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German Pages 336 Year 2019
Nina Kleinöder, Stefan Müller, Karsten Uhl (Hg.) »Humanisierung der Arbeit«
Histoire | Band 150
Nina Kleinöder (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Unternehmensgeschichte und der Geschichte der Arbeit. Stefan Müller (PD Dr.), geb. 1966, ist Referent im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung und Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Arbeitswelten und der Gewerkschaften. Karsten Uhl (PD Dr.), geb. 1972, ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Technik und der Arbeit.
Nina Kleinöder, Stefan Müller, Karsten Uhl (Hg.)
»Humanisierung der Arbeit« Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts
Die Publikation wurde durch das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Basierend auf dem Plakat Humanisierung des Arbeitslebens: Der Mensch im Mittelpunkt, ca. 1976. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (Rechteinhaber unbekannt) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4653-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4653-9 https://doi.org/10.14361/9783839446539 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Die Humanisierung des Arbeitslebens. Einführung und methodische Überlegungen
Nina Kleinöder/Stefan Müller/Karsten Uhl | 9
VOM PRODUKTIONSFAKTOR MENSCH ZUM POLITISCHEN PROGRAMM DER HUMANISIERUNG DER ARBEIT Der Erste Weltkrieg als Ausgangspunkt der Humanisierung des Arbeitslebens. Der Beginn des staatlichen und unternehmerischen Interesses am »menschlichen Faktor« in der Produktion
Karsten Uhl | 35 Das Forschungs- und Aktionsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (1974-1989)
Stefan Müller | 59
ARBEITSSCHUTZ IM ZENTRUM DER HUMANISIERUNG Humanisierung durch Arbeitssicherheit? Die Reform des Arbeitsschutzes als Ausgangspunkt der »Humanisierung des Arbeitslebens« zwischen 1963 und 1979/80
Nina Kleinöder | 91 Transfer, Bewusstseinsbildung, Öffentlichkeitsarbeit. Die Deutsche Arbeitsschutzausstellung als Akteur der »Humanisierung des Arbeitslebens«
Bernd Holtwick | 109
GESELLSCHAFTLICHER UND KULTURELLER WANDEL IM KONTEXT DER HUMANISIERUNG Aporien der Anpassung. Zur Humanisierung durch Bildung im »Strukturwandel« der Arbeit
Jan Kellershohn | 137 Grenzen der »Flexibilisierung«. Die Erforschung von Schichtarbeit und Körperzeiten im Rahmen des HdA-Programms
Hannah Ahlheim | 161 Von der Humanisierung zur Flexibilisierung der Arbeit. Der »Wertewandel« in der Wirtschaft der 1980er-Jahre am Beispiel von BMW
Bernhard Dietz | 185
BRANCHENSPEZIFISCHE HUMANISIERUNG? Humanisierung unter Tage? Das HdA-Programm und seine Umsetzung im westdeutschen Steinkohlenbergbau
Martha Poplawski | 215 Lernen als Hürde und Überforderung? Qualifikation und Qualifizierung von Arbeitern in den HdA-Projekten bei VW
Gina Fuhrich | 233 Die IG Metall im Diskurs um die Humanisierung des Arbeitslebens
Moritz Müller | 255
HUMANISIERUNG TRANSNATIONAL Eine neue Art, Autos zu produzieren? Arbeitskämpfe und betriebliche Gewerkschaftsinitiativen bei FIAT-Mirafiori zu Beginn der 1970er-Jahre
Dietmar Lange | 279 Humanization of Work in Scandinavia, 1960-1990. Strategies Against Problems of the Modern Industrial Work
Maths Isacson | 305 Autorinnen und Autoren | 329 Dank | 333
Die Humanisierung des Arbeitslebens Einführung und methodische Überlegungen Nina Kleinöder/Stefan Müller/Karsten Uhl
Mit der Initiierung des Forschungs- und Aktionsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA) im Jahr 1974 setzte die sozial-liberale Bundesregierung eines ihrer zentralen Reformprojekte um, das bereits in der ersten Regierungserklärung Willy Brandts 1969 eine Erwähnung fand.1 Auch über den Regierungswechsel 1982 hinaus wurde das Bundesprogramm bis 1989 fortgeführt. Insbesondere in den 1970er-Jahren kam dem Programm, das in den Bundesministerien für Arbeit und Sozialordnung (BMA) sowie für Forschung und Technologie (BMFT) angesiedelt war, eine große Bedeutung sowohl für konkrete Forschungsprojekte und ihre betriebliche Umsetzung als auch für die gesellschaftliche Debatte zu. Aus dieser Zeit stammt das Werbeplakat »Humanisierung des Arbeitslebens: Der Mensch ist Mittelpunkt«, an dem sich gut skizzieren lässt, unter welchen vielfältigen Aspekten die Humanisierung der Arbeit Anknüpfungspunkte für die geschichtswissenschaftliche Forschung bietet (vgl. Abb. 1). Die Grafik ist in ihrer Einfachheit sehr wirkungsvoll: Den Hintergrund bildet eine schwarzweiße Fotografie aus einer Fabrik. Ohne Spezialkenntnisse sind die abgebildeten Maschinen nicht im Detail identifizierbar und doch wird auch dem Laien auf den ersten Blick deutlich, dass es sich um eine Abbildung aus dem industriellen Arbeitsleben handelt. Im Zentrum und mehr als die Hälfte der Abbildungsfläche einnehmend liegt eine in schlichtem Weiß gehaltene seitliche Silhouette eines menschlichen Kopfes. In diesem Kopf sind Lochstreifen in bunten Farben so angeordnet, dass die Anmutung eines Windrades entsteht. Komplettiert wird das
1
Vgl. Willy Brandt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht vom 28.10.1969, Bundestagsdrucksache 06/5, S. 29.
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Farbspektrum durch den in zwei Grüntonen gesetzten Titel des Posters auf der linken Seite des Windrades. Kleiner gedruckt steht auf der rechten Seite in sachlichem Schwarz, mit welchen Mitteln diese »Humanisierung des Arbeitslebens« durchgesetzt werden sollte: »Maschinenschutzgesetz, Betriebsverfassung, Mitbestimmungsgesetz, Jugendarbeitsschutz, Arbeitsstättenverordnung, Arbeitssicherheitsgesetz, Unfallverhütungsbericht, Aktionsprogramm ›Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens‹, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung«. Im Text umreißt das Plakat damit die in der zeitgenössischen Diskussion wichtigsten arbeits- und gesundheitspolitischen Maßnahmen zwischen 1968 und 1976. Die Herausgeberin des Plakats, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (BAU) in Dortmund, wurde selbst 1972 gegründet. Abb. 1: Plakat »Humanisierung des Arbeitslebens: Der Mensch im Mittelpunkt«, ca. 1976.
Quelle: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (Rechteinhaber unbekannt).
An diesem Plakat wird deutlich, dass die »Humanisierung des Arbeitslebens« zum einen sehr stark um die Herausforderungen der 1970er-Jahre kreiste, zum anderen aber auch in den Traditionen der Industriearbeit wurzelte und alte Forderungen der Arbeiterbewegung aufgriff. Auf den ersten Blick verweisen die Lochstreifen auf eine zu dieser Zeit weitverbreitete Methode der Automatisierung: die numerische Steuerung von Werkzeugmaschinen, sogenannte NCMaschinen (numerical control). Die spielerische Anordnung der Lochstreifen in
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Form eines Kinderspielzeuges, des Windrades, lässt sich als Hinweis darauf deuten, dass nun im Kontext des HdA-Programms die neuen Fragen nach der Qualität der Arbeit und nach Möglichkeiten der Selbstverwirklichung gestellt wurden. Dabei firmierte der technologische Fortschritt keinesfalls als eine Gefährdung dieser Werte, sondern wurde gerade im Gegenteil als ein Mittel zur Überwindung industrieller Eintönigkeit, zur Befreiung von monotoner Fließbandarbeit begriffen. In diesem Sinne transportierte das HdA-Programm die Hoffnung, Sozial-, Wirtschafts- und Technologiepolitik ließen sich miteinander in Einklang bringen.2 Ebenfalls wichtige zeitgenössische Themen stellten die aufgelisteten gesetzlichen Maßnahmen, insbesondere die Frage der betrieblichen Mitbestimmung und ihre mögliche Ausweitung, dar.3 Diese Frage war zwar in den 1970er-Jahren besonders stark politisch und juristisch umkämpft, mitnichten jedoch ein neues Thema der Arbeiterbewegung.4 Ebenso wurden die Debatten um Unfälle, Arbeitersicherheit und die Gestaltung von Arbeitsräumen seit Jahrzehnten in unterschiedlicher Intensität geführt.5 Selbst die Forderung, der Mensch habe im Mittelpunkt des Arbeitslebens zu stehen, wurde nicht allein von den progressiven Kräften dieser Zeit vertreten. Bereits in der Rationalisierungsbewegung der Nachkriegszeit wurde behauptet, bei allen Überlegungen zur Steigerung der Effizienz am Arbeitsplatz habe doch stets, und dies schon seit der Zwischenkriegszeit, der »Mensch an Werkbank und Maschine« im »Mittelpunkt aller Betrachtungen« gestanden.6
FORSCHUNGSTAND UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Im Jahre 2011 richteten sowohl ein Sammelbandbeitrag von Anne Seibring als auch ein Themenheft der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte« erstmals eine explizite historische Perspektive auf das westdeutsche Regierungspro-
2
Vgl. Geyer: Gesamtbetrachtung, 2008, S. 906-908.
3
Vgl. jüngst Testorf: Eisen, 2017.
4
Vgl. Milert/Tschirbs: Demokratie, 2012.
5
Vgl. hier die Literaturangaben in den Beiträgen von Nina Kleinöder und Stefan Müller sowie die Überblicksdarstellungen bei Bethge: Arbeitsschutz 1957-66, 2007; Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006; Bethge: Arbeitsschutz 1974-82, 2008.
6
Tischert: Stätten, 1959, S. 309.
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gramm zur »Humanisierung des Arbeitslebens«.7 Neben einer Übersicht der normativen Entwicklung des Programmes in der Reihe »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland nach 1945« von Hans Günter Hockerts und anderen blieben diese Beiträge lange Zeit der einzige geschichtswissenschaftlich orientierte Zugang zu dieser Thematik.8 Demgegenüber war die historische Aufarbeitung der HdA lange durch die Sozialwissenschaften geprägt, und wurde oftmals von zeitgenössischen Akteuren selbst vorangetrieben.9 Die HdA war somit lange Zeit kein Feld der historiographischen Betrachtung durch Fachhistoriker/-innen mit den entsprechenden theoretischen und methodischen Ansätzen. Dies hat sich in den letzten Jahren, auch mit der Zugänglichkeit zu Quellen, geändert. In gemeinsamen Diskussionen und kleineren Studien im Vorfeld dieses Sammelbandes zeigte sich, wie gehaltvoll es ist, das HdA-Programm zum Ausgangspunkt einer breiteren Betrachtung des Verhältnisses von Humanisierung und Rationalisierung zu nehmen.10 Gemeinsam teilen die Herausgeber/-innen das Argument, dass es sich hierbei um eine Geschichte des 20. Jahrhunderts handelt.11 Diese skizzierte Vielfältigkeit des Forschungsgegenstands »Humanisierung des Arbeitslebens« bietet Zugänge aus unterschiedlichen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen an. Im Folgenden sollen drei historische Teilgebiete und ihre jeweiligen Fragen an das Thema umrissen werden. Dabei verspricht für künftige Forschungsvorhaben gerade eine Zusammenführung der unterschiedlichen Perspektiven einen erhöhten Erkenntnisgewinn. Die Beiträge dieses Bandes möchten den Weg dazu einschlagen. HdA als transnationale Sozialgeschichte Erstens lässt sich das HdA-Programm aus sozialgeschichtlicher Perspektive untersuchen. Für die Gewerkschaftsgeschichte, die Geschichte der Arbeit und für die Geschichte der Sozialpolitik der 1970er-Jahre stellt das Bundesprogramm einen wesentlichen Bezugspunkt dar. Im entsprechenden Band der Reihe »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland« kommt der »Humanisierung des Ar-
7
Vgl. Seibring: Humanisierung, 2011; Sauer: Humanisierung, 2011.
8
Vgl. Hockerts (Hg.): Sozialpolitik, 2001-2008.
9
Vgl. u.a. Fricke: Dreißig Jahre, 2003; Fricke: Beteiligung, 2008; Sonderausgabe der Zeitschrift für Arbeitswissenschaften im Jahr 2009 mit den Beiträgen von Peter/Pöhler: Umsetzungskonzepte, 2009; Matthöfer/Herzog: HdA-Programm, 2009; Neubauer/Oehlke: Knotenpunkte, 2009; Ulich: Erfahrungen, 2009.
10 Vgl. Müller: Humanisierung, 2016; Kleinöder: Humanisierung, 2016. 11 Vgl. Uhl: Rationalisierung, 2014.
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beitslebens« in Martin Geyers Gesamtbetrachtung zur »Logik sozialpolitischer Reformen« sogar eine zentrale Rolle zu. An dem Programm ließen sich die »Dilemmata sozialdemokratischer Reformpolitik« aufzeigen, nämlich die Abhängigkeit der Reformprojekte von den Voraussetzungen Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzsicherheit.12 Für die kulturgeschichtlich und globalgeschichtlich methodisch erneuerte Geschichte der Arbeit13 war das HdA-Programm bisher verhältnismäßig selten Untersuchungsgegenstand. Das lässt sich durch einen scheinbaren Widerspruch erklären: Auf den ersten Blick scheint die Geschichte des Bundesprogramms einen erneuten Rückzug in die überwunden geglaubte Nationalgeschichtsschreibung mit sich zu bringen. Allerdings lässt sich die vermeintliche Gefahr auch als Chance fassen. Auch wenn das Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« in seinem Umfang und seiner Ausrichtung ein Spezifikum der Bundesrepublik war, kann es nur im Kontext internationaler und transnationaler Entwicklungen verstanden werden. Internationale Vorbilder wie zeitgleich in den USA, in Großbritannien und in Frankreich zu Beginn der 1970er-Jahre entstandene Studien über den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz spielten eine zentrale Rolle.14 Insbesondere gilt dies für die zeitgenössischen Diskussionen um die Qualität des Arbeitslebens und neue Formen der Arbeitsgestaltung in Skandinavien, den Niederlanden und den USA.15 Die westdeutschen Initiativen waren in transnationale Entwicklungen eingebettet und wurden von diesen angeregt. Dieser Dimension waren sich die damaligen Akteure bereits bewusst.16 Angesichts der zeitgenössischen (vorwiegend sozialwissenschaftlichen) Literaturlage kann jedoch der Eindruck gewonnen werden, die Arbeitswelt in Westeuropa und den USA habe seit Mitte der 1960er-Jahre geradezu eine Humanisierungswelle erfasst. Eine Literaturstudie der International Labour Organisation (ILO) aus dem Jahr 1977, in der Veröffentlichungen zur Arbeitshumanisierung aus 25 Ländern berücksichtigt wurden, führt alleine 2000 Titel an.17 Die in diesem Band vertretenen Beiträge zur transnationalen Dimension können zwar lediglich einen kleinen Ausschnitt der Humanisierungsdebatten und -initiativen darstellen, geben aber über ihre Fallstudien hinaus Hinweise auf den historiographischen Wert.
12 Vgl. Geyer: Gesamtbetrachtung, 2008, S. 905-912, Zitat auf S. 905. 13 Vgl. bspw. den ersten Band einer neuen Schriftenreihe: Eckert: Global Histories, 2016. 14 Vgl. Delamotte: Recherches, 1972; O’Toole: Work, 1972; Wilson: Quality, 1973. 15 Vgl. Kleinschmidt: Blick, 2002, S. 200; Locke: Collapse, 1996, S. 84. 16 Vgl. Fricke/Notz/Schuchardt: Arbeitnehmerbeteiligung, 1986. 17 Vgl. ILO: Bibliography, 1978.
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Weitgehend unbearbeitet sind auch die Diskussionen in Osteuropa und den staatssozialistischen Ländern.18 Dass sich eine Untersuchung lohnen würde, zeigt sich an einer gemeinsamen Diskussion west- und osteuropäischer Gewerkschaften über Arbeits- und Gesundheitsschutz Anfang 1975.19 Der Hintergrund dieses Treffens war die Suche der osteuropäischen Gewerkschaften nach einem multilateralen Rahmen für eine gesamteuropäische Gewerkschaftskonferenz. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lehnte solche, insbesondere auf die Sicherheitskonferenz von Helsinki (KSZE) schielenden Zusammenkünfte mit kommunistischen Staatsgewerkschaften im Prinzip ab, schlug dann aber das für ihn zu dem Zeitpunkt brandaktuelle Thema Humanisierung der Arbeit vor.20 Eine solche transnationale Perspektivierung der HdA-Geschichte ist dabei hochgradig anschlussfähig an aktuelle Debatten zur transnationalen Gewerkschaftsgeschichte.21 Gerade das spezifische Aufeinandertreffen älterer deutscher Traditionen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie den Gewerbeordnungen und den Arbeitsschutzgesetzen,22 mit zeitgenössischen internationalen Diskussionen in den 1970er-Jahren ist für das Verständnis der konkreten Umsetzungen des HdA-Programms und der flankierenden Debatten von größter Bedeutung. HdA als konzentrierte Debatte bietet sich damit in vielfältiger Weise als Echolot transnationaler Zeitgeschichtsschreibung an. Auf den Ost-West-Konflikt wurde bereits hingewiesen. Aber auch die systematische Beziehung zu Bewegungen und Programmen in anderen Ländern, die wir mit zwei Beiträgen in diesem Band eröffnen können, sind gleichfalls ein Desiderat wie die Rolle supranationaler Organisationen wie der Internationalen Labour Organisation (ILO) oder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit ihrem Ergonomie-Programm.23
18 Vgl. zum Arbeitsschutz in der DDR Wienhold: Arbeitsschutz, 2014. 19 Vgl. Kommuniqué. Konferenz der europäischen Gewerkschaften über Humanisierung der
Arbeitsumwelt
[1.3.1975],
Archiv
der
sozialen
Demokratie,
Bonn,
5/DGAJ000523; In Ost und West gefährdet, in: Welt der Arbeit, 7.3.1975, S. 2. 20 Vgl. Müller: Ostpolitik, 2014. 21 Vgl. grundlegend u.a. Fetzer: Industrial Relations History, 2012; van der Linden: Transnational, 2003. Vgl. ferner jüngst Hoerder/van Nederveen Meerkerk/Neunsinger (Hg.): Domestic Workers, 2015; Roth (Hg.): Road, 2017; Wolf: Assurances, 2018. 22 Vgl. Kleinschmidt: Blick, 2002, S. 200. 23 Vgl. EGKS: Menschliche Faktoren, 1967.
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Wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Perspektive Zweitens bietet die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte einen wichtigen Blick auf die Geschichte der Humanisierung der Arbeit. So wird durch diese Perspektive deutlich, dass es sich nicht um ein rein gewerkschaftliches, sondern um ein politisch umkämpftes Projekt handelte, bei dem etwa das jeweilige Verhältnis zwischen Rationalisierung und Humanisierung im Betrieb immer wieder neu ausgehandelt werden musste. Dabei ging es eben nicht nur um die Rationalisierungsdebatten zwischen den Unternehmern und den Arbeitern, sondern vielmehr kann zwischen den hierarchischen Ebenen des industriellen Produktionsprozesses (in dem die Mehrzahl der geförderten Projekte durchgeführt wurde) feingliedrig, wie etwa die Rolle von Meistern, gelernten und ungelernten Arbeitskräften, unterschieden werden. Dabei wird auch die Rolle der Vorstände als einzelne handelnde Akteure stärker berücksichtigt. Gerade über die Rolle etwa der Arbeitsdirektoren in der Montanmitbestimmung (Vorstandsmitglied zuständig für die Beschäftigten und gewerkschaftlich gestützt) lassen sich Aushandlungsprozesse im Spagat von Rationalisierung und Humanisierung akzentuieren, die auch jenseits schematischer Zuschreibungen verliefen. Warum nahmen Unternehmen überhaupt an diesem Programm teil? So entstand etwa beim Stahlproduzenten Hoesch in Dortmund ab 1982 im Rahmen des Humanisierungsprogramms ein Großprojekt, »das einerseits von der Investitionsplanung über die Veränderung von Arbeitsstrukturen bis hin zur Gründung von Beteiligungsgruppen reichte, andererseits aber auch zu einer Reduzierung von Arbeitsplätzen an einzelnen Anlagen […] führte«. Hier war die »Kehrseite der Medaille Humanisierung« jedoch aus Vorstandssicht keine Folgeerscheinung, sondern »integraler Bestandteil in der internen Argumentation für diese neuen Projekte«. Auch wenn für die Vertreter der Arbeitnehmerseite der Humanisierungsaspekt des Programms im Vordergrund stand, so waren es strategisch am Ende erst »die erwartbaren Einsparungen bei den Arbeitsplätzen und -kosten«, mit denen die Unternehmensleitung für die Eigeninvestitionen im Rahmen des HdA-Programms gewonnen werden konnte.24 Zugleich gibt das Beispiel von Hoesch auch erste Einblicke in mögliche Erfolge und Grenzen der betrieblichen Umsetzung der HdA. Neben betrieblichen Hemmnissen und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage war es zunehmend ein »Problem, dass sich auch die Belegschaftsangehörigen nur unter bestimmten Bedingungen für eine Weiterbildung motivieren ließen«. Als zentrale Hemmnisse zeichnen sich aber auch branchenspezifische Strukturen ab, die die Frage des
24 Kruse/Lauschke/Lichte: Alfred Heese, 2010, S. 45.
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betrieblichen Einzelfalls auf die Branchenebene hob: So ging der Arbeitsdirektor »Alfred Heese davon aus, dass die insgesamt geringe Ausstrahlungskraft der Experimente in den Kaltwalzwerken in Wirklichkeit auf den Strukturkonservatismus von Betriebsräten und Betriebsleitungen zurückzuführen ist, der eine Übertragung erfolgreicher Projekte auf andere Hoesch-Betriebe verhinderte«. Hinzu kam »ein zunehmendes Misstrauen im Unternehmen gegenüber den erweiterten Mitsprachemöglichkeiten der Arbeiter bei der Gestaltung ihrer Arbeitsplätze«.25 In dieser kurzen Episode spiegeln sich die großen Debatten um das Verhältnis von Rationalisierung und Humanisierung, wissenschaftlichem Anspruch und ökonomischer Realität, wie auch individueller Einstellungen zum Humanisierungsprogramm vom Arbeiter bis zum Arbeitsdirektor wieder. Diese müssen unternehmenshistorische Studien als Mikrogeschichte nicht nur herausarbeiten, sondern auch ein differenzierteres Bild von beteiligten Akteuren, Motiven und Folgen zeichnen. Darüber hinaus muss ein zukünftiger Mikroblick auf die Ebene einzelner Unternehmen noch zeigen, welche Unterschiede es bezüglich der Anwendung des HdA-Programms zwischen einzelnen Wirtschaftsbranchen, aber auch zwischen den Betrieben selbst gab. HdA und die Produktion von Wissen Drittens kann es die Technik- und Wissensgeschichte leisten, den wichtigen zeitgenössischen Kontext der Automatisierung und Computerisierung stärker in die Analyse der »Humanisierung des Arbeitslebens« zu integrieren. Dabei sollten Konzepte wie praktische Formen des Mensch-Maschine-Verhältnisses in ihrem Wandel untersucht werden. Beispielsweise konnte Martina Heßler in ihren Forschungen zu den ersten Versuchen der Vollautomatisierung in der Montage der Wolfsburger VW-Werks herausarbeiten, dass sich der Konzern vom umfassenden Einsatz von Industrierobotern »Humanisierungseffekte« versprach.26 Das war nicht allein Unternehmensperspektive: Auch führende Gewerkschafter und das Bundesforschungsministerium verbanden mit der Automatisierung die Hoffnung auf ein Ende der monotonen Fließbandarbeit und ihre Ersetzung durch qualifizierte Tätigkeiten auf höherem technologischen Niveau.27 Besonders in Arbeitskonflikten wird deutlich, welche Spannungen inhärent in dem Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« angelegt waren, weil es eben die Gleichzeitigkeit von sozialem und technologischem Fortschritt ver-
25 Alle Zitate ebd., S. 47f. 26 Heßler: Halle 54, 2014, S. 64. 27 Vgl. Geyer: Gesamtbetrachtung, 2008, S. 907.
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sprach, was insbesondere unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen schwer einzulösen und sowieso stets politisch umkämpft war. Die erste Branche, in der es zu größeren Arbeitskämpfen im Zusammenhang mit der Computerisierung kam, war die Druckindustrie im Zuge der Einführung des Computerschriftsatzes.28 Während der Tarifauseinandersetzungen im Jahr 1978 ging es explizit darum, was die »Humanisierung der Arbeit« ausmache. Während die Unternehmer die neue Technologie der elektronischen Schriftsatzherstellung und damit die Überwindung der aus gesundheitlichen Gründen problematischen Technik des Bleisatzes generell als einen Beitrag zur Humanisierung betrachteten, betonte die IG Druck und Papier die soziale Gestaltbarkeit der Technik. Es müsse erst erkämpft werden, dass die konkrete Gestaltung der neuen Technik dazu führe, »die Arbeitsbedingungen menschenwürdiger« zu gestalten. Ohne gewerkschaftliche Gegenmacht würden die Unternehmer die neue Technologie »zuerst als Mittel der Profitsicherung und -steigerung« betrachten.29 Zwei Jahre nach Tarifabschluss betonte der Stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erwin Ferlemann, dass gerade diejenigen Bestimmungen des Tarifvertrags, die »der Humanisierung der Bildschirmarbeitsplätze« dienten, also Regelungen zur Pausengestaltung, zu ärztlichen Untersuchungen und zur ergonomischen Gestaltung der Arbeitsplätze, den Hebel für die Gestaltung veränderter Arbeitsbedingungen darstellten. Zu seinem Bedauern sei es jedoch nicht gelungen, die Gewerkschaften anderer Branchen von den weitreichenden Möglichkeiten solcher Humanisierungsbestimmungen zu überzeugen.30 Diese Beispiele verdeutlichen, inwiefern technikhistorische Themenkomplexe wie die Fragen nach einer etwaigen Neutralität von Technologien und ihrer sozialen Gestaltbarkeit oder nach der Entwicklung eines Momentums für die Geschichte der »Humanisierung des Arbeitslebens« von Belang sein können. Die Auswirkungen konkreter HdA-Projekte hingen also nicht allein von volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, betriebswirtschaftlichen Interessen, den industriellen Beziehungen oder den jeweiligen bundespolitischen Zielen ab. Auch die jeweilige historisch-spezifische Technik sollte dahingehend analysiert werden, welche Möglichkeiten ihre konkrete Gestalt überhaupt für Humanisierungsziele eröffnete. Auch in diesem Sinne rücken Fragen der technischen Rati-
28 Danyel/Schuhmann: Wege, 2015, S. 303. 29 Manuskript der IG Druck und Papier, Hauptvorstand: Rationalisierung, Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen. Gewerkschaftliche Antworten. Ein Diskussionsleitfaden, o.O., o.J. [1977/1978], S. 11f., 26. Archiv für soziale Bewegungen, Bochum, Sign. MüJe 7. 30 Ferlemann: Rationalisierung, 1980, S. 270.
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onalisierung und der Humanisierung der Arbeit im analytischen Zugriff eng zusammen. Ferner hatte das HdA-Programm strukturierende Wirkung auf Teildisziplinen der Soziologie und der Arbeitswissenschaften. Mit seinen im Vergleich zu anderen technologischen Großförderungen geringen Mitteln nahm das Programm dennoch erheblichen Einfluss auf universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und förderte die Herausbildung einer scientific community im Feld der Arbeitsforschung. Auf dieses Feld wird im vorliegenden Sammelband nicht weiter eingegangen, es verdient aber weiterer Forschungen, zumal die Mitte der 1970er-Jahre angelegten Förderstrukturen bis heute existieren.31 Eine Fachgeschichte der westdeutschen Soziologie, insbesondere der Arbeits- und Industriesoziologie, kann ohne eine Diskussion des HdA-Programms nicht geschrieben werden. Neben dem institutionellen Einfluss stellte diese Subdisziplin einen der Hauptaustragungsorte des Konfliktes zwischen partizipativer bzw. Aktionsforschung und dem experimentell bzw. analytisch-empirisch ausgerichteten Teilbereich der Soziologie dar.32 Die vielfältigen Berichte betrieblicher Praktiker belegen dies sehr anschaulich. Und sie lesen sich teils wie Kommentare aus der Gegenwart. So wurde 1980 in der IG Metall kritisiert, dass die sozialwissenschaftlichen Begleitforscher die erwarteten »Problemlösungsansätze […] oft nicht geben können oder wollen« und die Wissenschaftler insbesondere bei der Hochschulforschung häufig gezwungen seien, sich an immanenten Zwängen wie Publikations- oder Qualifikationsvorhaben zu orientieren. »Das betriebliche Feld verkommt durch eine solche Situation oft zu Datenclaims für die einzelnen Wissenschaftler«.33 Multiperspektivität und Interdisziplinarität als Herausforderungen Unter den oben genannten Perspektiven bietet das HdA-Programm selbst noch unerforschte Weiten für Unternehmensstudien. Naheliegend erscheint zunächst die Orientierung an den Programmschwerpunkten selber: Arbeitsschutz, Ar-
31 Vgl. Jacobsen: Arbeitsforschung, 2016. 32 Vgl. aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Altrichter/Gstettner: Aktionsforschung, 1993; Schneider: Methodenkrise, 1980. 33 Hubert Borns, Manfred Muster: Mängel der bisherigen HdA-Projekte aus der Sicht der IG Metall (Entwurf), 1.9.1980, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 5/IGMA150847.
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beitsorganisation, Normsetzung, Transfer.34 Dies betrifft sowohl Detailstudien zu einzelnen Projekten, als auch ihre Bündelung bzw. den Branchenvergleich. Damit eng verwoben ist die Untersuchung der organisatorischen Rahmenbedingungen des Forschungsprogramms, also der Kontext von Forschungs- und Technologieförderung in der Bundesrepublik. Unter historiographischen Gesichtspunkten stellt dies gleichfalls ein nahezu unerforschtes Territorium dar.35 Fragen der Umsetzung und Umsetzungsprobleme bzw. Kompetenzen der einzelnen beteiligten Institutionen (Projektträgerschaft DVFLR, Bundeszentrum Humanisierung des Arbeitslebens, BMA, BMFT) sind bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Bereits eine Re-Systematisierung der rund 1600 im HdAProgramm zwischen 1974 und 1989 geförderten Projekte würde einen historiographisch fundierten Blick auf die zeitgenössischen Diagnosen von Unternehmen, Gewerkschaften, staatlichen Akteuren und Wissenschaft geben. Die im Rahmen des Bundesprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« geförderten Projekte sollten Antworten geben auf Diagnosen einer krisenhaften Gegenwart und einer unsicheren Zukunft.36 Eine besondere Herausforderung stellen die Komplexität der Materie und die interdisziplinären Zugänge dar. Neben der notwendigen Vogelperspektive auf das HdA-Programm gilt es gleichfalls, die in der Forschung und im vorliegenden Sammelband diskutierten Annahmen in weiteren Detailstudien und an Fallbeispielen zu prüfen. Zugleich wird es in der Zukunft auch wichtig sein, nicht in der Kleinteiligkeit der Einzelprojekte zu verharren, sondern ihre Vielgestalt als Teilergebnisse gezielt zu vernetzen, um über das Bundesprogramm zu allgemeineren Aussagen über die Geschichte der Arbeitswelt(en) im 20. Jahrhundert zu gelangen. Konkret bedeutet dies, die Verflechtungen von Akteuren mit ihren unterschiedlichen Interessen und Handlungsfeldern, wissenschaftlichen Feldern (und ihrer individuellen methodischen Herangehensweisen), Institutionen und Verwaltung in den Blick zu nehmen. Hierzu zählen spezifische Fragestellungen nach staatlichen Akteuren und Institutionen, Gewerkschaften und Betriebsräten, Forschungsinstituten und Wissenschaftlern, Arbeitgeberverbänden sowie betrieblichen und politischen Akteuren.
34 Vgl. dazu Beitrag von Stefan Müller in diesem Band. 35 Vgl. Stucke: Forschungspolitik, 1993; Weingart/Taubert: Wissensministerium, 2006. 36 HdA ist damit anschlussfähig an die seit einigen Jahren intensiv geführte Diskussion um Zukunftsvorstellungen und Zukunftshandeln. Vgl. Seefried: Zukünfte, 2015; Hölscher: Zukunft, 2017; Ferner sei auf einen im Entstehen begriffenen Band von Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann zu »Vergangenen Zukünften von Arbeit« hingewiesen: Rehlinghaus/Teichmann (Hg.), Vergangene Zukünfte, 2019.
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Darüber hinaus legt die Vielzahl und Heterogenität der am HdA-Programm beteiligten Forschungsinstitute nahe, aus wissenschaftshistorischer Sicht stärker zu differenzieren. So finden sich in der Begleitforschung neben den Sozialwissenschaften mit ihren Schwerpunkten in der Arbeits- und Betriebspsychologie, der Pädagogik und der Weiterbildung, auch die Arbeitswissenschaften (Arbeitsschutz und Unfallforschung, Ergonomie, Arbeitsgestaltung), die Ingenieurswissenschaften (Produktions-, Verfahrens- und Werkstofftechnik, Informationsverarbeitung), die Wirtschaftswissenschaften oder die Umweltforschung (u.a. Luftund Wasserhygiene, Geochemie) wieder. Ausgehend von den Humanisierungsaktivitäten der 1970er- und 1980er-Jahre bietet sich die Chance, verschiedene (historische) Teildisziplinen mit unterschiedlichen Fragestellungen in das gemeinsame Gespräch zu bringen. Im Rahmen der Humanisierungsforschungen wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren somit sozial- und arbeitswissenschaftliche Quellen produziert, die vom Forschungsbericht bis hin zu Interviewprotokollen für die historiographische Sekundäranalyse zur Verfügung stehen.37 Das Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« thematisierte wichtige Fragen der Zeit, blieb damit aber der Tradition der Industriearbeit insofern verhaftet, als die Debatten um Unfälle und Arbeitssicherheit, um die Gestaltung von Arbeitsräumen und Arbeitsplätzen sowie um betriebliche Demokratie bzw. Mitbestimmung ihr Zentrum ausmachten.38 Mit einigem Recht lässt sich festhalten, dass das unausgesprochene Subjekt der HdA der männliche, einheimische Industriefacharbeiter blieb. Eine Relektüre des Forschungsprogramms und der zeitgenössischen Quellen erfordert den Schritt darüber hinaus. Schon alleine angesichts der seit den 1970er-Jahren rasant gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit sowie der Debatten um die »Gastarbeit« sind gender- und migrationshistorische Perspektiven unumgänglich. In einer gewissen Hinsicht setzt sich der vorliegende Band immer noch mit den Problemen auseinander, die bereits der Sozial- und Wirtschaftshistoriker
37 Vgl. zur Diskussion in der Geschichtswissenschaft Graf/Priemel: Zeitgeschichte, 2011; Raphael/Pleinen: Zeithistoriker, 2014. 38 Siehe zur Bedeutung der Gruppe(narbeit) auch jüngst die Beiträge von Daniel Monninger, Timo Luks und David Kuchenbuch bei der Tagung «Epistemologie der Gruppe – Forschungsperspektiven 1920–1990», 19.-21.09.2018 Essen, in: H-Soz-Kult, 31.08.2018, URL: www.hsozkult.de/event/id/termine-38023. Darüber hinaus vgl. auch die Tagung «Workplace Democracy Revisited: Labour and Practices of Participation, Workers’ Control and Self-Management in Global Perspective. 54th ITH Conference, 06.-08.09.2018 Linz, in: H-Soz-Kult, 26.02.2019, www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-8135.
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Friedrich-Wilhelm Henning in seiner frühen Beschäftigung mit dem Thema »Humanisierung und Technisierung der Arbeitswelt« in den 1970er-Jahren benannt hatte.39 Henning versuchte, eine historische Tiefenanalyse zur politischen Debatte um HdA während ihrer Hochphase beizusteuern, indem er das Verhältnis von Technisierung und Humanisierung seit Beginn der Industrialisierung in den Blick nahm. Auch mit einem zeitlichen Abstand von vierzig Jahren fällt es uns heute ebenso schwer wie Henning, »Humanisierung der Arbeit« klar zu definieren.40 Seine Schlussfolgerung, die »Technisierung der Arbeitswelt« habe »nicht eine Humanisierung zur Folge gehabt, aber die materiellen Voraussetzungen hierfür« geschaffen,41 erscheint in ihrer Unverbindlichkeit grundsätzlich auch heute noch zustimmungsfähig. Allerding sind dabei einige Verschiebungen zu berücksichtigen, die die Beiträge des vorliegenden Bandes prägen. Henning untersuchte als Parameter einer »Humanisierung« die Entwicklung der Unfallhäufigkeit, die Verringerung der physischen und psychischen Belastung und die Auswirkungen auf die Sicherheit des Einzelnen, auch morgen noch an seinem Arbeitsplatz beschäftigt zu sein. Im Hinblick auf diese Aspekte unterscheidet sich unser Zugriff auf die Geschichte der »Humanisierung der Arbeit« dann doch deutlich von den sozialhistorischen Anfängen, insbesondere durch die Geschichte des HdA-Programms und die technische und sozio-ökonomische Entwicklung der letzten Jahrzehnte: Insbesondere die Frage der Qualität der Arbeit (und der Auseinandersetzung darum) spielt in der historischen Analyse der vorliegenden Beiträge eine wichtige Rolle. Das weist darauf hin, dass Hennings Parameter der psychischen Belastung und der Ersetzbarkeit des menschlichen Arbeitsplatzes durch technologischen Wandel nicht zwangsläufig auf der von ihm beschriebene Richtung hin zu einem steigenden Humanisierungsgrad weiterlaufen müssen. Gerade in diesen Bereichen sind die zentralen Auseinandersetzungen um das HdA-Programm auszumachen. Im Sinne einer Geschichte der Gegenwart weist unser Band hiermit auf die Entwicklungsgeschichte der heute zentralen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten um die Zukunft der (guten) Arbeit.42
39 Henning: Humanisierung, 1978. – Dieser Aufsatz ist die leicht veränderte Version eines gleichnamigen Textes, den Henning 1976 in der Zeitschrift Archiv und Wirtschaft veröffentlicht hatte. 40 Vgl. ebd., S. 58f. 41 Ebd., S. 88. 42 Vgl. Initiative Neue Qualität der Arbeit, URL: https://www.inqa.de; DGB-Index Gute Arbeit, URL: https://index-gute-arbeit.dgb.de (letzter Zugriff jeweils: 20.05.2019)
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BEITRÄGE DES BANDES Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer Konferenz im Oktober 2017, in der das Thema erstmals aus historiographischer Sicht systematisch aufgegriffen wurde.43 Die Humanisierungsinitiativen dienen uns dabei als Ausgangspunkt für die Vermessung des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Fragen nach »humaner« Arbeit, »menschlicherer« Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik. Ein zentrales Thema des vorliegenden Bandes ist dabei das Verhältnis von Humanisierung und Rationalisierung und damit einer Arena, in der unterschiedliche Akteure mit verschiedenen und sich teilweise auch widersprechenden Interessen und Normsetzungen auftreten. Finden sich in den formulierten Interessen sowie Gegneranalysen der Akteure Humanisierung und Rationalisierung zumeist als (antagonistische) Gegensätze, bilden sie in der historischen Rückschau doch vielfach eine Einheit. Der Begriff der »Humanisierung« dient dabei als inhaltliche Klammer unserer oben entwickelten Fragestellung und auch der einzelnen Beiträge. Neben dem Quellenbegriff handelt es sich folglich um eine analytische »Messstation«, mit der wir die Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts ausloten. Sprechen wir folglich in diesem Band von »Humanisierung«, so ist in aller Regel die zeitgenössische Perspektive mit ihrer spezifischen Semantik angesprochen. Gleichwohl – und dies wird in den Beiträgen deutlich – stößt das Anliegen, die Arbeitsverhältnisse für die Menschen angenehm zu gestalten und zu verbessern, auf die Sympathie der Herausgeber/-innen und der Beiträger/-innen. Die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Beiträge geht auf unsere Tagung von 2017 zurück. Darüber hinaus freuen wir uns, zusätzliche Beiträge von Maths Isacson und Hannah Ahlheim gewonnen zu haben, deren Forschungen unsere Debatten bereichern und die Perspektiven der Tagung erweitern. An dieser Stelle möchten wir ferner auf einige laufende Forschungsvorhaben hinweisen. Hierzu zählen Fallstudien zu HdA-Projekten bei einem Maschinenbauhersteller (Peiner AG), die bei Katja Patzel-Mattern an der Wirtschaftsgeschichte in Heidelberg angesiedelt sind, sowie eine Untersuchung der Automationsdebatten in der IG Metall von Ralf Roth aus Frankfurt.
43 Vgl. Tagungsbericht: »Humanisierung der Arbeit« – Aufbrüche und Konflikte in der Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, 16.10.2017 – 18.10.2017 Düsseldorf, in: H-SozKult, 07.04.2018, URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7644 (letzter Zugriff: 25.04.2019).
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Vom Produktionsfaktor Mensch zum politischen Programm der Humanisierung der Arbeit Im ersten Abschnitt des Sammelbandes finden sich zwei Rahmenbeiträge, die in ihrer Breite und Tiefe die in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen und Perspektiven der Herausgeber/-innen auf »Humanisierung des Arbeitslebens« eingehender diskutieren. Karsten Uhl nimmt zunächst eine Historisierung des HdA-Programmes der Bundesregierung vor, indem er die Vorgeschichte der Humanisierung der Arbeit untersucht und dabei den Ersten Weltkrieg als Ausgangspunkt identifiziert. In diesem Kontext wird deutlich, dass es von Beginn an verschiedene Möglichkeiten zur politischen Besetzung des Schlagwortes »Humanisierung« gab, es sich also keinesfalls um eine Form der linearen Kontinuität handelt. Uhls Beitrag nimmt vor allem das unternehmerische Interesse an einer Humanisierung im Kontext der Rationalisierungsbemühungen in den Blick. Über das Rationalisierungsinteresse am »Produktionsfaktor Mensch« gerieten nach und nach der ganze Mensch und seine Potenziale ins Zentrum der Überlegungen; in einem gewissen Sinne lässt sich hier der Beginn des Diskurses um »Humankapital« avant la lettre feststellen. Der Erste Weltkrieg schaffte dann Bedingungen zur ersten Umsetzung dieser Überlegungen in größerem Umfang: Staatliche Akteure forcierten oder förderten betriebliche ›Humanisierungsmaßnahmen‹, wobei nicht zuletzt der Geschlechterdimension – der verstärkten Beschäftigung von Frauen in der Industriearbeit – eine wichtige Rolle zukam. Dabei handelte es sich um internationale Prozesse, die miteinander zum Teil transnational verflochten waren. Im zweiten Rahmenbeitrag des Bandes setzt sich Stefan Müller mit der Genese und Struktur sowie schließlich den politischen Konflikten um das Forschungs- und Aktionsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (19741989) auseinander. Die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Aufsätze befasst sich mit Studien und Aktivitäten, die zeitgenössisch explizit Bestandteil des HdA-Programms der Bundesregierung waren oder im Kontext der Humanisierungsbemühungen und des Humanisierungsdiskurses der 1960er- bis 1980erJahre standen. Ob Unternehmens- oder Branchenstudie, ob Debatten über Auszubildende oder die Politik der Tarifparteien: Die Akteure waren in die HdAAktivitäten eingebunden oder bezogen sich in ihren Diskussionen auf diese. Das HdA-Programm bündelte Debatten über die Qualität des Lebens und den demokratischen Reformgeist der 1960er-Jahre, Gesetzesinitiativen im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie das unternehmerische Interesse an der Flexibilisierung der Produktion. Und in dieser Breite und Vielfalt prägte die »Humanisierung des Arbeitslebens« den Diskurs über Arbeit in den 1970er-Jahren. Zugleich mussten
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sich mit einer gewissen inneren Logik auch die widersprüchlichen Interessen der Akteure an den Zielsetzungen und Maßnahmen des Programms reiben. Insofern stellt Müllers Beitrag eine notwendige Lektürehilfe zum Verständnis der einzelnen Beiträge des Bandes dar. Arbeitsschutz im Zentrum der Humanisierung Im ersten Schwerpunktbereich des Sammelbandes steht die inhaltliche und formale Verbindung von Arbeitsschutz und »Humanisierung« im Zentrum der Betrachtung. Nina Kleinöder wendet sich in ihrem Beitrag zunächst den Ursprüngen des Forschungsprogrammes zu, das nach ihrer Lesart fest im (normativen) Wandel des Arbeitsschutzes seit den späten 1960er-Jahren verwurzelt war. Nach einer Phase legislativer Zurückhaltung rückten Themen des (betrieblichen) Arbeitsschutzes auf die sozialpolitische Agenda. In einem Bündel gesetzlicher Neuordnungen fehlte es jedoch an der fachwissenschaftlichen Grundlagenarbeit. Das Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« sollte diese Lücke schließen, um Arbeitsplätze zukünftig nicht nur sicher, sondern auch gesund zu gestalten. In der logischen Konsequenz standen Akteure und Akteurinnen des Arbeitsschutzes daher auch im Zentrum des Programmes. Angesiedelt bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (BAU) kam es daher nicht nur zu einer organisatorischen und inhaltlichen Verwaltung der an dem Programm beteiligten Projekte. Wie Bernd Holtwick in seinem Beitrag über die Deutsche Arbeitsschutzausstellung zeigt, kumulierten hier Aufgaben von Grundlagen- und Öffentlichkeitsarbeit. Als neuralgischer Punkt gestaltete sich der Transfer inhaltlichen Wissens sowohl in die Fachwelt, als auch zum interessierten Laienpublikum, das durch eine in diesem Zuge neu erstellte ständige Arbeitsschutzausstellung angestrebt wurde. Ziel war es auch hier, den Arbeitsschutz der 1960er-Jahre in ein breiteres Verständnis der Humanisierung zu überführen. Neben der Neukonzeption einer Ausstellung wurde dazu ein »Bundeszentrum« eingerichtet, das jedoch nur wenige Jahre Bestand hatte. Inhaltlich-politische, finanzielle und organisatorische Reibungspunkte erschwerten zudem seit Beginn des Programmes die Arbeit bei der BAU, sodass die Ausstellung schließlich in und mit deutlich zusammengeschrumpftem Umfang, Budget und Personal umgesetzt wurde. Gesellschaftlicher und kultureller Wandel im Kontext der Humanisierung Das HdA-Programm und dessen rahmende Initiativen waren ohne einen fundamentalen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im Verhältnis von Arbeit
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und Leben nicht vorstellbar. Insofern bot das Bundesprogramm Denkanstöße und regte indirekt Maßnahmen an oder griff seinerseits gesellschafts- und arbeitspolitische Debatten auf. In dieser Hinsicht loten die Autoren und Autorinnen in diesem Abschnitt in ihren Beiträgen zur Arbeitszeitgestaltung und der beruflichen Bildung die diskursive und arbeitspolitische Breite des Humanisierungsgedankens aus. Wie Philipp Reick jüngst gezeigt hat, wurden die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung und die »Humanisierung der Arbeit« von den gewerkschaftlichen Akteuren in der Bundesrepublik zunehmend als zwei Seiten einer Medaille begriffen.44 Im ersten Beitrag des Abschnitts untersucht Bernhard Dietz am Beispiel eines neuen Arbeitszeitmodells bei BMW in Regensburg die Unternehmensdebatte um die sogenannte werteorientierte Personalpolitik. Das Unternehmen machte sich die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Analyse eines Wertewandels in der westdeutschen Gesellschaft zu Eigen und leitete daraus eine eigene Personalund Unternehmenspolitik ab, die es selbst als Fortführung des Humanisierungsgedankens präsentierte. BMW versuchte über ein rotierendes Schichtsystem, Rationalisierung (Ausweitung der Betriebszeiten) mit einem angenommenen neuen Wertesystem wie dem Wunsch nach mehr Freizeit (Arbeitszeitverkürzung) in Einklang zu bringen und den Beschäftigten schmackhaft zu machen. Das Unternehmen wurde mit diesem neuen Anreizsystem zur Leistungserhaltung und Leistungssteigerung Vorreiter in der Autoindustrie. Auch Hannah Ahlheim beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit neuen Arbeitszeitmodellen. Bemerkenswert ist die Ausweitung der zeitgenössischen Diskussion über das Werkstor hinaus: Im Kontext der HdA wurden auch die von der Schichtarbeit ausgelösten Belastungen im Privatleben der Arbeiter/-innen thematisiert. Die Subkultur der Schichtarbeiter/-innen und ihre Individualität gerieten unter dem Schlagwort der »inneren Uhr« in den Fokus der HdA-Experten. Auch Ahlheim kann in ihrer Untersuchung eine Überschneidung der Zielsetzungen von Humanisierung und Rationalisierung feststellen, da es gleichzeitig um eine humane Gestaltung der Arbeitszeit und um eine effektive Ausnutzung der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten ging. Die Humanisierungsversuche waren folglich mit einer Ausweitung des Kontrollanspruchs auf das Privatleben bzw. die Erholungszeiten verbunden. Über die klassische Nacht- und Schichtarbeit hinausgehend kann Ahlheim Verkürzungen des HdA-Programmes insofern aufzeigen, als die Rezepte der HdA-Experten nur bedingt auf die Herausforderung durch neue Konzepte der Arbeitszeitflexibilisierung vorbereitet waren.
44 Vgl. Reick: Organized Labor, 2019, S. 257.
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Im dritten Beitrag dieses Abschnittes untersucht Jan Kellershohn die Vorgeschichte des HdA-Programms im Kontext der beruflichen Ausbildung. Im Bereich der beruflichen Qualifikation lässt sich die Zielsetzung einer Humanisierung der Arbeit durch Bildung bereits in den 1950er-Jahren feststellen. In den 1960er-Jahren kann Kellershohn dann einen wichtigen Umbruch identifizieren: Humanisierung und Rationalisierung werden von den Experten der beruflichen Bildung nun nicht mehr nur als einander ergänzend, sondern sogar als gleichbedeutend aufgefasst. Das gründete wesentlich darin, dass Technik nicht mehr als Gefährdung des Humanen fungierte. Im Sinne der Vorstellung eines Technological Fix sollten die Verwerfungen der technischen Moderne gerade durch neue technische Möglichkeiten kompensiert werden. Mithin versprachen sich die historischen Akteure von der Rationalisierung der Qualifikation eine Humanisierung der Arbeit. Kellershohn kann aufzeigen, welche neuen Verwerfungen mit diesem Modell einhergingen: Die Auszubildenden mussten dem Anspruch der Humanisierungsfähigkeit genügen. Auf diese Weise führte dieses Verständnis von Humanisierung zu sozial exkludierenden Wirkungen. Branchenspezifische Humanisierung? Im Anschluss an die übergeordneten Fragstellungen zu politischer und gesellschaftlicher Verortung wendet sich der folgende Abschnitt einigen Fallbeispielen und der Frage einer »branchenspezifischen Humanisierung« zu. Im ersten Beitrag greift Martha Poplawski mit dem Bergbau einen Kernbereich des Forschungsprogrammes auf. Bereits in den 1950er-Jahren waren im Kontext des Arbeitskräftemangels die Arbeitsbedingungen und -risiken (insbesondere für die zahlreichen ungelernten Neubergleute) in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und betrieblicher Experten gerückt. Mit dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen zu Beginn der 1970er-Jahre, so argumentiert Martha Poplawski, wurde der Bergbau eine zentrale Branche und nahm zeitweise auch eine Vorreiterrolle für das Humanisierungsprogramm insgesamt ein. Besonders bedeutsam war dabei die Implementierung externen Wissens, das die branchenspezifischen Diskurse zur Humanisierung gestaltete. Insbesondere mit dem Wandel der Arbeitsbedingungen (Mechanisierung) war der Bergbau vor neue Herausforderungen wie Fragen der Monotonie und damit neben den weiterhin bestehenden physischen insbesondere mit steigenden psychischen Belastungen konfrontiert. Auch das Qualifikationsprofil und Fragen des »Wertewandels« waren hiervon berührt. Anders als die im Bergbau zentrale Frage des allgemeinen »Wohlbefindens« stellten sich dagegen in der Automobilbranche Fragen der konkreten betriebli-
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chen Demokratisierung zur Steigerung der »Qualität des Lebens«. In diesem Sinne rückt Gina Fuhrich in ihrem Beitrag die Beschäftigten bei Volkswagen und ihre Teilhabe am HdA-Programm in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch hier, so gemeinsamer Tenor beider Beiträge, spielte branchenübergreifend die Frage nach betrieblichen Qualifizierungsprozessen eine wichtige Rolle im HdAProgramm. Gina Fuhrich identifiziert dazu für das Beispiel der Automobilbranche zentrale Hürden, die etwa bei der Einführung der Industrierobotik auch Hemmnisse in der Einführung neuer Technologien produzierten. Für den Übergang von der Handwerks- zur vermehrten Kopfarbeit wurden so neue Qualifizierungsmaßnahmen und -strukturen im Rahmen der HdA erprobt, die etwa das Konzept des »lebenslangen Lernens« in den Betrieben verankerten. Bei der Einführung neuer Produktionsformen ohne Veränderung der Betriebsbedingungen wurde dagegen die Gruppenarbeit erprobt. In der Praxis des VW-Beispiels kam es hier jedoch nach Gina Fuhrichs Analyse auch zu Formen der Überforderung, insbesondere in für die Arbeiter neuen Themenfeldern wie Verwaltungs- oder Personalarbeit. In Folge der HdA-Maßnahmen wurde aus betrieblicher Sicht stärker zwischen den Anforderungen, Fähigkeiten und Erwartungshorizonten einzelner Arbeitergruppen entlang von Qualifikationshierarchien differenziert. Moritz Müller geht in seinem Beitrag schließlich der Einschätzung des Humanisierungsprogramms durch die Gewerkschaft IG Metall nach. So begrüßte die IGM das Programm zwar, war aber hinsichtlich der Reichweite sowie der unternehmerischen Interessen skeptisch. Die Gewerkschaft formulierte und beanspruchte, mit ihrer Tarifpolitik selbst zentrale Trägerin des Humanisierungsgedankens zu sein und sah in der staatlichen Forschungsförderung vielfach eine Flankierung von Rationalisierungsmaßnahmen durchscheinen. Die IG Metall war zunächst durch ihre tariflichen und diskursiven Erfolge zu Beginn der 1970er-Jahre selbstbewusst, den Arbeitsschutz aus eigener Kraft gestalten zu können. Allerdings gelang es ihr nicht, daran anzuknüpfen, was ihre Kritik am HdA-Programm in den späten 1970er-Jahren noch wachsen ließ. Moritz Müller arbeitet die intern durchaus unterschiedlichen Perspektiven heraus, die sich entlang der Frage bewegten, ob und inwieweit die Gewerkschaft sich als Reparaturbetrieb an kapitalgetriebener Rationalisierung beteiligen und somit doch auch das Forschungs- und Aktionsprogramm für sich in Stellung bringen könne. Humanisierung transnational Im letzten Abschnitt wenden wir uns mit zwei regionalen Untersuchungen der transnationalen Dimension der Humanisierungsdebatte zu. Die beiden Fallbeispiele Italien und Skandinavien leuchten dabei die Spannbreite der Diskussion
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und der arbeits- bzw. gesellschaftspolitischen Ansätze in Europa aus. Dietmar Lange untersucht die arbeitspolitische Kampagne der Gewerkschaften in der italienischen Automobilindustrie, die unter der Losung »Eine neue Art Autos zu produzieren« versuchte, belastende Arbeitsbedingungen zu reduzieren. Anders als ihre Schwesterorganisationen in der Bundesrepublik grenzten sich die italienischen Gewerkschaften von allzu starken staatlichen Interventionen ab. Stattdessen verfolgten sie das Konzept der »Arbeiterkontrolle«, in dem mittels Fabrikräten eine Kontrolle »von unten« über die Arbeitsbedingungen erfolgen sollte. Dem westdeutschen HdA-Programm und ähnlichen Maßnahmen wurde eine Nähe zu Human-Relations-Ansätzen unterstellt; hinter dem Schlagwort der »Humanisierung« wurde mithin eine vermeintlich verdeckte Managementstrategie identifiziert. Am Fallbeispiel von Fiat Mirafiori in Turin zeigt Lange zum einen die Wirkmächtigkeit dieses Ansatzes in der betrieblichen Mobilisierung, zum anderen diskutiert er die Grenzen, die durch die geforderte Fachlichkeit und Spezialisierung gesetzt wurden. Angesichts dieses dem HdA-Programm in der Bundesrepublik in vieler Hinsicht entgegengesetzten Ansatzes entsteht so die Frage nach den jeweiligen Effekten und Langzeitwirkungen. Im zweiten Beitrag behandelt Maths Isacson das skandinavische Modell der Arbeitshumanisierung von 1960 bis 1990. Norwegen und Schweden nahmen als Stichwortgeber in der arbeitswissenschaftlichen und politischen Debatte eine zentrale Rolle ein. Humanisierung der Arbeit in Skandinavien bestand, so Isacson, aus einer Mischung staatlicher Eingriffe in die Länge der Arbeitszeit, der Wirkmächtigkeit tariflicher Abkommen und schließlich der Demokratie am Arbeitsplatz, in deren Mittelpunkt selbststeuernde Arbeitsgruppen standen. Letztere basierten auf soziotechnischen Konzepten der beiden Wissenschaftler Fred Emery und Einar Thorsrud. Diese haben, angeregt vom Londoner Tavistok Institute of Human Relations, Konzepte der »workplace democracy« entwickelt, die ihrerseits anregend für arbeitspolitische Reformdebatten in der Bundesrepublik waren. In dieser Hinsicht schließt sich hier der Kreis zum Ausgangspunkt des Sammelbandes, den (arbeits-)reformpolitischen Anliegen des Aktions- und Forschungsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« der Bundesregierung von 1974-1989.
