlungen programmatisch einbezogen wurden, erfolgte 1958 im Rahmen einer Ausstellung in der Hansa Gallery, einer avantgardistisch orientierten und als genossenschaftlicher Verband organisierten Galerie, die eine unabhängige Alternative zu den marktbeherrschenden Hauptströmungen im Kunstsystem anbot.9 Kaprows räumlicher Gestaltungsmodus bestand seiner programmatischen Sicht entsprechend aus zwei konstitutiven Momenten, die zwar eng verbunden, aber strukturell selbstständig sind, wobei sie gleichermaßen die Mitwirkung des Rezipienten voraussetzen: die performative Handlung, das ‚Happening‘, und die räumliche Situation, das ‚Environment‘. Zum ersteren erklärt Kaprow: „Happenings are events that, put simply, happen. […] In contrast to the art of the past, they have no structured beginning, middle, or end. Their form is open-ended and fluid; […] They exist for a single performance, or only a few, and are gone forever as new ones take their places.“10

Das Environment, welches an sich die Fundamente der ‚Installation Art‘ lieferte, wird von Kaprow folgendermaßen dargelegt: „If we join a literal space and a painted space, and these two spaces to a sound, we achieve the ‚right‘ relationship by considering each component a quantity and quality on an imaginary scale. So much of such and such color is juxtaposed to so much of this or that type of sound. The ‚balance‘ (if one wants to call it that) is primarily an environmental one. […] we do not come to look at things. We simply enter, are surrounded, and become part of what surrounds us.“11

Die räumliche Beschaffenheit des Environments hat sich Kaprow zufolge aus der Assemblage entwickelt, wobei der eigentliche Unterschied zwischen beiden Kunstformen die Größe sei:

8

Vgl. ebd., S. 10.

9

Vgl. Crow 1997, S. 33.

10 Kaprow, Allan: „Happenings in the New York Scene“ (1961), in: ders., Essays on the Blurring of Art and Life, Berkeley (u.a.) 1993, S. 15-26, hier S. 16-17. 11 Kaprow, Allan: „Notes on the Creation of a Total Art“ (1958), in: ders., Essays on the Blurring of Art and Life, Berkeley (u.a.) 1993, S. 10-12, hier S. 11.

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„[Assemblages and Environments] are at root the same – the only difference is one of size. Assemblages may be handled or walked around, while Environments must be walked into. Though scale obviously makes all the experiential difference in the world, a similar form principle controls each of these approaches […].“12

Kaprows Kunstauffassung, die zur Entfaltung des räumlichen Vermächtnisses der Avantgarde in New York entscheidend beitrug, leitete sich von seiner formalistischen Lektüre der Kunstgeschichte ab, die ihrerseits mit seinem eigenen künstlerischen Werdegang – begonnen mit Malerei abstrakt-expressionistischer Prägung – zusammenhing.13 So veröffentlichte er 1958 eine formalistische Interpretation der kunsthistorischen Voraussetzungen des Environments, wonach Jackson Pollock – den er als bedeutendsten Vertreter des Abstrakten Expressionismus einstufte – die neue Künstlergeneration dazu gezwungen habe, die Grenzen der Malerei zu sprengen: „Pollock, as I see him, left us at the point where we must become preoccupied with, and even dazzled by the space and objects of our everyday life, either our bodies, clothes, rooms, or, if need be, the vastness of Forty-second Street. Not satisfied with the suggestion through paint of our others senses, we shall utilize the specific substance of sight, sound, movements, people, odors, touch. Objects of every sort are materials for the new art: paint, chairs, food, electric and neon lights, smoke, water, old sacks, a dog, movies, a thousand other things which will be discovered by the present generation of artist. Not only will these bold creators show us, as if for the first time, the world we have always had about us, but ignored, but they will disclose entirely unheard-of happenings and events, found in garbage cans, police files, hotel lobbies, seen in store windows and on the streets […].“14

Diese Interpretation war im programmatischen Sinne von großer Bedeutung, nicht nur weil sie die geschichtliche Notwendigkeit einer künstlerischen Entwicklung zu begründen versucht, welche die formale Beschaffenheit des Raumes zum ästhetischen Mittel macht, sondern auch weil sie darauf hinweist, dass die formalen Eigenschaften der Alltagsgegenstände zu ästhetischen Einheiten wer-

12 Kaprow, Allan: Assemblage, Environments and Happenings, New York 1966, S. 159. 13 Siehe: Schimmel, Paul: „Only memory can carry it into the future: Kaprow’s Development from the Action-Collages to the Happenings“, in: Allan Kaprow. Art as Life, London 2008, S. 8-19. 14 Kaprow, Allan: „The Legacy of Jackson Pollock“ (1958), in: ders., Essays on the Blurring of Art and Life, Berkeley (u.a.) 1993, S. 1-9, hier S. 7-9.

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den können. Damit postulierte Kaprow programmatisch sowohl die Erweiterung der räumlichen Grenzen der Kunst als auch die Expansion der traditionellen Kontingenz des Kunstobjektes, was an sich eine Aktualisierung der ästhetischen Anschauungen der Avantgarde darstellt. Die Wirkungsmacht dieser neo-avantgardistischen Kunstanschauung wurde deutlich in der Hansa-Gruppe, zu deren dominierender Persönlichkeit Kaprow schnell avancierte. So entwickelte George Segal, ausgehend von den Environments und Happenings Kaprows, eine neuartige, jedoch ersichtlich auf einer gegenständlichen Kunsttradition basierende Form raumgreifender Plastik. Zu dieser räumlichen Gestaltungsform gelangte Segal, der auch mit der malerischen Tradition des Abstrakten Expressionismus – entsprechend Kaprows eigener Entwicklung – brach,15 mit dem Werk Legend of Lot,16 das er 1959 in der Hansa Gallery zeigte.17 In diesem Werk generierte Segal eine räumliche Verbindung zwischen einer Gipsplastik und einem seiner Gemälde der Zeit, das heißt zwischen zwei unabhängigen Kunstgegenständen, die kraft ihrer spezifischen Anordnung im Raum eine einheitliche Situation bildeten, aus der sich ein Sinnzusammenhang ergab. Dies markierte den Beginn seiner ‚Environments‘, die ihrer Theatralik entsprechend als ‚in der Zeit eingefrorene Happenings‘ fungieren.18 Ihre Gestaltung besteht im Wesentlichen darin, einen weißen, von einem lebenden Modell genommenen Gipsabguss in einen aus echten Alltagsgegenständen bestehenden Umraum zu stellen. Dadurch wird ein in sich geschlossenes Environment eingerichtet, das sich aus realen Elementen des alltäglichen Lebens und zugleich aus einer mit individuellen Zügen versehenen, menschlichen Gipsgestalt zusammensetzt.19 Während Kaprow die menschliche Präsenz in den Werkzusammenhang im Sinne eines performativen Ereignisses zu integrieren suchte, war die menschliche Gestalt in Segals Werk ein Verweis auf eine Identität im

15 Segal begann seine künstlerische Karriere mit einer expressiven gegenständlichen Malerei, die er vor der Entwicklung seiner Plastik unter dem Einfluss der New York School pflegte. Siehe: Teuber, Dirk: George Segal. Wege zur Körperüberformung im Lichte von Kunst und Kunsttheorie um1960, Frankfurt am Main 1987 (Diss. phil. Köln 1986), S. 4-13. 16 George Segal, Legend of Lot, 1958, Mixed Media: Gips, Holz, Öl auf Leinwand, 182 x 243 x 274 cm, Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld. 17 Vgl. Teuber 1987, S. 43-50. 18 Vgl. O’Doherty, Brian: „The Eye and the Spectator“, in: ders., Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Berkeley (u.a.) 1999, S. 35-64, hier S. 49-50. 19 Siehe: Hawthorne, Don/Hunter, Sam: „History and Biography. Sculpture and Environment“, in: George Segal, London/New York 1988, S. 9-77.

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Alltag.20 Die erstarrte Situation spiegelt jedoch die Prozesshaftigkeit des Happenings wider, insoweit sie einen spezifischen Moment im Laufe einer durch die räumliche Situation zu identifizierenden Handlung einfriert.21 Abbildung 17: George Segal, Legend of Lot, 1958, Mixed Media: Gips, Holz, Öl auf Leinwand, 182 x 243 x 274 cm.

Zu Beginn der sechziger Jahre war im Kreis der Happening-Künstler in New York die Idee einer raumbezogenen Werkeinheit, in welche Handlungen und Gegenstände aller Art integriert werden können, bereits etabliert, womit das auf die Avantgarde zurückzuführende, programmatische Anliegen korrelierte, die herkömmlichen Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzuheben.22 In diesem Zusammenhang realisierte 1961 Claes Oldenburg, der zu dieser Zeit in enger Verbindung mit Kaprow und anderen Happening-Künstlern stand,23 das Werk The Store, eine performative Werkeinheit, welche die räumlichen Möglichkeiten der Installation zur Funktion einer Dauerhandlung machte.24 In diesem Werk, einem vom 1. Dezember 1961 bis zum 31. Januar 1962 in einem gewöhnlichen, ehemaligen Laden in Manhattan durchgeführten Dauer-Happening, schuf Ol-

20 Vgl. Crow 1997, S. 95. 21 Vgl. Lippard, Lucy: „New Yorker Pop“, in: Pop Art, München/Zürich 1968, S. 69138, hier S. 102. 22 Vgl. Reiss 1999, S. 9, 19, 21. 23 Siehe ebd., S. 4-6. 24 Vgl. Crow 1997, S. 36-37.

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denburg – Kaprows Vorstellung von einer ‚totalen Kunst‘25 erweiternd – eine raumbezogene Situation, in der eine Überschneidung von Funktionen aus der Kunst- und Alltagswelt performativ vollzogen wurde: Oldenburg inszenierte einen Laden, in dem tatsächlich Waren verkauft wurden, wobei diese Waren de facto von Oldenburg hergestellte Kunstgegenstände waren, deren Charakter als ästhetische Artefakte durch die betonte Plastizität ihrer formalen Beschaffenheit unmittelbar zu erkennen war. Sie alle wurden auf der Basis desselben Produktionsverfahrens hergestellt und bestanden aus demselben Material: gipsüberzogenem, mit Farbe versehenem MusseAbbildung 18: lin.26 Ihrem Darstellungsgehalt entspreClaes Oldenburg, The Store, chend – sie stellten verschiedene Alltags1. Dezember 1961 bis 31. Januar 1962, gegenstände wie Kleider, Wäsche, Schuhe, Installation, New York. Papeterieartikel sowie Nahrungsmittel unterschiedlicher Art dar – wurden sie auf vorgefundenen Ständern, in Schaukästen oder auf realen Tellern präsentiert, wodurch ihre Objekthaftigkeit im Hinblick auf die sie bestimmende Alltagsrealität verdeutlicht wurde. Dabei spielte der Raum eine einheitsstiftende Funktion, kraft derer alle Gegenstände im Environment einen Sinnzusammenhang mit den vorgesehenen Handlungen – der Produktion, der Präsentation und der Vermarktung von als gewöhnliche Ware fungierenden Kunstgegenständen – erstellten, worin das Happening als Ganzes bestand. Diese raumbezogenen Kunstprojekte, die zu Beginn der sechziger Jahre im Kreis der Happening-Künstler durchgeführt wurden,27 trugen zu einer grundle-

25 Siehe: Kaprow (1958) 1993, S. 10-12. 26 Vgl. Lüthy, Michael: „Das Konsumgut in der Kunstwelt. Zur Para-Ökonomie in der amerikanischen Pop Art“, in: Shopping: 100 Jahre Kunst und Konsum (Frankfurt am Main, Schirn Kuntshalle Frankfurt, 28.09.-01.12.2002), Ostfildern-Ruit 2002, S. 148153, hier S. 149. 27 Der Kern des Kreises der Happening-Künstler bestand aus Allan Kaprow, Jim Dine, Claes Oldenburg und Robert Whitman. In den frühen sechziger Jahren arbeiteten sie

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genden Erweiterung der im New Yorker Kunstsystem dominierenden Vorstellung hinsichtlich des Kunstgegenstandes als geschlossene Einheit bei. Auf die ästhetische Tradition der Avantgarde zurückgreifend, erweiterten sie die räumlichen und zeitlichen Dimensionen des Kunstwerkes, das in seiner spezifischen Kontingenz, welche zwangsläufig die formalistische Auffassung einer gattungsspezifischen Kunst hinterfragte, nicht nur raumgreifend und situationsbezogen wurde, sondern auch die körperliche Präsenz des Rezipienten als unabdingbaren Bestandteil seiner Ganzheit voraussetzte. Dadurch verwandelte sich der Raum jenseits der zweckdienlichen Bestimmung, die ihm traditionsgemäß als Kontext für Kunst zuteilwurde, in eine ästhetische Selbständigkeit beanspruchende Funktion neo-avantgardistischer Kunst.

2

D AS

OBJEKTHAFTE

V ERMÄCHTNIS

DER

AVANTGARDE

Die Entfaltung der räumlichen Gestaltungsform hing mit der produktionsästhetischen Aufnahme alltäglicher Gebrauchsobjekte zusammen, insoweit die Einführung vorgefundener Objekte in die Kunst die Auflösung der traditionellen Werkeinheit bedeutete. Diese avantgardistische Tendenz, die durch die kubistische Fragmentierung der Dinge ausgelöst und von Duchamp derart radikalisiert wurde, dass das aus dem Alltag genommene Objekt künstlerische Autonomie beanspruchen konnte, übte eine enorme Wirkung auf neo-avantgardistische Gestaltungspraktiken aus, die sich der formalen Eigenschaften vorgefundener Objekte bedienten. Das neo-avantgardistische Interesse an dem Gebrauchsobjekt bzw. dem zufälligen Fund, der nicht aus einem individuellen Produktionsprozess ästhetischer Natur, sondern aus der Fragmentierung der Alltagsrealität resultierte, ermöglichte nicht nur die Verbindung zwischen Kunst und Leben gemäß der Programmatik der Avantgarde,28 sondern auch eine Beziehung zur gegenwärtigen Warenwelt und deren Bildlichkeit. Damit korrelierte eine Betrachtung des Objektes im Sinne der Möglichkeit seiner Ästhetisierbarkeit als Form, was auf einer vom ästhetischen Horizont der jüngeren Künstlergeneration bestimmten Interpretation Duchamps und des Dadaismus – der sich ebenfalls die Eigenschaften des Fundobjektes zu Nutze machte – beruhte. Dies lässt sich deutlich in der Charakterisierung des vorgefundenen Objektes feststellen, die Motherwell in seiner Dada-Anthologie vorbrachte; er verstand das Readymade Duchamps, das

teilweise zusammen, ohne jedoch bei diesem künstlerischen Austausch ihre ästhetische Individualität zu verlieren. Siehe: Reiss 1999, S. 4-6. 28 Siehe: Bürger 1974, S. 78-79.

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als paradigmatisches Beispiel des vorgefundenen Objektes galt, tatsächlich als eine avantgardistische Plastik mit verborgener Schönheit: „Duchamp’s Bottle Rack (1914), a mass-produced utilitarian object, was his first readymade, that is, a manufactured commercial object from everyday life that he selected and exhibited under his own name, conferring on it the status of a ‚sculpture‘, an anti-art and consequently dada gesture; it is evident, thirty years later, that the bottle rank he chose has a more beautiful form than almost anything made, in 1914, as sculpture.“29

Die Betrachtung der ästhetischen Beschaffenheit des Gebrauchsgegenstandes war im New Yorker Kunstsystem mit der Kunstauffassung des Abstrakten Expressionismus eng verbunden. Denn die formalistische Anschauung dieser Kunstrichtung, die grundsätzlich Kunst im Sinne ihrer formalen Attribute auffasste, maß der spezifischen Äußerlichkeit einer Erschaffung, deren Entstehungsprozess erkennbar ist, ästhetische Werte bei, so dass sogar ästhetisch nicht intendierte Gegenstände und Oberflächen ästhetische Eigenschaften aufzuweisen vermochten. Diese Gegebenheit beeinflusste die Entwicklung der Assemblage.30 In diesem Zusammenhang erwies sich die ästhetisierende Deutung des Readymades durch Rauschenberg als symptomatisch für die Auffassung der Assemblage-Künstler hinsichtlich des vorgefundenen Gegenstandes.31 Bekanntlich bemerkte Rauschenberg nach seinem Besuch der von Duchamp kuratierten DadaAusstellung 1953 in den Räumlichkeiten der Sidney Janis Gallery, in welcher auch ein Exemplar von Duchamps Roue de bicyclette ausgestellt wurde, dieses Werk sei „das Schönste in der ganzen Ausstellung“ gewesen, wonach Rauschenberg eine ästhetische Identität im Werk ungeachtet der eigenen Kunstanschauung Duchamps konstruierte.32 Trotz ihrer Beliebigkeit war diese Auslegung, die unverkennbar auf die Ästhetisierung des Readymades und somit des Alltagsgegenstandes hindeutet,33 von enormer Bedeutung für die Konzeption von Rauschen-

29 Motherwell (1951) 1989, S. xxiii. 30 Vgl. Waldman 1993, S. 244. 31 Vgl. Morineau, Camille: „Die Nachfolge Duchamps“, in: Nouveau Realisme. Revolution des Alltäglichen (Paris, Centre Pompidou (u.a.), 09.09.2007-07.01.2008), Ostfildern 2007, S. 98-104, hier S. 100. 32 Vgl. Joseph, Branden W.: Random Order. Robert Rauschenberg and the Neo-AvantGarde, Cambridge 2003, S. 89. 33 Die Deutung des Readymades im Sinne seiner strikt formalen Attribute führte nicht nur im amerikanischen Kunstsystem zu seiner Ästhetisierung, sondern auch in Europa, wo Duchamps Werk ebenfalls einige Bewunderer fand, die dem Readymade ästhe-

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bergs Assemblagen, die er ab 1953/54 zu entwickeln begann und unter dem Begriff ‚Combines‘ fasste.34 Diese Werke – wie die Assemblagen im Allgemeinen – sind mit der Collage auf produktionsästhetischer Ebene nah verwandt, wobei sie sich von dieser grundsätzlich dadurch unterscheiden, dass sie ein dreidimensionales Medium darstellen, bei dem ein breites Spektrum addierter Elemente – von malerischen Eingriffen und collageartigen Appropriationen bis hin zu residualen Materialfragmenten und vorgefundenen Gegenständen – vorkommt.35 Abbildung 19: Robert Rauschenberg, Short Circuit, 1955, Mixed Media: Ölfarbe, Papier, Stoff, Leinwand, Holz, 126,4 x 118 x 12,7 cm.

Ein bedeutendes Werk dieser Art ist Short Circuit,36 eine Assemblage, die Rauschenberg 1955 anlässlich der Ausstellung Fourth Annual Exhibition of Painting and Sculpture in der Stable Gallery schuf: In eine bildtragende, flache Holzkiste fügte Rauschenberg unter anderem Fundstücke wie Papierfragmente und vorgefundene Stoffe sowie zwei Bilder von anderen Künstlern – eine kleinere Version von Johns’ Flag und ein Ölgemälde von Susan Weil – ein, wobei sich alle Ele-

tische Werte zuerkannten. So bekannte sich die europäische Kunstrichtung Nouveau Réaslisme, die sich programmatisch des vorgefundenen Objektes bediente, zu Duchamp als ihrem Vorläufer. Siehe: Morineau 2007, S. 98-104. 34 Vgl. Waldman 1993, S. 250. 35 Siehe: Davidson, Susan: „Combines. 1954-1964“, in: Robert Rauschenberg. Retrospektive (New York, Solomon R. Guggenheim Museum (u.a.), 19.09.199707.03.1999), Ostfildern-Ruit 1998, S. 98-153, hier S. 100. 36 Robert Rauschenberg, Short Circuit, 1955, Mixed Media: Ölfarbe, Papier, Stoff, Leinwand, Holz, 126,4 x 118 x 12,7 cm, Sammlung des Künstlers.

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mente in die Assemblage als übergeordnete ästhetische Ganzheit integrieren.37 In einer anderen Assemblage der fünfziger Jahre, der Rauschenberg den enigmatischen Titel Monogram gab, bezog er sogar eine ausgestopfte Ziege und einen Autoreifen ein, die er auf die Oberfläche einer quadratischen Plattform, mit angeeigneten Fundstücken und gestischen Malpartien versehen, platzierte.38 Abbildung 20: Robert Rauschenberg, Monogram, 1955, Mixed Media: ausgestopfte Ziege, Autoreifen, Ölfarbe, Papier, Stoff, Holz, 106,6 x 160,6 x 163,8 cm.

Mit dieser auf eine ‚Fehlinterpretation‘ des Readymades zurückzuführenden Strategie, bei der das vorgefundene Objekt eine programmatische Rolle einnimmt, wurde nicht nur die Ausdehnung der räumlichen Grenzen des Kunstwerkes als geschlossene Einheit vorgeführt, sondern auch ein rezeptionsästhetischer Bezug zur Konsumgesellschaft und ihren gewöhnlichen Hervorbringungen errichtet, womit eine neue ästhetische Sensibilität gegenüber dem Alltäglichen verbunden war.39 So wurde im Rahmen der 1961 im Museum of Modern Art organisierten Ausstellung The Art of Assemblage, bei der zum ersten Mal von ei37 Zur Bedeutung dieses Werkes siehe: Crow 1997, S. 15-16, Davidson/Young 1998, S. 555 und Katz, Jonathan: „The Art of Code. Jasper Johns und Robert Rauschenberg“, in: Significant Others. Creativity and Intimate Partnership, London 1993, S. 189-207, hier S. 200-202. 38 Robert Rauschenberg, Monogram, 1955, Mixed Media: ausgestopfte Ziege, Autoreifen, Ölfarbe, Papier, Stoff, Holz, 106,6 x 160,6 x 163,8 cm, Moderna Museet, Stockholm. 39 Vgl. Joseph 2003, S. 168.

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nem Museum die Assemblage als autonome Kunstform präsentiert wurde,40 die Idee einer Plastik vermittelt, die jenseits des ästhetischen Paradigmas des Abstrakten Expressionismus eine aus unterschiedlichen Fundstücken bestehende Werkeinheit darbietet, deren Konstitution programmatisch auf den Erzeugnissen der Konsumgesellschaft fußt.41 Duchamp seinerseits stellte in dieser auf der formalen Kontingenz des vorgefundenen Objektes beruhenden Kunstform einen eklatanten Widerspruch fest: „Dieses Neo-Dada, das sich jetzt Nouveau Réaslisme, Pop-Art, Assemblage etc. nennt, ist ein billiges Vergnügen und lebt von dem, was Dada tat. Als ich die Readymades entdeckte, gedachte ich, den ästhetischen Rummel zu entmutigen. Im Neo-Dada benutzen sie aber die Readymades, um an ihnen ‚ästhetischen Wert‘ zu entdecken! Ich warf ihnen den Fla-

40 William Seitz, Kurator der Ausstellung, war sich jedoch des Status bzw. des künstlereichen Wertes von einigen Exponaten nicht sicher. So erklärte er im Ausstellungskatalog: „If it were not typographical awkward, the title of this book could have been ‚The Art, Non-Art, and Anti-Art of Assemblage‘ […], and though a majority of the works included are unquestionably works of art, others were fabricated expressly to dispel an aura of authority, profundity and sanctity. Some, such as the wittily speculative objects of Man Ray, were designed to amuse, annoy, bewilder, mystify, inspire reflection but not arouse admiration for any technical excellence usually sought or valued in objects classified as work of art. There are even some pieces here that cannot be called ‚art‘ at all in the accepted sense of the term. They are ‚readymade‘ assemblages: portions removed from the everyday environment without alteration, and presented on a plane apparently not suited to them for a special kind of examination.“ Seitz, William: The Art of Assemblage (New York, The Museum of Modern Art (u.a.), 12.11.196115.04.1962), New York 1961, S. 6. 41 Diese Ausstellung zeigte verschiedene Aspekte der Assemblage, der sogenannten Junk-Culture und des post-abstrakten Expressionismus in einer übergreifenden Schau. Dort wurde die Manifestation einer von der Kunstauffassung Greenbergs weit abweichenden Kunstform präsentiert und damit die Entstehung einer neuen ästhetischen Sensibilität im Bereich der bildenden Kunst verkündet. Lippard zufolge liegt die Assemblage „zwischen Johns’ ursprünglicher Beschäftigung mit einfachen, zweidimensionalen, populären Motiven und der Entstehung der eigentlichen Pop-Art“. Sie sei aber „ein allgemeiner Ausdruck für dreidimensionale Collage oder Collage-Plastiken, wobei statt aufgeklebter Papierstücke Gegenstände verwendet werden“. Lippard 1968, S. 72.

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schentrockner und das Urinoir als eine Herausforderung ins Gesicht, und jetzt bewundern sie deren ästhetische Schönheit.“42

Die ästhetische Verselbstständigung des Objektes hatte im New Yorker Kunstsystem auch andere Facetten. Hierbei war die künstlerische Position Jasper Johns’ von enormer Bedeutung: Mit seinem Werk Flag entwickelte Johns bereits Mitte der fünfziger Jahre eine ästhetische Strategie, die sich der formalistischen Maltradition des Abstrakten Expressionismus bediente und gleichzeitig die auf Duchamp zurückzuführende Möglichkeit aktualisierte, das vorgefundene Objekt aus dem Alltag in Kunst überzuführen. Johns’ ästhetische Strategie ermöglichte die Gestaltung von Kunstwerken, die in ihrer spezifischen Kontingenz einen Alltagsgenstand verdinglichen, was eine konzeptuelle Nähe zu den Readymades Duchamps darstellt: Im Bestreben einer gezielten Verdinglichung des Gemäldes, die Johns bei seinen Werken mit emblematischen Motiven, Flaggen und Zielscheiben, durchführte, gelangte er zur Errichtung eines körperhaften Objektes, das mit den formalen Attributen eines konkreten Alltagsgegenstandes übereinstimmt.43 Mit Ausnahme des Werkes Flag, bei dem es sich um einen Gegenstand mit doppelwertiger Daseinsberechtigung als Aktualisierung eines nationalen Symbols und als Artefakt ästhetischer Natur handelt,44 liegt bei diesen Kunstgegenständen – wie bei den Readymades Duchamps – eine ontologische Entfremdung auf der Basis formaler Funktionsverschiebung vor, wobei die Entfremdung im Vergleich zu den Readymades in konträrer Richtung abläuft: Während Duchamp Gebrauchsgegenstände aus dem Alltag herausnahm, um diese in Kunstwerke mit eigener Identität zu verwandeln, stellte Johns Kunstgegenstände her, welche die Existenzbedingungen konkreter Gebrauchsgegenstände erfüllen, ohne jedoch ihre Daseinsberechtigung als Kunstwerke zu verlieren. In beiden Fällen findet eine Entfremdung des immanenten Funktionszusammenhanges eines Objektes statt, was aber keine unwiderrufliche Verringerung des innewohnenden Gebrauchswertes darstellt.45 Denn sowohl die Kunstgegenstände Johns’, welche Alltagsgegenständen gleichen, als auch die Readymades Duchamps können der Welt, die ihnen die ursprüngliche Daseinsberechtigung gab, zurückgegeben und entsprechend ihrem Funktionszusammenhang benutzt werden: zum Beispiel das

42 Marcel Duchamp an Hans Richter, Interview 1962, zitiert nach: Morineau 2007, S. 100. 43 Vgl. Weiss 2007, S. 16-17. 44 Siehe in der vorliegenden Studie: „Die Einheit des Verschiedenen“, S. 190-197. 45 Vgl. Weiss 2007, S. 19.

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Pissoir Duchamps als Pissoir und die Zielscheiben Johns’ als Zielscheiben.46 Diese Kunstwerke gehen jedoch aufgrund ihrer ästhetischen Bestimmung über diese Möglichkeit hinaus, da sie in ihrem ontologischen Status als Kunstwerke jenseits aller empirischen Erkennbarkeit strukturell konstruiert sind. Das bedeutet, Duchamps Fountain ist kein Pissoir, auf das man uriniert, sondern ein Readymade 47 und Johns’ Zielscheiben sind keine Zielscheiben, auf die man schießt, sondern Kunstwerke, obwohl sie wie ihre Gegenstücke in der realen Abbildung 21: Welt aussehen.48 Jasper Johns, Target with Plaster Zwischen 1958 und 1960 schuf Johns eine Casts, 1955, Enkaustik und Collage Gruppe von Werken, die alltägliche Gegenauf Leinwand mit farbig gefassten stände wie Taschenlampen und Glühbirnen Gipsabgüssen, 129,5 x 111,8 x verdinglichen, wobei er sich traditioneller Mit8,8 cm. tel der Bildhauerei bediente.49 Diese in verschiedenen bildhauerischen Techniken ausgeführten Plastiken unterscheiden sich dadurch von der auf der Malerei fußenden Gruppe von Werken mit emblematischen Motiven, dass sie Fundstücke in ihrer dreidimensionalen Objekthaftigkeit reproduzieren, ohne jedoch die Bedingungen ihrer formalen Existenz als Alltagsgegenstände zu erfüllen. Sie behaupten sich hingegen in ihrer eigenen Plastizität, so dass ihre Daseinsberechtigung als Kunstgegenstände eindeutig ist, obzwar sie entsprechend der Gestalthaftigkeit gewöhnlicher Gebrauchsartikel verdinglicht werden. Eine repräsentative Plastik

46 Vgl. ebd. 47 Das gilt für alle von Duchamp autorisierten Exemplare des verschollenen Originals von 1917. 48 Zu dieser Werkgruppe gehört Target with Plaster Casts von 1955, Johns’ erstes Zielscheibenbild, in dem seine produktionsästhetische Herangehensweise – wie im Fall von Flag – bereits zu Mitte der fünfziger Jahre stringent und vollständig ausgereift zum Ausdruck kam. Jasper Johns, Target with Plaster Casts, 1955, Enkaustik und Collage auf Leinwand mit farbig gefassten Gipsabgüssen, 129,5 x 111,8 x 8,8 cm, Privatsammlung. 49 Siehe: Hess 2007, S. 33-36.