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Vom Produktionsfaktor Mensch zum politischen Programm der Humanisierung der Arbeit
Der Erste Weltkrieg als Ausgangspunkt der Humanisierung des Arbeitslebens Der Beginn des staatlichen und unternehmerischen Interesses am »menschlichen Faktor« in der Produktion Karsten Uhl
Es ist wenig überraschend, dass bereits bevor das Wort von einer »Humanisierung des Arbeitslebens« durch seine Verwendung in der Regierungserklärung des neu gewählten Bundeskanzlers Willy Brandt 1969 breite Bekanntheit gewann und bevor das Bundesprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« 1974 gestartet wurde,1 in Expertenkreisen die Notwendigkeit einer »Humanisierung« der Arbeit diskutiert worden war. Explizit wurde spätestens am Ende der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik der Begriff »Humanisierung« in diesem Kontext verwendet. So forderte der Psychologe August Vetter in einem Beitrag zum Sammelband Der Mensch und seine Arbeit 1958 eine »Humanisierung des Miteinanders im Betrieb« als »Gegenbewegung« zur »Arbeitsrationalisierung«. Beide Prozesse seien als Pole zu verstehen und gehörten »unablösbar zusammen«.2 Vetter warnte gleichzeitig davor, die Humanisierung als »Tarnung für Leistungssteigerung« zu benutzen.3
1
Zur Geschichte des Forschungs- und Aktionsprogramms vgl. den Beitrag Stefan Mül-
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Vetter: Mensch, 1958, S. 22. Vetter setzte zu dieser Zeit als Psychologe andere For-
lers in diesem Band. schungsschwerpunkte, hatte sich aber bereits während des Nationalsozialismus mit arbeitspsychologischen Fragen, Eignungsprüfungen in Unternehmen und Fortbildungen für betriebliche Führungskräfte beschäftigt, vgl. Rosenberger: Experten, 2008, S. 158; Platz/Raphael/Rosenberger: Betriebspsychologie, 2002, S. 304. 3
Vetter: Mensch, 1958, S. 23.
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Inwieweit dieses vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Rationalisierung und Humanisierung die Industriearbeit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte, gilt es in diesem Beitrag aufzuzeigen. Dabei wurde das Verhältnis zwischen Rationalisierung und Humanisierung jedoch sehr häufig noch stärker als bei Vetter als kongruent konzipiert. Für die 1920er-Jahre hat bereits die Historikerin Mary Nolan darauf hingewiesen, dass insbesondere das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) eine »menschliche Rationalisierung« propagierte.4 Einige deutsche Verfechter des Taylorismus betrachteten sogar wie Fritz Söllheim die menschliche Dimension als den nächsten Schritt der Rationalisierung: »Nachdem uns Taylor gelehrt hat, wirtschaftlich zu denken, müssen wir lernen, menschlich zu wirtschaften.«5 Wie zu zeigen sein wird, wurden bereits in den Rationalisierungskonzepten vor 1914 zum Teil implizite Forderungen nach einer Humanisierung der Industriearbeit vertreten. Dabei konnte an die Diskussion um die Soziale Frage angeschlossen werden, die in Deutschland spätestens seit Gründung des Vereins für Socialpolitik im Jahr 1873 breit geführt wurde. Schon zu dieser Zeit entstand die Utopie einer ›richtigen‹ betrieblichen Menschenführung, die die Grundlage für eine harmonische Gesellschaftsordnung bilden könne.6 Allerdings wurden Formen der konkreten betrieblichen Umsetzung erst im Ersten Weltkrieg, bei hohen Anforderungen an die Rüstungsproduktion und Einstellung vieler unerfahrener Arbeitskräfte breiter diskutiert und nahmen nun auch eine zentrale Rolle in den industriellen Debatten und Praktiken ein. Eine wichtige Rolle spielte dabei das staatliche und unternehmerische Interesse an der Integration von Arbeiterinnen in die Kriegswirtschaft. Auch die industriearchitektonische Debatte griff dieses Thema auf. Die historische Forschung hat vereinzelt darauf hingewiesen, inwieweit bereits im frühen Rationalisierungsdiskurs der Faktor Mensch in seinen psychischen und emotionalen Dimensionen berücksichtigt wurde.7 Ziel dieses Beitrages ist es, darzulegen, welche Rolle Überlegungen zu einer Humanisierung der Arbeit strukturell innerhalb des Rationalisierungsdiskurses spielten. Vor allem geht es im Folgenden darum, die verschiedenen Faktoren aufzuzeigen, die dazu führten, dass während des Ersten Weltkrieges eine ›menschliche‹ Gestaltung der Arbeit zu einem Bestandteil des Rationalisierungsprojektes wurde. In einem ge-
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Nolan: Institut, 1993, S. 214.
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Söllheim: Taylor-System, 1922, S. 229.
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Vgl. Homburg: Human Factor, 1991, S. 148f.
7
Vgl. Donauer: Emotions, 2013; Homburg: Human Factor, 1991; Kaufman: Human Factor, 2008; Killen: Psychotechnics, 2007.
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wissen Sinne lässt sich also von einer Humanisierung der Arbeit avant la lettre sprechen. Diese Vorgeschichte der Humanisierung der Arbeit vor den Maßnahmen der sozialliberalen Regierung in der Bundesrepublik macht deutlich, welche unterschiedlichen Interessen in dem Projekt einer Humanisierung der Arbeit zusammenlaufen. Hier soll das Entstehen des unternehmerischen Interesses an einer Humanisierung rekonstruiert werden, das eben auch bei dieser Maßnahme größtenteils andere Zwecke verfolgte als die Arbeiterbewegung. Das unternehmerische Eigeninteresse war selbstverständlich weiterhin auf Profit und Kontrolle über den Arbeitsprozess ausgerichtet, hatte sich dabei allerdings – in einer nun langfristigen Ausrichtung auf die industriellen Beziehungen und den Einsatz der Arbeitskräfte – gewissermaßen zu einem aufgeklärten Eigeninteresse weiterentwickelt.8 Die vermeintliche oder tatsächliche partielle Interessenüberlagerung zwischen Unternehmen und Arbeiter/-innen in einigen Aspekten der Humanisierung machte dabei einen Teil ihrer Attraktivität für die Unternehmen aus, nämlich das Versprechen einer sozialfriedlichen Lösung des Klassenkonflikts. Gleichwohl kam bereits früh deutliche Kritik aus der Arbeiterbewegung an der Behauptung einer derartigen Interessenidentität.9 Im Folgenden wird zunächst das Verhältnis von Rationalisierung und Humanisierung und sein Wandel während des Ersten Weltkrieges dargestellt. In den darauffolgenden Abschnitten sollen die Beispiele der Fabrikpflege und der Industriearchitektur einen tieferen Einblick in industrielle Debatten und Praktiken während des Krieges ermöglichen und insbesondere die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in diesem Kontext aufzeigen.
RATIONALISIERUNG UND HUMANISIERUNG Der einflussreichste Protagonist der frühen Rationalisierungsbewegung, Frederick Winslow Taylor zeichnete in seinen Schriften in erster Linie das Bild eines arbeitenden Menschen, der eine Optimierung der Effizienz im Arbeitsprozess zu stören drohte. Einen solchen Störfaktor Mensch gedachte Taylor durch ein wissenschaftliches System der Betriebsführung (Scientific Management) auf die bestmögliche Art in den Produktionsprozess einzubinden. Auf diese Art könne trotz des menschlichen Störfaktors »die technisch mögliche maximale
8
Vgl. Kaufman: Human Factor, 2008, S. 287.
9
Vgl. Fricke: Seele, 1926.
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Produktivität« weitgehend erreicht werden.10 Dieser Blick auf Taylor und die Rationalisierungsbewegung legt es in der Tat nahe, Rationalisierung und Humanisierung als Gegensatzpaare zu verstehen. Allerdings trat Taylor bereits in seinem Buch Shop Management, das erstmals 1903 erschien, explizit für eine Stärkung der menschlichen Dimension im Betrieb ein, wenngleich er diese Forderung in einen paternalistischen Ansatz integrierte.11 Er griff dabei auf ältere Anschauungen zurück, zitierte zustimmend einen Text von 1895, der davor warnte, die Arbeiter als einen Teil der Maschinerie zu behandeln. Stattdessen sei im persönlichen Umgang mit den Beschäftigten stets »a touch of human nature« nötig.12 Diese kurze Passage lässt sich gewiss nicht bemühen, um Taylor zu einem Anhänger einer Humanisierung der Arbeit zu stilisieren. Gleichwohl kann durch diesen Ansatzpunkt erklärt werden, warum einige Anhänger/-innen Taylors dessen Modell unter Einbezug psychologischer Ansätze ausbauten und zu humanisieren versuchten.13 Der Mediziner Harrington Emerson, ein wichtiger »Propagandist des Taylorismus«,14 ging schon zu Lebzeiten Taylors diesbezüglich weiter als Taylor selbst. Emerson stellte 1911 zwölf Prinzipien der Effizienz auf, wobei das fünfte Prinzip, Gerechtigkeit (the fair deal), eine zentrale Rolle einnahm. Emerson betonte die Bedeutung einer harmonischen Betriebskultur für die Leistungssteigerung, machte aber kaum einen Hehl daraus, dass Fairness konkret das Recht des Unternehmers meinte, ungleiche Löhne für gleiche Tätigkeiten zu zahlen. Gleichzeitig handelte es sich aber auch hier um eine aufgeklärte Form unternehmerischen Eigennutzes: Emerson forderte eine anständige Behandlung der Beschäftigten (und kritisierte damit den Status quo in vielen Betrieben), weil es letztlich sogar im gemeinsamen Interesse beider Seiten sei, wenn die Vorgesetzten den Ratschlag der Arbeiter zu einzelnen Fragen einholten.15 Zu Emersons Bedauern stellte sich zu seiner Zeit die Frage einer Verbesserung der Arbeitsräume und -bedingungen kaum, weil die Lohnfrage als Kernkonfliktpunkt alles überlagerte. In diesem Sinne betrachtete er die Einführung eines als fair empfundenen Lohnsystems als zentrale Grundlage für solche Maßnahmen, die wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür bieten könnten, die
10 Sarasin: Rationalisierung, 1995, S. 87. 11 Vgl. Bonazzi: Geschichte, 2008, S. 38. 12 Vgl. Taylor: Shop Management, 1912, S. 182, 184. Zitat auf S. 184. 13 Vgl. Kaufman: Human Factor, 2008, S. 120. 14 Ebbinghaus: Arbeiter, 1984, S. XIII. 15 Vgl. Emerson: Twelve Principles, 1912, S. 167f., 182-184.
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Freude an der Arbeit und damit letztlich den betriebs- und volkswirtschaftlichen Ertrag zu heben.16 Emerson brachte Rationalisierung und Humanisierung konzeptionell bereits zusammen, wenn er auch noch nicht die Grundlage für eine konkrete Umsetzung gegeben sah. Viel deutlicher als seine beiden amerikanischen Landsleute, die Ingenieure Taylor und Emerson, lässt sich der Mediziner Winthrop Talbot als ein Vertreter einer Humanisierung der Arbeit bezeichnen. Im Editorial der von ihm seit 1911 herausgegebenen Zeitschrift Human Engineering betonte Talbot, dass 95 Prozent der industriellen Probleme auf das menschliche Element zurückzuführen seien.17 Im ersten Aufsatz der Zeitschrift erklärte er den Begriff Human Engineering kurz: Es sei notwendig, der menschlichen Seite der Arbeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es müsse um die Gesundheit der Arbeiter/-innen, die Bedingungen im Arbeitsraum sowie angemessene Sozialräume im Betrieb gehen. Weiterhin forderte er die Schaffung von Abteilungen für dieses Human Engineering in Ergänzung zur reinen Fokussierung auf den Maschinenbau (mechanical engineering); dies könnten Abteilungen für Gesundheit und Ökonomie, Dienstleistungsabteilungen oder Wohlfahrtsabteilungen sein. Auch bei solchen Einrichtungen stellten sich Fragen der Effizienz – der physischen und mentalen Grundlage der Effizienz.18 Talbot ging dabei auf die Geschlechterdifferenz ein und betonte bereits – auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein – die große Bedeutung, die in diesem Kontext Beraterinnen zukäme, die bei der Betreuung der Arbeiterinnen einen Beitrag zur Schaffung harmonischer Beziehungen leisten könnten.19 Unter Taylors eigentlichen Mitstreitern war Henry L. Gantt derjenige, der den Faktor Mensch in seinen Überlegungen zum Scientific Management am stärksten berücksichtigte.20 Auch er vertrat dabei den technokratischen Standpunkt, dass Betriebsingenieure als vermeintlich wissenschaftliche und neutrale Experten am besten dafür geeignet seien, betriebliche Konflikte zwischen Unternehmen und Arbeitern zu lösen und zur Bewahrung des sozialen Friedens beizutragen.21 Einflussreich waren vor allem die sogenannten Gantt-Karten, die es tabellarisch einfach ermöglichten, zu zeigen, ob Arbeiter/-innen die geplante Leistung erbrachten. Dieses System wurde während des Krieges 1918 von der
16 Vgl. Emerson: Twelve Principles, 1912, S. 186f. 17 Vgl. Talbot: Editorial, 1911, S. 3. 18 Vgl. ebd., S. 4. 19 Vgl. ebd., S. 4f. 20 Vgl. Nelson: Managers, 1995, S. 61; Kaufman: Human Factor, 2008, S. 119. 21 Vgl. Ebbinghaus: Arbeiter, 1984, S. 69, 74.
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US-Armee in Rüstungsbetrieben eingesetzt und unter anderem im ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion aufgegriffen.22 Gantts Mitarbeiter Clark popularisierte diese Methode in einer zeitgenössischen Monographie. Die Gantt-Karten beschränkten sich nicht auf die Frage der Erbringung der geplanten Arbeitsleistung, sondern zeichneten auch die Gründe für etwaiges Unterschreiten der Leistung auf. Wie Clark betonte, handelte es sich dabei deutlich häufiger, nämlich zu 90 Prozent, um Fehler der Meister und Vorarbeiter als der Arbeiter/-innen. Damit rückten also Managementfehler, wie die schlechte Ausbildung der Arbeiter/-innen, und überhaupt die Tätigkeit des Managements im Umgang mit den Beschäftigten in die Aufmerksamkeit der Wissenschaft.23 Clark machte klar, dass es dementsprechend nicht die Aufgabe des Managements sei, schlechte Arbeiter/-innen zu entlassen. Vielmehr müsse deren verbesserte Ausbildung (training) zum Ziel erklärt werden. Auf diese Weise werde es möglich, den bisherigen »Lohnsklaven« Selbstvertrauen zu vermitteln, was unmittelbar zur Ausbildung von Selbstkontrolle führe und die Arbeiter/-innen letztlich zu freien Menschen mache. Im Ergebnis stünden dann unerwartet gute Arbeitsergebnisse.24 Auch bei Gantt und seinem Team gingen also gewisse Vorstellungen von einer Humanisierung der Arbeit mit dem übergelagerten Interesse an weiteren Rationalisierungsgewinnen einher. Parallel dazu entwickelten sich während des Krieges in den USA Formen des modernen Personalmanagements, bei denen ebenfalls dem Faktor Mensch, insbesondere vor dem Hintergrund der Verknappung der Arbeitskräfte, eine neue Bedeutung zukam. Idealtypisch entstand neben dem alten Modell, das die Arbeiter/-innen als Tagelöhner betrachtete, ein neues Modell der Personalführung, das die Arbeiter/-innen als Humankapital ansah. Selbstverständlich ging es in beiden Ansätzen in erster Linie um die Interessen des Unternehmens, also vor allem um die Wahrung des Arbeitsfriedens, die Eindämmung der Macht der Gewerkschaften und eine Steigerung der Produktion. Das ältere Modell des Tagelöhners war bis 1915 quasi konkurrenzlos und zielte einzig darauf, bei möglichst geringen Lohnkosten einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen. Das neue Modell hingegen betrachtete die Arbeiter/-innen aber als nachhaltig nutzbare Ressource, was letztlich auch Vorteile für die Arbeiter/-innen selbst gezeitigt habe.25 Ebenfalls während des Krieges motivierte in Großbritannien eine ähnliche Gemengelage
22 Vgl. ebd., S. 73f. 23 Vgl. Clark: Gantt Chart, 1922, S. 35, 40. 24 Vgl. ebd., S. 45, 48. 25 Vgl. Kaufman: Human Factor, 2008, S. 285-289; Kaufman: Hired Hands, 2010, S. 12-14; Patmore: Worker Voice, 2016, S. 5.
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von Interessen vermehrt Unternehmer dazu, betriebliche Sozialeinrichtungen zu schaffen. Die Stärkung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Arbeiter/ -innen versprach neue Möglichkeiten, deren Leistungspotenziale nutzbar zu machen, und erschien gleichzeitig als ein Gegenmittel zum Wachstum der Gewerkschaften.26 Allgemein bekannt ist, dass der Erste Weltkrieg in Deutschland einen Schub für Rationalisierungsmaßnahmen im Allgemeinen und Taylor-Anhänger im Besonderen mit sich brachte. Die Kriegsrohstoffabteilung unter Walter Rathenau und Wichard von Moellendorff förderte systematisch solche neuen Formen der Effizienzsteigerung.27 Weniger Beachtung fand bislang die Tatsache, dass auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen unter Rücksichtnahme auf menschliche Bedürfnisse nun verstärkt Teil der Rationalisierungsdebatten und -praktiken wurde. Dies trifft sogar auf zentrale deutsche Vertreter des Taylorismus zu. Taylors Übersetzer Adolf Wallichs, Professor für Werkzeugmaschinen- und Betriebslehre in Aachen, der unter anderem das erwähnte Shop Management ins Deutsche übersetzte, gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Wallichs hielt 1917 im Rahmen der Vortragsreihe »Technische Abende« einen Vortrag im Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, der noch im selben Jahr publiziert wurde. Wenig überraschend besteht die Hälfte des Textes Die Psychologie des Arbeiters und seine Stellung im industriellen Arbeitsprozess aus einer expliziten Werbung für das von Wallichs schon lange propagierte Taylor-System. Allerdings finden sich in der anderen Hälfte viele selbstkritische Überlegungen des Ingenieurs: »Wir Ingenieure haben im Maschinenzeitalter viel zu sehr auf die mechanischen Vorgänge geachtet und den Menschen vernachlässigt.«28 Künftig müssten verstärkt »Bemühungen zur Hebung der Arbeiterseele« unternommen werden. Dabei gelte es, die Individualität der Arbeiter zu berücksichtigen, wofür ein »Studium des Menschen mit seinen besonderen körperlichen und seelischen Eigenschaften« notwendig sei.29 Solche
26 Vgl. Skillen: Robotised Women Workers, 2014, S. 597. 27 Vgl. Killen: Psychotechnics, 2007, S. 53; vgl. Weber: Sozialpartnerschaft, 2010, S. 106-108. 28 Wallichs: Psychologie, 1917, S. 6. Gleichzeitig sprach aus Wallichs der Optimismus des fortschrittsgläubigen Ingenieurs: Er setze Hoffnungen in eine fortgesetzte Mechanisierung, die in der Form der Automatisierung selbst einen Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Arbeitsbedingungen leisten könne, indem die »Einförmigkeit« der Arbeitstätigkeit »auf die Maschine« übertragen werde, ebd., S. 7, vgl. S. 14. 29 Wallichs: Psychologie, 1917, S. 6f. Die Historikerin Donauer betont, dass Wallichs für eine systematische Einbeziehung der Emotionalität der Arbeiter warb. Dies war
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Forderungen stießen bei industriellen Experten und Expertinnen in Deutschland auf offene Ohren, da Taylor bereits früh rezipiert, jedoch von einem Teil der deutschen Arbeitswissenschaft stark für die Vernachlässigung der Psychologie kritisiert wurde.30 Ganz konkret regte Wallichs Verbesserungen der Arbeitsumwelt an, indem er für die »Schaffung gesunder und freundlicher Arbeitsräume plädierte«. Wichtig seien unter anderem Fenster, die den Arbeitern einen Blick in die Natur ermöglichten. Letztlich dienten in Wallichs Auffassung solche Maßnahmen immer der »Hebung der Arbeitsfreudigkeit«.31 Überhaupt bestehe eine zentrale, oft vernachlässigte Aufgabe des Managements darin, die Beschäftigen zu »freudiger und freiwilliger Mitarbeit« anzuspornen.32 Explizit sprach er dem Weltkrieg eine wichtige Rolle für solche Veränderungen zu: »Der große Krieg brachte uns erfreulicherweise und notgedrungen den sozialen Frieden.« In diesem Sinne begrüßte Wallichs als eine positive Wirkung des Hilfsdienstgesetzes von 1916 die Institutionalisierung von Arbeiterausschüssen.33 In der historischen Analyse lässt sich tatsächlich festhalten, dass im Ersten Weltkrieg die Zusammenarbeit zwischen Management und Gewerkschaften eingeübt worden war, die später für die Rationalisierungsmaßnahmen in der Weimarer Republik erforderlich war.34 Darüber hinausgehend führte die Stärkung der Position der organisierten Arbeiterschaft – zunächst durch die Arbeiterräte im Krieg, später durch die weitere Stärkung der Gewerkschaften und die Festschreibung betrieblicher Mitbestimmung in der Weimarer Republik – dazu, dass die Unternehmer nun bereit für die Beschäftigung mit neuen Methoden des Personalmanagements wurden.35 Diese Entwicklung war nicht auf Deutschland beschränkt. Wie in Deutschland spielte auch in Großbritannien der Staat eine große Rolle bei der Einführung der betrieblichen Mitbestimmung während des Krie-
ihm vor allem wichtig, um den Problemen Herr zu werden, die in der Folge eines gesellschaftlichen Wandels von den Handwerkern zu den Fabrikarbeitern entstanden seien, vgl. Donauer: Emotions, 2013, S. 59. 30 Vgl. Rabinbach: Human Motor, 1990, S. 254. 31 Wallichs: Psychologie, 1917, S. 8. 32 Ebd., S. 10. 33 Ebd., S. 6, vgl. S. 16f. 34 Vgl. Maier: Taylorism, 1970, S. 46. 35 Vgl. Donauer: Emotions, 2013, S. 67.
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ges.36 Am Ende des Ersten Weltkrieges wurden dann deutsche, britische und amerikanische Ansätze der betrieblichen Mitbestimmung international im Kontext der bolschewistischen Bedrohung und der Furcht vor sozialen Unruhen breit rezipiert.37 Nur mittelbare Humanisierungseffekte zog eine weitere internationale Entwicklung während des Krieges nach sich: die auf Arbeitsverhältnisse angewandte Psychologie, insbesondere in Form von Eignungstests. Solche psychologischen Eignungsprüfungen wurden 1915 in Frankreich und 1916 in der von Walter Moede und Carl Piorkowski geleiteten Eignungsprüfstelle für Militärkraftfahrer auch in Deutschland eingeführt. Noch während des Krieges wurden Eignungstests außerhalb des Militärs genutzt, vor allem bei der Beschäftigung von unqualifizierten, oft weiblichen Arbeitskräften in der Industrie. Das deutsche Frauenberufsamt warb bei Unternehmen im November 1917 für solche Tests. Auf diese Weise kam es in der Betriebspraxis während des Krieges zum Zusammenwirken von psychotechnischen und tayloristischen Methoden: Zunächst wurden die Arbeitsvorgänge tayloristisch zerlegt, was die Beschäftigung von Unqualifizierten vereinfachte; dann wurden für diese einfacheren Teilaufgaben jeweils geeignete Personen per Eignungstests ausgewählt.38 Obwohl auch bei der Psychotechnik ein instrumentelles Menschenbild deutlich überwog, wurde jetzt doch stärker als beim Taylorismus die Anpassung der Arbeitsbedingungen an den Menschen zum Ziel. Es ging deutlich weniger um die Vorstellung einer mechanistischen Normierung des arbeitenden Menschen, sondern mehr um die Optimierung des Verhältnisses von Mensch und Maschine.39 Gleichwohl trug auch die Psychotechnik während des Krieges zu einem verstärkten Interesse an den arbeitenden Menschen, ihren Eigenschaften und Bedürfnissen bei. Gerade der Arbeitskräftemangel und die wachsende Zahl von Industriearbeiterinnen gaben wichtige Impulse zu diesem Perspektivwechsel, weil bei geringerer Auswahl an Arbeitskräften nun die Verbesserung der Arbeitsbedingungen geradezu notwendig erschien. Die Rolle, die dabei der Katego-
36 Vgl. Patmore: Worker Voice, 2016, S. 74. Allerdings waren Arbeiterräte nur in Deutschland gesetzlich festgehalten, in Großbritannien waren sie – abgesehen von der Eisenbahn – freiwillig, vgl. ebd., S. 86. 37 Vgl. ebd., S. 3. 38 Vgl. Rabinbach: Human Motor, 1990, S. 261, 275; Patzel-Mattern: Effizienz, 2010, S. 20f.; Spur/Voglrieder/Klooster: Psychotechnik, 2000, S. 374. 39 Vgl. Patzel-Mattern: Effizienz, 2010, S. 30. Gleichzeitig blieb die Anpassung des Menschen an die Arbeitsbedingungen ein gleichberechtigtes Ziel der Psychotechnik, vgl. ebd., S. 99.
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rie Geschlecht zukam, wird besonders bei der Betrachtung eines weiteren Elements der Kriegsproduktion deutlich: der Fabrikpflege.
FABRIKPFLEGERINNEN IM ERSTEN WELTKRIEG Ab den 1890er-Jahren begannen die ersten Unternehmen, vor allem industrielle Großbetriebe, Frauen in der betrieblichen Sozialarbeit zu beschäftigen. Diese zumeist »Fürsorgeschwester« genannten Beschäftigten konnten eine Ausbildung im Sozial- oder Gesundheitswesen vorweisen und kümmerten sich um die Arbeiter/-innen und deren Familien. Konkrete Aufgabenbereiche lagen in der Betreuung der betrieblichen Sozialräume, der Durchführung von Hauswirtschaftsund Handarbeitskursen für Arbeiterinnen und der Krankenpflege.40 Größere Verbreitung fand diese Institution erst unter der neuen Bezeichnung »Fabrikpflege« im Ersten Weltkrieg, als die Rüstungsproduktion aufgrund des Arbeitskräftemangels stockte. Die Oberste Heeresleitung forderte 1916 eine Dienstpflicht für Frauen, die allerdings von der Reichsregierung abgelehnt wurde.41 Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst von Dezember 1916 führte dann die allgemeine Arbeitspflicht für die nicht zur Armee einberufenen Männer zwischen 17 und 60 Jahren ein. Weil für die Verabschiedung des Gesetzes die Zustimmung der Sozialdemokraten im Reichstag notwendig war, musste die Regierung der SPD einige sozialpolitische Zugeständnisse machen.42 Diese erfolgten, neben dem Zugeständnis der Arbeiterausschüsse in den unter das Hilfsdienstgesetz fallenden Betrieben, unter anderem in Form einer verstärkten Sozialpolitik mit Blick auf Frauen und Familien. Am wichtigsten war die Einführung von Fabrikpflegerinnen und einer öffentlichen Kinderbetreuung. Das Frauenreferat und die Frauenarbeitszentrale, die beide im Kriegsamt angesiedelt waren und 1917 zusammengelegt wurden, waren für die Organisation zuständig und verbanden in ihrer Arbeit die Mobilisierung von Frauen für den Arbeitsmarkt mit einer ergänzenden Fürsorgepolitik.43 Den neuen Rüstungsarbeiterinnen, die die eingezogenen Männer ersetzten, wurde häufig mangelnde Arbeitsdisziplin und -leistung vorgeworfen. Ab 1917 wurden staatliche Rüstungsbetriebe, die Frauen beschäftigten, vom Rüstungsmi-
40 Vgl. Hilger: Sozialpolitik, 1996, S. 222, 225; Donauer: Emotions, 2013, S. 65; Wunderlich: Fabrikpflege, 1926, S. 1-3; Uhl: Humane Rationalisierung, 2014, S. 251. 41 Vgl. Daniel: Arbeiterfrauen, 1989, S. 75f. 42 Vgl. ebd., S. 78f. 43 Vgl. ebd., S. 84f.
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nisterium gedrängt, Fabrikpflegerinnen einzustellen; auch private Unternehmen mussten, wollten sie nicht Gefahr laufen, Rüstungsaufträge zu verlieren, Fabrikpflegerinnen beschäftigen. In Kursen von ein bis zwei Monaten wurden diese Sozialarbeiterinnen von den Frauenreferaten der Kriegsamtsstellen ausgebildet.44 Im Sommer 1918 waren dann insgesamt 789 Fabrikpflegerinnen beschäftigt, die teilweise mehrere Betriebe und zusammen über 730.000 Arbeiterinnen, also mehr als ein Drittel der Industriearbeiterinnen betreuten.45 In dieser Phase zeigten sich bereits die wesentlichen Probleme und Chancen, die mit dieser Einrichtung verbunden wurden. Anfangs waren sowohl Unternehmer als auch Arbeiter/-innen skeptisch gegenüber den Fabrikpflegerinnen eingestellt. Von Unternehmensseite wurde nach der staatlich forcierten Einstellung der Fabrikpflegerinnen während des Krieges zunächst befürchtet, über diese Fabrikpflegerinnen könnte eine staatliche Einmischung in die Betriebspraxis erfolgen. Umfragen der Kriegsamtsstellen ergaben dann aber grundsätzlich positive Rückmeldungen von den Betriebsleitungen; nicht nur in »sozialer und ethischer Hinsicht«, sondern auch in Hinblick auf ökonomische Belange wurde die Maßnahme als Erfolg bewertet: Die »Arbeitswilligkeit, -fähigkeit und -stetigkeit« der Arbeiterinnen sei gesteigert worden.46 In diesem Sinne zeigte sich schon in der Frühphase des neuen Modells der Ansatz zu einer modernen Personalpolitik. Die anfängliche Abneigung der Arbeiter/-innen wiederum galt dem Fürsorgekonzept an sich: Die Skepsis zielte auf eine bürgerliche Frau, die vom Unternehmen bezahlt wurde und nicht aus eigener Erfahrung mit den alltäglichen Sorgen der Arbeiterinnen vertraut war. So kamen die Forderungen auf, es seien für die Positionen ehemalige Arbeiterinnen auszuwählen, die zudem nicht vom Unternehmen einzustellen seien.47 Praktisch gelang das hochgesteckte weiterführende Ziel, »Fühlung« mit den Arbeiterinnen aufzunehmen, jedoch kaum: In den Pausen konnten die Fabrikpflegerinnen die
44 Vgl. Sachse: Hausarbeit, 1982, S. 214f.; dies.: Siemens, 1990, S. 38. 45 Vgl. Wunderlich: Fabrikpflege, 1926, S. 6; Sachse: Hausarbeit, 1982, S. 215. Ute Daniel nennt die leicht abweichende Zahl von 752 Fabrikpflegerinnen, geht aber ebenfalls davon aus, dass diese ca. eine Dreiviertelmillion Arbeiterinnen betreuten, vgl. Daniel: Arbeiterfrauen, 1989, S. 101. 46 Wunderlich: Fabrikpflege, 1926, S. 7. Ute Daniel pflichtet dieser Einschätzung bei: Grundsätzlich hätten die Fabrikpflegerinnen zwar nur einen relativ geringen Handlungsspielraum gehabt, nämlich keinen auf die Lohn- und Arbeitsverhältnisse, aber offensichtlich sei es ihnen gelungen, Arbeitsfreudigkeit und Stimmung in den Betrieben zu heben, vgl. Daniel: Arbeiterfrauen, 1989, S. 102f. 47 Wunderlich: Fabrikpflege, 1926, S. 7-9.
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Distanz zu den Arbeiterinnen nicht überwinden, für Hausbesuche fehlte in der Regel die Zeit.48 Bei aller hier betonter Bedeutung der Fabrikpflege für die folgenden Debatten um die Gestaltung der Industriearbeit darf keinesfalls voreilig auf einen frühzeitigen Wandel im Alltag der Arbeiter/-innen geschlossen werden. Ein betriebliches Beispiel, das 1918 in der Ingenieursfachzeitschrift Werkstattstechnik vorgestellt wurde, soll im Folgenden kurz die Rolle der Fabrikpflegerinnen veranschaulichen: Die Diskus Werke Frankfurt standen im Ersten Weltkrieg vor dem Problem, Präzisionsschleifarbeiten nun von ungelernten Arbeiterinnen ausführen lassen zu müssen. Eine Anpassung der Arbeitsbedingungen an den arbeitenden Menschen war nun unausweichlich geworden, oder – wie es der berichtende Ingenieur fasste – die »Anpassung der Bearbeitungsaufgaben an die Sonderart der Frau«.49 Probleme aufgrund der physischen Unterschiede zu den bisherigen männlichen Arbeitern ließen sich leicht durch spezielle Hebe- und Transportvorrichtungen für die neuen Arbeiterinnen auf technische Art lösen.50 Darüber hinaus fiel aber auch den Fabrikpflegerinnen die Aufgabe zu, »für das leibliche Wohl insbesondere des weiblichen Teils der Belegschaft« zu sorgen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vorzuschlagen, weil »nur ein gesunder Körper dauernd arbeitsfähig bleiben kann«.51 Über körperliche Belange hinausgehend sollten sich die Fabrikpflegerinnen auch um die psychischen Voraussetzungen für eine gelungene Integration der Arbeiterinnen ins Betriebsleben kümmern. Das Ziel war die »Heranbildung psychischer Berufseigenschaften der Frau«, das durchaus erreicht worden sei. Die »Arbeitsfreudigkeit« der Frauen habe gesteigert werden können und darüber hinausgehend seien die Arbeiterinnen überhaupt erst an Disziplin und eine »straffe Fabrikordnung« gewöhnt worden.52 Die Methoden zur Erreichung dieses Ziels umfasste die zusätzliche Verschriftlichung einer »Anleitung für das allgemeine Benehmen«, die sich an die nicht an den Industriebetrieb gewöhnten Frauen richtete. Diese Merkblätter wurden als neuer Zusatz der Arbeitsordnung angehängt. Zudem ermahnten nun Tafeln in den einzelnen Abteilungen zum zweckgemäßen Umgang mit den jeweiligen Werkzeugen und Maschinen. Ergänzend wurden die Frauen zu Beginn ihrer Tätigkeit in den Lehrwerkstätten »persönlich« auf ihre jeweilige
48 Ebd., S. 11. 49 Zopf: Frauenarbeit, 1921, S. 50. 50 Vgl. ebd., S. 51. 51 Ebd., S. 52. 52 Ebd.
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Aufgabe vorbereitet.53 Das Ziel, bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf den arbeitenden Menschen einzugehen, darf also keinesfalls mit einer Abkehr von der betrieblichen Autorität verstanden werden: Humanisierung, Rationalisierung und Disziplinierung konnten durchaus miteinander verbunden werden. In den USA, Frankreich und Großbritannien spielten betriebspolitische Erwägungen bei der Einführung der betrieblichen Sozialarbeit im Ersten Weltkrieg sogar eine wesentlich größere Rolle als in Deutschland. Die Historikerin Laura Lee Downs bewertet die im Ersten Weltkrieg eingeführte Arbeit der Fabrikpflegerinnen in Frankreich und Großbritannien als eine geschlechtsspezifische Form des industriellen Personalmanagements. Speziell auf Arbeiterinnen gemünzte Methoden sollten zum allgemeinen Ziel einer gesteigerten Effizienz und erhöhten Disziplinierung beitragen. In Frankreich beschnitten die surintendantes d’usine sogar partiell die Macht der Meister und Vorarbeiter, indem sie Arbeiterinnen auf andere Arbeitsplätze versetzen konnten. Dies lässt sich als Managementstrategie zur Verwissenschaftlichung der Betriebspraxis und zur Begrenzung der Willkürherrschaft der Meister verstehen.54 Der britische Süßwarenfabrikant Seebohm Rowntree sprach als einer der wichtigsten Befürworter der Fabrikpflegerinnen (welfare supervisors) sogar explizit von einer Humanisierung. Rowntree versprach sich von der Fabrikpflege die Möglichkeit, die durch die Größe der modernen Fabriken unpersönlich gewordenen Beziehungen im Arbeitsleben wieder zu humanisieren (»re-humanize«).55 Auch bei Rowntree gingen Humanisierung und Rationalisierung Hand in Hand: Er definierte betriebliche Sozialarbeit (welfare work) als die Schaffung einer Umwelt, in der die Arbeiter/-innen in die Lage versetzt würden, ihre bestmögliche Leistung zu erbringen.56 In Großbritannien und Deutschland spielte die Fabrikpflege nach 1918 nur noch eine untergeordnete Rolle; erst im Zweiten Weltkrieg wurden vergleichbare Einrichtungen wieder staatlich gefördert.57 Trotz der kurzen Zeit, in der die Fabrikpflege während des Ersten Weltkrieges weit verbreitet war, stellte sie insofern einen wichtigen Einschnitt dar, als erstmals sehr breit über Fragen der Humanisierung der Arbeit diskutiert wurde. Unabhängig von der konkreten Institution der Fabrikpflege entstand auf diese
53 Ebd. 54 Vgl. Downs: Manufacturing Inequality, 1995, S. 13, 158, 183. 55 Vgl. ebd., S. 155. 56 Vgl. Luks: Ordnungsdenken, 2009, S. 105. 57 Vgl. Sachse: Siemens, 1990, S. 41; dies.: Hausarbeit, 1982, S. 218; Down: Manufacturing Inequality, 1995, S. 153.
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Weise ein wachsender Diskurs um die Möglichkeit, eine ›menschliche‹ Arbeitsgestaltung mit fortgeführten Rationalisierungsanstrengungen zu verbinden.
FABRIKARCHITEKTUR, HUMANISIERUNG DER ARBEIT UND DIE GESCHLECHTERDIFFERENZ Weitere Impulse für die Gestaltung menschengerechter Arbeitsplätze gingen von der Architektur aus. Erst nach 1900 übernahmen überhaupt akademisch ausgebildete Architekten Fabrikbauten, zuvor war dies in Deutschland wie in Großbritannien und den USA das Metier von Bauingenieuren.58 Vereinzelt hatten bereits Bauingenieure wie Ludwig Utz in seinem Fabrikbau-Handbuch von 1907 Aspekte betont, die später in die Debatte um die Humanisierung der Arbeit einflossen. So forderte Utz mehr Aufmerksamkeit für Arbeiterschutz, betriebliche Hygiene und Sozialeinrichtungen.59 Mit Walter Gropius führte dann einer der zentralen Vertreter der modernen Architektur ebenfalls noch vor dem Krieg, in einem Vortrag im Hagener Folkwang-Museum im Jahr 1911, weiterführende Gedanken zur sozialen Bedeutung des Fabrikbaus aus. Dabei trat deutlich das technokratische Selbstverständnis der modernen Architektur zu Tage.60 Gropius sah eine »soziale Katastrophe« drohen, wenn nicht bald der Arbeit »Paläste errichtet« würden. Mit dieser Forderung verband das Werkbund- und spätere BauhausMitglied Gropius das Konzept einer funktionalistischen Ästhetik, die auf die Arbeiter wirken würde. Auf diese Weise vom Dasein als »Sklaven der modernen Industriearbeit« befreit, könnten die Arbeiter dann »Freude am Mitschaffen großer gemeinsamer Werte« gewinnen.61 Der Erste Weltkrieg bedeutete auch in diesem Kontext eine wichtige Zäsur und gab dem Fabrikbau eine neue Bedeutung für die Architekten, weil in den kriegsführenden Nationen andere Baumaßnahmen rar wurden.62 Überlegungen wie diejenigen Gropius’, bei dem wiederum ein gewisser Einfluss der amerika-
58 Vgl. Mislin: Industriearchitektur, 2002, S. 213f., 218; Bradley: Works, 1999, S. 24. 59 Vgl. Utz: Fabrikanlagen, 1907, S. 314. 60 Vgl. Guillén: Taylorized Beauty, 2009, S. 138. Der Architekturhistoriker Peach betont, dass ein großer Teil der modernen deutschen Architekten sich der Verbesserung der Arbeitsverhältnisse und damit der Produktivität verschrieben habe, vgl. Peach: Wohnfords, S. 61. 61 Gropius: Monumentale Kunst, 1988, S. 31. 62 Vgl. Pai: Portfolio, 2002, S. 83.
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nischen Industriedebatte zu vermuten ist,63 breiteten sich nun in den Industriestaaten aus. So veränderte sich im Krieg in Großbritannien und den USA die Vorstellung davon, wie eine ideale Fabrik zu gestalten und zu leiten sei, grundlegend.64 In großen Teilen der amerikanischen und britischen Fachdiskussion ging es um eine umfassende Gestaltung der betrieblichen Umwelt: nicht allein um Licht-, Luft- und Klimaverhältnisse, sondern darüber hinaus gleichzeitig um architektonische und psychologische Anforderungen, die eine Fabrik erfüllen sollte. Davon versprach sich das Management positive Auswirkungen auf die Arbeiterschaft.65 Hauptsächlich sollten die neuen Modellfabriken aber den Ansprüchen an eine gesteigerte Effizienz genügen. Die Architektur hatte die Aufgabe, die Produktivität zu steigern und die Arbeiterschaft kontrollierbar zu machen. Die Verbesserungen der Arbeitsumwelt sollten gleichzeitig dazu dienen, aus den besten Beschäftigten eine Stammarbeiterschaft herauszubilden.66 Ein wichtiger Impuls ging außerdem von der wachsenden Beschäftigung von Arbeiterinnen aus. Die Manager hielten es insbesondere für die beschäftigten Frauen für sehr wichtig, die Arbeitsräume so zu gestalten, dass auch dort eine »weibliche Sphäre« wie in der Wohnung entstehe.67 Eine zentrale Stimme in der englischsprachigen Industriearchitekturdebatte war der Amerikaner Moritz Kahn, ein Bruder Albert Kahns, der bereits für seine Bauten für Ford (Highland Park) berühmt geworden war. Moritz Kahn leitete die britische Filiale des Familienunternehmens. Im vorletzten Kriegsjahr veröffentlichte er ein sehr einflussreiches Handbuch zur industriellen Architektur, The Design and Construction of Industrial Buildings. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand auch bei ihm die Auffassung, dass sich eine Verbesserung der Arbeitsumwelt direkt auf die Einstellung der Arbeiter/-innen und damit auf die Produktivität auswirke.68 Ideen, die unter anderem bereits Emerson und Taylor geäußert hatten, wurden hier aufgegriffen, ausgearbeitet und durch die Stellung Kahns in der Baupraxis wirksam. So betonte auch Kahn, Arbeiter könnten nicht wie Maschinen behandelt werden und bewarb die höheren Baukosten mit den zu erwartenden Ertragssteigerungen durch den neuen Arbeitsgeist der Arbeiter/
63 Vgl. Banham: Concrete Atlantis, 1989, S. 200. 64 Vgl. Loader/Skinner: Management, 1991, S. 88. 65 Vgl. ebd., S. 89. 66 Vgl. ebd., S. 101. 67 Ebd., S. 85. Ähnliche Diskussionen fanden in der Zwischenkriegszeit in Deutschland statt, vgl. Uhl: Humane Rationalisierung, 2014, S. 113f. 68 Vgl. Loader/Skinner: Management, 1991, S. 85.
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-innen.69 Ihm schwebte eine Verbindung des höchstmöglichen Komforts für die Arbeiter/-innen mit der maximalen Effizienz vor. In diesem Sinne seien betriebliche Sozialeinrichtungen im Interesse der Effizienzsteigerung zu betrachten. Überhaupt hätten die Atmosphäre des Arbeitsraum und die Licht-, Luft- und Temperaturbedingungen ebenfalls direkte Auswirkungen auf die Effizienz.70 Interessant ist, dass Kahn wie Wallichs das Beispiel des Ausblicks aus den Fenstern anführte. Auch wenn Unternehmer oft anderer Ansicht seien, gelte es, den Arbeiter/-innen diesen Sinneseindruck zu ermöglichen, weil auch das letztlich der Effizienz diene.71 Aus alltagsgeschichtlicher Perspektive lässt sich hier der Beginn eines Umbruchs konstatieren: Der Historiker Alf Lüdtke hat gezeigt, wie eigen-sinniges Verhalten der Arbeiter/-innen weder durch Disziplinar- noch durch Rationalisierungsmaßnahmen unterbunden werden konnte. Arbeiter/ -innen gelang es stets auf verschiedene Arten, sich gewisse Freiräume während der Arbeitszeit zu schaffen.72 Die Vorschläge des Architekten Kahns und des Ingenieurs Wallichs, zwei einflussreiche Experten für Fragen der industriellen Effizienz in ihrer Zeit, zeigen einen gewissen Strategiewechsel an, für den zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Unternehmen bereit waren: An die Stelle des niemals vollständig aufgehenden Versuchs, den Eigen-Sinn der Arbeiter/-innen zu unterdrücken, trat hier eine Möglichkeit, Formen eigen-sinnigen Arbeiterverhaltens zuzulassen, zu fördern und zu lenken, die mit dem Kernziel der Unternehmen – Effizienz – konvergieren.73 Oder anders gesagt: Humanisierung und Rationalisierung des Arbeitslebens konnten durchaus den gleichen Zielen dienen. Im Zusammenhang mit dem Fensterblick wie auch in Bezug auf die Einrichtung von Sozialräumen betonte Kahn, dass diese Neuerungen insbesondere für Arbeiterinnen wichtig seien.74 Ganz explizit machte er jedoch deutlich, es müssten den Beschäftigten unabhängig vom Geschlecht solche Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden.75 Die Beschäftigung mit Frauenarbeit, die vor allem während des Krieges weitverbreitet war und breit diskutiert wurde, wirkte in diesem Kontext also katalytisch auf die Forderungen nach der Gestaltung einer humanen Arbeitsumwelt: Ausgehend vom Blick auf die Arbeiterinnen entfalte-
69 Vgl. Kahn: Design, 1917, S. 35, 48. 70 Vgl. ebd., S. 19, 62f. 71 Vgl. ebd., S. 23. 72 Vgl. Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993, S. 257, 378. 73 Zur Erzeugung eines konvergenten Eigen-Sinns, vgl. Uhl: Humane Rationalisierung, 2012, S. 111f., 130, 331-333. 74 Vgl. Kahn: Design, 1917, S. 57, 62. 75 Vgl. ebd., S. 58.
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ten solche Ansprüche eine generelle Gültigkeit. Kahn sah jedenfalls enorme Entwicklungsmöglichkeiten in der wissenschaftlichen Pflege des menschlichen Elements in der Fabrik. Mithin fungierte in seinem Konzept die »scientific care of the human element« als eine direkte Fortsetzung des Scientific Managements Taylors mit gleichbleibenden Zielen.76 Der Erste Weltkrieg markierte auch aus zeitgenössischer Sicht diesbezüglich einen Umbruch: Kahn sah den Krieg gar als Beginn eines neuen Kapitels der Industriegeschichte an. Das Kapitel »Welfare Work« seines Buches sei überhaupt erst als Folge des Weltkrieges zu betrachten.77 Zum einen führt auch Kahn das bereits erwähnte Motiv der sozialen Befriedung aus: Bessere Arbeitsbedingungen könnten gleichzeitig als Mittel gegen die drohenden Arbeiterunruhen nach Ende des Krieges und als Methode zur Steigerung der Produktivität wirken. Darüber hinaus weist ein weiter Aspekt: die Vorbereitung auf den internationalen industriellen Wettbewerb nach Kriegsende.78 Auch hier wird deutlich, dass neben das Bild der Arbeiter/-innen als mögliche Störgröße – sei es durch ein Zurückbleiben hinter der technisch möglichen Effizienz oder durch politische Betätigung – ein neues Bild von den Arbeiter/-innen als nutzbare menschliche Ressource trat. Ein Ignorieren der menschlichen Ansprüche an den Arbeitsplatz schien den Vordenkern der industriellen Effizienz jedenfalls nicht mehr sinnvoll zu sein. Auch der deutsche Bauingenieur Hauer betonte in seinem Handbuch zum Fabrikbau von 1922 die einschneidende Wirkung des Krieges: Das »Selbstbewusstsein« der Arbeiter sei durch den Krieg so angestiegen, dass man nun ihr »Wohlbehagen auf jede Weise« fördern müsse, um ihre »Arbeitsfreudigkeit« und »Liebe zur Arbeitsstätte« zu heben.79 Dazu dienten unter anderem die betrieblichen Sozialräume. Dieses »Selbstbewusstsein« bezog sich auf die neuen Möglichkeiten zur politischen Partizipation für die Arbeiterschaft. Auch Kahn stellte klar, dass der Staat eine fördernde Rolle für die Fabrikreform spielen werde, beziehungsweise die Unterschreitung gewisser humaner Standards nicht mehr billigen werde: »The new factory – the factory of the future – the really ef-
76 Ebd., S. 55. 77 Vgl. ebd., S. 53. 78 Vgl. ebd., S. 54f.; auch Wallichs betonte die Notwendigkeit, den inneren sozialen Frieden zu erhalten, um für den »nach Friedensschluß sicher eintretenden Wirtschaftskampf[] mit den uns feindlich gesinnten Völkern« gerüstet zu sein, vgl. Wallichs: Psychologie, 1917, S. 6. 79 Hauer: Fabrikbau,1922, S. 51.
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ficient factory – will not be permitted by the State to be, as the factory of the past has been, an institution without a soul.«80
FAZIT Es konnte gezeigt werden, dass eine menschliche Gestaltung der Industriearbeit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Akteursgruppen gefordert wurde. Im Ersten Weltkrieg bekam dieser internationale Diskurs erheblichen Rückenwind, was zur Folge hatte, dass nun über Einzelfälle hinausgehend zum ersten Mal betriebliche Umsetzungsversuche in größerem Maßstab unter staatlicher Forcierung unternommen wurden. Dieser Befund allein ist für Periodisierungsfragen der Geschichte der Industriearbeit bereits von wesentlicher Bedeutung und ermöglicht beispielsweise eine Historisierung und Kontextualisierung des Bundesprogramms Humanisierung des Arbeitslebens. Über den reinen Befund hinausgehend stellt sich jedoch die Frage, warum diese Wandlungsprozesse im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verstärkt einsetzten. Es lässt sich argumentieren, dass zu diesem Zeitpunkt verschiedene Stränge zusammenliefen. Insbesondere unter den Bedingungen des Krieges förderten staatliche Akteure sowie Manager und Ingenieure in den Betrieben neue Ansätze der Organisation von Industriearbeit und der Gestaltung der Arbeitsumwelt. Erstens hatte die internationale Rationalisierungsbewegung durch Taylors Publikationen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Aufmerksamkeit in einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß erfahren, auch wenn viele Aspekte bereits seit dem späten 19. Jahrhundert diskutiert wurden. Dabei entstand ein verstärktes Interesse am Produktionsfaktor Mensch, auch wenn dieser zunächst vorwiegend wie bei Taylor infolge eines pessimistischen Menschenbildes als möglicher Störfaktor des Produktionsprozesses begriffen wurde. Der arbeitende Mensch drohte also die technisch mögliche Leistung zu verringern, was es durch eine tayloristische Arbeitszerlegung samt verstärkter Kontrolle des Managements über den Arbeitsprozess zu verhindern galt. Neben diese Anschauungsweise traten jedoch rasch Konzepte, die auf der Grundlage eines optimistischeren Menschenbildes den arbeitenden Menschen als ein zu verwertendes Potenzial im Arbeitsprozess verstanden und mithin ein qualitativ neues Interesse am Faktor Mensch ausbildeten. Verstärkt durch den Arbeitskräftemangel im Ersten Weltkrieg schienen nun Formen einer Humanisierung der Arbeit ein probates Mittel im Gesamtkontext der Rationalisierungsbewegung darzustellen.
80 Kahn: Design, 1917, S. 63.
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Zweitens wirkte die erhöhte Beschäftigung von Frauen in den Fabriken während des Weltkrieges katalytisch für die weitere Diskussion um die Vereinbarung von Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit. Die Menschlichkeit der Beschäftigten an sich wurde geradezu über die Beschäftigung mit der Geschlechterdifferenz, mit den vermeintlichen Besonderheiten von Arbeiterinnen entdeckt. Eine Rücksichtnahme auf diese weiblichen Bedürfnisse schien geboten und ließ sich überraschend gut mit den Zielen der Rationalisierung verbinden. Die Gestaltung der Personalführung und der betrieblichen Umwelt rückten nun als Rationalisierungsaufgaben ins Bewusstsein vieler betrieblicher Verantwortlicher. Drittens – dieser Punkt ist weitgehend bekannt, darf aber aufgrund seiner Bedeutung nicht unerwähnt bleiben – machte die während und nach dem Ersten Weltkrieg gestärkte Position der Arbeiterbewegung Konzessionen an diese notwendig. Fragen der betrieblichen Mitbestimmung, der Hygiene und der Arbeitszeit wurden gesetzlich geregelt. Darüber hinaus schien eine gewisse Verbesserung der Arbeitsumwelt und Arbeitsbedingungen eine sinnvolle Maßnahme zum Ziele der Abwehr möglicher Unruhen zu sein. Das bedeutete freilich nicht, dass bereits in der Zwischenkriegszeit Umkleideräume, Kantinen und ähnliche Sozialeinrichtungen zur Normalität geworden wären; es gab aber immerhin sichtbare Verbesserung in vielen Betrieben.81 Viertens nahmen Einflüsse jenseits der Ingenieure, Manager und Unternehmer auf die Fragen der Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit zu. So entwarfen Architekten aus einem technokratischen Selbstverständnis heraus Entwürfe von Fabriken, die Funktionalität, Ästhetik und Effizienz miteinander zu verbinden suchten. Mit der Einrichtung der Fabrikpflege gelangten dann auch Elemente der Sozialarbeit in die Betriebe und wurden insofern verbetrieblicht, als sie zwischenmenschliche Betreuungsaufgaben mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung verbanden. Das Zusammentreffen dieser vier Stränge markiert nicht zuletzt die endgültige Abkehr der Unternehmen von einer reinen Fokussierung auf die Fabrikdisziplin: Ergänzend, gleichwohl niemals die Disziplinierung der Arbeiter/-innen völlig verdrängend, traten unter dem Leitbild der Gestaltung humaner Arbeitsbedingungen nun Machtformen in den Vordergrund, die jenseits der Überwachung oder Repression danach trachteten, das eigen-sinnige Verhalten der Arbeiter/-innen für die Unternehmensziele nutzbar zu machen. In diesem Beitrag wurde gezielt nur eine Perspektive, diejenige der Industrieexperten, Ingenieure und Unternehmer, in den Blick genommen. Keinesfalls darf der Fehler gemacht werden, diesen Blick auf die Humanisierung der Arbeit
81 Vgl. Uhl: Humane Rationalisierung, 2014, S. 95-133.
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für deckungsgleich mit allen Anstrengungen in diese Richtung zu halten. Es ging darum, aufzuzeigen, dass das unternehmerische Interesse an einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen sehr früh einsetzte und keinesfalls als altruistisch missverstanden werden darf. In einem gewissen Sinne war dieses Interesse an der Menschlichkeit bei der Arbeit ein Interesse an den Arbeitern und Arbeiterinnen als Humankapital avant la lettre. Dass unter dem Schlagwort der Humanisierung der Arbeit jedoch auch eine andere Politik betrieben werden konnte, zeigten die gewerkschaftlichen Bemühungen seit den 1960er-Jahren. Gleichwohl sollte diese frühe Geschichte der Humanisierung der Arbeit für die offene Zielrichtung entsprechender Maßnahmen sensibilisieren, die eben auch für Studien zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu beachten ist. Keinesfalls gab Humanisierung zwangsläufig den Gegenpart zur Rationalisierung ab; es gab bereits zu Beginn des Jahrhunderts vielfältige Möglichkeiten zur politischen Okkupation des neuen Interesses an ›menschlichen‹ Arbeitsbedingungen.
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Das Forschungs- und Aktionsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (1974-1989) Stefan Müller
Das vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) und vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) 1974 ausgelobte Aktions- und Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA) ist Ausgangspunkt für die in diesem Band erörterten Fragen zum Verhältnis von Humanisierung und Rationalisierung. Für einen Großteil der hier vertretenen Beiträge stellt das HdA-Programm zudem eine Art Gerüst dar, ohne das die jeweiligen Debatten nicht zu verstehen wären. Die darin gebündelten Maßnahmen – mehr als 1600 bis zum Ende des HdA-Programms 1989 – strukturierten die politischen und wissenschaftlichen Debatten über eine menschlichere Gestaltung der Arbeitswelt in den 1970er- und 1980er-Jahren.1 Nach wenigen Jahren geriet das Programm ins Zentrum einer politischen Kontroverse, in der schließlich nicht über eine vergleichsweise kleine Linie der Technologieförderung gesprochen wurde, sondern unterschiedliche Vorstellungen von Humanität und Innovation verhandelt wurden – letzterer ein zentraler Begriff der Forschungs-, Technologie- und Wirtschaftsförderung seit den 1980er-Jahren. Für mindestens die 1970er-Jahre kann man somit fragen, ob der Humanisierungsdiskurs als das Sprechen über eine menschlichere Gestaltung von Arbeit nicht zwischenzeitlich die Gestalt eines Vorurteils angenommen hatte.2 Mit seiner Skizze politischer Entscheidungen, administrativer Vorgehensweisen und der Untersuchung der politischen Kontroverse geht der vorliegende Beitrag der Programmgeschichte nach und dient damit zugleich dem Verständnis
1
Zu den Zahlen vgl. Projektträger: Projektstatusbericht 1988/89, S. 11.
2
Vgl. die anregenden Überlegungen bei Horkheimer: Vorurteil, 1963.
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anderer in diesem Band vorliegender Aufsätze. Worin bestanden die gesellschaftlichen Grundlagen für das HdA-Programm? Wer waren die Akteure und wie funktionierte das Programm? Worum ging es in der politischen Kontroverse, die das Programm schon frühzeitig in die Krise führte? In einem engeren politikgeschichtlichen Sinne gilt es somit zum einen, die Genese des Aktions- und Forschungsprogramms herauszuarbeiten. Dieser Beitrag knüpft zeitlich an Nina Kleinöders Beitrag über den Arbeitsschutz an. Zugleich schließt er an die Argumente Karsten Uhls zur Verflechtung von Humanisierung und Rationalisierung in der Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts an und geht auf die gesellschaftlichen Grundlagen des Aktions- und Forschungsprogramms ein. Damit ordnet sich der Beitrag in eine Neue Politikgeschichte mit ihrer kulturhistoriographischen Informiertheit ein.3 Die vorliegenden historiographischen Arbeiten zum HdA-Programm selbst stammen neben einem frühen und noch thesenförmig gehaltenen Beitrag Anne Seibrings von Nina Kleinöder und Stefan Müller.4 Dort ging es zunächst darum, eine Schneise in die noch dominanten sozialwissenschaftlichen Deutungen des HdA-Programms durch ehemalige Akteure zu schlagen. So gilt Werner Fricke, in den 1970er- und 1980er-Jahren als Sozialwissenschaftler an HdA-Projekten beteiligt, das Humanisierungsprogramm als Modernisierungsschub und gesellschaftlicher Aufbruch, der auf der Koinzidenz ansonsten divergierender Interessen von Unternehmen, Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft beruhte. Fricke sieht in den 1970er-Jahren ein Reformbündnis am Werk, das um 1980 wieder auseinanderbrach und das Programm damit in die Krise führt. Andere zeitgenössische Akteure deuten das Programm entlang ihrer in den 1970er- und 1980er-Jahren eingenommenen Positionen als Erfolg, Niederlage oder auch Enttäuschung.5 Nach Dietrich Bethge, zeitgenössisch als Referent im Arbeitsministerium mit HdA befasst, handelte es sich dagegen um eine »Zwangsvereinigung« unterschiedlicher und widersprüchlicher Themen unter dem Begriff der Humanisierung der Arbeit.6 Auf gewerkschaftlicher Seite finden sich Niedergangserzählungen, die auf der Annahme beruhen, selbst Initiator des Programms gewesen zu sein.7 Weitgehend unerforscht sind bislang die Unternehmensperspektiven auf das Programm.8
3
Vgl. Frevert/Haupt: Neue Politikgeschichte, 2005.
4
Vgl. die Diskussion des Forschungsstands in der Einleitung.
5
Vgl. Fricke: Drei Jahrzehnte, 2004. Ähnlich Süß: Denk- und Handlungsfelder, 2006.
6
Bethge: Arbeitsschutz, 2006, S. 285.
7
Vgl. Pickshaus/Urban: Perspektiven, 2002.
8
Zeitgenössisch vgl. Kaste: Arbeitgeber, 1981.
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VON DER QUALITÄT DES LEBENS ZUR HUMANISIERUNG DER ARBEIT Die Diskussion um Humanisierung der Arbeit war Bestandteil einer Ende der 1960er-Jahre aus den USA nach Europa schwappenden Debatte über die Qualität des Lebens. Der Terminus (»quality of life«) entstammte der gesellschaftskritischen Diskussion über ungleiche soziale Lagen, die angesichts einer »Überflussgesellschaft« zunehmend wieder ins Auge sprangen.9 Kurz gefasst wurde in dieser Diskussion infrage gestellt, ob durch weiteres Produktivitätswachstum zugleich ein Mehr an Lebensqualität erzielt werden könne. Diese Diskussion wurde dabei nicht nur von einer kritischen Intelligenz geführt, sondern erfasste alle gesellschaftlichen Akteure bis in die Regierungsspitze hinein. Bundeskanzler Willy Brandt wünschte sich eine Gesellschaft, wo »die Menschen in ihr sich entfalten und verwirklichen können. Eine Gesellschaft, die nach der Qualität des Lebens fragt. Eine Gesellschaft, die danach ihre Anstrengungen und damit den gemeinschaftlichen Anteil am Sozialprodukt bemißt« (1971).10 Nicht mehr pures ökonomisches Wachstum, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit wurde zur Leitidee westlicher Gesellschaften. Sowohl in den Gewerkschaften, was naheliegend war, als auch von Unternehmervertretern wurde und musste über Lebensqualität gesprochen werden: Die IG Metall stellte ihre internationale Arbeitstagung 1972 unter das Motto »Aufgabe Zukunft. Qualität des Lebens«; und für die arbeitgebernahe Forschung war es von der Qualität des Lebens zur »Qualität des Lebens am Arbeitsplatz« nicht nur semantisch ein kleiner Schritt.11 Welche Breitenwirkung und zugleich Bedeutungsdimension der Begriff der Lebensqualität hatte, mag man am sozialdemokratischen Wahlprogramm von 1972 ermessen, in dem die SPD für »Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens« eintrat und somit Fragen der Lebensqualität mit weltpolitischen Fragen kombinierte.12 In der Regierungserklärung von 1973 hieß es, der Staat sollte den Forderungen nach einem Volk der »guten Nachbarschaft und der Qualität des Lebens« unterworfen sein.13
9
Hockerts: Rahmenbedingungen, 2006, S. 79.
10 Brandt: Rede 1971, S. 281. 11 Schlaffke/Rühl/Weil: Qualität, 1974. Die Gewerkschaftstagung von 1972 wurde anschließend umfassend in zehn Bänden dokumentiert, vgl. Friedrichs: Aufgabe Zukunft, 1972/74. 12 Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Wahlprogramm, 1972. 13 Brandt: Regierungserklärung 1973, S. 406. Zu den Debatten in der CDU vgl. Kipp, CDU-Programmatik, 2016.
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Das Ziel einer menschlicheren Gestaltung der Arbeitswelt bewegte sich also im inhaltlichen Kontext von Wachstums- und Wohlstandskrise. Diese verbundene Krise von Überfluss auf der einen und Armut auf der anderen Seite mit der Infragestellung von Wachstum als Motor gesellschaftlicher Entwicklung verlief dabei parallel zur ersten Nachkriegsrezession.14 Zum Zweiten stellte HdA eine Reaktion auf mannigfaltige Probleme der industriellen Arbeit dar. Schon in seiner Regierungserklärung 1969 formulierte Willy Brandt die »Humanisierung der Arbeitslebens« im Sinne von Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz als wichtige Aufgabe.15 Die Zahl der gemeldeten Arbeitsunfälle war seit Gründung der Bundesrepublik bis zu Beginn der 1960er-Jahre kontinuierlich angestiegen und erreichte ihren Peak mit 2,8 Millionen Fällen 1961. Aber auch mit Beginn der sozial-liberalen Koalition wurden noch immer 2,3 Millionen Arbeitsunfälle gemeldet.16 Nachdem über das Maschinenschutzgesetz fast 50 Jahre bis zu seiner Verabschiedung 1968 diskutiert wurde, machte sich die sozialliberale Koalition unmittelbar mit einer ganzen Reihe von Reglungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz an die Arbeit.17 Dazu zählten die Gründung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (1972), das Arbeitssicherheitsgesetz (1973) und die Verordnungen über Arbeitsstätten und über gefährliche Arbeitsstoffe (1975). Im Jugendarbeitsschutzgesetz wurden die Schutzvorschriften modernisiert und den Betriebsräten mit dem reformierten Betriebsverfassungsgesetz von 1972 ein Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen eingeräumt.18 Die Humanisierung des Arbeitslebens begann also mit Reformen in der Sozialpolitik, einem zentralen Handlungsfeld der ersten sozialliberalen Koalition.19 Für die frühen 1970er-Jahre kann man von einer transnationalen, aus dem Arbeitsschutz herrührenden, den Charakter von Sozialpolitik erweiternden Humanisierungsdiskussion sprechen. 1972 und 1973 entstanden in den USA, Großbritannien und Frankreich, jeweils auf Initiative der dortigen Arbeitsministerien, Studien über Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz.20 Helmut Rohde, Parlamen-
14 Vgl. Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2005, S. 288f. 15 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung durch Willy Brandt, 28.10.1969. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 06/5, S. 20-34. 16 Vgl. Remeke: Gewerkschaften, 2005, S. 64f. 17 Vgl. zum Arbeitsschutz den Beitrag von Nina Kleinöder in diesem Band sowie grundlegend Kleinöder: Arbeitsschutz, 2015. 18 Vgl. Bethge: Arbeitsschutz, 2006. 19 Vgl. auch Süß: Denk- und Handlungsfelder, 2006. 20 Vgl. Delamotte: Recherches, 1972; O’Toole u.a.: Work, 1972; Wilson: Quality, 1973.
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tarischer Staatssekretär im Arbeitsministerium nahm die US-amerikanische Untersuchung zum Anlass für sein Argument, dass Sozialpolitik »nicht allein im Ausbau der sozialen Sicherung bestehen« könne, sondern sich auch auf die Arbeitsverhältnisse beziehen müsse, und ordnete die westdeutschen Bemühungen damit auf der transnationalen Ebene ein.21 Neben den sozialpolitischen Implikationen des Arbeitsschutzes nahmen insbesondere die Tarifparteien mit eigenen Interessen Bezug auf die Debatte um Humanisierung und Qualität von Arbeit. In den Gewerkschaften rückten nach einer Phase quantitativ expandierender Forderungen im Kontext ökonomischen Wachstums – hier: Lohn und Arbeitszeit – nun qualitative Fragen in den Fokus.22 Es galt, die Kluft »zwischen dem privaten Lebensstandard und dem Standard der Arbeitsbedingungen« zu überwinden.23 Mit dem Lohnrahmentarifvertrag (LRTV) II der IG Metall für Nordwürttemberg und Nordbaden 1973 kämpften erstmals Beschäftigte für die qualitative Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Einen zentralen Bestandteil des LRTV II stellte die nach dem damaligen Bezirksleiter und späteren Vorsitzenden der IG Metall benannte »SteinkühlerPause« dar. An Fließbändern und im Akkord beschäftigte Arbeitnehmer erhielten eine bezahlte fünfminütige Erholpause pro Stunde.24 Mit dem erfolgreichen Streik sah dann auch die Bundesregierung die Gewerkschaften auf ihrer Seite, Lösungen für unzumutbare Arbeitsbedingungen zu finden.25 Auf Unternehmensseite spielte dagegen das steigende Bedürfnis nach Flexibilisierung der Produktion eine Rolle, um beispielsweise mit kleineren Fertigungslinien auf schnell wechselnden Produktarten reagieren zu können. Vor diesem Hintergrund waren insbesondere in den 1970er-Jahren Experimente mit (teilautonomen) Arbeitsgruppen als Alternative zur Fließbandfertigung nachgefragt. Gleichfalls rückten Motivationsfragen in den Fokus und von der Betriebspsychologie wurden veränderte Führungsstile vorgeschlagen.26 Das Rationalisierungsinteresse der Arbeitgeber war unverkennbar. Schon 1972 gründeten die Automobilunternehmen einen Arbeitskreis zur Erforschung neuer Arbeitsstrukturen.27 Die Ablösung der Fließbandarbeit durch Arbeitsgruppen stieß, wie unten
21 Rohde: Humanisierung, 1974, S. 203. 22 Vgl. Sauer: Humanisierung, 2011; Oehlke: Arbeitspolitik, 2004, S. 16. 23 Bethge: Arbeitsschutz, 2006, S. 287. 24 Vgl. IG Metall: Werktage, 1977; Anonym: Kampf, 2006. 25 Vgl. Ehmke: Forschung, 1974. 26 Remeke: Gewerkschaften, 2005, S. 72. 27 Vgl. Arbeitskreis: Gestaltung, 1976. Die Untersuchung dieses Diskussionszusammenhangs stellt ein weiteres Desiderat dar – nicht zuletzt die Frage, in welchem Verhältnis
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gezeigt wird, in den Gewerkschaften auf eine ambivalente Haltung. Von arbeitssoziologischer Seite wurde wiederum das Versprechen gegeben, beide Seiten könnten gleichermaßen von weniger entfremdeter Arbeit profitieren.28
ENTSTEHUNG DES HDA-PROGRAMMS Anfang Dezember 1972 wandte sich das Bundesarbeitsministerium an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (BAU) mit der Bitte um eine Bestandsaufnahme hinsichtlich physischer und psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Die Bundesregierung plane in der kommenden Legislaturperiode, ihre Anstrengungen um eine »Humanisierung des Arbeitslebens« zu intensivieren. Neben einer detaillierten Liste zu analysierender körperlicher Belastungen am Arbeitsplatz (wie Lärm, Schadstoffe oder ergonomische Belastungen) wurde die BAU auch gebeten, die Lebensbedingungen am Arbeitsplatz zu untersuchen. Die Arbeitswelt müsse so gestaltet werden, dass es für die Menschen auch »die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung« gäbe.29 Mit diesem Schreiben waren zum einen der Name des kommenden Programms fixiert und die Arbeitsfelder in stichwortartigen Gliederungspunkten beschrieben. Zum anderen waren sich die Auftraggeber aus dem BMA bereits des zu Tage tretenden Spannungsfelds von Humanisierung und Rationalisierung bewusst, wenn sie nach möglichen »Zielkonflikten« von Arbeitszufriedenheit und Produktivitätskosten fragten.30 Für eine umfassende Untersuchung fehlten der erst vor rund einem Jahr gegründeten Bundesanstalt jedoch die Ressourcen, sodass das Arbeitsministerium sich mit dem Forschungsministerium einen Kooperationspartner suchte.31 Das Programm stieß auf Interesse im BMFT, welches sich im Wesentlichen für ein begleitendes technologisches Teilprogramm zuständig sah. Auf Grundlage der vom Arbeits-
dieses Engagement zu den älteren Debatten im Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW) steht. 28 Vgl. Springer: Arbeit, 2001. 29 Schreiben des BMA (Referat III b 8) an BAU betr. Ergonomie/menschengerechte Gestaltung der Arbeit vom 1.12.1972, Bundesarchiv Koblenz (im Folgenden BArch Koblenz), B 149/27879. 30 Anlage Arbeitsprogramm »Menschengerechte Gestaltung der Arbeit«. Gliederungsschema, BArch Koblenz, B 149/27879. 31 Vgl. BMA, UA III b, Vermerk betr. Ergonomie vom 13.12.1972; Schreiben von BMA, UA III b, an BMA, Referat III b 8, betr. Forschung – Arbeitsumwelt vom 5.7.1973, beide BArch Koblenz, B 149/27879.
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ministerium erarbeiteten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse wollte es seinen Fokus auf »technologische Entwicklungsprojekte« legen – auf »die Erstellung von ›menschengerechter Hardware‹«.32 Die vermutete Arbeitsteilung mit der Hauptlast und dem Hauptaugenmerk beim BMA sollte sich in den kommenden Jahren jedoch umkehren. Verbunden mit dem arbeitsteiligen Vorgehen zwischen Arbeits- und Forschungsministerium war die Entscheidung, externe Expertise einzuholen. Auf dem Arbeitswissenschaftlichen Kongress im März 1973 forderte Bundesminister Walter Arendt die deutschen Arbeitswissenschaftler (und wenigen Arbeitswissenschaftlerinnen) zur Mitwirkung am Humanisierungsprojekt auf. Rund 250 Wissenschaftler beteiligten sich daraufhin mit Ideen, Konzepten und gutachterlichen Tätigkeiten an der Entstehung des Programms.33 Eberhard Ulich von der ETH Zürich erinnert sich, dass er bereits im Herbst 1972 gemeinsam mit dem späteren Leiter des Projektträgers Willi Pöhler zur Vorbereitung des Programms nach Schweden und Norwegen gereist sei, um sich dort über Projekte zur Gruppenarbeit bei Saab und Atlas Copco (Bohrmaschinen für den Bergbau) zu informieren und sich mit Kollegen des Work Research Institute in Oslo zu treffen.34 Auch die Gewerkschaften äußerten sich bereits in der konzeptionellen Phase zum Programm. Gerhard Leminsky vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) des DGB formulierte programmatisch, »Freiheits- und Wahlmöglichkeiten, Selbstbewusstsein und Kreativität« müssten in die Arbeitswelt hineingetragen werden.35 In einem intensiven Austauschprozess bis zum Frühjahr 1974 erarbeiteten beide Ministerien schließlich das Aktionsprogramm. Dieses war inhaltlich breit aufgestellt, wie zu zeigen sein wird, intendierte aber zwei Schwerpunkte, die teilweise schon nach außen kommuniziert wurden. Zum Ersten sollten insbesondere mehrfach belastete Arbeitsplätze in den Blick genommen werden. Das Augenmerk lag dabei auf dem Bergbau und der Stahlindustrie.36 Zum Zweiten galt
32 BMFT, Referat III B 2, Rahmenkonzept für einen möglichen Beitrag des BMFT zum Thema »Humanisierung der Arbeitswelt« vom 25.5.1973, S. 11, BArch Koblenz, B 149/27879. 33 Bethge: Arbeitsschutz, 2006, S. 304. 34 Vgl. Ulich: Erfahrungen, 2009. Zu den Debatten in Skandinavien vgl. den Beitrag von Maths Isacson in diesem Band. 35 Gerhard Leminsky (WSI): Konzeptionelle Überlegungen für ein Forschungskonzept zur Humanisierung der Arbeit, S. 5; Schreiben von Gerhard Leminsky an Dietrich Bethge vom 31.8.1973, beide BArch Koblenz, B 149/27879. 36 Vgl. Ehmke: Forschung, 1974.
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es, Alternativen zur Fließbandarbeit zu entwickeln. Das BFMT resümierte aus den vorbereitenden Gesprächen, dass das Arbeitsministerium gar die »Abschaffung der Fließbandarbeit« vorbereiten wolle.37 Über diese Fragen bestand gleichfalls ein reger Austausch zwischen dem BMA und Gewerkschaftsvertretern. Günter Friedrichs von der Automationsabteilung der IG Metall schlug dem Staatssekretär im BMA, Heinz Eicher, sogenannte »Demonstrationsprojekte« vor, mit denen die Bundesregierung gegenüber der Industrie für ihr Humanisierungsprogramm werben könne. So solle die Regierung in Zeitungsanzeigen ihre Bereitschaft ankündigen, finanzielle Mittel für fünf bis zehn Großprojekte zur Verfügung zu stellen, in denen die Fließbänder abgeschafft würden. Alleine die Anzeigen würden zur Diskussion beitragen und die Entschlossenheit der Bundesregierung demonstrieren. Zudem, so ein wenige Jahre später stark umstrittenes Argument des Gewerkschafters Friedrich, sei der Umstieg auf autonome oder teilautonome Gruppenarbeit zumeist mit einem Produktivitätsanstieg verbunden, was sich positiv auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmer auswirken würde.38 Die Technologiepolitik und -förderung durch die zuständigen Stellen in der Bundesrepublik waren bis in die 1970er-Jahre nicht für ihre besondere Arbeitnehmernähe bekannt. Die Ursprünge ministerialer Technologieförderung und des BMFT selbst liegen in Forschungen zur Nutzung der Atomenergie, was mit den Versuchen einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr verknüpft war.39 Insofern stellte die Aufnahme gewerkschaftlicher Positionen im Selbstverständigungsprozess über das HdA-Programm eine erhebliche Neuerung in der westdeutschen Technologieförderung dar. Die sozial-liberale Koalition hatte seit 1969 in diesem Feld zu erheblichen Veränderungen geführt. Mit dem Bundesarbeitsminister und ehemaligen Vorsitzenden der IG Bergbau und Energie Walter Arendt, mit dem Parlamentarischen Staatssekretär im BMA und Bundesvorsitzenden der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen Helmut Rohde sowie schließlich mit Hans Matthöfer, der von 1960 bis 1972 Leiter der IG Metall-Bildungsabteilung war und 1974 das Forschungsministerium von Horst
37 BMFT, Referat III B 2, Rahmenkonzept für einen möglichen Beitrag des BMFT zum Thema »Humanisierung der Arbeitswelt« vom 25.5.1973, S. 6, BArch Koblenz, B 149/27879. 38 Parallele Schreiben von Günter Friedrichs an Heinz Eicher, Staatssekretär im BMA, und an Volker Hauff, Parlamentarischer Staatssekretär im BMFT, vom 4.2.1974, BArch Koblenz, B 196/16492. Dieses Argument vertraten auch die Arbeitsdirektoren in der Stahlindustrie. Kleinöder: Arbeitsschutz, 2015, S. 290-300. 39 Vgl. Radkau: Forschungspolitik, 2006; Conze: Sicherheit, 2009, S. 290-296.
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Ehmke übernahm, kamen drei von vier Schlüsselpersonen für das HdAProgramm auf der Regierungsebene aus den Gewerkschaften beziehungsweise dem Arbeitnehmerflügel der SPD.40 Dies sollte prägend für die Programmgestaltung in den 1970er-Jahren sein. Das Programm wurde schließlich im Mai 1974 veröffentlicht.41 Das Arbeitsministerium konzentrierte sich vor allem auf die institutionelle Förderung der BAU, wohingegen das Bundesforschungsministerium für die Vergabe von Projektmitteln zuständig war. Vier Aufgabenfelder des Programms wurden genannt, für die Anträge auf Förderung gestellt werden konnten. Der erste Bereich behandelte die Erarbeitung von Schutzdaten und Richtwerten für Maschinen und Anlagen. Der zweite Bereich zielte auf die Entwicklung menschengerechter Arbeitstechnologien. In beiden Feldern ging es um den Abbau schädigender Arbeitsbelastungen, gleich ob es sich um physische oder psychische Belastungen handelte. Problematische Arbeitsumwelten sollten erkannt und es sollten Normen als Zuarbeit für Gesetzesinitiativen des Arbeitsministeriums beschrieben werden. Auf diesem Weg sollte die Arbeitssicherheit erhöht und die Anzahl der Arbeitsunfälle verringert werden; es sollte aber auch untersucht werden, »wo und wie durch neue technische Hilfsmittel unzumutbare Arbeitsplätze beseitigt werden können«.42 Der dritte Bereich sah die Erarbeitung von Modellen für die Arbeitsorganisation vor. Neben der technischen Gestaltung von Arbeitsplätzen wurde in diesem Feld insbesondere an Experimente und Forschungen zu Gruppenarbeit gedacht, aber auch an Projekte zur Management- und Personalplanung. Von einer Abschaffung der Fließbandarbeit war in der Programmausschreibung zwar nicht die Rede, aber von teilautonomen Arbeitsgruppen und der Entkoppelung von Fließ- und Transportbändern. Der vierte Förderbereich sollte schließlich die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse beziehungsweise den Transfer in die Praxis strukturieren. Da die technologiepolitische Forschungsförderung sich an einzelne Betriebe und Institutionen richtete, musste die Übertragung der in den Einzelprojekten gewonnenen Erkenntnisse organisiert werden – eine dauerhafte Herausforderung für das HdA-Programm. Projekte konnten von Unternehmen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie später auch Verbänden durchgeführt werden. Unternehmen wurden bis zu 50 Prozent der Selbstkosten erstattet, wissenschaftliche Einrichtungen erhielten in der Regel
40 Vgl. Leibfried: Laudatio, [1993]; Brakelmann: Walter Arendt, 2013. Zur Matthöfers Rolle im Humanisierungsprogramm vgl. Abelshauser: Wirtschaftswunder, 2009, S. 288-297. 41 BMA/BMFT: Humanisierung, 1974. 42 Ebd., S. 3.
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100 Prozent (außer es handelte sich um eine im Wesentlichen unternehmerischen Interessen dienende Begleitforschung).43
HDA ALS ARBEITSPOLITISCHES REFORMPROGRAMM DER 1970ER-JAHRE Nur eine Woche nach Veröffentlichung des Programms kritisierte der DGBVorsitzende Heinz Oskar Vetter auf der Humanisierungskonferenz des DGB die aus seiner Perspektive technische Fokussierung des Programms. Vetter äußerte Zweifel an der »Menschenfreundlichkeit« technologischer Lösungen und vermutete, dass damit verbundene Leistungssteigerungen auch zu neuen Belastungen führen würden.44 Ferner forderte Vetter die umfassende Beteiligung der Gewerkschaften an dem Programm. Die gewerkschaftliche Kritik wurde im mittlerweile von Hans Matthöfer geleiteten BMFT aufgegriffen. Eine positive Haltung der Gewerkschaften wurde dort als »unabdingbare Voraussetzung« für das Gelingen des Programms betrachtet.45 Dass aufgrund der »klaren Interessenunterschiede« Konflikte mit und zwischen den Tarifparteien auftreten würden, war den Ministerien schon vor Beginn des Programms bewusst. »Patentrezepte« konnte zunächst aber niemand vorlegen.46 Die gewerkschaftlichen Interventionen resultierten nun in der Verpflichtung der Unternehmen, den Betriebsrat bei betrieblichen Projekten zu beteiligen sowie in der Einrichtung eines drittelparitätischen Fachausschusses aus Wissenschaftlern und den Tarifparteien. Zwar waren Gewerkschaftsvertreter bereits an einem Vorläuferausschuss beteiligt, jetzt wurde aber mit der Drittelparität deren Mitsprache institutionalisiert.47 Ferner wurde auch
43 Vgl. DFVLR-HdA, Grundsätze zur Förderung der Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet »Humanisierung des Arbeitslebens«, 1.7.1976, BArch Koblenz, B 196/31220. 44 Vetter: Referat, 1974, S. 27f. 45 BMFT, Ref. 301, Konzept für die Durchführung des Programms »Forschungen zur Humanisierung des Arbeitslebens«, 28.6.1974, S. 5, BArch Koblenz, B 196/16493. 46 BMFT, Referat III B 2, Rahmenkonzept für einen möglichen Beitrag des BMFT zum Thema »Humanisierung der Arbeitswelt« vom 25.5.1973, S. 15, BArch Koblenz, B 149/27879. 47 Vgl. die Unterlagen des Ad-hoc-Ausschusses »Sozial- und geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung zur Humanisierung des Arbeitslebens« der Jahre 1975/76, BArch Koblenz, B 196/31219. In einem Projektausschuss »Neue Arbeitsstrukturen« wurden Vertreter des BMA, des DGB und der IG Metall, der Deutschen Forschungs-
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die Beteiligung der Gewerkschaften an den Projektausschüssen sichergestellt.48 Diese Integration von gewerkschaftlichen Experten in die Beratungs- und Gutachtergremien stellte eine weitere Neuerung in der Arbeit des BMFT dar.49 Im Sommer 1975 richtete das BMFT bei der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) einen Projektträger ein, der die Begutachtung, institutionelle Vergabe und Begleitung von Anträgen verantwortete.50 Mit der Leitung des Projektträgers wurde Willi Pöhler von der Sozialforschungsstelle Dortmund betraut, womit eine weitere gewerkschaftsnahe Note in das Programm gelangte. Bereits in den 1960er-Jahren verfasste Pöhler Bildungsmaterialien für die IG Metall, war an der Konzeption der IG MetallBildungsstätte in Sprockhövel (Nordrhein-Westfalen) beteiligt und eine Zeitlang für deren Leitungskollektiv vorgesehen.51 Die Bedeutung der Gewerkschaften hob Matthöfer zu Beginn der konstituierenden Sitzung des Fachausschusses entsprechend hervor. Zwar strebe er im HdA-Programm eine »Konsensbildung« zwischen den Tarifparteien an, allerdings sei die Humanisierung des Arbeitslebens ein »Reformziel sozialliberaler Politik«, welches am Ende nicht bedeuten dürfe, »Rationalisierungsmaßnahmen neu zu etikettieren«.52 Zu Beginn des Aktions- und Forschungsprogramms bestanden rund ein Viertel der durchgeführten Projekte aus Arbeitsschutzmaßnahmen, insbesondere in der Lärm- oder Staubbekämpfung; ein weiteres Viertel aller Projekte dieser frühen Projektphase bis 1978/1979 beschäftigte sich mit neuen Arbeitsstrukturen. Letztere Programmlinie kann als das Charakteristikum des HdA-Programms in den 1970er-Jahren bezeichnet werden. In den ersten Jahren nahm zudem, was häufig übersehen wird, mit einem Viertel aller Projekte der Bergbau eine domi-
gemeinschaft, des Rationalisierungskuratoriums, des Tavistock Institute in London, der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände sowie verschiedener arbeitswissenschaftlicher Institute berufen (vgl. die Unterlagen: BArch Koblenz, B 196/16495). 48 Vgl. Der Bundesminister, Diskussionspapier über die Durchführung des Programms zur Humanisierung der Arbeit, Oktober 1974, BArch Koblenz, B 196/14494. Vgl. ferner BMFT/BMAS: Dokumentation, 1987, S. 21f.; Kleinöder: Humanisierung, 2016, S. 14f. 49 Peter/Pöhler: Umsetzungskonzepte, 2009, S. 105. 50 Vgl. Geschäftsordnung für die Projektträgerschaften »Humanisierung des Arbeitslebens/Produktions- und Fertigungstechniken«, BArch Koblenz, B 196/67023. 51 Müller: Dürrbeck, 2010, S. 290, 337-353. 52 Konstituierende Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 9.7.1975, Protokoll vom 11.9.1975, S. 2, BArch Koblenz, B 196/31215.
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nante Stellung im HdA-Programm ein.53 Generell wurden die ersten Vorhaben an große, im Umgang mit BMFT-Förderung gewöhnte Industrieunternehmen vergeben.54 Schon vor der ersten Sitzung des Fachausschusses im Juli 1975 waren rund einhundert Förderungen bewilligt worden. So banden alleine zwei mehrjährige Vorhaben zur Entwicklung von Alternativen zum Fließband bei Bosch und Volkswagen um die 28 Millionen DM.55 Diese Maßnahmen trafen auf das Interesse von Gewerkschaftern, von reformorientierten Arbeitssoziologen, aber auch von Unternehmen. Insbesondere die Metall-, Elektro- und Autoindustrie hielt für die Flexibilisierung und Marktorientierung neue Arbeitsorganisationsstrukturen und Managementkonzepte erforderlich, was »die Gewährung zumindest von Enklaven begrenzter Selbstständigkeit und Selbststeuerung im Arbeitsprozess« beinhaltete (so Werner Fricke im kritischen Rückblick).56 Dieses Problem war dem Fachausschuss durchaus bewusst und er versuchte, ausdifferenzierend gegenzusteuern.57 So wurde nach knapp zwei Jahren damit begonnen, nicht zuletzt aus Gründen, die Projekte zu koordinieren, Forschungs- bzw. Projektverbünde zusammenzustellen.58 Diese nahmen an Gewicht zu, sodass Ende 1979 ein Drittel aller Projekte einem der 58 bestehenden Verbünde angeschlossen waren. Hinzu kamen schließlich als dritte Ebene und mit einem Fokus auf die Klein- und Mittelbetriebe noch sogenannte Branchenprojekte, an denen auch Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften beteiligt waren.59 Zu der vom Fachausschuss und vom Projektträger vorgenommenen Ausdifferenzierung zählte aber auch, bis dahin zu wenig beachtete Branchen und Tätigkeitsbereiche zu
53 Vgl. Projektträger: Ergebnisse, 1981, S. 25, 35, 48, 51. Vgl. ferner den Beitrag von Martha Poplawski in diesem Band. 54 Vgl. Peter/Pöhler: Umsetzungskonzepte, 2009, S. 105. 55 Vgl. Konstituierende Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 9. Juli 1975, Protokoll vom 11. September 1975, S. 5, BArch Koblenz, B 196/31215. Vgl. zu den Projekten Heinrich/Schäfer/Robert Bosch GmbH: Menschengerechte Arbeitsgestaltung, 1982; Volkswagenwerk AG/ETH Zürich/TH Darmstadt: Gruppenarbeit, 1980. 56 Fricke: Drei Jahrzehnte, 2004, S. 145. 57 Vgl. 3. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens am 27. November 1975 in Bonn, Ergebnisprotokoll vom 22. Dezember 1975, BArch Koblenz, B 196/31215. 58 Vgl. Ergebnisprotokoll der 12. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 6. September 197 in Karlsruhe vom 10. September 1977, BArch Koblenz, B 196/31216. 59 Vgl. Projektträger: Ergebnisse, 1981, S. 53.
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untersuchen wie beispielsweise in der Verwaltung und im Dienstleistungssektor.60 Nach einem Jahr Arbeit einigte sich der Fachausschuss auf Fördergrundsätze, mit denen er die Menge an Projektanträgen im Verhältnis zu den knappen Mitteln zu steuern versuchte. Die darin definierten Aktionsrichtungen lagen naturgemäß nahe an der Programmauslobung. Insbesondere wurde jedoch der Anspruch auf Demokratisierung der betrieblichen Arbeitswelt deutlicher ausformuliert. So sollte nun mit »der Gestaltung der Arbeitsverfassung […] sichergestellt werden, daß die Beschäftigten an der Festlegung ihrer Arbeitsaufgaben und Arbeitsbeziehungen beteiligt werden«.61 In den Blick genommen werden sollten Fragen der Arbeitszeit und der Leistungsdichte sowie Maßnahmen hinsichtlich der »betrieblichen Entscheidungsstruktur, der Mitwirkung der Beschäftigten sowie der Personalplanung«.62 Damit formulierte der Fachausschuss seinen Anspruch, weitreichend in die Zuständigkeiten von Betriebsräten, Unternehmensleitungen und der Tarifparteien einzugreifen. Während Fragen von Arbeitszeit und Leistungsbeschreibungen für den Akkordbereich die Grundlagen tariflicher Entlohnung und damit die Tarifautonomie berühren, stehen Personalplanung und betriebliche Entscheidungsstrukturen unter der Eigentümerhoheit. Ohne Zweifel wird dem Fachausschuss die Reichweite seiner Formulierung bewusst gewesen sein. Der tiefgreifende gesellschaftspolitische Anspruch kam auch in der Forderung zum Ausdruck, dem Wechselverhältnis von Arbeit und Gesellschaft nachzugehen. So bestimme die Erwerbsarbeit »auch das Verhalten der Menschen außerhalb der Arbeitswelt«, deren »Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentfaltung«, zur »positiven Gestaltung sozialer Beziehung« oder ihrer Partizipation an Bildung.63 In diesem drittelparitätisch abgestimmten Papier kam das von Werner Fricke für die 1970er-Jahre konstatierte Reformbündnis zum Ausdruck. Eines dieser auf betriebliche Partizipation und Umgestaltung zielenden Projekte war ein Qualifizierungsprojekt des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-
60 Vgl. die regelmäßigen Debatten im Fachausschuss, u.a. Ergebnisprotokoll der 15. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 29.9.1978 in Bonn vom 11.10.1978; DFVLR – HdA, Bericht des Projektträgers auf der 15. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 29.9.1978 durch Herrn Prof. Pöhler; beide: BArch Koblenz, B 196/31216. 61 DFVLR – HdA, Grundsätze zur Förderung der Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet »Humanisierung des Arbeitslebens«, 1.7.1976, S. 2, BArch Koblenz, B 196/31220. 62 Ebd., S. 5. 63 Ebd., S. 4.
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Stiftung (FES) in der Peiner AG, einem zu den Stahlwerken Salzgitter gehörenden Baugerätehersteller. Zwischen 1975 und 1979 untersuchte die FES, ob gering qualifizierte Beschäftigte über die Kompetenzen verfügen, ihre Arbeitsbedingungen zu gestalten. In der Sprache der soziologischen Forschung ging es um die Frage nach deren innovatorischen Handlungspotential.64 In einer Vielzahl von Workshops und Projektgruppensitzungen erarbeiteten die etwa 60 Beschäftigten der Anschneiderei, mehrheitlich Frauen und Arbeiter mit Migrationshintergrund, Vorschläge für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Im Sinne partizipativer Handlungsforschung wurden diese Sitzungen von den Forscherinnen und Forschern aktiv geleitet und gestaltet, wohingegen das technische Management und die Vorgesetzten nicht Teil dieses Qualifizierungsprozesses waren. Aus Sicht der Forschung stellte das Projekt einen Erfolg dar. Es gelang, der zunächst angetroffenen negativen Selbsteinschätzung der Beschäftigten eine positive Wendung zu geben. Wichtige Vorschläge der Beschäftigten zum Arbeitsund Gesundheitsschutz, aber auch zu Änderungen in der Arbeitsorganisation im Sinne einer Erweiterung der Arbeitsinhalte (job enlargement) und damit höherer Entlohnung wurden von einem betrieblichen, paritätisch besetzten Humanisierungsausschuss angenommen.65 Über das Projekt hinaus wurde eine Betriebsvereinbarung über die Mitwirkung der Beschäftigten bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen abgeschlossen.66 Als Reaktion auf Widerstände des mittleren und technischen Managements initiierte das Unternehmen ein Folgeprojekt, um die mittlere betriebliche Ebene in die Humanisierungsvorhaben einzubinden. Das Projekt zielte ausdrücklich auf die Schaffung einer demokratischen Unternehmenskultur, auf die Erweiterung der institutionalisierten Mitbestimmung, ohne jedoch zu dieser in Konkurrenz zu treten, und kann als Beispielprojekt der arbeitspolitischen Reformphase in den 1970er-Jahren betrachtet werden.67 Ein weiteres, zeitgenössisch breit diskutiertes, allerdings hoch umstrittenes HdA-Projekt war eine vergleichende Untersuchung der Wirtschaftlichkeit von Fließband und teilautonomer Gruppenarbeit in der Motorenmontage bei Volks-
64 Vgl. den Projektbericht von Fricke u.a.: Qualifikation, 1981. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Müller: Humanisierung, 2016. 65 Auch die vertikale Erweiterung des Aufgabenspektrums (job enrichment) war Teil der Programmausschreibung von 1974 und stand auch im Fokus anderer, zeitgleich laufender Projekte. Vgl. Heinrich/Schäfer/Robert Bosch GmbH: Menschengerechte Arbeitsgestaltung, 1982. 66 Die Betriebsvereinbarung findet sich in Fricke u.a.: Forschungsbericht Bd. III, 1980, S. 182-185. 67 Vgl. auch Fricke: Demokratische Beteiligung, 2008.
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wagen Salzgitter in den Jahren 1975 bis 1977.68 Im Projektverlauf kam es zu erheblichen Differenzen zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat, die vor allem in der Bewertung der Gruppensprecher und der Arbeitsstruktur der Arbeitsgruppen lagen. So kritisierte der Betriebsrat die autonom vorgenommene zeitliche Ausgestaltung der Arbeitstage und der Aufgabenverteilung in der Gruppe als einen Eingriff in seine Mitbestimmungsrechte. Die Gruppensprecher hätten zudem keine Befugnisse und stellten aus Perspektive der bestehenden Tarifverträge und des Betriebsverfassungsgesetzes einen Fremdkörper dar. Ferner stellte sich aufgrund fehlender Bestimmungen die tarifliche Eingruppierung der Arbeitsgruppenmitglieder als Problem heraus. Die massive Kritik des Betriebsrats in Salzgitter, der sich schließlich aus dem Vorhaben zurückzog, fand vor erheblichen Rationalisierungseinschnitten des Unternehmens statt. So wurde die örtliche Belegschaft in der ersten Jahreshälfte 1975 durch Aufhebungsverträge und Umsetzungen nach Wolfsburg von knapp 9000 auf rund 5500 Beschäftigte reduziert.69 Da alle Projektbeteiligten – Unternehmen, begleitende Arbeitssoziologen, Betriebsrat – die Gruppenarbeit zugleich als Fortschritt gegenüber stupider Fließbandarbeit betrachteten, wurde beim Projekt in Salzgitter der fortwährend schwelende Konflikt zwischen Humanisierung und Rationalisierung exemplarisch. Fragen der Eingruppierung und der Rolle der Gruppensprecher traten aber auch bei anderen HdA-Vorhaben im Feld der Arbeitsstrukturierung zutage und waren Gegenstand der Beratungen des Fachausschusses.70 Dieser empfahl den Betriebsparteien, sich schon zu Beginn auf Verfahrensregeln zu einigen. In der fehlenden beziehungsweise späten Einbindung des Betriebsrats scheint auch das Scheitern des Projekts (aus HdA-Perspektive) begründet zu sein.
68 Vgl. die Projektberichte von Unternehmensleitung, Betriebsrat und Arbeitswissenschaftlern in: Volkswagenwerk AG/ETH Zürich/TH Darmstadt: Gruppenarbeit, 1980. Die Beteiligten konnten sich aufgrund der Konflikte nicht auf einen gemeinsamen Abschlussbericht einigen. Vgl. ferner den Beitrag von Gina Fuhrich in diesem Band sowie Müller: Humanisierung, 2016. 69 Vgl. Barth: Projektgeschichte, 1980, S. 40f. 70 Vgl. Ergebnisprotokoll der Sitzung der Fachausschuß-Unterkommission »Teilautonome Arbeitsgruppen« am 1.9.1977 in Bonn-Bad Godesberg vom 2.9.1977, BArch Koblenz, B 196/31216.
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KRISE UND NEUAUSRICHTUNG DES PROGRAMMS IN DEN 1980ER-JAHREN Ende der 1970er-Jahre geriet das HdA-Programm in eine tiefe Krise. Dem Projektträger wurde mangelnde Effizienz und ein fehlender anwendungsbezogener Transfer vorgeworfen. Auch hätten die Fördermittel von 100 Millionen DM im Jahr in keinem effizienten Verhältnis zu den Resultaten des Programms gestanden.71 Die Herausforderung für das HdA-Programm und ihre Protagonisten bestand darin, dass die Kritik inhaltlich vielfältig war und aus unterschiedlichen Richtungen kam. Fundamentale Kritik von neutraler Seite übte der Bundesrechnungshof (BRH). Dieser sah einerseits Mängel in der Abstimmung mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, die eine eigene Forschungslinie zur Humanisierung der Arbeit durchführte sowie seit 1978 die Gründung eines Bundeszentrums zur Humanisierung vorbereitete.72 Zum anderen kritisierte der BRH die Fokussierung auf einige Großprojekte, die in den ersten drei bis vier Jahren rund die Hälfte der Förderung banden und vielfach noch vor Beschlussfassung über die Fördergrundsätze bewilligt worden waren. Allerdings äußerte sich der BRH auch inhaltlich und konzeptionell, wenn er die thematische Überschneidung von Projekte kritisierte. Die weitgehendste Kritik betraf jedoch die aus Sicht des BRH zu lockere institutionelle Bindung des Projektträgers an die Forschungs- und Versuchsanstalt. So sei dem Leiter des Projektträgers, anders als bei der DFVLR üblich, »die uneingeschränkte fachliche und personelle Verantwortung übertragen worden«, womit die Mitsprache des Vorstands der Forschungs- und Versuchsanstalt »erheblich eingeschränkt« worden sei.73 Die oppositionelle CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach zugespitzt von einer Ideologisierung des Programms aufgrund der »systemverändernden Ziele« der sozio-
71 Vgl. Bethge: Arbeitsschutz, 2006, sowie mit weiteren Literaturverweisen Kleinöder: Humanisierung, 2016, S. 17. 72 Vgl. Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung (einschließlich der Bundesvermögensrechnung) für das Haushaltsjahr 1978. Deutscher Bundestag, Drucksache 9/38 vom 12.12.1980. Zur BAU und dem Bundeszentrum zur Humanisierung des Arbeitslebens vgl. den Beitrag von Bernd Holtwick in diesem Band. 73 Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung (einschließlich der Bundesvermögensrechnung) für das Haushaltsjahr 1978, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Drucksache 9/38 vom 12.12.1980, S. 25.
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logischen Begleitforschung und fragte, ob das Ministerium die Kontrolle über den Projektträger und dessen Leiter verloren habe.74 Neben der Opposition im Bundestag kritisierten aber auch einzelne Arbeitgeber und einzelne Gewerkschaftsvertreter insbesondere die Demokratisierungsaspekte des Programms und forderten, in den Projekten die Grenzen der Tarifautonomie zu respektieren.75 Den bunten Strauß an Kritik und Vorwürfen fasste Ende 1979 ein Vertreter des BMFT gegenüber dem Fachausschuss pointiert zusammen. So seien sich die Parteien wohl einig, dass das HdA-Programm sinnvoll sei, allerdings herrsche »quer durch die Fraktionen ein generelles Unbehagen über den Zustand der Sozialwissenschaften und deren Beitrag zum Programm«; dann würde die Kritik an der Arbeitsstrukturierung »vor allem von Seiten der IG Metall dazu genutzt, das Programm insgesamt in Zweifel zu ziehen«; und drittens lägen »Probleme in der administrativen Abwicklung des Programms« vor.76 Die zeitgenössische, weitverbreitete Kritik an der Höhe der Förderung sollte jedoch in Kontext gesetzt werden. Die vom BMFT bereitgestellten Mittel für das HdA-Programm waren zwar von 11,3 Mio. DM im Jahr 1974 auf schließlich 107,3 Mio. DM im Jahr 1982 angewachsen. Mit dem Regierungswechsel und dem Ende des Förderschwerpunktes Arbeitsorganisation schrumpfte das Budget auf 83,1 Mio. DM im Jahr 1983. In den folgenden Jahren pendelten sich die zur Verfügung stehenden Mittel auf rund 100 Mio. DM ein.77 Vergleicht man jedoch diese Ausgaben mit der Forschungsförderung im Energiesektor, so handelt es sich um die sprichwörtlichen Peanuts. So investierte der Bund alleine im Jahr 1982 mit 2,3 Milliarden DM etwa 25 Prozent seiner Forschungs- und Entwicklungsausgaben in Forschungen zu Kernspaltung und Kernfusion.78
74 Vgl. Große Anfrage der Abgeordneten Gerstein u.a. und der Fraktion der CDU/CSU. Deutscher Bundestag, Drucksache 8/3576 vom 8.1.1980. 75 Vgl. Fricke: Drei Jahrzehnte, 2004. 76 Ergebnisprotokoll der 17. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 23.11.1979 in Bonn vom 10.12.1979, S. 4, BArch Koblenz, B 196/51262. 77 Vgl. BMFT/BMAS, Dokumentation, 1987, S. 132; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Vosen u.a. und der Fraktion der SPD. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/738 vom 26.8.1987; Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Vosen u.a. und der Fraktion der SPD. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/3780 vom 22.12.1988. 78 Vgl. Bundesbericht Forschung 1984 (Unterrichtung durch die Bundesregierung). Deutscher Bundestag, Drucksache 10/1543 vom 4.6.1984, S. 365.
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Unabhängig von der Frage der eingesetzten Mittel spricht einiges dafür, dass gerade die Kritik aus den Gewerkschaften und insbesondere der IG Metall das HdA-Programm mit seiner Schwerpunktsetzung auf Demokratisierung beziehungsweise Ausweitung der Mitbestimmung in den arbeitsstrukturierenden Projekten zumindest diskursiv schwächte. Auf das aus HdA-Sicht gescheiterte Vorhaben bei VW Salzgitter wurde oben schon eingegangen. Aber auch beim durchaus erfolgreichen Projekt in der Peiner AG kam es zum Konflikt in der Entlohnungsfrage, als die Beschäftigten und die Projektleitung die schrittweise Ersetzung des Akkordlohns durch einen Zeitlohn vorschlugen. Hier erhob die IG Metall Einspruch und drohte, sich aus dem Projekt zurückzuziehen.79 Die vergleichsweise positive Sicht auf den Akkord ist darauf zurückzuführen, dass dieser einerseits über einen langen Zeitraum besser bezahlt wurde. Vor allem aber war es für die Gewerkschaften aus arbeitsanalytischer Sicht einfacher, die Verdichtung von Arbeitsschritten zu thematisieren und abzuwehren.80 Der frühere Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen, Hartmut Meine, resümiert, dass die Arbeitsbedingungen der sogenannten Akkordlöhner aus diesen Gründen in einer Vielzahl von Fällen »humaner« waren als die der Zeitlöhner.81 Wie quer sich die Konflikte zueinander verhielten, mag man daran ermessen, dass die Lohnfrage im Projekt der Peiner AG zum Konflikt führte, während das Projekt selbst erfolgreich war, wohingegen die im »gescheiterten« Projekt bei Volkswagen Salzgitter die Eingruppierungsfragen kurze Zeit später im Rahmen eines Tarifvertrags gelöst werden konnten.82 Über die beiden skizzierten Projekte hinaus war die Kritik am HdAProgramm aus den Reihen der IG Metall scharf.83 1977 resümierte Reimar Birkwald, der die IG Metall im Fachausschuss vertrat, dass es sich bei den meisten Projekten »[u]nter der Flagge der Humanisierung der Arbeitsbedingungen fahrend« um Maßnahmen handele, »die die Firmen aus ökonomisch produktionstechnischen Gründen auch ohne Humanisierungsprojekt ergriffen hätten«.84 Für die Beschäftigten hätten die Vorhaben zudem selten Verbesserungen gebracht.