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dieser Art ist die Arbeit Painted Bronze von 1960.50 Bei diesem Werk handelt es sich um die Reproduktion zweier Ballantine-Bierdosen in Bronze. Sie sind symmetrisch nebeneinander auf einer niedrigen, rechteckigen Basis platziert und entsprechend den äußerlichen Attributen realer Ballantine-Dosen gestaltet, weshalb sie mit hoch differenzierten Farbschichten aus Öl versehen sind, welche die Etiketten der Bierdosen sorgfältig wiedergeben. Die Farbe der Bronze entspricht darüber hinaus der industriellen Farbgebung echter Ballantine-Bierdosen, was in Anbetracht der gesamten Gestaltung der Plastik die objekthafte Präsenz realer Dosen vermittelt.51 Dabei ist es offensichtlich, dass keine illusionistische Täuschung beabsichtigt ist. Denn die plastische Verarbeitung der Bronze und die darauf aufgetragene Ölfarbe enthüllen die Prozesshaftigkeit ihrer Handhabung, was aber andererseits auf den objekthaften Charakter der Plastik entsprechend der Gestalt vorgefundener Gebrauchsgegenstände verweist. Diese Verdinglichung der Plastik bedeutet zugleich eine ästhetische Aktualisierung der durch die Avantgarde ausgelösten Verselbstständigung des Gebrauchsobjektes, womit die moderne Warenwelt und ihre populäre Ikonographie unmittelbar verbunden sind. Abbildung 22: Jasper Johns, Painted Bronze, 1960, Öl, Bronze, 14 x 20,3 x 12,1 cm.

Diese ikonographische Bezugnahme auf die Gegenstände der Alltagswelt entsprach der programmatischen Forderung Kaprows nach der Auflösung der tradi-

50 Jasper Johns, Painted Bronze, 1960, Öl, Bronze, 14 x 20,3 x 12,1 cm, Museum Ludwig, Köln. 51 Vgl. Hess 2007, S. 34.

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tionellen Grenzen zwischen Kunst und Leben, wonach alle Alltagsgegenstände Material für die Kunst seien: „All of life will be open to them [the young artists of today]. They will discover out of ordinary things the meaning of ordinariness. They will not try to make them extraordinary but will only state their real meaning. But out of nothing they will devise the extraordinary and then maybe nothingness as well. People will be delighted or horrified, critics will be confused or amused, but these, I am certain, will be the alchemies of the 1960s.“ 52

Diese Postulierung, die Kaprow in seinen eigenen Environments und Happenings durch die Einbeziehung vorgefundener Gegenstände umzusetzen wusste, gründet auf den avantgardistischen Prinzipien der Fragmentierung des Lebenszusammenhanges und der Verschiebung des vorgefundenen Objektes in den Kunstkontext. Dabei wird die Alltagskultur mit ihren banalen Erzeugnissen programmatisch eingebunden, so dass sie jenseits tradierter Kategorien der Ästhetik wie Schönheit, Exklusivität, Individualität, Einzigartigkeit und Kunstfertigkeit künstlerische Legitimität beanspruchen kann. Zu Beginn der sechziger Jahre begann diese Aufwertung der Gebrauchsgegenstände und der sie bedingenden Alltagskultur neue Interpretationen zu erhalten, wobei das vorgefundene Objekt entsprechend dem neo-avantgardistischen Muster Rauschenbergs, Johns’ und Kaprows angeeignet und als ästhetische Einheit rekonstruiert und re-semantisiert wurde, was ihm zugleich ermöglichte, Teil eines umfassenden Werkkomplexes zu werden. So griff Segal auf Alltagsgegenstände zurück, ohne diese in ihrer formalen Beschaffenheit zu ändern, um eine gewöhnlich wirkende Umgebung für seine auf alltägliche Handlungen verweisenden Gipsfiguren zu konstruieren. Dadurch wurden alltägliche Gebrauchsobjekte ohne kunstimmanente Qualitäten Teil einer ästhetischen Einheit.53 Oldenburg produzierte Objekt-Plastiken, die für alltägliche Gegenstände standen und in einer konstruierten Situation an deren Stelle traten. Für sein Werk The Store, in dem sich die Grenzen zwischen Kunst und Leben auf subtile Weise überlappten, schuf Oldenburg massenhaft Plastiken, deren Objektcharakter programmatisch in den Vordergrund trat. Sie wurden nicht nur als Alltagsobjekte präsentiert, sondern sie standen auch über ihre innewohnende Plastizität hinaus für das, was ihre Gestalt ausmachte: Alltagsgegenstände.54 Dabei waren die Serialität ih-

52 Kaprow (1958) 1993, S. 9. 53 Vgl. Crow 1997, S. 95. 54 Die in The Store gezeigten Objekte, bei denen der objekthafte Charakter programmatisch im Vordergrund stand, stellen eine Vorstufe der zur Mitte der sechziger Jahre im

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rer handwerklichen Herstellung sowie die Wiederholung von Motiven entsprechend der Ikonographie des Alltäglichen ein deutliches Anzeichen für eine populäre Ästhetik, wodurch die Idee von Kunst als einem Alltagsprodukt jenseits der tradierten Postulierungen einer hierarchischen Ästhetik vermittelt wurde.55 Die Rezeption dieser ästhetischen Praktiken führte zur Verbreitung einer Kunstanschauung im New Yorker Kunstsystem, bei der das Alltagsobjekt und die mit ihm verbundene Konsumwelt eine prominente Rolle einnahmen. Dies bedeutete zugleich die Konsolidierung einer Auffassung hinsichtlich der Natur des Kunstobjektes, die außerhalb der Vorstellung einer notwendigen Immanenz der Kunst angelegt war. Infolgedessen konnte der Kunstgegenstand seine formalen Attribute auch in den gewöhnlichen Hervorbringungen der Konsumgesellschaft finden, was zur Ausdehnung seiner Sinndimensionen beitrug.

Kontext der Pop-Art entstandenen ‚Multiples‘ dar, multiplizierbarer Pop-Art-Objekte, die kein Original aufweisen, wobei alle Exemplare ihrer Gestaltung entsprechend gleichwertig sind und als Vielfache gelten. Siehe: Glenn, Constance: „The Great American Pop Art Store. Multiples of the Sixties“, in: The Great American Pop Art Store. Multiples of the Sixties (Long Beach, University Art Museum California State University, 26.08.-26.10.1997), Santa Monica California 1997, S. 17-94, hier S. 1822. 55 Die medienkulturellen Bedingungen des amerikanischen Kontextes Mitte des 20. Jahrhunderts spielten bekanntlich eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer visuellen Kultur, die sich auf die bildenden Künste auszuwirken vermochte, wie das Aufkommen der Pop-Art mit ihrem programmatischen Bezug auf den Alltag zeigte. Die Formen und Grade dieser Wechselwirkung sind vielfältig. In diesem Verhältnis erweisen sich die ‚Multiples‘ als paradigmatisch. Im Zusammenhang mit der Entstehung dieser visuellen Kultur erklärte 1958 Lawrence Alloway: „The popular arts of our industrial civilization are geared to technical changes […]. Technical change as dramatized novelty (usually spurred by economic necessity) is characteristic not only of the cinema but of all the mass arts. Colour TV, the improvements in colour printing (particularly in American magazines), the new range of paper back books; all are part of the constant technical improvements in the channels of mass communication. […] The definition of culture is changing as a result of the pressure of the great audience, which is no longer new but experienced in the consumption of its arts. Therefore, it is no longer sufficient to define culture solely as something that a minority guards for the few and the future (though such art is uniquely valuable and a precious as ever).“ Alloway 1958, S. 85. Zu der Verbindung zwischen Kunst und Industrie in den USA siehe: Bogart, Michelle: Artists, Advertising, and the Borders of Art, Chicago 1995.

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Die programmatische Auflösung der traditionellen Werkeinheit durch die Avantgarde führte nicht nur zur Konstitution eines neuen Werktypus, dessen Kontingenz die Beschaffenheit des Kunstwerkes als Verkörperung künstlerischer Subjektivität grundlegend erweiterte, sondern auch zum Bedeutungsgewinn der Prozesse, welche die Konstitution des Kunstgegenstandes ermöglichten. Denn die Verfahrensweisen auf produktionsästhetischer Ebene manifestierten sich eben als bedeutungstragender Bestandteil des sie generierenden Programms, insoweit sie unmittelbarer Ausdruck der Auflehnung der Avantgarde gegenüber den ästhetischen Ansprüchen der Tradition waren. Folglich standen die produktionsästhetischen Verfahrensweisen – als vermittelnde Instanz zwischen einer Kunstanschauung und deren tatsächlicher Realisierung – in einer sinnhaften Beziehung zu dem Objekt, dem sie zur Existenz verhalfen, wonach der vom Kunstobjekt vermittelte Sinnzusammenhang ein Ausdruck der seine Existenz bedingenden Prozesse war. Darüber hinaus lag es in der Natur der Avantgarde, die traditionelle Kontingenz des Kunstobjektes zu hinterfragen, so dass die Verfahren bei der Realisierung eines neuen Werktypus, der sich noch als Kunst zu behaupten hatte, zwangsläufig an Bedeutung gewannen. Eines der zentralen und zugleich wirkungsvollsten Verfahren, auf denen das ästhetische Programm der Avantgarde fußte, war die Aneignung. Sie war das Vorgehen, auf dessen Basis die geschlossene Beschaffenheit der traditionellen Werkeinheit radikal negiert wurde: Da die Kontingenz des traditionellen Kunstwerkes auf der Grundlage der Tradition, die es definierte, konstruiert wurde, bestand seine Gestaltung als Werk notwendigerweise in den individuellen Produktionsprozessen, die in der Geschichte seiner Tradition die Fortentwicklung gewährleisteten, wonach der Rückgriff auf den außerhalb der Kunstwelt bestehenden Lebenszusammenhang, dessen sich die Avantgarde bediente, um das Immanenzobjekt des avantgardistischen Kunstwerkes zu gestalten, einer radikalen Hinterfragung der unantastbar geglaubten Immanenz des traditionellen Kunstgegenstandes entsprach.56 Dies machte die Radikalität des Bruches mit der vor dem Angriff der Avantgarde geltenden Vorstellung des Kunstwerkes aus: Entsprechend ihrem Programm griff die Avantgarde nicht auf die Verfahren der Tradition zurück, sondern auf den Alltag, aus dem das Ding, das keine kunstimmanenten Eigenschaften aufweist und somit kein Erzeugnis individueller Produktionsprozesse ist, für die Gestaltung des avantgardistischen Kunstwerkes ge-

56 Siehe: Bürger 1974, S. 92- 98.

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wonnen wurde.57 In diesem Durchbrechen der traditionellen Werkeinheit spielte Duchamp eine entscheidende Rolle, indem er – wie bereits erörtert – die Funktion des vorgefundenen Objektes dergestalt radikalisierte, dass es ästhetische Autonomie beanspruchen konnte, was die Verselbstständigung des vorgefundenen Gegenstandes als eine in sich vollständige Werkeinheit bedeutete. Die Aneignung des vorgefundenen Objektes entsprechend der Kunstpraxis Duchamps setzt zwei interdependente Momente auf produktionsästhetischer Ebene voraus: die Fragmentierung einer im Lebenszusammenhang verankerten Totalität, aus der ein bereits bestehendes Objekt herausgenommen wird, und die Einführung des angeeigneten Objektes in einen ästhetischen Gedankengang, der ihm Kunststatus zu verleihen vermag.58 Dabei geschieht eine ontologische Verwandlung, ohne dass die formale Beschaffenheit des gewonnenen Objektes geändert werden muss: Da der angeeignete Gegenstand zwangsläufig dem Funktionszusammenhang, der seine Existenz als Gegenstand bestimmt, entfremdet wird, wird seine Kategorie als Objekt grundsätzlich umgestaltet, so dass sein Status von Existenz entsprechend der ästhetischen Determination, kraft derer sein Bestehen als Ding angeeignet wird, eine fundamentale Verwandlung erfährt: Das vorgefundene Objekt wird zur Gestalt eines Kunstwerkes, wobei Gestalt und Kunstwerk eine ontologische Einheit sind. Diese Einheit besitzt eine innewohnende Werkidentität entsprechend ihrem ontologischen Status. Denn durch die durchgeführte Kontextverschiebung und die subsequente Zusammenfügung des ausgewählten Gegenstandes in einen ästhetischen Zusammenhang nimmt das ontologisch verwandelte Objekt notwendigerweise eine spezifische Identität als Kunstwerk auf, deren Charakter vom Künstler determiniert wird. Diese Identität, die sich als transzendentaler Sinnzusammenhang zu erkennen gibt, bringt eine kognitive Beziehung zum Objekt hervor, so dass die zur Schau gestellte Gestalt als intendierte Manifestation ästhetischen Willens erfahrbar wird. Demnach steht der Künstler bei der Aneignung bereits bestehender Objekte jenseits aller Gestaltungs-, Stoff- und Wirkursache in einer kausalen Beziehung zum Werk: Als Ursache des Seins des von ihm hervorgebrachten Kunstwerkes ist der Künstler eine verklärende Instanz, die imstande ist, eine ästhetische Identität aus der Aneignung vorgefundener Objekte zu schaffen.59 Die von der Avantgarde eingeführte, ästhetische Strategie der Aneignung übte eine gewaltige Wirkung aus, wobei ihre Herangehensweise sowohl auf formaler als auch auf konzeptueller Ebene durch eine jüngere, avantgardistisch orien-

57 Vgl. ebd., S. 78-79. 58 Vgl. ebd., S. 94. 59 Siehe in der vorliegenden Studie: „Die ontologische Tiefe“, S. 107-119.

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tierte Künstlergeneration erweitert wurde. Bei dieser Aktualisierung war Jasper Johns ausschlaggebend. Denn er schuf aufbauend auf die Strategie der Aneignung einen Werktypus, dessen spezifische Beschaffenheit als formale Verdinglichung vorgefundener Objekte aus dem Alltag gestaltet wird. Mit seinem Werk Flag, dem paradigmatischen Muster dieses Werktypus, der zwei als entgegengesetzt geltende, ästhetische Traditionen zu vereinen vermochte, gelang es Johns, ein nationales Symbol zu aktualisieren und zugleich einen Kunstgegenstand hervorzubringen, wobei beide ontologische Einheiten, die im Werk gleichmäßig vorhanden sind, die Identität des Werkes als Ganzes konstituieren. Dieser Werktypus erweiterte die avantgardistische Strategie der Aneignung dadurch, dass der Künstler in einem kausalen Verhältnis zum Objekt im traditionellen Sinne steht, insoweit er dessen Gestalt herstellte. Dabei ist diese Gestalt eine im Lebenszusammenhang bereits bestehende Hervorbringung der Kultur, die ihrer Natur entsprechend kein Original aufweist, sondern lediglich gültige Exemplare ihres Selbst, so dass sie stets aktualisierbar ist. Da ihre spezifische Existenz als Identität des Seienden nicht vom Künstler generiert wurde, wonach keine kausale Beziehung zwischen beiden besteht, wurde sie von ihm nur angeeignet, um auf ihrer Basis einen objekthaft gestalteten Kunstgegenstand zu schaffen. Dabei brachte er eine ästhetische, aus zwei ontologischen Einheiten bestehende Identität hervor, deren Spezifität als Kunst durch die sie strukturierende Bedingung determiniert wird. Diese mittels Aneignung gewonnene Identität erweist sich als der transzendentale Sinnzusammenhang des Werkes, für dessen Bestehen der Künstler verantwortlich ist, wonach er greifbar in einer kausalen Beziehung zum erschaffenen Kunstwerk steht: Wie bei Duchamps Aneignung ist diese Beziehung eine verklärende, aber zugleich auch – wie bei der traditionellen bildenden Kunst – eine wirkende. Der Künstler verklärt durch Aneignung in Form einer stofflichen Aktualisierung eine bereits bestehende Identität des Seienden, ohne diese in ihrer formalen Beschaffenheit zu modifizieren: Er aktualisiert ihre Existenz und schafft hierdurch eine ästhetische Identität mit Kunststatus. Dieser von Johns erschaffene Werktypus war der Ausgangspunkt für die Aneignung der äußeren Gestalt vorgefundener Alltagsgegenstände durch formale Verdinglichung. Ausgehend vom ersten Werktypus brachte Johns einen weiteren hervor, bei dem objekthafte Alltagsgegenstände multiplizierbaren Charakters – wie Dosen, Glühbirnen, Taschenlampen – entsprechend ihrer dreidimensionalen Beschaffenheit in traditionellen plastischen Mitteln nachgebildet werden. Im Gegensatz zum ersten Werktypus erfüllen die Werke dieses Typus, wofür Painted Bronze von 1960 charakteristisch ist, nicht die Existenzbedingungen der angeeigneten Gegenstände, so dass sie als Exemplare von deren multiplizierbarem Dasein nicht gelten können. Hingegen behaupten sie sich in den immanen-

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ten Bedingungen ihres eigenen Bestehens als Plastik, wobei ihre spezifische Objekthaftigkeit den formalen Attributen der Ursprungsgegenstände entspricht. Beide Werktypen erwiesen sich als Wegbereiter für die Konstituierung einiger der Tradition des Abstrakten Expressionismus entgegengesetzten Kunsttendenzen im New Yorker Kunstsystem der sechziger Jahre, insoweit sie eine durchdachte Gestaltungsmöglichkeit künstlerischen Charakters veranschaulichten, die das vorgefundene Objekt aus dem Alltag, das für sich selbst keinen Kunststatuts beansprucht, zur Kunst werden lässt. Die Aneignung ermöglichte auf produktionsästhetischer Basis eine Annäherung an die vorfabrizierten Produkte der Konsumgesellschaft jenseits aller Programmatik, die von einer bestimmten Vorstellung hinsichtlich des Aussehens von Kunst ausgeht. Die Konsequenzen dieser Herangehensweise, die im Einklang mit der Forderung Duchamps nach einer nicht an das Visuelle gerichteten Kunst standen, waren gewaltig; denn durch die Aneignung vorgefundener Objekte wurden Kunstwerke vorstellbar, die nicht nur wie alltägliche Gegenstände aussehen, sondern sogar für diese gelten konnten, was offensichtlich machte, dass es keine immanente Bestimmung bezüglich der Erscheinungsform der Kunst gibt. Dies impliziert, dass entgegen aller formalistischen Kunstauffassung die Notwendigkeit der Kunst nicht zwingend in der äußeren Beschaffenheit ihres Daseins liegen muss. Es sind hingegen – so zeigte die Strategie der Aneignung – die gedanklichen Dimensionen ihres Bestehens die Faktoren, die ihre Identität als Kunst strukturell gewähren können. Denn nur kraft dieser immateriellen Weite kann ein Kunstwerk mit der Gestalt eines beliebigen Alltagsgegenstandes übereinstimmen und zugleich Anspruch auf Kunststatus erheben. Denn über alle Äußerlichkeiten hinaus verfügt das Kunstwerk notwendigerweise über eine künstlerische Identität mit eigenen Sinnzusammenhängen, die nicht unmittelbar durch bloße Wahrnehmung zu erschließen ist, während es dem Alltagsgenstand – entsprechend seiner ontologischen Klasse – an jeglicher Bezogenheit, die über ihn hinausgeht, fehlt, so dass er stets in der Kontingenz seines Bestehens als Ding erschließbar ist.60

60 Im Zusammenhang mit der äußeren Ununterscheidbarkeit zweier Gegenstände verschiedener ontologischer Ordnungen – einem Alltagsgegenstand und einem ihm gleichenden Kunstwerk – erklärt Arthur C. Danto treffend: „Wenn wir zwei bloße Dinge haben, die sich voneinander unterscheiden, obwohl sie in jeder äußerlichen Hinsicht gleich sind, muss der Unterschied […] in ihren Infrastrukturen gesucht werden: Zu behaupten, dass sie gleich sind, heißt zu behaupten, dass ihre Infrastrukturen gleich sind.“ Danto 1991, S. 213. Unter Infrastruktur versteht Danto die immanente Bezo-

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Die Erweiterung der gedanklichen Dimensionen des Kunstwerkes durch die Strategie der Aneignung korrelierte mit einer grundsätzlichen Hinterfragung der vom Abstrakten Expressionismus vertretenen Idee der Werkeinheit und seines ästhetischen Pathos, das programmatisch auf das Visuelle gerichtet war. Infolgedessen begannen die hintergründigen Werkprozesse und Ideen, zunehmend in den Vordergrund zu treten, während das künstlerisch gestaltete Objekt als teleologische Grundinstanz aller Ästhetik unvermeidlich an Bedeutung verlor. 61 Bei diesem fundamentalen Umschwung ästhetischer Paradigmen spielten die ebenfalls von der künstlerischen Praxis der Avantgarde beeinflussten, raumbezogenen Werkkomplexe, die zu Beginn der sechziger Jahre im New Yorker Kontext ästhetische Autonomie zu beanspruchen begannen, eine katalysierende Rolle, insoweit sie reale Gegenstände aus dem Lebenszusammenhang in eine ästhetisch intendierte Situation räumlichen Charakters integrierten, die als Werkeinheit unabwendbar mit Sinnzusammenhängen gestaltet war, so dass vorgefundene Objekte durch ihre kontextuelle Situierung zwangsläufig mit Sinngehalt versehen wurden. Dies führte zu einer grundsätzlichen Ausdehnung der Sinndimensionen des Kunstwerkes und dessen sinnvermittelnden Möglichkeiten, was eine radikale Umwälzung des Kunstverständnisses auslöste. 3.1 Andy Warhols Paroxysmus des Gewöhnlichen Die vom ästhetischen Modell Greenbergs durch die Kunstpraxis des Abstrakten Expressionismus konsolidierte Kunstanschauung, die im New Yorker Kunstsystem der fünfziger Jahre die dominierende Vorstellung von Kunst darstellte, begann ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre allmählich ihren Anspruch auf ästhetische Absolutheit zu verlieren. Die Kunstpraxis von Johns und Rauschenberg, die unter der zwingenden Macht dieser Kunstanschauung entstand, wich nicht nur von deren ästhetischem Urteil ab, durch welches ihre programmatische

genheit der Gegenstände: das „Über-Etwas-Sein“, das „einen Inhalt, ein Sujet oder eine Bedeutung hat.“ Ebd. 61 Im Hinblick auf den Bedeutungsverlust der Gestalt des Kunstobjektes als Folge der von der Kunst der sechziger Jahre durchgeführten Aneignung, die Danto als einen „ungeheuren philosophischen Beitrag zum Selbstverständnis der Kunst“ bzw. als „das philosophische Mündigwerden der Kunst“ bezeichnet, erklärt er, dass dank dieses Beitrages das Visuelle unwichtig werde; folglich sei das Visuelle fortan so wenig relevant für das Wesen der Kunst, wie sich die Schönheit als nicht relevant erweise. Siehe: Danto, Arthur C.: „Einführung: modern, postmodern und zeitgenössisch“, in: ders., Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 23- 42, hier S. 38-39.

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Ganzheit nicht mehr zu erklären war, sondern sie relativierte auch die ausschließlichen Ansprüche von deren künstlerischem Paradigma, so dass sich die Verteidiger dieser im Kunstsystem internalisierten Anschauung genötigt sahen, Hilfshypothesen zu entwickeln, um die angezweifelte Gültigkeit des Paradigmas wieder auf eine sichere Basis zu stellen und dadurch die Abweichungen zu neutralisieren.62 Dabei waren die auftretenden Neuerungen nicht als vorläufige Erscheinungen im Kunstsystem einzuordnen, denn sie deuteten auf eine fundamentale Änderung dessen hin, was die Grundlage des Abstrakten Expressionismus konstituierte. Dies machte Kaprows Kunstpraxis ebenso deutlich, wie seine programmatischen Versuche, die Notwendigkeit einer neuen, die Grenzen der Malerei sprengenden Kunstform theoretisch zu untermauern.63 Zu Beginn der sechziger Jahre waren die als verbindlich erachteten Begriffe der im New York der fünfziger Jahre dominierenden Ästhetik keine endgültigen Prinzipien mehr. Hingegen schien sich die neu entstandene Kunst programmatisch all dessen entledigen zu wollen, was die Kunst des Abstrakten Expressionismus charakterisierte. Durch die neuen Gestaltungsansätze, die sich der spezifischen Eigenschaften des

62 Um diesen neuen Tendenzen der Kunst entgegenzuwirken, führte Greenberg in seiner Rolle als richtungsweisende Instanz des Kunstsystems kritische Urteile ein, die allgemeine Geltung zu beanspruchen suchten. So tat er die vom Abstrakten Expressionismus divergierenden Tendenzen der Malerei mit gegenständlichen Motiven unter dem Begriff ‚heimatloser Gegenständlichkeit‘ ab, die – dem Kritiker zufolge – „an und für sich weder gut noch schlecht ist.“ Hierbei merkte er noch an: „Eine Manier wird nur dann endemisch schlecht, wenn sie sich zum Manierismus verfestigt. Genau das geschah aber mit der ‚heimatlosen Gegenständlichkeit‘ Mitte der fünfziger Jahre […].“ Greenberg (1962) 1997, S. 320. Zu besonders radikalen Kunsttendenzen, die er als ‚Neo-Dada‘, ‚Collage-Konstruktionen‘ oder ‚ironische Kommentare über die Banalitäten der industriellen Lebenswelt‘ bezeichnete, äußerte er sich noch kritischer, indem er ihnen alle Bedeutung aberkannte. Hierfür griff er auf sensualistische Kategorien zurück, die im Hinblick auf die angegriffenen Tendenzen nicht anwendbar sind: „Die Künstler unterscheiden sich letzten Endes genau dort, wo der abgesicherte Geschmack endet. […] Sie [die Neo-Dada-Künstler] haben am allerwenigsten mit dem abgesicherten Geschmack gebrochen. Selbst wenn sie in ihren Werken irgendwelche neuartige Gegenstände darstellen oder einsetzen, gehen sie doch im Hinblick auf Farbe und Komposition kein Risiko ein, das nicht die Kubisten oder die Abstrakten Expressionisten schon vorher eingegangen wären. […] Neuigkeit ist, anders als Originalität, nicht von Dauer.“ Greenberg (1962) 1997, S. 334-335. 63 Zu der programmatischen Bedeutung von Kaprows verlegerischen Aktivitäten siehe: Ursprung 2003, S. 60-66.

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Raumes und des alltäglichen Gebrauchsobjektes bedienten, erweiterten sich die Grenzen zwischen Kunst und Alltag derart, dass die tradierten Bestimmungen der vorangegangenen Ästhetik keine Anwendung mehr fanden. In dieser Neuorientierung manifestierten die Künstler eine grundsätzliche Änderung des ästhetischen Blickwinkels, kraft derer die trivialen Hervorbringungen der Alltagskultur kunstwürdig zu sein schienen und somit als ikonographischer Bezug fungieren konnten. Diese von Künstlern wie Johns, Rauschenberg und Kaprow signalisierte Hinwendung zum Alltag und zu dessen gewöhnlichen Produkten begann Anfang der sechziger Jahre Programm zu werden. So formulierte Oldenburg 1961: „I am for the art of underwear and the art of taxicabs. I am for the art of ice-cream cones dropped on concrete. I am for the majestic art of dog-turds, rising like cathedrals. […] I am for Kool-art, 7-UP art, Pepsi-art, Sunshine art, 39 cents art, 15 cents art, Vatronol art, Dro-bomb art, Vam art, Menthol art, L & M art, Ex-lax art, Venida art, Heaven Hill art, […] Meat-o-rama art.“64

In diesem kunsthistorischen Umwälzungsmoment entschied sich der in New York lebende, junge Werbegrafiker Andy Warhol künstlerisch tätig zu werden. Seine ersten Bilder, die 1960 entstanden, zeigen deutlich die Hinwendung zur Massenkultur als ikonographischem Bezug für die Produktion von Kunst. Bei diesen Werken handelt es sich um die bildliche Ausführung vorgefundener Vorlagen aus Cartoons und Comic-Heften, welche bekannte Comic-Strip-Figuren wie Batman, Dick Tracy, Popeye und Superman abbilden. Parallel dazu wandte sich Warhol äußerst banalen Motiven aus Zeitungsanzeigen zu, denen es an künstlerischen Ansprüchen vollkommen fehlte. Die schockierende Trivialität der ausgewählten Werbevorlagen – Kühlschränke, Fernsehgeräte, Haushaltsartikel, Perücken, Schmuckimitationen, kosmetische Korrekturen – sowie ihre unverkennbare Anspruchslosigkeit auf ästhetischer Ebene, die unmittelbar auf anonyme und veraltete Zeichenkonventionen verweist,65 kontrastiert nicht nur mit der raffinierten zeichnerischen Sprache, die Warhol als erfolgreicher Werbegrafiker entwickelt hatte,66 sondern auch mit den in New York noch herrschenden SujetKonventionen der bildenden Kunst, deren radikale Negation eher an die provo-

64 Zitiert nach: Glenn 1997, S. 19. 65 Vgl. Varnedoe, Kirk: „Campbell’s Soup Cans 1962“, in: Andy Warhol. Retrospektive (Berlin, Neue Nationalgalerie, 02.10.2001-06.01.2002 und London, Tate Modern, 04.02.-31.03.2002), Köln 2001, S. 41-47, hier S. 43. 66 Siehe: Goldsmith, Kenneth: „Success is a Job in New York“, in: Andy Warhol. Giant Size, London/New York 2006, S. 14-85.