79 Vgl. Fricke: Demokratische Beteiligung, 2008. 80 Vgl. auf der Quellenebene Birkwald/Pornschlegel: Mitbestimmen, 1973. 81 Vgl. Meine: Lohn und Leistung, 2019. 82 Anders als in der Frage der Gruppensprecher fand hier eine Einigung statt und konnte ein neuer Tarifvertrag geschlossen werden. Vgl. Birkwald/Lübben: Tarifvertrag, 1979. 83 Vgl. auch den Beitrag von Moritz Müller in diesem Band. 84 [Reimar Birkwald]: Humanisierungs- und Technologieförderung durch den BMFT, Frankfurt a.M., November 1978, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (im Folgenden AdsD), 5/IGMZ210421.
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Der Sozialwissenschaftler Horst Kern, zu dem Zeitpunkt noch Professor an der TU Hannover, nahm vor allem den Bereich Arbeitsstrukturierung ins Visier und charakterisierte die Experimente mit teilautonomen Arbeitsgruppen in der Zeitschrift der IG Metall »Der Gewerkschafter« schlicht als »Unfug«.85 Kern argumentierte, die aus Skandinavien oder vom Londoner Tavistock Institute stammenden Modelle seien nicht übertragbar und realitätsfern. Größere Freiräume für die Beschäftigten müssten stattdessen über eine politische Herausforderung der betrieblichen Herrschaftsinteressen erstritten werden. Diese Fundamentalkritik blieb nicht unwidersprochen. Der Politikwissenschaftler Fritz Vilmar (FU Berlin), der wie andere Akteure des HdA-Programm lange Zeit in IG MetallBildungsarbeit gewirkt hatte, antwortete, dass es nicht um eine »Alles-oderNichts-Strategie« gehen könne, sondern im Sinne »antagonistischer Kooperation« eine »Reduktion autoritärer Führung und Fremdbestimmung in der konkreten Arbeitsorganisation zu vereinbaren und durchzusetzen« seien.86 Die teilautonomen Arbeitsgruppen würden nicht zur »Klassenkooperation« und zur Entpolitisierung führen, wie die radikale Kritik befürchtete, sondern gewerkschaftliche Aktivität eher fördern.87 In der Diskussion um die arbeitsstrukturierenden Projekte und insbesondere die (teilautonome) Gruppenarbeit bündelten sich also mehrere Konfliktlinien. Auf der einen Seite finden sich unternehmerische Automations- und Rationalisierungsinteressen, die dem gewerkschaftlichen Interesse nach sozialer Absicherung ihrer Mitglieder entgegenstanden. Einig waren sich beide Seiten, dass im Falle von Gruppenarbeit diese für die Beschäftigten erträglicher sei als getaktete Fließarbeit. Zugleich finden wir einen wissenschaftlichen und politischen Richtungsstreit unter den begleitenden Sozialwissenschaftlern (und wenigen Sozialwissenschaftlerinnen), in dem es um gewerkschaftliches Handeln im Kapitalismus ging. Während die eine Seite in HdA prinzipiell eine Reparaturmaßnahme des Kapitalismus sah, hielt die andere eine reformorientierte Politik zur Einhegung des Kapitalismus für möglich. Dieser Konflikt schwelte zu dem Zeitpunkt seit mindestens zehn Jahren, als Ende der 1960er-Jahre über eine Reform der Betriebsverfassung diskutiert wurde. Eine Überlegung, für die unter anderem Hans Matthöfer als Bundestagsabgeordneter und Fritz Vilmar standen, war die Bildung von Arbeitsgruppen auf betrieblicher Ebene, die sich ihrerseits selbstständig Sprecher wählen und über Mitspracherechte verfügen. Schon damals entgeg-
85 Kern: Unfug, 1977. 86 Fritz Vilmar: Vom Unfug, teilautonome Arbeitsgruppen »autonome Arbeitsgruppen« zu nennen (Typoskript, ca. Mai 1977), S. 2, BArch Koblenz, B 196/31216. 87 Ebd., S. 3.
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neten die Gewerkschaften, dass im Konfliktfall eine Zersplitterung von Arbeitnehmerinteressen drohe.88 Bekanntermaßen setzte sich diese Idee 1972 nicht durch – erst die Reform der Betriebsverfassung im Jahr 2001 ermöglichte es Betriebsräten, Aufgaben und Entscheidungen an Arbeitsgruppen zu delegieren (§ 28a BetrVG). Die Protagonisten des Humanisierungsprojektes waren sich über die Schwere der Anwürfe und das zerrüttete Feld durchaus im Klaren. Schon Ende 1977 sprach der Projektträger selbst von Ermüdungserscheinungen und dass der vom Programm zunächst gesetzte Impuls sich »mehr oder weniger verbraucht« habe.89 Der Fachausschuss und der Projektträger suchten nach Lösungen über die oben beschriebene Differenzierung der Projekte, sie widmeten sich intensiv der Frage des Transfers oder debattierten die Probleme rund um Eingruppierungsfragen.90 Zu einer Beruhigung führte all dies nicht. 1978 wechselte Hans Matthöfers ins Finanzministerium. Ob und inwieweit damit sukzessive die institutionelle Unterstützung für den Projektträger wegbrach, kann derzeit nur vermutet werden. Der neue Bundesminister für Forschung und Technologie, Volker Hauff, sicherte nicht nur seine Unterstützung für das Programm zu, sondern versprach sogar, die Mittel in den kommenden vier Jahren zu verdoppeln.91 Auch stellte er sich schützend vor das Programm, als die Bundestagsopposition den Gutachtern der HdA-Projekte Interessenkonflikte vorwarf.92
88 Vgl. Lenk: Mitbestimmung, 1970. 89 Ergebnisprotokoll der 13. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 2.12.1977 in Bonn vom 6.12.1977, S. 2, BArch Koblenz, B 196/31216. 90 Vgl. zu Lohnfragen: Ergebnisprotokoll der 10. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 24.3.1977 in Bonn-Bad Godesberg vom 30.3.1977, BArch Koblenz, B 196/31220. Vgl. ferner DFVLR, Der Leiter der Projektträgerschaft »Humanisierung des Arbeitslebens«: Verbreitung und Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Betriebserfahrungen zur Humanisierung des Arbeitslebens«. Konzept für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben; empfohlen vom Fachausschuss »Humanisierung des Arbeitslebens in der 11. Sitzung am 30.6.1977, 1.8.1977, BArch Koblenz, B 196/58112. 91 Vgl. Ergebnisprotokoll der 14. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 23.2.1978 im Hause der Allianz-Versicherungs-AG in Köln vom 8.3.1978, BArch Koblenz, B 196/31216; Hauff an Pöhler, 12.9.1979, AdsD, 5/IGMZ210383. 92 Vgl. BMFT, Pressemitteilung vom 29.3.1979, Nr. 37/79: Hauff stellt sich vor Gutachter im Humanisierungsbereich, BArch Koblenz, B 196/51262.
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Allerdings erwecken die Vermerke und Korrespondenzen im BMFT den Eindruck, dass Hauff die ministeriale Kritik an der Autonomie des Projektträgers teilte. So gab es beispielsweise Differenzen, als der Fachausschuss forderte, die Humanisierungsaspekte auf andere Förderlinien des BMFT auszudehnen und die Zuständigkeit hierfür beanspruchte. Im Fall des eigenständigen Programms Fertigungstechnik, das von der technischen Seite her viele Überschneidungen mit dem HdA-Programm aufwies, äußerte Frieder Naschold, Mitglied des Fachausschusses und Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin, die Befürchtung, dass bei einer Entkopplung »die HdA-Forschung ohne technischen Bezug« betrieben würde. Stattdessen müsse das HdA-Programm eine »Querschnittsfunktion« einnehmen.93 Das BMFT bestand jedoch sehr deutlich darauf, »daß die Konzeptverantwortung im Ministerium« verbleibe.94 Offenkundig wurde hier der Konflikt zwischen gewerkschaftlich-sozialwissenschaftlichem Reforminteresse und ministerieller Eigenlogik, in dem um Macht und Einfluss gekämpft wurde. 1979 entschied das BMFT schließlich, dem Leiter des Projektträgers Willi Pöhler eine Stellvertretung mit administrativen Leitungsfunktionen zur Seite zu stellen, was Pöhler in der vorgeschlagenen Form ablehnte.95 Nun hatte sich auch die Stimmung zwischen Volker Hauff und Willi Pöhler soweit verschlechtert, dass das BMFT den bis Mitte 1980 befristeten Vertrag Pöhlers nicht verlängerte.96 Die Konflikte um 1979 herum sollen hier als Übergangskrise bezeichnet werden. Im Sturm der veröffentlichten Kritik wurde das Programm mit seinen ursprünglichen Anliegen seitens des BMFT fortgesetzt (das Arbeitsministerium trat in den Konflikten kaum in Erscheinung). Auf der Ebene der Mittelzuweisung und in Fragen der institutionellen Autonomie kam es jedoch zu erheblichen Konflikten. Diese Phase wurde mit dem Regierungswechsel 1982 beendet. Die christlich-liberale Regierung führte das HdA-Programm zwar fort, ließ allerdings den Schwerpunkt »Arbeitsstrukturierung« mit seinen Modellversuchen zur Gruppenarbeit und demokratischen Beteiligung endgültig fallen. Stattdessen wurden die Themen »Produktion« und »Büro und Verwaltung« in die Förderung
93 Ergebnisprotokoll der 16. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 8.6.1979 in Bonn vom 11.6.1979, S. 4, BArch Koblenz, B 196/51262. 94 Ergebnisprotokoll der 17. Sitzung des Fachausschusses »Humanisierung des Arbeitslebens« am 23.11.1979 in Bonn vom 10.12.1979, S. 26, BArch Koblenz, B 196/51262. 95 Vgl. Hauff an Pöhler, 12.101979; Grundsätze für die Leitung des Projektträgers »Humanisierung des Arbeitslebens«, Anlage zum Schreiben Hauff an Pöhler vom 12.10.1979; Pöhler an Hauff, 7.1.1980, alle: AdsD, 5/IGMZ210383. 96 Vgl. Hauff an Pöhler, 28.11.1979, AdsD, 5/IGMZ210383.
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aufgenommen, in denen es unter anderem um »werkstattbezogene[] Steuerungskonzepte« und »benutzerfreundliche[] Software« ging.97 Organisatorisch wurde der Projektträger HdA 1985 mit dem Projektträger Umwelt und Gesundheit zusammengelegt.98 Die neue Bundesregierung und auch der Bundesrechnungshof einigten sich in den 1980er-Jahren, die Projektträgerschaft prinzipiell zwar als mit Problemen behaftet, aber schließlich »unentbehrliches Hilfsinstrument« bei der Abwicklung größerer Fördervorhaben beizubehalten.99 Mit dieser Zusammenlegung wurde auch erneut die nachwirkende relative Selbstständigkeit des Projektträgers HdA diskutiert und an die Anforderungen der DFVLR angepasst. Da die politischen Konflikte aber schon um 1980 bereinigt wurden, schlug dies keine hohen Wellen mehr.100 Einschneidend war, dass nun der Innovationsbegriff Einzug hielt und Partizipationsfragen durch Wettbewerbskategorien abgelöst wurden. Bei menschengerechter Arbeitsgestaltung handelte es sich fortan um eine ureigene »unternehmerische Aufgabe«, und Humanisierung des Arbeitslebens bedeutete im Wesentlichen, »Innovationshemmnisse zu überwinden und Gestaltungschancen zu nutzen«.101 Mit diesen Formulierungen aus dem Jahr 1987 war der Übergang zum Folgeprogramm von HdA – »Arbeit und Technik« – programmiert. Dieses 1990 begonnene Programm zielte schließlich darauf, »durch innovative Gestaltung von Arbeit und Technik gefährdende Belastungen und Beanspruchungen des Menschen zu vermeiden bzw. abzubauen«.102 Der Abgeordnete der CDU/CSUBundestagsfraktion Maaß erläuterte 1989 im Bundestag die Entscheidung für die neue Förderlinie damit, dass das HdA-Programm einer »Generalüberholung« bedurft habe. »Wir mußten hier einfach feststellen, daß dieses Programm in der Vergangenheit regelrecht zu einem Selbstbedienungsladen der Tarifvertragsparteien geworden ist, verbrämt mit einem sozialen Mäntelchen.«103 Sicherlich wurden Themen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes fortgeschrieben. Dennoch
97
Fricke: Drei Jahrzehnte, 2004, S. 149.
98
Vgl. Organisation des PT Humanisierung der Arbeit (HdA), Gesundheit, Umwelt bei der DFVLR. Protokoll der informellen Gesprächsrunde vom 25.2.1985, BArch Koblenz, B. B 196/102319, sowie weitere Unterlagen in dieser Akte.
99
122 an Herrn Minister, Betr. Entwicklung administrativer Strukturen außerhalb des PT/PB-Modells, 27.8.1984, BArch Koblenz, B 196/102319.
100 Vgl. Ergebnisprotoll der informellen Gesprächsrunde am 25.4.1985, BArch Koblenz, B 196/102319. 101 BMFT/BMAS, Dokumentation, 1987, Zitate S. 8 u. 9. 102 Projektträger: Projektstatusbericht 1988/89, S. 14. Hervor. im Original. 103 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/143 vom 11.5.1989, S. 10626.
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zielte Arbeit und Technik ausdrücklich auch auf betriebliche Ziele wie »Verbesserung von Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Anpassungsfähigkeit«.104
FAZIT Das Forschungs- und Aktionsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« war Bestandteil einer gesellschaftlichen Zukunftsdebatte über die »Qualität des Lebens«, in der nach Antworten auf die Probleme industrieller Arbeit für die Gesundheit und das Wohlbefinden der arbeitenden Menschen gesucht wurde. Mit seinen weitreichenden Mitbestimmungs- und Qualifizierungszielen, seinen Forderungen nach einem Mehr an Demokratie atmete HdA noch den Geist von Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre. Charakteristisch waren die arbeitsstrukturierenden Projekte mit ihrer Suche nach Alternativen zur Fließbandarbeit. Auch zentrale Akteure im HdA-Programm entstammten Debatten eines spezifischen gewerkschaftlich orientierten Flügels, dessen politische Ausrichtung an anderer Stelle schon einmal als »sozialdemokratischer Operaismus« bezeichnet wurde.105 Nach einigen Jahren hatte sich der anfängliche Reformimpuls jedoch erschöpft. Auffallend ist die Parallelität dieser Erschöpfungserscheinungen mit der ökonomischen und sozialen Krise in den westlichen Gesellschaften Ende der 1970er-Jahre. Dem HdA-Programm erging es damit ähnlich wie anderen sozialdemokratischen Reforminitiativen von Beginn des Jahrzehnts, deren reformerischer Eifer sich in den kommenden Krisen verschliss.106 Die Jahre bis zum Regierungswechsel 1982 werden hier als Übergangskrise bezeichnet, durchaus auch parallel zur Einordnung der krisenhaften Stimmung auf der Regierungsebene. So stritten die weitreichenden Reforminitiativen – hier anhand des Fachausschusses beim BMFT exemplifiziert – mit behördlicher Logik und Kontrollinteresse und waren am Ende unterlegen. Die Bundesregierung setzte HdA nach dem Regierungswechsel 1982 zwar fort, machte jedoch ein Innovationsnarrativ stark, welches schließlich auch zum Markenkern der folgenden Programme dieser Technologieförderlinie werden sollte. Die hier beschriebene Verschränkung von gesellschaftlicher Krise, Krise der Reform und den detaillierten technologie- und forschungspolitischen Debatten stellen jedoch hinsichtlich ihrer Entfaltung auf der Mikroebene wie auch in ihren
104 Faktenbericht 1990 zum Bundesbericht Forschung 1988. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/6886 vom 5.4.1990, S. 119. 105 Vgl. Müller: Linkssozialistische Erneuerung, 2010. 106 Vgl. Faulenbach: Jahrzehnt, 2011.
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langfristigen Wirkungen noch immer ein Desiderat dar. So soll explizit gefragt werden, ob – oder zumindest inwieweit – von einem Scheitern des Humanisierungsprogramms gesprochen werden kann. Immerhin war es auch der christlichliberalen Bundesregierung nicht einfach möglich, dieses hoch umstrittene Programm unmittelbar zu beenden. Auch wurden längst nicht alle Maßnahmen des HdA-Programms außer Kraft gesetzt. Die langfristigen Wirkungen des Programms – auf der betrieblichen Ebene, in den Verbänden, aber auch in der Forschungs- und Technologiepolitik – stellen mithin ein Desiderat dar. Dies betrifft auch den von Werner Fricke konstatierten Modernisierungsschub durch das Programm. Die beiden »Pole« Humanisierung und Rationalisierung, die im Mittelpunkt der Debatten dieses Sammelbandes stehen, waren dem Aktions- und Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« von Beginn an eingeschrieben. Die mitunter antagonistischen Interessen im HdA-Programm und im Humanisierungsdiskurs waren den Akteuren in den Ministerien, in den Gewerkschaften und im Unternehmerlager dabei durchaus bewusst. Für die einzelnen Unternehmen war es vermutlich (obgleich auch dies insbesondere in Hinsicht auf die Verbände einer näheren Betrachtung bedürfte) einfacher, ihre Interessen zu formulieren. Als Antragsteller an das BMFT lag zunächst bei ihnen die Initiative. Die Gewerkschaften befanden sich dagegen von Beginn im Zwiespalt. Dies kam auf der einen Seite in den frühen Vorschlägen an das Ministerium und der Begeisterung für Demonstrationsobjekte, auf der anderen Seite in der scharfen Kritik (hier an zwei betrieblichen Beispielen diskutiert) zum Ausdruck. Diese Ambivalenz nahm das BMFT frühzeitig wahr, nämlich den Wunsch an enger Mitarbeit und zugleich Distanz gegenüber dem Programm, »um sich ggf. bei Mißerfolgen von den Projekten distanzieren zu können«.107 Am ehesten konnten sich noch die Arbeitswissenschaften einbilden, auf einem neutralen Feld zu agieren. Wenn also die Reibungsflächen zwischen Humanisierung und Rationalisierung von Anfang an auf der Hand lagen und nie verschwiegen wurden, so bedürfen die bis heute transportierten Erklärungen für das Zustandekommen und partielle Scheitern des Förderprogramms HdA (Reformbündnis, gewerkschaftliche Initiative, terminologisches Korsett) einer Erweiterung. Dies führt, so der Vorschlag hier, zu den ökonomischen Modernisierungsvorstellungen der Sozialdemokratie, die sich gewissermaßen an der Weggabelung von Gewerkschafts- und Unternehmensinteressen bewegten und für einige Jahre den Rahmen für einen HdA-Kompromiss abgaben. Unter dem Schlagwort einer »Modernisierung der
107 BMFT, 30 A, an Minister betr. hier: Konsensbildung mit den Gewerkschaften; Konzept für die Durchführung des Programms, 8.7.1974, BArch Koblenz, B 196/16493.
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Volkswirtschaft« wurde in den 1970er-Jahren und insbesondere nach der ersten Ölpreiskrise auf die Entwicklung rohstoffarmer Schlüsseltechnologien und damit die Überwindung arbeitsintensiver Sektoren für gering qualifizierte Beschäftigte gesetzt. Technologie wurde in gesellschaftspolitischer Perspektive als neutrale Instanz betrachtet, wohingegen die Technologiepolitik mittels sozialer und politischer Technikfolgeabschätzung einen gesellschaftlichen Konsens organisieren sollte.108 Hierfür stand nicht zuletzt Volker Hauff, der mit Fritz W. Scharpf das technologiepolitische Kapitel des sozialdemokratischen Modernisierungskonzeptes entwickelt hatte.109 Die Sozialpolitik stand in diesem Duett der beiden Politikfelder für die soziale Abfederung technologieimplizierter Folgen. Folgt man diesen Überlegungen, findet sich ein weiterer Schlüssel zum Verständnis von HdA in den forschungs- und technologiepolitischen Debatten von den 1960erbis in die 1980er-Jahre.
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108 Vgl. Witt-Barthel: Technikgestaltung, 1992, S. 20. 109 Vgl. Hauff/Scharpf: Modernisierung, 1975. Vgl. ferner SPD: Orientierungsrahmen, 1975.
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Arbeitsschutz im Zentrum der Humanisierung
Humanisierung durch Arbeitssicherheit? Die Reform des Arbeitsschutzes als Ausgangspunkt der »Humanisierung des Arbeitslebens« zwischen 1963 und 1979/80 Nina Kleinöder
In der rückwirkenden Wahrnehmung des Forschungsprogrammes »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA) dominieren bis heute die inhaltlichen Aspekte von Arbeitsorganisation und Mitbestimmung.1 Sie bildeten zweifelsfrei nicht nur zwei Kernthemen des Programmes, sondern spiegeln auch die zeitgenössisch stark rezipierten Debatten um Technikfolgen wie Rationalisierung und Automation sowie die Ausweitung der Mitbestimmung im Rahmen des novellierten Betriebsverfassungsgesetztes (1972, BetrVG) wider.2 Dies liegt zum einen an der stark soziologisch geprägten Forschung, die sowohl die zeitgenössische Begleitforschung als auch die retrospektive Aufarbeitung bislang dominierte.3 Zum anderen entzündete sich die Kritik am HdA-Programm wiederholt an diesen Schlüsselthemen der Arbeitswelt: Während die Arbeitgeberseite die Gefahr einer Ausweitung der Mitbestimmungsrechte unter dem Deckmantel der »Humanisierung« witterte, sahen Arbeitnehmervertreter darin die Bedrohung einer mehr
1
Vgl. Pickshaus/Urban: Perspektiven, 2002; aus arbeitswissenschaftlicher Perspektive Schweres: Editorial, 2009 und jüngst Mückenberger: Arbeit, 2015. Aus historiographischer Sicht Müller: Humanisierung, 2016, sowie sein Beitrag in diesem Band.
2
Vgl. dazu noch immer in der Übersicht Kleinschmidt: Technik, 2007, S. 75-79, 123;
3
Vgl. zum Forschungsdesiderat in der geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung
Platz: Revolution, 2009; Radkau: Technik, 2008, S. 373-387. Kleinöder: Literaturbericht, 2016, S. 3, 23.
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oder weniger versteckten Rationalisierung, sodass diese Ausweitung aus ihrer Sicht gerade als unverzichtbar galt.4 Diese reduzierte Wahrnehmung steht jedoch in einem Widerspruch zu den im Programm zentral verankerten ausdifferenzierten »Belastungs- und Gestaltungsbereichen«, die neben Fragen der Arbeitsorganisation eben auch »Unfallgefahren«, »Umgebungseinflüsse« sowie »physische« und »psychische Beanspruchungen durch die Arbeit« in den Blick nehmen sollten.5 Viele Projekte standen damit in enger Verbindung zu konkreten Maßnahmen des Unfallschutzes, der Verhütung von Berufskrankheiten, der Verminderung von Negativeinflüssen (Lärm, Hitze, Gefahrstoffe etc.), technischen Anpassungen sowie der Vermeidung von Belastungssituationen (u.a. Ermüdung, Monotonie, Schichtarbeit) am Arbeitsplatz.6 Entgegen der umfassenden Kritik am Programm selbst (insbesondere seit den 1980er-Jahren), scheint sich dieser Schwerpunkt möglicherweise mehr oder weniger geräuschlos in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen eingefügt zu haben. Umso mehr lohnt es, diesen Bereich im Rahmen dieses Beitrages gesondert in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt steht die These, dass das HdA-Programm – vielmehr als bislang in der vornehmlich sozialwissenschaftlich geprägten Bewertung über Fragen von Demokratisierungsprozessen und Teilhabe geschehen – im Kern der Arbeitsschutzreformen seit den 1960erJahren verortet werden muss.7 Es steht damit, so die Annahme, in enger Beziehung zu den (negativen) Effekten des sogenannten Wirtschaftswunders8 der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit und dem wachsenden Druck stetig steigender Unfallzahlen.9 Dabei wandelte sich zwischen den äußeren Zäsuren des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (1963, UVNG) und dem Ende der ersten Projektphase des Humanisierungsprogrammes (um 1980) auch die Wahrnehmung des Arbeitsschutzes über eine stärker präventiv orientierten Arbeitssicherheit hin zu einem umfassenden Gesundheitsverständnis (etwa über den Be-
4
Vgl. z.B. Vetter: Humanisierung, 1973; Kaste: Arbeitgeber, 1981.
5
Alle Zitate BMAS/BMFT: Aktionsprogramm, 1974, S. 18-35.
6
Vgl. Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006, S. 286.
7
Vgl. z.B. aus sozialwissenschaftlicher Sicht Fricke: Drei Jahrzehnte, 2004 oder Oehlke: Arbeitspolitik, 2004; dagegen in der Übersicht zur Entstehung des HdAProgrammes aus Arbeitsschutz-Sicht Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006.
8
Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte, 2005, S. 12f.
9
Vgl. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 183, sowie zu den Unfallzahlen ausführlich und mit Blick auf die Eisen- und Stahlindustrie Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 333-340.
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reich der Ergonomie) der »Humanisierung«:10 Arbeit sollte zukünftig nicht nur sicher sondern auch gesund sein.11 HdA war ein zentraler Bestandteil dieses Wandels.
ARBEITSSCHUTZ IM DORNRÖSCHENSCHLAF? Der bundesrepublikanische Arbeitsschutz der Nachkriegszeit stand in enger Verbindung mit den Wiederaufbaumaßnahmen der deutschen Wirtschaft: Neben einer hohen regulativen Kontinuität aus der Kriegs- und Zwischenkriegszeit war er sowohl aus staatlicher als auch betrieblicher Sicht durch ein pragmatisches Anknüpfen an bewährte Strukturen – bei allerdings kontinuierlich steigenden Unfallzahlen – gekennzeichnet.12 Wie bereits Wolfhard Weber herausgearbeitet hat, liegen die Anfänge des »modernen Arbeitsschutzes« eindeutig in der Weimarer Republik:13 Insbesondere aus betrieblicher Sicht wurde an Konzepte der (wissenschaftlichen) Unfallursachenanalyse, der psychologischen Unfallverhütung und der Entwicklung persönlicher Schutzausrüstungen angeknüpft. Besonders augenscheinlich war dabei das Überdauern des Konzepts des sogenannten »Unfällers«, das »menschliche Unzulänglichkeiten« als Unfallursache weiterhin in den Mittelpunkt der Arbeitsschutzarbeit stellte.14 Aus dieser Annahme ergab sich auch die weiterhin einerseits besonders technisch ausgerichtete Arbeitsschutzarbeit, die schließlich in der längst überfälligen Verabschiedung des seit der Weimarer Republik immer wieder verzögerten Maschinenschutzgesetzes von 1968 gipfelte.15 Hinzu kam aber andererseits eine sukzessive Ausweitung der »psychologischen« Unfallverhütungsarbeit aus den 1920er-Jahren, die, in Anknüpfung an die Ausweitung der Arbeitsphysiologie und den Arbeiten etwa der
10 Vgl. zur begrifflichen Einordnung und Differenzierung zwischen »Sicherheit«, »Schutz«, »Risiko« und »Prävention« jüngst die aktuellen Forschungstendenzen bei Conze: Sicherheit, 2018; pragmatisch aus dem Arbeitsbereich der (betrieblichen) Arbeitssicherheit vgl. Lehder/Skiba: Arbeitssicherheit, 2005, S. 25f. sowie Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 231f. 11 Vgl. u.a. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 203f. 12 Vgl. ausführlich Bethge/Wienhold: Arbeitsschutz 1945-49, 2001. 13 Weber: Moderner Arbeitsschutz, 1993. 14 Wienhold: Arbeitsschutz 1949-57, 2001, S. 239; vgl. ausführlich Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 183-187. 15 Vgl. zum Arbeits- und Maschinenschutz der Weimarer Republik Weber: Technik, 1986, S. 122-134.
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»Sozialforschungsstelle an der Universität Münster e.V.« (Otto Neuloh), das Verständnis stärkte, dass großflächige Plakate und bevormundende Slogans die Beschäftigten allein nicht mehr erreichten.16 Schließlich bewirkte auch der spürbare Wandel der Arbeitswelt mit neuen Belastungsformen einen neuen Fokus auf psychische Belastungen: Insbesondere Aspekte der Monotonie und der geistigen Ermüdung rückten dann seit den 1960er-Jahren vermehrt in den Fokus. Die galt nicht länger nur für die Frage einer unmittelbaren Unfallgefährdung, sondern vielmehr auch als generelle Frage von Gesundheit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz.17 Das engere Schutz-Gefahren-Verständnis am Arbeitsplatz speiste sich somit in den 1950er-Jahren noch weitgehend aus Kontinuitäten der Zwischenkriegszeit (und der »Unfallverhütung« im engeren Sinne).18 Die zeitgleich rasant steigenden Unfallzahlen wurden dabei kaum als strukturelles Problem einer unzureichenden Arbeitsschutzpolitik insgesamt wahrgenommen.19 Trotz der Kontinuität auch gefährlicher und schmutziger Arbeitsplätze verschwinden in der Retrospektive häufig die negativen Begleiterscheinungen für die Arbeiterschaft in der Phase von Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung.20 Gerade aus öffentlicher Sicht sind die 1950er-Jahre vor allem durch die Abwesenheit staatlicher Eingriffe zu charakterisieren: »Der Arbeitsschutz« blieb »ein vernachlässigtes sozialpolitisches Themenfeld«.21 Umgekehrt stellte sich der Arbeitsschutz aus betrieblicher Sicht vor allem als Aufgabe der unmittelbaren Akteure und in erster Linie als eine praktische Frage der Unternehmen, Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsicht.22 Grundsätzlich hat die Geschichte der Sozialversicherung gezeigt, in welcher Weise Arbeitsrisiken durch eine Solidarhaftung systematisch externalisiert wurden.23 So kritisierten Dietrich Milles und Rainer Müller in den 1980er Jahren wiederholt das Konzept der nachträglichen, monetären Entschädigung: »Das Bauprinzip der Unfallversicherung ist verfehlt, weil es sich gegen den Ausbau
16 Vgl. zur wachsenden Kritik einer patriarchalisch geprägten Betriebs- und Arbeitsschutzpolitik seit den 1920er Jahren Ellerbrock: Mittelpunkt, 1997, S. 29-38. 17 Vgl. ausführlich Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 106-110. 18 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993, S. 89-95, 185-189, 284-297, 324-330. 19 Vgl. Wienhold: Arbeitsschutz 1949-57, 2001, S. 243 und Bethge: Arbeitsschutz 195766, 2007, S. 199. 20 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2008, S. 155-161. 21 Bethge: Arbeitsschutz 1957-66, 2001, S. 198. 22 Vgl. Wienhold: Arbeitsschutz 1949-57, 2001, S. 243f. 23 Vgl. Condrau: Arbeitsplatz, 2004, S. 243.
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des Arbeitsschutzes richtet und die Gesundheitsgefährdungen der Arbeitnehmer als Normalität bekräftigt, statt sie in Frage zu stellen.«24 Dies gilt auch für die Fortführung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen der Wohlfahrtsstaat – auch im internationalen Vergleich – einen beträchtlichen Ausbau erfuhr.25 Zugleich kam jedoch durchaus ein neues Element hinzu, das durch einen Übergang in ein neues Zeitalter der »Prävention« gekennzeichnet war:26 Kern dieser neuen Art der »Risikovermeidung« war nach Ulrich Bröckling die Bändigung der »Kontingenz der Zukunft« durch »systematische Datenerhebung, Ursachenforschung und Prognostik«. Prävention war damit im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes spätestens seit den 1960er-Jahren beides: »Risikomanagement« (Versicherung) wie auch »Risikovermeidung«.27 Vor diesem Hintergrund ist zu hinterfragen, warum der Arbeitsschutz im Verlauf der 1960er-Jahre schließlich auch auf die sozialpolitische Agenda rückte. Insbesondere im Kontext von Kostendebatten um Arbeitsunfälle waren mit dem Aufstieg des Scientific Management Unfalldaten bereits in der Weimarer Republik zunehmend erfasst und ausgewertet worden.28 Auch die Berufsgenossenschaften weiteten im Umfeld der Anerkennung erster Berufskrankheiten die statistische Erfassung aus.29 Die Kritik an stetig steigenden Unfallzahlen und den mangelnden (politischen) Reaktionen wurde erstmals Ende der 1950er-Jahre im engeren Kreis der Sicherheitsexperten geäußert und schließlich auch von gewerkschaftlicher Seite prominent aufgegriffen (z.B. Gewerkschaftstag der IG Metall).30 Dieser wachsende öffentliche Druck nährte nun kontinuierlich das politische Bewusstsein für die Gefahren sowie die gesundheitlichen wie auch monetären Begleiterscheinungen der ökonomischen Prosperität: Die Arbeitsunfälle stiegen absolut und relativ (bezogen auf 1000 Vollarbeiter) seit den 1950erJahren kontinuierlich bis zu einem Höchststand von fast 2,5 Millionen im Jahr 1961 an (137,8 je 1000 Vollarbeiter). Entsprechend vervielfachten sich auch die
24 Milles/Müller: Berufsarbeit, 1985, S. 19. Zur Normalisierung durch Prävention vgl. auch Bröckling: Vorbeugen, 2008, S. 43. 25 Vgl. z.B. in der Forschungsübersicht Nullmeier/Kaufmann: Welfare State, 2010. 26 Siehe für die mittlerweile reichhaltige Forschungslandschaft noch instruktiv Lengwiler/Madarász: Präventives Selbst, 2010 sowie u.a. jüngst in der Übersicht Leanza: Prävention, 2017; Zum Forschungsüberblick vgl. zuletzt Conze: Sicherheit, 2018, S. 107-114. 27 Alle Zitate Bröckling: Vorbeugen, 2008, S. 39-41. 28 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993, S. 287-293. 29 Vgl. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 148-161. 30 Vgl. Strohmenger: Interesse, 1960; IG Metall: 6. Gewerkschaftstag, 1960.
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neuen Arbeitsunfallrenten bis 1962 auf über 60.000 jährliche Neufälle (3,5 je 1000 Vollarbeiter). Zeitgleich erreichte auch die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle ihren absoluten Höchststand (3567 im Jahr 1962).31 Mit dieser statistischen Erkenntnis verband sich nun auch ein wachsender Handlungsdruck, denn mit der Verabschiedung des UVNG 1963 wird deutlich, in welcher Weise die politische Aufmerksamkeit auch an den modernen Präventionsgedanken anschlussfähig ist: Mit der Neuregelung war erstmals eine Verpflichtung der Regierung verbunden, jährlich einen »Unfallverhütungsbericht« vorzulegen. Er war eine umfangreiche Wissenssammlung zum Unfallgeschehen, der erstmals die konkreten Dimensionen des Unfallgeschehens darlegte und mit dem Anspruch antrat, auf Grundlage dieser systematischen Datenerhebung eine staatlich flankierte Präventionsarbeit einleiten zu können.32 Begleitet wurde dies durch einen Wandel des Arbeitsschutzes auf betrieblicher Ebene. Durch die Professionalisierung und den Ausbau eigener Arbeitsschutzabteilungen, die (freiwillige) Beschäftigung von Sicherheitsexperten sowie komplexeren Unfallursachenanalysen kam es zu einem verbesserten Verständnis des Unfallgeschehens. Damit ging auch eine Ausweitung des Präventionsverständnisses, der »Risikovermeidung« einher, die sich etwa in der massenhaften Verbreitung von persönlichen Schutzausrüstungen (insbesondere Sicherheitsschuhen und -helmen) in dieser Zeit niederschlug.33 Die staatlichen Aktivitäten – die ersten umfassenden regulativen Eingriffe seit dem Zweiten Weltkrieg für den Arbeitsschutz überhaupt – manifestierten sich schließlich in der Neuregelung der Unfallversicherung, die nun neben einer grundsätzlichen Wissenssammlung durch eine ausführliche Datenbasis auch das praktische Expertenwissen auf betrieblicher Ebene stärkte: »Bis zum Inkrafttreten des Arbeitssicherheitsgesetzes am 1.12.1974 war die Einrichtung des Sicherheitsbeauftragten die einzige gesetzlich vorgeschriebene personale Institution« für die betriebliche Präventionsarbeit.34 Mit dem Arbeitssicherheitsgesetz wurden sie dann durch obligatorische Sicherheitsingenieure und Betriebsärzte ergänzt. Hinzu kam das Maschinenschutzgesetz von 1968, das nun endgültig die
31 Vgl. DGUV Referat Statistik: Datenreihen zu Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten 1950-2016, schriftliche Auskunft vom 12.06.2018. 32 Vgl. Deutscher Bundestag: Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (18. Ausschuss) über den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung in der Bundesrepublik für das Jahr 1964 (Unfallverhütungsbericht 1964), 5. Wahlperiode, Drucksache V/1143 (neu). 33 Vgl. Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 104-116, 158-196. 34 Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 192.
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Forderung umsetzte, durch eine technische »Risikovermeidung« die Verantwortung technisch sicherer Anlagen in die Hand der Hersteller zu legen.35 Mit diesem regulativen Nachholprozess leitete die Regierung insgesamt seit Mitte der 1960er-Jahre erste Schritte für eine umfassende Reform des bundesrepublikanischen Arbeitsschutzes ein, die schließlich in der sozialliberalen Reformpolitik an der Wende zu den 1970er-Jahren kumulierte: Begleitet durch lauter werdende Forderungen nach einer generellen Verbesserung der Arbeitsgestaltung36 wurden spätestens mit dem novellierten Betriebsverfassungsgesetz (1972), dem neuen Arbeitssicherheitsgesetz (1973) und schließlich dem Konzept zu einem Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« endgültig die Weichen zu einem umfassenderen Präventionsverständnis am Arbeitsplatz gestellt: Gesundheit wurde zunehmend als Wert nicht nur der eigenen Arbeitskraft, sondern als elementarer Bestandteil der »Qualität des Lebens« gedeutet, die es auch individuell zu schützen galt; Arbeitsschutz ging nun weit über die reine Unfallverhütung hinaus.37
ARBEITSSCHUTZ, PRÄVENTION, HUMANISIERUNG Nach der Intensivierung des Arbeitsschutzes und den institutionellen Neuerungen der 1960er-Jahre wundert es nicht, dass der Arbeitsschutz in dem 1974 ausgelobten Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« von Bundesforschungsministerium (BMFT) und Bundesarbeitsministerium (BMAS) einen zentralen Stellenwert einnahm. Das HdA-Programm stand in Kontinuität zur Reform des Arbeitsschutzes, »[d]er Schutz und die positive Beeinflussung der Gesundheit der Arbeitnehmer« wurde zu einer »zentrale[n] Kategorie der mit dem HdA-Programm verknüpften Zielsetzungen«.38 Das HdA-Programm selbst
35 Vgl. zum Entstehungsprozess ausführlich Bethge: Arbeitsschutz 1957-66, 2007, S. 201-207 und ders.: Arbeitsschutz 1966-74, 2006, S. 290-297 sowie in der Längsschnittperspektive Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 130-147, 194-202. 36 Vgl. insbesondere die Rolle des »Lohnrahmentarifvertrag II«, ausführlich bei Kaste: Arbeitgeber, 1981, S. 136-147; Schauer: Tarifvertrag, 1984; Steinkühler: Menschengerechte Arbeit, 2008. 37 Zum politischen Kontext und Wandel u.a. unter dem Schlagwort »Qualität des Lebens« vgl. Müller: Humanisierung, 2016, sowie seinen Beitrag in diesem Band. Für eine ähnliche Entwicklung in diesem Zeitraum in der Schweiz »Von der Unfallverhütung zur Arbeitssicherheit« vgl. Lengwiler: Risikopolitik, 2006, S. 309-332. 38 Skarpelis: Arbeit, 1979, S. 45.
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war wiederum Bestandteil eines Pakets der sozialliberalen Koalition, dass gleich mit Beginn der 1970er-Jahre auf den Weg gebracht wurde. Hierzu zählen insbesondere das novellierte Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und der Ausbau der Arbeitssicherheitsgesetzgebung. In der Betriebsverfassung wurde nun die Berücksichtigung von »humaneren, menschengerechten Arbeitsbedingungen« vorgeschrieben und es sollten nach »§ 90 BetrVG […] Arbeitgeber und Betriebsrat bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit berücksichtigen.«39 Problematisch war dabei jedoch, »dass noch zahlreiche Wissenslücken vorhanden waren und die vorliegenden arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse für die Anwendung in der Betriebspraxis oft nur unzulänglich aufbereitet waren«.40 Das Arbeitssicherheitsgesetz (1973) diente dazu als Rahmengesetz, um insbesondere die Professionalisierung in der betrieblichen Arbeitssicherheit über die nun endgültig gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigung von Sicherheitsingenieuren und Betriebsärzten voranzutreiben. Es wurde flankiert durch die Arbeitsstättenverordnung (1975), die insbesondere die »Rechtszersplitterung« für »Arbeitgeber, Architekten und Aufsichtsbehörden« aufhob und »Anforderungen über Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz, Arbeitshygiene und über Erste Hilfe« vereinheitlichte.41 Für den Umgang mit gefährlichen Stoffen wurde 1971 eine Verordnung erlassen, die im Sinne einer »Rechtsbereinigung«42 ebenfalls »erstmals eine zusammenfassende gesetzliche Regelung für das Inverkehrbringen und den Umgang mit gefährlichen Arbeitsstoffen«43 schuf. Mit diesen Maßnahmen wurden zwar wichtige Schritte zur Vereinheitlichung des stark zersplitterten Arbeitsschutzrechts eingeleitet, problematisch war jedoch noch die praktische Umsetzung: Neben der unzureichenden Personaldecke (v.a. die Lücken in der Betriebsärzteausbildung) stellte auch die geringe institutionelle Verbreitung der Arbeitsmedizin ein Problem dar.44 Auch an dieser Frage setzte das HdA-Programm an: Einerseits sollten Grundlagen, also konkret die »Erarbeitung von Schutzdaten, Richtwerten, Mindestanforderungen an Maschinen,
39 Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006, S. 298. 40 Ebd., S. 298f. 41 Alle Zitate Bethge: Arbeitsschutz 1974-82, 2008, S. 277. 42 Ebd., S. 283f. 43 Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006, S. 308. 44 Vgl. ebd., S. 317f.
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Anlagen und Arbeitsstätten«,45 geschaffen und zugleich praktische Anleitungen und Transferprozesse zwischen Forschung und Praxis gefördert werden.46 Die Durchführung sowohl von Grundlagen- als auch praxis- und anwendungsorientierter Forschung im Rahmen eines umfassenden HdA-Programmes ist also insbesondere vor diesem Hintergrund zu verstehen. Ausgesprochenes Ziel von HdA war es, die Reformen des Arbeitsschutzes voranzutreiben und durch eine gezielte Förderpolitik die abstrakt geforderten »gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse« für die Praxis zu konkretisieren. Eine in diesem Kontext durchgeführte, (industrie-)soziologische Untersuchung aus dem Jahr 1977 verdeutlicht das Ausmaß des Bedarfs, nach dem »etwa 15 bis 30 Prozent aller Arbeitsplätze als dringlich gestaltungsbedürftig einzustufen sind. An diesen Arbeitsplätzen ist das Risiko einer gesundheitlichen Schädigung ein Mehrfaches größer als an menschengerecht gestalteten Arbeitsplätzen. In absoluten Zahlen sind das immerhin 3,8 bis 7,5 Millionen Arbeitsplätze.«47 Mit dieser Ausrichtung stand HdA jedoch auch international keineswegs isoliert da: Gerade die enge Verbindung von Unfallverhütung und der erstarkten Disziplin der Ergonomie, wie sie sich in einem erweiterten Verständnis des Arbeitsschutzes abzeichnete, verdeutlicht dies. Im »Problemkreis ›MenschMaschine-Umgebung-Arbeitsaufgabe‹«48 beschäftigten sich Ergonomen bereits seit den 1950er-Jahren mit den komplexen Wechselverhältnissen am Arbeitsplatz an der Schnittstelle von Gesundheits- und Arbeitsschutz, als nun eigenem, anwendungsbezogenem Bereich. Die Ergonomie bildete damit das praktische Instrument »für eine menschengerechte und benutzungsgerechte Gestaltung der technischen Umwelt des Menschen«.49 Zahlreiche Unternehmen beschäftigten seit den 1960er-Jahren diese neue Expertengruppe und forcierten damit neben der Unfallverhütung (Sicherheitsingenieure) und dem allgemeinen Schutz vor Berufskrankheiten (Betriebsärzte) ein neues Verständnis eines umfassenden Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz.50 So hatte auch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bereits im Jahr 1956 ein erstes Programm zu »Menschliche[n] Faktore[n] und Arbeitssicherheit« angestoßen, das im engeren Sinne europäische Forschungen zu Faktoren, »die den einzelnen Menschen betreffen«, »die mit den Bedingungen des Berufslebens« und »die mit den beson-
45 BMAS/BMFT: Aktionsprogramm, 1974, S. 14. 46 Vgl. ebd., S. 15f. 47 Volkholz: Gestaltungsbedürftige Arbeitsplätze, 1979, S. 67. 48 Kirchner: Ergonomie, 1993, S. 246. 49 Ebd. 50 Vgl. Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 265-288.
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deren Sicherheitsmaßnahmen zusammenhängen«, anregen und koordinieren sollte.51 Ein zweites Programm folgte 1964, an das auch ein ausgewiesenes »Ergonomie-Programm« angeschlossen wurde: Es erweiterte die Fragen der praktischen, arbeitsplatzbezogenen »ergonomische[n] Anwendungsverfahren« und folgte übergeordneten, theoretischen Untersuchungen zur »Beziehung zwischen dem Menschen und den Arbeitsbedingungen« generell.52 Es wies mit diesen allgemeineren, arbeitsgestalterischen Maßnahmen also deutlich über die engere Unfallverhütung hinaus. Hinzu kamen weitere Programme zur industriellen Hygiene von insgesamt über 30 Einzelmaßnahmen zwischen 1955 und 1966.53 Zentral war auch hier vor allem die Frage der Belastungen am Arbeitsplatz, die sowohl auf Fragen der Sicherheit (Arbeitsschutz), als auch der allgemeineren Gesundheit am Arbeitsplatz (Arbeitsmedizin und Ergonomie) gerichtet waren. Einige der deutschen Akteure und hier beteiligten Unternehmen traten dann zu einem späteren Zeitpunkt auch mit Forschungen im Rahmen des HdAProgramms erneut in Erscheinung.54 Diese enge Verbindung von Ergonomie und Arbeitsschutz spiegelte sich dann auch rückwirkend in der konzeptionellen Ausrichtung des nationalen Forschungsprogrammes und den in der ersten Programmphase durchgeführten Projekten von HdA wider: In einer ersten Zwischenbilanz des Forschungsprogrammes resümierte Volker Volkholz, dass bis 1977 von den insgesamt rund 230 geförderten Projekten des BMFT (Projektträger HdA) die deutliche Mehrzahl von rund 130 Projekten dem Sachbereich der menschengerechten Gestaltung der Arbeitsplätze (Lärm und Erschütterung, gefährliche Stoffe und Staub, Arbeitsmedizin und -sicherheit, Stress, wovon der Bergbau mit rund 40 Projekten deutlich hervortrat) zuzuordnen war.55 Auch das finanzielle Hauptvolumen von rund 67 Millionen DM entfiel damit zu knapp 40 Prozent auf diesen Bereich.56
51 Alle Zitate EGKS: Menschliche Faktoren, 1967, S. 13. 52 Alle Zitate ebd., S. 19f. 53 Vgl. ebd., S. 40f. 54 Vgl. in der Projektübersicht ebd., S. 31-38 sowie ausführlich Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 288-310. 55 Vgl. zu Rolle des Bergbaus in dieser Phase des HdA-Programmes dezidiert Winkler/Peter: Humanisierungsförderung, 1979; sowie aus historiographischer Sicht den Beitrag von Martha Poplawski in diesem Band. 56 Dies spricht auch für umfangreiche (groß)technische Investitionen in diesem Bereich. Vgl. eigene Berechnungen nach Volkholz: Gestaltungsbedürftige Arbeitsplätze, 1979, S. 76-80 sowie ausführlich Herzog: Programm, 1981, S. 39-52.
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Zugleich spiegeln diese Förderzahlen aber auch den Anspruch wider, über den engeren Arbeitsschutz (und die Ergonomie) hinaus zu wirken: »Die Humanisierung des Arbeitslebens darf sich aber nicht nur in einem Abbau von Belastungen erschöpfen, sondern sollte darüber hinaus dem einzelnen auch Möglichkeiten für die Entfaltung seiner Fähigkeiten und damit zur Selbstverwirklichung geben.«57 Zwar entfiel zu diesem Zeitpunkt weniger als ein Viertel der Gesamtprojekte auf den Bereich der Arbeits- und Betriebsorganisation, sie machten aber mit rund 60 Millionen DM bereits 35,5 Prozent des Gesamtfördervolumens beim Projektträger aus.58 Mit dieser Perspektive zeigte sich das Programm deutlich präventiv zukunftsgewandt und schlug die Brücke von einem engeren Arbeits- und Gesundheitsschutz zu einem umfassenderen Verständnis von der »Qualität des Lebens«: Es ging einerseits darum, »durch Verringerung von Gefährdungen und psychischen und physischen Über- und Unterbeanspruchungen der Arbeitnehmer den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu erhöhen«, andererseits sollten »durch technische organisatorische Maßnahmen der Gestaltung von Arbeitsplätzen Voraussetzungen […] für größere Entfaltungs- und Qualifikationsmöglichkeiten der Arbeitnehmer« geschaffen werden.59 Dieses Spannungsfeld des Programmes zwischen dem engeren Arbeitsschutz auf der einen und Fragen der Arbeitsorganisation auf der anderen Seite spiegelt damit auch den Kampf um die Deutungshoheit der beteiligten Akteure aus Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und Wissenschaft wider. Bereits die Heterogenität des Begriffs »Humanisierung« als Sammelbegriff für diverse Zielvorstellungen von der technischen Anlagenverbesserung bis zur Ausweitung der Mitbestimmung barg von vornherein offenbar auch Konfliktpotenzial. So urteilt Dietrich Bethge aus Sicht des Arbeitsschutzes zum Aktionsprogramm: »Die unmittelbar am Arbeitsschutz interessierten Institutionen, Verbände, Organisationen und Gruppen waren deshalb darum bemüht, einen Kernbereich für die Forderung nach Humanisierung des Arbeitslebens herauszuarbeiten, da andernfalls die Gefahr bestand, dass sich die vorhandene Aufbruchsstimmung in einer beliebigen Diskussion über eine 60
allgemein bessere Politik für Arbeitnehmer verbrauchte.«
57 BMAS/BMFT: Aktionsprogramm, 1974, S. 14. 58 Eigene Berechnungen nach Volkholz: Gestaltungsbedürftige Arbeitsplätze, 1979, S. 76-80. 59 Herzog: Programm, 1981, S. 22. 60 Bethge: Arbeitsschutz 1966-74, 2006, S. 285.
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Arbeitsschutz, wie er sich bereits in den 1960er-Jahren in seiner inhaltlichen und methodischen Ausrichtung erweitert hatte, fungierte hier offensichtlich auch als praktische Klammer und inhaltliche Orientierungshilfe. Nicht zuletzt die institutionelle Aufspaltung des Programmes zwischen Bundesarbeits- und Bundesforschungsministerium spiegelte dieses Spannungsfeld wider: So war das Bundesarbeitsministerium über die 1972 gegründete Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallverhütung (BAU) organisatorisch wie inhaltlich festes Programmmitglied, übernahm in der Folge allerdings den kleineren und nach aktuellem Forschungsstand auch geringeren Anteil der engeren, arbeitsschutzbezogenen Forschung.61 Das Bundesforschungsministerium war jedoch in seiner institutionellen Verwaltungs- und Finanzierungsrolle und damit auch in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und Einflussnahme das eindeutige Schwergewicht der politischen Akteure.62
HUMANISIERUNG DURCH ARBEITSSICHERHEIT? Die voranstehenden Überlegungen haben gezeigt, in welcher Weise sich das HdA-Programm aus der Ausweitung des Arbeitsschutzes und der wachsenden Rolle der Arbeitsgestaltung seit den 1960er-Jahren speiste. Die Frage einer sicheren und gesunden Arbeitsplatzgestaltung stellte insbesondere durch die Rolle der Arbeitswissenschaften eine zentrale Schnittstelle zwischen dem klassischen Arbeitsschutz und neueren Formen der Arbeitsorganisation dar. Ähnliche Vorläufer dieses Zusammenhanges sind bereits für die Weimarer Republik herausgestellt worden und es gilt zukünftig, diesen Zusammenhang noch stärker in einer übergreifenden Linie des 20. Jahrhunderts zu betonen.63 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch unter den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen eine neuartige Dynamik, in dem Prozesse der engeren Fragen von Arbeitssicherheit und Arbeitsgestaltung mit weiterreichenden gesellschaftspolitischen Reformen kumulierten.64
61 Vgl. Kleinöder: Literaturbericht, 2016, S. 12-16 und S. 38f. sowie ausführlich zur Rolle der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) im HdAProgramm den Beitrag von Bernd Holtwick in diesem Band. 62 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Stefan Müller in diesem Band. 63 Vgl. dazu den Beitrag von Karsten Uhl in diesem Band. 64 Vgl. dazu auch die kontinuierlichen Debatten auf Arbeitgeberseite seit den 1960er Jahren im Rahmen eines »kooperativen Führungsstil« etwa über das »Harzburger
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Der Blick auf die spezielle Arbeitsschutzfrage hat dabei gezeigt, dass sich eine (Neu-)Bewertung von guter, menschengerechter oder humaner Arbeit lange vor dem eigentlichen Beginn des HdA-Programms abzeichnete. Konkret fand in der betrieblichen Praxis von den 1950er-Jahren bis in die 1960er-Jahre hinein ein Wechsel der Prämissen statt – weg von der menschenbezogenen Unfallverhütung des »Unfällers« hin zu komplexeren Überlegungen eines umfassenden Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatzes zwischen Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Ergonomie. Dieser Idee folgte HdA und somit war das Forschungsprogramm damit weniger Auslöser als vielmehr selbst das Resultat einer sich nicht nur wandelnden Arbeitswelt, sondern auch eines veränderten gesellschaftlichpolitischen und betrieblichen Umgangs mit Fragen einer »menschengerechteren« Arbeitsgestaltung. Ein Desiderat der Forschung bleibt dabei jedoch weiterhin, inwieweit sich die mehr oder weniger geräuschlose Verbesserung der Arbeitsbedingungen in die Gesamtkritik am Programm selbst einordnen lässt. Im kritischen Anschluss zeithistorischer Fragen an eine »Verwissenschaftlichung des Sozialen«65 ist schließlich auch der Begriff der »Humanisierung« selbst zu hinterfragen. Begreift man ihn in diesem Sinne in erster Linie als einen Quellenbegriff, so lässt er sich für die engere Sicht des Forschungsprogrammes insbesondere in den 1970er-Jahren als (technisch geprägten) Begriff des weiterentwickelten Arbeitsschutzes begreifen, der in einem erweiterten Verständnis des Präventionskonzeptes stand: Der Definition eines stark wissensorientierten Präventionsbegriffs (Ulrich Bröckling) fügt sich HdA mit dem Anspruch eines sowohl an Grundlagen als auch an betriebspraktischen Lösungen interessierten Forschungsprogrammes in das Präventionsschema einer sichereren und gesünderen Arbeitswelt ein. So schärfte HdA gerade durch projektbezogene Einzelforschung den Blick auf individuelle Arbeitsplätze und versuchte zugleich mit Ableitung von Normen und Grenzwerten eine neue Normalität besserer Arbeitsbedingungen zu schaffen: Wichtig ist dabei, »dass […] Normen bestimmt und Normalverteilungen erhoben worden sind, auf welche die vorbeugenden Interventionen dann geeicht werden.«66 In diesem Sinne versuchte der Präventionsgedanke hinter dem Humanisierungsbegriff immer auch zeitgleich zu individualisieren und zu totalisieren.67 Ein schwieriger Anspruch, der vielleicht auch dazu beitrug, das Programm vielfach als gescheitert zu erinnern.
Modell« oder auch die Novellierung des BetrVG, vgl. Kaste: Arbeitgeber, 1981, S. 59-84. 65 Raphael: Verwissenschaftlichung, 1996. 66 Bröckling: Vorbeugen, 2008, S. 43. 67 Vgl. ebd., S. 44f.
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Transfer, Bewusstseinsbildung, Öffentlichkeitsarbeit Die Deutsche Arbeitsschutzausstellung als Akteur der »Humanisierung des Arbeitslebens« Bernd Holtwick
TRANSFERPROBLEME ALS CHANCE ZUR ORGANISATIONSEXPANSION Im Sommer 1978 wandte sich Manfred Hagenkötter, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (BAU),1 formell an die für sein Haus zuständige Regierungsstelle, das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) und schlug ein Projekt vor, das direkt auf das Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« Bezug nahm. Er skizzierte die Gründung einer »Akademie zur Humanisierung der Arbeit«. Deren Aufgabe sollte es sein, »die Umsetzung der Forschungsergebnisse zu forcieren«, die in solcher Fülle ent-
1
Vorläufer der BAU war das 1949 von den westdeutschen Ländern in Soest gegründete Zentralinstitut für Arbeitsschutz, das 1951 als »Bundesinstitut für Arbeitsschutz« in die Zuständigkeit des Bundesarbeitsministeriums wechselte. 1957 zog das Institut nach Koblenz um. Mit der Gründung der BAU 1971 war auch der Umzug nach Dortmund verbunden. 1983 wurde die BAU in Bundesanstalt für Arbeitsschutz umbenannt, 1996 dann – nach der Fusion mit der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin in Berlin, das den DDR-Arbeitsschutz beerbt hatte – in Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), vgl. Anonym: Bundesanstalt, 2006, S. 234-237. Die Angaben dort gehen wohl zurück auf Gottschalk: Quellen, 1977, S. 115-127. Zur Gründung der BAU und zur Person Hagenkötters vgl. auch Bethge: Arbeitsschutz, 2001, S. 283285.
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stünden, dass sie mit den bestehenden Einrichtungen nicht umgesetzt werden könnten, was eben eine neue Organisation erfordere.2 Die Akademie sollte als formell eigenständige Körperschaft in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins, aber in enger Verbindung zur BAU entstehen.3 Nur wenige Wochen später folgte ein zweiter – zwar vom finanziellen Aufwand her kleinerer, aber immer noch überaus ambitionierter – Vorschlag. Am 21. September 1978 trug Hagenkötter dem BMA ergänzend zur Akademie nun noch die Idee einer Ständigen Ausstellung für Arbeitsschutz (SAFA) vor.4 Hagenkötter griff in seiner Argumentation auf die »Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt« zurück, die 1903 in Berlin eröffnet wurde, seit 1927 als »Deutsches Arbeitsschutz-Museum« firmierte und ab 1930 direkt dem Reichsarbeitsministerium unterstand. Im Zweiten Weltkrieg fiel das Museum den Bombenangriffen zum Opfer.5 Die Wiedergründung einer solchen Ausstellung zielte darauf, »in moderner Konzeption eines bildungsaktiven Museums […] Anschauungsmöglichkeiten für moderne Konzeptionen im Arbeitsschutz zu entwickeln«.6 Zu diesem Zeitpunkt ließen sich die Dimensionen beider Vorhaben noch nicht genau umreißen, trotzdem mussten sie für eine Bundesoberbehörde in der Größe der BAU geradezu gewaltig erscheinen. Im September 1979 rechnete Hagenkötter für die SAFA mit einem Gesamtaufwand von 30,3 Millionen DM von 1980 bis 1983, was auch die Kosten für 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfasste.7 Anfang 1980 bezifferte die BAU dann den Finanzbedarf für das nun als Bundeszentrum Humanisierung bezeichnete ehemalige »Akademie«-Projekt für
2
Vgl. Schreiben Hagenkötters an das BMA, 4.8.1978, Bundesarchiv Koblenz (im Fol-
3
Vgl. ebd., Bl. 3 und 4.
4
Vgl. Schreiben Hagenkötters an das BMA, 21.9.1978, BArch Koblenz, Sign. B
5
Anonym: Bundesanstalt, 2006, S. 232f. Ausführlich und mit Einordnung in den Kon-
genden BArch Koblenz), Sign. B 149/41409, Bl. 2.
149/41411, Bl. 3. text anderer Ausstellungen Poser: Museum, 1998; zuletzt Hawig: Ausstellung, 2018, S. 191-210. 6
Schreiben Hagenkötters an das BMA, 21.9.1978, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, Bl. 3. Zum Arbeitsschutz vgl. den Beitrag von Nina Kleinöder in diesem Band.
7
Vgl. Anlage 3 zum Schreiben Hagenkötters an das BMA, 24.9.1979, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 1.
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die nächsten vier Jahre auf mehr als 100 Millionen DM, verbunden mit der schrittweisen Aufstockung des Personals bis auf 120 Stellen.8 Das ist umso bemerkenswerter als die Umorganisation des Bundesinstituts für Arbeitssicherheit in die BAU erst 1971 erfolgt war und bereits mit einem massiven Stellenzuwachs und einem großen Büroneubau in Dortmund einhergegangen war. Man darf wohl die Initiativen im Sommer und Herbst 1978 der besonderen Umtriebigkeit und dem Ehrgeiz Hagenkötters zurechnen. Allerdings stießen sie auf eine bemerkenswert schnelle und unkomplizierte Unterstützung in der Ministerialbürokratie. Hagenkötter hatte anscheinend seine Projekte geschickt zugeschnitten und zu einem günstigen Zeitpunkt auf den Weg gebracht. Um das genauer zu beurteilen, muss Hagenkötters Vorgehen vor dem Hintergrund der Situation des Programms »Humanisierung des Arbeitslebens« analysiert werden. Das erhellt nicht nur das Manövrieren eines ambitionierten und eigensinnigen Behördenleiters, sondern wirft auch ein Licht auf das Humanisierungsprogramm insgesamt. Hagenkötter nutzte die weit verbreitete Kritik daran aus, dass der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zwar von Beginn an als integraler Bestandteil des Programms »Humanisierung des Arbeitslebens« definiert worden war, dass die Ergebnisse aber Ende der 1970er-Jahre eher bescheiden erschienen. Die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion stellte darauf etwa im Rahmen der Bundestagsdebatte am 14. Mai 1980 ab, wenn der CDU-Abgeordnete Müller behauptete: »Vor allen Dingen hapert es an der Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis.«9 Ob das nach nur sechs Jahren Laufzeit eine berechtigte Kritik war, mag dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle bewertete selbst ein Abteilungsleiter im BMA die Dinge schon ein Jahr vorher ganz ähnlich: »Bisher sind rund 350 Millionen DM für die Humanisierungsforschung ausgegeben worden. Nach den Planungen ist davon auszugehen, dass im Rahmen des Programms jährlich weitere 90 bis 120 Millionen DM aufgewendet werden. Wirklich in die Betriebspraxis umgesetzte vorzeigbare Ergebnisse stehen zu diesen Ausgaben in keinem vernünftigen Verhältnis.«10
8
Vgl. Anlage zum Schreiben (Schnellbrief) der BAU an den Bundesfinanzminister und Bundeswirtschaftsminister, Februar 1980, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 5.
9
Vgl. die Bundestagsdebatte vom 14. Mai 1980, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 217. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Mai 1980, S. 17437.
10 Vermerk Ministerialrat Schulte Abteilung III (IIIb7) v. 11.4.1979 »Thesenpapier zur Gründung eines Instituts (Akademie) zur Humanisierung des Arbeitslebens«, BArch Koblenz, Sign. B 149/41409, S. 1.
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Diese Formulierungen des Ministerialrats Schulte zeigen eine Perspektive aus dem Inneren des BMA, einer Behörde, deren Zuständigkeit für den Arbeitsschutz sie im Kern mit dem Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« verband, die aber trotzdem gegenüber dem Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) nur den deutlich kleineren Teil des Budgets verwaltete.11 Es dürfte sich lohnen, den Blick künftig auch auf organisationsoziologische Fragen nach der Konkurrenz unter den beteiligten Behörden zu richten. Die Kritik an der angeblich zu geringen Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis lässt sich durchaus in diesem Zusammenhang interpretieren, auch wenn dazu noch sehr viel mehr zu forschen wäre. Denn die »Humanisierungsforschung« prägte im 1974 gestarteten Programm im Wesentlichen das BMFT, nicht das BMA.12 Jenseits der Budget- und Kompetenzfragen lässt sich auch auf eine inhaltliche Differenz verweisen, die z.T. zeitgenössisch und auch in der historischen Forschung als unterschiedliches Humanisierungsverständnis benannt wurde.13 So bemängelte etwa der Dortmunder CDU-Abgeordnete Ludwig Gerstein, »daß keine Klarheit und keine Einigung über die verschiedenen Bedeutungen von Humanisierung des Arbeitslebens aus politischer Sicht bestehen«, warnte davor, die Humanisierung nur im Zusammenhang mit weitreichenden politischen und insbesondere wirtschaftlichen Reformen zu begreifen und forderte polemisch: »Humanisierung des Arbeitslebens darf keine vom BMFT finanzierte Spielwiese, kein Vehikel linker Theoretiker für neue Theorien und Ansätze zur Zerstörung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein.«14 Damit wendete er ins Politische, was sich auch als Gegensatz zwischen einer praktischen und betrieblichen Orientierung und einer sozial-politischen Ausrichtung der Forschungsprojekte innerhalb des Programms Humanisierung der Arbeitswelt be-
11 Vgl. Bethge: Arbeitsschutz, 2008, S. 292. Seibring: Humanisierung, 2011, S. 103, verankert die Konzeptphase des Programms beim BMA unter Arbeitsminister Walter Arendt. Bis Mitte 1982 gaben BMA/BAU knapp 40 Mill. DM, BMFT aber 750 Mill. DM für Projektförderung aus; im Etat 1982 waren für das BMA 5,5 Mill. DM, für das BMFT 116 Mill. DM vorgesehen (Vermerk Referat IIIb7 an Parlament. Staatssekretär Vogt v. 7.12.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139578, S. 2f.). 12 Sauer: Humanisierung, 2011, S. 20, rechnet das Programm direkt dem Bundesforschungsminister Hans Matthöfer zu. Vgl. zum Aktionsprogramm den Beitrag von Stefan Müller in diesem Band. 13 Vgl. ebd., S. 21f. 14 Bundestagsdebatte vom 14. Mai 1980, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 217. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Mai 1980, S. 17428f.
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schreiben lässt. Dabei verkörperte der ›klassische‹ Arbeitsschutz, der im BMA ressortierte, die pragmatische Seite. Bundesarbeitsminister Walter Arendt harmonisierte das Verhältnis zwischen beiden Polen, wenn er 1973 bei der Eröffnung eines Arbeitsschutz-Kongresses ausführte: »Die sozialliberale Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, das Arbeitsleben mehr als bisher zu humanisieren. Der Arbeitsschutz spielt dabei eine wichtige Rolle.«15 Er legte dar, dass das Vorhaben der Regierung deutlich weiter greifen wollte, als nur für sichere und gesunde Arbeitsplätze zu sorgen. Es gehe darum, dem »unserer Verfassung zugrundeliegenden Menschenbild auch im Arbeitsleben zum Durchbruch zu verhelfen«.16 Offensiver formulierte Alfred Mertens für die BAU 1978 in ihrer »Schriftenreihe Arbeitsschutz«: »In der Vergangenheit konnte – hervorgerufen durch die Publizität des Aktionsprogramms – der Eindruck entstehen, als sei die Humanisierung des Arbeitslebens ausschließlich eine Sache der Wissenschaftler. Eine solche Betrachtungsweise geht an den Realitäten vorbei. Die Humanisierung des Arbeitslebens ist eine Aufgabe der verschiedenen Fachleute in den Betrieben, Verwaltungen und Aufsichtsdiensten. Von ihnen wird erwartet, daß sie die Humanisierung bei ihrer täglichen Arbeit praktizieren. […] Die Wissenschaft hat bei der Humanisierung eine dienende und ergänzende Funktion. Sie soll für bestimmte anstehende Probleme Lösungsvorschläge erarbeiten. Insofern ist die Humanisierungsforschung eine ausgesprochene Zweckforschung, die ausschließlich der Praxis zu dienen hat.«17
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Initiative Hagenkötters aus dem Jahr 1978 eine umfassendere Bedeutung. Sie war geeignet, die BAU organisatorisch zu vergrößern und zu stärken – allein schon durch die zusätzlichen Haushaltsmittel und Stellen für die SAFA und vor allem für die »Akademie zur Humanisierung der Arbeit« bzw. später das »Bundeszentrum«. Gleichzeitig aber hätten sich dadurch die Gewichte innerhalb des Programms »Humanisierung des Arbeitslebens« etwas zugunsten des BMA verschoben. Durch die Etablierung von solch gewichtigen Institutionen zum Transfer der Forschungsergebnisse in die Praxis wäre die Ausrichtung auf den ›klassischen‹ Arbeitsschutz gestärkt worden. Und da die geplanten Einrichtungen für alle Forschungsprojekte – also auch die des BMFT – zuständig gewesen wären, hätte ihnen das auch eine Schlüsselrolle für die Ergebnisse des gesamten Programms zugewiesen.
15 Arendt: Grußwort, 1974, S. XX. 16 Ebd., S. XXI. 17 Mertens: Arbeitsschutz, 1978, S. 158.
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Hagenkötters Vorstoß im BMA auf Wohlwollen stieß und rasch weiterverfolgt werden konnte. Bereits Anfang Dezember 1978 legte Hagenkötter ein erstes Konzept für die Arbeitsschutzausstellung vor, in dem er insbesondere den von ihm geprägten Begriff »bildungsaktiv« entfaltete. Inhalte und Vermittlungsangebote sollten »vorrangig am Bildungsstand des Hauptschülers orientiert, zugleich aber auch dem Fachmann von Nutzen« sein.18 Insgesamt nahm Hagenkötter die zeitgenössische Museumsdiskussion auf und verband mit der avisierten Ausstellung den hohen Anspruch, Inhalte durch Betrachtung von Objekten und Textlektüre, durch »akustische Hilfsmittel«, durch direkte eigene Aktivitäten und durch »gemeinsame Diskussion« zu vermitteln und zu vertiefen.19 Diesem Ziel sollten auch die Gestaltung der Räume und ihre Beleuchtung dienen. Ebenso dachte Hagenkötter an geführte Rundgänge und betreute Vorführungen.20 Um zügig voran zu kommen, schien Hagenkötter die Einrichtung von 30 Personalstellen erforderlich.21 Im Frühjahr 1979 schlug Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg dem Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und dem nunmehrigen Finanzminister Hans Matthöfer vor, die beiden Projekte – neben anderen – als Beiträge des Bundes in das sogenannte »Ruhrgebietsprogramm« einzubeziehen.22 Das »Bundeszentrum für Humanisierung des Arbeitslebens« und die »Deutsche Ständige Arbeitsschutzausstellung« wurden dann tatsächlich in das Aktionsprogramm der nordrhein-westfälischen Landesregierung aufgenommen und belegten das finanzielle Engagement des Bundes.23 Dass das gesamte Vorhaben Hagenkötters auch als Antwort auf die Kritik am Humanisierungsprogramm dienen konnte und insofern auch politischen Rückenwind von den Regierungsparteien im Bundestag erhielt, belegen deutlich die Ausführungen des Dortmunder SPD-Abgeordneten Hans Urbaniak in der Bundestagsdebatte vom 14. Mai 1980.24 Eine Besprechung Hagenkötters mit Günther Gottmann, dem Stellvertretenden Generaldirektor des Deutschen Museums
18 Anlage »Das Arbeitsschutzmuseum – ein bildungsaktives Museum« zum Schreiben Hagenkötters an das BMA, 4.12.1978, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 4. 19 Ebd., S. 5. 20 Vgl. ebd., S. 6f. und S. 9. 21 Vgl. Vermerk Hagenkötters, 11.4.1979, BArchKoblenz, Sign. B 149/41411, S. 5. 22 Schreiben des BMA an den Bundeswirtschaftsminister und den Bundesfinanzminister, 19.4.1979, BArch Koblenz, Sign. B 149/41409. 23 Vgl. Landesregierung NRW (Hg.): Aktionsprogramm, 1979. 24 Bundestagsdebatte vom 14. Mai 1980, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 217. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Mai 1980, S. 17432.
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in München, Werner Kroker vom Deutschen Bergbaumuseum in Bochum und Professor Ferdinand Schweiger vom Bayerischen Landesinstitut für Arbeitsschutz25 offenbarte bereits Mitte 1979, dass nicht nur die Finanzierung eine Herausforderung für das Ausstellungsprojekt darstellte. Auch konzeptionell würde es nicht leicht werden, »Fachleute« und »Laien« gleichermaßen zu erreichen. So waren für beide Zielgruppen der neuen Ausstellung getrennte räumliche Bereiche vorgesehen – entweder auf einer Ebene oder übereinander.26 Dieses Vorgehen hätte faktisch eine Verdoppelung der Ausstellungsfläche und aller Exponate bedeutet. Diese extrem ungewöhnliche und sehr aufwändige Überlegung führt zu der Frage, welche Stellung die neue Ausstellung eigentlich genau im Bundesprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« einnehmen sollte. Für die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die betriebliche Praxis, Ausgangspunkt des Vorstoßes Hagenkötters, war so eine Ausstellung wohl eher ungeeignet, oder zumindest hätte sie dafür nicht auf Laienpublikum ausgerichtet werden müssen. Der konzeptionelle Stand des Frühsommers 1979, wonach sich die SAFA in ein ganzes »Arbeitsschutz-Bildungssystem«27 einfügen sollte, weitete die Zielsetzung jedenfalls erheblich in Richtung einer allgemeinen Propagierung des Arbeitsschutzes aus, ließ dabei aber offen, wie diese denn ausgestaltet werden sollte. Etwas konkreter wurde Hagenkötters Planung im Dezember 1979. Danach sollte das »Bundeszentrum für Humanisierung« Lehrgänge, Vorträge und Beratungen im Sinne des wissenschaftlichen Transfers anbieten, während die SAFA dieses Spektrum als »eine bildungsaktive Einrichtung« ergänzen sollte.28 Erreicht werden sollte »vordringlich ein breites Fachpublikum neben einem Laienpublikum«.29 Die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung sollte sich an den aktuellen Fragen orientieren, »die derzeit große Priorität im Arbeitsschutz haben« und die zu den Kerninhalten der BAU zählten.30 Nach diesen konzeptionellen Vorstellungen hätte die SAFA die Arbeit der BAU und des Humanisierungszen-
25 Vermerk, 7.6.1979, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 1. Das Bayerische Landesinstitut für Arbeitsschutz unterhält seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine Ausstellung in München. 26 Vgl. ebd., S. 3. 27 Ebd., S. 2. 28 Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz. Planungskonzeption, Dezember 1979, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 3. 29 Ebd., S. 6. 30 Ebd., S. 12.
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trums insofern ergänzt, als sie gewisses Anschauungsmaterial präsentieren und damit die Zielgruppe in Richtung interessierter »Laien« erweitern wollte. Der interessierten breiten Öffentlichkeit sollten so »verschiedene Möglichkeiten des Rundgangs oder der Führung durch die Ausstellung, verschiedene Differenzierung der Ausstellungsobjekte« sowie die »Begleitung und Nachbereitung des Besuchs« angeboten werden.31 Die Frage, ob und inwieweit Fachleute oder allgemeines Publikum angesprochen werden sollten, durchzog die Konzepte und Stellungnahmen zur SAFA für mehr als ein Jahrzehnt. Dabei ging es aber nicht in erster Linie darum, eine Zielgruppe genau in den Blick zu nehmen, um das Ausstellungshaus für diese möglichst attraktiv zu gestalten und etwa besonders hohe Besucherzahlen zu erzielen. Vielmehr galt es, die Rolle der SAFA so zu definieren, dass sie sich möglichst gut in einen politischen Begründungszusammenhang einfügte. Den Akzent auf die Fachleute zu setzen hieß auch, den Transfer von Forschungsergebnissen in die betriebliche Praxis in den Mittelpunkt zu stellen oder zumindest auf die Darstellung der konkreten Leistungen der BAU im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit zu setzen. Das breite Publikum dagegen wurde dann hervorgehoben, wenn die SAFA sehr allgemeine und unspezifische Inhalte weitergeben und damit eine eher diffuse Bewusstseinsbildung für Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten im Arbeitsleben schaffen sollte.
AUFBRÜCHE Am 10. September 1980 gab dann der formelle Erlass des Bundesarbeitsministers das offizielle Startzeichen für die Einrichtung einer »Ständigen Ausstellung für Arbeitsschutz«. Diese sollte nun Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, »Schutz- und Abhilfemaßnahmen (Problemlösungen)«, betriebliche Arbeitsschutzorganisation, die Geschichte des Arbeitsschutzes und auch Gefahren und Schutzmaßnahmen »im Kindergarten, in Schule, Heim und Freizeit« behandeln.32 Die Ausstellung sollte sich zuerst an ein »Fachpublikum«, dann an Multiplikatoren, aber schließlich auch an »alle anderen Bevölkerungskreise, insbesonde-
31 Ebd., S. 8. 32 Erlass über die Einrichtung einer »Ständigen Ausstellung für Arbeitsschutz« bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, 10.9.1980, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411. Bl. 2.
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re Schüler und deren Familienangehörige« richten.33 Diese Formulierung ließ die Bedeutung der Zielgruppendefinition nur erahnen. An anderer Stelle war sie vom BMA geradezu zum Alleinstellungsmerkmal erklärt worden: »Die Ständige Ausstellung unterscheidet sich insofern von vergleichbaren Einrichtungen, wie beispielsweise dem deutschen Museum in München und dem Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, als sie vordringlich ein breites Fachpublikum neben einem Laienpublikum ansprechen soll.«34 In der Beschreibung des Ausstellungskonzeptes tauchte im Erlass auch die Ende 1979 geprägte Formulierung wieder auf, wonach die Arbeitsschutzausstellung »eine bildungsaktive Einrichtung« sei, die sich »der Darstellung pädagogischer Mittel« bediene. Der Erlass rekurrierte zwar explizit auf die Humanisierung des Arbeitslebens, beschrieb aber nicht, wie sich die SAFA zu dem Programm genau verhalten sollte. Es fand sich lediglich der allgemeine Hinweis auf »Problemschwerpunkte bei der Gestaltung von Arbeitsmitteln, der Arbeitsumgebung, der Arbeitsbelastung und des Arbeitsablaufs«.35 Waren damit – trotz aller konzeptionellen Unschärfe – die Weichen für den Aufbau der SAFA gestellt, so blieb als entscheidendes Problem, wer denn die Arbeit erledigen sollte. Hagenkötter hatte bis 1983 insgesamt die Bereitstellung von 35 Personalstellen vorgesehen,36 faktisch aber tauchte keine neue Stelle dafür im Bundeshaushalt auf. Um trotzdem rasch sichtbare Ergebnisse zu präsentieren, vergab die BAU auf Initiative ihres Präsidenten Hagenkötter im Mai 1980 einen großen Auftrag zur »Herstellung von Einrichtungen für die Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz« über mehr als 250.000 DM, was aufgrund der bestehenden Haushaltssperre bedenklich war.37 Kurz darauf begann mit Gernot Krankenhagen ein Mu-
33 Ebd., Bl. 2 u. 3. 34 Schreiben des BMA an Bundesfinanzministerium, 27.2.1980, Bundesarchiv Koblenz, Sign. B 149/41411. S. 2. Vgl. dazu auch Gesprächsvermerk, 7.6.1979 und Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz: Planungskonzeption, Dez. 1979, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430. 35 Erlass vom 10.9.1980, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, Bl. 1. 36 Vgl. Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz. Planungskonzeption, Dezember 1979, S. 17, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430. 37 Anonym: Schlimme Sache, 1982, S. 27. Die Sperre der Mittel wurde vom Haushaltsausschuss am 13.5.1980 aufgehoben. Vgl. Schreiben des BMA an BAU, 30.5.1980, Bundesarchiv Koblenz, Sign. B 149/41411. Ein Überblick über die Werkverträge findet sich in Vermerk Rziha (Gr. 6.2.) an Abteilungsleiter 6, 5.10.1984. Aufgelistet sind darunter allein fast 170.000 DM für die Kuratierung der Sonderausstellung »Kinderarbeit ist verboten«, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430.
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seumsfachmann seine Tätigkeit in der BAU, der Löwenanteil der anstehenden Arbeit sollte jedoch über Werkverträge von externen Fachleuten erbracht werden. So konnte bereits ein Jahr nach dem Errichtungserlass die erste Sonderausstellung gezeigt werden. Am 10. September 1981 eröffnete Minister Ehrenberg die Ausstellung »Kinderarbeit ist verboten!« und blickte dabei schon voraus auf die noch zu errichtende »Ständige Ausstellung«: »An Modellen wird […] anschaulich dargestellt, was sonst nur graue Theorie bleiben würde. Ergebnisse der Forschung – zum Beispiel menschengerecht gestaltete Arbeitsplätze – werden präsentiert und vermitteln so Anregungen für die Praxis.«38 Parallel schritt auch die Entwicklung eines Konzepts für die Ständige Ausstellung voran und wurde durch die Installation eines eigenen Fachausschusses innerhalb des Kuratoriums der BAU bei den wichtigsten Interessenvertretern abgesichert.39 Bereits im Januar 1982 lag ein umfangreiches internes Papier dazu vor. Darin fanden sich zwar weiterhin sowohl das »breite Publikum« als auch die »Arbeitsschutzfachleute« berücksichtigt, allerdings sollten die letzteren eher in »ergänzenden, gegebenenfalls wechselnden Teilausstellungen« auf ihre Kosten kommen. Dort würden »besondere Probleme aus der Ständigen Ausstellung« vertieft behandelt.40 Die Rangfolge hatte sich umgekehrt: In erster Linie sollte es nun um »Interessen und Bewußtseinsstand des breiten Publikums« gehen, um in diesen »Rahmen Probleme und Interessen der Arbeitsschutzfachleute [zu] integrieren«.41 Wahrscheinlich schlug sich hierin schon die Perspektive Krankenhagens nieder, der als Museumsexperte eher die Besucherinnen und Besucher im Blick hatte, die in ihrer Freizeit kamen und kein professionelles Interesse verfolgten. Das spräche dafür, dass Hagenkötter sich seiner Sache recht sicher fühl-
38 Schreiben L 1 an III b 7, 1.9.1981 – Redeentwurf, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 6. Bemerkenswert ist die Sorge, es könnten sich kritische Äußerungen zur aktuellen Situation in der Bundesrepublik finden, sodass der Vorkatalog geändert werden musste. Vgl. Schreiben IIIb7 an BAU, 14.8.1981, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411. 39 Vgl. Ergebnisniederschrift. Erste Sitzung des Fachausschusses »Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz« des Kuratoriums der BAU, 15. und 16.7.1981, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1410. Vgl. zur Auswahl der Museumsfachleute und Historiker Ergebnisniederschrift über die Sitzung des Geschäftsausschusses des Kuratoriums bei der BAU, 22.10.1980, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 57-59. 40 Konzeptionspapier für die Planung der SAFA, Januar 1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 3. 41 Ebd.
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te, denn sonst hätte er wohl sorgfältiger auf die Einhaltung der bisherigen Argumentationslinie geachtet. Auch die »Darstellungsmittel« konkretisierten sich: »Objekte, Fotos, künstlerische Darstellungen, Texte, Film- und Interviewausschnitte in verschiedenen Zusammenstellungen«. Da das »begrenzt und relativ statisch« erschien, wollte man auch »von ästhetischen, historisierenden, womöglich nostalgischen Gesichtspunkten ausgehen«.42 Selbst dann erschienen »die Möglichkeiten, über eine Ausstellung allein Denk- und Handlungsanstöße zu vermitteln, begrenzt«, sodass ergänzend Wechselausstellung, aber auch «Besucherwerkstätten, Filmtage, Diskussionsrunden, Seminare, Kulturtage o.ä.« hinzutreten sollten.43 Aus heutiger Sicht erscheint das verwendete Repertoire der Ausstellungsgestaltung eher klein,44 aber das erwies sich in den folgenden Jahren nicht als das zentrale Problem. Vielmehr war es der Mangel an Personalressourcen, der sich sogar noch verschärfte. Faktisch war Gernot Krankenhagen seit Juni 1980 als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit kuratorischem Sachverstand in der BAU allein.45 Es überrascht nicht, dass er diese Personalsituation als schwierig bewertete, angesichts der hinreichenden Sachmittel sah er es aber im Februar 1982 noch positiv, »daß wesentliche Planungsaufgaben als Werkverträge vergeben werden können« und umriss die dadurch abzudeckenden Aufgabenbereiche.46 Zwei Monate später aber stoppte das Arbeitsministerium das Vorhaben, eine ganze Planungsgruppe über Werkverträge – d.h. mit Sachmitteln – zu finanzieren und signalisierte, vermutlich schon unter dem Eindruck der Rechnungsprüfung, grund-
42 Ebd., S. 17. 43 Ebd., S. 17f. 44 Vgl. Thiemeyer: Inszenierung, 2017; Baur: Trends, 2016. 45 Die im Organigramm von 1981 sichtbare direkte Anbindung der SAFA an den Präsidenten der BAU war von Hagenkötter bereits im Juni 1980 dem BMA mitgeteilt worden (vgl. Fernschr. der BAU an das BMA Referat IIIb7, 10.6.1980, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411). Der Erlass vom 10.9.1980 wies der SAFA den Status eines »Teilbereichs« zu, was eher die Eingliederung in die bestehenden BAU-Abteilungen nahelegte. Hagenkötter nutzte die begriffliche Unschärfe aus und setzte sich auch über die fachliche Empfehlung des BMA hinweg (Schreiben Hagenkötters an das BMA, 11.12.1980 und Schreiben des BMA Referat IIIb7 an BAU, 30.1.1981, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411). Faktisch wurde laut Organigramm die SAFA als eigene Abteilung oder Stabsstelle geführt, aber trotzdem als »Teilbereich« tituliert. 46 Die Ständige Ausstellung während der Planungs- und Umbauphase v. 2.2.1982, S. 1, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1094.
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sätzliche Bedenken gegenüber dieser Praxis.47 Damit standen die Planungs- und Konzeptarbeiten vor dem Aus. Ohne Werkverträge oder eine weitere wissenschaftliche Mitarbeiterstelle »ist es unmöglich, den […] hohen Anspruch an die SAFA einzulösen« – trotz der bewilligten hohen Sachmittel.48
EXISTENZIELLE KRISE Nicht der Mangel an Ressourcen, sondern die Frage ihrer sachgerechten Verwendung beendete dann nur wenige Wochen später beinahe das Projekt »SAFA«. Der Bundesrechnungshof (BRH) hatte eine Liste mit über 200 zum Teil gravierenden »Verstößen gegen elementare Grundsätze des Haushaltsrechts« erstellt, worin sowohl das Bundeszentrum als auch die SAFA einen wesentlichen Teil einnahmen.49 Der Haushaltsausschuss des Bundestags nahm sich im März 1982 des Themas an und fokussierte sich direkt auf die persönliche Verantwortung Hagenkötters. Der SPD-Abgeordnete Klaus-Dieter Kühbacher unterstellte dem BAU-Präsidenten, dieser habe mit der Vergabe der Werkverträge die qualifizierte Haushaltssperre »vorsätzlich« unterlaufen. Gerade auch die vom BRH gerügte überteuerte Ausstattung von Büroräumen für Hagenkötter und die bereits bestallte Leiterin des Bundeszentrums bewertete Kühbacher als »eine Diskreditierung des Programms zur Humanisierung des Arbeitslebens«.50 Vier Wochen später musste Helmut Fingerhut als beamteter Staatssekretär im BMA auf die Anfrage aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion antworten, dass die Bundesregierung »die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit« bedauere, die insbesondere für das Bundeszentrum entstanden sei. 51
47 Vgl. Schreiben des BMA an BAU, 14.5.1982. Planungsstand sowie kurz- und langfristige Planungen für die Ständige Ausstellung, 24.5.1982, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 2. Explizit auch Schreiben Krankenhagens an die Mitglieder des SAFAFachausschusses, 1.6.1982, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1410, S. 1. 48 Planungsstand sowie kurz- und langfristige Planungen für die Ständige Ausstellung, 24.5.1982, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 11. 49 Stellungnahme der BAU zum BRH-Bericht, November 1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139810. 50 Kurzprotokoll der 10. Sitzung des Rechnungsprüfungsausschusses des Haushaltsausschusses am 25.3.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139809, S. 14f. 51 Antwort des StS Fingerhut auf die Fragen des Abg. Lenzer (CDU/CSU) (Drucksache 9/1591) Fragen 100 u. 101, in: Bundestagsprotokolle, 9. Wahlperiode, 98. Sitzung vom 30.4.1982, Anlage 26, S. 5939, BArch Koblenz, Sign. B 149/139809.
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Kurz darauf veröffentlichte der »Spiegel« einen süffisanten Artikel zu der Affäre.52 Der »Spiegel« breitete viele skurrile Details aus der BAU aus und nannte dabei auch den Abschluss von Werkverträgen für die SAFA. In einem zweiten »Spiegel«-Artikel im Herbst 1982 verwies sogar die Überschrift »Das Buschgespenst« auf ein Karl-May-Buch, das für die SAFA beschafft worden war und nicht auf den ersten Blick mit dem Arbeitsschutz-Thema in Verbindung gebracht werden konnte.53 Das Fass zum Überlaufen brachte Anfang Juli die Information, Hagenkötter habe eine Festschrift zu seinem 50. Geburtstag im Rahmen der »Dortmunder Humanisierungstage« finanzieren lassen wollen. Das zuständige Referat im BMA vermerkte: »Das jetzt bekanntgewordene Vorhaben ›Festschrift Hagenkötter‹ hat den Rest von Vertrauen zerstört, selbst wenn es nicht verwirklicht wird; denn es bleibt einfach die Absicht festzuhalten, daß der BMA erneut hinters Licht geführt und Steuermittel für ›persönliche Huldigungen‹ des Präsidenten der BAU eingesetzt werden sollten.«54
Im Juli 1982 wurde Manfred Hagenkötter als Präsident der BAU vom Dienst suspendiert. Damit verlor die SAFA ihren zentralen Mentor. Mindestens ebenso verheerend dürfte es sich ausgewirkt haben, dass die SAFA nun als schwieriges, ja gefährliches Terrain gelten musste. Insofern stand das Projekt in der ernsten Gefahr, vollständig zu scheitern. Die Überlegungen, die Krankenhagen dem neuen Präsidenten Wolfram Jeiter im Sommer 1982 vorlegte, sollten wohl nur noch retten, was zu retten war. Die großen Pläne und Perspektiven der vergangenen Jahre waren verschwunden.55 Im September sprach das Fachreferat des BMA nur noch von einer »Ausstellung in kleinem Umfang« und sah als »wesentliche Aufgabe […], begleitend für Seminare und Kurse im Rahmen der Ausund Fortbildungsaktivitäten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung zu dienen«.56
52 Vgl. Anonym: Schlimme Sache, 1982. 53 Anonym: Buschgespenst, 1982. 54 Vermerk des Referats IIIbz, 5.7.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139809, S. 2. 55 Vgl. Erste Planungsüberlegungen für die Ständige Ausstellung, 24.8.1982, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1094, mit handschriftlichem Vermerk »Nur zur Diskussion mit MR Jeiter am 24.8. bestimmt«. 56 Vermerk Referat IIIb7 an StS Egert, 15.9.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139988, S. 4. Anlass der Darstellung waren Bestrebungen Walter Mompers als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, eine Zweigstelle der SAFA in den alten Museumsräu-
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In dieser Krise der BAU stand auch das Bundeszentrum zur Disposition, wobei jedoch eher behördeninterne Vorgänge die weitere Entwicklung bestimmten, nicht aber der Regierungswechsel vom Herbst 1982.57 So führte das zuständige Referat des BMA im Dezember 1982 noch ganz selbstverständlich das Zentrum für die Humanisierung des Arbeitslebens an, um die fortbestehende Kritik an mangelnder Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis zu entkräften, verwies aber schon auf die nun erheblich kleinere Dimension dieser Einrichtung: »Stand: 9 Mitarbeiter« statt der vorgesehenen 120.58 Der neue Bundesarbeitsminister Nobert Blüm selbst bezog sich ebenfalls noch im Februar 1983 auf das avisierte Bundeszentrum.59 Von der Akademie blieb am Ende, mit der zum 1. August 1983 umgesetzten Neuorganisation der BAU, nur noch eine von sechs Abteilungen übrig (»Forschungsanwendungen«). Über die Ständige Ausstellung berichtete Präsident Jeiter dem SAFAFachausschuss im Mai 1983, dass sie zwar im Sommer 1982 »zur Disposition« gestanden habe, aber eine »Schließung konnte abgewendet werden«. Es gehe derzeit lediglich um eine Verkleinerung und Streckung des Vorhabens.60 Die Neuorganisation vom August stutzte den bisherigen »Teilbereich SAFA«, der di-
men zu initiieren. Offenbar hatte Hagenkötter auch hierzu bereits mit dem Gründungsdirektor des Museums für Verkehr und Technik, des heutigen Deutschen Technikmuseums in Berlin, in Kontakt gestanden. Vgl. Vermerk Referat IIIb7, 26.4.1983, BArch Koblenz, Sign. B 149/139988. 57 Lediglich in einer grundsätzlichen Stellungnahme des Referats IIb7 vom 31.1.1983 findet sich ein indirekter Seitenhieb gegen die ehemals sozialdemokratische Hausspitze bzw. die abgelöste Bundesregierung. Es werden die durch den BRH-Bericht benannten Probleme der BAU genannt, darunter auch, dass diese von Hagenkötter sehr »eigenständig und eigenverantwortlich« geführt worden sei: »Das war politisch so gewollt«. BArch Koblenz, Sign. B 149/139811. 58 Vermerk des Referats IIIb7 an Parlament. Staatssekretär Vogt, 7.12.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139578, S. 4f. 59 Vgl. Schreiben Blüms an Walter Althammer, 23.2.1983, BArch Koblenz, Sign. B 149/139579, S. 2. 60 Ergebnisniederschrift. Vierte Sitzung des Fachausschusses »Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz des Kuratoriums der BAU«, 17.5.1983, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1410, S. 4. Im November 1983 wurde dann der Fachausschuss aufgelöst mit dem Hinweis auf die Neuorganisation der BAU, die auch das bisherige Kuratorium und seine Fachausschüsse einschloss, vgl. Schreiben des Vorsitzenden des Kuratoriums bei der BAU an die Mitglieder des Fachausschusses SAFA, 4.11.1983, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1410.
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rekt dem Präsidenten berichtete, zur kleinen »Gruppe 2« innerhalb der »Abteilung 6 Information«.61 Im Erlass des BMA über die BAU vom 15. September 1983 aber fehlte jeder Hinweis auf eine Ausstellung ebenso wie auf ein Humanisierungszentrum. Die BAU sollte zwar weiterhin die praktische Anwendung von Forschungsergebnissen unterstützen, aber das bezog sich nur noch auf die eigene Forschung bzw. Entwicklung von »Problemlösungen«.62 Zum April 1984 wechselte der verantwortliche wissenschaftliche Mitarbeiter Krankenhagen nach Hamburg, um dort das Museum der Arbeit aufzubauen. Vermutlich sah er in Dortmund keine Perspektive mehr.63
NEUBEGINN ALS CHEFSACHE Umso überraschender kamen die Ereignisse im Herbst 1984. Die für die BAU zuständige Abteilung III des BMA schlug unvermittelt Minister Norbert Blüm vor, den Aufbau der SAFA fortzusetzen und insbesondere für sie ein Gebäude am Standort der Bundesanstalt in Dortmund-Dorstfeld zu errichten.64 Blüm dürfte dem zugestimmt und das weitere Vorgehen auch politisch abgestimmt haben – womöglich sogar bereits im Vorfeld –, denn schon im Oktober bat der Bundestagsausschuss für Arbeit und Sozialordnung den Haushaltsausschuss einstimmig, zusätzliche Mittel für die SAFA zu bewilligen. Der Haushaltsausschuss unterstützte grundsätzlich die Pläne und bat auf Antrag von CDU/CSU und FDP um
61 Die Überlegungen lassen sich detailliert nachvollziehen in BArch Koblenz, Sign. B 149/139856 bis B 149/139859. Noch im Juni 1982 hatte Hagenkötter die organisatorische Sonderstellung der SAFA verteidigt, u.a. mit dem Argument, so könne eine finanzielle Beteiligung des Landes NRW angebahnt werden. Vgl. Schreiben der BAU (gez. Hagenkötter) an das BMA, 28.6.1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/139851, S. 22; BAU-Organigramm Juni 1986, BAuA. 62 Erlass des BMA für die BAU vom 15. September 1983, in: Bundesarbeitsblatt 10/1983, S. 103. 63 Krankenhagen hatte allerdings auch 1983 am Ausstellungskonzept weitergearbeitet, vgl. Vermerk Gruppe 6.2, 16.12.1983, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430. 64 Vgl. Vermerk des BMA, Abteilung III an Minister, 24.8.1984, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 8. Der Vermerk geht explizit auch auf die vom BRH gerügten Mängel ein, die »rasch abgestellt« worden seien. Außerdem sei die SAFA nicht mehr direkt dem Präsidenten unterstellt, sondern in eine andere Abteilung »eingebunden« und auch im Erlass für die BAU vom 15.9.1983 nicht mehr erwähnt (S. 3).
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eine Ausstellungskonzeption und die Berechnung der erforderlichen Mittel für den Bundeshaushalt 1986.65 Es ist bemerkenswert, dass die SAFA diese Unterstützung erhielt, aber in den Überlegungen zum Transfer von Ergebnissen des Programms Humanisierung der Arbeitswelt nicht mehr auftauchte. Vermutlich wurde sie bewusst dort herausgehalten. Über die Gründe dafür kann man beim derzeitigen Forschungsstand nur spekulieren. Möglicherweise war die SAFA zu sehr der frühen Ausrichtung des Programms verhaftet und fügte sich in den veränderten inhaltlichen Rahmen nicht mehr ein. Denkbar ist auch, dass die Ausstellung eher als persönliches Projekt Blüms forciert wurde und er auf diese Weise zusätzlichen Abstimmungsund Diskussionsbedarf vermeiden wollte. In diesem Fall wäre es sogar nützlich gewesen, dass das »Humanisierungszentrum« ad acta gelegt worden war. Anscheinend benötigte das Projekt SAFA keine Begründung durch eine Verbindung zu größeren Projekten bzw. umfassenderen politischen Zielsetzungen. Die BAU lieferte dem Haushaltsausschuss die gewünschten Unterlagen im Frühjahr 1985 und nahm darin auch Hagenkötters Vorstellung der Rolle innerhalb des HdA-Programms wieder auf: »Die SAFA soll […] die Anwendung von Forschungsergebnissen in der Praxis aktiv unterstützen.«66 Die Darstellung legte die wesentlichen Ausstellungsbereiche fest, die in ihren Grundzügen schon 1982 skizziert worden waren und die dann auch weitgehend umgesetzt wurden: »Büroarbeit«, »Stahlerzeugung und -verarbeitung«, »Textilherstellung«, »Umgang mit gefährlichen Stoffen«, »Baugewerbe«, »Druckerei« und »Gesundheitswesen«. Nicht zum Tragen kam später dagegen ein in Betracht gezogener Ausstellungsteil zur »Kleinserienfertigung«.67
65 Vgl. Haushaltsausschuss, Arbeitsunterlage für die Sitzung am 7.11.1984, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430. Blüm kandidierte als Direktkandidat für den Wahlkreis Dortmund III. 66 Schreiben des BMA, Abteilung IIIb an Minister Blüm, 20.3.1985, Konzeption für eine Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz, 20.3.1985, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 1. In dem Konzept findet sich eine Idee, die weder vorher noch nachher auftaucht: »Die Industrie soll hier [in der SAFA] in wechselnden Ausstellungen ihre neuesten, nach modernen Erkenntnissen gestalteten Erzeugnisse vorstellen« (S. 1). 67 Schreiben des BMA, Abteilung IIIb an Minister Blüm, 20.3.1985, Konzeption für eine Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz, 20.3.1985, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430, S. 3f. Krankenhagen hatte diese Inhalte bereits Anfang 1982 erarbeitet und um die Kraftwagen- oder Elektrogeräteproduktion erweitert, vgl. Konzeptionspapier für die Planung der SAFA, Januar 1982, BArch Koblenz, Sign. B 149/41411, S. 16-18.
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Bereits vier Wochen später konnte das BMA die Zustimmung Blüms mitteilen.68 Damit war der Weg frei und die Konzeptions- und Planungsarbeiten konnten weiter gehen. Faktisch hatte sich das Projekt der SAFA vom Programm »Humanisierung des Arbeitslebens« abgelöst. Der »Transfer« wurde als Leitidee zwar weiterhin mitgeführt, war aber nicht mehr von absolut existenzieller Bedeutung, sodass auch die Zielgruppenbestimmung neu diskutiert und womöglich auch verändert werden konnte.
BAU- UND AUFBAUPHASE Im Oktober 1985 legte eine Arbeitsgruppe mit Teilnehmern des BMA, der BAU, der Oberfinanzdirektion Münster und des Finanzamtsbauamtes Dortmund ein umfassendes »Ausstellungstechnisches Gutachten« vor, das einen echten Meilenstein darstellte. Während die Auswahl der Themenfelder die Überlegungen des SAFA-Teams der zurückliegenden Jahre aufnahm,69 ging die didaktische Ausrichtung deutlich über die bisherigen Ansätze hinaus. Die letztlich bis heute gültige Idee der SAFA war es, »eine bildungsaktive Ausstellung« zu sein, deren Zweck unter anderem darin besteht, Bildungsveranstaltungen durch praktische Anschauung zu ergänzen. Unter Anschauung wurde dabei verstanden, die Exponate nicht nur anfassen oder betrachten zu können, sondern vielmehr »aktives Handeln« der Besucher, also die »Handhabung von Arbeitsmitteln […] durch Ingangsetzen von Bewegungsabläufen an Modellen und Demonstrationsanordnungen. Ziel ist das Lernen durch Erleben«.70 Damit wurden die Zielgruppen der Ausstellung erneut in Richtung eines ›normalen‹ Museums verschoben. Die SAFA richtete sich nicht mehr zentral an Experten, sondern knüpfte »bei Interessen und Bewußtseinsstand des breiten Publikums« an und sollte in diesem
68 Vgl. Schreiben des BMA, Abteilung IIIb7 an BAU, 19.4.1985, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1430. 69 Vgl. Ausstellungstechnisches Gutachten, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 28. 70 Ebd., S. 19. Wie die Skizze auf dem Vorblatt belegt, war selbst die spätere Gestalt des Ausstellungsgebäudes schon erarbeitet worden. Rainer Thiehoff: Personalplanung Deutsche Arbeitsschutzausstellung, 20.7.1990, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 9, behauptet dagegen eine Kontinuität seit 1980: »Im Laufe des Prozesses wurde an der Umsetzung der Leitidee jedoch festgehalten, keinen unbelebten Ausstellungsbetrieb, sondern einen ›interaktiven Lernort‹ zu konzipieren.« Die hier zitierten umfangreichen Texte sowie Gerhard Kilger: Deutsche Arbeitsschutzausstellung. Gesamtkonzeption März 1990, Handakte Holtwick.
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Kontext auch »Probleme und Interessen der Arbeitsschutzfachleute integrieren«.71 Bemerkenswert erscheint insbesondere, dass all diese langfristig prägenden Entscheidungen ohne eine formelle Museumsleitung und ohne museumswissenschaftliche Expertise getroffen wurden.72 Die Leitung der innerhalb der Abteilung 6 (Information) verantwortlichen Gruppe 6.2 blieb vakant. Erst im Frühjahr 1986 übernahm Michael Dauskardt diese Funktion, gab sie aber bereits im Herbst 1987 wieder ab. Der offizielle Spatenstich für das Ausstellungsgebäude, den Arbeitsminister Blüm am 14. Dezember 1986 vornahm, bot dann endlich eine Gelegenheit, mit positiven Schlagzeilen an die Öffentlichkeit zu treten. In den Presseberichten in diesem Umfeld tauchte auch erstmals seit langem wieder die »Humanisierung« auf: Die SAFA werde »ein Novum für die Vermittlung von Arbeitsschutz und der Humanisierung des Arbeitslebens«, denn sie diene dazu, »in Form attraktiver und erlebnisnaher Ausstellungen« diese Ideen »im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu verankern«.73 Im April 1987 konnte dann die Presse über eine neue Bezeichnung für die SAFA berichten: »Den endgültigen Namen gab Bundesarbeitsminister Norbert Blüm: ›Deutsche Arbeitsschutzausstellung‹«, abgekürzt als DASA. Sein Vorschlag wurde mitgetragen von einem Beirat, der Arbeitgebervertreter und Gewerkschafter umfasste, was die Bedeutung des Ausstellungsprojektes unterstrich.74
71 Ausstellungstechnisches Gutachten, BAuA/DASA, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 7. 72 Für die BAU beteiligten sich an der Arbeitsgruppe offenbar vor allem die Herren Bickendorf, Rziha, Haselhorst und Paduch, vgl. Teilnehmerlisten zu den Sitzungsprotokollen, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1415. Die Bauplanung übernahm das Finanzbauamt Dortmund, konkret Wilhelm Teigelkötter, vgl. diverse Baupläne, BAuA/DASA, Sign. Nr. 0307. 73 Zeitungsausschnitt »Dortmunder Bekanntmachungen« (ohne Angabe der Zeitung), 5.12.1986, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1415. 74 Zeitungsausschnitt Bild-Zeitung, 24.4.1987, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1415. Sorgfältiger formuliert in der offiziellen Pressemitteilung, 23.4.87: »Die endgültige Namensbezeichnung […] erfolgte auf Vorschlag von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Der Beirat der Bundesanstalt, in dem Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Länder vertreten sind, hat sich bereits einmütig für die neue Bezeichnung ausgesprochen«. Bereits im Sommer des Vorjahres hatten BMA und BAU im Rahmen eines der alljährlichen Fachaufsichtsgespräche die Namensgebung erörtert. Dauskardt bevorzugte in Rückgriff die Vorläufereinrichtung in Berlin »Deutsches Arbeitsschutz-Museum«.
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Es dauerte noch bis zum Mai 1988, bis mit Gerhard Kilger ein neuer Leiter gefunden wurde. Mit ihm begann auch die Erweiterung des Mitarbeiterstabes (auf zunächst fünf Kuratoren),75 sodass eine zielgerichtete und schnelle Arbeit möglich wurde. Entsprechend optimistisch präsentierte Kilger seine Planungen im Beirat der BAU und rechnete mit einer Fertigstellung der mittlerweile zehn vorgesehenen Ausstellungseinheiten bis Ende 1993.76 Im März 1990 legte er dann die Konzeption vor, die zur Grundlage aller weiteren Planungen, nicht zuletzt auch der Personalausstattung wurde. Dieses »Gesamtkonzept« rekurrierte erstmals seit Hagenkötters Ägide wieder auf die Programme der Bundesregierung, auf »Arbeit und Technik«, dem Nachfolgeprogramm des seit 1974 geförderte und 1989 beendeten Programms »Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens«. »Für die im Mittelpunkt des neuen Programms stehenden Menschen«, so Kilger, »sind der Schutz der Gesundheit durch Abbau und Abwehr gefährdender Belastungen sowie die menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Technik die zentralen Ziele«.77 Es gehe insbesondere um »eine vorbeugende Gestaltung von Arbeit und Technik«.78 Die Aufgabe der Ausstellung sah Kilger darin, »sowohl eine breitere Öffentlichkeit als auch ein höheres Maß an Akzeptanz und persönlicher Motivation zu erreichen« und »den Arbeitsschutzgedanken neben Themen wie Umweltschutz, […] Sozialver-
Das kam aber angeblich aus »verfassungsrechtlichen Gründen« nicht in Frage, da es als Eingriff des Bundes in die Kulturhoheit der Länder hätte verstanden werden können. »Denkbar ist jedoch, daß Minister Blüm […] als neuen Namen für die Ausstellung ›Deutsche Arbeitsschutz-Ausstellung‹ verwendet« (Vermerk Referat IIIb7, 21.8.1986, Fachaufsichtsgespräch v. 18.8.1986, BArch Koblenz, Sign. B 149/ 139808). Es dauerte faktisch noch bis zum Jahreswechsel 1987/88 bis die Bauarbeiten wirklich begannen, vgl. Schreiben der BAU an die Nachbarn, 20.2.1988, BAuA/DASA Nr. 627. 75 Vgl. Rainer Thiehoff: Personalplanung Deutsche Arbeitsschutzausstellung, 20.7.1990, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 24. 76 Vgl. Anlage 2 »Vorstellen der Konzeption der DASA« zur Ergebnisniederschrift der 9. Sitzung des Beirates bei der BAU am 11.11.1988, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1097, S. 7. 77 Gerhard Kilger, Deutsche Arbeitsschutzausstellung. Gesamtkonzeption März 1990, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 16. Eine Einordnung in die Museums- und Ausstellungslandschaft bietet Graf: Museen, 1993. 78 Gerhard Kilger, Deutsche Arbeitsschutzausstellung. Gesamtkonzeption März 1990, BAuA/DASA, Handakte Holtwick, S. 16.