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zierende Eklat-Programmatik des Dada anknüpft.67 Dabei waren jedoch noch Spuren des gestischen Duktus des Abstrakten Expressionismus erkennbar, über die Warhol gegenüber Ivan Karp, dem damaligen Assistenten Castellis, erklärte, er glaube, er würde keine Anerkennung von der Kunstwelt bekommen, es sei denn, er bespritze das Bild, da die dominierende Richtung in Amerika der Abstrakte Expressionismus sei.68 Auf Empfehlung mehrerer Freunde verzichtete Warhol auf diese Expressivität und entwickelte stattdessen einen nüchternen Duktus, der von jeglicher expressiven Linienführung und gestischer Farbgebung absieht, wodurch eine kühl und mechanisch wirkende Wiedergabe gegenständlicher Motive betont wird.69 Bei diesem Prozess ästhetischer Umorientierung begann sich Warhol auf klar definierte Motive der Massenkultur zu konzentrieren, wobei Jasper Johns’ Ikonographie des Alltäglichen eine wesentliche Referenz war: Bekanntlich war Warhol vom Werk Johns’ und ganz besonders von dessen Painted Bronze von 1960, die Warhol in der Castelli Gallery im Jahr 1960 sah, so beeindruckt, dass er regelmäßig in die Galerie ging, um sich erneut das Werk anzuschauen.70 Infolge dieser Begeisterung erwarb er 1961 in derselben Galerie eine teure Zeichnung Johns’ von dessen Ligth-Bulb Plastik von 1958.71 Entsprechend Johns’ Ikonographie des Alltäglichen wandte sich Warhol auf der Suche nach neuen Motiven der Coca-Cola-Flasche zu, deren ikonenhafte Form und stilisiertes Markenzeichen besonders zu dieser Zeit mehrere Assoziationen hinsichtlich amerikanischer Identität und Alltagskultur hervorzurufen vermochte.72 Im Zuge jener ästhetischen Suche nach einer eigenen Sprache gelangte Warhol zu einer asketischen, durch eine entfremdete Beziehung zum Darstellungsobjekt gekennzeichneten Bildgestaltung: Die nüchterne Wiedergabe eines stark vergrö-

67 Vgl. Spohn, Annette: Andy Warhol. Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt am Main 2008, S. 77. 68 Vgl. Karp, Ivan: „Andy starts to paint“, in: Andy Warhol. Giant Size, London/New York 2006, S. 86-125, hier S. 86. 69 Vgl. Bastian, Heiner: „Rituale unerfüllbarer Individualität. Der Verbleib der Emotion“, in: Andy Warhol. Retrospektive (Berlin, Neue Nationalgalerie, 02.10.200106.01.2002 und London, Tate Modern, 04.02.-31.03.2002), Köln 2001, S. 12-39, hier S. 23. 70 Vgl. Dalton, David: „America the Beautiful“, in: Andy Warhol. Giant Size, London/New York 2006, S. 126-173, hier S. 126. 71 Siehe: Görner, Klaus (Hg.): Andy Warhol’s Time Capsule 21 (Frankfurt am Main, Museum für Moderne Kunst (u.a.), 27.09.2003-29.02.2004), Köln 2003, S. 22-23, 100 und Karp 2006, S. 86. 72 Vgl. Dalton 2006, S. 126.

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ßerten Objektes der Massenkultur, welches kontextlos auf einer undifferenzierten Oberfläche erscheint, wie die Coca-ColaFlasche in Warhols Acryl-Gemälde von 1962,73 zeigt eine völlig ausdruckslose Gestaltungsweise, die keinen unmittelbaren Bezug weder zum Objekt an sich noch zur Persönlichkeit des Künstlers herstellt, sondern zu den Repräsentationscodes, durch die der Gegenstand in der Konsumgesellschaft konstruiert wird. Demnach griff Warhol auf bereits bestehende Darstellungsmittel zurück, um Kunstwerke zu produzieren, die kommentarlos die Alltagskultur wiedergeben.74 Abbildung 23: Das nächste Objekt, dem sich Warhol Andy Warhol, Large Coca-Cola, 1962, zuwandte, war ebenfalls ein KonsumproAcryl auf Leinwand, 208,3 x 144,8 cm. dukt, das, ähnlich der Coca-Cola-Flasche, tief in der Alltagskultur quer durch die Generationen und Sozialklassen verankert war: die Campbell’s Suppendosen, ein massenhaft produziertes und in Amerika zu jener Zeit besonders beliebtes Lebensmittel, das vorbildlich für Kontinuität stand und dessen Etikett sich in über fünfzig Jahren nicht geändert hatte.75 Die Findung dieses Motivs wurde – wie häufig bei Warhol – durch den Hinweis von im Kunstsystem involvierten Perso-

73 Andy Warhol, Large Coca-Cola, 1962, Acryl auf Leinwand, 208,3 x 144,8 cm, Privatsammlung. 74 Über den kritischen Gehalt von Warhols Kunst wird sehr oft spekuliert, insoweit sie die Alltagskultur wiedergibt, ohne dabei diese zu kommentieren. Diese Art von Darbietung macht Aspekte der Konsumgesellschaft anschaulich, was den Eindruck erwecken kann, dass es sich dabei um eine scharfsinnige Kritik an der Konsumgesellschaft handle. Vgl. Spohn 2008, S. 64-65 und Varnedoe 2001, S. 43. Jedoch ist diese Deutung weder an den Werken noch an der Haltung Warhols eindeutig zu erkennen. Seine Aussagen deuten eher auf einen unbelasteten Zugang zum Alltag hin, der mit der Metaphysik der Ideologien nichts zu tun hat: „Ich male ganz einfache Dinge, die ich schon immer schön fand, Dinge, die man täglich benutzt und über die man nie nachdenkt.“ Zitiert nach: Spohn 2008, S. 82. 75 Vgl. Varnedoe 2001, S. 43-44.

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nen angeregt.76 So bekam er von der Galeristin Muriel Latow, die ihm auf seine Frage nach ikonographischen Motiven antwortete, den entscheidenden Hinweis: „You should paint something that everyone sees every day, that everybody recognizes – like a can of soup.“77 Im Anschluss daran begann Warhol mit der Produktion eines Bildzyklus, der sich mit diesem Lebensmittel intensiv befasst. Dabei handelt es sich um eine aus zweiunddreißig Bildern bestehende Serie, welche die zweiunddreißig, damals im Sortiment befindlichen Geschmacksrichtungen der Campbell’s Suppen wiedergibt.78 Auf jedem Bild ist eine Dose zu sehen, die – entsprechend der jeweiligen Beschriftung der Originaldosen – eine bestimmte Geschmackssorte präsentiert, so dass trotz des standardisierten Designs aller Campbell’s Suppendosen keine Wiederholung innerhalb der Serie vorkommt. Die Darstellung folgt einem gleichbleibenden Kompositionsprinzip: Jede Konserve wird frontal und symmetrisch vor einem weißen Hintergrund abgebildet, wobei die Konserve so unmittelbar im Vordergrund platziert ist, dass kein visuell signifikanter Abstand zwischen den Konturen der Dose und dem oberen und unteren Bildrand entsteht; lediglich auf beiden Bildseiten ist der Hintergrund sichtbar, wodurch die erheblich vergrößerte Dose in den Vordergrund akzentuiert wird. Wie bei der Coca-Cola-Flasche handelt es sich bei dem hier angewandten Darstellungsmittel um einen bildgestaltenden, durch einen unpersönlichen Duktus charakterisierten Rekurs, der in der Werbebranche für die synthetisierte Repräsentation von Konsumgegenständen Anwendung fand und durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: klar definierte Linien und Konturen für die schematische Erfassung der Form, die allein für die Andeutung von Volumen zuständig ist, undifferenzierte, glatte Farbpartien, Verzicht auf Schattierungen und auf alle nicht-konstitutiven Eigenschaften der Form sowie Fokussierung auf die markanten, äußerlichen Attribute des darzustellenden Produktes. Warhols Herstellungstechnik ihrerseits ist durch die behelfsmäßige Funktionalität ihrer Mittel gekennzeichnet, deren prekär wirkende Anwendung einem einfachen System folgte: Auf die vorgrundierte, weiße Leinwand übertrug Warhol mithilfe einer Schablone mit Bleistift die Grundform der Konserven; gleichermaßen bediente er sich für die Beschriftung der Dosen entsprechend den jeweiligen Schriftarten der Etiketten rudimentärer Matrizen, während die Farbflächen sorgfältig mit dem Pinsel gemalt wurden; anschließend drückte er mit selbstgemach-

76 Vgl. Spohn 2008, S. 37-38. 77 Zitiert nach: Bastian 2001, S. 25. 78 Andy Warhol, Campbell’s Soup Cans, 1962, Acryl auf Leinwand, Bildserie aus zweiunddreißig Bildern, jeweils 50,8 x 40,6 cm, The Museum of Modern Art, New York.

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ten Gummistempeln die Lilien-Bordüre der Dosen einzeln auf.79 Aufgrund der technischen Besonderheiten des Herstellungsprozesses unterscheiden sich alle Bilder auch in ihrer spezifischen Vollendung voneinander, so dass trotz der Uniformität der Campbell’s Dosen und der Anwendung desselben Kompositionsund Gestaltungsprinzips innerhalb der Serie geringe Abweichungen und formale Unregelmäßigkeiten bestehen.80 Dabei ist der serielle Charakter des Zyklus sowie die Absicht der Einheitlichkeit offensichtlich: Da der Zyklus einer vorbestimmten Notation entsprechend den konstitutiven Attributen der Campbell’s Dosen folgte, sind alle formalen Unterschiede kontingente Momente einer malerischen Durchführung, deren ästhetische Determination die Erfüllung eines visuellen Standards entsprechend einer strikt definierten Normativität voraussetzt.81 Abbildung 24: Andy Warhol, Campbell‘s Soup Cans, 1962, Acryl auf Leinwand, Bildserie aus zweiunddreißig Bildern, jeweils 50,8 x 40,6 cm.

79 Vgl. Varnedoe 2001, S. 44-45. 80 Siehe ebd. 81 Varnedoes formalistische Interpretation, nach welcher es sich bei der Serie – ähnlich „Muybridges erste[r] Fotoserie […] eines galoppierenden Pferdes“ – um „die spielerische Wechselwirkung von Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten“ – „eine neue Art des Sehens“ verkörpernd bzw. die „Grundsteine einer ganz neuen Sensibilität“ legend – handelt (Varnedoe 2001, S. 45), erweist sich als nicht haltbar. Diese auf den formalen Unregelmäßigkeiten des Zyklus gegründete Deutung übersieht den naheliegenden Charakter der Serie als intendierte Vervielfältigung eines ikonographischen Bezugs aus dem Alltag, deren Zwecksetzung offenkundig nicht in der Akzidentalität liegt.

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Die erste Ausstellung des Zyklus trug zur Verortung seiner kunsthistorischen Bedeutung bei. Noch vor der Vollendung der Serie im Jahr 1962 zeigte Irving Blum, der die Ferus Gallery in Lon Angeles betrieb, großes Interesse daran, die Arbeit auszustellen.82 Für die daraufhin geplante Ausstellung, die vom 9. Juli bis 4. August 1962 stattfinden sollte, entwarf Blum das Konzept, die Bilder auf schmale Regale zu stellen, wodurch nicht nur die Frage nach der Hängung einfallsreich und einheitlich gelöst, sondern auch der Warencharakter der Bilder akzentuiert wurde. Die durch dieses einfache Mittel ausgesprochene Gleichsetzung von Supermarkt und Galerie thematisierte das Sujet der Serie in erster Linie nicht als einen ikonographischen Bezug, wie eine neutrale Hängung entsprechend der traditionellen Praxis hätte suggerieren können,83 sondern eher als ein in der Konsumgesellschaft verdinglichtes Produkt. Denn die auf die Vorstellung eines Ladens anspielende Anordnung offerierte tatsächlich eine brandneue, auf den Kunstmarkt gebrachte Bildserie bzw. ein Produkt mit einem breiten Sortiment, welches – den einfachsten Vermarktungskonventionen entsprechend – auf Regalen zu sehen war, so dass jedes Bild, auf derselben Realitätsebene der Regale inszeniert, in seinem eigenen Repräsentationsgehalt verdinglicht erschien. Die faktische Vermarktbarkeit der Serie – jedes Bild war schließlich auch zu verkaufen – unterstrich tautologisch diesen Charakter.84 Demnach eröffnete die Hängung auf subtile Weise einen semantischen Bezug in den Bildern, kraft dessen sie objekthafte Vertreter ihres eigenen Repräsentationsgehalts wurden, was durch ihre spezifische Gestaltung und serielle Homogenität möglich wurde. Diese verdinglichende Fokussierung der Ausstellung signalisierte eine ästhetische Möglichkeit in Bezug auf die immanente Objekthaftigkeit zweidimensionaler Kunstwerke, was Warhol, an Johns’ plastische Vergegenständlichung vorgefundener Gegenstände anknüpfend, wirkungsvoll auszubauen wusste.

82 Siehe: Varnedoe 2001, S. 41. 83 Eine nüchterne Präsentationsweise betont bei der Abwesenheit kunstfremder Elemente den ästhetischen Charakter des Gezeigten, so dass sein isoliertes Vorkommen per se ästhetisiert wird. Welche Hängung Warhol selbst ausgewählt hätte, bleibt ungewiss, denn Blum informierte ihn per Telefon über die Idee, mit der Warhol sofort einverstanden war, so dass er sich mit dieser Frage nicht beschäftigen musste. Siehe: Varnedoe 2001, S. 41-42. 84 Zum Ausstellungsende beschloss Blum nach seiner rezeptionsästhetischen Auseinandersetzung mit dem Zyklus, dass die Bilder nicht getrennt werden sollten, damit sie als Ensemble erhalten bleiben. So kaufte er Warhol die gesamte Serie ab und fügte damit auch eine zusätzliche Deutung in den Zyklus ein, nach welcher die Serie eine Werkeinheit sei. Siehe: Varnedoe 2001, S. 41-42.

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3.1.1 Die Box-Plastiken Die Findung des Motivs der Campbell’s Suppendosen war für Warhols künstlerischen Werdegang von großer Bedeutung. Sie verhalf ihm nicht nur zum Durchbruch im Kunstsystem, sondern sie bot ihm auch ein im Lebenszusammenhang verankertes Sujet ikonenhaften Charakters, das im kollektiven Bewusstsein so tief eingeprägt war, dass es für Warhol zum Markenzeichen werden konnte.85 Innerhalb eines kurzen Zeitraumes setzte sich Warhol intensiv mit diesem Motiv auseinander, wobei er es in verschiedenen Techniken, Formaten und Größen darstellte und damit experimentierte, es in seriellen Reihungen innerhalb einer Bildfläche zu wiederholen, wodurch ein zentraler Aspekt seiner Kunst Gestalt annahm: die serielle Wiederholung von angeeigneten Motiven.86 Im Zuge dieser ästhetischen Untersuchungen kam Warhol auf die Idee, ein dreidimensionales Werk auf der Grundlage der Campbell’s Dosen zu schaffen. So entstand 1962 eine experimentelle Arbeit dreidimensionaler Beschaffenheit: eine aus Sperrholz konstruierte Kiste, auf deren Seiten serielle Wiederholungen der Campbell’s Dosen zu sehen sind.87 Dabei war der Versuch offenkundig, ein Objekt zu konstruieren, das mit der Gestalt seines eigenen RepräsentationsAbbildung 25: gehalts übereinstimmt, so dass es als seine Andy Warhol, Ohne Titel (Campbell’s Verkörperung fungieren könnte: Auf jeder Soup Box), 1962, Kasein und Spray auf Seite der Plastik sind drei Reihungen von Sperrholz, 55,9 x 40 x 40 cm. jeweils drei Dosen abgebildet, während auf der oberen Seite der Kiste deren entsprechende Abdeckungen zu sehen sind, was im Ganzen den Eindruck erweckt, als handle es sich um die die räumliche Anordnung von siebenundzwanzig Campbell’s Suppendosen. Die offensichtliche Inkongruenz, die aus der Abbildung zylindrischer Gegenstände in Gestalt eines würfelförmigen Objektes entsteht, ist jedoch unübersehbar, so dass die Arbeit

85 Vgl. Dalton 2006, S. 126. 86 Vgl. Spohn 2008, S. 65-66. 87 Andy Warhol, Ohne Titel (Campbell’s Soup Box), 1962, Kasein und Spray auf Sperrholz, 55,9 x 40 x 40 cm, The Andy Warhol Museum, Pittsburgh.

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mehr wie ein unkonventionelles Gemälde mit sechs Seiten als wie eine eigentliche Plastik wirkt.88 Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Warhol mit der Idee, Kunstwerke angelehnt an Verpackungskartons für im Supermarkt erhältliche Konsumartikel herzustellen. Zu diesem Zweck ließ er einige von ihm selbst komponierte Anordnungen von Kartons fotografieren, die als Studien für Plastiken dienen sollten, die jedoch nie realisiert wurden.89 Diese Beschäftigung mit der Vorstellung von dreidimensionalen Kunstwerken mit einem unmittelbaren Bezug zum Alltag – einer Idee, die mit Johns’ Kunstpraxis nah verwandt war – begann erst im Jahre 1963 konkret Gestalt anzunehmen, als John Weber, der Kurator der Dwan Gallery in Los Angeles, auf der Suche nach Plastiken für eine Ausstellung im Februar 1964 Warhol in dessen Atelier besuchte. Warhol zeigte ihm die Campbell’s-Dosen-Plastik und berichtete darüber, dass er Plastiken, auf der Gestalt von Verpackungskartons beruhend, Abbildung 26: zu machen vorhabe.90 Darauf antwortete Andy Warhol, Brillo Box, 1964, der Kurator brieflich nach dem AtelierbeSiebdruck auf Sperrholz, 43,2 x 43,2 x such: „Your idea of making cardboard bo35,6 cm. xes is sensational. […] If they could be finished in three weeks it would help me out. […] If per chance, you can’t make them in time I would like to use the Campbell soup sculpture.“91 Zur gleichen Zeit, im Dezember 1963, wandte sich Sam Wagstaff, der Kurator für zeitgenössische Kunst des Wadsworth Atheneum in Connecticut, an Warhol ebenfalls mit der Frage nach Plastiken für eine Ausstellung, die er für das kommende Jahr plante: „I’m enclosing a third set of [loan] forms in hopes that you will be

88 Diese formale Inkongruenz mag der Grund dafür sein, dass die Arbeit – entgegen Warhols Kunstpraxis – nie wiederholt oder variiert und zu Warhols Lebzeiten auch nie ausgestellt wurde. Sie blieb jahrelang im Atelier gelagert. Siehe: Frei, Georg/Printz, Neil (Hg.): The Andy Warhol catalogue raisonné. Paintings and sculptures 1961-1963, New York (u.a.) 2002, S. 93-94. 89 Vgl. Frei/Printz 2004, S. 53. 90 Vgl. ebd. 91 John Webers Brief von 26. November 1963 an Warhol. Zitiert nach: Frei/Printz 2004, S. 53.

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able to make a sculpture of a pile of white boxes with silkscreen sides as we talked about one day. How is that project coming?“92 Von diesen äußeren Umständen angeregt, setzte Warhol seine Vorstellung um, Verpackungskartons als ikonographischen Bezug für dreidimensionale Kunstwerke zu verwenden. So ließ er für die Ausstellung in Los Angeles entsprechend dem Maß der Kartons Heinz Tomato Ketchup und Brillo(3¢Off) einige Holzkisten anfertigen, die entsprechend den Originalkartons in derselben Farbe grundiert und per Siebdruck auf allen Seiten – mit dem Design der ausgewählten Verpackungskartons übereinstimmend – bedruckt wurden, so dass sie wie ihre Gegenstücke im Supermarkt aussehen.93 Während in der Ausstellung des Wadsworth Atheneum in Connecticut doch keine Plastiken, sondern zwei Disaster-Bilder gezeigt wurden, stellte die Dwan Gallery in Los Angeles vier jener Plastiken aus: eine Heinz Tomato Ketchup und drei Brillo(3¢Off) Kisten, die als Prototypen der umfangreichen, zwischen Februar und April 1964 produzierten Reihe der sogenannten Box-Plastiken gelten. Bei dieser Reihe handelt es sich um sieben SeAbbildung 27: rien von Plastiken aus Sperrholz, die ihrem Andy Warhol, Brillo Box, Bezugsobjekt – Verpackungskartons der ProBrillo(3¢Off), Del Monte Peach dukte Brillo, Brillo(3¢Off), Campbell’s Halves, Heinz Tomato Ketchup, Tomato Juice, Del Monte Peach Halves, 1964, Siebdruck auf Sperrholz. Heinz Tomato Ketchup, Kellogg’s Cornflakes und Mott’s Apple Juice – in der äußeren Ge94 stalt genau gleichen. Für die Findung der Motive sollte Gerard Malanga, Warhols Assistent zwischen 1963 und 1970,95 insoweit verantwortlich sein, als War-

92 Sam Wagstaffs Brief von 11. Dezember 1963 an Warhol. Zitiert nach: Frei/Printz 2004, S. 53. 93 Siehe: Frei/Printz 2004, S. 58, 86. 94 Siehe ebd., S. 53-57. 95 Zu Gerard Malangas Rolle in Warhols Factory siehe: Malanga, Gerard: „Ein Gespräch mit Andy Warhol“, in: Andy Warhol. The Late Work (Düsseldorf, Museum

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hol ihn in einen benachbarten Supermarkt mit dem Auftrag schickte, gewöhnliche Verpackungskartons von Lebensmitteln zu holen, woraufhin er mit jenen Kartons im Atelier erschien.96 Der Herstellungsprozess der Plastiken folgte demselben Verfahren der Prototypen: Die Holzkisten sowie die Siebdruckvorlagen wurden entsprechend dem Maß und dem Design der Originalverpackungen in Auftrag gegeben, die unbehandelten Holzkisten wurden dann in Warhols Atelier mit der passenden Grundierung gestrichen und anschließend mit den Siebdruckvorlagen bedruckt. So entstanden innerhalb kurzer Zeit einhundert Brillo-, einhundert Heinz Tomato Ketchup-, einhundert Campbell’s Tomato Juice-, fünfunddreißig Del Monte Peach Halves-, zwanzig Kellogg’s Cornflakes-, fünfzehn Brillo(3¢Off)- und zehn Mott’s Apple Juice-Plastiken, welche vom 21. April bis zum 9. Mai 1964 in Warhols zweiter Ausstellung an der New Yorker Stable Gallery zu sehen waren.97 Abbildung 28: Andy Warhol, The Personality of the Artist, 1964, Ausstellung in der Stable Gallery, New York.

Die Ausstellung in der Stable Gallery – The Personality of the Artist betitelt – zeigte alle hergestellten Box-Plastiken in den Räumlichkeiten der Galerie nach dem Prinzip der Akkumulation: Im Flur am Eingang der Galerie wurden die Kel-

Kunst Palast (u.a.), 14.02.2004-08.05.2005), Berlin (u.a.) 2004, S. 22-25 und Watson, Steven: Factory Made. Warhol and the Sixties, New York/Toronto 2003. 96 Vgl. Watson 2003, S. 127. 97 Vgl. Frei/Printz 2004, S. 54-55.

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logg’s Cornflakes- und die Mott’s Apple Juice-Plastiken der Wand entlang bis unter die Decke aufeinander gestapelt; im daneben liegenden Ausstellungsraum auf der Südseite der Galerie wurden die Brillo- und die Brillo(3¢Off)-Plastiken platziert – wie im Korridor auch auf dem Boden und bis unter der Decke ungleichmäßig aufeinander geschichtet; im größten Ausstellungsraum auf der Nordseite waren die Campbell’s Tomato Juice-, die Del Monte Peach Halvesund die Heinz Tomato Ketchup-Plastiken zu sehen, wobei die Campbell’s Tomato Juice-Plastiken in Reih und Glied auf dem Boden standen, während die anderen Plastiken am Eingang des Raumes und in den Fensternischen aufeinander gehäuft waren.98 Aufgrund des enormen Volumens, das die akkumulierten Plastiken in den relativ kleinflächigen Räumlichkeiten der Galerie einnahmen, konnte sich der Ausstellungsbesucher nur noch mit Mühe zwischen den Exponaten bewegen, so dass nur eine eher geringe Anzahl von Gästen gleichzeitig die Galerie betreten konnte.99 Dementsprechend war die Eröffnung eine äußerst verblüffende Erfahrung für die New Yorker Kunstwelt, welche nicht nur die formalen Eigenschaften der Exponate, sondern auch deren Platzierung im Raum in Erstaunen versetzte.100

98

Vgl. ebd., S. 55.

99

Vgl. Watson 2003, S. 149.

100 Unter den Ausstellungsbesuchern war der Philosoph Arthur C. Danto, der bei dieser Gelegenheit nicht nur das Erstaunen und Unverständnis der Zuschauer registrierte, sondern auch – wie er wiederholt betonte – sein größtes Kunsterlebnis hatte: „Das [Warhols Ausstellung in der Stable Gallery] war nicht zuletzt deshalb ein aufregender Moment, weil das gesamte Gefüge der Debatte, das die New Yorker Kunstszene bis dahin bestimmt hatte, einfach nicht mehr galt. Es musste eine vollkommen neue Theorie her, die über jene Theorien von Realismus, Abstraktion und Moderne hinaus galt.“ Danto 2000, S. 167. Als unmittelbare Reaktion auf die Ausstellung schrieb Danto einen kunsttheoretischen Aufsatz, The Artworld, den er im selben Jahr auf der Tagung der American Philosophical Association in Boston vortrug und in dem er die Grundzüge einer Kunsttheorie darlegte, die das Problem der ‚Ununterscheidbarkeit‘ in der Kunst behandelt. Denn seiner Meinung nach war bei der Ausstellung etwas auf diese Weise noch nicht Gesehenes zu sehen: „Mr. Andy Warhol, the pop artist, displays facsimiles of Brillo Cartons, piled high, in neat stacks, as in the stockroom of the supermarket. They happen to be of wood painted to look like cardboard, and why not? […] why not the facsimile of a Brillo carton out of plywood?“ Danto, Arthur C.: „The Artworld“, in: The Journal of Philosophy, Vol. 61, Nr. 19, 1964, S. 571-584, hier S. 580.

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3.1.2 Der Archetypus und seine Ausführungen Die Verpackungskartons, denen die Plastiken Warhols äußerlich gleichen, sind alle industrielle Produkte, die im Zuge bedürfnisbestimmter Entwicklungen innerhalb der industrialisierten, modernen Lebenswelt entstanden und die kraft gebrauchsorientierter Gestaltungskonzepte für die serielle Standardisierung und die vereinfachte Distribution von Konsumtionsmitteln entwickelt wurden. Sie sind also zweckdefinierte Designprodukte, die zwei grundlegende Funktionen haben: Einerseits dienen sie als Verpackung von Konsumartikeln, um deren Transport und Verteilung zu erleichtern, andererseits fungieren sie als graphische Werbung des jeweiligen Produktes, die zwecks absatzwirtschaftlicher Ziele seine Akzeptanz im Markt und folglich seinen wachsenden Verbrauch unterstützt. Das Verpackungsdesign stellt eine gestaltende Tätigkeit dar, die sowohl ein kreatives als auch ein technisches Gestaltungsvermögen voraussetzt, dank dessen die ästhetischen und technischen Anforderungen an die Verpackungen in einen industriellen Fertigungsprozess umgesetzt werden können, was notwendigerweise auf eine empirische Autorinstanz verweist. Dies lässt sich am Beispiel des Brillo-Kartons beobachten, dessen Design auf den Künstler und Graphikdesigner James Harvey zurückzuführen ist. Harvey, ein ausgebildeter Künstler, der auf der Tradition des Abstrakten Expressionismus seine eigene Kunst aufbaute, arbeitete tagsüber, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, für die Industriedesignfirma Stuart and Gunn, die 1961 den Auftrag erhielt, die Verpackung der Reinigungskissen Brillo umzugestalten.101 Harvey übernahm diese Aufgabe entsprechend der Optimierungslinie der New Yorker Designfirma: Ausgehend von der früheren Verpackung, die um 1950 entworfen worden war, optimierte er die Gestaltung der Schachtel durch eine Modernisierung der Typographie, ohne jedoch die Identifikation der bekannten Firmenmarke zu beinträchtigen, sowie durch ein moderneres, ästhetisch ausgefeiltes Layout, das zeichenästhetisch auf die Funktion des Produktes verweist, und durch die Einführung patriotischer Farben, was in Zeiten des Kalten Krieges und der antikommunistischen Hysterie für die Akzeptanz des Produktes eine Rolle spielte.102 Entsprechend den in der Gestaltung dieses Designproduktes involvierten Tätigkeitskomponenten war es für seinen Schöpfer mehr als die entlohnte Erfüllung einer Aufgabenstellung, es war das Ergebnis produktionsästhetischer Bemühungen für die Anforderungen der Industrie, durch welches Harvey seine gestalterischen Kompetenzen zufriedenstellend bewies. Von dem Wert dieser kreativen Leistung überzeugt, ließ er sich 1964 für die Ankün-

101 Vgl. Golec 2008, S. 52. 102 Siehe ebd., S. 56-60.

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digung seiner Gemälde-Ausstellung in der Gertrude Kasle Gallery in Detroit mit einem Brillo-Karton vor einem seiner großformatigen Bilder fotografieren, wobei er kniend sein Designprodukt vor sich hält.103 Dadurch signalisierte er deutlich den kreativen Belang hinter seinem Alltagsprodukt. Da bei der Produktion der Verpackungskartons – wie bei allen Industrieprodukten – die massenhafte Umsetzbarkeit adäquater Gebrauchswerte eine notwendige Voraussetzung ist, werden alle produktionstechnischen Vorgänge zusammenhängend rationalisiert, so dass die zugrundeliegenden Gestaltentwürfe, die notwendigerweise auf die serielle Vervielfältigung abzielen, die ideelle Wesensbestimmtheit eines zustande zu bringenden Produktes sachlich zu determinieren suchen. Die gestaltenden Entwürfe der jeweiligen Kartons konstituieren somit einen auszuführenden, mustergültigen Archetypus, der die Beschaffenheit aller Kartons strukturell bestimmt. Da aber die Gestalt der Verpackungskartons auf einer gestaltenden Tätigkeit beruht, werden nach dem Entwurfsprozess Anschauungsmodelle angefertigt, die dazu dienen, die Funktion, den Aufbau und die generelle Konfiguration des einzuführenden Produktes in dessen endgültigem Stadium zu überprüfen. Dabei sind diese Modelle die gestalthafte Erscheinung des entwickelten Archetypus nach der Findung seiner endgültigen Gestalt. Sie sind also die ersten Exemplare einer gestaltenden Notation, die die ideelle Wesensbestimmtheit der Verpackungskartons auszeichnet und deren Befolgung die stoffliche Gestalt jedes Einzelstückes hervorbringt. Folglich entstehen aus der korrekten Ausführung der vorbestimmten Normativität des Archetypus einwandfreie Einzelfälle des besagten Industrieproduktes unabhängig davon, ob es sich dabei um Anschauungsmodelle oder um fertige Verpackungskartons handelt; denn die Erfüllungsbeziehung zwischen Archetypus und Objekt gründet zwangsläufig auf einer invarianten Gestaltungsfunktion, die durch die strukturelle Bedingung der Verpackungskartons als ein auf Reproduzierbarkeit angelegtes Produkt determiniert wird. So sind sowohl die Anschauungsmodelle als auch alle fertigen Verpackungskartons – unabhängig von ihrem spezifischen Existenzstatus – gültige Ausführungen des sie bestimmenden Archetypus, wenn sie dessen konstitutiven Eigenschaften entsprechen. Dieses Entsprechungsverhältnis schließt jedoch nicht aus, dass korrekte Exemplare – das heißt einwandfreie Ausführungen des entworfenen Produktes – sich merklich voneinander unterscheiden können. Denn der Parameter von Richtigkeit bei der Gestaltung des seriellen Gegenstandes ist die Erfüllung der Normativität des Archetypus und nicht die lokale Kontingenz jeder einzelnen Ausführung, so dass die spezifische Stofflichkeit jeder Ausführung mit ihren formalen Besonderheiten in Erscheinung treten

103 Vgl. ebd., S. 2-3.

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kann, ohne jedoch die Normativität des Archetypus zu übertreten. Zudem brauchen die Verpackungskartons, um gültige Ausführungen des sie bestimmenden Archetypus zu sein, nicht unbedingt mittels einer bestimmten Druckplatte oder eines bestimmten Siebs hergestellt worden zu sein; denn im Gegensatz zu anderen seriell herstellbaren Artefakten wie künstlerischen Drucken oder exklusiven Designprodukten, bei denen die Zusicherung der Echtheit des Produktes produktionstechnisch mit der Identifikation einer vom Künstler hergestellten oder autorisierten Platte bzw. eines Siebs zusammenhängt, entziehen sich die Verpackungskartons – entsprechend ihrem ontologischen Status – dem Bereich der Echtheit, obwohl bei ihnen nach produktionstechnischen Kriterien auch eine Provenienz feststellbar ist. Für den Existenzstatus der Verpackungskartons als zweckdefinierte Gebrauchsgegenstände gewöhnlichen Charakters ist also eine Täuschung über die Tatsache, ob sie von einem bestimmten Sieb stammen oder nicht oder ob sie vom Designer selbst oder von einer bestimmten Firma hergestellt werden oder nicht, vollkommen unerheblich. Denn die Verpackungskartons sind auf ontologischer Ebene zwar Artefakte, aber sie besitzen per se keinen Werkstatus. Echtheit ist in diesem Sinne die nachweisliche Verkörperung der konstitutiven Eigenschaften des Archetypus in einem konkreten Gegenstand und nicht der Beleg einer bestimmten produktionstechnischen Herkunft.104 Eine strikte Revision der formalen Eigenschaften der Plastiken Warhols zeigt gegenüber den realen Verpackungskartons, denen die Kunstwerke äußerlich gleichen, mehrere kaum auffällige Unterschiede, die im Wesentlichen damit zusammenhängen, dass die realen Verpackungskartons aus Pappe hergestellt werden, während Warhols Plastiken aus Sperrholz sind. Dieser formale Aspekt be-

104 Die Frage nach der Authentizität der Verpackungskartons in produktionstechnischem Sinne ist angesichts ihrer Natur als Konsumgüter minderwertigen Charakters offenkundig belanglos. Von Bedeutung ist allerdings die implizite Frage nach ihrem urheberechtlichen Eigentum, mit dem die Interessen des Fabrikanten im konkreten wirtschaftlichen Sinne zusammenhängen. Dabei geht es nicht um das Verhältnis des Designers zu dem von ihm entwickelten Artikel, sondern um die Rechte, die zugunsten des Fabrikanten – als Eigentümer der Handelsmarke und somit des Designs des Produktes – die unerlaubte Reproduktion und Vermarktung des Artikels gesetzlich verbieten. Infolge dessen spielt für den Fabrikanten die produktionstechnische Herkunft seiner Produkte eine Rolle, was aber nicht mit der eigentlichen Natur der Kartons als industrielle Designprodukte zu tun hat. Dementsprechend unternahmen die Fabrikanten der Produkte, deren Verpackungskartons sich Warhol ästhetisch aneignete, keine Aktion dagegen, denn Warhols ästhetisches Projekt beeinträchtigte in keiner Weise ihre wirtschaftlichen Interessen. Vgl. Golec 2008, S. 5.