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träglichkeit etc. zu rücken« und »in das alltägliche Bewußtsein einzubringen«.79 Das »Gesamtkonzept« bot keine deutliche Priorisierung der verschiedenen anzusprechenden Gruppen, sondern addierte sie eher und hob vor allem »die Lernenden und Lehrenden aller Bildungsstufen – von der Vorschule bis zur Erwachsenenbildung«80 hervor. Diese überaus ambitionierten Ziele sollten mit einem umfangreichen Instrumentarium erreicht werden. Vorgesehen waren z.B. »Lernmodelle, Lebensräume, Inszenierungen, […] Informationsinseln, didaktische Modelle und Grafiken, Simulationen«, aber auch »Zeichnungen und Malerei«.81 Das Gesamtkonzept sah im Hinblick auf den weiteren Ausbau der Ausstellung und auf künftig zu behandelnde Themen auch den Aufbau einer umfangreichen Sammlung vor, aus der man bei Bedarf würde schöpfen können. Gesammelt wurde faktisch bereits seit 1980, hier wurde diese Aufgabe aber erstmals ausführlich und konzeptionell begründet.82
GRENZEN DER KREATIVITÄT Das »Gesamtkonzept« barst beinahe unter der Überfülle von kreativen Ideen und Möglichkeiten. In harschem Kontrast dazu kontrastierte der mühsame Prozess der Konkretisierung und Planung der Ausstellungseinheiten. Möglicherweise hatte das auch mit Widerständen in der BAU selber zu tun. Auf solche verweist etwa die Äußerung des Leiters der Abteilung 3, Wölcke, der im Gespräch mit dem BMA-Abteilungsleiter Woltzke durchblicken ließ, dass »er das Mittel der Ausstellung hinsichtlich seines Nutzens skeptisch einschätzt«. 83 Zunächst rief BAU-Präsident Jeiter eine »Arbeitsgruppe DASA« ins Leben, die aus Kilger und drei weiteren BAU-Führungskräften bestand. Diese sollte den Präsidenten beraten, die Kooperation im Haus sichern und auch Steuerungsfunk-
79 Ebd., S. 32f. 80 Ebd., S. 104. 81 Ebd., S. 10. 82 Ebd., S. 80-84. Vgl. Vermerk Gernot Krankenhagens, Sachstand und zu lösende Probleme im Teilbereich Ständige Ausstellung, 17.8.1982, BAuA/DASA, Sign. Nr. 1094, S. 4-5, wo die bisherige Sammeltätigkeit erläutert und auch auf den erfolgten Ankauf von Kunstwerken verwiesen wird. 83 Vermerk Referat IIIb7, 4.3.1988, BArch Koblenz, Sign. B 149/139808, S. 3.
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tionen ausüben.84 Grundsätzlich sollte die DASA die »fachlichen Vorgaben« der übrigen BAU-Abteilungen umsetzen. Externe Fachleute konnten zur Beratung hinzugezogen werden.85 In der weiteren Arbeit gründete die Arbeitsgruppe DASA unter Leitung Jeiters Arbeitskreise, die sich um einzelne Ausstellungsbereiche kümmern sollten. Allein beim Thema »Büro und Verwaltung« gehörten dazu beispielsweise neun Personen. Die Arbeitsgruppe organisierte ihre Tätigkeit sehr formalistisch und selbst die spröden Protokolltexte lassen noch die Konflikte erahnen, die sich bei den Beratungen abspielten. Anscheinend ging es im Wesentlichen darum auszuhandeln, wer welche Entscheidungsbefugnisse für sich etablieren konnte.86 Gerade auch die Ausstellungstexte standen unter besonderer Beobachtung. Es wurde ein sogenanntes »Textbüro« eingerichtet. Allein drei Vertreter des BMA korrigierten alle Texte im Detail und gaben sie auch endgültig frei. Hinzu kam als externer Fachmann der pensionierte Leiter des westfälischen Gewerbeärztlichen Dienstes, Professor Theodor Peters.87 Angesichts hunderter gedruckter Texte und einer Vielzahl an zu prüfenden Audioaufnahmen dürfte dieses Verfahren große Personalressourcen gebunden haben und erscheint für Ausstellungen als äußerst ungewöhnlich. Das gilt umso mehr, als ein Bundesministerium nicht über die personellen Ressourcen und das Know-how verfügt, um die praktische Arbeit nachgeordneter Dienststellen kleinteilig zu überwachen oder zu leiten.88 Der Aufwand zur Prüfung und Abstimmung aller Details der Ausstellung ging über das im Museumsbereich übliche Maß an Qualitätssicherung deutlich hinaus, sodass nach den Ursachen und Motiven dafür zu fragen ist. Es drängt sich der Eindruck eines profunden Misstrauens des BMA gegenüber dem Medium Ausstellung allgemein und dem Aufbau der DASA im Besonderen auf.
84 Vgl. Anhang zur Kurzmitteilung, 26.6.1989 (Auszug aus Monatsgespräch v. 26.4.1989), BAuA/DASA, Sign. Nr. 746. 85 Protokoll der AG DASA Sitzung, 26.6.1989, BAuA/DASA, Sign. Nr. 746, S. 2-3 – »Die Befragung der Fachwissenschaftler auf der einen Seite und deren Unterstützung auf der anderen Seite erfolgt jeweils über den Dienstweg.« (S. 3). 86 Vgl. Ergebnisprotokoll der 5. Arbeitssitzung am 7.8.1989, BAuA/DASA, Sign. Nr. 746, S. 1. 87 Vgl. Einzelvorgänge in BAuA/DASA, Sign. Nr. 767. 88 Das dürfte auch eher der Grund sein, warum vom BMFT die Deutsche Forschungsund Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt als Projektträger ausgewählt wurde und nicht, »um der etwas trägen und in ihrer Arbeitsweise eingefahrenen Ministerialbürokratie ein Stück weit zu entkommen«, wie Seibring: Humanisierung, 2011, S. 109, vermutet.
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Gleichzeitig lässt sich dieser Steuerungsaufwand wohl auch als Ausdruck einer großen Unsicherheit begreifen. Für die BAU wie für das BMA war das Ausstellungsgeschäft unbekanntes Terrain – noch dazu konnte weiterhin die Sorge bestehen, man bewege sich angesichts der ›Hagenkötter-Affäre‹ in einem dienstrechtlichen Minenfeld. Gegenüber dieser erheblichen behördlichen Kontrolle dem Sachverstand von Museumsexperten Geltung zu verschaffen, war zweifellos ein bemerkenswerter Kraftakt. Unter politischem Beschuss scheint die DASA dagegen nicht gestanden zu haben, zumal sie sowohl von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm als auch vom Dortmunder SPD-Abgeordneten Hans Urbaniak protegiert wurde.
SCHRITTWEISE FERTIGSTELLUNG Immerhin gelang es bis 1993, den ersten Teil der DASA fertigzustellen, konkret die Ausstellungseinheit »Am Bildschirm«. Am 22. Januar 1993 stellte Arbeitsminister Norbert Blüm diese in Verbindung mit der Abschlussveranstaltung zum »Europäischen Jahr für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz« zunächst der Fachwelt vor.89 Das Bundesarbeitsministerium bewertete die Ausstellung als »neues Element zur Verdeutlichung des Arbeitsschutzgedankens«.90 Für die BAU und im Einklang mit dem BMA formulierte ein leitender Mitarbeiter der DASA: »Auf breiter Front müssen sowohl das Bewußtsein für die Bedeutung des Arbeitsschutzes geschärft als auch die Ziele und Möglichkeiten des Arbeitsschutzes publik gemacht werden.«91 Hier stand also ganz die Breitenwirkung im Blick, wobei die Fachleute immer unter den Zielgruppen mit genannt wurden und auch innerhalb der Ausstellung ein eigenes »Hörprogramm« per Kopfhörer bekamen.92 Bis zum Herbst wurden zwei weitere Ausstellungsbereiche komplett fertiggestellt, die am 7. November 1993 für das Publikum geöffnet wurden.93
89 Vgl. Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Nr. 1 v. Januar 1993, S. 13. 90 Zumdick: Greifen, 1993, S. 8. 91 Ebd. Die Reden am 22.1.1993 finden sich paraphrasiert in: Europäisches Arbeitsschutzjahr: Nicht Schlußpunkt sondern Auftakt, in: sicher ist sicher, Nr. 3 v. März 1993, S. 149-151. 92 Zumdick: Greifen, 1993, S. 9. 93 Rolf Pfeiffer: Hänschen in der Stresskammer, in: Ruhr Nachrichten Nr. 259 vom 6.11.1993.
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Das Publikumsinteresse war zunächst groß, wenn auch der Bundesrechnungshof im Frühjahr 1994 gleich bemängelte, die DASA sei in den ersten beiden Eröffnungsmonaten hinter dem selbst gesteckten Ziel von mindestens 560 Personen pro Öffnungstag zurückgeblieben. Insofern war die DASA von Beginn an gehalten, ihr Bestehen auch durch eine möglichst hohe Besucherzahl zu rechtfertigen. Qualitative Kriterien für den eigenen Erfolg spielten dagegen kaum eine Rolle. Der endgültige Ausbau der DASA schritt in den nächsten Jahren voran, wobei den entscheidenden Impuls zur Fertigstellung die Weltausstellung in Hannover lieferte. Um die DASA pünktlich zur »Expo2000« fertig zu stellen, und damit drei Jahre früher als geplant, erhielt die Dortmunder Ausstellung zusätzliche Bundesmittel. Offiziell wurden die Hochbaukosten auf 76 Millionen DM beziffert, der Innenausbau auf 54 Millionen DM.94
IM NORMALBETRIEB Die »Initiative Neue Qualität der Arbeit« (INQA) bot die Chance, auch nach der Eröffnung die besondere Relevanz der DASA zu begründen. Gegründet 2002 vom Bundesarbeitsministerium unter Walter Riester sollten Bund, Länder, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Versicherungen, Firmen und weitere Interessenten im Rahmen von INQA gemeinsam neue praxisorientierte Ideen entwickeln, um die Qualität der Arbeit zu verbessern.95 Diese Ausrichtung ließ sich durchaus mit den Überlegungen in Einklang bringen, die zur Gründung der DASA geführt hatten. Deshalb überrascht es nicht, dass BAU-Präsident HansJürgen Bieneck die Gelegenheit nutzte und die DASA zwei Jahre nach der Eröffnung in einen engen Bezug zu INQA rückte und dazu einen eigenen Aufsatzband herausgab. Das gerade fertiggestellte Ausstellungshaus sei »der richtige Ort für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Fragen des Arbeitslebens; eine Plattform also, die nicht nur Bewusstsein und Aufklärung nach außen trägt, sondern unterschiedliche Standpunkte aufnimmt und den Dialog fördert.«96
94 Vgl. Anonym: Der letzte Vorhang wird gelüftet, in: WAZ vom 22.1.2000. 95 Zu den Zielen von INQA vgl. Riester: Qualität, 2002; Anzinger: Initiative, 2002; allgemein zum Kontext von INQA vgl. Lepperhoff: Qualität, 2011; Richter/Sieker: INQA, 2017. 96 Bieneck/Kilger: Vorwort, 2002, S. 6.
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Die Aufgaben, die sich in der alltäglichen Arbeit der DASA stellten, waren weniger strategisch-politischer, als ganz praktischer Art. Dazu gehörte die Erzielung von Einnahmen, die der Bundesrechnungshof der DASA nach der vollständigen Fertigstellung im Jahr 2000 ins Stammbuch schrieb. Seit 1. April 2004 erhob die DASA tatsächlich Eintrittsgelder, eine Maßnahme, der grundlegende Bedeutung zukam. Tatsächlich fiel denn auch die Besucherzahl um fast 15 Prozent und überschritt erst 2016 wieder die Marke von 200.000. Der Erlass des BMA für die BAU vom 22. Januar 2009 ließ schließlich den Transfer von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die Praxis als Aufgabe der DASA fallen und griff dafür wieder den von Hagenkötter geprägten Begriff der »bildungsaktiven Einrichtung« auf. Als solche sollte die DASA seitdem »die Öffentlichkeit über die Arbeitswelt, ihren Stellenwert für Individuum und Gesellschaft sowie über die Bedeutung menschengerechter Gestaltung der Arbeit« aufklären.97 Die Idee zur Gründung einer Arbeitsschutzausstellung entsprang direkt dem Programm zur »Humanisierung des Arbeitslebens«. Spätestens 1984/85 löste sich der Aufbau der DASA aber davon und folgte einer eigenen Rationalität. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die DASA 30 Jahre nach ihren Anfängen auf diese Weise zu ihren Wurzeln zurückkehrte. Möglicherweise war es gerade die kaum lösbare Herausforderung, sowohl für Fachleute als auch für ein breites und heterogenes Publikum attraktiv zu sein, die zum bemerkenswert konstanten, eher wachsenden Besucherinteresse beitrug, das sich auch weiterhin noch auf die Dauerausstellung richtet. Ganz sicher war es dafür entscheidend, dass sich die DASA aber letztlich doch erfolgreich auf »die Öffentlichkeit« konzentrieren konnte. Hier ist sie ganz vergleichbar den technikhistorischen oder industriegeschichtlichen Museen, hebt sich aber durch den Fokus auf die Gegenwart und aktuelle Problemlagen ab sowie durch den bereits in der Gründungsphase festgeschriebenen aktions- und erlebnisorientierten Ausstellungsansatz. Trotzdem etablierte sich die DASA als Ausstellungshaus für ein breites Publikum, wobei Schulklassen mittlerweile etwa die Hälfte der Besucherinnen und Besucher ausmachen. Formal blieb die 1996 gefundene doppelte Aufgabenzuschreibung für die DASA erhalten und wurde im Erlass des BMAS vom 14. Januar 2002 wiederholt.98
97 Erlass des BMA über die BAU vom 22. Januar 2009, in: Bundesanzeiger vom 17.2.2009, S. 563; vgl. die identischen Formulierungen im Erlass des BMA über die BAU vom 27. Juni 2013, in: Bundesanzeiger vom 17.7.2013, S. 1, als letztgültige Fassung. 98 Bundesarbeitsblatt 4/2002, S. 50.
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Gesellschaftlicher und kultureller Wandel im Kontext der Humanisierung
Aporien der Anpassung Zur Humanisierung durch Bildung im »Strukturwandel« der Arbeit Jan Kellershohn
BERUFLICHE QUALIFIKATION UND HUMANISIERUNG DER ARBEIT Als 1952 die deutsche Übersetzung der 1946 auf Französisch publizierten Dissertation des Soziologen Georges Friedmann, Der Mensch in der mechanisierten Produktion, erschien, enthielt sie ein bereits 1939 geschriebenes Kapitel über Berufsausbildung. Darin diagnostizierte Friedmann den »Beginn einer humanistischen Entwicklung« (»un début d’évolution humaniste«), eines »Humanismus der Arbeit« (»humanisme du travail«) seit der Zwischenkriegszeit.1 Die Berufsschule müsse sich folglich auch weiterhin »um die Versöhnung der wirtschaftlichen und der pädagogischen Notwendigkeit« bemühen.2 Sie müsse »gebildete Jugendliche heranziehen, die allgemeine Eignungen […] haben«, die sie auf die »Berufsverlagerungen« der Gegenwart und der Zukunft vorbereiteten.3 In diesem Zitat offenbart sich ein Versprechen, das im Erklärungsrahmen des Strukturwandels4 eine herausragende Bedeutung entfalten sollte: die Vision,
1
Friedmann: Mensch, 1952, S. 248-249; ders.: Problèmes, 1954, S. 232-233. Für Anregungen und Kritik danke ich Jonas Fischer, Christopher Kirchberg, Alina Marktanner, Moritz Müller und Daniel Trabalski.
2
Friedmann: Mensch, 1952, S. 249.
3
Ebd.
4
Unter Strukturwandel wird hier ein Diskurs verstanden, über den das Verhältnis von Qualifikation, Arbeit und Zukunft verhandelt wurde.
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Probleme der Arbeitswelt durch Berufsausbildung zu bewältigen und zu einer »Humanisierung der Arbeit« (»les aspirations vers un humanisme du travail«) beizutragen.5 Für die Geschichte des Programms zur Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) der Jahre von 1974 bis 1989 verweist dieses Beispiel aus der beruflichen Qualifikation – unter die sich Teile der HdA-Projekte subsummieren lassen6 – auf eine bisher wenig beachtete Vorgeschichte des Humanisierungsbegriffs.7 In ihrem 2016 publizierten Forschungsbericht zum HdA-Programm verfolgt Nina Kleinöder die Maßnahmen der 1970er-Jahre in die späten 1950er- und 1960erJahre zurück. Insbesondere identifiziert sie die »Human-Relations«-Bewegung, den »Wertewandel«, die Neuorientierung der Sozialpolitik unter der sozialliberalen Koalition sowie die Rationalisierungs- und Automationsdebatten der Nachkriegszeit.8 Eine weitere Vorgeschichte, die in diesem Beitrag ausgeleuchtet wird, liegt in der beruflichen Ausbildung. Wenn Friedmann also reklamierte, die Berufsausbildung werde »die unaufhörliche Zerstörung und den neuen Aufbau der Berufselemente durch die technischen und wirtschaftlichen Veränderungen« ausgleichen,9 deutet dies auf die enge, aber uneindeutige Verbindung zwischen Humanisierung der Arbeit durch Bildung einerseits sowie Rationalisierung andererseits hin. Wie lässt sich dieses Verhältnis für die Berufsbildung historisch exakter fassen? Karsten Uhl etwa schlägt vor, unter Humanisierung »Konzepte und Praktiken« zu verstehen, bei denen es darum ging, herauszufinden, »inwieweit die Arbeit(sumwelt) an den Menschen angepasst werden könne«.10 Diese Gegenüberstellung von einer Anpassung des Menschen an die Arbeit (Rationalisierung) und einer Anpassung der Arbeit an den Menschen (Humanisierung) scheint für die betriebliche Produktion plausibel. Ob und inwieweit eine solche Komplementarität über den Betrieb hinaus für die seit dem späten 19. Jahrhundert wuchernden arbeitsbezogenen Infrastrukturen wie die Berufsausbildung feststellbar ist, ist Ausgangspunkt des vorliegenden Aufsatzes. Als Beitrag zu einer neuen Kulturgeschichte der Arbeit und als Vorgeschichte des HdA-Programms soll dieser Frage anhand des Beispiels der beruflichen Ausbildung nachgegangen werden. Humanisierung wird nicht als qualitatives Urteil, sondern als diskursive
5
Friedmann: Mensch, 1952, S. 251; ders.: Problèmes, 1954, S. 235.
6
Vgl. Seibring: Humanisierung, 2011, S. 110.
7
Siehe zum HdA-Programm den Beitrag von Stefan Müller in diesem Band.
8
Kleinöder: Humanisierung, 2016, S. 5-8.
9
Friedmann: Mensch, 1952, S. 249.
10 Uhl: Rationalisierung, 2014, S. 11.
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Zuschreibung – als Heranziehung des Menschlichen als Argument im Feld der Arbeit – verstanden. Wie verhandelten verschiedene Akteure und Akteurinnen eine Humanisierung der Arbeit in der Berufsausbildung in den bundesrepublikanischen und westeuropäischen Strukturwandeldebatten der 1960er- und 1970erJahre? Welche Rolle wurde Arbeitern und Arbeiterinnen zugesprochen, welche der Technik und was bedeutete dies für eine damit verbundene Anthropologie der Arbeit? Im Folgenden liegt der Fokus auf Vorstellungen und Semantiken. Ihre Anverwandlungen, Umsetzungen und Effekte bleiben weitgehend ausgeklammert. Diese Konzentration auf die Zuschreibungsebene ermöglicht es, anhand der Berufsausbildungsdebatten und -reformversuche in der westdeutschen Schwerindustrie der 1950er- bis frühen 1970er-Jahre drei Facetten des Humanisierungsbegriffs aufzuzeigen. Er wurzelte zunächst in der moralisch-holistischen Industrie- und Arbeitspädagogik der Nachkriegszeit, die sich nicht nur als Nachgeschichte des Zweiten Weltkrieges, sondern auch als Vorgeschichte der Dynamiken der Arbeitsmarktreformen der 1960er-Jahre lesen lässt. Im »Strukturwandel« der 1960er-Jahre wandelte sich diese Perspektive. Mit der lernpsychologischen Methode der programmierten Unterweisung eröffnete sich ein Weg, berufliche Qualifikation zu rationalisieren, um das Humane in der Arbeitswelt freizusetzen. Rationalisierung und Humanisierung bewegten sich also von einem komplementären zu einem synonymen Verhältnis, das die Technik aus einer Position der Antipode in das Herz der Bemühungen setzte. Zuletzt zog diese Hoffnung in der Umschulung nicht intendierte Folgen nach sich: Ausbildungsexperten und -expertinnen transformierten die Forderung nach einer Humanisierung durch Bildung in die Frage, wie und ob Arbeiter/-innen überhaupt »bildungsfähig« seien. Damit verschob sich, so die Kernthese des Beitrags, die Perspektive von der Kompensation der Pathologien der Industrie durch Bildung zu den Pathologien des Individuums in der Bildung für die Postindustrie.
HUMANISIERUNG UND MORALISCHER HOLISMUS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Im Jahr 1963 publizierte der Aachener Pädagoge Johannes Zielinski verschiedene Aufsätze und Vorträge, die er seit Ende der 1950er-Jahre geschrieben und gehalten hatte, neu. Unter dem Titel Humanisierung der Berufsschule widmete sich Zielinski der »Problematik der Berufsschule in der Gegenwart«.11 Ganz im Kon-
11 Zielinski: Humanisierung, 1963, Vorwort.
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text der Kultur- und Zeitkritik der 1950er-Jahre bezog er sich in einem Aufsatz, der auf einem Vortrag bei der 9. Landesarbeitstagung des Verbandes Bayerischer Berufsschullehrer in Regensburg im Jahr 1958 basierte, auf das in seinen Augen zentrale Problem der Gegenwart: den »Verfall der Berufsidee«.12 Der »›Job‹«, die »rein gesellschaftlich begriffene Funktion des Berufes«, habe »die ursprüngliche Funktion einer ethischen Dimension«, eines »Berufensein[s]« und die »Bewährung in diesem Ruf vor aller Welt, vor Gott und dem Menschen« ersetzt.13 Von den Berufsschullehrern und -lehrerinnen forderte Zielinski, dem Beruf »eine neue Bedeutung zu geben«.14 Ihm ging es darum, »das Ethos des Berufes neu zu fassen und es so zu fassen, daß daraus eine Rehumanisierung des Menschen möglich wird«.15 Diese Rehumanisierung bestehe darin, dem Auszubildenden »die Kräfte zu[zu]führen […], von denen aus das fehlende Menschliche zur Darlebung, zur Existenz, zur Realisierung gebracht werden kann«. Die »Kraftquellen« verortete er in »Religion, Moral, Sitte, Kunst, Politik, Recht und Wissenschaft«, oder, wie er es subsummierte, im »Geist«.16 Auch wenn seine Äußerungen sich auf die Berufsschule konzentrierten, wollte Zielinski die Arbeitswelt nicht aus den Bemühungen ausschließen. Einige Pädagogen und Pädagoginnen würden dies fordern, da sie die Arbeitswelt als »vollkommen inhuman, amenschlich, ja antimenschlich« betrachteten. Die Arbeits- und Berufspädagogik müsse weiterhin darauf hinarbeiten, »den ganzen Menschen zu seinem wahren und wirklichen Menschsein hinzuführen«. Diese Ganzheit, die an der Freizeit ansetzen könne, greife dann über »auf das große Ausatmen des Menschen, auf die Arbeit, auf seinen Beruf«.17 Die Berufs- und Arbeitspädagogen der Nachkriegszeit nutzten Humanisierung, in diesen Kontext lässt sich das Beispiel Zielinskis einordnen, als Leitsemantik. Zwischen Pädagogik und Technik angesiedelt implizierte sie, das »Humane« gegen das »Rationale« zu stärken. Auf die konkrete Arbeitswelt und -praxis bezog sie sich nur mittelbar. Zielinski beteiligte sich damit an einer seit den 1950er-Jahren geführten Auseinandersetzung in Pädagogik, Philosophie und Soziologie, die sich gegen eine versachlichte Welt der instrumentellen,
12 Zielinski: Berufserzieher, 1963, S. 34. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 35. 15 Ebd. Hervorhebung im Original. 16 Ebd., S. 36. 17 Ebd. Zum auf die Zwischenkriegszeit und das späte 19. Jahrhundert zurückgehenden Bild des »ganzen Menschen« und des »Menschen im Mittelpunkt« vgl. den Beitrag von Karsten Uhl in diesem Band sowie Rosenberger: Experten, 2008, S. 68-90.
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technischen Vernunft richtete. Diese überbordende Sorge vor der rationalisierten Gesellschaft ermöglichte es, so disparate Phänomene wie den Kommunismus sowie Automatisierung und Mechanisierung unter die Gefahr der Technokratie zu rubrizieren. Gleichzeitig schwang dabei immer die erinnerungskulturelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mit.18 Begriffen wie Humanität und Humanismus kam darin – in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik – eine herausragende Stellung zu. Sie versprachen in den Abendlandund Christentumdiskursen die Stärkung des reinen, echten und ganzen Menschen.19 Verschiedene Pädagogen und Pädagoginnen versuchten, mit der emphatischen Anrufung von Humanisierung und Humanismus »›Humanität‹ gegen die inhumanen Konsequenzen einer nihilistischen, von Gott ›abgefallenen‹ und daher der Technik ›verfallenen‹ Moderne zu sichern«.20 Dabei knüpften sie an verschiedene Bemühungen seit der Zwischenkriegszeit an, die Berufsschule zu humanisieren.21 Diese zielten darauf ab, wie der Pädagoge Theodor Litt 1957 formulierte, »die Humanisierung recht eigentlich in das Herz der sachlichfachlichen Schulung vorzutragen, nicht aber in ein Jenseits dieser Schulung zu verbannen«.22 Bei diesen Humanisierungsbestrebungen handelte es sich nicht um innerpädagogische Grabenkämpfe ohne jede Resonanz in Ausbildungsinstitutionen. Die Berufsschullehrer und Ausbilder des Ausbildungssystems des westdeutschen Steinkohlenbergbaus, der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK), befassten sich beispielsweise ausgiebig mit dieser Technikkritik. Auf ihren Tagungen, Konferenzen und Besprechungen thematisierten sie bis in die frühen 1960er-Jahre kaum die konkrete Ausbildung oder den Bergbau selbst. Mehr Aufmerksamkeit schenkten sie stattdessen den Gefahren der »Massengesellschaft« – und damit den als pathologisch wahrgenommenen Tendenzen der Moderne. Der Bergberufsschulleiter Wilhelm Schnier forderte in seiner Eröffnungsansprache zu einer Konferenz im Jahr 1962 etwa, dass »im Mittelpunkt unserer Arbeit nur der Mensch steht. Es geht dabei um die Erhaltung des Menschlichen in unserer gesamten Gesellschaft.«23 Diese defensive Haltung betonte das »Be-
18 Vgl. Kurig: Technik, 2015, S. 226. 19 Vgl. dazu Schildt: Zeiten, 1995, S. 324-350. 20 Kurig: Technik, 2015, S. 229. 21 Aloys Fischer pries 1924 etwa die »Wendung vom Teilmenschentum zum Vollmenschentum« und den »humanistischen Endzweck auch der Arbeit« an, Fischer: Humanisierung, 1950, S. 348. 22 Litt: Denken, 1969, S. 92. 23 Schnier: Bildungsgesellschaft, 1962, S. 8.
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wahren seelisch-geistiger Substanz des Menschen in dem strukturierten Bereich der Industriegesellschaft als Organisation der Menschen in einer weithin industrialisierten Umwelt«.24 Daneben trat eine dichotome Thematisierung der Bildung in Gegensatzpaaren von »Spezialisierung« und »geistiger Weite«25 sowie von »Beruflich-Technischem« und »Allgemeinem«.26 Die »Entfremdung« in der »verwalteten Welt« erfordere die »Eindeichung der Pflanzstätten, in denen das Menschliche gedeiht«.27 Ebenso beanspruchten die Verantwortlichen die »Vermenschlichung unserer Arbeits- und Wirtschaftswelt […] in der Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus«.28 Ausbildung sollte der bis Mitte der 1960erJahre dominanten sozialharmonischen Einpassung in eine strukturierthierarchische Gesellschafts- und Betriebsordnung dienen und den Arbeiter als »Glied des Ganzen«29 betrachten. Dabei pflegte das Ausbildungspersonal des Bergbaus eine für die Pädagogik der 1950er- und 1960er-Jahre typische ambivalente Technikauffassung zwischen Entmenschlichungsdystopien und Beschwichtigung.30 Die Verfechter/-innen einer Humanisierung der Arbeit siedelten sich eher im Bereich des Konservatismus, des Humanismus und des Antikommunismus als in den Arbeitswissenschaften und im Betrieb selbst an. So wandten sich etwa die zweiten europäischen Gespräche der Gewerkschaften in Recklinghausen im Jahr 1951 der »Gestalt des Managers«, der Arbeiterschaft und der Kultur zu.31 In der »Überwindung der bloß formalen Kultur« sei für den Arbeiter die »Humanisierung des Arbeitsprozesses« ein wesentliches Anliegen.32 Die Teilnehmer bezogen Humanisierung, die die Probleme der Arbeitswelt ausgleichen sollte, eng auf ein normatives und disziplinierendes Bildungsverständnis. Der Arbeiter brauche »bildende Impulse« aus der »rationalisierten Arbeit«, sonst könne es für ihn »keine andere Kompensation geben als ›Feierabendkultur‹, Zerstreuung, Erholung usw.«33
24 Kost: Geleitwort, 1963, S. 5. 25 Siewerth: Leitbilder, 1962, S. 17. 26 Küppers: Grundsätze, 1962, S. 52. 27 Freyer: Freiheit, 1963, S. 15 u. 24. 28 Juraschek: Erscheinungen, 1962, S. 40. 29 Bohne: Erziehung, 1962, S. 65. 30 Vgl. Kurig: Bildung, 2015, S. 386-439. 31 Pahl: Manager, 1951, S. 457. 32 Ebd., S. 461. Hervorhebung im Original. 33 Ebd., S. 462.
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In der Berufsausbildung spielte Humanisierung folglich bereits vor den 1960er-Jahren und ihrer Reformeuphorie eine Rolle. Pädagogen und Pädagoginnen schrieben ihr die Fähigkeit zu, eine als menschenfremd wahrgenommene Technik zu kompensieren.34 Humanisierung der Arbeit bedeutete damit, Freiräume zur Entfaltung des Humanen zu schaffen. Diese moralisch-holistisch gedachte Eingliederung sollte betriebliche Hierarchien und deren Reproduktion ausgleichen. In ihrer Kritik der »Vermassung« besaß sie eine dezidiert antikommunistische Stoßrichtung. Sie entspricht dem von Timo Luks anhand der Automobilindustrie beschriebenen »sozialökologischen Industrialismus«, der – so Luks – dominanten Konzeption des Betriebs von den 1920er- bis in die 1960erJahre. Dieser Horizont zeichnete sich dadurch aus, »dass nahezu jedes betriebliche Detail im Lichte seiner Relevanz für die betriebliche Sozial- und die Ordnung der Gesellschaft interpretiert« wurde.35 Im westdeutschen Steinkohlenbergbau etwa beruhte diese moralisch-holistische Ausbildungsordnung auf einem engmaschigen Netz aus Lehrlingsheimen, christlicher Menschenbildung und Pestalozzidörfern. Diese Einrichtungen sollten sich der »Vermassung«, des mangelnden »Standesbewusstseins« und der unzureichenden »Verwurzelung« der Auszubildenden annehmen.36 Der Humanisierungsbegriff wies also eine Tradition auf, die aus der Berufsund Arbeitspädagogik, der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, dem Kulturpessimismus und der Technikkritik der Zwischen- und Nachkriegszeit herrührte. In dieser Linie gestaltete er sich als moralisch-holistische Kompensationsformel, die eine Humanisierung gegen die Arbeit anstrebte, um die als entfremdend wahrgenommene Rationalisierung auszugleichen. Das Pathologische lag in dieser Konzeption in den vereinzelnden und eine »organische« Gesellschaftsordnung gefährdenden Tendenzen der Arbeit, die durch positive Bildung, Ausbildung und Kultur nivelliert werden sollten. Dies verweist auf die semantische Weite der Humanisierungsidee und zeigt die vielfältigen, verwobenen und uneindeutigen Traditionslinien, an die der Begriff anschließen konnte: Es handelte sich um übergreifenden Minimalkonsens, der auf Gegenüberstellungen beruhte, die in den 1960er-Jahren brüchig werden sollten.
34 Vgl. Kurig: Technik, 2015, S. 243. 35 Luks: Betrieb, 2010, S. 52. 36 Roseman: Recasting, 1992, S. 161-190, insbes. S. 173-179.
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DEMOKRATISIERUNG UND RATIONALISIERUNG DURCH LERNMASCHINEN IN DEN 1960ER-JAHREN Auch wenn der Humanisierungsbegriff für die Berufsausbildung der 1950er- und frühen 1960er-Jahre als offener Minimalkonsens gelten kann, beschränkten sich diese Bestrebungen nicht auf einen emphatischen Humanismus- und Humanitätsbegriff. Ebenso wäre es verkürzt, die Kompensationsfunktion, die Ausbilder/ -innen der Ausbildung zuschrieben, zu verabsolutieren. Das Programm einer Humanisierung durch Bildung war keineswegs widerspruchsfrei oder gar technikfeindlich. Gewerkschaften, Unternehmen und Pädagogen teilten vielmehr eine Euphorie für die Rationalisierung und Humanisierung der Berufsausbildung, die die Kompensation der technischen Moderne durch die Technik selbst anstrebte. Der Kalte Krieg, der »Sputnik-Schock«, die internationalen (Berufs-)Bildungsreformdebatten, die 1962 aufkeimenden Hoffnungen auf Lebenslanges Lernen und die Automationsdiskussionen wandelten das Klima, in dem verschiedenste Akteure und Akteurinnen eine Humanisierung der Arbeit durch Bildung forcierten.37 Europaweit wandten sich Ausbilder/-innen der Schwerindustrie der kybernetischen Pädagogik und dem programmierten Unterricht über Lehr- und Lernmaschinen zu – neben der Stufenausbildung eines der großen Reformprojekte der 1960er-Jahre.38 Unter Rückgriff auf Konditionierungstheorien und mit Anleihen an kybernetische Steuerungsmodelle zerlegten sie den Inhalt ihrer Lehreinheiten in kleine, aufeinander aufbauende Multiple-Choice-Fragen, die Auszubildende nacheinander abarbeiteten. Ob per Heft oder über Computer und Bildschirme, sogenannte Lernstudios, – Unterricht sollte gruppenunabhängig sowie zeitlich flexibel sein und die Korrektur der Aufgaben unmittelbar und objektiver als beim herkömmlichen Unterricht erfolgen.39 Diese Methode erfreute sich für einige Jahre sowohl in der betrieblichen als auch in der außerbetrieblichen Ausbildung großer Popularität. Die Euphorie für Lernmaschinen vereinte, ähnlich wie die Humankapitaltheorie, zwei scheinbar widersprüchliche Traditionen des Verhältnisses von Individuum und Arbeit: einerseits die »humanistisch gefärbte Maxime von ›Menschen im Mittelpunkt‹«, andererseits eine »ökonomische Verwertungslogik, die ebenfalls beim Einzelnen
37 Vgl. Bernet/Gugerli: Resonanzen, 2011; Rudloff: Bildungspolitik, 2007; Knoll: »Lebenslanges Lernen«, 2007; Heßler: Ersetzung, 2015. 38 Vgl. Tröhler: Momentum, 2013. 39 Vgl. Oelkers: Pädagogik, 2008, S. 214.
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ansetzte«.40 Entgegen einer Lesart, die Lehr- und Lernmaschinen als disziplinierend, kontrollierend und entmenschlichend interpretiert,41 stehen im Folgenden die gegenteiligen Ambitionen der Akteure im Fokus: Sämtliche Verantwortliche sahen Demokratisierung und Menschwerdung als Charakteristika einer »Rationalisierung der betrieblichen Bildungsarbeit«.42 Die Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) fragte sich bereits 1964 und 1965 auf den Tagungen der Unterausschüsse Berufsbildung Kohle und Stahl, wie die Ausbildung zu rationalisieren sei.43 Als Aushandlungsplattform westeuropäischer Ausbildungspolitik standen die Probleme des Strukturwandels im Mittelpunkt. Ausgehend von der Annahme, eine wettbewerbsfähige und rationalisierte westeuropäische Schwerindustrie benötige unter globalem Konkurrenzdruck eine effizientere Ausbildung, verkündete der Luxemburger Sozialist Jean Fohrmann, seit 1965 Mitglied der Hohen Behörde, in seiner Eröffnungsansprache in jenem Jahr, dass die programmierte Unterweisung die Lösung des europäischen Ausbildungsproblems verspreche. Sie eigne sich »zur Verbesserung der Produktivität der intellektuellen Arbeit«.44 Der technische Fortschritt erfordere, die Ausbildungsmethoden zu modernisieren. Wie die Technik müsse auch die Ausbildung ihre Produktivität steigern. Am besten von diesem europäischen Interesse für die programmierte Unterweisung in der Schwerindustrie zu profitieren wusste Wolfgang Schneider, Leiter des Instituts Mensch und Arbeit in München. Das Institut stellte sich in den 1960er-Jahren als Neuerer in der beruflichen Aus- und Weiterbildung vor,45 führte aber auch Führungskräftestudien für den westdeutschen Steinkohlenbergbau durch.46 Schneider präsentierte den anwesenden Funktionären und Funktionärinnen auf der Berufsbildungstagung 1964 die programmierte Unterweisung. Bereits im folgenden Jahr konnte er gemeinsam mit dem italienischen Stahlkonzern Italsider in Genua und dem westdeutschen Hüttenwerk Rheinhausen ein Testprogramm zu den »logischen Verknüpfungselementen in elektronischen Steueranlagen« für Wartungsarbeiter entwickeln.47
40 Bernet/Gugerli: Resonanzen, 2011, S. 442. 41 Vgl. z.B. Karcher: SchülerIn, 2015; Hoffmann-Ocon/Horlacher: Technologie, 2015. 42 So der Titel eines Bandes des Deutschen Industrieinstituts: Marko/Zimmerbeutel (Hg.): Rationalisierung, 1965. 43 Vgl. EGKS (Hg.): Berufsausbildung, 1965; EGKS (Hg.): Anwendung, 1966. 44 Fohrmann: Eröffnungsansprache, 1966, S. 9. 45 Vgl. Michaels: Lernen, 1965. 46 Siehe dazu den Beitrag von Martha Poplawski in diesem Band. 47 EGKS (Hg.): Anwendung, 1966, S. 60-103.
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Schneider legte Wert darauf, dass es sich bei seinem Programm um ein europäisches System handele. Der Skinner’sche Behaviorismus, auf dem die programmierte Unterweisung beruhe, basiere auf Prinzipien, für die »sich der europäische Mensch ja offensichtlich weniger eignet als der Amerikaner«.48 Dementsprechend habe das Institut auch die »›Gestalt‹« des Menschen und den »›Gesamtzusammenhang‹« des Lernens berücksichtigt, um es an spezifisch europäische Bedürfnisse anzupassen.49 Die in Genua durchgeführte Schulung bezog 40 Elektriker im Durchschnittsalter von 30 Jahren ein, verteilt auf eine Versuchsund eine Kontrollgruppe.50 Die eine Gruppe erhielt herkömmlichen Unterricht, die andere nutzte das in München und Rheinhausen entwickelte Programm. Als Ergebnis verkündete der Prokurist Aldo Canonici auf der Tagung im Jahr 1965, »daß die erzielte Lernleistung […] bei den Gruppen A und B nahezu gleich ist«. Erwartungsgemäß, so gestand er zu, lernten jüngere Teilnehmer mit höherer Schulbildung besser und schneller als solche mit Volksschulbildung.51 Seine Euphorie ließ sich Canonici dadurch aber nicht nehmen. Programmierte Unterweisung, das zeige das Projekt, habe Italsider von der »Möglichkeit einer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene« überzeugt und bei befragten Arbeitern Zustimmung erhalten.52 Arbeiter, die die Unterweisung abgelehnt hatten, seien »ungebildete[] Personen« und dementsprechend irrelevant gewesen.53 Dass Arbeiter sich zustimmend zu der Lehrmethode äußerten, beurteilte Canonici als »besonders interessant«, beweise dies doch, dass sich solche amerikanischen Verfahren »in einem psychologisch und sozial verschiedenen Bereich wie dem europäischen einführen lassen«.54 Wenn sich also keine messbaren Rationalisierungsgewinne erzielen ließen – mit diesem Eindruck stand Canonici keineswegs allein55 – und die europäischen Ausbildungsingenieure dieser »amerikanischen« Innovation skeptisch gegenüberstanden, wie lässt sich dann die Popularität der programmierten Unterweisung erklären? Einen möglichen Grund lieferte auf derselben Tagung der in den 1950erJahren von der Humanisierung der Berufsschule überzeugte Pädagoge Johannes
48 Schneider: Verknüpfungselemente, 1966, S. 63. 49 Ebd. 50 Vgl. Canonici: Verknüpfungselemente, 1966, S. 81. 51 Ebd., S. 85-86. 52 Ebd., S. 87. 53 Ebd., S. 86. 54 Ebd. 55 Vgl. etwa Oelkers: Pädagogik, 2008, S. 218-219; Aumann: Mode, 2009, S. 334.
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Zielinski. Sein Anspruch macht deutlich, dass Ausbildungsexperten Rationalisierung und Humanisierung der Ausbildung in den 1960er-Jahren – anders als noch einige Jahre zuvor – synonym dachten. Zielinski geißelte in seinem Vortrag die herkömmliche Ausbildung nach Berufen oder in einer Meisterlehre als »ihrem Stil nach autoritär«. Sie ließe die »Vorherrschaft des Lehrenden […] prinzipiell ungebrochen«.56 Dieser Autoritarismus widersprach in Zielinskis Augen der offenen und dynamischen »Industriekultur« der Gegenwart. »Industrielles Produzieren« verlange einen »demokratischen Arbeitsstil«,57 der »nicht kollektives Arbeiten, sondern selbständiges Mittun urteilsfähiger und entscheidungsfreudiger Individuen im Team und im Betrieb« benötige.58 Dass Auszubildende an Lernmaschinen unabhängig von der Gruppe, nach eigener Zeiteinteilung und mithilfe von Selbstkontrolle lernen konnten, bewerteten Zielinski und andere Befürworter der Lernmaschinen als demokratisch. Demokratisches Lernen bedeute also ein Lernen ohne explizite Fremdkontrolle. Die Kompensationsfunktion einer Humanisierung der Bildung, die Zielinski einige Jahre zuvor noch in den Mittelpunkt gestellt hatte, fand sich dadurch umgekehrt. Da die Zukunft der Arbeit, die konkreten Arbeitsinhalte und die Gestaltung zukünftiger Arbeitsplätze nicht bestimmbar seien, entspreche die programmierte Unterweisung einem Arbeitsstil, der »selbsttätige[s] und selbständige[s] Lernen« und den Einsatz der »vollen persönlichen Lernkraft« gebiete. Die Individualisierung, die beim programmierten Unterricht im Vordergrund stand, sei nur vordergründig als Vereinzelung zu verstehen. Ein Programm zu entwickeln erfordere »Teamwork« und die »Anwendung demokratischer Prinzipien«.59 Diese im Programm selbst angelegte Tendenz münde dann zwangsläufig »in das von der Sache her geforderte demokratische Arbeitsverhalten des Individuums«.60 Dass sie Eigeninitiative als von außen eingeimpft dachten, sahen die Befürworter der Unterweisung keineswegs als Widerspruch an. Zwar sei der Missbrauch von Lernmaschinen – und das verweist auf die Logiken des Kalten Krieges – »im Sinne autoritärer Konzepte« prinzipiell möglich. In seiner »vollen Potentialität« erwirke jedoch »ein konsequent demokratischer Unterweisungs- und Lernstil […] einen ebenso konsequenten demokratischen Verhaltensstil im modernen Arbeitsprozeß«.61 Programmierte Unterweisung be-
56 Zielinski: Perspektiven, 1966, S. 115. 57 Ebd., S. 114-115, Zit. S. 114. 58 Ebd., S. 115. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 115-116. 61 Ebd., S. 120.
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deute »Demokratisierung der Bildung« und fördere die »eigene Denkkraft des Lernenden, seine Urteilsfähigkeit, seine Entscheidungsbereitschaft und seine Talente«.62 Zielinskis Ideen erwiesen sich als anschlussfähig. Auch die Gewerkschaften, allen voran der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die IG Metall, verschlossen sich nicht den Verheißungen einer demokratisierten, individualisierten und rationalisierten Bildung. Die Abteilung Bildung der IG Metall etwa liebäugelte im Zuge der Neuorientierung ihrer internen Schulungs- und Bildungsarbeit während der 1960er-Jahre kurzzeitig mit der Programmierung.63 Zu diesem Zweck ließ sie den Pädagogen Gerhard Schröter in ihrer Arbeitshefte-Reihe den Band 833 zum programmierten Unterricht verfassen.64 Mit der Darstellung beabsichtigte Schröter – Autor verschiedener Studien zum programmierten Unterricht65 –, diese Lehrmethode realistisch einzuschätzen. Diese Bewertung sollte weder eine »große Hoffnung« für die Zukunft schüren, noch das »Schreckgespenst« entstehen lassen, das »die Bildung aller menschliche[n] Beziehungen entkleiden und den Menschen der Maschine, dem Roboter, ausliefern wird«.66 Ganz der Beschwörung von Zukunftsträumen enthalten konnte sich Schröter jedoch nicht. Mit Blick auf die postindustrielle Gesellschaft bezeichnete Schröter die programmierte Unterweisung als ideale Bildungsform, die mehr Menschen den Zugang zu Bildung und Ausbildung ermögliche. Sie ordne sich ein »in eine mit der Erfindung der Buchdruckerkunst begonnene Schrittfolge«, die »nach Rationalisierung und Objektivierung des Unterrichts und Demokratisierung der Bildung« strebe.67 Die Gewerkschaften beschränkten sich aber nicht darauf, Informationsmaterialien zu erstellen und herauszugeben. So warb Günther Heyder in den Gewerkschaftlichen Monatsheften für die programmierte Unterweisung und verwies auf die Vorreiterrolle des DGB, der in Zusammenarbeit mit dem Institut Mensch und Arbeit bereits ein Lernprogramm zum Tarifvertrag ausgearbeitet hatte.68 Dieser Lehrgang erschien im gewerkschaftseigenen Bund-Verlag und wurde in den folgenden Jahren noch ausgebaut.69 Auch das Berufsfortbildungswerk des DGB
62 Ebd. 63 Vgl. Müller: Gewerkschafter, 2010, S. 302-311, insbes. S. 304-305. 64 Vgl. Schröter: Unterricht, 1967. 65 Vgl. z.B. Schröter: Objektivierung, 1965. 66 Schröter: Unterricht, 1967, S. 2. 67 Ebd., S. 61. 68 Vgl. Heyder: Instruktion, 1967, S. 423. 69 Vgl. z.B. Pornschlegel/Birkwald: Lehrgang, 1969.
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nutzte zu Beginn der 1970er-Jahre die programmierte Unterweisung.70 Zeitgleich baute Johannes Zielinski seine Vormachtstellung aus und erarbeitete für das Berufsförderungswerk ein Programm zur Ausbildung des Ausbildungspersonals.71 Auch für Unternehmen und Betriebe verhießen Lehr- und Lernmaschinen bis in die 1970er-Jahre hinein die Lösung für eine rationalisierte und demokratisierte Ausbildung.72 Die Ausbildung durch programmierten Unterricht in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren belegt exemplarisch, dass der Anspruch, Arbeit und Ausbildung zu humanisieren und zu demokratisieren, keineswegs unvereinbar, sondern deckungsgleich sein konnte mit einer Rationalisierung der betrieblichen (und schulischen) Ausbildung. Gleichzeitig verweist diese Konvergenz aber auf eine Kernannahme, die der Humanisierung durch Bildung zugrunde lag und die in den folgenden Jahren für Probleme sorgen sollte. Zielinski beispielsweise forderte – in Übereinstimmung mit den Hoffnungen auf Lebenslanges Lernen – bei seinem Vortrag in Luxemburg, dass die programmierte Unterweisung »das Lernen lehrt«. Erst diejenigen, die das Lernen gelernt hätten, seien »allen dynamischen Möglichkeiten des Fortschritts gegenüber anpassungsfähig geworden«.73 Die Beschwörung der Anpassungsfähigkeit als Ziel der Ausbildung deutet weniger auf eine vielzitierte Ökonomisierung des Selbst seit den 1970er-Jahren hin.74 Sie implizierte vielmehr eine Neuaushandlung der Anthropologie und der Pathologie des Arbeiters im Modus der Bildungsfähigkeit.
LERNFÄHIGKEIT UND DIE PATHOLOGISIERUNG DES ARBEITERS Ende der 1960er-Jahre erlebte die berufliche Qualifikation einen Schlüsselmoment, der sich legislatorisch in der Verabschiedung des Berufsbildungs- und des Arbeitsförderungsgesetzes 1969 ausdrückte. Die Beteiligten waren sich einig, der gesetzmäßig erscheinende Strukturwandel und die Arbeit der Zukunft erforderten, Qualifikation und Arbeit sowohl zu rationalisieren als auch zu humani-
70 Vgl. Neue Heimat Städtebau/Berufsfortbildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (Hg.): Berufsfortbildungszentren, 1971. 71 Vgl. Zielinski: Ausbildung, 1972. 72 Für den Steinkohlenbergbau vgl. Kellershohn: »Automatisierungsverlierer«, 2018; für die Stahlindustrie bspw. Anonym: Sprachlehranlage, 1973. 73 Zielinski: Perspektiven, 1966, S. 116. 74 Wellmann: Alterssex, 2015; Bröckling: Selbst, 2013.
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sieren. Die dazugehörige Maxime hatte der französische Sozialwissenschaftler Jean Fourastié in seinem für den Begriff des Strukturwandels kanonischen Werk bereits 1949 geprägt, indem er verlangte, »[d]ie Menschen müssen unbedingt intelligent werden und ihr Denken den wissenschaftlichen Methoden unterwerfen«.75 Dieser Imperativ fand im moralisch-holistischen Koordinatensystem beruflicher Qualifikation der 1950er-Jahre wenig Widerhall. Die 1960er-Jahre verhalfen ihm dann, als sich die Koordinaten zu einer Identität von Humanisierung und Rationalisierung verschoben, zu neuer Legitimität. Welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollten, blieb aber weitgehend unklar; »Strukturwandel« war zwar als geschichtsmächtiger Prozess anerkannt, aber nicht akut. Auf die Agenda der Tagespolitik rückte das Problem im nordrheinwestfälischen Ruhrgebiet, der schwerindustriellen Herzkammer der Bundesrepublik. Bedingt durch den sich verändernden Energiemarkt, durch Produktivitätsgewinne sowie durch den internationalen Wettbewerb gingen im Steinkohlenbergbau Westdeutschlands zwischen 1957 und 1968 240.000 Arbeitsplätze verloren.76 Auch diese Entwicklung verorteten Politik, Gewerkschaften und Unternehmen zunächst noch in einem europäischen Deutungsrahmen und fingen deren soziale Auswirkungen auf, indem sie Arbeiter beispielsweise in andere Unternehmensteile versetzten. Mit der Rezession 1966/67 änderte sich dies schlagartig: Arbeitslosenzahlen in einer Höhe, die die Arbeitsverwaltung seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr gemessen hatte, erhöhten den politischen Handlungsdruck und die Suche nach Lösungsstrategien, um eine analog zu 1929 gefürchtete Radikalisierung in der Bevölkerung zu verhindern.77 In dieser Situation setzte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) auf eine bislang nur sporadisch eingesetzte qualifikationspolitische Maßnahme: Umschulung. Um eine solche Strategie zu legitimieren und durchzuführen, bedienten sich die zuständigen Referenten des BMA einer Allianz mit Werner Boll und damit eines Imports von Wissensbeständen aus der Rehabilitationspädagogik. Werner Boll, Direktor des Berufsförderungswerks Heidelberg, hatte in den 1960er-Jahren in Heidelberg Versuche mit programmiertem Unterricht und Lernmaschinen zur beschleunigten und rationalisierten Umschulung von Menschen mit Behinderung durchgeführt.78 In den folgenden Jahren wurde
75 Fourastié: Hoffnung, 1969, S. 211. Hervorhebung im Original. 76 Vgl. Petzina: Arbeit, 1990, S. 523; Farrenkopf: Wiederaufstieg, 2013, S. 197-250. 77 Vgl. Goch: Region, 2002, S. 162-163. 78 Vgl. Anonym: Konzeption, 1968. Zum Berufsförderungswerk Heidelberg und zu Werner Boll vgl. Bösl: Politiken, 2009, S. 254-257.
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Boll ein gern gesehener Gast bei den verschiedenen mit Ausbildung und Qualifikation in der Schwerindustrie befassten Gremien in Nordrhein-Westfalen. Die Botschaft, die Boll derart beliebt machte, vereinte zum einen Humanisierungsund Rationalisierungshoffnungen und bot zum anderen eine Antwort auf eine simple, aber anscheinend drängende Frage: Sind (ältere) Arbeiter/-innen überhaupt bildungsfähig und -willig? So eröffnete er etwa im Jahr 1968 auf einer Tagung dem Ausbildungspersonal des Steinkohlenbergbaus, dass mit der kybernetischen Pädagogik nicht nur ein Bildungsversprechen, sondern auch ein Bildbarkeitsversprechen verbunden sei. Bald werde sichtbar, »daß die oft verbreitete Auffassung von der mangelnden Bildungswilligkeit des Arbeiters im allgemeinen und […] des berufsgefährdeten Bergmannes im besonderen, falsch ist«.79 Noch im selben Jahr gründete das BMA mit Bolls Unterstützung und unter Mitwirkung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, des Landes NRW, der Stadt Essen und der Gewerkschaften sowie der Kirchen das Berufsförderungszentrum Essen (Bfz). Für rund 25 Millionen Mark wurde das erste Umschulungszentrum der Bundesrepublik errichtet und bot anfänglich 400 Internatsplätze für Umschüler/-innen.80 Am Beispiel des Bfz zeigt sich, dass der Anspruch, Probleme der Arbeitswelt durch eine rationalisierte Bildung und Qualifikation zu lösen, damit einherging, die Menge der betroffenen und als bildbar gedachten Subjekte auszuweiten. Die Ausbilder des Bfz entdeckten den Erwachsenen als Auszubildenden und definierten die Grenze der Bildungsfähigkeit neu. Unter den Auspizien des vermeintlichen Bildbarkeitsoptimismus der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre,81 der auch eine Vorbedingung für qualifikationsbezogene HdA-Maßnahmen darstellte, bildeten sich jedoch neue Pathologisierungsstrategien – diesmal um individuelles Umschulungsversagen zu erklären. Einerseits waren sich die Bfz-Mitarbeiter/-innen sicher: Alle Arbeiter/-innen seien ausbildbar, sofern die Ausbilderinnen und Ausbilder nur die richtigen Methoden anwendeten. »Durch Umschulung«, so Alfons Gummersbach, berufspädagogischer Leiter am Bfz, »soll die berufliche Polyvalenz der Arbeitnehmer vergrößert werden. Dies ist sowohl aus humanitären als auch aus gesellschaftspolitischen Gründen notwendig.«82 Dementsprechend insistierte er, auf jüngere Forschungen verweisend, darauf, »daß Erwachsene durchaus lernfähig sind«. Außerdem sei die Bildbarkeit umfänglich, »das Spektrum der menschlichen
79 Boll: Bildungsarbeit, 1968, S. 100. 80 Vgl. als Überblick Bfz Essen: Geschichte, 2006. 81 Vgl. Rudloff: Bildungspolitik, 2007. 82 Gummersbach: Umschulung, 1976, S. 19.
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Leistungsfähigkeiten und -möglichkeiten[,] nicht eng begrenzt«.83 Diese Perspektive bediente sich eines ähnlichen Begriffsarsenals wie das eigentliche HdAProgramm. Die entsprechende Versöhnungsrhetorik nutzte etwa ein Zwischenbericht des Bfz im Jahr 1974, der die Identität ökonomischer und individueller Interessen postulierte. Das Zentrum sei »an den gegenwärtigen und den kommenden Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert«. Gleichzeitig berücksichtige es aber »den Anspruch des arbeitenden Menschen auf eine humanere Gestaltung seiner Arbeitswelt«.84 Andererseits barg dieses Versprechen eine wesentliche Ambivalenz. Bundesarbeitsminister Walter Arendt wies in seiner Ansprache zur Eröffnung des Bfz bereits darauf hin. »Die besten Aussichten« für den Arbeitsmarkt der Zukunft, so Arendt, »haben nun einmal jene, bei denen Intelligenz und hochqualifizierte Ausbildung eine glückliche Verbindung eingehen«.85 Dieser Meinung war auch die Bundesanstalt für Arbeit, die mit dem Bfz eine Erwachsenen-Test-Serie erarbeitete, um auszuwählen, wer überhaupt für eine Umschulung in Frage käme.86 Die Verheißung der universalen Bildbarkeit des älteren Erwachsenen, führte ebenso dazu, dass die Bfz-Ausbilder Begründungsmuster des unbildbaren und lernunfähigen Individuums aktualisierten. So rechtfertigte beispielsweise das Bfz 1974 gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit seine Abbruchquoten mit der »fehlende[n] Lernfähigkeit« der Teilnehmer.87 Darüber hinaus lehnte zwar der Leiter des psychologischen Dienstes des Bfz, Robert Blum, in einer Studie für das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung über Methoden der Erwachsenenbildung »die Annahme einer einseitig biologisch bedingten Lernfähigkeit im Erwachsenenalter«, die »›MaturitätsDegenerations-Hypothese‹«, ab.88 Stattdessen stellte er jedoch fest, »daß je höher Begabung, Bildungsstand und Sozialniveau ist [sic], desto stärker wird dieser Mensch seine geistigen Fähigkeiten aktivieren, ausbilden und üben, als es die
83 Ebd., S. 18. 84 Bfz Essen: Zwischenbilanz, 1974, S. 5. 85 Helmut Malzahn: Entwurf einer Rede des Herrn Ministers am 15. Dezember 1970 bei der Einweihung des Berufsförderungszentrums in Essen zum Thema »Die Bedeutung der Berufsförderung für den arbeitenden Menschen und für die Wirtschaft«. Redemanuskript vom 23.11.1970, Bundesarchiv, Sign. B 138/115377, S. 5. 86 Vgl. Griesang/Hoffmann: Erwachsenen-Test-Serie, 1973. 87 Berufsförderungszentrum Essen: Dokumentation über den Bericht der IHK Essen an Herrn Präsident Josef Stingl vom 25.10.1974, Archiv der Industrie- und Handelskammer Essen, Sign. 955-40, S. 2. 88 Gummersbach u.a.: Einführung, 1973, S. A15.
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Gegengruppe tut«.89 Rührte diese Perspektive noch aus dem Anomalen her, aus der Konstruktion einer statistischen Norm und Abweichung, kippte sie schnell in den Bereich des Anormalen, also des Pathologischen.90 Nikotin, Alkohol, Koffein beschränkten die Leistungsfähigkeit und besonders »Toxikomanen erreichen extrem geringere Leistungen in Bereichen, in denen Anpassungsfähigkeit und Wendigkeit an neue Situationen gefordert ist«. Diese Gruppe altere »›intelligenzmäßig stärker‹« als eine »›vergleichbare Neurotikergruppe‹«,91 wobei Blum später ausführte, dass er »eine angeborene Disposition ›Neurotizismus‹« annehme.92 Der Humanisierungskonsens bedingte eine pathologisierende Anthropologie des Umschülers in der Erprobung der postindustriellen Welt.
JENSEITS DER QUALIFIZIERUNGSERZÄHLUNGEN Eine Perspektive, die Humanisierung lediglich als Anpassung der Arbeit an den Menschen betrachtet, scheint für die berufliche Qualifikation unbefriedigend. Verschiedene Arbeitsspezialisten und -spezialistinnen gingen in den Auseinandersetzungen um Automation und Strukturwandel während der 1960er- und 1970er-Jahre davon aus, dass – wie es ein Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1970 formulierte – Berufsausbildung dazu dienen sollte, »die Befähigungen der arbeitenden Bevölkerung den geänderten Bedürfnissen auf dem Arbeitsmarkt anzupassen«.93 Zugleich waren sich aber alle Beteiligten sicher, dass diese Anpassung im ureigensten Interesse des Menschen liege, es also, wie es von den 1950er-Jahren bis zu den Debatten um die Qualität des Lebens hieß, um den »Aufstieg in Sitte und Kultur« und um die »Wiederherstellung des eigentlichen Menschen« gegen die Entfremdung der »Technokratie« gehe.94 Im Mittelpunkt stand das – umstrittene und ausdeutbare – Humane. Die Geschichte der Humanisierung der Arbeit durch Bildung setzte bereits in den 1950er-Jahren ein. Als Gegenstück zur »entmenschlichten« Technik sollte
89 Ebd., S. A20. 90 Canguilhem: Das Normale, 2013, S. 134 u. 142. 91 Gummersbach u.a.: Einführung, 1973, S. A21. 92 Ebd., S. A65. 93 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Zweiter Bericht der Kommission an den Rat über die Zusammenhänge zwischen der Sozialpolitik und den anderen Politiken der Gemeinschaft vom 17.3.1970, Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, IGBE-Archiv, Sign. 12372, S. 28. 94 Antoine: Aufstieg, 1973, S. 19 u. 15.
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Ausbildung in der Nachkriegszeit zu einer Humanisierung der Arbeit beitragen. Über den programmierten Unterricht begriffen Ausbildungsexperten und -expertinnen dann in den 1960er-Jahren mit dem Einsetzen des »Strukturwandels« Rationalisierung und Humanisierung nicht nur als Teil »eines Diskurses«95, sondern betrachteten eine Rationalisierung der Qualifikation als gleichbedeutend mit einer Humanisierung der Arbeit. Aus diesem Konsens folgte zuletzt der Versuch, Arbeiter als bildbar und dadurch als humanisierungsfähig auszuweisen. Diese Hoffnung auf Bildbarkeit fragte aber gleichzeitig immer nach der Unbildbarkeit und überführte das Begriffspaar von Humanisierung und Rationalisierung in den Modus des Normalen und des Pathologischen des Wandels der Arbeitswelt. Hinsichtlich der 1974 einsetzenden HdA-Maßnahmen zeigt diese Vorgeschichte der Humanisierung zweierlei: Erstens sollte berufliche Qualifikation in einer Geschichte des Wandels der Arbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht als Explanans, sondern als Explanandum begriffen werden. Die Frage, ob Mechanisierung und Rationalisierung zu einer Dequalifikation, Höherqualifikation oder zu einer Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierten Arbeitskräften führten (und führen), ist historiographisch natürlich nicht sinnvoll zu beantworten. Die Koexistenz dieser verschiedenen Deutungsmuster verweist eher darauf, dass das Verhältnis von Wissen, Arbeit, Zukunft und Ungleichheit mit den 1960er-Jahren unklar und verhandelbar wurde. Zweitens ist anzunehmen, dass sich auch die HdA-Maßnahmen in dem hier skizzierten Spannungsfeld von Humanisierung/Rationalisierung und einer Pathologisierung des Arbeiters verorteten. Wenn das HdA-Projekt zu »Qualifikation und Beteiligung« in den Peiner Maschinen- und Schraubenwerken zwischen 1975 und 1979 beabsichtigte, zu prüfen, »inwieweit auch nicht qualifizierte Beschäftigte über sogenanntes innovatorisches Handlungspotential verfügten«,96 dann lassen sich auch diese und ähnliche Versuche, Arbeit zu humanisieren, als Experimentalsystem lesen, das die Verlierer/-innen der postindustriellen Gesellschaft erst schuf.
95 Uhl: Rationalisierung, 2014, S. 156. 96 Vgl. Müller: Humanisierung, 2016, S. 271-274, Zit. S. 267.
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Grenzen der »Flexibilisierung« Die Erforschung von Schichtarbeit und Körperzeiten im Rahmen des HdA-Programms1 Hannah Ahlheim
Während der Ruhrfestspiele 1982 konnte das Publikum eine aus Stahl gebaute Skulptur bewundern. Sieben Stahlarbeiter des Hüttenwerks Rheinhausen der Krupp Stahl AG hatten das Kunstwerk entworfen und mit Hilfe ihrer Kollegen in ihrer Freizeit gefertigt. Den Mittelpunkt der Installation bildet eine kniende, gebückte Figur, in Arbeitskleidung und mit Helm, die Hände an den Hebeln einer Maschine. Im Nacken der gebeugten Arbeiter-Figur droht eine große Uhr, die sie vorwärts und zu Boden drückt. »Wer weiß denn schon, was Kontischicht bedeutet?«, so war die Installation überschrieben. Das Entwerfen, Herstellen und Ausstellen der Skulptur war Teil eines größeren, »kooperativen« Forschungsvorhabens, das eine Gruppe von Stahlarbeitern zusammen mit Wissenschaftlern und Künstlern im Rahmen des Programms zur »Humanisierung des Arbeitslebens« konzipiert und durchführt hatte. Den Initiatoren des Projektes ging es darum, die »Erfahrung« der Arbeitenden und ihres sozialen Umfelds »zu erschließen und systematisch zu organisieren«.2 Ganz bewusst hatten sie sich für die Zusammenarbeit mit Nacht- und Schichtarbeitern entschieden: Denn diese Variante der Arbeitsorganisation galt als »problematischste Arbeitszeitform hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Menschen«,3
1
Vorarbeiten für diesen Artikel entstanden während meiner Zeit als Fellow des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit beim Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg »Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive« (re:work) an der Humboldt-Universität zu Berlin 2017/18.
2
Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 49.
3
Ott: Arbeitszeit, 1983, S. 142.
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so war es etwa im Wörterbuch zur Humanisierung der Arbeit zu lesen. Nach den Erkenntnissen neuerer Forschungen machte Schichtarbeit nicht nur die Beschäftigten selbst an »Körper und Seele krank«4. Sie beeinflusste auch »nachhaltig die Gestaltung der arbeitsfreien Zeit und der sozialen Beziehungen, in der Familie wie im Bekanntenkreis«.5 Die Zahl derjenigen, die dieser »problematischste[n] Arbeitszeitform« unterworfen waren, war in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er-Jahren rasant gewachsen. Das lückenhaft vorhandene Zahlenmaterial legte nahe, dass Mitte der 1970er-Jahre 3,85 Millionen Arbeitnehmer »regelmäßig mit einer besonderen Arbeitszeit« arbeiteten, 1,2 Millionen leisteten Nachtarbeit, 1,3 Millionen Sonn- und Feiertagsarbeit und 3,4 Millionen Schichtarbeit.6 Vor allem in der Metallverarbeitung, im Bergbau, im Verkehrs- und Gesundheitswesen, bei der Post, der Bahn, der Feuerwehr und der Polizei waren ca. 650.000 meist männliche Arbeitnehmer in »vollkontinuierlicher« und 399.000 in »teilkontinuierlicher Schichtarbeit« beschäftigt.7 Schichtarbeiter waren damit in der bundesdeutschen Gesellschaft »keine Randgruppe« mehr,8 und Experten erklärten die Verbesserung der Bedingungen für Nacht- und Schichtarbeit zu einem »Kernstück« einer »Humanisierung des Arbeitslebens«.9 In den späten 1970er- und 1980er-Jahren führten Arbeitsmediziner, Schichtarbeitsexperten, Psychologen und Soziologen im Rahmen des Forschungsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« zahlreiche Studien zu den sozialen und gesundheitlichen Folgen der Nacht- und Schichtarbeit durch und entwickelten Vorschläge, wie ihre Bedingungen verbessert werden könnten.10 Die neuen Ansätze zur Erforschung der Nacht- und Schichtarbeit fielen dabei in eine Zeit, in der der »Rhythmus des Lebens« und die Verteilung von »eigener Zeit« und »enteigneter Zeit« in unterschiedlichen Bereichen zum Thema wurden. Die Arbeitszeit, eine »der entscheidenden Größen, die den Arbeitsprozeß,
4
Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 15.
5
Nachreiner/Streich/Wettberg: Schicht- und Nachtarbeit, 1983, S. 340. Vgl. auch Hahn: Soziale Auswirkungen, 1985, S. 5f.
6
Nachreiner/Streich/Wettberg: Schicht- und Nachtarbeit, 1983, S. 337.
7
Vgl. ebd.; Rutenfranz: Grundprobleme, 1978, S. 10f.
8
Anonym: Schichtarbeit, 1979, S. 268. Die Entwicklung lasse sich auf Basis der vorhandenen Zahlen »nur unvollkommen« darstellen, so Hahn: Gesundheitliche Auswirkungen, S. 8f. Vgl. auch Streich: Bilanz, 1986, S. 5.
9
Farthmann/Fuchs: Landesforum Schichtarbeit, 1979, S. 19. Vgl. auch Ahlheim: Betrieb, 2015.
10 Zum HdA-Programm vgl. u.a. Seibring: Humanisierung, 2011.
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die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen insgesamt bestimmen«, war zentraler Bestandteil der Diskussionen.11 Die erste Hälfte der 1980er-Jahre war geprägt durch den Kampf um eine Reduzierung der Arbeitszeit, gleichzeitig verbreiteten sich seit dem Ende der 1960er-Jahre aber auch neue Formen »flexibler« Arbeitszeiten, die sogenannte Gleitzeit etwa, variable Arbeitszeiten (VAZ) oder neue Formen der Teilzeitarbeit wie das Job-Sharing.12 Zeitgenossen entwarfen Konzepte von »Eigenzeit« und »Zeitsouveränität«, identifizierten »Zeitkonflikte«, vermaßen »Zeitbudgets« und dachten über »Zeitwohlstand« nach.13 Auf dem Höhepunkt des Streiks für die 35-Stunden-Woche 1984 glaubte der Sozialphilosoph und engagierte Gewerkschafter Oskar Negt, den »Anfang […] der Umwälzung von Zeitverhältnissen« zu erleben.14 »Die Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Zeitorganisation sind voll im Gange«, konstatierte auch das Forscherteam in Rheinhausen 1986.15 Es ist kennzeichnend für die Ausrichtung des Forschungsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens«, dass sich zunächst nur kleinere, vereinzelte Projekte mit der Verbreitung der neuen Erscheinungsformen flexibler Arbeitszeit wie Gleitzeit oder Teilzeitarbeit beschäftigten.16 Im Zentrum stand vielmehr die Auseinandersetzung mit Schicht- und Nachtarbeit, die sich in eine seit mehreren Jahrzehnten geführte breitere Debatte um Ermüdung, Gesundheit und Sicherheit eines Lebens »gegen die Uhr« einfügte.17 Nacht- und Schichtarbeit galt den Zeitgenossen als genuiner Bestandteil einer allgemeinen Flexibilisierung von Arbeitszeiten »rund um die Uhr«, die sich als Folge von Automatisierung, Digitalisierung und variabler »lean production« zu verbreiten schien. Anders als die viel diskutierten neuen Formen individuell flexibler Arbeitszeitregelungen konnten die Bedingungen der Schichtarbeit dabei kaum mit einem Versprechen einer Emanzipation von strikten, nur vom Arbeitgeber bestimmten Arbeitszeiten verknüpft werden. Projekte wie das kooperative Forschen in Rheinhausen nahmen
11 Ott: Arbeitszeit, 1983, S. 142. 12 Vgl. Süß: Sieg, 2016; Bösch: Arbeit, 2016; Neuheiser: Arbeit, 2013; Süß: Stechen, 2012. 13 Vgl. u.a. Nowotny: Eigenzeit, 1989; Rinderspacher: Gesellschaft, 1985; Bergmann: Problem, 1992; Adam: Timewatch, 1995; Zur Geschichte der Zeit u.a. Geppert/Kössler (Hg.): Obsession, 2015; Esposito: Zeitenwandel, 2017; Graf: Zeit, 2012. 14 Negt: Arbeit, 1984, S.19. 15 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 16. 16 Böckels/Teriet: Gleitzeitarbeit, 1981, S. 144; Bielenski: Arbeitszeiten, 1985. Einen ersten Überblick versucht Baillod: Arbeitszeit, 1986. 17 Vgl. u.a. Birkner: Leben, 1985.
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bewusst die »harten Begrenzungen« flexibler Arbeitszeit in den Blick.18 Die Schichtarbeitsforschung führte vor Augen, dass der Mensch mit seinen sozialen und körperlichen Bedürfnissen bestimmten Formen flexibilisierter Arbeitszeit »rund um die Uhr« entgegenstand. Obwohl die Dringlichkeit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Schichtarbeitern weithin anerkannt war, kritisierten zeitgenössische »Zeitexperten« diese Schwerpunktsetzung. Die gewerkschaftlich orientierte und organisierte Politik ignoriere die neuen, flexiblen Arbeitszeitmodelle und habe damit auch »etwaige Alternativen zu einer Verbesserung der Arbeitszeitsituation der Beschäftigten in einer gegebenen Arbeitszeitstruktur weitgehend vernachlässigt«, merkte etwa der Arbeitsmarkt- und Berufsforscher Bernhard Teriet 1976 an.19 Doch gerade durch die Konzentration auf die »harten Begrenzungen« einer voranschreitenden Flexibilisierung formulierten Zeitgenossen durchaus entscheidende, noch heute aktuelle Fragen zum Zusammenhang von »Arbeitszeit« und »Lebenszeit«. In einem ersten Schritt soll aufgezeigt werden, auf welche Weise die innovativen Konzepte und Ergebnisse des Duisburger Projektes aus der Masse der HdA-Projekte herausstachen und neue Wege aufzuzeigen versuchten. Das Forscherteam war mit seinem detaillierten Interesse am »historischbiografischen Entstehungsprozeß individueller und kollektiver Zeiterfahrung« und der »individuelle[n] Identität von Zeiterfahrung« seiner Zeit fast schon voraus.20 Das zweite Kapitel diskutiert, wie die Erforschung von Möglichkeiten zur »Humanisierung« der Nacht- und Schichtarbeitszeit insgesamt dazu beitrug, in den schon lange geführten Debatten um Leistungsfähigkeit und Arbeitssicherheit neue, individualisierte Konzepte von »Zeit« und Körperrhythmen zu etablieren.
LEBEN »GEGEN DIE UHR«: FAMILIEN ALS »ÜBERLEBENSGEMEINSCHAFT« »Und dat is, für mich is dat an und für sich kein Leben«21, so beschrieb ein Stahlarbeiter aus Rheinhausen zu Beginn der 1980er-Jahre seinen Alltag unter den Bedingungen der Schichtarbeit. Seit den 1960er-Jahren hatten Arbeitsmediziner, aber auch Soziologen und Psychologen, Arbeitgeber und Gewerkschaften begonnen, sich mit den offenbar schwerwiegenden Auswirkungen von Schicht-
18 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 142f. 19 Teriet: Strukturen, 1976, S. 97. 20 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 155. 21 Ebd., S. 145.
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arbeit auf den Alltag der Betroffenen zu beschäftigen. Schicht- und Nachtarbeit war in der Eisen- und Stahlproduktion von Beginn an verbreitet, dauerhaft laufende Hochöfen machten eine kontinuierliche Produktion und damit Nacht- und Wochenendarbeit unausweichlich und zogen im eng verzahnten Produktionsprozess auch eine entsprechende Arbeitseinteilung in den Stahl- und Walzwerken nach sich.22 Unter anderem die Anforderungen der Rüstungsproduktion des Ersten und Zweiten Weltkriegs hatten dann die Folgen einer solchen kontinuierlichen Arbeit, Ermüdungserscheinungen und Arbeitssicherheit zu einem wichtigen Thema werden lassen,23 und schließlich war die harte, körperliche Arbeit auch in der Stahlindustrie an vielen Stellen Überwachungs- und Steuerungsaufgaben gewichen.24 Vor dem Hintergrund der in den 1970er-Jahren geführten Debatten um die »Qualität des Lebens«, um die Bedeutung von Freizeit und um die »menschliche« Gestaltung von Arbeit hatte die Frage nach den Auswirkungen kontinuierlicher Arbeitszeitsysteme jedoch auch in der Metall- und Stahlindustrie wieder neue Relevanz erhalten.25 Zudem hatte die Schichtarbeitsforschung »die Schichtarbeiter vor Ort«, um deren Lebensbedingungen es ging, bis zu diesem Zeitpunkt kaum erreichen können.26 Gerade Nacht- und Schichtarbeiter hatten auf Grund ihrer schwierigen Arbeitsbedingungen kaum Möglichkeiten, sich gewerkschaftlich zu organisieren und an regelmäßigen Treffen teilzunehmen: Sie schliefen oder arbeiteten, wenn andere Gewerkschaftsarbeit machten, und sie hatten in der Öffentlichkeit keine Stimme.27 Die Zielsetzungen und Finanzierungshilfen des HdA-Programms boten nun Möglichkeiten, durch neue Ansätze und Arbeitsformen auch »die Schichtarbeiter selbst in den gewerkschaftlichen Diskurs« einzubeziehen.28
22 Steinisch: Arbeitszeitverkürzung, 1986, S. 49-72; Hindrichs u.a.: Abschied, 2000, S. 28. Steinisch widmet sich den Konflikten um die Einführung des Achtstundentages und damit eines Dreischichtsystems in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 23 Zur Erforschung der »Industrial Fatigue« und zur Entstehung einer modernen Arbeitsmedizin in den 1910er- und 1920er-Jahren vgl. u.a. Gillespie: Industrial Fatigue, 1987; Neumann: Kaiser-Wilhelm-Institut, 2012; Sarasin: Rationalisierung, 2003; Rabinbach: Human Motor, 1992. 24 Vgl. Hindrichs u.a.: Abschied, 2000. 25 Ahlheim: Betrieb, 2015, S. 219-232; Seibring: Humanisierung, 2011, S. 112; Remeke: Gewerkschaften, 2005, S. 74. 26 Vgl. Anonym: Schichtarbeit, 1979, S. 11. 27 Vgl. Hahn: Soziale Auswirkungen, 1985, S. 27. 28 Anonym: Schichtarbeit, 1979, S. 12.
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Die Beteiligten des Projektes in Rheinhausen wählten daher einen besonderen Weg, sich den Umständen und Wirkungen der Schicht- und Nachtarbeit zu nähern: Sie konzipierten ihre Arbeit ganz bewusst als »kooperatives« Forschen, an dem Wissenschaftler, aber auch Künstler der Fachhochschule Dortmund und der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig, Betriebsräte der Duisburger Stahlindustrie und vor allem die Betroffenen selbst teilnahmen.29 Neben 84 Arbeitern, die dem Forschungsteam 1982 ausführliche Interviews gaben, fanden sich mit Hilfe von Gewerkschaftsvertretern der IG Metall immerhin 30 Stahlarbeiter, die sich am intensiven Forschungsprozess beteiligten. 21 von ihnen begleiteten das Projekt während der gesamten Laufzeit von 1980 bis 1983, obwohl das für sie einigen Mehraufwand bedeutete: Sie nahmen über drei Jahre hinweg an zahlreichen Tages- und Wochenendseminaren teil, an Samstagen und Sonntagen stießen manchmal auch ihre Frauen und Kinder dazu.30 Die auch für das fortschrittlich angelegte HdA-Programm untypische Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher »Forschender« sollte auf innovative Art und Weise die Kluft zwischen der Wissenschaft im Elfenbeinturm und dem Alltag der »Erforschten« überwinden helfen und »objektiviertes Wissen der Wissenschaftler und Erfahrungswissen der Betroffenen« in einem »wechselseitigen Lernprozeß« miteinander verbinden.31 Es ging den Forschenden zum einen darum, individuellen Erfahrungen Raum zu geben und einzelnen Lebensgeschichten Gehör zu verschaffen. Zum anderen hofften sie, durch den Austausch der individuellen Erfahrungen »das Gemeinsame und Typische der Einzelerfahrung«32 herausarbeiten und eine Art kollektive »Lebensgeschichte«33 konstruieren zu können. Die Einbeziehung der Stahlarbeiter selbst war aber auch deswegen so wichtig, weil das Projekt nicht nur das Arbeitsleben und den Arbeitsplatz, sondern die Lebensverhältnisse der Arbeitenden, die Belastungsfolgen auch und gerade im privaten Leben in den Blick nehmen sollte.34 Das Duisburger Team fragte explizit auch nach den »Wechselwirkungen von Arbeitsbedingungen und Lebensver-
29 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 4. 30 Vgl. Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 50; Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 4. 31 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 49. 32 Ebd. 33 Vgl. »Die Lebensgeschichte des Kollegen B.«, ebd., 1986, S. 157-163. 34 »Wechselbeziehungen« hätten bisher in der Humanisierungsforschung »nur eine geringe Rolle« gespielt, so Boldt: Wechselbeziehungen, 1983, S. 433.
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hältnissen«35, der Wohnsituation und den Auswirkungen von Schichtarbeit auf die Ehepartner, Kinder und Freunde. Denn der Schichtplan, der »in jeder Wohnung« an der Wand hing,36 gab nicht nur vor, wann gearbeitet wurde. Er legte auch die Zeiten für das Essen und Schlafen, für gemeinsame Unternehmungen mit Familie und Freunden, für Feiern und Erholen fest. Die Beschäftigten und ihre Familien sollten die Möglichkeit haben, ihre Lebenssituation und ihre Erfahrungen systematisch zu analysieren und mit neuen Augen zu sehen. Die teilnehmenden Arbeiter arbeiteten »stahltypisch«37 im sogenannten »Erste-Hitze-Bereich«, in den Hochofenwerken, den Stahl- und Walzwerken und den zugeordneten Energie-, Transport- und Instandhaltungsbetrieben.38 Zwar hatten sich die Arbeitsbedingungen in der Eisen- und Stahlindustrie seit den 1960erJahren bereits entscheidend verbessert, aber die Arbeitenden waren in diesen Bereichen noch immer einer verhältnismäßig hohen körperlichen und vor allem psychischen Belastung durch Lärm, Hitze, starke Temperaturschwankungen, Stäube, Gase und Schmutz ausgesetzt.39 Ebenfalls »stahltypisch« war ihre Arbeit zudem in kontinuierlicher Wechselschicht mit regelmäßiger Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit organisiert.40 Das bedeutete, dass auf sieben Mittagsschichten von je acht Stunden von Montag bis Sonntag 14 bis 22 Uhr zunächst 42 Stunden »Umstellzeit« folgten. Dann ging es weiter mit sieben Nachtschichten von Dienstag 22 Uhr bis Dienstag 6 Uhr morgens, wiederum gefolgt von 72 Stunden »Umstellzeit«. Die dritte Periode war die Frühschicht, sie begann am Freitag um 6 Uhr endete am Donnerstag 14 Uhr. Bevor die nächste Mittagsschichtperiode anfing, waren 95 Stunden »Umstellzeit« eingeplant.41 Die Männer mussten sich
35 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 19. 36 Ebd., S. 134. 37 Ebd., S. 34. 38 Ebd., S. 66. 39 Ebd. Vgl. u.a. Hindrichs u.a.: Abschied, 2000, S. 29-33. 40 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 66. Stahlarbeiter waren besonders häufig von Schicht- und Nachtarbeit betroffen. Streich gibt eine Quote von 83% für »Metallerzeuger/Walzer« an. Außerdem in der Spitzengruppe waren Bergleute, Krankenhauspersonal, Gastwirte, Polizisten, Bäcker, Schaffner und Schienenfahrzeugführer (Streich: Bilanz, 1986, S. 12). Vgl. auch Pröll/Streich: Arbeitszeit, 1984, v.a. S. 114126. 41 Vgl. Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 138.
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also in schnellem Rhythmus auf unterschiedliche Arbeitszeiten einstellen, und nur jedes vierte Wochenende war ein »freies« Wochenende.42 Um sichtbar zu machen, »was Kontischicht bedeutet«, arbeitete die Projektgruppe in wechselnden Konstellationen zusammen und erprobte unterschiedliche Arbeitsformen.43 Mal fertigten die Arbeiter in Seminaren Zeichnungen vom eigenen Arbeitsplatz an der »Straße« an, 44 mal entwarfen sie Diagramme, die die Zeitstrukturen ihres Alltags darstellen sollten.45 In »Maskenmontagen« veränderten sie mit Collage-Techniken eine Fotografie des »Werktors 1« in Rheinhausen,46 in langen Diskussionen erstellten sie die typische »Lebensgeschichte des Kollegen B«.47 1984 waren die Ergebnisse aller Arbeiten in einer Ausstellung zu sehen, die in Dortmund im Alfred-Keune-Haus gezeigt wurde.48 Engagiert war in den ersten Monaten der Arbeit vor allem die »Skulpturengruppe«, die bei »der Aufgabe, das Typische, Wesentliche herauszuarbeiten«, dem »Forschungsprozeß voraus« gewesen sei, erklärt der Abschlussbericht des Projektes.49 So hatte die Arbeit an der Skulptur schnell ergeben, dass die Zeitstruktur eine zentrale gemeinsame Erfahrung des Schichtarbeiterlebens war. »Während einer vormittags schläft […], bereitet sich einer vor, macht sich auf den Weg […], muß einer arbeiten […], hat einer Freischicht«, beschrieben es die Männer.50 Nur alle vier »Schichten« zusammen aber zeigten die ganze Realität des Schichtarbeiterlebens »rund um die Uhr«, den Kern der »Kontischicht«. In der Skulptur waren daher vier Figuren wiederzufinden, die zentral platzierten großen Uhren ausgeliefert waren – im Bett, bei der Arbeit, auf dem Weg zur Arbeit und bei Freischicht zu Hause. Eindrucksvoll zeigte auch ein »Entwurfsseminar«, an dem die Familien der Stahlarbeiter teilnahmen, welche Auswirkungen die zeitliche Organisation der Arbeit auf die Lebensverhältnisse hatte. Unter der Überschrift »Zeigen, wie man
42 Die Zulagen für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit waren für viele fester Bestandteil des Monatslohns, auf den sie kaum verzichten konnten – erst recht nicht angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und des Abbaus von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie zu Beginn der 1980er-Jahre. 43 Ebd., S. 44. 44 Ebd., S. 64. 45 Vgl. ebd., S. 129-137. 46 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 63-88. 47 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 157-163. 48 Vgl. Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986. 49 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 53. 50 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 39.
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lebt … und wie man leben möchte«, sollten Männer, Frauen und Kinder Pläne ihrer Wohnung entwerfen – tatsächliche und ideale.51 Die Wohnsituation spielte schließlich eine entscheidende Rolle für die »Wiederherstellung des Arbeitsvermögens«52 und für die Möglichkeiten der Familien, mit der besonderen Alltagsorganisation in einem Schichtarbeiterhaushalt umzugehen.53 Für die Ausstellung, die sie 1986 in Dortmund eröffneten, hatten die Projektteilnehmer ein typisches Beispiel aus der Arbeit im Entwurfsseminar ausgewählt: Wie die meisten anderen Teilnehmer lebte die Familie in einer Belegwohnung im Stadtteil Rheinhausen aus den 1960er-Jahren. In der kleinen DreiZimmer-Wohnung bestimmte der Schichtplan des Vaters den gesamten Alltag, vor allem während der Nachtschichtperiode. Wenn er morgens nach der Arbeit nach Hause kam, legte er sich zuerst im Schlafzimmer ins Bett. Von nun an musste jedes Geräusch vermieden werden: Das Telefon im Flur war unter einem Kopfkissen versteckt, sogar das Drehen der Schlüssel im Schloss war zu laut. Mutter und Sohn aßen gemeinsam in der Küche, danach verbrachte der Teenager den Rest des Tages in seinem Zimmer. Musikhören oder Fernsehen war nur mit Kopfhörern möglich, Freunde konnten nicht zu Besuch kommen. Trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen schlief der Vater nicht gut, der Lärm von der Straße und der Umgebung ließ sich nicht aussperren. Nach nur drei bis vier Stunden Schlaf zog er daher um auf das Sofa im Wohnzimmer. Damit war nicht nur der Flur, sondern auch das Wohnzimmer den ganzen Tag über eine »Tabu-Zone«. Der einzige Raum, in dem sich die Frau aufhalten konnte, war die Küche. »Er hat keine Ahnung, was wir alles für ihn tun«, versuchte sie, ihre Situation zu beschreiben. »Bei Nachtschicht bin ich selber so kribbelig. Ich merke, wie ich aggressiv werde bei jedem bißchen, wo ich denke, er könnte davon wach werden.«54 Die Männer selbst verließen die Wohnung kaum, sie verbrachten die meiste Zeit zu Hause mit Schlafen und Erholung. Jüngeren Schichtarbeitern bereitete vor allem die Periode der Mittags- bzw. Spätschicht (14 bis 22 Uhr) Schwierigkeiten: Am Vormittag, wenn sie frei hatten und wach waren, fand kein soziales Leben statt, die Kinder waren in der Schule, Treffen und Feiern waren erst für den Abend geplant.55 Ihnen aber stand der Arbeitstag noch bevor, ein Gefühl von »Feierabend« konnte sich kaum einstellten. Nicht zuletzt nutzten sie diese Phase,
51 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 265-287. 52 Ebd., S. 81. 53 Vgl. auch Hahn: Soziale Auswirkungen, 1985, S. 14f. 54 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 49. 55 Vgl. Hahn: Soziale Auswirkungen, 1985, S. 7f.
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die auf die Nachtschichtperiode folgte, häufig zum »Nachschlafen« – die »soziale Zeit« schrumpfte so auf wenige Stunden zusammen, die sie zumeist allein verbrachten.56 Mit fortschreitendem Alter wurden dann die Nachtschichtperioden zum Problem. In diesen Tagen war die Schlafzeit auf nur sechs oder sogar vier Stunden pro Tag reduziert und Nachtarbeiter schliefen nicht nur kürzer, sondern auch »leichter«.57 Die Umkehrung eines »üblichen« Tagesablaufs prägte das soziale Leben der ganzen Familie. Nur durch eine vollständige Unterwerfung ihres Alltags unter die Zeiten der Arbeit konnten viele Schichtarbeiter »Konfliktsituationen« vermeiden.58 Die Arbeitszeiten beeinflussten in extremer Weise auch ihr Familienleben und die Möglichkeiten, am sozialen oder politischen Leben teilzunehmen. »Schicht ist nicht nur das Zeitsystem«, formulierte einer der Stahlarbeiter prägnant.59 Kontischichtler lebten vielmehr in einer durch die Arbeitszeit geprägten Subkultur, die Experten sogar als eine Art »Apartheid« bezeichneten.60 Diese Feststellungen hatten entscheidende Konsequenzen: Eine »Humanisierung der Arbeitswelt« war nur möglich, wenn auch die »außerbetriebliche[n] Lebensverhältnisse«61 miteinbezogen wurden. Zwar war den Experten bewusst, dass »die Möglichkeiten für Gestaltungsmaßnahmen« jenseits des Werktors sehr begrenzt waren.62 Dennoch und gerade deswegen begannen sie, auch das Privatleben von Nacht- und Schichtarbeitern zu evaluieren, zu bewerten und zu optimieren. Die zeitliche Organisation des Zusammenlebens, etwa eben die Nutzung der Wohnung, die möglichen Schlafzeiten und die »Familienzeiten«, wurden Gegenstand öffentlicher und politischer Debatten und wissenschaftlicher Forschung. Das HdA-Projekt in Duisburg ist ein Beispiel dafür, dass die Erforschung der »Lebensverhältnisse« einen neuen Blick auf das Leben »gegen« die Zeitstrukturen der Gesellschaft ermöglichen konnte. Erst die Einbeziehung der Erfahrungen der Arbeitenden und ihrer Familien ließ die Auswirkungen von bestimmten Formen der Arbeitszeitorganisation sichtbar werden.
56 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 143. 57 Vgl. u.a. Hahn: Gesundheitliche Auswirkungen, 1985, S. 18-23. 58 Wilhelm: Schlaf- und Freizeitverhalten, 1978, S. 229; vgl. Zayer: Schlafproblematik, 1977. 59 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 39. 60 Zayer: Schlafproblematik, 1977, S. 33. Vgl. auch Streich: Bilanz, 1986, S. 91-116. 61 Boldt: Wechselbeziehungen, 1983, S. 431. 62 Ebd.
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DER »INNERE ARBEITSTAG« UND DIE UNFLEXIBLEN KÖRPERZEITEN Das innovative Projekt in Rheinhausen, das Arbeitende, ihre Familien, Wissenschaftler und Künstler zusammenbrachte, blieb eine Ausnahme. Die meisten Humanisierungsexperten vertrauten auf die etablierten Methoden ihrer Fächer: der Physiologie, der Arbeitsmedizin, der Arbeitswissenschaft, Soziologie oder Psychologie. Doch auch die eher traditionell ausgerichteten Forschungsprojekte des HdA-Programms gingen neue Wege. Die Erforschung der Folgen eines Lebens gegen die Uhr an der Wand führte dazu, dass sich grundlegende Konzepte von »innerer« Zeit und körperlichem Rhythmus veränderten. Im Zuge der »Humanisierungsbemühungen« begannen Soziologen, Mediziner und Arbeitswissenschaftler, über die »innere Uhr« des Menschen nachzudenken. Seit den 1950er-Jahren hatten sich vor allem Arbeitswissenschaftler und Leistungsmediziner intensiver mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Leistungsfähigkeit des Individuums bestimmten Rhythmen folge und ob und wie sich diese Rhythmen beschreiben, vermessen, verändern und optimieren ließen. Die Suche nach der »Leistungskurve« wurde schließlich Teil einer neuen Disziplin, der »Chronobiologie«: Die Wissenschaft von der »Biologie der Zeit« entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem anerkannten Forschungsfeld. Die neue Wissenschaft war unter anderem deswegen so erfolgreich, weil ihre Erkenntnisse dringend gebraucht wurden. Die sich wandelnde Welt der Arbeit war durch die Einführung von flexibel programmierbaren computergesteuerten Anlagen, fortschreitende Automatisierung, die Ausweitung von Kommunikation und Mobilität rund um den Globus 24 Stunden am Tag gekennzeichnet.63 Nicht nur der Stahlarbeiter, sondern auch der Pilot, der Fluglotse, die Bediensteten im Überwachungsraum von Atomkraftwerken oder von automatischen Fertigungsstrecken mussten nachts wach und hochkonzentriert sein. In dieser Situation bestand »ein erhöhter Informationsbedarf bezüglich der Reaktion menschlicher Organismen unter den Bedingungen einer von den gewohnten Tag-Nacht-Rhythmen entkoppelten Arbeitsweise«, überlegte etwa der Sozialwissenschaftler Jürgen Rinderspacher 1985.64 In ersten Studien der 1960er-Jahre hatten die »Zeit-Biologen« herausgefunden, dass der menschliche Körper einem relativ stabilen Rhythmus von 24 Stunden zu folgen schien, einem »circadianen« Rhythmus, »um den Tag herum«. Dieser »circadiane Rhythmus« war auch verantwortlich für Schläfrigkeit, Kon-
63 Vgl. Ahlheim: Traum, 2018, S. 465-481. 64 Rinderspacher: Gesellschaft, 1985, S. 119.
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zentration, Motivation und Leistungsfähigkeit.65 Nach damals neuen Erkenntnissen erbrachten die meisten Individuen am Vormittag und am späten Nachmittag die besten Leistungen, am frühen Nachmittag war ein kleines Tief zu beobachten und nachts zwischen zwei Uhr morgens und sechs Uhr morgens erreichte die Kurve ihren absoluten Tiefpunkt.66 In dieser Zeit waren Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit entscheidend reduziert. Die Organisation der kontinuierlichen Arbeit, oft verbunden mit konzentrationsintensiven Überwachungsaufgaben, verlangte von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz jedoch »zu jeder Zeit volle Funktionsfähigkeit«.67 Wer nachts arbeitete und tagsüber schlief, lebte also nicht nur gegen die eigene »innere Uhr«, sondern war auch ein Sicherheitsrisiko. Experten diskutierten daher darüber, welche Folgen ein solches »asynchrones« Leben und Arbeiten hatte und ob und unter welchen Umständen vielleicht doch eine »Umstellung« dieses grundlegenden Rhythmus möglich sein könnte.68 Immer wieder hatten einzelne Studien darauf hingedeutet, dass eine »Inversion« der Tag-Nacht-Rhythmik möglich war, dass also der Körper sich daran gewöhnen könnte, nachts aktiv zu sein und tagsüber zu ruhen.69 Es zeichnete sich jedoch ab, dass eine solche Umkehrung des Rhythmus eine »Umstellzeit« von mindestens zehn Tagen brauchte. Bei den üblichen Schichtperioden von fünf bis sieben Tagen war die »Inversion der Tagesperiodik« also »gerade ›angestoßen‹. Bevor sie abgeschlossen ist, erfolgt schon die nächste Zeitverschiebung«,70 der »Rhythmus für Schlaf, Ernährung und Verdauung wird immer wieder gewaltsam unterbrochen«.71 Eine Anpassung der Körperrhythmen an die Rhythmen der Arbeit konnte während der siebentägigen Schichtperioden nicht erreicht werden. Auch wenn die Schichtperioden länger gewesen wären und so mehr Zeit für die Umstellung geboten hätten, erschien eine dauerhafte »Umkehr« des Rhythmus jedoch kaum möglich.72 Denn der 24-Stunden-Rhythmus des Körpers wurde durch Licht und Temperatur, aber auch durch das soziale Leben, durch Mahlzeiten, Interaktion usw. »synchronisiert«.73 Wenn die umgebende Gesellschaft also tagsüber aktiv und nachts untätig war, stellte sich auch der Körperrhythmus des
65 Vgl. u.a. Hildebrandt: Variable Arbeitszeit, 1973, S. 22f. 66 Vgl. u.a. Hahn: Gesundheitliche Auswirkungen, 1985, S. 10-18. 67 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 67. 68 Vgl. u.a. Streich: Bilanz, 1986, S. 70 69 Vgl. Ahlheim: Traum, 2018, S. 178-185, 578f. 70 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 67. 71 Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 14. 72 Vgl. z.B. Hahn: Gesundheitliche Auswirkungen, 1985, S. 17. 73 Anonym: Schichtarbeit, 1979, S. 45.
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Individuums darauf ein. Eine »Umstellung« sei nur möglich, wenn der Mensch all diese »Zeitgeber« ausblendete und »sich völlig von der Umwelt« abschottete, erklärten die Schichtarbeitsexperten.74 Das führte zum einen dazu, dass vor allem ältere Schichtarbeiter ihr soziales Leben noch weiter eingeschränkten, um eine »Stabilisierung des biologischen Rhythmus« zu erreichen,75 und die »Orientierung der biologischen Uhr« schließlich »gegenüber den sozialen Kontakten und den anderen Rahmenbedingungen für die Nutzung des zeitlichen Handlungsspielraums« an Relevanz gewann.76 Zum anderen befinde sich der Körper von Schichtarbeitern durch die ständigen »Zeitversprünge«77 dauernd »im Stadium der beginnenden Umkehrung«78 und damit »im Risikozustand«79, fasste auch das Duisburger Projektteam zusammen. Nur »eine fortwährend ausgelesene ›Olympiamannschaft‹« könne überhaupt länger Schichtarbeit leisten.80 Doch selbst eine solche »Olympiamannschaft« konnte nicht konstant zu jeder Tageszeit die gleiche Leistung erbringen. Solange die körperlichen Rhythmen dauernden »Zeitversprüngen« unterworfen waren und sich nicht einpendeln konnten, konnte auch die volle Leistungsfähigkeit der Arbeitenden zur »richtigen Zeit« nicht sichergestellt werden. Da eine vollständige Umstellung des Rhythmus bei Nachtarbeitern ausblieb, erlebten sie Nacht für Nacht ihr »circadianes Loch« am frühen Morgen. Zumindest dort, »wo der in der Nachtschicht bekannte Rückgang der Leistungsfähigkeit mit einem an bestimmten Arbeitsplätzen bekannt hohen Gefährdungsgrad zusammentrifft«, könne sich das Unfallrisiko erhöhen, urteilte Hans Hahn.81 Unfälle wie die Reaktorkatastrophe im USamerikanischen Harrisburg 1979 bestätigten dieses Vermutung: Offensichtlich waren die Mitarbeiter des Atomkraftwerkes während der Nachtschicht nicht in der Lage, angemessen auf die Störungsmeldungen zu reagieren.82 Schicht- und Nachtarbeit müsse daher schon aus Sicherheitsgründen anders, nämlich »orthochronocally« (»rechtzeitlich/zeitlich richtig«), organisiert werden, forderten Experten.83 Es gelte, bei der Organisation und personellen Besetzung der Nacht-
74 Ebd., S. 43. 75 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 152. 76 Ebd., S. 141. 77 Ebd., S. 78f. 78 Ebd., S. 140. 79 Ebd., S. 67. 80 Ebd., S. 68. 81 Hahn: Gesundheitliche Auswirkungen, 1985, S. 29. 82 Rogovin/Frampton (Hg.): Three Mile Island, 1980, S. 7. 83 Ehret: Approaches, 1981, S. 263; Vgl. auch Anonym: Verschobene Zeiten, 1981.
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schichten in Zukunft die biologischen Rhythmen der Arbeitenden ernst zu nehmen und das Zusammenspiel von äußerer und innerer Zeit zu beachten. Die »innere Uhr«, die die Arbeitenden zu bestimmten Zeiten »müde« und unkonzentriert werden ließ, entwickelte sich in den seit Jahrzehnten intensiv geführten Debatten um Ermüdung am Arbeitsplatz zu einer neuen Richtschnur.84 Die Rationalisierungsbestrebungen und neue, automatisierte Produktionsregime, vor allem aber das Nachdenken über eine »Humanisierung des Arbeitslebens« verhalfen der Frage nach dem biologischen Rhythmus des einzelnen Mitarbeiters zu neuer Bedeutung. Die Produktionsprozesse »rund um die Uhr« stießen offenbar auf Beschäftigte, deren Körper nicht ausreichend »flexibel« waren. Die Flexibilisierung der Arbeitsprozesse führte im Falle der Schicht- und Nachtarbeit dazu, dass die individuell verschiedenen, aber nicht beliebig verschiebbaren Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit deutlich wurden. Offensichtlich gab es so etwas wie einen »inneren Arbeitstag«, der mit den »äußeren« Arbeitszeiten zusammengedacht werden musste, um Arbeit »orthochronocally« organisieren zu können. Immer mehr Experten begannen daher, eine »biorhythmisch kontrollierte[ ] Leistungsverausgabung« zu fordern.85 Erholzeiten könnten nicht einfach allgemein verhandelt werden, stellte etwa P.G. Köck 1976 fest, sondern müssten den »Biorhythmus« berücksichtigen. Der Bedarf aus Auszeiten und Arbeitsruhe unterscheide sich je nach »Mensch-Maschine-System«, nach Geschlecht und Alter, und zudem bestünden »beträchtliche Unterschiede in der physiologischen Leistungsbereitschaft zwischen 9 Uhr vormittags und 15 Uhr nachmittags«.86 Ferdinand Böckle erklärte bereits 1979 in seiner Dissertation über Flexible Arbeitszeit im Produktionsbereich, »[t]raditionelle Arbeitszeitstrukturen, die für Arbeitsbeginn und -ende einen bestimmten Zeitpunkt festlegen«, seien »nicht nur aus medizinischer Sicht unzeitgemäß. Sie nehmen keine Rücksicht auf individuelle Tagesrhythmen und die damit während des Tages schwankende Leistungsbereitschaft eines jeden Arbeitnehmers.«87 Die »innere Uhr« erschien aber nicht nur als Indikator für die Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Jede »weitere Arbeitszeitverkürzung ist im Bereich der Stahlindustrie nur im Zusammenhang mit der Humanisierung der Arbeitszeitorganisation diskutierbar«, das war das Fazit des
84 Vgl. dazu u.a. Ahlheim: Traum, 2018, S. 525-58. 85 Rinderspacher: Gesellschaft, 1985, S. 147. 86 Köck: Berücksichtigung, 1976, S. 67. 87 Böckle: Flexible Arbeitszeit, 1979, S. 15. Gleichzeitig müsse der Durchschnittslohn »von der Belastungsdimension Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit« befreit werden, ebd.
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Duisburger Projektes. Das wiederum könne nur heißen: »Ausgleich der Zeitversprünge zwischen den einzelnen Schichtperioden bei weitestgehendem Abbau der Nachtarbeit.«88 Bei den Überlegungen zu einer »Chronohygiene der Arbeit« ging es damit zum einen um die »humane« Gestaltung der Arbeitszeit, um angemessene Erholung und Sicherheit am Arbeitsplatz. Zum anderen spielte aber durchaus auch die effektive Ausnutzung der Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmern eine Rolle. Die Zeitabläufe eines umgekehrten, verschobenen oder flexiblen Arbeitstages forderten neue Methoden, um Probleme zu identifizieren, die Belegschaft zu managen, Sicherheit am Arbeitsplatz und Höchstleistungen zu ermöglichen. Die Idee einer »Chronohygiene« der Arbeit, »einer chronobiologisch begründeten allgemeinen Verhaltenshygiene und Prävention«, war geboren.89 Aufmerksame Zeitgenossen meinten in diesen ersten Ansätzen den Beginn eines grundlegenden Umdenkens zu erkennen: Es scheine geboten, »die bisherige Praxis, den Menschen den Arbeitsbedingungen des Erwerbsprozesses anzupassen, aufzugeben und stattdessen dazu überzugehen, die Arbeitsbedingungen nach den menschlichen Erfordernissen zu gestalten«, glaubte der Soziologe Bernd Teriet.90 Eine solche »Chronohygiene« aber machte gleichzeitig die Lebenssituation der Arbeitenden »rund um die Uhr« zum Gegenstand von Arbeitswissenschaft und betrieblicher Politik, die auf diese Weise einmal mehr in den privaten Raum und – auf der Suche nach der »richtig« laufenden »inneren Uhr« – sogar in den individuellen Körper vordrangen.91
BEGREIFEN, »WIE WIR LEBEN« Am 1. Mai 1983 fand die Skulptur »… wer weiß denn schon, was Schichtarbeit bedeutet« vor dem Bezirksrathaus Rheinhausen einen dauerhaften Standort. Die Stahlarbeiter-Gruppe hatte sich dafür eingesetzt, dass die »von so vielen freiwilligen Händen in so vielen Hundert Stunden« produzierte Installation erhalten
88 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 149. 89 Hildebrandt: Einführungsreferat, 1976, S. 1. 90 Teriet: Neue Strukturen, 1976, S. 34. 91 Zur Einbeziehung der Familie und des privaten Lebens in die Konzepte und Organisation von Sicherheit am Arbeitsplatz etwa durch Appelle an Kinder und Ehefrauen unter dem Motto »Vati, das passiert Dir nicht wieder!« vgl. Kleinöder: Unternehmen, 2015, S. 180, 184.