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wirkt, dass die Textur der jeweiligen Gegenstände und somit der Auftrag der Farbe unterschiedliche Qualitäten aufweisen. Dabei sind diese Unterschiede kontingente Erscheinungen innerhalb der Normativität des Archetypus, dessen konstitutive Eigenschaften – Form, Gestaltung, Komposition, Maßverhältnis, Farbe und Größe – einwandfrei ausgeführt wurden.105 Demnach handelt es sich bei diesen Ungleichheiten, die als akzidentelle Äußerlichkeiten nur durch genaue Beobachtung ermittelt werden können, um zulässige Abweichungen innerhalb der vorgegebenen Parameter des Archetypus, was an sich die spezifische Kontingenz jeder Ausführung ausmacht. Jenseits dieser kontingenten Ungleichmäßigkeiten besteht zwischen beiden Gegenstandsarten eine grundlegende Differenz, die mit deren spezifischer Funktion als Artefakte und somit mit deren ontologischer Kategorie zusammenhängt: Da die Verpackungskartons zweckdefinierte Objekte sind, ist ihre formale Gestaltung eine vergegenständlichte Funktion der Aufgaben, die sie zu erfüllen haben. Die Plastiken hingegen sind ästhetische Artefakte, die keine funktionelle Bestimmung erfüllen müssen, um der Dinglichkeit ihres Daseins zu entsprechen. Demzufolge sind sie weder Werbefläche noch Verpackungen, die zum Aufbewahren und Transportieren von Sachen dienen. Dieser Funktionsunterschied ist an der Gestaltung der Plastiken durch bloßes Anschauen zu erkennen: Während die Verpackungen auf der Oberseite einen schmalen Spalt zum Aufklappen der Seitenhälften zeigen, sind Warhols Box-Plastiken ersichtlich von allen Seiten verschlossen. In dieser teleologischen Divergenz manifestiert sich die Notwendigkeit der Plastiken Warhols in ihrer ontologischen Ganzheit. Da die Plastiken einerseits auf den Funktionszusammenhang der Verpackungskartons verzichteten, so dass sie von deren Zweckbestimmtheit grundsätzlich abweichen, und da sie andererseits die Normativität des Archetypus, der die Gestaltung der Verpackungskartons bestimmt, vollends erfüllen, zeigen sie eine scheinbar disjunktive Identität

105 Die Größe und die Gestaltung der Plastiken entsprechen deckungsgleich den Originalkartons. Nur bei den Mott’s Apple Juice-Plastiken, der vom Umfang her kleinsten Serie mit lediglich zehn Exemplaren, ist die Größe des ästhetischen Objektes gegenüber der Vorlage sichtbar ungleich. Dabei ist diese Serie, die während der Herstellung der Prototypen geplant wurde, eine Abweichung der Norm. Sie gilt als Anwendungsversuch der Gestalthaftigkeit der Box-Plastiken, weshalb sie nicht weiter hergestellt wurde. Darüber hinaus war die Präsentation dieser Serie während der Ausstellung in der Stable Gallery – verglichen mit den anderen Serien – besonders unterprivilegiert, was auf ihren Stellenwert im gesamten Zyklus hindeutet. Aus diesen Gründen findet sie in der Literatur kaum Erwähnung. Siehe: Frei/Printz 2004, S. 5455, 62-64.

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als Seiendes auf, die weit über den Existenzmodus der Verpackungskartons hinausgeht. Denn durch den Verzicht auf den Funktionszusammenhang der Verpackungen gründeten die Plastiken, indem sie die gestaltende Ursache der Kartons über deren Zweckbestimmtheit hinaus ausführten, eine neue Zwecksetzung, deren Grund – eine ästhetische Determination – die Wirklichkeit der Plastiken als Kunstartefakte gestaltet. Demnach handelt es sich bei den Plastiken auf ontologischer Ebene um die teleologische Verwirklichung einer ästhetischen Determination, die strukturell auf der Aneignung basiert. Dabei ist die Aneignung eine Grundfunktion, kraft derer der Archetypus der Verpackungskartons, ein bereits bestehendes Gebilde aus dem Lebenszusammenhang, seiner Zweckbestimmtheit entzogen wird, um als Gestaltungsprinzip bei der Herstellung von Kunstgegenständen angewandt zu werden. Die Ausführung seiner Normativität jenseits seiner ontologischen Zwecksetzung bedeutet die Aneignung seiner Form von Immanenz, die per se eine ideelle Seinsverfassung konstituiert, welche strukturell darauf angelegt ist, seriell und unverändert ausgeführt zu werden. Da der Archetypus als die ideelle Wesenseinheit aller Verpackungskartons eine immaterielle Instanz ist, deren ontologische Notwendigkeit in der Festlegung ihres intrinsischen Zwecks – der Vergegenständlichung realer Verpackungskartons – begründet ist, ist die Ausführung seiner Normativität ohne seine Zwecksetzung eine Entfremdung seiner Wesensbestimmtheit und somit eine Aneignung seiner Idealität. Diese produktionsästhetische Anwendung lässt sich deutlich daran erkennen, dass Warhol den Archetypus der Verpackungskartons vollends und korrekt ausführte, um Artefakte mit einem eigenen Funktionszusammenhang jenseits der teleologischen Determination des sie bestimmenden Archetypus zu gestalten. Aus diesem Grund erfüllen die Plastiken alle konstitutiven Eigenschaften des Archetypus aber nicht die Funktionen, die seine zweckmäßigen Ausführungen zu erfüllen haben. Daraus erschließt sich, dass Warhol sich den Archetypus der Verpackungskartons in dessen Idealität aneignete, nicht jedoch die Kartons an sich, mit deren spezifischer Dinglichkeit seine Plastiken in keiner direkten Beziehung stehen. Diese Herangehensweise bei der Produktion der Plastiken stellt eine Erweiterung der Strategie der Aneignung dar, wobei sie auf der ästhetischen Gestaltungsfunktion beruht, die Johns bei der Herstellung von Flag zur Anwendung brachte. Entsprechend dem produktionsästhetischen Verfahren, mittels dessen Johns ein nationales Symbol – das heißt ein bereits bestehendes und stets aktualisierbares Gebilde, das kein Original aufweist, sondern lediglich gültige Exemplare seines Selbst – aktualisierte, bediente sich Warhol einer bereits bestehenden Form von Immanenz, die gemäß ihrer ontologischen Zweckbestimmtheit stofflich auszuführen ist. In beiden Fällen handelt es sich bei den angeeigneten Enti-

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täten um multiplizierbare und im Lebenszusammenhang verankerte Hervorbringungen, die eine strikte Normativität zeigen, deren korrekte Ausführung gültige Einzelfälle ihrer teleologischen Determination zu produzieren vermag. Darin zeigt sich jedoch ein bedeutender Unterschied zwischen beiden Ansätzen: Während Johns durch die Ausführung der Normativität des Symbols einen gültigen Einzelfall von diesem herstellte und dabei einen Kunstgegenstand kreierte, schuf Warhol korrekte Ausführungen des Archetypus, die jedoch von seiner Zweckbestimmtheit entfremdet wurden, so dass sie über seine teleologische Determination hinaus einen unabhängigen Status als Kunstwerke aufnahmen. Nichtsdestoweniger ist in beiden ästhetischen Positionen die programmatische Absicht bestimmend, sich ein im Lebenszusammenhang feststehendes Gebilde multiplizierbaren Charakters anzueignen, um auf der Basis seiner Existenz Kunstgegenstände zu gestalten. Diese Strategie bedeutet auf produktionsästhetischer Ebene, dass der Künstler einerseits die stoffliche Gestalt seiner Werke herstellt bzw. für ihre faktische Realisation verantwortlich ist, wobei er andererseits eine fremde Immanenz, zu der er in keiner kausalen Beziehung steht, in Anspruch nimmt, um eben die Gestalt der Werke zu ermöglichen. So steht Warhol in keinem kausalen Verhältnis zu den Verpackungskartons, deren Archetypus er sich aneignete, im Gegensatz zu den Designern, die sie entwarfen.106 Dennoch erweist sich Warhol nicht nur als der wirkende und gestaltende Agent der stofflichen Beschaffenheit seiner Plastiken, insoweit er die körperhafte Konfiguration ihrer Gestalt verursachte, sondern auch als die geistige Instanz, die für deren Bestehen als Kunst kausal verantwortlich ist; und da die Plastiken entsprechend ihrem ontologischen Status Kunstgegenstände sind, stellt Warhol – über ihre jeweiligen Bezüge zur

106 Da Warhol das zugrundeliegende Design bzw. den Archetypus der von ihm erschaffenen Plastiken selbst nicht entwarf, machte sich ein Unbehagen an seinem Aneignungsakt unmittelbar nach der Eröffnung seiner Ausstellung in der Stable Gallery bemerkbar. Folgerichtig beschäftigte mehrere Personen im Kunstsystem die Frage nach der geistigen Urheberschaft seiner Plastiken bzw. nach der empirischen Autorschaft ihrer Gestalt angesichts der enormen Ähnlichkeit beider Gegenstandsarten. Als James Harvey, der Designer des Brillo-Kartons, von der Ausstellung Warhols erfuhr, war er so schockiert, dass er beschloss, eine gerichtliche Klage gegen Warhol im urheberrechtlichen Sinne zu unternehmen. Der Skandal erreichte sogar die Medien. So berichtete Time über den Vorfall in einem Artikel mit dem aussagekräftigen Titel Boxing Match vom 15. Mai 1964. Trotz der lautstarken Empörung musste Harvey schließlich die Idee, Warhol zu verklagen, fallenlassen, da er nicht der rechtliche Eigentümer des von ihm entworfenen Gegenstandes war, so dass er keine rechtlichen Gründe für eine Klage vorbringen konnte. Vgl. Golec 2008, S. 3-5.

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Welt hinaus – ihren absoluten Urheber dar. Denn durch den Aneignungsakt schuf er ein ontologisch unabhängiges Artefakt, welches, eine künstlerische Determination verkörpernd, einen ganz bestimmten Modus, Kunst zu produzieren, zum Programm macht, was notwendigerweise eine Stellungnahme gegenüber der Kunstwelt und der Kunstgeschichte bedeutet. Dabei positionierte sich Warhol in einer ästhetischen Tradition, die über Jasper Johns auf Marcel Duchamp zurückführt.107 Warhols Verankerung in der Kunstgeschichte wurde bereits in der Ausstellungsankündigung108 signalisiert. Dort griff die Verfasserin Gene Swenson auf Warhols erstes Interview zurück, das einige Monate zuvor geführt worden war und in dem der Künstler das maßgebliche Prinzip seines künstlerischen Programms für die Kunstwelt präzisierte: „I want to be a machine, and I feel that whatever I do and do machine-like is what I want to do.“109 Von dieser bedeutungsträchtigen Aussage ausgehend, konstatiert Swenson: „His work does suppress those symptoms of modern art – personality and creativity – which have been sanctified to the point of the blasphemy.“110 Damit situierte sie ihn in einen Bereich progressiver Kunst, in dem Individualität und ästhetische Innovation für die Erschaffung von Kunst keine Bedingungen mehr darstellen. Denn Warhols Kunst – wie Swenson suggerierte – behauptet nicht nur eine Entpersonalisierung und Mechanisierung der ästhetischen Produktion, sondern sie setzt auch eine Gleichgültigkeit gegenüber der Vorstellung einer ästhetisch intrinsischen Imma-

107 Die Herstellung einer Verknüpfung zwischen Warhol und Duchamp ist in der Literatur verbreitet. Buchloh formuliert diese Verbindung sowohl im Sinne einer Verselbstständigung der populären Bildlichkeit als auch im Sinne eines entfremdeten Herstellungsprozesses: „Warhols radikale Mechanisierung des bildnerischen Prozesses, die als klarer Regelverstoß wirkte, konnte sich also auf eine vollentwickelte Tradition stützen, die von den Schlüsselfiguren des New Yorker Dada, […], bis zu Rauschenberg und Johns’ Arbeiten der frühen bis mittleren fünfziger Jahre reichte, […].“ Buchloh, Benjamin H.D.: „Andy Warhols eindimensionale Kunst: 19561966“, in: Andy Warhol. Retrospektive (Köln, Ludwig Museum, 20.11.198911.02.1990), München 1989, S. 37-57, hier S. 46. 108 Die Ausstellungsankündigung ist ein einseitiges Blatt mit einem frontalen Fotoporträt Warhols, unter dem der in Großbuchstaben gedruckte Titel der Ausstellung The Personality of the Artist und ein Text von Gene Swenson stehen. Siehe: Golec 2008, S. 121-123. 109 Swenson, Gene: „What is Pop Art? Answers from 8 Painters, Part I“, in: Art News, Vol. 62, Nr. 7, 1963, S. 24-47, 60-63, hier S. 26. 110 Zitiert nach: Golec 2008, S. 122.

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nenz der Kunst voraus. Die semantische Dimension der Aussage Warhols, die sich in der Ausführung seiner Plastiken programmatisch verdinglichte, stützt sich somit auf ein avantgardistisches Kunstparadigma, dessen Rezeption in den fünfziger Jahren im Kreis von Cage, Rauschenberg und Johns begann und welches imstande war, ‚personality‘ und ‚creativity‘ neu zu definieren: nämlich Marcel Duchamps Kunstpraxis, seine Readymade-Strategie und die damit unzertrennlich verbundene, ästhetische Indifferenz.111 Die Aneignung als ästhetische Strategie und der programmatische Verzicht auf abgesicherte Geschmackskategorien in der Kunst verdeutlichen diese Verknüpfung ebenso wie der objekthafte Charakter der Plastiken, ihre dinghafte Erscheinungsform und die entpersonalisierte Mechanisierung ihres Herstellungsprozesses, welche eher auf den Bereich der technisch-industriellen Produktion serieller Konsumgüter hindeutet als auf die herkömmliche Produktionsästhetik der bildenden Kunst. Von zentraler Bedeutung für die Einstufung der Plastiken als gewöhnliche Objekte war außerdem ihre räumliche Platzierung während der Ausstellung in der Stable Gallery. Denn bei dieser Ausstellung, welche die kunsthistorische Interpretation der Box-Plastiken entscheidend mitbestimmte, präsentierten sie sich in ihrer Objekthaftigkeit verdinglicht, ohne – jenseits der Tatsache, dass sie in einer Kunstgalerie ausgestellt waren – explizit darauf zu verweisen, dass sie Kunstgegenstände sind: Die Plastiken wurden nach dem Prinzip der seriellen Akkumulation modularer Körper in den Räumlichkeiten der Galerie platziert, so dass ihre spezifische Beschaffenheit als Einzelobjekte – entgegen der traditionellen Ausstellungspraxis dreidimensionaler Kunstwerke – unterbetont wurde. Dadurch wurde gleichwohl eine spezifisch räumliche Situation konstruiert, die für sich konkrete Assoziationen hervorrief und dabei den in seiner realen Körperlichkeit manifestierten Betrachter einbezog. Somit hatte dieser funktionell wir-

111 Warhol lernte Duchamp im Oktober 1963 bei der Eröffnung von dessen Retrospektivausstellung in Pasadena kennen. Zu diesem Zeitpunkt war sich Warhol der Bedeutung Duchamps als Künstler bewusst; er besaß nämlich schon ein Exemplar von dessen Boîte en Valise. Vgl. Watson 2003, S. 112. Es sollten darüber hinaus weitere Ankäufe von Duchamps Werken durch Warhol folgen: Er besaß fünf Rotorelief, zwei Exemplare der Boîte en Valise, ein Exemplar von Fountain, ein Exemplar von In advance of the broken arm, sowie mehrere Radierungen. Die Beschäftigung mit Duchamp, die auf eine tiefe Bewunderung für den polemischen Avantgardekünstler hindeutet, führte Warhol sogar zur Konzeption eines vierundzwanzigstündigen Filmes, der einen Tag im Leben Duchamps festhalten sollte. Erste Aufnahmen wurden im Februar 1966 durchgeführt. Das Projekt wurde jedoch nicht zu Ende geführt. Siehe: Bourdon, David: Warhol, Köln 1989, S. 232, 237 Anm. 17.

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kende Anordnungsmodus unmittelbar Einfluss auf die Erfahrbarkeit der Plastiken als solche: Durch die Konstruktion einer raumbezogenen Struktur mittels der Plastiken selbst wurde eine einheitliche Raumganzheit zur Erfahrung gestellt, die nicht nur den Betrachter zum Bestandteil der generierten Situation machte, sondern auch eine relationale Beziehung zwischen Exponaten, Publikum und umgebendem Raum herstellte.112 Infolgedessen war es nicht mehr möglich, die spezifischen Eigenschaften der Plastiken als Objekte an sich von ihrer räumlichen Bezogenheit zu trennen, so dass sie zum gestaltenden Gefüge einer raumbedingten Ganzheit wurden. So erweckte diese zur ästhetischen Erfahrung konstruierte Ganzheit den Eindruck, dass die Galerie in die Lagerhalle eines Lebensmittelgroßhändlers verwandelt wurde, in der gewöhnliche Verpackungskartons zu sehen waren, so dass sich der Ausstellungsbesucher, der zum Begehen des Raumes aufgefordert wurde, in seiner eigentlichen Rolle gänzlich entfremdet vorkam.113 Mit dieser Strategie radikalisierte Warhol die Wirkung seiner Ausstellung in der Ferus Gallery 1962, in der eine Gleichsetzung von Supermarkt und Galerie dargeboten wurde, und reihte sich damit in die Tradition der raumgreifenden Kunstprojekte ein, die ab den frühen sechziger Jahren in der New Yorker Kunstszene zunehmend an Bedeutung gewannen. 3.1.3 Dinglichkeit und Paroxysmus: The American Supermarket Einige Monate nach Warhols Ausstellung in der Stable Gallery erschien im Magazin Horizon ein Artikel, der, auf zeitgenössische, mit der populären Bildlichkeit des Alltäglichen verbundene Kunst Bezug nehmend, die Beziehungen zwischen Kunst und Alltag thematisiert: „Pop Art is nothing if not exterior. It takes the most blatant objects of the outside world and puts them down just as they are, with little attempt to transform them or even interpret them. The danger is that the public may not be able to tell the art from the artefact. […]

112 Vgl. Osborne, Peter: Conceptual Art, London/New York 2005, S. 24. 113 Als empirischer Ausstellungsbesucher erklärte Danto bezüglich der Wirkung der Präsentation: „Hier zeigte der Künstler verschiedene Kartons, wie man sie etwa gestapelt in den Lagerräumen von Supermärkten sehen konnte, gefüllt mit Konserven von Pfirsichhälften der Marke Del Monte oder Tomatensaft von Campbell oder Ketchup-Flaschen von Heinz, Cornflakes-Packungen von Kellogg’s und Kartons mit Brillo-pads.“ Danto, Arthur C.: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. S. 17.

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We are, in short, pretty close to the moment when some enterprising gallery can exhibit wax ice-cream sundaes and get away with it […].“114 Abbildung 29: The American Supermarket, 1964, Gruppenausstellung in der Bianchini Gallery, New York.

Zwei Monate nach Erscheinen dieses Artikels zeigte die Bianchini Gallery115 in New York vom 6. Oktober bis zum 7. November 1964 die Ausstellung The American Supermarket, ein an der Pop-Art orientiertes Environment mit partizipatorischem Charakter.116 Die Ausstellung, die der Künstler Ben Birillo mit Unterstützung von Paul Bianchini und Dorothy Herzka veranstaltete, versammelte Werke von Andy Warhol, Jasper Johns, Claes Oldenburg, Tom Wesselmann,

114 Zitiert nach: Glenn 1997, S. 31. 115 Die New Yorker Galerie Paul Bianchinis hatte sich zunächst auf europäische Graphik konzentriert. Mit der Ausstellung The American Supermarket im Oktober 1964 begann sie, sich an zeitgenössischer Kunst zu orientieren, wobei zur neu definierten Richtung die Ausführung ungewohnter Ausstellungspräsentationen mit Künstlern, die sie nicht vertrat, von vornherein bestimmt wurde. Siehe: Herzka-Lichtenstein, Dorothy: „Remembering the American Supermarket“, in: The Great American Pop Art Store. Multiples of the Sixties (Long Beach, University Art Museum California State University, 26.08.-26.10.1997), Santa Monica California 1997, S. 95. 116 Zur Ausstellung Siehe: Glenn 1997, S. 31-40, Grunenberg, Christoph: „The American Supermarket“, in: Shopping: 100 Jahre Kunst und Konsum (Frankfurt am Main, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 28.09.-01.12.2002), Ostfildern-Ruit 2002, S. 170-177 und Herzka-Lichtenstein 1997, S. 95.

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Roy Lichtenstein, James Rosenquist, Robert Watts, Billy Apples und Richard Artschwager, wobei der gemeinsame Nenner aller Exponate ein unmittelbarer Bezug zu realen Alltagsgenständen war.117 Bei dieser Ausstellung handelt es sich um die Inszenierung eines Supermarktes, in welchem reale Objekte aus dem Alltag zusammen mit Artefakten, welche gewöhnlichen Konsumgütern mimetisch gleichen, und alltagsbezogenen Kunstobjekten von Pop-Künstlern aus der New Yorker Kunstszene zusammengestellt wurden. In der Pressemitteilung der Galerie heißt es: „To lend authenticity to the environment, counters, freezers, and shopping bags have been designed, made and signed by the artists. On the shelves are beer cans by Jasper Johns, Brillo boxes, Kellogg cartons and real soup cans signed by Andy Warhol.“118 Entsprechend dieser Authentizität-Prämisse zeigte die Galerie ein Campbell’sSuppendosen-Diptychon von Andy Warhol119 als bildliche Referenz zu zwei großen Stapeln echter Campbell’s-Suppendosen, die mit der Signatur des Künstlers versehen waren; außerdem waren mehrere Exemplare der Plastiken Brillo, Brillo(3¢Off), Del Monte Peach Halves und Kellogg’s Cornflakes neben realen Verpackungskartons zu sehen.120 Von Jasper Johns wurden die BallantineBierdosen in Bronze von 1960121 neben echten Ballantine-Bierdosen gezeigt, die im Gegensatz zu den von Warhol signierten Konserven unsigniert waren.122 Von Robert Watts stellte die Galerie farbige und verchromte Eier sowie zahlreiche Äpfel, Birnen, Melonen, Tomaten, Paprika und Zucchini aus Wachs in gewöhnlichen Holzkisten aus; von Claes Oldenburg zeigte sie künstliche Kekse, Kuchen und Süßigkeiten, während von Mary Inman – der Inhaberin eines New Yorker Unternehmens, das augentäuschende Wachsabbildungen von Lebensmitteln zu kommerziellen Zwecken herstellte – verschiedene Fleischsorten, sowie allerlei Käsesorten aus Wachs präsentiert wurden.123 Von Ton Wesselmann wurde das

117 Vgl. Herzka-Lichtenstein 1997, S. 95. 118 Zitiert nach: Frei/Printz 2004, S. 56. 119 Andy Warhol, Campbell’s Soup Cans (Chicken with Rice, Bean with Bacon), 1962, Acryl auf Leinwand, Diptychon, jeweils 51 x 40,5 cm, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach. 120 Vgl. Frei/Printz 2004, S. 56. 121 Die Bierdosen Johns’ wurden allerdings schon am Eröffnungsabend von dem Sammler Robert Scull entfernt, da er um die Sicherheit der Werke fürchtete. Vgl. Grunenberg 2002, S. 173, Anm. 2. 122 Vgl. ebd., S. 171. 123 Mary Inman war keine Künstlerin. Ihre mimetischen Artefakte wurden jedoch – wie andere Objekte ohne künstlerischen Status – in die Ausstellung einbezogen, was

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Bild eines riesigen vakuumgeformten Truthahnes gezeigt und von Billy Apples einige Bildvariationen zum Thema Apfel. Für den Galerieeingang entwarf Artschwager ein Drehkreuz, durch welches die Besucher den Raum betraten.124 Wie in der Pressemitteilung angekündigt, stellte man für die Ausstellung Einkaufstüten aus Papier mit Siebdruckmotiven aus dem Werk zweier teilnehmender Künstlern her: Die Siebdruckvorlagen, ein Truthahn von Roy Lichtenstein und eine Campbell’s-Suppendose von Andy Warhol, wurden von beiden Künstlern bereitgestellt, wobei Ben Birillo für die konkrete Ausführung sorgte.125 Die Präsentation der Exponate – Kunstwerke und gewöhnliche Alltagsgegenstände – entsprach der allgemeinen Anordnung von Konsumgütern in einem Supermarkt, so dass sie als alltägliche Produkte ohne ästhetische Privilegierungen zur Schau gestellt wurden. Dabei standen die Kunstwerke und die mimetischen Artefakte nicht nur für die alltäglichen Produkte und Gegenstände, nach deren Dinghaftigkeit sie als Kunstwerke bzw. als Artefakte hergestellt wurden, sondern sie traten auch an deren Stelle als Dinge in der inszenierten SupermarktSituation, während die realen Alltagsgegenstände in ihrer kunstfremden Objekthaftigkeit für sich selbst in Erscheinung traten. Die ausgestellten Bilder als gattungsdefinierte Objekte der bildenden Kunst fungierten ihrerseits nicht als solche, sondern als zweckdefinierte, auf reale Produkte bezogene Werbung. Entsprechend dieser gesamten Inszenierungsstrategie wurden bei der Eröffnung reale Schokoladenkekse angeboten, wobei es intendiert war, dass diese als Objekte mit den präsentierten Gegenständen der Ausstellung zusammenwirkten: „We loved the idea of mixing real food – the frozen blintzes we ordered as opening night gifts – fake food, and art all together,“ erklärte später Dorothy Herzka.126 Zudem korrelierte mit der inszenierten Supermarkt-Situation eine reale Einkaufssituation mit faktischer Beteiligung der Ausstellungsbesucher, so dass eine Überschneidung von Funktionen aus der Kunst- und Alltagswelt erfolgte. Diese partizipatorische Komponente des Environments machte einen wesentlichen Bestandteil seines Sinnzusammenhanges aus und stellte auf formaler Ebene im rezeptionsgeschichtlichen Sinne eine Verbindung zwischen Warhols raumgestal-

nicht nur wegen der Vervollständigung des Environments als Ganzes, sondern auch aufgrund konzeptueller Entscheidungen erfolgte. Siehe: Glenn 1997, S. 31, 40 und Grunenberg 2002, S. 171-172. 124 Vgl. Grunenberg 2002, S. 172. 125 Vgl. Herzka-Lichtenstein 1997, S. 95. 126 Ebd.

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tendem Ausstellungsmodus – wie in der Stable Gallery erprobt – und Oldenburgs handlungsorientierten Happenings – wie in The Store ausgeführt – her.127 Das grundlegende Konzept der Ausstellung war jedoch die ästhetische Verwischung der phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit, weshalb gezielt Kunstwerke und mimetische Artefakte, die jeweils in unmittelbarem Bezug zu Alltagsgegenständen standen, ungeachtet ihres spezifischen Existenzstatus mit gewöhnlichen Objekten aus dem Alltag in einer einheitlichen Raumsituation präsentiert wurden: „There was always the intention that the show would be part art and part non-art. […] We were aware of the questions raised: What is the difference between these supermarket objects and art? What is the difference between an ordinary Campbell’s Soup can and one signed by Andy? These distinctions in general were questions that people were thinking about at the time.“128

Dabei war der Grund dieses Konzeptes die ästhetische Strategie der Aneignung, wie sie von Johns und Warhol in der New Yorker Kunstwelt entwickelt wurde. Die Box-Plastiken Warhols waren für die Konzeption der Ausstellung von zentraler Bedeutung. Denn sie vermögen über ihren spezifischen Status von Existenz hinaus ihre Immanenz so zu verdinglichen, dass sie für ihre gewöhnlichen Gegenstücke in der realen Welt gelten können, ohne diesen auf ontologischer Ebene zu entsprechen. Darüber hinaus sind die mechanisch wirkende Reproduzierbarkeit und der serielle Charakter der Plastiken konstitutive Attribute dinghafter Objekthaftigkeit, welche die ästhetisierende Einmaligkeit der bildenden Künste bzw. deren Aura grundsätzlich verneinen, was den ästhetischen Ansprüchen der Ausstellung gänzlich entsprach. Auf der Grundlage dieser Bedin-

127 Herzka-Lichtenstein zufolge war Ben Birillo – die kreative Kraft hinter dem Ausstellungsprojekt – mit der New Yorker Kunstszene und ihren neuen Tendenzen bestens vertraut, weshalb er für die Aufgabenstellung der in die zeitgenössische Kunst einsteigenden Bianchini Gallery sehr gut geeignet war. Die Rezeption der damaligen Gegenwartskunst war für die Realisierung der Ausstellung als Einstig in den Markt zeitgenössischer Kunst eine notwendige Voraussetzung. So erinnert HerzkaLichtenstein: „We were really out of the mainstream in 1962. […] It wasn’t too long before Ivan Karp (of Castelli) sent the artist Ben Birillo by to see Paul (Bianchini). Ben knew the art world and knew what was going on. He really was a tremendous catalyst. With his help the gallery actually started looking for contemporary artists to show […].“ Herzka-Lichtenstein 1997, S. 95. 128 Herzka-Lichtenstein 1997, S. 95.

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gungen rückte das Environment die Tatsache in den Vordergrund, dass die Notwendigkeit der Kunst entgegen allen formalistischen Grundannahmen der Ästhetik nicht allein in den materiellen Bedingungen ihrer Erscheinung liegt. Hingegen stellen die immateriellen Komponenten ihres Bestehens die Instanzen dar, die ihre Möglichkeit als Kunst grundlegend bedingen können, was die Ausstellung exemplarisch zu veranschaulichen vermochte. Denn durch die Auflösung der phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit – das heißt der Grenzen, welche die Erscheinung der Kunst a priori bestimmen und somit deren empirische Erkennbarkeit garantieren – wurde die ontologische Bestimmtheit der Exponate nicht geändert: Die Plastiken Warhols wurden unabhängig davon, ob sie als solche erkannt wurden oder nicht, in ihrem ontologischen Wesen nicht verwandelt, genauso wenig wie die echten Verpackungskartons oder die mimetischen Artefakte Mary Inmans zur Kunst wurden, obwohl sie innerhalb eines ästhetischen Zusammenhanges präsentiert wurden. Das bedeutet, über alles empirische Erkennen hinaus sind die immateriellen Komponenten eines jeden Gegentandes die Faktoren, die seine Existenz bestimmen, selbst wenn diese Faktoren durch einfaches Wahrnehmen nicht erschließbar sind. So bestand der ontologische Unterschied zwischen einer Plastik von Warhol und einem Artefakt von Inman oder einem Verpackungskarton darin, dass die Plastik ein ästhetisches Programm gegenüber der Kunstwelt und der gesamten Kunstgeschichte verkörpert, während das mimetische Artefakt genauso wie der Verpackungskarton gewöhnliche Alltagsobjekte sind, die für sich keine sinntragende Bezogenheit verkörpern, obgleich sie auch in einer kulturgeschichtlichen Tradition verankert sind.129

129 Da der Existenzstatus von Kunstwerken mit dem von gewöhnlichen Gegenständen nicht gleich ist, ist die formale Erscheinung der Kunst trotz aller möglichen Arten der Übereinstimmung mit gewöhnlichen Gegenständen eine Verkörperung von Sinn auf ästhetischer Ebene, wohingegen Alltagsgegenstände lediglich ihre Zweckbestimmtheit verkörpern. Dabei weist ein gewöhnliches Objekt genauso wie ein Kunstwerk einen kulturgeschichtlichen Hintergrund auf, vor dessen Wirkungsmacht das Objekt konstruiert ist, so dass es als Artefakt der Kultur, ohne an sich einen Sinngehalt zu transportieren, auch interpretierbar ist. Die Studie Michael Golecs The Brillo Box Archive von 2008 veranschaulicht deutlich diese Tatsache durch eine eingehende Analyse des Brillo-Kartons als ein Industriedesign-Produkt aber auch als ein ästhetischer Bezugspunkt für die Produktion von Kunst und Kunsttheorie. Siehe: Golec 2008.

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3.2 Elaine Sturtevant und die immaterielle Entäußerung der Kunst 1965, einige Monate nach der Präsentation des erfolgreichen Pop-Environments,130 veranstaltete die Bianchini Gallery eine weitere Ausstellung in ihren Räumlichkeiten. Es handelte sich um die erste Ausstellung der 1930 in Lakewood, Ohio, geborenen Künstlerin Elaine Sturtevant. Wie The American Supermarket war die Kunstschau ein vielfältiges Environment mit deutlichen Anspielungen auf die neuesten Tendenzen der New Yorker Kunstwelt, wobei dieses Mal ausschließlich Kunstobjekte der ausstellenden Künstlerin präsentiert wurden. Die Exponate waren äußerst heterogen, denn sie glichen auf formaler Ebene bereits vorhandenen Kunstwerken von jungen zeitgenössischen Künstlern, so dass sie eine diskontinuierliche, ästhetische Einheit auf der Grundlage unterschiedlicher, aber für die neuen Kunsttendenzen typischer Stile, Formate und Techniken bildeten.131 Das Environment war somit eine verschiedenartige Inszenierung, die jedoch eine reale Situation suggerierte: Mit von Sturtevant selbst angefertigten Leinwandpaneelen anhand der Siebdruckvorlage der Hibiskus-

130 Als Einstig in den Markt zeitgenössischer Kunst war The American Supermarket eine sehr erfolgreiche Ausstellung für die Bianchini Gallery. Sie erregte große Aufmerksamkeit nicht nur in der Kunstszene, sondern auch in der Pressewelt: Während The New York Times detailliert über Preise und andere Einzelheiten berichtete, widmete das Magazin Life der Ausstellung einen umfangreich bebilderten Bericht, in dem die kunsttheoretische Problematik des Environments – das heißt die Bestimmung der Grenzen zwischen Kunst und Leben – angesprochen wird: Tomkins, Calvin: „Art or Not. It’s Food for Thought“, in: Life, 20.11.1964, S. 138-140, 143-144. Darüber hinaus gelang es den Organisatoren, die Ausstellung sowohl in Rom als auch in Paris zu präsentieren, wodurch ihr Erfolg auf internationaler Ebene gesteigert wurde. Vgl. Glenn 1997, S. 94. Anm. 12. 131 Die Zeitspanne zwischen der Produktion der ausgestellten Kunstobjekte Sturtevants und dem Entstehungsmoment der Ursprungswerke ist nicht groß. Im Fall einiger Werke – wie z.B. der Leinwandpaneelen mit dem Motiv der Hibiskus-Blüten Warhols – beträgt der zeitliche Unterschied wenige Monate, während im Fall von Flag, das Johns 1954-55 schuf, der Zeitabstand deutlich größer ist. Dabei zählte Johns – wie alle einbezogenen Künstler – zu der neuen Künstlergeneration in New York. Vgl. Vahrson, Viola: „Zeitliche Interferenzen im Werk Elaine Sturtevants“, in: Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, S. 183-192, hier S. 188.

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Blüten Andy Warhols,132 eines Bildmotivs, das sich Warhol ein Jahr zuvor angeeignet hatte,133 überzog die Künstlerin die Ausstellungswände der Galerie, so dass die gesamte Oberfläche der Wände von der Decke bis auf wenige Zentimeter über der Bodenebene bedeckt wurde. Im Zentrum des Ausstellungsraumes befand sich ein konventioneller, aus dem Alltag entnommener Kleiderständer auf Rollen, vor dem eine weiße, nach der künstlerischen Arbeitsweise George Segals angefertigte Gipsfigur stand, die eine männliche Gestalt lebensgroß darstellte.134 Die ungezwungene, natürlich wirkende Körperhaltung der Plastik, deren rechte Hand die vordere Stange des Ständers griff, während das linke Bein einen nach vorne gerichteten Schritt bildete, war im Ganzen so disponiert, dass der Eindruck entstand, die Figur sei dabei, den Kleiderständer hinter sich herzuziehen. An der oberen Stange des Kleiderständers waren mehrere Bilder bzw. Objekte von unterschiedlicher Größe und ungleichem Format in einer Reihe aufgehängt. An erster Stelle hing eine kleinformatige, auf Arman zurückgehende Assemblage.135 Danach war ein Gemälde aufgehängt, das Frank Stellas Bild Benjamin Moore glich.136 Dahinter befand sich ein nach dem künstlerischen Verfahren Claes Oldenburgs geschaffenes Objekt, das ein Hemd darstellte.137 Hinter diesen hingen ein auf James Rosenquist zurückgehendes Gemälde,138 ein

132 Elaine Sturtevant, Warhol Flowers, 1964-65, Synthetischer Polymer, Acryl auf Leinwand, 273 x 110 cm, Sammlung der Künstlerin. Es sind nur noch fünf Paneelen vorhanden. Siehe: Maculan, Lena (Hg.): Sturtevant. Catalogue Raisonné 1964-2004. Gemälde, Skulptur, Film und Video, Ostfildern-Ruit 2004, S. 58. 133 Die Reproduktion einer Farbfotografie von Hibiskus-Blüten, die Warhol 1964 in einer Zeitschrift fand, war der Ausgangpunkt einer umfassenden Serie von Blumenbildern, die er in verschiedenen Größen im Fotosiebdruckverfahren auf Leinwand herstellte. Die angeeignete Fotovorlage ist von einer Fotografin namens Caufield, die Warhol noch im selben Jahr verklagte. Vgl. Bastian 2001, S. 33. 134 Die Gipsfigur ist nicht mehr vorhanden. Ihre technischen Daten sind nicht bekannt. Maculan 2004, S. 108. 135 Werk nicht mehr vorhanden. Die technischen Daten sind nicht bekannt. Ebd., S. 108. 136 Elaine Sturtevant, Stellas Benjamin More, 1964, Acryl auf Leinwand, 76 x 77,5 cm, Privatsammlung. 137 Werk nicht mehr vorhanden. Die technischen Daten sind nicht bekannt. Maculan 2004, S. 108. 138 Werk nicht mehr vorhanden. Die technischen Daten sind nicht bekannt. Ebd.

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mittelformatiges Enkaustikbild, das Flag von Jasper Johns glich,139 ein ebenfalls mittelformatiges Bild nach Vorlage Roy Lichtensteins140 und eine Zeichnung nach Vorlage Robert Rauschenbergs.141 Abbildung 30: Elaine Sturtevant, Environment, 1965, Ausstellung in der Bianchini Gallery, New York.

Wie in The American Supermarket wurden in dem Environment Sturtevants Werke aus dem Schaffen verschiedener Künstler, deren Kunstproduktion dem formalistischen Paradigma der New York School verneinend gegenüberstand, in einer konstruierten Situation inszeniert, die ihrerseits einen gewöhnlichen Ort des Alltags überzeugend zu suggerieren vermochte: das Hinterzimmer einer Kunstgalerie bzw. ein Museumsdepot.142 Zugleich zeigten die ausgestellten Kunstobjekte mehrere Gemeinsamkeiten: Sie alle waren Werke, die im Rahmen eines ästhetischen Programms anerkannte avantgardistische Neuerungen in die Kunstwelt eingeführt hatten und deren Wirkungsmacht für neue Kunstrichtungen und -theorien zu dieser Zeit deutlich wurde. Das heißt, alle repräsentierten

139 Elaine Sturtevant, Johns Flag, 1964, Enkaustik, Öl und Collage auf Soff, 121,9 x 142,2 cm, Privatsammlung. 140 Werk nicht mehr vorhanden. Die technischen Daten sind nicht bekannt. Maculan 2004, S. 108. 141 Werk nicht mehr vorhanden. Die technischen Daten sind nicht bekannt. Ebd. 142 Vgl. Lobel, Michael: „Sturtevant: Appropriation?“, in: Parkett, Nr. 75, 2005, S. 148153, hier S. 151. Zwar inszenierte das Environment kein real funktionierendes Galeriedepot, es verwies mit offener Ironie aber auf diese Situation im Alltag.

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Künstler schufen mit ihrem Werk Beispiele für eine Neudefinierung der Kunst jenseits der puristischen Kunstvorstellungen des Abstrakten Expressionismus. Bis auf Frank Stella setzten sich alle Künstler mit der populären Bildlichkeit des Alltäglichen auseinander. Und es waren alles Künstler aus der New Yorker Kunstszene,143 ausgenommen der französische Objektkünstler Arman, dessen Werk jedoch in New York bekannt war.144 Folgerichtig war die gegenwärtige Kunstwelt mit ihren neuen Tendenzen für Sturtevant von erheblichem Stellenwert. Denn die Auswahl eines konkreten Kunstwerkes bedeutete an sich eine kritische Entscheidung zwischen mehreren MöglichkeiAbbildung 31: ten innerhalb eines vielfältigen ZusammenElaine Sturtevant, Stellas Benjamin hanges, in dem die Künstlerin sich positioMore, 1964, Acryl auf Leinwand, 76 x nieren wollte. Diese Entscheidung gründete 77,5 cm. notwendigerweise auf dem Wissen um den Kontext, innerhalb dessen die angeeigneten Werke als Kunstgegenstände konstruiert worden waren, was die unmittelbare Teilnahme sowohl an der öffentli-

143 Die von Sturtevant ausgewählten Künstler waren vornehmlich von der Galerie Leo Castellis vertreten: Johns, Lichtenstein, Rauschenberg, Rosenquist, Warhol und Stella standen bei der Castelli Gallery unter Vertrag, Arman und Segal bei der Sydney Janis Gallery; Oldenburg arbeitete mit der Green Gallery und der Sydney Janis Gallery. Siehe: Abadie, Daniel: „Chronologie“, in: Arman (Paris, Galerie Nationale du Jeu de Paume, 27.01.-12.04.1998), Paris 1998, S. 187-223, hier, S. 199-201, Bancroft, Sarah: „Chronology“, in: James Rosenquist: A Retrospective (New York, Salomon R. Guggenheim Museum, 16.10.2003-25.01.2004), New York 2003, S. 368387, hier S. 375, Bastian 2001, S. 33-35, Crow 1997, S. 89-92, Prather, Merla: „Claes Oldenburg: Eine biographische Übersicht“, in: Claes Oldenburg: Eine Anthologie (Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 23.02.-12.05.1996), Ostfildern bei Stuttgart 1995, S. 1-13, hier S. 3-5 und Rubin, William: Frank Stella, New York 1970, S. 155-157. 144 Arman nahm 1962 an der Ausstellung The New Realists in der Sidney Janis Gallery in New York teil, nachdem er 1961 auch an der aufsehenerregenden Ausstellung Art of Assemblage im Museum of Modern Art beteiligt war. 1963 organisierte die Sidney Janis Gallery die erste Einzelausstellung Armans in New York. Siehe: Abadie 1998, S. 199-201.

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chen Kunstszene der Stadt als auch am geistigen Zusammenhang, der die Werke produktionsästhetisch bedingte, bedeutete.145 Somit war Sturtevants Auseinandersetzung mit der ästhetischen Möglichkeit, sich Fremdes zu Eigen zu machen, die Rezeption und Entfaltung der sich in New York manifestierenden Strategie der Aneignung, wobei die Künstlerin jener Strategie eine neue Dimension hinzuzufügen wusste, welche die Aneignung radikalisierte und zu einer selbstreflexiven Funktion der Kunst machte. Abbildung 32: Elaine Sturtevant, Warhol Flowers, 1964-65, Synthetischer Polymer, Acryl auf Leinwand, jeweils 273 x 110 cm.

145 Der große Stellenwert der direkten Nähe zur Kunstszene wird von Sturtevant nachdrücklich behauptet. Bekanntlich verkehrte sie in den sechziger Jahren mit dem Künstlerkreis um die Castelli Gallery. So wusste Castelli schon früh über die Arbeit der Künstlerin durch gemeinsame Bekanntschaften. Warhol, zum Beispiel, lieh der Künstlerin seine Siebvorlage für die Anfertigung ihrer Blumen-Paneele aus. Oldenburg war einer der intellektuellen Anhänger Sturtevants zu dieser Zeit. Vgl.: Elaine Sturtevant im Interview mit Bill Arning, in: Nusser, Uta (Hg.): Sturtevant (Stuttgart, Württembergischer Kunstverein (u.a.), 25.06.1992-27.03.1993), Stuttgart 1992, S. 818, hier S. 12 und Cameron, Dan: „A Conversation. A Salon History of Appropriation Art with Leo Castelli and Elaine Sturtevant“, in: Flash Art, Nr. 143, 1988, S. 76-77, hier S. 76.

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3.2.1 Das Environment der Aneignung Das Verhältnis zwischen der räumlichen Situation und der bis ins kleinste Detail nach dem künstlerischen Verfahren George Segals angefertigten Gipsfigur zeigt, dass die Identität der Figur und ihre Charakterisierung sowohl durch die Gestaltung des Environments als auch durch ihre darstellende Haltung in diesem bestimmt wurden. Das heißt, trotz der ersichtlichen Individualität der Figur ergab sich ihre Identität aus ihrer Aufstellung im Environment, da der unvermeidliche Widerspruch in einer mimetischen, mit markanten individuellen Zügen versehenen Plastik, die aber zugleich die distanzierende Gestalt einer farblosen, die Spuren der Herstellung enthüllenden Gipshülle eines Modells verkörpert, die Konstitution einer weltbezogenen Identität beeinträchtigt. Demnach erfüllten die umgebenden Gegenstände, die in einem Spannungsverhältnis zu der von der Gipsfigur suggerierten Handlung innerhalb der konstruierten Raumsituation standen, eine Markierungsfunktion, ohne jedoch dabei eine hierarchische Unterordnung darzustellen. Darüber hinaus erschienen die im Environment einbezogenen Objekte eben als Objekte in der Kontingenz der erschaffenen Raumsituation, die ihrerseits eine spezifische Szene des Alltags hervorzubringen beabsichtigte, so dass die in ihrer Prozesshaftigkeit eingefrorene Handlung der Figur gerade durch die Selbstbezogenheit jedes einzelnen Objektes im Raum als Handlung erkennbar war. Dabei bauten die Objekte zusammen mit der Plastik eine räumliche semantische Ganzheit, durch die suggerierte Handlung der Figur verbunden, gleichwertig auf. Die gesamte Ausführung des Environments, seine nüchterne Konzentration auf das Wesentliche einer konstruierten Situation, welche die Plausibilität eines alltäglichen Ereignisses überzeugend zur Schau stellt, ohne dabei die Künstlichkeit der Inszenierung unmittelbar anzudeuten, sowie der Verzicht auf sämtliche unwesentliche Inszenierungselemente deuten auf einen streng kalkulierten Gestaltungsmodus hin. Die Künstlerin verwendete drei unterschiedliche, aber im Environment eng miteinander verbundene Verfahren: Einerseits wurden alle Objekte bis auf den entliehenen Kleiderständer und die in Segals Manier angefertigte Gipsfigur getreu der Vorlage eines konkreten Ursprungswerkes hergestellt, was den Ausschluss jeglicher Zufallsvariabilität bzw. die strenge Beschränkung auf die ästhetischen Grenzen des Originals voraussetzte. Andererseits wurde die Gipsplastik, ohne sich auf ein konkretes Ursprungswerk zu beziehen, nach der zulässigen Variabilität innerhalb der ästhetischen Bestimmungen der etablierten plastischen Sprache Segals angefertigt, während als drittes der Kleiderständer lediglich durch die Entscheidung, in das Environment aufgenommen zu werden, mit Selbstbezogenheit versehen wurde. Diese drei Verfahren unterscheiden sich

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beträchtlich voneinander: Bei Ersterem kam es nur darauf an, die äußere Gestalt eines bereits vorhanden Kunstwerkes wiederzugeben, während das Zweite darauf abzielte, ein vollkommen neues Werk zu schaffen, welches der ästhetischen Sprache eines bestimmten Künstlers entsprechend korrekt konstruiert ist. Das dritte Verfahren, die Einbindung eines gewöhnlichen Gegenstandes in eine ästhetische Raumeinheit, ist eine konstitutive Gestaltungsfunktion des zweiten Verfahrens, insoweit das einbezogene Objekt ein Attribut der Plastik war. Da aber alle Objekte im Raum einheitlich verbunden waren, war die gesamte Inszenierung eine aus jedem Einzelteil bestehende Ganzheit, die in der eingefrorenen Handlung der Plastik verdichtet erschien, was offensichtlich dem EnvironmentKonzept Segals entsprach.146 Das bedeutet, dass das gesamte Environment Sturtevants auf formaler Ebene mit dem übereinstimmt, was die Kunst Segals ausmacht. Diese Prozedur, die in der Geschichte der Kunst zwar bekannt, aber nie als künstlerisches Vorgehen anerkannt wird, wird insofern als Fälschung bezeichnet, als ein neues Werk in der künstlerischen Sprache bzw. im Stil eines bestimmten Künstlers geschaffen wird, ohne dass der Hersteller des neuen Werkes, das seinerseits kein bereits vorhandenes wiederholt, der Person entspricht, die als Schöpfer des ausgeführten Stils gilt.147 Dementsprechend gilt die Fälschung nicht als eine künstlerische Position, da sie, wie Arthur C. Danto formuliert, „in der falschen Beziehung zu ihrem Hersteller steht und deshalb nicht als seine Aussage angenommen werden kann: Sie beansprucht nur, die Aussage von jemand anderem zu sein.“148 Da aber das Environment Sturtevants nicht beanspruchte, die Aussage George Segals zu sein, war es notwendigerweise keine Fälschung. Im Gegensatz dazu war es Sturtevants eigene künstlerische Aussage, welche auf Segals künstlerische Sprache zurückgriff, um eigene Sinnzusammenhänge auf ästhetischer Ebene zu schaffen. Dabei bot die Anwendung von Segals Environment-Kunst den Vorteil, dass diese Art von Raumgestaltung nicht nur

146 Für die Konstruktion seiner Environments bediente sich Segal alltäglicher Objekte, ohne in ihre Objekthaftigkeit einzugreifen. Diese Gegenstände wurden in den räumlichen Zusammenhang des Environments unverändert integriert, was die gewöhnlich wirkende Umgebung seiner in ihren Handlungen eingefrorenen Figuren ausmacht. Aus diesem Grund spricht Lucy Lippard bezüglich der Environments Segals von eingefrorenen Happenings. Siehe: Hawthorne/Hunter 1988, S. 39 und Lippard 1968, S. 102. 147 Siehe: Döhmer, Klaus: „Zur Soziologie der Kunstfälschung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kulturwissenschaft, Bd. 21, Nr. 1, 1978, S. 76-95. 148 Danto 1991, S. 88.

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eine Kontinuität mit der avantgardistischen Linie der Bianchini Gallery darstellte, sondern der Künstlerin auch ermöglichte, ihre einzelnen Kunstobjekte in einem mit ihrem ästhetischen Programm konsequenten Environment einheitlich zu präsentieren.149 Ähnlich dem technischen Verfahren der Fälschung150 ging die produktionsästhetische Strategie Sturtevants von einer strengen Definition des zulässigen Variationsprinzips innerhalb der ästhetischen Grenzen aus, welche die künstlerische Sprache Segals bestimmen, um ein den arbiträren Bestimmungen seiner Kunst entsprechendes Environment herzustellen. Durch diese totale Inbesitznahme des fremden Stils wird eine Entzifferung der Plausibilität seiner ästhetischen Entwicklung möglich, so dass ein echtes Werk des Künstlers sogar vorausgesehen werden kann, was der Fälschung von noch in Produktion stehender Kunst entspricht.151 Wenn man das 1967 geschaffene Werk Segals Portrait of Sidney Janis

149 Eben aufgrund der genau kalkulierten, instrumentalen Anwendung von bereits bestehender Kunst wird Sturtevants Kunstpraxis oft unter parasitär-bezogene Begriffe wie z.B. ‚strategisches Plagiat‘ subsumiert. Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001, S. 27-29. 150 Die betrügerische Absicht der Fälschung ist das, was sie zu einer rechtlich unzulässigen und somit strafbaren Aktivität macht. Dabei stellt ihr produktionstechnisches Verfahren eine hoch spezialisierte Prozedur mit zahlreichen Implikationen dar. Zu einer Diskussion um die Fälschung und ihre Beziehung zur Kunst siehe: Deecke, Thomas: „Nachahmung, Kopie, Zitat, Aneignung, Fälschung in der Gegenwartskunst“, in: Originale Echt Falsch (Bremen, Neues Museum Weserburg Bremen, 25.07.-24.10.1999), Bremen 1999, S. 9-37, Irvin, Sherri: „Appropriation and Authorship in Contemporary Art“, in: The British Journal of Aesthetics, Vol. 45, Nr. 2, 2005, S. 123-137 und Römer 2001. 151 Im Bereich der Fälschung lassen sich verschieden Kategorien beobachten. So erklärt Sherri Irvin: „Forgeries have traditionally fallen into two categories: outright copies of existing works, and pastiches, or new works that bring together elements of the style and content of […] the artist whose works are forged.“ Folglich gehört dazu die Fälschung von Kunst, die noch produziert wird, insoweit ihr Schöpfer weiter tätig ist. Dabei besteht die Möglichkeit, dass der Fälscher die logische Entwicklung der zu fälschenden Kunst richtig voraussieht und ein entsprechendes Werk herstellt: „Rather than copying works her victim has already made, her project is to predict what her victim will do next, and approximate as closely as possible the victim’s next artistic product.“ Irvin 2005, S. 127-128.

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with Mondrian Painting152 betrachtet und mit der ein Jahr früher in Paris veranstalteten zweiten Einzelausstellung Sturtevants, in der sie ein anderes Werk in Segals Manier präsentierte,153 in Bezug bringt, zeigt sich die Aneignung der künstlerischen Sprache Segals durch Sturtevant, entsprechend der Entzifferung von ästhetischer Plausibilität der Fälschung, vollkommen verwirklicht: Wie im Portrait of Sidney Janis von Segal stand in Sturtevants Pariser Environment eine weiße, nach der Gestalt eines männlichen Modells geartete Gipsplastik, die den obeAbbildung 33: ren Rand eines gegenüber stehenden Bildes George Segal, Portrait of Sidney Janis mit der linken Hand hält, während sie mit with Mondrian Painting, 1967, Mixed der rechten Hand auf der Hüfte und dem Media: Gips, Holz, Leinwand, 177 x Kopf ein wenig nach vorne gebeugt das Bild 143 x 69 cm. betrachtet. In Segals Werk ist dieses Bild ein auf einer Staffelei montierter Mondrian. Im Environment Sturtevants handelt es sich um einen auf den Boden gestellten Wesselmann. Trotz aller ausführungsinhärenten Unterschiede154 stellen beide voneinander unabhängigen Werke ge-

152 George Segal, Portrait of Sidney Janis with Mondrian Painting, 1967, Mixed Media: Gips, Holz, Leinwand, 177 x 143 x 69 cm, The Museum of Modern Art, New York. 153 Dieses Environment, die erste Ausstellung Sturtevants in Europa, fand 1966 in der Pariser Galerie J statt. Wie in der Bianchini Gallery gestaltete Sturtevant dort ein Environment im Stil von Segal mit selbsthergestellten Werken zeitgenössischer Künstler wie Lichtenstein, Oldenburg, Rosenquist und Wesselmann. Siehe: Maculan 2004, S. 108. 154 Die ausführungsinhärenten Unterschiede entsprechen der individuellen Gestaltung jedes Werkes unabhängig von seiner Richtigkeit gegenüber einem spezifischen Stil. Hinsichtlich der Möglichkeit, dass zwischen einem Original und einer stilistisch korrekten Fälschung ästhetische Unterschiede bestehen, erklärt Nelson Goodman, die kognitive Dimension der Rezeption enthüllend: „Obwohl ich die Bilder jetzt durch bloßes Anschauen nicht auseinanderhalten kann, konstituiert die Tatsache, dass das linke das Original und das rechte eine Fälschung ist, […] einen ästhetischen Unterschied zwischen ihnen, weil das Wissen um diese Tatsache als Grund dafür gilt, dass

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nau dieselbe Situation auf die gleiche Weise und im selben Stil dar. Sie sind daher die formale Manifestation derselben künstlerischen Sprache, der sich Sturtevant für die formale Gestaltung ihrer ersten Environments programmatisch bediente. So war das Pariser Environment die Fortsetzung einer bewusst ausgewählten Strategie, die Sturtevant 1965 in der Bianchini Gallery zum ästhetischen Programm machte. Abbildung 34: Elaine Sturtevant, America America, 1966, Ausstellung in der Galerie J, Paris.

Diese der Fälschung ähnelnde Strategie, die eben aufgrund der äußeren Nähe als eine von ihrer Zweckbestimmtheit entfremdete Fälschung wirkt, ist ein ästhetisches Verfahren, dessen Grundbestimmung die Aneignung ist, wobei Aneignung sowohl Mittel als auch Zweck ist. Denn sie ist nicht nur die totale Inbesitznahme eines fremden Stils, was die grundlegende Voraussetzung ihrer Zwecksetzung darstellt. Sie ist auch an sich die zu vermittelnde Botschaft auf ästhetischer Ebene, das heißt ihre ontologische Notwendigkeit als Kunst, kraft derer die Aneignung als Mittel in ihrer Wirkung begründet ist. Folglich hat die Strategie, die Sturtevant bei der Gestaltung ihres Environments in der Bianchini Gallery anwendete, sowohl eine instrumentelle als auch eine konzeptuelle Funktion. Als Instrument ist sie buchstäblich Aneignung von Fremdem: die Durchdringung und der Erwerb einer bestimmten künstlerischen Sprache durch intensives Studium zwecks deren unabhängigen, korrekten Gebrauchs. Als Konzept ist sie eine ästhetische Determination, deren ontologische Notwendigkeit darin besteht, das

es möglicherweise einen Unterschied zwischen ihnen gibt, den zu sehen ich lernen kann, […].“ Goodman 1997, S 106.

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Fremde als Eigenes zur Kunst zu machen. Dabei knüpfte das künstlerische Programm Sturtevants an die jüngste Ausprägung der ästhetischen Strategie der Aneignung in New York an, wobei die Ausstellung The American Supermarket als Katalysator eine zentrale Rolle spielte. Denn dieses Environment thematisierte die von Johns und Warhol entscheidend geprägte Möglichkeit der Aneignung bis hin zu deren phänomenologischer Auflösung: Durch die ästhetische Verwischung der phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit konnten sowohl Alltagsgegenstände als auch in ihrer eigenen Programmatik vollendete Objekte zeitgenössischer Kunst aus der ursprünglichen Kontingenz ihres Bestehens als Ding oder als Schöpfung eines spezifischen Künstlers entzogen und in einen neuen Zusammenhang mit Werkcharakter und somit mit eigenen Sinndimensionen eingeführt werden, was an sich eine tautologische Repetition der von den Kunstexponaten vermittelten Botschaft der Aneignung von Fremdem, bereits Vorhandenem ist. In diesem Zusammenhang erweist sich die Aneignung der künstlerischen Sprache Segals durch Sturtevant als eine tautologische Funktion der Aneignung als ästhetisches Konzept, das Sturtevant in seiner New Yorker Ausprägung übernahm und zum Kern ihres künstlerischen Programms machte. 3.2.2 Das Objekt der Aneignung Unter den in das Environment einbezogenen Objekten befand sich ein emblematisches Werk mit dem Titel Johns Flag, Sturtevants erste Arbeit.155 Dieses Objekt gleicht augenscheinlich und bis auf geringe Formatunterschiede156 dem 1954-55 geschaffenen Werk Jasper Johns’ mit dem Titel Flag. Genau wie seine Vorlage wurde das Bild Sturtevants auf einem Collage-Untergrund realisiert und wie diese folgte es einem dreiteiligen Muster, wobei das Objekt Sturtevants im Gegensatz zum Ursprungswerk auf einer einzelnen Leinwand realisiert wurde:157 Im linken oberen Teil befindet sich auf ungefähr einem Viertel der gesamten

155 Der Stellenwert dieses Werkes im gesamten Oeuvre Sturtevants ist nicht hoch genug anzusetzen. Denn ungeachtet der Tatsache, dass dieses Objekt das erste hergestellte Werk der Künstlerin ist – zuvor hatte sie nur ein kleineres Anschauungsmodell angefertigt (Maculan 2004, S. 44), vermag es den konzeptuellen Zusammenhang ihres künstlerischen Programms und ihre kunsthistorische Situierung exemplarisch zu veranschaulichen. 156 Das Bild Sturtevants misst 121,9 x 142,2 cm, das Werk Johns’ 107,3 x 153,8 cm. 157 Im Gegensatz zu Johns’ Werk, das tatsächlich aus drei Teilen besteht, werden diese drei Bereiche in Sturtevants Bild äußerlich suggeriert. Siehe: Maculan 2004, S. 44.

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Bildfläche ein blaues Rechteck mit achtundvierzig symmetrisch geordneten, weißen Sternen; daneben steht ein weiteres, etwas breiteres Rechteck mit sieben roten und weißen, parallel übereinander angeordneten Streifen, während im unteren Bereich ein einzelnes Bildfeld zu sehen ist, das aus sechs langen, roten und weißen Streifen besteht. Das technische Verfahren zur Herstellung des Objektes glich ebenfalls bis ins kleinste Detail der von Johns entwickelten Technik.158 Die Beschaffenheit dieses komplexen, mit heißem Wachs operierenden Verfahrens ermöglichte sowohl die Betonung der Materialität und Plastizität des Mediums selbst als auch eine variable Durchsichtigkeit, welche den collageartigen Papieruntergrund beider Werke zu enthüllen vermag. Nach detaillierter Betrachtung der Oberfläche des Bildes Sturtevants wird ersichtlich, dass die Künstlerin nicht nur die Ausdrucksmöglichkeiten dieses schwer handhabbaren Verfahrens zu nutzen wusste, sondern auch eine plastische Eigenständigkeit innerhalb der streng geschlossenen Willkürlichkeit des Mediums erreichen konnte. Dies lässt sich bei einem genauen Vergleich mit Johns’ Kunstarbeit beobachten: Während in Johns’ Werk die Papierfragmente im Allgemeinen rechtwinklig platziert sind,159 erweisen ihre Gegenstücke in Sturtevants Bild keine dominierende Ordnung, was damit zusammenhängt, dass im Bild der Künstlerin die zerschnittenen Papierteile wesentlich größer und in ihrer collageartigen Struktur weniger auffällig sind als in Johns’ Bild. Zudem sind auf dem Untergrund von Johns’ Werk die mit Wachs durchtränkten Papierstücke enger aneinander angebracht. Die Untergrund-Collage beider Werke, auf welche noch weitere farbige Wachsschichten unterschiedlicher Dichte aufgetragen wurden, um die monochrome Intensität jeder collageartigen Farbzone zu akzentuieren, erzeugt eine einheitliche Oberfläche, welche die Struktur jedes Farbbereiches im Bild eingrenzt. Beim Vergleich beider Werke offenbart die plastische Wechselwirkung zwischen dem collageartigen Untergrund und den Malschichten im Vordergrund wichtige Unterschiede: Während die mit pastosen aber wenig pigmentierten, abwechselnd auch mit dünnen farbigen Wachsschichten bearbeitete Oberfläche von Johns’ Bild die Beschaffenheit einer verborgenen aber erkennbaren Collage subtil enthüllt,160 zeigt das Bild Sturtevants durch die mit Pigment sehr verdichteten obe-

158 Sturtevant benutzt für die Produktion ihrer Objekte immer dieselben Techniken der Originale. Siehe: Cameron 1988, S. 76 und Sturtevant, Elaine: „Innere Sichtbarkeiten“, in: René Magritte. Die Kunst der Konversation (Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 23.11.1996-02.03.1997), München/New York 1996, S. 226229, hier S. 226-227. 159 Vgl. Orton 1998, S. 160. 160 Vgl. ebd., S. 162-164.

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ren Wachsschichten eine malerische Wechselwirkung zwischen Vordergrund und Untergrund, was die Plastizität der Oberfläche stark akzentuiert, nicht aber die Untergrund-Collage, die als solche eher verborgen bleibt. Abbildung 35: Elaine Sturtevant, Johns Flag, 1964, Enkaustik, Öl und Collage auf Soff, 121,9 x 142,2 cm.

Bei Johns’ Enkaustik-Methode ist die Geschichte der Herstellung des Werkes deutlich ablesbar; seine Vergangenheit ist daher Teil seiner gegenwärtigen Kontingenz als Objekt, was unausweichlich seine Identität als Kunstwerk durchdringt. Infolgedessen ist die bei dem Herstellungsverfahren entstandene Werkbeschaffenheit als Produkt einer individuellen Handlung in ihrer Akzidentalität sehr spezifisch. Jedes Werk ist demnach von der Einmaligkeit seiner eigenen Geschichte gekennzeichnet, wobei die Vorexistenz des in seiner eigenen Programmatik verwirklichten Ursprungswerkes den Handlungsraum der plastischen Akzidentalität des zweiten Werkes definierte. So bestand der Grad ästhetischer Selbstständigkeit im Werk Sturtevants in der am Ursprungswerk selbst ablesbaren Geschichte von dessen Herstellungsprozess, was auf die spezifische Rezeption von Flag durch Sturtevant hindeutet. Aus diesem Grund ergaben sich in beiden Werken konkrete Akzentunterschiede, die nicht nur mit der performativen Akzidentalität der malerischen Handlung, sondern auch mit Sturtevants individueller Lektüre der Beschaffenheit des Ursprungswerkes zusammenhängen. Diesbezüglich ist festzustellen, dass Sturtevant das Werk Johns’ entgegen der heutigen Rezeption161 mehr als Malerei denn als Collage oder Objekt deutete. Ebenfalls maß sie dem wenig auffälligen, aber bedeutsamen Assemblage-

161 Flag entzieht sich einer einseitigen Reduktion. Siehe in der vorliegenden Studie: „Jasper Johns und die ästhetische Gestalthaftigkeit des Bildobjektes“, S. 159-182.

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Charakter des Bezugswerkes keine allzu große Bedeutung bei. Nichtsdestotrotz sind diese Unterschiede nicht unmittelbar zu erkennen. Sie können nur durch genaue Beobachtung und direkten Vergleich nachgewiesen werden, was als Bedingung in einer normalen Ausstellungssituation nicht gegeben ist. Das heißt, wenn von vornherein keine gründliche Kennerschaft über das Ursprungswerk vorhanden ist, sind dem Betrachter, der keinen direkten Vergleich mit dem Werk Johns’ durchführen kann, diese Unterschiede im geschlossenen Kontext eines Environments oder einer Ausstellung nicht zugänglich.162 Aufgrund der Gestaltung des dem Werk Johns’ augenscheinlich gleichenden Objektes Sturtevants behaupten beide Werke auf phänomenologischer Ebene die gleiche Art von Beziehung zur äußeren Welt, insoweit sie dieselbe ästhetische Entität zu vergegenständlichen scheinen. Dabei liegt die eigentliche Gemeinsamkeit beider Kunstwerke, das heißt der spezifische Bezug von Sturtevants Werk zu Flag, nicht in der äußeren Gestalt ihrer Erscheinung, sondern in der ästhetischen Strategie, die sie als Kunst ermöglichte: die ästhetische Strategie der Aneignung. Denn Johns’ strategischer Rückgriff auf bereits bestehende Objekte, für den Flag das paradigmatische und zugleich berühmteste Beispiel darstellt, war in seiner ästhetischen Funktion die maßgebende Referenz für die Aneignungsstrategie Sturtevants, was nicht nur das produktionsästhetische Vorgehen der Künstlerin sichtlich zu erkennen gibt, sondern auch in der Tatsache verdeutlicht erscheint, dass ihr künstlerisches Wirken eben mit diesem paradigmatischen Werk begann.163 Dabei war der Beitrag der Künstlerin eine tautologische Steige-

162 Die Behauptung Sturtevants, dass ihre Arbeiten exakte Wiederholungen bereits vorhandener Kunstwerke seien (Cameron 1988, S. 76, Sturtevant 1996, S. 226), lässt sich nicht bestätigen. Denn ihre Objekte weichen tatsächlich von den Ursprungswerken ab, wobei der Bekanntheitsgrad dieser Werke zu einer unmittelbaren Identifikation führt. In diesem Zusammenhang erklärt Lobel treffend, dass der Anschein von Gleichheit, was die ersten Ausstellungen der Künstlerin anbelangt, eben an dem ‚Bekanntheitsgrad‘ lag, „den Werke der Pop-Art damals erreicht hatten: Sie waren zu veritablen Markenartikel geworden, so dass selbst eine signifikant abgeänderte Version für das Originalwerk stehen könnte.“ Lobel 2005, S. 153. 163 Sturtevants Entscheidung, ihre Kunstproduktion auf Aneignungsbasis zu entwickeln, war das Ergebnis einer genauen Analyse der Situation der Kunstwelt in den sechziger Jahren, so dass die Auswahl von Flag eine durchdachte Entscheidung war. Auf die Frage, wie sie dazu kam, antwortete die Künstlerin in einem Interview: „Die Entscheidung fiel allerdings auch nicht plötzlich, sondern langfristig und reflektiert. Es war keineswegs so, dass ich eines Morgens aufwachte und sagte: Oh wow, das mach’ ich jetzt! […] Es geschah langfristig, ein Prozess inneren Nachdenkens ver-

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rung: Anstatt auf ein Symbol zurückzugreifen, was Johns als Künstler in der New Yorker Kunstszene berühmt machte, bediente sich Sturtevant eines Kunstwerkes, eben des Werkes, das die ästhetische Möglichkeit der gestaltenden Appropriation exemplarisch ausgebaut hatte. In beiden Fällen handelt es sich bei dem angeeigneten Gegenstand um ideologisch konnotierte Hervorbringungen, die als menschliche Kulturschöpfungen einen Weltbezug verkörpern und daher mit Sinngehalt versehen sind, so dass sie interpretierbar sind. Somit war die Fokussierung auf Johns’ Kunstwerk eine rezeptionsästhetische Handlung, kraft derer eine hermeneutische Auslegung seiner ästhetischen Dimensionen stattfand. Die Aneignung der Aneignungsstrategie Johns’ durch Sturtevant blieb innerhalb der von Johns festgelegten Paramater formaler Gestaltung: Das anzueignende Objekt wurde entsprechend der Normativität, die seine formale Erscheinung bestimmt, vom Künstler selbst hergestellt, was sich von der ursprünglichen Aneignung Duchamps – des geistigen Vaters dieser Strategie – naheliegend unterscheidet. Das heißt, sowohl für Johns als auch für Sturtevant stellt die stoffliche Vergegenständlichung des Kunstobjektes die unabdingbare Voraussetzung für die Kunsterschaffung dar, wonach die ästhetische Botschaft des jeweiligen Kunstprogramms durch das geschaffene Objekt vermittelt werden soll. Diese ästhetische Verdinglichung der Aneignung hat jedoch eine unterschiedliche Gewichtung: Bei Johns ist die materielle Vergegenständlichung des Kunstobjektes eine Auseinandersetzung mit dem Medium selbst und mit der Möglichkeit, eine spezifische Form von Immanenz als Kunst zu gestalten, so dass das geschaffene Objekt in seiner Dinglichkeit wesentlich und unwiederholbar ist. Im Gegensatz dazu ist das Kunstobjekt bei Sturtevant die Bedingung für die Ausführung eines ästhetischen Programms, wonach das Kunstobjekt in seiner Funktion unabdingbar, aber in seiner spezifischen Kontingenz unwesentlich und somit wiederholbar ist:164 Solange die dem Kunstobjekt zuerkannte Funktion im Rahmen des äs-

bunden mit vielerlei anderen Überlegungen. In den sechziger Jahren war alles so an der Oberfläche, so seicht und flach, man wollte das starke Bild. Wir hatten bereits Duchamp, der unsere Vorstellung über Kunst erweiterte. Mir schien, dass in der Kunst noch mehr enthalten sein musste. Im Grunde genommen wollte ich ein Mittel finden, mit dem ich über eine eher interne Ebene von Kunst sprechen könnte. Durch solcherlei Gedankengänge ist meine Arbeit dann zustande gekommen.“ Elaine Sturtevant im Interview mit Bill Arning, in: Nusser 1992, S. 8. 164 In Sturtevants Worten heißt es: „Das Objekt ist zwar erforderlich, aber nicht wesentlich.“ Ebd., S. 14.

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thetischen Programms erfüllt wird, kann das Objekt in seiner formalen Kontingenz durch ein anderes ersetzt werden.165 Diese unterschiedliche Gewichtung der ästhetischen Funktion des Objektes deutet auf die maßgebliche Differenz zwischen beiden Werken hin: ihre ideelle Struktur. Denn kraft dieser immateriellen Ebene sind beide gleich wirkenden Artefakte in ihrem Wesen vollkommen unterschiedlich, obwohl sie derselben ontologischen Klasse angehören: Sie sind ex aequo Kunstwerke, aber mit unterschiedlichen Sinndimensionen. So ist Johns’ Kunstwerk das Resultat eines ästhetischen Ansatzes in Bezug auf die verdinglichenden Möglichkeiten des Bildes, was sich als klare Antwort auf den damaligen Status der Kunst erweist: Es setzte sich mit der Krise des Motivs und den zwingenden Paradigmen des Formalismus auseinander und richtete dabei die Aufmerksamkeit auf den Alltag als Quelle produktionsästhetischer Gestaltung. Das Werk Sturtevants hingegen hat keinen Bezug zur Krise des Motivs der fünfziger Jahre oder zum Formalismus. Dementsprechend hat es mit dem Alltag als Quelle produktionsästhetischer Gestaltung nur insoweit zu tun, als die Kunstwelt ein reduziertes Segment des Alltags darstellt. Was den Sinnzusammenhang des Werkes Sturtevants konstituiert, ist die strikte Fokussierung auf die Aneignung als gestaltende Funktion des Kunstwerkes, wobei die Geste der Aneignung über das Objekt hinaus ästhetische Ansprüche erhebt. Diesbezüglich erklärt die Künstlerin: „To find a way to use an object that would not present itself as an object, that would at the same time talk about the structure of aesthetics as the idea, that was what I was going for.“166 Damit positioniert sich Sturtevant bewusst in der ästhetischen Tradition Duchamps, insoweit sie, auf stoffliche Erzeugnisse zurückgreifend, eine nicht auf das Visuelle reduzierbare Kunst programmatisch befürwortet. In diesem Zusammenhang zeigt sich deutlich, dass die Strategie der Aneignung bei Johns und Sturtevant trotz der Anwendung des gleichen Verfahrens eine unterschiedliche Rolle spielt. Während bei Johns die Aneignung ein Mittel für die Produktion eines neuartigen Werktypus in einem spezifischen kunsthistorischen Kontext ist, ist sie bei Sturtevant die ästhetische Determination, die durch den Einsatz bestimmter zweckgerichteter Mittel programmatisch verfolgt wird.

165 Aus diesem Grund pflegt Sturtevant bereits realisierte Werke erneut zu schaffen. So bestehen allein von Johns Flag sechs in verschiedenen Jahren ausgeführte Versionen: jeweils 1965, 1966, 1966, 1967-68, 1991, 1991. Maß und Format sind jedoch nicht gleich, wobei das in der Bianchini-Ausstellung präsentierte Objekt und eines von 1991 sich in Format, Maß und Bearbeitung – dem Ursprungswerk von 1954-55 entsprechend – am meisten gleichen. Siehe: Maculan 2004, S. 44-46. 166 Sturtevant im Gespräch mit Dan Cameron. Cameron 1988, S. 77.

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Das heißt, Sturtevant macht die Möglichkeit der Aneignung zum bestimmenden Faktor ihrer Kunst sowohl auf formaler als auch auf konzeptueller Ebene. Dadurch gelingt es ihr, nicht nur Kunstgegenstände herzustellen, die als Synthese der Aneignungsfunktion zur Rezeption dargeboten werden, sondern auch zentrale Aspekte der Ästhetik polemisch zu thematisieren, was einen wesentlichen Teil der Botschaft des ästhetischen Programms der Künstlerin darstellt. Demzufolge ist die Aneignung bei Sturtevant kraft ihrer programmatischen Zweckbestimmung sowohl die instrumentelle Voraussetzung für die Konstitution des Objektes – die äußere Gestalt und die Technik des Ursprungswerkes müssen gänzlich angeeignet werden, um die stoffliche Kontingenz des anzueignenden Werkes herstellen zu können – als auch das konzeptuelle Prinzip, nach welchem die Aneignung von Kunstobjekten als Kunst erfasst wird. Dieses Prinzip seinerseits gründet auf der auf Duchamp zurückzuführenden und von Johns und Warhol aktualisierten Vorstellung, dass Kunst auch durch Aneignung von Fremdem möglich ist, wobei Sturtevant die Allgemeinheit des Fremden eingrenzt und auf den Bereich der Gegenwartskunst beschränkt. Diese selbstreferentielle Geste – die Aneignung von Kunst als Kunst – geht über die vorangegangene Praxis der Aneignung hinaus und fügt dieser ästhetischen Strategie eine neue Dimension konzeptueller Natur hinzu: Sturtevant thematisiert zwar ästhetische Aspekte, die mit der Strategie der Aneignung notwendigerweise verbunden sind und die Duchamp, Johns und Warhol richtungsweisend problematisiert hatten, wie zum Beispiel die Auffassung von Aura, Authentizität, Autonomie, Autorschaft, Echtheit, Kreativität, Originalität, Ursprünglichkeit etc.;167 sie eröffnet aber zusätzlich eine ästhetische Beziehung zur Kunst auf selbstreferenzieller Basis, indem sie Kunst zum Mittel von deren eigenem Zweck macht, was eine neue Dimension ästhetischer Sinnhaftigkeit bedeutet. So bestehen die ästhetischen Sinndimensionen, die Sturtevant mit ihrer Arbeit herzustellen vermag, in dem programmatischen Rückgriff auf die Gegenwartskunst. Denn diese auf der Prämisse einer Idealität der Kunst basierte Selbstreferenzialität, die in ihrer Form eine tautologische Steigerung der Aneig-

167 Da die Definition dieser traditionellen Begriffe der Ästhetik mit dem ästhetischen Angriff der Avantgarde radikal erweitert wurde, war ihr Verständnis in den sechziger Jahren sehr weit gefasst, so dass der Versuch, sie zusätzlich auszuweiten, ein avantgardistisches Nachspiel war. Sturtevant verstand diese Möglichkeit als Teil ihres ästhetischen Programms: „Es war mir darum zu tun, die heutigen ästhetischen Vorstellungen zu erweitern, die Originalitätskonzepte und deren Beschränkungen zu sondieren, […]. Ich spreche hier über die Kraft und Autonomie der Originalität und die Macht und Allgegenwart der Kunst.“ Sturtevant 1996, S. 226.

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nungsstrategie ist, behauptet das ästhetische Prinzip, dass Kunst nicht allein auf ihre materielle Beschaffenheit zu reduzieren ist, da sie von ihren immateriellen Komponenten strukturell bedingt ist.168 Sturtevant vermochte dies entgegen aller formalistischen, objektbezogenen Kunstauffassung deutlich vor Augen zu führen, was an sich den künstlerischen Beitrag ihres ästhetischen Programms ausmacht: Flag von Jasper Johns und Johns Flag von Elaine Sturtevant sind zwei äußerlich gleich wirkende Kunstwerke, sie sind aber nicht dasselbe Kunstwerk und bedeuten folglich auch nicht dasselbe, infolgedessen ist ihre spezifische Identität als Kunst eine immaterielle Funktion, kraft derer die Stofflichkeit des Objektes zu Kunst werden kann.169 3.2.3 Die immaterielle Ebene Die programmatische Befürwortung einer Idealität der Kunst beinhaltet notwendigerweise die Vorstellung, dass das Kunstwerk nicht ausschließlich aus dem Material besteht, aus dem es konstruiert ist.170 Das impliziert, dass Kunstwerke über ihre materielle Erscheinung hinaus immaterielle Eigenschaften besitzen, die den reinen Dingen – das heißt Gegenstände ohne Kunststatus – fehlen, und dass

168 Über die Idealität der Kunst erläutert Richard Wollheim Folgendes: „Die Idealtheorie lässt sich in drei Theoremen fassen. Erstens, dass das Kunstwerk aus einem inneren Zustand oder einer inneren Verfassung des Künstlers besteht, die als Intuition oder Ausdruck benannt wird; zweitens, dass dieser Zustand nicht unvermittelt oder gegeben ist, sondern Produkt eines Prozesses, der dem Künstler eigentümlich ist und zu dem Artikulation, Organisation und Vereinheitlichung gehört; drittens, dass die so entwickelte Intuition in offener Form entäußert werden kann, wobei wir den Artefakt erhalten, der zwar häufig, aber fälschlicherweise für das Kunstwerk gehalten wird, wobei er es aber nicht zu sein braucht.“ Wollheim, Richard: Objekte der Kunst, Frankfurt am Main 1982, S. 44-45. 169 In Zusammenhang mit den immateriellen Dimensionen des Werkes Sturtevants erklärt Bruce Hainley treffend: „Sturtevants Projekt stellt den Primat der visuellen Illusion infrage […]. Sie verfolgt dieses Ziel vielmehr durch ihre repetitive Vorgehensweise, die es ihr gestattet zu zeigen, dass das Ästhetische bereits von jeher durch das strukturiert und determiniert worden ist, was dem Bereich des Nichtvisuellen, des dem Auge Verborgenen, des Unsichtbaren und bloß Gedachten zugerechnet wurde.“ Hainley, Bruce: „Löschen und Wiederholen“, in: Sturtevant. Shifting Mental Structures (Berlin, Neuer Berliner Kunstverein, 09.03-21.04.2002), Ostfildern-Ruit 2002, o. S. 170 Vgl. Danto 1991, S. 23.

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diese Eigenschaften in der gedanklichen Struktur des Werkes liegen.171 Kraft dieser gedanklichen Struktur können konkrete Gegenstände ohne künstlerische Eigenschaften per se über ihre materielle Erscheinung hinaus zu Kunst werden: die Readymades, während reine Dinge, die diesen Gegenständen äußerlich gleichen, es nicht vermögen, da sie die unerlässlichen, der Kunst innewohnenden immateriellen Eigenschaften nicht besitzen. Dementsprechend können zwei gleich aussehende Kunstwerke eine vollkommen unterschiedliche, gedankliche Struktur aufweisen, kraft derer sie verschiedene Kunstwerke sind. Da aber die Möglichkeit, dass zwei ästhetische Artefakte sich äußerlich gleichen, zwangsläufig bedeutet, dass ein Artefakt dem anderen historisch vorangeht, wonach das erste das Vorbild des zweiten ist, muss das zweite Werk notwendigerweise eine eigene gedankliche Struktur haben, um überhaupt Kunststatus beanspruchen zu können; denn anderenfalls wäre es kein Kunstwerk, sondern lediglich eine Kopie, eine Fälschung oder eine mechanische Wiederholung, das heißt ein Gegenstand von einer anderen ontologischen Klasse.172 Somit setzt die künstlerische Aneignung eines Kunstwerkes voraus, dass seine gedankliche Struktur bzw. seine immaterielle Ebene entfremdet wird, damit an ihrer Stelle eine neue errichtet

171 Vgl. ebd., S. 22-23. 172 Die Wiederholung eines autographischen Werkes durch seinen eigenen Schöpfer gilt als eine Version des früheren Kunstwerkes und vermag ebenfalls Kunststatus zu beanspruchen. Das ist aber nicht der Fall bei Wiederholungen durch Fremde. Denn diese sind nicht die ästhetische Aussage ihres Herstellers, so dass sie einen anderen Status entweder als Fälschung oder Kopie aufweisen. Diese Praktiken stellen das Phänomen verwechselbarer Gegenstände dar, die wie Kunstwerke aussehen, ohne wie diese zu sein. Sie belegen jedoch die Tatsache, dass die Identität der Kunstwerke nicht allein auf immanente Qualitäten reduzierbar ist, denn solche Qualitäten können nachgemacht werden, nicht aber die immateriellen Dimensionen des Kunstwerkes: Sie sind mit dem ästhetischen Programm, mit der individuellen Produktionsgeschichte und mit der spezifischen Beziehung des Kunstwerkes zu einem konkreten Künstler verbunden. Das bedeutet, dass die immanenten Qualitäten eines Werkes insoweit einmalig sind, als sie dem Schaffen eines realen Künstlers angehören. Eine Kopie bzw. Fälschung mag zwar die immanenten Qualitäten eines bestimmten Werkes täuschend wiedergeben, ist aber von ihrer eigenen Zwecksetzung gezwungen, eine autorlose Konstruktion zu sein, um ihre Bestimmung als Kopie oder Fälschung zu erfüllen. In diesem Zusammenhang erklärt Danto: „Die Kopie zeigt lediglich die Weise, wie das Kunstwerk seinen Inhalt präsentiert, ohne dies selbst in einer Weise zu zeigen, die etwas erreichen will: Sie zielt auf einen Zustand reiner Transparenz.“ Danto 1991, S. 225.

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werden kann, was von der Stringenz des sie bedingenden Kunstprogramms bzw. von der Zwecksetzung des aneignenden Künstlers abhängig ist. Dementsprechend beabsichtigte Sturtevant von Anfang an, Kunstwerke zu schaffen, deren immaterielle Dimensionen über den Inhalt der Ursprungswerke hinaus eine eigene ästhetische Sinnhaftigkeit behaupten, so dass sie – ihrem ästhetischen Programm gemäß – nicht auf ihre stoffliche Immanenz reduziert werden können. Dies entspricht einer Kunstform, welche die gedanklichen Komponenten der Kunst zum ästhetischen Programm macht. So präzisiert Sturtevant hinsichtlich der programmatischen Betonung des Immateriellen in ihrer Kunst: „Der Inhalt bezieht sich nicht mehr auf das Sichtbare, sondern verweist auf das Unsichtbare, das in tiefere Schichten vorstößt: einen inneren und stillen Raum. Dieses drastisch verzerrte Verhältnis von Bild zu Konzept ist es, was die Dynamik vom Sichtbaren auf das Unsichtbare verlagert.“173 Dabei ist das Kunstobjekt eine formale Konsequenz der gedanklichen Struktur, in der es verankert ist. Das Objekt ist also die tautologische Erscheinung eines Konzeptes im realen Raum.174 Nichtdestotrotz ist Sturtevants Programm kein rein konzeptuelles, denn es benötigt auf struktureller Ebene die materielle Erscheinung des Objektes. Demnach erweist sich die Materialität des Objektes als die immanente Kontingenz einer ideellen Notwendigkeit. Sturtevants Betonung der immateriellen Ebene der Kunst durch Aneignung entspricht dem in den sechziger Jahren wachsenden Interesse an der Möglichkeit, das ästhetische Objekt jenseits der Paradigmen einer strikt objektbezogenen Kunst zu gestalten. Dabei eröffnet die Strategie der Aneignung entgegen der formalistischen Kunstauffassung eine künstlerische Funktion, die imstande ist, die ontologische Klasse der Dinge durch ästhetische Ideen zu verwandeln, wodurch die Möglichkeit empirischen Erkennens in Bezug auf Kunst problematisiert wird: Die Bestimmung des Kunstwerkes ungeachtet seiner immateriellen Dimensionen, zu denen seine gedanklichen Komponenten, sein ästhetisches Programm, seine Beziehung zum Künstler sowie seine Verankerung in der Kunstgeschichte gehören, erweist sich im Hinblick auf die Strategie der Aneignung als unzureichend. Die Aneignung ist somit eine objektgebundene Strategie, durch

173 Sturtevant 1996, S. 227. 174 Hainley erklärt diese Problematik aus einer anderen Perspektive, wobei er auch über die Struktur der Kunst und die Entmaterialisierung des Visuellen spricht: „Durch ihre Erkundung dessen, was die Struktur der Kunst und unsere Begegnung mit ihr ausmacht, dematerialisiert Sturtevant gewissermaßen den Primat des Objektes und des Visuellen. Dabei distanziert sie sich jedoch nicht etwa von dem Objekt, den Methoden seiner Herstellung oder gar dessen visuellen Charakter.“ Hainley 2002, o. S.

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welche die immaterielle Ebene der Kunst als ästhetisches Programm zum Ausdruck kommen kann. Sie beweist, dass Kunst nicht allein auf die Gestalt ihrer Erscheinung reduziert werden kann; denn diese Erscheinung ist im Grunde die verdinglichte Manifestation ihrer Möglichkeit: die Ideen.

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D IE M ACHT

DES

K ÜNSTLERS

Die Strategie der Aneignung steht der traditionellen Vorstellung von Autorschaft und Originalität insoweit konträr gegenüber, als die Appropriation von bereits vorhandenen Artefakten oder Kunstwerken sich deren Gestaltursache entzieht, wobei eine andere Art kausaler Beziehung zum Objekt besteht: die ästhetische Verklärung: Der Künstler bewirkt, dass die Existenz einer fremden Hervorbringung, mit deren ursprünglicher Gestalt er in keiner kausalen Beziehung steht, zum eigenen Kunstobjekt wird. Die schöpferische Entscheidung, das Fremde aus seinem Ursprungszusammenhang herauszunehmen, um es in seinem Wesen – nicht jedoch in seiner ursprünglichen Gestalt – neu zu konfigurieren, ist eine ästhetische Determination, deren Grundbedingung auf den Künstler zurückzuführen ist. Demnach stellt der Künstler die grundlegende Instanz der Möglichkeit der Aneignung als Kunst dar. Eine traditionelle Definition der Rolle des Künstlers hinsichtlich seiner Werke besagt, dass „jede Einzelheit in einem Kunstwerk letzten Endes das Resultat einer Entscheidung ist, die der Künstler treffen musste.“175 Demgemäß ist das Kunstwerk ein Ort, in dem die Geschichte einer Verkettung von Entscheidungen aus der Willensfreiheit eines Individuums heraus dokumentiert ist. Das bedeutet, dass die Autorschaft als Funktion aus der materiellen und zugleich immateriellen Mitwirkung eines Subjektes an einem Objekt resultiert: Der Künstler stellt nach seiner willkürlichen Kunstanschauung ein Werk her, aus dessen Materialität die Erscheinung einer Immaterialität abzulesen ist, die ihrerseits das „Werk von anonymen Massenproduktionen bzw. von kunsthandwerklichen Objekten zu unterscheiden erlaubt und darüber hinaus einem hermeneutischen Prozess einbindet, in dem dieses als Produkt individueller Tätigkeiten begriffen wird, die sich in ihm selbst […] niederschlagen.“176 Diese Definition gewann in der Moderne

175 Gombrich, Ernst: „Von der Kunst und den Künstlern“, in: ders., Das Gombrich Lesebuch, Berlin 2003, S. 65-81, hier S. 73. 176 Herta Wolf formuliert dies im Hinblick auf die kunsthistorisch etablierte Definition von Autorschaft, welche einen für die Kunstgeschichte wesentlichen immateriellen Bestandteil des Kunstwerkes als Ganzes darstellt. Demgegenüber steht das Konzept

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eine spezielle Prägung, die sich durch das Streben nach einer vom Künstler motivierten Diskontinuität hinsichtlich einer etablierten Tradition, also durch die Suche nach neuen Grundlagen in der Kunst auszeichnete, was notwendigerweise auf einem kontinuierlichen Hinterfragen des Etablierten gründete.177 Diese Auffassung impliziert, dass das Vollbringen von Neuerungen jenseits der Tradition die Leistung des Künstlers bzw. seine Rolle als Schöpfer legitimiert. Greenberg proklamierte es lakonisch und programmatisch: „Die Künstler unterscheiden sich letzten Endes genau dort, wo der abgesicherte Geschmack endet.“178 Da aber die Kunst der Moderne – ihrer Tradition gemäß – auf formale Entwicklungen angewiesen war, um das Fortfahren ihrer Wesensbestimmtheit überhaupt zu garantieren, schien die Abwesenheit formaler Innovation in einem Kunstwerk die Autorität des Künstlers als Schöpfer zu kompromittieren. Die ReadymadeStrategie Duchamps erweiterte diese Auffassung, indem sie den Glauben an die Notwendigkeit, Innovation auf einer materiellen sichtbaren Ebene zu vollbringen, ad absurdum führte: Der Produzent eines Readymades braucht nicht dessen äußere Form gestaltet zu haben, um dessen Schöpfer zu sein. Dadurch wurde nicht nur das Vollbringen von Neuerungen jenseits der Tradition grundsätzlich erweitert, sondern auch das Gebot der formalen Innovation abgelehnt. So ist die Leistung des Künstlers als Schöpfer nicht mehr unbedingt mit seinem handwerklichen innovativen Können verbunden, sondern eher mit seiner geistigen Fähigkeit, eine Kunstsituation zu produzieren, für deren Existenz er die Verantwortung trägt. Ein Kunstwerk durch Aneignung zu schaffen, ist somit der bewusste

von Autorschaft aus der Sicht poststrukturalistischer Theorien (u.a. Rosalind Krauss, von der die Rede im Text Wolfs ist), nach welchem das Konzept des Auktorialen nicht ausgedehnt, sondern seine Vorstellung vom Ursprung zur Disposition gestellt werden solle. Solch eine poststrukturalistische Theorie weist einen verortbaren Anfang als einem immer Vorgängigen verpflichtet aus. Wolf, Herta: „Kunstgeschichtliche Mythen“, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Leipzig 2000, S. 10-38, hier S. 17. 177 In seinem einflussreichen Aufsatz Modernistische Malerei von 1960 formulierte Greenberg programmatisch diese Anschauung: „Die westliche Zivilisation ist nicht die erste, die ihren Blick zurückwendet und ihre eigenen Fundamente hinterfragt, aber sie ist in dieser Hinsicht weiter gegangen als jede andere. […] Das Wesen des Modernismus liegt, soweit ich sehe, darin, die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandsbereiches zu stärken.“ Greenberg (1960) 1997, S. 265. 178 Greenberg (1962) 1997, S. 334.

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Beschluss eines Künstlers, auf diese spezifische Weise seine Kunstanschauung zum Ausdruck zu bringen, was notwendigerweise auf eine kausale Beziehung in schöpferischem Sinne verweist. Aufbauend auf diesen beiden, von Greenberg und Duchamp vermittelten Positionen hinsichtlich der Autorschaft entfaltete sich durch die künstlerischen Beiträge Johns’, Warhols und schließlich Sturtevants die Strategie der Aneignung. Dabei zeigte sich eine mehrschichtige Beziehung zum empirischen Ursprung der Dinge und zu deren Re-Konstitution als eigener Kunsterscheinung: Im Hinblick auf die herkömmliche Definition von Autorschaft, nach der das Werk der Ort ist, in dem ein Künstler eine Verkettung von Entscheidungen zur Konstitution einer ästhetischen Einheit durchführt,179 ist deutlich zu konstatieren, dass die Appropriation, die mit dieser Vorstellung übereinstimmt, einer sehr konsequenten Vorgehensweise auf produktionsästhetischer Ebene folgt: So sind das Auswählen und Re-Produzieren eines fremden Objektes, das Signieren und Ausstellen seiner erschaffenen Entsprechung sowie die Anwendung eines fremden Kunststiles produktionsästhetische Entscheidungen schöpferischen Charakters. Sie ergeben sich aus dem willentlichen Einsatz des Künstlers und stellen eine zweckmäßige Handlung zur Konstitution einer genau durchdachten Werkeinheit dar, wobei strenge Kontrollen der zulässigen Grenzen im Produktionsprozess stattfinden müssen, damit die Stringenz des geplanten Werkes eingehalten werden kann: Der Natur der Aneignung entsprechend, ist das zu erzielende Resultat bereits vor Beginn des Einsatzes genau kalkuliert, was den konzeptuellen Charakter der Appropriation behauptet. Die Akzidentalität beim Herstellungsprozess ist somit ein vorkalkulierter Faktor ästhetischer Prägung, welcher Spielraum für Unregelmäßigkeiten zulässt, solange sie innerhalb des vom Künstler determinierten Konzeptes stehen.180 Darin lässt sich eine intendierte Handlung erkennen, welche

179 Sherri Irvin präzisiert die Funktion des Künstlers – gemäß der traditionellen Definition von Autorschaft – wie folgt: „The artist, qua artist, has to choose her own objectives, the activity does not choose them for her. The necessity for setting her own objectives provides the artist with a degree of responsibility for her product […] responsibility worthy of genuine authorship. The artist’s authorship relation to her work, then, does not consist in either her mode of production or the type of product. The artist’s authorship is defined by the fact that she bears the ultimate responsibility for every aspect of the objectives she pursues through the work, and thus every aspect of the work itself, whether it is innovative in any relevant sense or not.“ Irvin 2005, S. 134. 180 Solche Unregelmäßigkeiten tauchen nicht nur bei Johns in Bezug auf die amerikanische Flagge auf, sondern auch bei Warhol hinsichtlich der originalen Verpackungs-

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die Möglichkeit von ‚Fehlern‘ im Produktionsverfahren errechnet und somit auch eingrenzt. Dies belegt, dass das Werk der Aneignung – der traditionellen Autorschaftsauffassung gänzlich entsprechend – ein Ort produktionsästhetischer Entscheidungen ist. Auf der anderen Seite lässt sich auch beobachten, dass die Strategie der Aneignung eine nicht-konventionelle Haltung gegenüber der Vorstellung von Innovation in der Kunst aufweist. Sie stellt sogar eine Gegenposition dar, welche formale Neuerungen grundsätzlich ablehnt, was Sturtevant, das formale Prinzip der Aneignung erfassend, programmatisch formuliert: „Ich sehe übrigens nicht ein, warum es notwendig sein sollte, etwas Neues zu machen nur um des Neuen willen.“181 Tatsächlich wird das Aussehen der Werke der Aneignung von den Künstlern bzw. den Herstellern bestimmt, deren Artefakte der aneignende Künstler für sich in Anspruch nimmt: Ob Sturtevants Flaggen-Bild größer oder kleiner, malerischer oder flacher, dunkler oder heller ist, ist im Grunde eine Entscheidung Jasper Johns’, der sein Werk auf diese ganz spezifische Weise nach der Vorlage der amerikanischen Flagge gestaltete. Genauso ist das Aussehen der Plastiken Warhols von den Verpackungskartons bestimmt, derer er sich bediente. Nichtsdestotrotz ist diese Ablehnung von Innovation und Neuerung auf visueller Ebene an sich die Behauptung eines der Grundprinzipien der Moderne: nämlich jenes des Bruches mit dem ästhetisch Geltenden.182 Damit wird ebenfalls die avantgardistische Vorstellung von Originalität im Sinne der Möglichkeit, individuelle Kreativität grundsätzlich neu zu definieren, behauptet.183 Denn vor der Entstehung der Strategie der Aneignung war die Vorstellung, als autonome Kunstform das Fremde zu Eigen zu machen, nicht zu denken. Die Aneignung, angefangen mit Duchamps Readymades, erneuert durch die verdinglichenden Werke emblematischen Charakters Jasper Johns’, systematisiert bei den Box-

kartons und bei Sturtevant in Bezug auf die ausgewählten Ursprungswerke. Dabei stehen diese Abweichungen innerhalb der zulässigen Grenzen, welche die Entsprechung mit dem Original garantieren und folglich dessen Erkennbarkeit ermöglichen. 181 Elaine Sturtevant im Interview mit Bill Arning, in: Nusser 1992, S. 16. 182 Siehe: Bürger 1974, S. 81-86. 183 Rosalind Krauss erläutert die Originalität der Avantgarde wie folgt: „Die Originalität der Avantgarde ist nicht bloß eine Zurückweisung oder Zerstörung der Vergangenheit, sie wird buchstäblich als ein Ursprung begriffen, ein Anfangen vom Nullpunkt, eine Geburt. […] Das Selbst als Ursprung ist die Möglichkeit, eine absolute Unterscheidung zwischen einer de novo erfahrenen Gegenwart und einer traditionsbeladenen Vergangenheit zu treffen. Der Anspruch der Avantgarde ist genau dieser Anspruch auf Originalität.“ Krauss 2000, S. 205.

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Plastiken Andy Warhols und schließlich von Sturtevant zum Kunstprogramm selbstreferentieller Natur ausgebaut, war eine kategorisch neue Strategie, deren Anwendung von Beginn an polemisch angesehen wurde: Sowohl die Readymades Duchamps, als auch die emblematischen Kunstwerke Johns’ und Warhols Box-Plastiken vermochten großes Aufsehen in der Kunstwelt zu erregen und dabei die formalistische Vorstellung von Originalität zu hinterfragen, wovon Sturtevant zu profitieren wusste. So erklärte der New Yorker Galerist Leo Castelli, der mit der Kunstwelt bestens vertraut und somit an das Moment modernistischer Neuerung gewöhnt war, über Sturtevants Projekt im Kontext der sechziger Jahre: „I was struck by the fact that here was somebody who was doing, or re-doing in her own way, the work of important people like Johns, Rauschenberg, Warhol, Lichtenstein […]. It was really at the time an incredibly original idea. It was quite amazing […]. At the time when she [Sturtevant] appeared we were also used to the fact that artists like Marcel Duchamp for instance, did very extravagant things. I think that some of this spirit was communicated.“184

Die Radikalität der ästhetischen Strategie der Aneignung liegt demnach nicht in der Absonderung von der Moderne, sondern darin, die Dogmatik einer Kunstauffassung zu hinterfragen, die grundsätzlich auf formale Innovation und visuelle Neuerung gerichtet ist. In dieser mit überlieferten Gestaltungsmodi brechenden Positionierung steht der Künstler im Mittelpunkt, insoweit er seine Fähigkeit, Kunst zu produzieren, jenseits fremder Bestimmungen und entgegen geläufigen Vorstellungen behauptet: Der Künstler übt die ihm zustehende Macht aus, individuell zu entscheiden, wie seine Kunstwerke zu gestalten sind, dies bedeutet die eigengesetzliche Bestimmung, seine ästhetischen Ideen in einer durch Aneignung hergestellten Werkeinheit zu realisieren, was an sich ein Akt kreativer Autonomie ist. Folglich trägt er die uneingeschränkte Verantwortung für das, was er zur Existenz bringt, und entwickelt dabei am Schnittpunkt individueller Kreativität neue Möglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung und die Sinndimensionen des Kunstwerkes.

184 Leo Castelli im Gespräch mit Dan Cameron und Elaine Sturtevant. Cameron 1988, S. 76.

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F AZIT

Die ästhetische Strategie der Aneignung erweist sich als eine direkte Folge der Auflösung der traditionellen Werkeinheit durch die historische Avantgardebewegung. Denn die Avantgarde ermöglichte die Konstituierung eines Werktypus, der die räumliche und die objekthafte Kontingenz des Kunstwerkes grundlegend erweiterte, so dass die Möglichkeit tatsächlicher Aneignung des Fremden entstehen konnte. Die Rezeption des ästhetischen Erbes der Avantgarde im New York der fünfziger Jahre war zunächst jedoch durch die formalistische Kunstanschauung, die das ästhetische Selbstverständnis dieses Kunstsystems dominierte und deren theoretische Untermauerung das Kunstmodell Greenbergs lieferte, geprägt, so dass das Vermächtnis der Avantgarde zunächst eine formalistische Lektüre war, deren ästhetische Konsequenzen eine enorme Wirkungskraft erzielen konnten. So entwickelten sich im Kreis der New Yorker Happening-Künstler die Fundamente einer raumbezogenen Werkeinheit, in welche Handlungen und Gegenstände aller Art integriert werden. Diese über die geschlossene Kontingenz des Kunstobjektes hinausgehende Möglichkeit aktualisierte nicht nur ein zentrales Anliegen der Avantgarde: das Aufheben der herkömmlichen Grenzen zwischen Kunst und Leben, sondern sie verwirklichte auch ihr Gebot der Hinterfragung der Werkeinheit, was zu einer grundlegenden Erweiterung der im New Yorker Kunstsystem dominierenden Vorstellung des Kunstgegenstandes als geschlossener Einheit führte. Sie erweiterte die räumlichen und zeitlichen Dimensionen des Kunstwerkes derart, dass ein neuer Werktypus entstand: das Environment, eine raumgreifende und situationsbezoge Werkeinheit, welche die körperliche Präsenz des Rezipienten als unabdingbaren Bestandteil ihrer Ganzheit voraussetzt. Da die Auflösung der traditionellen Werkeinheit mit dem avantgardistischen Rückgriff auf die Erzeugnisse des Alltags zusammenhing, spielten auch vorgefundene Alltagsgegenstände im Environment eine konstitutive Rolle. Insofern war die Aufnahme des Alltäglichen in das Environment – die Voraussetzung seiner zeitlichen und räumlichen Dimension – programmtischer Ausdruck der Einführung des Alltagsobjektes in die Kunst. Die von Duchamp maßgeblich geprägte Tendenz, vorgefundene Gegenstände in die Kunst einzuführen, vermochte dem aus dem Alltag genommenen Objekt künstlerische Autonomie zu verleihen, was die Grundbedingung für die Möglichkeit der Aneignung konstituierte. Das neo-avantgardistische Interesse am Alltagsgegenstand ermöglichte einen unmittelbaren Bezug zur modernen Sachwelt und deren gewöhnlicher Bildlichkeit. In Zusammenhang mit diesem Interesse für die Sphäre des Alltäglichen setzte sich Jasper Johns mit Gegenstän-

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den emblematischen Charakters – Flaggen und Zielscheiben – künstlerisch auseinander, woraus er einen ästhetischen Gestaltungsmodus entwickelte, der die Gestalt des Gemäldes derart konstruiert, dass es mit den formalen Attributen konkreter Hervorbringungen aus dem Lebenszusammenhang übereinstimmt. Im Zuge dieser ästhetischen Praxis schuf er mit traditionellen bildhauerischen Mitteln auch Werke, welche alltägliche Gegenstände wie Taschenlampen und Glühbirnen in deren Objekthaftigkeit reproduzieren. Die Gestaltung dieser Werktypen war der Ausgangspunkt für die ästhetische Aneignung der äußeren Gestalt vorgefundener Alltagegenstände durch formale Vergegenständlichung. Sie ermöglichte auf produktionsästhetischer Basis eine Annäherung an die vorfabrizierten Produkte der Kultur, wodurch die Beschaffenheit des Kunstobjektes, die mit der Gestalt fremder Formen von Immanenz koinzidieren konnte, auf formaler und konzeptueller Ebene erweitert wurde. In dieser kunstgeschichtlichen Konstellation änderte sich der ästhetische Blickwinkel derart, dass triviale Hervorbringungen der Alltagskultur kunstwürdig zu sein schienen und somit als ikonographischer Bezug dienten. In diesem Zusammenhang wandte sich Andy Warhol programmatisch der Massenkultur zu und setzte sich mit äußerst banalen Motiven auseinander, welche künstlerischer Ansprüche vollkommen ermangeln. Dabei gelangte er zu einer ästhetischen Sprache, die dadurch charakterisiert ist, dass ein gewöhnliches Produkt der Massenkultur mittels eines unpersönlichen Duktus nüchtern wiedegegeben wird. Diese antiexpressive Gestaltungsweise stellte keinen unmittelbaren Bezug weder zum Objekt an sich noch zur Persönlichkeit des Künstlers her, sondern zu den graphischen Repräsentationscodes, durch die der Gegenstand in der Kultur zweckdienlich konstruiert wurde. Es handelte sich also um die Aneignung des Darstellungsmittels, welches das Produkt als solches vermittelt, zwecks der Realisierung selbstständiger Kunstgegenstände. In diesem Prozess befasste sich Warhol auch mit der Möglichkeit, Verpackungskartons als ikonographischen Bezug für dreidimensionale Kunstwerke anzuwenden. So produzierte er sieben Serien von Plastiken aus Sperrholz, die Verpackungskartons äußerlich genau gleichen. Da die Verpackungskartons zweckdefinierte Artefakte sind, vergegenständlichen sie notwendigerweise die Aufgabe, die sie zu erfüllen haben. Dabei sind sie die materielle Ausführung einer Invariante, die sie in deren Form und Funktion bestimmt. Die Plastiken Warhols entsprechen gänzlich dieser Invariante: Sie gleichen den Verpackungskartons in deren äußerer Gestalt, jedoch nicht in deren Funktion, so dass sie die Normativität der jeweiligen Kartons jenseits deren Funktionssetzung ausführen. Sie greifen also auf den Archetypus der Verpackungskartons zurück und kreieren über deren Zweckbestimmtheit hinaus eine Situation von Immanenz, deren ästhetische Möglichkeit in der Strategie der An-

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eignung liegt. Diese Erweiterung der Aneignung beruht strukturell auf der von Johns entwickelten Appropriationsfunktion. Denn in beiden Fällen werden bestimmte, im Lebenszusammenhang verankerte Hervorbringungen angeeignet, die eine ausführbare Normativität – und somit einen multiplizierbaren Charakter – aufweisen, um Kunstwerke zu gestalten. Die räumliche Platzierung der Plastiken während ihrer ersten Ausstellung 1964 erweiterte außerdem ihre semantischen Dimensionen. Denn dort präsentierten sich die Plastiken in ihrer Objekthaftigkeit verdinglicht, ohne einen expliziten Verweis darauf, dass sie Kunstgegenstände waren, was zu deren Einstufung als gewöhnliche Objekte entscheidend beitrug. Sie wurden nach dem Prinzip der seriellen Akkumulation modularer Körper in den Räumlichkeiten der Galerie platziert, woraus eine einheitliche Raumsituation entstand, in der die Plastiken in einer relationalen Beziehung zu sich selbst, dem umgebenden Raum und dem Publikum standen. Diese einer gewöhnlichen Lagerhalle ähnelnde Ausstellung zeitigte eine enorme Wirkungskraft, welche die Entwicklung neuer Ausstellungsprojekte anregte. So gelangte die Ausstellung The American Supermarket – kaum einige Monate nach Warhols Environment – zu einer ästhetischen Verwischung der phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Räumlichkeiten der Bianchini Gallery: Dort wurde ein Supermarkt inszeniert, in dem reale Objekte aus dem Alltag zusammen mit künstlichen Artefakten, welche gewöhnlichen Konsumgütern mimetisch gleichen, und alltagsbezogenen Kunstobjekten von Pop-Künstlern zusammengestellt wurden, ohne dabei ästhetische Distinktionen vorzunehmen. Auf die räumlichen und objektspezifischen Möglichkeiten der Aneignung zurückgreifend, zeigte diese Ausstellung, dass die Notwendigkeit der Kunst nicht allein in den materiellen Bedingungen ihrer Erscheinung liegt. Dabei stellen die immateriellen Komponenten des Objektes den Grund seiner Möglichkeit als Kunst dar. The American Supermarket thematisierte die von Johns und Warhol entwickelte Strategie der Aneignung bis hin zu deren Auflösung auf phänomenologischer Ebene, wodurch diese ästhetische Möglichkeit als eine selbstreflexive Gestaltungsfunktion der Kunst vorgeführt wurde: Kunst konnte aus ihrem Ursprungszusammenhang entzogen und in einen neuen Zusammenhang ästhetischer Autonomie eingeführt werden, so dass selbstständige Sinndimensionen auf der Grundlage ihres phänomenologischen Bestehens entfaltet wurden. Diese Möglichkeit war von kapitaler Bedeutung für die Künstlerin Elaine Sturtevant, die einige Monate später ihre erste Kunstausstellung ebenfalls in den Räumlichkeiten der Bianchini Gallery realisierte. Wie The American Supermarket war Sturtevants Ausstellung ein auf den Alltag verweisendes Environment, in dem sie auf die neuesten Tendenzen der New Yorker Kunstszene Bezug nahm. Auf

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ähnliche Weise inszenierte die Künstlerin dort ihre eigenen Kunstobjekte, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sie auf formaler Ebene bereits vorhandenen Kunstwerken zeitgenössischer Künstler glichen. Bei der Findung dieser ästhetischen Möglichkeit spielte Flag von Jasper Johns eine zentrale Rolle. Denn dieses Werk, mit dem sich Sturtevant gleich zu Beginn ihrer Kunstproduktion auseinandersetze, nutzte die Strategie der Aneignung als eine Funktion, kraft derer ein Symbol zwecks der Herstellung eines Kunstgegenstandes angeeignet wird. Anstatt auf ein Symbol zurückzugreifen, bediente sich Sturtevant eines Kunstwerkes, das heißt eines ideologisch konnotierten Produktes, das als menschliche Kulturschöpfung einen spezifischen Weltbezug und Sinngehalt in sich trägt. Somit erweist sich Sturtevants Herangehensweise als eine selbstreferenzielle Steigerung der Aneignung, wobei die Aneignung eine neue Gewichtung hat: Während bei Johns und Warhol die Aneignung ein Mittel ist, ist sie bei Sturtevant die ästhetische Determination ihres Kunstprogramms, das heißt der bestimmende Faktor ihrer Kunst sowohl auf formaler als auch auf konzeptueller Ebene. Diese Gewichtung der Aneignung stellte die immateriellen Komponenten des Kunstwerkes in den Vordergrund. Denn die Tatsache, dass zwei ästhetische Artefakte sich äußerlich gleichen, bedeutet notwendigerweise, dass ein Artefakt dem Anderen als Vorbild diente, was im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich dabei um Kunst handelt, zwangsläufig bedeutet, dass das zweite Werk eine eigene gedankliche Struktur haben muss, die seinen Status als Kunst rechtfertigt und es vom Ursprungswerk unterscheidet. Diese gedankliche Struktur ist die ästhetische Programmatik, die das Objekt jenseits fremder Bestimmungen zu Kunst macht: Kraft dieser immateriellen Dimension sind beide gleich wirkenden Artefakte in ihrem Wesen vollkommen unterschiedlich, obschon sie in derselben Weise Kunstgegenstände sind. Sie besitzen folglich unterschiedliche Sinndimensionen. Die Akzentuierung dieser immateriellen Ebene ist auf die ästhetische Prämisse zurückzuführen, dass Kunst nicht ohne Weiteres auf ihre materielle Beschaffenheit zu reduzieren ist, da sie eben von ihren immateriellen Komponenten strukturell bedingt ist. Diese Hervorhebung der immateriellen Struktur der Kunst durch Aneignung – was das Wesen des Kunstprogramms Sturtevants konstituiert – entsprach einem von der Kunstpraxis Duchamps angeregten und ab Mitte der fünfziger Jahre wachsenden Interesse an der Möglichkeit, eine Situation ästhetischer Immanenz jenseits der Paradigmen einer strikt objektbezogenen Kunst zu gestalten. Dabei errichtete die Strategie der Aneignung, deren Entfaltung die Geschichte ihrer eigenen Rezeption ist, eine Instanz produktionsästhetischer Verwandlung konzeptueller Natur: Sie verwirklichte mittels des ästhetischen Objektes dessen immaterielle Notwendigkeit.

Schlussfolgerung

Die vorliegende Untersuchung versucht, die ästhetische Strategie der Aneignung als Handlungsträger einer theoriegestützten Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff zu erläutern. Dies ist, für sich genommen, kein neuer Ansatz, zumal der stark konzeptuelle Charakter der künstlerischen Aneignung stets erkannt wurde. Um die einzelnen künstlerischen Positionen jedoch differenziert beurteilen zu können, ist es nötig, zunächst die theoretischen Voraussetzungen in ihrer Komplexität herauszuarbeiten, um auf dieser Grundlage die Spezifität der jeweiligen Einzelpositionen bestimmen zu können. Dazu werden zwei kunsttheoretische Modelle als solche und in ihrer den Untersuchungszeitraum betreffenden Rezeption rekonstruiert, die in ihrem Spannungsverhältnis zueinander für die Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung als besonders wirkungsmächtig zu erachten sind. Diese Modelle äußern sich in der kunstkritischen Praxis Clement Greenbergs einerseits und in der ästhetischen Praxis Marcel Duchamps andererseits. Während die dem kunsttheoretischen Modell Greenbergs inhärenten Widersprüche in einer bestimmten Konstellation des New Yorker Kunstsystems Phänomene begünstigen, die deren ursprünglich intendierte Zielrichtung unterliefen, bot das Oeuvre Duchamps bzw. dessen zeitgenössische Rezeption einen theoriehaltigen Bezugspunkt, von dem aus sich Phänomene rechtfertigen ließen – bis hin zum radikalen Widerspruch, gerade gegen den normativen Anteil der Greenbergschen Theorie und die davon begünstigte Kunstpraxis. Dieser Widerspruch gipfelt, ohne dass dies im Sinne einer linearen Entwicklung missverstanden werden soll, in einer ästhetischen Praxis, in der die Aneignung sich als selbstreflexive und systembezogene Funktion erweist. Hierbei zeigt die reflexive Rekonstruktion der Prozesse, welche die Konstituierung der Aneignung bedingten, dass diese produktionsästhetische Möglichkeit der Niederschlag konkreter Wirkungsinstanzen innerhalb eines hochdynamischen und aus widersprüchlichen Kräften bestehenden Kunstsystems ist. Dabei stellen ihre konstituierenden Prozesse keinen kausal mechanischen Wirkungsvorgang dar, sondern eine wir-

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kungsästhetische Konstellation von Kunstanschauungen und -werken, innerhalb derer der erfahrungsbedingte Horizont der rezipierenden Künstler auf das Überlieferte produktiv reagiert. Das Überlieferte seinerseits ist zwar keine objektiv zugrundeliegende Tatsache, in welche messbarer Sinn eingegangen ist; es stellt aber eine konkrete Möglichkeit ästhetischer Erfahrung dar, die einen Rezeptionsprozess auslösen kann. Die einzelnen Rezeptionsprozesse innerhalb der gesamten Konstellation von wirkungsästhetischen Faktoren im Kunstsystem bilden die Ausprägungen der Strategie der Aneignung. So ist die Konstituierung dieser Strategie eine zusammenhängende Konfiguration ästhetischer Veränderungen entsprechend einer spezifischen Gestaltungsfunktion, deren Grundbedingung die künstlerische Entfremdung fremder Formen von Immanenz ist. In Bezug auf diesen kunsthistorischen Zusammenhang lässt sich mithin folgende Aussage behaupten: Die historischen Wirkungsfaktoren, welche das Aufkommen der Strategie der Aneignung strukturell bedingten, sind Clement Greenbergs Kunstmodell und Marcel Duchamps Kunstpraxis. Das widersprüchliche Moment, das beide konträren Paradigmen im New Yorker Kunstsystem erzeugten, erwies sich als ästhetisches Substrat für die Konstituierung der Strategie der Aneignung. Dabei sind nicht nur die inhaltliche Spezifität der ästhetischen Botschaft beider Paradigmen, sondern auch die Bestimmungsmerkmale ihrer Form vollkommen unterschiedlich. Denn bei dem einen handelt es sich um ein auf Theorien basiertes, kunstkritisches Modell formalistischen Charakters und bei dem anderen um eine auf ästhetische Experimente ausgerichtete Kunstpraxis avantgardistischer Natur, so dass sich ihre jeweilige Wirkungsmacht auf unterschiedliche Weise abspielte. Das Kunstmodell des amerikanischen Kritikers und Kunsttheoretikers Clement Greenberg lieferte die Fundamente für eine der mächtigsten Kunstanschauungen des 20. Jahrhunderts. Es besaß nicht nur eine normative Vorstellung davon, was Kunst sein muss, sondern auch ein kritisches System für deren Beurteilung, was sich in der Weise widerspiegelte, wie Kunst ab Mitte der vierziger Jahre im New Yorker Kunstsystem rezipiert und produziert wurde. Die Wirkungsmacht dieses Modells, dessen kunsthistorische Legitimation die breite Anerkennung des Abstrakten Expressionismus darstellte, lag darin, dass es, der Vorstellung einer ontologischen Notwendigkeit der Kunst entsprechend, den Imperativ ihrer geschichtlichen Entwicklung kunsttheoretisch vorzubringen suchte. Dabei begrenzte es in der Normativität seiner eigenen Programmatik den Horizont der Wahrnehmung von Kunst. Dieser dogmatische Radikalismus stützte sich auf ein theoretisches Konstrukt, in dessen Kern eine gravierende Inkonsistenz kunsttheoretischer Natur tief verankert ist: Greenbergs Kunstmodell entstand aus bereits bestehenden Kunsttheorien, die er sich ungeachtet der Tatsache, dass sie mitei-

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nander unverträglich sind, aneignete und in einen kunsttheoretischen Korpus zu integrieren wusste. Aus seiner Verbindung mit der linksorientierten Intellektualität der dreißiger Jahre in New York gewann er eine wichtige Stütze für die Struktur seines Kunstmodells: den dialektisch-materialistischen Fortschrittgedanken, nach dessen teleologischer Linearität die Entwicklung der Kunst in der kritischen Hinterfragung von deren bereits erreichten Stadien bestünde. Darin begründete er die Auffassung einer sich vollziehenden und als kontinuierliche Verbesserung erachteten Entwicklung der Kunst in der Geschichte. In seiner Auseinandersetzung mit konsolidierten Theorien der Kunst übernahm Greenberg einen auf Gotthold Ephraim Lessings zurückgehenden Gedanken, nach welchem die Künste entsprechend ihren spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten eine gattungsimmanente Bestimmtheit notwendig besäßen. Dadurch rechtfertigte Greenberg die Notwendigkeit einer typologischen Immanenz der Künste gemäß deren intrinsischen Gestaltungsmitteln. Zudem griff Greenberg auf Kant zurück, mithilfe dessen ästhetischer Theorie er Qualitätskategorien in der Kunst zu begründen suchte, wobei Greenberg eine sensualistische, mit Kant unverträgliche Argumentation führte. Die kunsttheoretische Unhaltbarkeit dieses Konstrukts lässt sich präzise verorten: Die Selbsthinterfragung der Kunst zwecks ihrer geschichtlichen Entwicklung verträgt sich nicht mit der Vorstellung einer mediumbezogenen Kunstspezifität, deren Qualität letzten Endes von sensualistischen Kriterien determiniert wird. Infolgedessen bewirkten die ästhetischen Konsequenzen des Modells entsprechend seinen theoretischen Bezügen den Einsturz seiner Normativität, was jedoch die Basis für die Entstehung neuer Tendenzen in der Kunst schuf. Während Greenbergs Kunstmodell in seiner eigenen Normativität zunehmend brüchiger erschien, begann die Kunstpraxis Marcel Duchamps ebenfalls im New Yorker Kunstsystem rezipiert zu werden. Dabei stellte Duchamps Kunstpraxis ein ästhetisches Modell dar, das alle von Greenberg vertretenen Vorstellungen von Kunst radikal negierte. Duchamp, der sich bereits 1913 bei seiner Teilnahme an der Armory Show einen Namen in New York gemacht hatte, entwickelte sich im Kern der historischen Avantgarde als deren Dissident. Der Bruch mit der Pariser Avantgarde brachte ihn zu der Suche nach neuen ästhetischen Wegen, die ihm einen radikalen Ausstieg aus den traditionellen Mitteln und Gestaltungsformen der bildenden Kunst ermöglichten. So fand er in der Sprache eine Möglichkeit, die ästhetischen Dimensionen des Kunstwerkes zu erweitern: Er gelangte zu der Auffassung, dass andere, durch die Sprache vermittelte Dimensionen von Sinn jenseits einer sinnhaften Ordnung von Aussagen in Zusammenhang mit dem Kunstwerk gebracht werden können, wodurch seine Identität über die Immanenz seiner stofflichen Gestalt hinaus erweitert wird. In

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dieser vernunftwidrigen Sinnhaftigkeit fand Duchamp einen zentralen Parameter der Kunstproduktion, was den Beginn einer konzeptuellen Erweiterung des Kunstwerkes darstellte. Im Rahmen seiner ästhetischen Untersuchungen beschäftigte sich Duchamp darüber hinaus mit dem Zufall, in dessen systematischer Anwendung der Künstler eine gültige produktionsästhetische Instanz fand. Die vernunftwidrige Sinnhaftigkeit und der Zufall – zwei operative Funktionen, welche die Struktur der ästhetischen Praxis Duchamps bilden – beruhen auf seiner künstlerischen Grundanschauung, deren Fundamente die Verneinung einer rein auf das Visuelle gerichteten Kunst und das Prinzip einer Indifferenz auf ästhetischer Ebene sind. Auf der Grundlage dieser Programmatik schuf Duchamp einen mittels Aneignung gewonnenen Werktypus, dessen Objekt von Immanenz nicht aus einem individuellen Produktionsprozess resultiert, sondern aus den mechanischen Verfahren des industrialisierten Lebenszusammenhanges: das Readymade. Dieser Werktypus markierte die programmatische Einführung des vorgefundenen Objektes in die Kunst, welches kraft einer ästhetischen Determination zur Gestalt eines Kunstwerkes wird, ohne dass eine kausale Beziehung zwischen seinem stofflichen Moment und dem Künstler besteht. In diesem Kontext besteht die Autorfunktion in der Fähigkeit, ein vorgefundenes Objekt, das in seiner Erscheinungsform nicht modifiziert wird, in die Gestalt eines autonomen, mit eigenen Sinndimensionen versehenen Kunstwerkes zu verwandeln. Die Kunstpraxis Duchamps widerspricht nicht nur der Dogmatik einer jeden Ästhetik, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, sondern auch allen Paradigmen, die grundsätzlich auf die Produktion visueller Innovation gerichtet sind, was im Kontext des von Greenbergs Ästhetik dominierten New Yorker Kunstsystems der fünfziger Jahre – als die Rezeption von Duchamps Oeuvre begann – evident wurde. Greenbergs programmatische Auffassung einer ontologischen Notwendigkeit der Kunst, deren formale Manifestation durch sensualistische Qualitätskriterien determiniert ist, wonach sie notwendig auf die subjektive Aufnahme und die Verarbeitung visueller Reize angewiesen ist, erschien gegenüber der Kunstpraxis Duchamps, die für die Vertiefung der Sinndimensionen des Kunstwerkes jenseits dessen stofflichen Momentes plädiert, als eine hoch befangene Überzeugung. Diese historische Konfrontation ästhetischer Paradigmen offenbarte die problematische Abhängigkeit der Ästhetik Greenbergs von einer spontanen Leistung, die für die Hervorbringung qualitätsvoller Kunst verantwortlich ist: die Darbietung des Genies. Demgegenüber bediente sich Duchamp, die Metaphysik des Genies ad absurdum führend, der ästhetischen Strategie der Aneignung, mit welcher er, auf die immateriellen Dimensionen des Kunstwerkes hinweisend, die phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Alltag problematisierte.

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Die fünfziger Jahre waren dennoch von der Ästhetik Greenbergs derart geprägt, dass die Rezeption Duchamps zunächst eine periphere Erscheinung war, die nur in avantgardistisch orientierten Kreisen stattfand. Dabei war ihre Wirkung, die von den kunsthistorischen Umständen der Zeit profitierte, enorm. Denn zur Mitte der fünfziger Jahre machten sich die Stagnation und die damit verbundene Akademisierung des Abstrakten Expressionismus bemerkbar, dessen heterogener Stil durch die einheitsstiftenden, theoretischen Ausführungen Greenbergs programmatische Konkordanz gewann. Da die Etablierung dieser Kunstrichtung nicht nur durch das allgemeine Wirtschaftswachstum der Zeit, sondern auch durch ein zunehmendes Interesse der Politik der USA für Kultur während des Kalten Krieges begünstigt wurde, entsprach das Anliegen Greenbergs, eine von fremden Einflüssen freie amerikanische Malerei darzustellen, einer kunstfremden Erwartung, welche die Legitimitätsansprüche einer für unabhängig geltenden Kunst kompromittierte. Zu diesen Umständen kam die immer offensichtlicher werdende Tatsache hinzu, dass die Stagnation des Abstrakten Expressionismus durch programmatische Faktoren bedingt war, an deren Entfaltung die Ästhetik Greenbergs maßgeblich beteiligt war: Durch die progammatische Entledigung von allem, was auf formaler Ebene – der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs entsprechend – der Malerei nicht als eigen zu erachten ist, entwickelte sie sich programmgemäß in Richtung Abstraktion, was die von der Realität abgesonderten Motivzusammenhänge im Bild von der Akzidentalität der Handlung während des Malprozesses abhängig machte. Dies ließ die Motivfindung zu einem vom subjektiven Ausdruckswillen des Künstlers gesteuerten Vorgang des Zufalles werden, dessen ästhetisches Gelingen jedoch von der Normativität vorkonstruierter Qualitätsurteile abhing. Die Folge dieser Entwicklung war der Rückgang der Innovationskraft bei der Motivfindung, sprich die Krise des Motivs. Darüber hinaus war die selektive Betonung bestimmter, als gattungsintrinsisch gedachter Eigenschaften des Bildes bzw. des Gemäldes gemäß der Programmatik der gattungsbezogenen Entwicklungsästhetik Greenbergs eine programmatische Setzung hinsichtlich seiner formalen Entwicklung, was in seinen Konsequenzen die Identität des Bildes als Objekt grundlegend problematisierte. Denn die puristisch progressive Reduktion des Bildes auf seine formalen Ureigenschaften, deren unabdingbare und als solche programmtisch zu akzentuierende Grundkomponente Greenberg zufolge die ‚Flächigkeit‘ ist – eine apriorische, auf die äußere Form des Bildes bezogene Kategorie programmtischen Charakters in Greenbergs Ästhetik, bildet eine Entwicklungslogik, nach welcher das Trägermedium als solches ästhetische Autonomie zu beanspruchen hat: Insoweit ‚Flächigkeit‘ nicht nur Materialität,

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sondern auch ästhetische Gestaltungsmöglichkeit ist, sind die innerbildliche Konfiguration und das Trägermedium darauf angelegt, eine ästhetische Einheit zu konstituieren, so dass Bildlichkeit notwendigerweise Objekthaftigkeit darstellt. Infolgedessen vermag das Bildmotiv mit der Oberfläche des Trägermediums, dessen Objekthaftigkeit gemäß der Logik des Programms ästhetische Eigenschaften zugesprochen werden, übereinzustimmen. Die Konsequenz dieses programmatischen Entwicklungsfaktors ist die Objektwerdung des Bildes, was offenkundig sowohl der Ästhetik des Abstrakten Expressionismus als auch dem normativen Geschmacksurteil Greenbergs gegenübersteht. Die Krise des Motivs und die programmatische Objektwerdung des Bildes lösten eine neue ästhetische Ordnung aus, welche, die Paradigmen der Ästhetik Greenbergs problematisierend, der künstlerischen Hegemonie des Abstrakten Expressionismus ein Ende setzte. Sie legten jedoch die ästhetische Basis für einen neuen Werktypus, der auf die ästhetische Strategie der Aneignung zurückgreift und ihre Züge strukturell erneuert, woraus eine neue Art von Beziehung zum vorgefundenen Fremden entsteht. Den paradigmatischen Niederschlag dieses Werktypus stellt Jasper Johns’ Werk Flag dar. Mit diesem Kunstobjekt gelang es Johns, die ästhetischen Konsequenzen der in Schwierigkeiten geratenen Programmatik des Abstrakten Expressionismus mit der entgegengesetzten Einflussgröße um die ästhetische Tradition Duchamps produktionsästhetisch zu vereinen: Die formale Konstruktion dieses Werkes entspricht der malerischen Tradition des Abstrakten Expressionismus, wobei sein Motiv – gegenüber der auftretenden Krise des Motivs durch Hinterfragung der etablierten Praxis bei der Motivgestaltung Position beziehend und konform mit der programmatischen Objektwerdung des Bildes – mit der Oberfläche des Trägermediums übereinstimmt, so dass Motiv und Trägermedium eine objekthafte Einheit bilden. In ihrer Objekthaftigkeit gleicht diese Einheit einer bereits bestehenden Hervorbringung der Kultur, die dadurch gekennzeichnet ist, wiederholbar zu sein, wobei sie kein Original aufweist, sondern lediglich korrekte Einzelfälle ihres Selbst. Kraft dieser Bedingung vermag das hergestellte Kunstobjekt einen gültigen Einzelfall der angeeigneten Hervorbringung zu verkörpern, was in seiner phänomenologischen Bedingtheit der ReadymadeStrategie Duchamps entspricht. Denn tatsächlich verkörpert Flag ein im Lebenszusammenhang verankertes Artefakt der Kultur, das Johns für sein Werk beanspruchte: die amerikanische Flagge. Dies konnte dadurch erfolgen, dass Flaggen stets herstellbare, konventionsbedingte Gegenstände sind, wonach die Erfüllung ihrer konstitutiven Merkmale bzw. ihrer formalen Normativität gültige Einzelfälle ihres reproduzierbaren Daseins hervorzubringen vermag. So handelt

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es sich bei Flag um eine gültige Konfiguration der amerikanischen Flagge, was angesichts der Tatsache, dass Flag auch ein Kunstwerk ist, bedeutet, dass dieses Objekt auf ontologischer Ebene sowohl ein Kunstwerk als auch eine Flagge ist. Damit erweiterte Johns nicht nur die geläufige Konstitution des Kunstwerkes auf ontologischer Ebene, sondern auch das herkömmliche Urheber-Werk-Verhältnis. Denn Flag steht auf produktionsästhetischer Ebene in einer bivalenten Beziehung zu seinem Schöpfer: Entsprechend dem traditionellen WirkursacheVerhältnis der bildenden Kunst wurde die stoffliche Gestaltung des Werkes von Johns verursacht, wobei Johns die ursprüngliche Gestalt von Flag – die Flagge an sich – nicht verursachte. Das heißt, er verursachte eine Immanenz, ohne diese in ihrer Ursprünglichkeit veranlasst zu haben. Dabei kreierte er aber eine ästhetische Situation, für welche er die absolute Verantwortung als Schöpfer trägt, was notwendigerweise auf eine kausale Beziehung zur ontologischen Ganzheit des Werkes verweist. Die geschaffene Situation von Immanenz gründet somit auf der ästhetischen Möglichkeit, durch Aneignung des bereits bestehenden Fremden ein selbstständiges Kunstwerk zu gestalten. Der Rückgriff auf das Fremde als Möglichkeit ästhetischer Gestaltung war zu Beginn der sechziger Jahre durch die Rezeption von Duchamps Werk und der Dada-Bewegung sowie durch den zunehmenden Einfluss der neuen Kunsttendenzen, die sich von der puristischen Ästhetik Greenbergs und von der Kunstpraxis des Abstrakten Expressionismus programmatisch distanzierten, im New Yorker Kunstsystem präsent. So entstand gegen Ende der fünfziger Jahre in experimentierfreudigen Künstlerkreisen die Auffassung einer raumbezogenen Werkeinheit, die programmatisch nicht nur Gegenstände aller Art, sondern auch Handlungen einbezog. Dieser räumliche Werktypus knüpfte an das avantgardistische Prinzip der Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben an, wodurch die geschlossene Kontingenz der traditionellen Werkeinheit sowohl im Hinblick auf ihre räumliche Dimension als auch im Hinblick auf die Anwendung fremden Materials aus dem Alltag erweitert wurde. Dementsprechend waren sowohl die Aneignung des vorgefundenen Fremden als auch die Ausdehnung der räumlichen Dimension des Kunstwerkes – eine Möglichkeit, die Duchamp mit seinen kuratorischen Interventionen ebenfalls prägte, indem er den Akt des Ausstellens in eine künstlerische, mit eigenen Sinnzusammenhängen versehene Gestaltungsmöglichkeit verwandelte – die grundlegenden Voraussetzungen für die Konstitution dieses selbständig werdenden, raumgreifenden und situationsbezogenen Werkkomplexes, der die körperliche Präsenz des Rezipienten als unabdingbaren Bestandteil voraussetzte: das Environment, die erste Ausprägung der sogenannten ‚Installation-Art‘. Diese räumliche Werkganzheit griff auf vorgefundene Erzeugnisse des Alltags zurück, mittels derer sie ihre internen Zusam-

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menhänge konstruierte. Durch die Miteinbeziehung von Alltagsgegenständen kreierte sie eine offene Situation von Immanenz und stellte zugleich einen unmittelbaren Bezug zur modernen Sachwelt und deren populärer Bildlichkeit her, was das ästhetische Interesse für den Bereich des Alltäglichen erheblich expandierte. Im Zuge dieses ästhetischen Wandels setzte sich Johns, seine auf Aneignung basierte Kunstpraxis ausbauend, nicht nur mit Gegenständen emblematischen Charakters wie Flaggen und Zielscheiben, sondern auch mit alltäglichen Gegenständen wie Taschenlampen, Bierdosen oder Glühbirnen auseinander. Dabei rekurrierte er auf traditionelle Gestaltungsformen der bildenden Kunst, die es ihm erlaubten, diese Gegenstände in ihrer spezifischen Objekthaftigkeit so zu gestalten, dass das geschaffene Kunstobjekt entweder mit der Gestalt des Alltagsobjektes genau übereinstimmte oder dessen äußere Form plastisch rekonstruierte. Diese künstlerischen Verfahren bauten die Strategie der Aneignung im Sinne einer formalen Verdinglichung des Gemäldes bzw. der Plastik entsprechend der Beschaffenheit vorgefundener, fremder Artefakte aus, so dass die Aneignung des Fremden den Charakter einer stofflichen Verwandlung gewann, was die von den Readymades ausgelöste Verschiebung der phänomenologischen Bestimmtheit der Dinge auf eine andere Ebene brachte. In der Entfaltung dieser Möglichkeit ästhetischer Entfremdung des Fremden spielten die konstitutiven Parameter des neu eröffneten Environment-Formats eine katalysierende Rolle, insoweit es Objekte aller Art ungeachtet ihrer ontologischen Ordnung in eine künstlerische Situation, die als solche kunstimmanent konstruiert ist, subsumierte. Diese Konstellation schuf den Rahmen der neo-avantgardistischen Ausprägungen der Aneignung. Jene kunsthistorischen Faktoren erweiterten den ästhetischen Horizont der Zeit massiv, so dass alle kunstfremden Produkte des Alltags einen potenziellen Bezug zur Kunst zu verkörpern begannen. Hierbei setzte sich Andy Warhol mit der Massenkultur künstlerisch auseinander, wobei er seine Aufmerksamkeit auf äußerst banale Motive der Konsumwelt richtete. In seiner Distanzierung von der noch stark präsenten Ästhetik des Abstrakten Expressionismus gelangte er zu einem antiexpressiven Duktus, der es ihm ermöglichte, gewöhnliche Konsumprodukte entsprechend ihren graphischen Repräsentationsnormen getreu wiederzugeben, was an sich die Aneignung graphischer Darstellungsmittel der Konsumgesellschaft bedeutete. Im Zuge dieser ästhetischen Erkundungen griff Warhol, auf der Aneignungsstrategie Johns’ aufbauend, auf dreidimensionale Alltagsobjekte zurück, die er in ihrer Objekthaftigkeit plastisch getreu rekonstruierte. So entstanden sieben Serien von Plastiken aus Sperrholz, welche gewöhnliche Verpackungskartons genau wiedergeben. Ähnlich der Aneignungsstrategie Johns’

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beruhen diese Plastiken auf dem Prinzip, multiplizierbare Alltagsartefakte, deren Herstellung entsprechend einer genau definierten Normativität erfolgt, künstlerisch zu erschaffen, wobei ihre Normativität vollkommen ausgeführt wird. Das Resultat dieser Strategie ist die künstlerische Produktion korrekter Einzelfälle des wiederholbaren Produktes. Dabei geschieht jedoch eine ontologische Entfremdung: Da alle Artefakte in einem spezifischen Funktionszusammenhang verankert sind, ist ihr Existenzstatus notwendigerweise durch ihre Funktion definiert, was im Hinblick auf ihre künstlerische Rekonstruktion bedeutet, dass sie dabei eine neue Identität jenseits ihrer ursprünglichen Zweckbestimmtheit aufnehmen. So erfüllen die Plastiken Warhols gänzlich die Normativität der Verpackungskartons, ohne diesen in ihrer Funktion und ihrem Existenzstatus zu gleichen. Da aber die Produktion der Plastiken – entsprechend ihren gewöhnlichen Gegenstücken – auf die Herstellung einer aus einzelnen Stücken bestehenden Reihe abzielte, erweist sich die individuelle Gestaltung jeder einzelnen Plastik als die zweckmäßige Kontingenz einer übergeordneten Determination, was ihren objekthaften Charakter zwangsläufig akzentuiert. Bei ihrer ersten Ausstellung 1964 zeigte sich dieser an die Readymade-Strategie anknüpfende Objektcharakter deutlich. Denn die Plastiken wurden durch die Art der Präsentation in ihrer Objekthaftigkeit verdinglicht zur Schau gestellt, ohne dass bei der konstruierten Situation sichtlich darauf verwiesen wurde, dass es sich dabei um Kunstgegenstände handelte. Die Galerie verwandelte sich in eine einheitliche Raumsituation, in die der Betrachter in seiner realen Körperlichkeit subsumiert wurde, so dass er einem Werkkomplex beiwohnte, der in seiner Ganzheit einer gewöhnlichen Lagerhalle glich. Dieses Environment zeitigte große Wirkung im New Yorker Kunstsystem. Einige Monate nach seiner Realisierung präsentierte die Bianchini Gallery das Environment The American Supermarket, eine Kunstausstellung, die einen Supermarkt inszenierte: Reale Alltagsobjekte wurden mit künstlichen Artefakten kommerziellen Charakters, welche gewöhnlichen Konsumgütern mimetisch glichen, und Kunstobjekten, die in einem programmatischen Bezug zu Alltagsobjekten standen, zusammen ausgestellt. Dabei wurde keine ästhetische Differenzierung vorgenommen, sondern das Ausstellungsprinzip gewöhnlicher Supermärkte verfolgt. Diese Ausstellung radikalisierte die von Warhol erprobte Verwischung der phänomenologischen Grenzen zwischen Kunst und Alltag, wobei sie sowohl auf gewöhnliche Alltagsgegenstände als auch auf fremde Kunstwerke rekurrierte, eine Strategie, welche die Möglichkeit der Aneignung auf Kunst überträgt. Denn das inszenierte Environment richtete eine übergeordnete Ganzheit ein, in die alle einbezogenen Gegenstände ungeachtet ihrer ontologischen Klasse und Provenienz gleichermaßen subsumiert wurden. Kunstwerke konnten

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also aus ihrem Ursprungszusammenhang herausgenommen und in einen neuen Zusammenhang eingeführt werden, innerhalb dessen ästhetischer Spezifität sie neue Sinnzusammenhänge konstruieren. Diese Möglichkeit wurde maßgebend für Elaine Sturtevants künstlerisches Schaffen: Sie griff offenkundig auf das vorgeführte Verfahren zurück, zwecks einer übergeordneten ästhetischen Bestimmung fremde Kunstwerke in eine inszenierte, mit eigenen Sinndimensionen versehene Raumsituation zu integrieren. Bei ihrer ersten Ausstellung 1965 in den Räumlichkeiten der Bianchini Gallery machte sie diese Strategie zu ihrem ästhetischen Programm. Dort präsentierte sie ihre ersten Kunstwerke – selbst hergestellte Objekte, die auf formaler Ebene Kunstwerken zeitgenössischer Künstler genau gleichen – in einer einheitlichen Raumsituation, welche die Lagerhalle einer Galerie bzw. eines Museums suggeriert. Der Aneignungsstrategie Johns’ und Warhols entsprechend, stellte sie erneut bereits vorhandene Artefakte her, die eine strenge Normativität auf formaler Ebene bzw. eine unveränderliche Formvorgabe aufweisen. Im Gegensatz zu Johns’ und Warhols Praxis waren die angeeigneten Artefakte Sturtevants keine multiplizierbaren Alltagsobjekte, sondern einmalige Kunstwerke, womit sie aber an die Strategie von Johns’ Flag anknüpfte. Denn dieses Werk vergegenständlicht eine Hervorbringung der Kultur, die zwar multiplizierbar, aber gemäß ihrer ontologischen Bestimmtheit ein Symbol ist, das heißt ein ideologisch konnotiertes Produkt, das als menschliche Kulturschöpfung einem Kunstwerk entspricht und – wie dieses – einen spezifischen Weltbezug und Sinngehalt in sich transportiert. Sturtevants Strategie ging jedoch in ihren Konsequenzen weiter: Sie eröffnete eine selbstreferentielle Gestaltungsfunktion als ästhetisches Programm: die Aneignung von Kunst als Kunst. Damit erweist sich der Beitrag Sturtevants als ein paradigmatisches Moment in der Konstituierung der ästhetischen Strategie der Aneignung, insoweit sie diese Strategie zu einer selbstreflexiven und systembezogenen Funktion machte, die nicht mehr ein Mittel zur Herstellung von Kunstwerken war, sondern an sich eine ästhetische Zweckbestimmtheit. Durch diese programmatische Fokussierung gelang es Sturtevant, die immateriellen Komponenten der Kunst zum Ausdruck zu bringen. Sie demonstrierte, dass zwei gleich aussehende Artefakte, die sogar derselben ontologischen Klasse angehören, nicht gleich sind, was heißt, dass Kunst nicht allein aus ihrer Materialität besteht; also ist sie auf ihre Erscheinung nicht reduzierbar. Damit hob Sturtevant den konzeptuellen Charakter der Aneignung hervor und knüpfte an Duchamps programmatisches Anliegen für eine nicht ‚retinale‘ Kunst an. So zeigt die ästhetische Strategie der Aneignung, dass die Entfremdung des Fremden über alle Erscheinung hinaus eine neue, mit eigenen Sinndimensionen versehene Identität herzustellen vermag, welche kraft ihrer immateriellen Struktur Kunststatus beanspruchen kann.

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Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken Oktober 2011, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst März 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

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Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Januar 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis November 2011, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2

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Image Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe

Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik

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September 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1663-7

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2010, 184 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1362-9

Mai 2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York

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Mai 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Mai 2012, ca. 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1887-7

Katrin H. Sperling Nur der Kannibalismus eint uns Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung: Brasilianische Kunst auf der documenta Oktober 2011, 390 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1768-9

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