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und öffentlich zugänglich bleiben sollte.92 Das Kunstwerk hatte eine Bedeutung für die Beteiligten: Die Arbeit und die Ausstellung hatten ihnen öffentliche Aufmerksamkeit verschafft, aber auch geholfen, die eigene Lebens- und Arbeitssituation mit neuem Blick zu betrachten. »[J]etzt erst haben wir begriffen, wie wir leben«, hatten sie formuliert.93 Das gemeinsame Forschen hatte allen Beteiligten vor Augen geführt, dass das »herrschende Zeitsystem der kontinuierlichen Produktion« den Stahlarbeitern »letztenendes ihrem Lebensrhythmus äußerlich und feindlich erscheinen« musste.94 »Der lebenslange Kampf um die Handlungsspielräume, um das eigene, selbst gestaltete Leben, summiert sich am Ende als vergebliche Mühe, enthüllt einen Zustand subjektiv erfahrener gesellschaftlicher Isolation und Benachteiligung des Schichtarbeiters«, fasste der Katalog der aus dem Projekt hervorgegangenen Ausstellung es drastisch zusammen.95 Die Arbeitszeit machte »krank«, sie gab den Takt für das gesamte soziale Leben vor, und über gewonnene »Freizeit« konnten die Arbeitenden letztlich nicht frei verfügen: Sie mussten auch ihre private Zeit den Anforderungen des Arbeitslebens unterordnen und zur Regeneration nutzen.96 Das Projekt hatte damit die dringende Notwendigkeit einer humaneren Gestaltung der Schichtarbeit deutlich werden lassen. Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten »rund um die Uhr« stieß auf soziale und körperliche Rhythmen menschlichen Lebens, die ganz und gar nicht flexibel waren, sondern im Gegenteil feste und schwer »umstellbare« Strukturen aufwiesen. Schichtarbeit bedeutete, dass die Betroffenen und ihre Familien sowohl gegen die »äußere Uhr« der Gesellschaft, als auch gegen die »innere Uhr« ihres Körpers leben mussten. Doch trotz der eindeutigen und beeindruckenden Ergebnisse der Schichtarbeitsforschung und innovativer Ansätze wie beim Duisburger »kooperativen Forschungsprojekt« war eine entscheidende Verbesserung der Situation nicht in Sicht.97 »Bei allen Bemühungen um eine Humanisierung der S[chicht- und Nachtarbeit]«, hieß es im Wörterbuch zur Humanisierung der Arbeit 1983, sei »nicht zu übersehen, daß die vorhandenen gesundheitlichen und sozialen Risiken
92 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 297. 93 Ebd.. Vgl. auch Bumann/Krau/Schmode (Hg.): Belastung, 1986, S. 21. 94 Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 154. 95 Ebd., S. 152. 96 Ebd., S. 155. 97 Zu den vorgeschlagenen Verbesserungen, vor allem dem Abbau von Mehrfachbelastung, vgl. u.a. Baillod: Arbeitszeit, 1986, S. 134-139.
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lediglich gemindert, nicht aber beseitigt werden können.«98 Die Grenzen einer »Humanisierung des Arbeitslebens« waren den Beteiligten im Falle der Schichtund Nachtarbeit schnell bewusst geworden. Bereits als die Ergebnisse des Duisburger Projektes 1986 veröffentlicht wurden, stand von der Rheinhausener Skulptur nur noch ein »Torso«, sie war zerstört und geplündert worden. Es gab keine weiteren Versuche mehr, sie zu retten. »Der Torso bleibt stehen, allen Beteiligten ist die Luft ausgegangen«, erklärte der Bericht fast schon resigniert.99 Die im Rahmen des offiziellen HdA-Programms durchgeführten Projekte zur Verbesserung der »problematischsten Arbeitszeitform« scheinen damit zu einem großen Teil gescheitert – und sie wirken angesichts der Debatten der folgenden Jahrzehnte auf den ersten Blick fast schon antiquiert. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass die HdA-Experten den Schwerpunkt ihrer Beschäftigung mit »Arbeitszeit« sehr bewusst auf die Nacht- und Schichtarbeit legten und sich damit in Debatten einschrieben, die seit den 1920er-Jahren um Ermüdung und Arbeitssicherheit geführt werden. Zudem hielten sie an traditionellen Forderungen fest und konzentrierten sich auf die altbewährte »Fixierung bezahlter Erholpausen«, auf »Freizeitausgleich«, »Erweiterung des Jahresurlaubs« und die »allgemeine[ ] Verkürzung der Wochenarbeitszeit«, die sie als »vorrangige und insgesamt bedeutendere Ansatzpunkte zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen« ansahen. Dagegen beschäftigten sie sich nur am Rande mit »in neuerer Zeit intensiv diskutierten Formen der Arbeitszeitflexibilisierung« wie etwa Gleitzeit, Teilzeitarbeit oder Variabler Arbeitszeit, die vor allem »als Mittel flexibler betrieblicher Personalentwicklung und als arbeitsmarktpolitische Instrumente« galten.100 Mit dieser Schwerpunktsetzung ignorierten die Humanisierungsexperten der 1970er- und 1980er-Jahre eine Entwicklung, die die Arbeitszeitpolitik und -organisation in den folgenden Jahrzehnten entscheidend prägte. Während die absolute Zahl der Nacht- und Schichtarbeiter zunächst eher stagnierte, wuchs die Menge derjenigen, die in Modellen flexibler Arbeitszeitorganisation beschäftigt waren und beschäftigt sein wollten.101 »Die Gewerkschaften haben es verpasst«, kritisierte der Schweizer Psychologe Jürg Baillod 1986, den »Begriff der flexiblen Arbeitszeit mit der Bedeutung aufzufüllen, die ihren Interessen entspricht.«102 Damit hätten sie »ihre Vorstellungen praktisch kampflos aufgege-
98
Nachreiner/Streich/Wettberg: Schicht- und Nachtarbeit, 1983, S. 341.
99
Krau/Walz: Kontischicht, 1986, S. 299.
100 Ott: Arbeitszeit, 1983, S. 142. Vgl. auch Teriet: Strukturen, 1976, S. 97. 101 Streich: Bilanz, 1986, S. 5. 102 Baillod: Arbeitszeit, 1986, S. 65.
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ben« und der vereinfachenden Definition flexibler Arbeitszeit als positiven Gewinn von »Zeitsouveränität« durch Experten und Arbeitgeber nichts mehr entgegenzusetzen.103 Die Fragen, die die Forschungen zur Schicht- und Nachtarbeit aufwarfen, waren jedoch bei genauerem Hinsehen alles andere als »ignorant« oder rückwärtsgewandt. So trug das HdA-Programm dazu bei, dass sich die Zielvorstellungen und Konzepte im Nachdenken über Arbeitszeit in den 1970er- und 1980er-Jahren grundlegend veränderten und neue Fragen und Konzepte sich etablieren konnten. Die Versuche, die Nacht- und Schichtarbeit zu »humanisieren«, rückten die physische und psychische Disposition des Individuums ebenso wie seine private Situation nun in den Blick von Experten und ins Zentrum der Debatten. Die Humanisierungsversuche gingen einher mit Kontrollansprüchen und neuen Zugriffsmöglichkeiten auf das arbeitende Subjekt, »rund um die Uhr«. Sogar die Zeit, die die Arbeitenden und ihre Familienangehörigen in der Küche und im Bett verbrachten, war nun Teil eines Denk- und Kontrollsystems, das Gesundheit und Sicherheit, aber eben auch Effizienz und Rationalisierung in der Arbeitswelt sicherstellen sollte. Nicht zuletzt konnten nun sogar die 24stündigen inneren Rhythmen des individuellen Körpers als Teil des Arbeitsprozesses und einer »Hygiene« des Arbeitslebens gedacht werden. Diese Denk- und Handlungsansätze prägten den Umgang mit der individuellen, »flexiblen« Organisation von Arbeitszeit jenseits der Schicht- und Nachtarbeit in den folgenden Jahrzehnten entscheidend. Innovative Projekte wie die kooperative Forschung in Rheinhausen, die neue Wege der Selbstvergewisserung, kritischer Auseinandersetzung und gesellschaftlicher Teilhabe zu beschreiten versuchte, blieben dabei vielleicht auch in der »Humanisierungsforschung« nicht zufällig eine Ausnahme. Solche Projekte verwiesen auf die Notwendigkeit, individuelle Lebenswelten ernst zu nehmen und einen neuen Blick auf grundlegende Machtverhältnisse der Gesellschaft zu wagen. Gerade weil die Duisburger Forschenden auf neue, selbstbewusste und kooperative Weise weit über die konkrete Situation am Arbeitsplatz hinausgingen und die »harten Begrenzungen« in den Blick nahmen, stießen sie schnell auf die Grenzen der »Humanisierung«. Ihre Ergebnisse hatten vor allem die Folgen einer Unterwerfung des Menschen unter die scheinbar unveränderliche Logik der Produktionsprozesse deutlich gemacht; sie mussten einen »Torso« zurücklassen. Die von Physiologen und Arbeitsmedizinern erforschte Idee einer »inneren Uhr« dagegen konnte sich etablieren. Eine vom einzelnen Individuum beachtete »Chronohygiene« erforderte zwar eine Neujustierung im Zusammenspiel von
103 Ebd.
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Technik und Mensch. Sie warf aber zunächst nur indirekt die Frage nach den »Lebensverhältnissen« auf, in denen sich die Arbeitenden bewegten. Dabei sind die alltäglichen Konflikte und grundlegenden Fragen, auf die die Duisburger, aber auch andere HdA-Projekte zur Nacht- und Schichtarbeit hinwiesen, noch heute aktuell. In vielen Bereichen ist Nacht- und Schichtarbeit weiterhin verbreitet, sie nimmt sogar wieder zu. In der Eisen- und Stahlproduktion, aber auch in Krankenhäusern, bei der Polizei, im Verkehr, in der Logistik oder im Gaststättengewerbe ist sie unvermeidbar. Die in ihrer Organisation an sich so unflexible Nacht- und Schichtarbeit ist wichtiger Teil einer allgemeinen »Flexibilisierung« von Arbeits- und Lebenszeiten. In einer weltweit vernetzten und dauerhaft erleuchteten Gesellschaft und Wirtschaft steigt insgesamt die Notwendigkeit, Konsum-, Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten 24 Stunden am Tag zu gewährleisten, und eine weitere Auflösung der Grenzen von Tag und Nacht scheint unvermeidbar zu sein. Neue Arbeitszeitmodelle und Kommunikationswege führen zudem dazu, dass die zeitlichen Grenzen der Arbeit verschwimmen und die tägliche Arbeitszeit ganz unverhofft zur Nachtarbeit werden kann. Die Frage nach dem Verhältnis von ökonomischem Zwang und individuellem Wohlergehen, nach den Grenzen individueller Verfügbarkeit, den Zwängen gesellschaftlicher Zeit-Organisation und dem Zusammenhang von Leistungsfähigkeit und körperlichen Rhythmen steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder ganz oben auf der wissenschaftlichen und politischen Agenda, auch und gerade der Gewerkschaften. »Mein Leben – meine Zeit. Arbeit neu denken!«, so lautete 2016 der Slogan einer Kampagne der IG Metall, mit der sie für die Ausgestaltung flexibler Arbeitszeitmodelle kämpft.104 Der ver.di-Vorstand Lothar Schröder forderte angesichts der wieder längeren und flexibilisierten Arbeitszeiten 2017 eine »neue Statik für die Arbeit«, um den Schutz der Beschäftigten zu gewährleisten und »humane Arbeitszeiten in der digitalisierten Arbeitswelt« zu schaffen.105 Die Idee einer »Humanisierung der Arbeit« ist nach wie vor eng verbunden mit der Vorstellung einer Wiederaneignung von Zeit, einer Emanzipation vom Diktat der Uhr und einer erfüllten, »eigenen« Lebenszeit. Es geht immer noch und wieder darum zu begreifen, »wie wir leben«. Vielleicht drängender denn je stellt sich im Zeitalter der Digitalisierung und der scheinbaren Auflösung alter Arbeitsformen und Zeitnormen im 21. Jahrhundert die Frage nach den Grenzen
104 URL: https://www.igmetall.de/ueber-uns/kampagnen/mein-leben--meine-zeit (letzter Zugriff: 30.03.2019). 105 Schröder: Ringen, 2017, S. 34.
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der Flexibilisierung und dem Wert gewonnener Zeit.106 Die Beschäftigung mit den »harten Begrenzungen« der Schicht- und Nachtarbeit zwingt dazu, eben die Bruchstellen in den Blick zu nehmen, an denen ökonomische Argumente und Zwänge eine »Humanisierung« der Arbeitswelt schwer, vielleicht sogar unmöglich erscheinen lassen. Es gibt viele Gründe, sich dem »Torso« einer Auseinandersetzung mit Zeitkonflikten und Zeitphantasien aus den 1980er-Jahren wieder zuzuwenden, ihn mit neuem Blick zu betrachten, zu bearbeiten, zu ergänzen und zu gestalten.
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106 Zuletzt etwa zu den Folgen von Arbeit im »Homeoffice« vgl. Lott: Arbeit, 2019, S. 6f.
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184 | Hannah Ahlheim
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Von der Humanisierung zur Flexibilisierung der Arbeit Der »Wertewandel« in der Wirtschaft der 1980er-Jahre am Beispiel von BMW Bernhard Dietz
EINLEITUNG: »FAUL ODER NICHT?« – DIE ARBEITSWELT IN DEN 1980ER-JAHREN In der westdeutschen Wirtschafts- und Arbeitswelt gab es in den 1980er-Jahren für die Frage nach der »Humanisierung der Arbeit« eine neue sozialwissenschaftliche Grundlage: die Diagnose vom »Wertewandel«. Damit wurde ein neues Kapitel in einer Geschichte aufgeschlagen, die zu diesem Zeitpunkt bereits über ein halbes Jahrhundert alt war: Dass »menschlichere«, weniger eintönige Gestaltung von Arbeit zur Leistungssteigerung führen kann, wussten bereits die Arbeitswissenschaften der 1920er-Jahre.1 In den 1950er-Jahren propagierten dann amerikanische Verhaltenspsychologen die Bedeutung der Ich-Bedürfnisse und des Strebens nach Selbstverwirklichung für die Arbeitsmotivation. Diese motivationspsychologischen Ansätze boten in den 1970er-Jahren die Grundlage für die Diskussion neuer – betont nichtautoritärer – Managementmethoden, die Führung nicht mehr als Verhaltenssteuerung über Vorgaben, sondern über die Aktivierung von Motiven verstanden.2 Eine weitere Dekade später lieferte die sozialwissenschaftliche Wertewandelforschung schließlich den empirischen
1
Vgl. Uhl: Humane Rationalisierung?, 2014; ders.: Faktor Mensch, 2010. Vgl. zu den vielfältigen wissenschaftlichen, politischen, gewerkschaftlichen und betrieblichen Ansätzen zu einer »Humanisierung der Arbeit«: Kleinöder: »Humanisierung«, 2016.
2
Vgl. Dietz: Weniger Autorität, 2018; ders.: »Industriegesellschaft«, 2016.
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»Beweis« für ein breites gesellschaftliches Bedürfnis nach »humaner« und »selbstbestimmter« Arbeit. Die 1980er-Jahre wurden – zumindest diskursiv – zum Jahrzehnt der »Selbstverwirklichung«. Die These von den sich wandelnden Werten war ursprünglich vom amerikanischen Politologen Ronald Inglehart in den 1970er-Jahren entwickelt und als eine »stille Revolution« beschrieben worden.3 Gemeint war ein umwälzender sozialkultureller Wandel, der sich in allen westlichen Industrieländern seit den späten 1960er-Jahren vollzogen und diesen Gesellschaften ein neues normatives Grundgerüst gebracht habe, durch das die Menschen ihr Leben weniger gehorsam an Werten wie Pflicht, Treue und Fleiß orientierten, sondern zunehmend selbstbestimmt am Ziel der persönlichen Selbstentfaltung. Die These war somit ursprünglich global formuliert und hatte mit der Diagnose des »Wertwandelschubs« für die Zeit von 1965-1975 einen historischen Ankerpunkt. Bemerkenswerterweise entfaltete die These allerdings ihre größte populäre Verbreitung nicht in den USA (oder in Frankreich, Großbritannien und Japan) und auch nicht zur Zeit der 1970er-Jahre, sondern zu Beginn der 1980er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Eine »stille Revolution« war dies nicht mehr, denn der »Wertewandel« war nun in aller Munde und etablierte sich zu einer äußerst erfolgreichen Gegenwartsdiagnose und Zukunftsprognose. Dabei ging es nur am Rande um veränderte Einstellungen zu Familie, Religion oder Sexualität. Wenn in der Bundesrepublik der frühen 1980er-Jahre vom Wertewandel die Rede war, dann war der Wertewandel der Arbeit gemeint. Leistung, Motivation, Arbeitszeit und Freizeit waren die Stichworte. Die Frage nach der Arbeitsmoral der Deutschen stand im Raum. Vergleiche mit Japan und seinen disziplinierten, verzichtsbereiten und fleißigen Arbeitern waren an der Tagesordnung.4 Politiker, Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter und Journalisten diskutierten den Zustand der deutschen Arbeitsethik, und die Möglichkeit einer Erosion der Leistungsbereitschaft der deutschen Arbeitnehmer wurde zum Politikum. Entsprechend lautete die »deutsche Preisfrage«, so brachte es Die Zeit 1980 treffend auf den Punkt: »Faul oder nicht?«5 Dass diese Frage zu Beginn der 1980er-Jahre eine solche Bedeutung und Sprengkraft erlangen konnte, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen stand mit dem Arbeitsethos ein zentrales Element der westdeutschen Identität auf dem Prüfstand, das in Topoi wie »deutsche (Wert-)Arbeit«, »Wirtschaftswunder« und
3
Inglehart: Silent Revolution, 1977. Vgl. dazu auch Rödder: Materialismus, 2006.
4
Lecher/Welsch: Japan, 1983. Vgl. auch Schwendter: Herausforderung, 1982.
5
Hofmann: Koalitionszwist, 1980.
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»Exportweltmeister« bis heute zum Vorschein kommt. Zum anderen wurde der »Wertewandel« zu Beginn der 1980er-Jahre unter schwierigen ökonomischen Voraussetzungen diskutiert. Das zentrale Problem war die hohe Arbeitslosigkeit, die Ende 1982 mit mehr als zwei Millionen Arbeitslosen einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.6 Arbeitslosigkeit war zu einem strukturellen Phänomen geworden und nicht viel deutete darauf hin, dass sie durch den nächsten Konjunkturaufschwung wieder verschwinden würde. Im Gegenteil: Der Wandel von einer Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Rationalisierungspotenziale der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und die wachsende Zahl berufstätiger Frauen ließen tiefgreifende Zweifel aufkommen, ob in Zukunft »der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht«.7 Es wurde diskutiert, »wie viele Arbeitslose sich eine Gesellschaft wie die unsere leisten kann«, ohne »schweren Schaden« zu erleiden, wie es der Direktor der Ruhr-Universität Bochum Knut Ipsen am 15. November 1984 in seiner Eröffnung der Ringvorlesung »Arbeitsgesellschaft im Umbruch« formulierte.8 Eine andere Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin stellte sich der Frage: »Arbeit für alle – immer noch eine realistische Perspektive?«9 In der zeitgenössischen Beobachtung wurden die sich verändernden ökonomischen Bedingungen in der »post-industriellen Gesellschaft«10 und die strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt mit sozialkulturellen Veränderungen, insbesondere mit »neuen« Einstellungen und Werten in Verbindung gebracht. Die Auseinandersetzungen drehten sich um die richtige Interpretation dieses Wandels: Hatten die Kulturpessimisten recht, die wie Elisabeth NoelleNeumann einen Verfall des »bürgerlichen« Berufs- und Leistungsethos diagnostizierten und vor einer »Proletarisierung« warnten, oder durfte man den Zukunftsoptimisten Glauben schenken, die in den neuen kritisch-mündigen Arbeitnehmern eine Chance für die Weiterentwicklung der bundesdeutschen Arbeitsgesellschaft sahen?11 Mein Beitrag möchte zeigen, welche Schlussfolgerungen die westdeutsche Wirtschaft aus der Diskussion um den Wertewandel gezogen hat. Wieso gelang-
6
Reuter: Arbeitslosigkeit, 1997; Schmid/Oschmiansky: Arbeitsmarktpolitik, 2005, S.
7
Dahrendorf: Arbeitsgesellschaft, 1983.
245-247. Vgl. auch Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom, 2010, S. 52-60. 8
Ipsen: Eröffnung, 1985.
9
Dierkes/Strümpel: Arbeit für alle, 1985.
10 Vgl. Bell: Post-Industrial Society, 1973; Plumpe/Steiner: Mythos, 2016. 11 Vgl. Dietz: »Proletarisierung«, 2019.
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ten überhaupt Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Umfrageforschung in den 1980er-Jahren in die Chefetagen deutscher Unternehmen? Wie wurden die Befunde dort interpretiert? Und mit welchen organisatorischen und personalpolitischen Maßnahmen sollte auf die festgestellten sozialkulturellen Veränderungen reagiert werden? Diese Fragen sollen im Folgenden anhand des bayerischen Automobilherstellers BMW und dessen Paradigmas der »Wertorientierten Personalpolitik« diskutiert werden. Es kann so ein Beispiel dafür präsentiert werden, wie aus dem Befund »Wertewandel« in den 1980er-Jahren eine neue Personalpolitik und Unternehmensorganisation abgeleitet wurde, die wiederum selbst normativ wirkte, betriebliche Konflikte provozierte und eine grundlegend veränderte betriebliche Praxis zur Folge hatte. Die »Wertorientierte Personalpolitik« wurde von den BMW-Personalexperten als konsequente Fortführung und Weiterentwicklung der »Humanisierung der Arbeit« präsentiert: Während die »Humanisierung der Arbeit« noch von einem tayloristisch-rationalistischen Erbe geprägt sei und lediglich auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen abziele, könne die »Wertorientierte Personalpolitik« durch die Integration der Motivationsstrukturen der Arbeitnehmer den Konflikt zwischen Individuum und Organisation reduzieren – so zumindest der Anspruch bei BMW. Tatsächlich war die neue Personalpolitik aber vornehmlich ein neues Anreizsystem zur Leistungserhaltung und Leistungssteigerung im Sinne des Unternehmens mit gravierenden längerfristigen Auswirkungen auf die Strukturierung der Sozial- und Arbeitsbeziehungen.
DIE »CHANCEN DES VERFALLS« UND DER AUFSTIEG DES FLEXIBILISIERUNGSPARADIGMAS Aus der Sicht der Bundesbürger war zu Beginn der 1980er-Jahre die Arbeit im Umbruch. Hohe Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und neue Technologien wurden als Boten einer veränderten Arbeitsgesellschaft interpretiert. Wissenschaftlich drückte sich das zeitgenössische Zäsur-Empfinden in Schlagworten wie »Ende des Keynesianismus«, »Krise des Fordismus« und »nachtayloristische Arbeitsorganisation« aus.12 Die Regierungsübernahme durch Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 verstärkte den Eindruck des Umbruchs in der Arbeitswelt, denn die neue Bundesregierung hatte von Beginn an deutlich gemacht, dass die zentralen Leitbilder ihrer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik Deregulierung,
12 Vgl. hierzu Hirsch/Roth: Gesicht, 1986.
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Privatisierung und Flexibilisierung sein würden.13 Das Prinzip des Marktes sollte verstärkt auch im Arbeitsleben angewandt werden. Zur Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit wurde auf Selbststeuerungspotenziale gesetzt. »Wir wollen mehr Flexibilität im Arbeitsleben«, hatte Helmut Kohl bereits in seiner ersten Regierungserklärung im Oktober 1982 angekündigt.14 Erst die Kombination aus strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und die veränderten politischen Rahmenbedingungen gaben der Debatte um den Wertewandel die besondere Brisanz. Für die deutsche Wirtschaft stand vor allem die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem festgestellten sozialkulturellen Wandel im Vordergrund. Hier galt der »Wertewandel« als ein »Megatrend« mit großer Plausibilität und lebensweltlicher Anschaulichkeit. Das demoskopische Material der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung wurde nicht angezweifelt. Im Gegenteil: Der »Wertewandel« galt als soziale Realität und somit als ein zentraler gesellschaftlicher Faktor, der in Wechselwirkung mit wichtigen makroökonomischen Größen wie Wachstum und Produktivität stand. Dabei lässt sich zu Beginn der 1980er-Jahre eine zunehmend konstruktive Wertewandeldiskussion feststellen. In der Wirtschaftspresse wurde generell anerkannt, dass der Wandel der Werte Herausforderungen und Gefahren für die Unternehmen barg, dass es aber auch eindeutig neue Chancen gäbe, wenn die Unternehmen sich richtig an die sozialkulturellen Veränderungen anpassen würden. Die Wirtschaftswoche sprach ganz ironiefrei von »Chancen des Verfalls«15. Die kulturpessimistische Lesart von Noelle-Neumann und anderen wurde weitgehend abgelehnt: »Wertewandel der Arbeit bedeutet also nicht Werteverfall«, hieß es im Manager Magazin im November 1980.16 Rückgängig machen könne man den Wertewandel der Arbeit auch nicht, es gehe vielmehr darum, ihn im Sinne der Wirtschaft zu gestalten. Es galt, mit flexibilisierten Methoden auf Motivationsprobleme, zunehmende Freizeitorientierung und ein verstärktes Interesse an mehr Lebensqualität der Arbeitnehmer zu reagieren. Nicht mehr die Leistungsmenge sei ausschlaggebend, so die Wirtschaftswoche, sondern »die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung«. Daher seien nicht mehr »in erster Linie Fleiß, äußere Disziplin und Subordination der Mitarbeiter gefragt, sondern deren Kooperationsfähigkeit, Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein, Kreati-
13 Vgl. Wirsching: Abschied, 2006, S. 255-264. Vgl. auch Schmid/Oschmiansky: Arbeitsmarktpolitik, 2005; Rüb/Nullmeier: Flexibilisierung, 1991. 14 Erklärung der Bundesregierung, 13.10.1982, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Plenarprotokoll 9/121. Stenographischer Bericht, S. 7213-7229. 15 Vgl. Anonym: Arbeitsmoral, 1984. 16 Derschka/Gottschall: Mehr reden, 1980, S. 59.
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vität und Flexibilität«.17 Der Wunsch nach aktiver Gestaltung von Arbeitsprozessen hatte laut Capital enorme Auswirkungen auf die Art der betrieblichen Führung: »Möglicherweise wird schon bald nicht mehr führen können, wer gestern noch ein guter Chef war.«18 Neue Wege der betrieblichen Motivation zu finden, sei daher die fundamentale Herausforderung für die Führungskräfte der Zukunft.19 »Der Wertewandel der Arbeit nötigt uns deshalb zu einer Überprüfung unseres Führungskompendiums«, fasste es ein Artikel der FAZ-Spezialzeitung Blick durch die Wirtschaft zusammen.20 Es setzte sich die Überzeugung durch, dass der Wertewandel nicht leistungsgefährdend und somit eine Gefahr für die Arbeitsproduktivität der Wirtschaft sein musste, sondern – richtig gestaltet – sogar eine Chance für die Legitimation eines an den Leitbildern Individualität und Flexibilität orientierten Produktionsregimes darstellte. Dies zeigte sich insbesondere im Bereich der Arbeitszeit – dem arbeitspolitischen Schlachtfeld der 1980er-Jahre.21 In einer flexibleren und individuelleren Gestaltung von Arbeitszeit erkannten Sozialwissenschaftler, Personalexperten und Manager die ideale Antwort auf die Herausforderung des Wertewandels. Das Flexibilisierungskonzept war seit Jahren in der Diskussion, doch erst als die Bundesrepublik einen der härtesten Arbeitskonflikte ihrer Geschichte erlebte, bekam es seine eigentliche Relevanz: In den Tarifauseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche in den Jahren 1983/84 war das Flexibilisierungskonzept der inhaltliche und taktische Gegenentwurf der Arbeitgeber zu einheitlichen Wochenarbeitszeitverkürzungen, wie sie die Gewerkschaften forderten. In einer Artikelserie für die Zeitung Blick durch die Wirtschaft wandte sich der Werteforscher Helmut Klages in dieser zentralen arbeitspolitischen Auseinandersetzung der 1980er-Jahre gegen eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit und unterstützte das von den Arbeitgebern favorisierte Modell der Arbeitszeitflexibilisierung,22 da dieses am ehesten den Trend der »Wertesynthese«,
17 Anonym: Arbeitsmoral, 1984, S. 62. 18 Anonym: Eignungstest, 1981, S. 73. 19 Vgl. ebd., S. 80. Vgl. auch Then: Führungsverhalten, 1985, S. 258-259. 20 Zander, Ernst: Wertewandel der Arbeit – Herausforderungen für die Wirtschaft, in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 20.10.1986. 21 Vgl. Süß: Stechen, 2012; ders.: Sieg, 2016; Sauer: Permanente Reorganisation, 2016. Vgl. auch Hannah Ahlheims Beitrag in diesem Band. 22 Vgl. Klages, Helmut: Modelle, die nichts bewirken. Arbeitszeitverkürzung – Entlastung für den Arbeitsmarkt? (1), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 10.6.1983; ders.: Die »sozialen Kosten« sind erschreckend. Zur Frage der Arbeitszeitverkürzung (2), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 14.6.1983; ders.: Flexibilisierung als Lö-
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also das Miteinander von »Befriedigung von Selbstverwirklichungsbedürfnissen« und »zuverlässiger Pflichterfüllung« darstelle.23 Das Flexibilisierungskonzept fand dann auch Eingang in den Tarifkompromiss von 1984, der den siebenwöchigen Arbeitskampf in der Druck- und Metallindustrie beendete und dessen Kern eine Verkürzung der Arbeitszeit auf zunächst durchschnittlich 38,5 Stunden darstellte. Wie diese Arbeitszeitverkürzung umgesetzt wurde, blieb allerdings den Betrieben überlassen und war Aushandlungssache zwischen den einzelnen Geschäftsführungen und den Betriebsräten. Dem Einstieg in die Flexibilisierung der Arbeitszeit war der Weg bereitet. Die fundamentale Bedeutung des Flexibilisierungskonzepts für die Zukunft formulierte man beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) folgendermaßen: »Erste Anläufe zu einer stärkeren Flexibilisierung wurden unternommen und müssen konsequent umgesetzt und fortgeführt werden. Mit dem Einstieg in die Flexibilisierung der Arbeitszeit muss ernst gemacht werden, um einerseits den Kostendruck einer Arbeitszeitverkürzung abzufangen und andererseits der individuellen Arbeitszeitgestaltung größeren Raum zu geben.«24 Aus Sicht der Wirtschaft und derjenigen Unternehmen, die sich intensiv mit dem Wertewandel auseinandersetzten, war die Gestaltung der Arbeitszeit ein wichtiges Instrument ihres »Wertewandelmanagements« geworden. In der Neujustierung von Arbeitszeit erkannten deutsche Wirtschaftsführer und insbesondere die Personalmanager die entscheidende Stellschraube, um den arbeitspolitischen und sozialkulturellen Herausforderungen gerecht zu werden. Vor allem deutsche Personalexperten hatten keine Schwierigkeiten, rasch Konsequenzen aus der sozialwissenschaftlichen Analyse des Wertewandels zu ziehen und den Unternehmen personalpolitische und arbeitspraktische Steuerungsmaßnahmen nahezulegen. Aber kein deutsches Unternehmen hat die Umsetzung der sozialwissenschaftlichen Diagnose des Wertewandels in den 1980er-Jahren so früh und so konsequent in Unternehmenspolitik und Personalführungskonzepte umgesetzt wie die Bayerischen Motoren Werke. In der wirtschaftshistorischen Forschung ist bisher die Vorreiterrolle des Unternehmens im Bereich der Personalpolitik und Organisationsentwicklung kaum
sung. Zum Thema Arbeitszeitverkürzung (3), in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 15.6.1983. 23 Ders: Der anspruchsvolle Mensch im Wandel. Synthese traditionaler und fortschrittlicher Werte, in: Blick durch die Wirtschaft (FAZ), 17.8.1984. 24 Ausführungen von Hauptgeschäftsführer Dr. Mann zu TO 1: Bericht zur wirtschaftlichen Lage. Sitzung des Präsidiums am 21.1.1985. Historisches Archiv des BDI, Sign. A 130.
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beachtet worden.25 Dabei galt BMW bereits in den 1970er-Jahren als ein personalpolitisch progressives Unternehmen und hatte sich mit spezifischen Formen der Gruppenarbeit als Beitrag zu einer Humanisierung der Arbeit einen Namen gemacht. Das Lernstatt-Konzept von BMW wurde 1976 auf dem »Humanisierung der Arbeit«-Kongress in Essen vorgestellt und sollte der Entfaltung und Förderung von Gruppenarbeit und Teampotenzialen dienen.26 Der für das Bundesforschungsministerium von dem Rationalisierung-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW) organisierte Fachkongress hatte sich zum Ziel gesetzt, »menschengerechte Arbeit« als »Aufgabe der Tarifpartner« anzugehen und entsprechend sprachen im allgemeinen Teil Arbeitgebervertreter im Wechsel mit Gewerkschaftsvertretern ebenso wie Bundesforschungsminister Hans Matthöfer. Der praktische Teil bestand in der Präsentation von 15 Humanisierungsprojekten – darunter auch das Lernstatt-Konzept von BMW: Das Kürzel steht für »Lernen in der Werkstatt« und war ursprünglich eingeführt worden, um ausländischen Mitarbeitern die Integration im Betrieb zu erleichtern. Wegen seines Erfolgs wurde es für alle Mitarbeiter ausgebaut und avancierte zu einem etablierten Führungsinstrument bei BMW. In Lernstattgruppen trafen sich auf strikt freiwilliger Basis kleinere Teams, um arbeits- und betriebsbezogene Probleme und mögliche betriebliche Verbesserungen offen und ohne formale Kontrolle durch Führungskräfte zu diskutieren. Die Lernstatt war ein Konzept von BMW, auf das die Personalplaner von BMW auch noch Mitte der 1980er-Jahre und gerade im Zusammenhang mit der Rezeption japanischer Organisationsmethoden ostentativ stolz waren: »Die BMW-Lernstatt war fast ein Jahrzehnt vor Einführung der japanischen Quality-Circles in Europa als eine deutsche Alternative in unserem Unternehmen entwickelt worden.«27 Grundsätzlich wurde zu Beginn der 1970er-Jahre bei vielen deutschen Automobilherstellern im Zuge und mit Mitteln des Programms zur »Humanisierung des Arbeitslebens« über alternative Produktionsabläufe und Formen von Gruppenarbeit nachgedacht.28 Der vergleichende Blick ging hierbei meist nach Skan-
25 Vgl. zur Nachkriegsgeschichte des Unternehmens Biss: Internationalisierung, 2017; Triebel: Die Bayerischen Motoren Werke, 2013; Nöhl: Symbole, 2013; Triebel/Grunert: Krisenerfahrung, 2006; Triebel: »Marketingloch«, 2010; Seidl: Die Bayerischen Motorenwerke, 2002. 26 Vgl. Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft (Hg.): Arbeit, 1976. 27 Helmut Schartner: Wertewandel in der Arbeitswelt, Vortrag am 10.10.1985 bei der österreichischen Personalleitertagung in Badgastein. BMW-Archiv, Sign. UR 434-1. 28 Vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1976; Kleinschmidt: Blick, 2002, S. 374. Vgl. auch den Beitrag von Stefan Müller in diesem Band.
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dinavien – so auch in dem 1973 erschienenen Buch »Von der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung« des Münchner Betriebspsychologen Gerhard Bihl. Untersucht wurden hier die radikalen Neuansätze der Betriebsorganisation und Personalpolitik anhand von Beispielen aus Norwegen und Schweden. Besonders im Fokus stand das skandinavische Modell der selbststeuernden Arbeitsgruppe – ein durch Volvo bekannt gewordenes Verfahren der Arbeitsgestaltung, bei der eine Kleingruppe eine komplexe Aufgabe übernimmt und teilautonom durchführt.29 Aus Sicht Bihls war das Modell geradezu ideal, weil es allen progressiven motivationspsychologischen und arbeitswissenschaftlichen Forderungen gerecht wurde bzw. diese »praktisch auf einen Nenner« brachte.30 Mit Nachdruck empfahl er das Modell der selbststeuernden Arbeitsgruppe für die Einführung in deutschen Betrieben: »Die Vielzahl der Möglichkeiten, die dieses Führungs- und Organisationsmodell bietet, deutet an, dass hier endlich die lange gesuchte und oftmals für nicht realisierbar gehaltene Synthese aus individuellem und kollektivem Interesse, aus dem Streben nach Freiheit und der Notwendigkeit einer betrieblichen Ordnung verwirklicht wird.«31 Diese Schlussfolgerungen sind deshalb hier so bemerkenswert, weil Bihls weiterer beruflicher Weg zu BMW führte. Dort wurde er zunächst Leiter der Abteilung »Grundsatzfragen der Personalpolitik« in der Konzernzentrale in München und dann Personalchef des 1984 gegründeten BMW-Werks in Regensburg. Hier in den neuen oberpfälzischen Fabrikhallen sollte Bihl dann zehn Jahre nach seinem Skandinavien-Buch ebenfalls eine personalpolitische Revolution steuern.
PERSONALPOLITIK IM ZEICHEN DES WERTEWANDELS Ausgangspunkt für das Konzept der »Wertorientierten Personalpolitik« waren bei BMW Anfang 1983 vor allem vier Aspekte. Erstens der sogenannte »JapanSchock« in der deutschen Automobilindustrie zu Beginn der 1980er-Jahre, also der außergewöhnliche Markterfolg der japanischen Autobauer, der eine tiefgehende Analyse japanischer Produktions- und arbeitsorganisatorischer Methoden zur Folge hatte.32 Zweitens der gesellschaftliche »Wertewandel«, der als ernsthafte Herausforderung für die mittel- und langfristige Unternehmensplanung
29 Vgl. Bihl: Mitbestimmung, 1973; zur Kleingruppenarbeit bei Volvo vgl. den Beitrag von Maths Isacson in diesem Band. 30 Bihl: Mitbestimmung, 1973, S. 66. 31 Ebd., S. 82. 32 Vgl. Kleinschmidt: Blick, 2002, S. 366-394.
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wahrgenommen wurde. Drittens die Einsicht der BMW-Führung, dass sich die gewerkschaftlichen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen in der Metallindustrie nicht aufhalten lassen würden, und viertens die ersten Planungen für ein neues Automobilwerk in Regensburg aufgrund der starken Nachfrage bei der 1976 eingeführten BMW-3er-Serie. Angesichts der hohen Investitionssumme von 1,7 Milliarden DM sollten grundsätzliche Überlegungen zur Arbeitszeitgestaltung die Planung des Werkes von Beginn an begleiten. Bei der BMW-Vorstandssitzung vom 20. Dezember 1983 wurde die neue personalpolitische Strategie ausführlich erörtert. Im Zentrum der Überlegungen stand dabei der Begriff »Leistung«. Es sollten Weiterbildungsmaßnahmen, eine leistungsfördernde Gestaltung der Entgeltsysteme, ein verbesserter Führungsstil und Arbeitsstrukturen geschaffen werden, die für eine optimale Entfaltung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft sorgen sollten. Dabei erkannte der BMW-Vorstand die grundlegende Bedeutung der Werte für die personalpolitische Zukunft des Unternehmens an: »Die Effizienz der Personalarbeit hängt entscheidend von der angemessenen Berücksichtigung der berechtigten Bedürfnisse, Interessen und Wertvorstellungen der Mitarbeiter ab. Die Identifikation mit dem Unternehmen und damit ihre Motivation und Leistungsbereitschaft soll durch eine werteorientierte Personalpolitik positiv beeinflußt werden.«33 Verantwortlich für die »Wertorientierte Personalpolitik« waren Arthur Wollert, bis Mitte 1985 Leiter des Zentralen Personal- und Sozialwesens der BMW AG in München, und sein Mitarbeiter Gerhard Bihl, der spätere Personalleiter des neuen Werks in Regensburg.34 In Abstimmung mit dem Vorstand begannen Wollert und Bihl ein Konzept für eine Personalpolitik zu entwickeln, die gesellschaftliche Einflüsse aus dem Unternehmensumfeld berücksichtigen sollte. Aus ihrer Sicht war es für das Unternehmen von zentraler Bedeutung, dass die Führungskräfte und Personalchefs die gegenwärtigen und künftigen Wertvorstellungen der Mitarbeiter kennen müssten, um dann mit spezifischen personalpolitischen Maßnahmen auf diese reagieren zu können. Die Beschäftigung mit den Werten und die Anerkennung ihrer zentralen Stellung waren aus Sicht von
33 Protokoll der Vorstandssitzung vom 20.12.1983. BMW-Archiv, Sign. UA 1440-1. 34 Vgl. Wollert, Arthur: Grundgedanken einer Personalpolitik der Zukunft. Werteorientierte Personalpolitik, in: Menschen, Arbeit, Mitarbeiter 7. BMW-Archiv, Sign. UU 1127-10; Gerhard Bihl: Wertorientierte Personalpolitik. Ein Diskussionsbeitrag zur Personalpolitik der Zukunft, in: Menschen, Arbeit, Mitarbeiter 7. BMW-Archiv, Sign. UU 1127-10; Wollert/Bihl: Wertorientierte Personalpolitik, 1983; Wollert/Bihl: Wertorientierte Personalpolitik II, 1983.
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Arthur Wollert »existenzentscheidend« für das Überleben des Unternehmens.35 Das Ziel der Personalmanager war es insbesondere, den »kommunikativen Werten« und den »neuen Freizeitwerten« gerecht zu werden.36 Die Vorstellung war, dass diese Freizeitwerte im Unternehmen zu finden sein müssten, um zu einem Gleichklang zwischen Freizeit und Berufswelt kommen zu können. In einer Publikation von 1986 formulierte Wollert das so: »Der Mitarbeiter muss seine Konzeption des Wünschenswerten in seiner Arbeit wiederfinden. Unsere Personalarbeit muss sich daher auf den ganzen Menschen erstrecken. Die Trennscheibe zwischen Arbeits- und Freizeit muss verschwinden.«37 Damit erreiche man eine stärkere Identifikation mit dem Unternehmen: Der Mitarbeiter würde dann idealerweise vom »Arbeitnehmer« zum »produktiven Leistungspartner«.38 Oder wie Wollerts Nachfolger Helmut Schartner das finale Ziel der BMW-Personalpolitik formulierte: »Wir wollen den unternehmerisch agierenden Mitarbeiter.«39 Die Basis für die »Wertorientierte Personalpolitik« waren 16 Grundwerte, die auf der Basis von eigenen repräsentativen Umfragen in der Bevölkerung, Erkenntnissen aus der Literatur über den Wertewandel und BMW-internen Mitarbeitergesprächen eruiert wurden.40 Von jedem abstrakten Grundwert wurden dabei zunächst allgemeine Ziele, dann personalpolitische Strategien und Konzepte und schließlich ganz konkrete betriebliche Instrumente und Maßnahmen abgeleitet. Aus dem Grundwert »Selbständigkeit und Individualität« ergaben sich so beispielsweise vier personalpolitische Ziele (z.B. »Berücksichtigung des Unternehmensergebnisses bei den Zusatzleistungen« und »Schaffung persönlicher Freiräume und Wahlmöglichkeiten«). Auf der Basis dieser Ziele entwickelten die Personalmanager elf personalpolitische Strategien und Konzepte (u.a. »Schaffung und Anwendung leistungsfördernder Entlohnungssysteme«, »Flexible Führungskräftestruktur«, »Flexibilisierung der Arbeitszeit«, »System der Zielvereinbarung«). Aus diesen Strategien und Konzepten wurden dann wiederum 24 konkrete Instrumente und Maßnahmen hergeleitet (u.a. »Prämienlohnsystem«, »Erfolgsbeteiligung«, »Führungskräftebeurteilung«, »Trennung Arbeitszeit/Betriebszeit«, »Projektmanagement/Teamarbeit«, »Lernstatt/Qualitätszir-
35 Wollert: Wertewandel, 1987, S. 27. 36 Ebd. S. 28. 37 Wollert: Wertorientierte Personalpolitik, 1986, S. 230. 38 Wollert/Bihl: Wertorientierte Personalpolitik, 1983, S. 154. 39 Helmut Schartner: Wertewandel in der Arbeitswelt. Vortrag am 10.10.1985 bei der österreichischen Personalleitertagung in Badgastein. BMW-Archiv, Sign. UR 434-1. 40 Vgl. Bihl: Wertorientierte Personalpolitik, 1987, S. 772.
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kel«).41 Dieses Verfahren ließ sich für jeden der 16 Grundwerte durchführen. Die Idee der Werte und das Konzept des Wertewandels wurden auf diese Weise integraler Bestandteil der Unternehmensplanung und reichten von der langfristigen personalpolitischen Strategie bis zur konkreten personenbezogenen Zielvereinbarung. Die »Wertorientierte Personalpolitik« von BMW rief auch Kritiker auf den Plan. Der Direktor der Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit an der Freien Universität Berlin Burkhard Strümpel räumte ein, dass man die Resultate der neuen Personalpolitik bei BMW erst empirisch überprüfen müsse, war aber grundsätzlich skeptisch: »Es scheint vielmehr, als werden neue Werthaltungen recht oberflächlich aufgegriffen mit dem Ziel, die Leistungsbereitschaft und Loyalität der Mitarbeiter zu steigern.«42 Die Personalpolitik von BMW war nicht das, was sich Strümpel unter einer wirklich wertesensiblen Unternehmensführung vorstellte. Tatsächlich hatten die bayerischen Personalexperten und die Unternehmensleitung – wie sollte es auch anders sein – ihre Orientierung an Gewinnmaximierung und unternehmerischem Erfolg nicht aufgegeben. Sie waren aber fest davon überzeugt, dass sich die Bedingungen des ökonomischen Erfolgs gewandelt hatten. Das galt insbesondere für die Planung und Gestaltung des neuen Werkes in Regensburg.
DIE ARBEITSZEITREVOLUTION IN REGENSBURG Am 2. April 1984 legte Ministerpräsident Franz Josef Strauß den Grundstein für das neue Regensburger Werk. Danach dauerte es keine drei Jahre, bis im November 1986 der erste 3er-BMW vom Montageband rollte. Der neue Standort galt aufgrund seiner intelligenten Konzeption, seiner Infrastruktur und mitarbeiterorientierten Gestaltung als eine der modernsten Automobilfabriken der Welt und man rechnete mit einem Investitionsvolumen von 1,3 Milliarden DM.43 Die anvisierten 3500 Arbeitsplätze sollten dem Großraum Regensburg »manche Sorgen nehmen, der Geschäftswelt neue Impulse geben und die Gesamtstruktur weiter verbessern«, informierte eine Pressemitteilung.44 Intern hatte man mit dem Werk noch andere Pläne. In Regensburg sollten die aus dem Kampf um die 35-
41 Wollert/Bihl: Wertorientierte Personalpolitik II, 1983, S. 202. 42 Strümpel: Werte im Wandel, 1989, S. 71. 43 Vgl. Ebneth: Die Autostadt, 2000. 44 Presseinformation BMW AG, BMW-Grundsteinlegung Werk 6 in Regensburg, April 1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1601-1.
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Stunden-Woche gezogenen Lehren personal- und organisationspolitisch konsequent umgesetzt werden. Im BMW-Vorstand wurde unter dem Tagesordnungspunkt »Analyse und Konsequenzen aus dem Arbeitskampf in der Metallindustrie« beschlossen, dass vor allem die im Metalltarifvertrag vereinbarten Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit »betrieblich ausgefüllt werden«, die Gegenleistung der Gewerkschaften für die Arbeitszeitverkürzung also voll beansprucht werden müssten.45 Von den ersten Planungen an war dabei Regensburg ein wichtiges Experimentierfeld für die neuen unternehmenspolitischen Strategien. Technische Neuerungen und personalpolitische Innovationen sollten miteinander verbunden werden. Ziel war eine weitergehende Automation bei gleichzeitig erhöhter Flexibilität. Dafür diente insbesondere das neue Konzept der »Wertorientierten Personalpolitik«. Den Führungskräften des Personalwesens erklärte man das so: »Erstmals besteht die uneingeschränkte Möglichkeit, ein neues Werk tatsächlich ›auf der grünen Wiese‹ zu planen und zu gestalten. Dieser Freiraum soll durch die konsequente Umsetzung der vorgeschlagenen Strategien und Konzepte in der Praxis genutzt werden.«46 Zur Planung »auf der grünen Wiese« gehörte auch eine strategische Personalauswahl, die konsequent auf junge, flexible und besonders leistungswillige Mitarbeiter setzte. Unter den 30.000 Bewerbungen für die Stellen im neuen Werk wurden 3000 Personen ausgewählt, die mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren relativ jung waren und bei der Einstellung bekundeten, auch am Samstag arbeiten zu wollen. Schon bei der Personaleinstellung war also die Bereitschaft der Mitarbeiter, ihre Lebensplanung und ihr Familienleben in einem stärkerem Maß als bisher in anderen Werken den betrieblichen Interessen und Anforderungen unterzuordnen, wichtiges Auswahlkriterium geworden. Insbesondere bei der Auswahl der BMW-Führungskräfte für Regensburg sollten diese Leistungskriterien kompromisslos angewandt werden.47
45 Protokoll der Vorstandssitzung vom 4.12.1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1438-1. Vgl. auch Protokoll des Vorstands, 9./10.7.1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1438-1; Protokoll des Vorstands, 19.6.1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1438-1. 46 Schreiben an Führungskräfte des Personalwesens: Personalpolitisches Strategiepapier, 9.1.1984 [unterzeichnet von Schulz, PZ 10] BMW-Archiv, Sign. UR 434-1. 47 Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung vom 20.12.1983. BMW-Archiv, Sign. UA 14401.
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Verantwortlich für die systematische Ausgestaltung und Umsetzung des personalpolitischen Konzepts in dem neuen Werk war Gerhard Bihl.48 Die aus den Grundwerten abgeleiteten personalpolitischen Maßnahmen wurden nun erstmals in ihrer ganzen Bandbreite umgesetzt. Dies konnte vergleichsweise unspektakulär daherkommen: So wurden beispielsweise – auf der Basis des Werts »Information und Kommunikation« – die Informations- und Kommunikationsprozesse intensiviert und neben der allgemeinen Mitarbeiterzeitung Bayernmotor weitere auf die verschiedenen Hierarchieebenen angepassten Mitarbeiterzeitschriften eingeführt und um ein weiteres Informationsblatt für den Standort Regensburg ergänzt.49 Größere Auswirkungen hatten die personalpolitischen Maßnahmen, die aus dem Wert »Leistung und Gegenleistung« abgeleitet wurden. In diesem Fall hieß es, dem allgemeinen Wertewandel »entgegenzusteuern und dem Leistungsprinzip bei BMW weiterhin allerhöchste Priorität beizumessen«. Der Maßnahmenkatalog reichte hier von einer Optimierung der Personal-Auswahlentscheidung (»Assessment-Center-Methode«) über eine konsequente Anwendung des Leistungsprinzips bei der Führungskräftepolitik (»Loslösung von leistungsfremden Kriterien wie z.B. dem Geschlecht der Kandidaten für die jeweilige Führungsposition«) bis hin zu einer leistungsorientierten Entgeltpolitik (»neugestaltetes Entgeltsystem für Führungskräfte« mit deutlich stärkerem Anteil von »variablen Entgeltbestandteilen«).50 Aber keine personalpolitische Maßnahme erregte auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit wie die in Regensburg erprobten und schließlich fest eingeführten flexiblen Arbeitszeitkonzepte, die als »Regensburger Modell« deutschlandweit diskutiert und auch im Ausland wahrgenommen wurden.51 »Flexible Arbeitszeitgestaltung« hatte bis dahin auch bei BMW zunächst vor allem Teilzeitarbeit für weibliche Mitarbeiter in der Verwaltung bedeutet.52 In Regensburg wurde nun aber umfassender geplant. Ausgangspunkt der Flexibilisierung der Arbeitszeit war der Wert »Selbständigkeit und Individualität«, dem laut der internen Analyse bei BMW bisher nicht ausreichend entsprochen wurde.53 Also wurde eine ganze Reihe von neuen Wahlmöglichkeiten zur individuellen Ar-
48 Vgl. Bihl: Wertorientierte Personalpolitik, 1987; vgl. auch ders.: Anreizaspekte, 1991; Schartner: Neue Rolle, 1990; Berghahn/Bihl/Theunert: BMW-Werk Regensburg I, 1990; Berghahn/Bihl/Theunert: BMW-Werk Regensburg II, 1990. 49 Vgl. Bihl: Wertorientierte Personalpolitik, 1987, S. 774f. 50 Ebd., S. 777f. 51 Vgl. auch Theunert: Regensburger Modell, 1995. 52 Vgl. Bihl: Bedeutung, 1982. 53 Entwurf: Werteorientierte Personalpolitik, 1.10.1984, Sign. BMW-Archiv UR 434-1.
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beitszeitgestaltung geschaffen. Dies reichte von einer Zunahme der Teilzeitarbeit über eine Ausweitung der Gleitzeit bis zu verschiedenen Programmen zur vorzeitigen Pensionierung. Der eigentliche Kern des »Regensburger Modells« lag jedoch in dem Versuch, mittels alternativer Schichtpläne die Ausdehnung der täglichen Betriebszeit sowie die Integration des Samstags als Arbeitstag zu erreichen. Die Gründe für die Suche nach alternativen Schichtplänen waren nicht nur personalpolitischer, sondern auch ökonomischer Natur. Angesichts der hohen Investitionssumme in Regensburg, mit der man auch auf die steigende Nachfrage reagiert hatte, und der allgemeinen Arbeitszeitverkürzungstendenz in der Metallindustrie suchte man in Regensburg nach Modellen zu einer besseren Ausnutzung der Ressource Arbeitszeit. Ziele waren eine verstärkte Auslastung der Produktionsanlagen, eine Senkung der Betriebskosten und eine Flexibilisierungsmöglichkeit von Arbeitszeit über individuelle Regelungen. Im BMW-Vorstand wurde die Einführung des neuen Arbeitszeitmodells im November 1984 beschlossen. Die Vorstandsmitglieder forderten entsprechende Gespräche mit dem Betriebsrat und identifizierten Regensburg als Pilotprojekt für die Erprobung neuer Arbeitsstrukturen: »Der Neubau des Werkes 6 bietet die Möglichkeit, dieses Modell unabhängig von Traditionen und bestehenden einzelverträglichen Regelungen und unter Ausnutzung des Gestaltungsrahmens des bayerischen Metalltarifvertrages einzuführen.«54 Bereits 1984 strebte der BMW-Vorstand eine Übertragung des Modells auf die anderen BMW-Werke an und ließ daher prüfen, wie eine solche Ausweitung organisatorisch möglich sein werde.55 Die Grundidee des »Regensburger Modells« bestand nun darin, dass die Mitarbeiter eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 36 Stunden bei einer Schichtzeit von neun Stunden absolvierten. Dabei wechselten sich durch einen veränderten Schichtenrhythmus drei Arbeitnehmer auf zwei Arbeitsplätzen ab. Die Anlagennutzung sollte an sechs Tagen erfolgen, der Samstag also in die Arbeitszeit einbezogen werden. Das bedeutete, dass der einzelne Mitarbeiter vier Tage am Stück arbeitete und einmal in drei Wochen dann auch der Samstag zum individuellen Schichtplan gehörte. Gearbeitet werden sollte also mal montags bis donnerstags, mal mittwochs bis samstags.56 Verglichen mit einem alten Schicht-
54 Protokoll des Vorstands, 13.11.1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1438-1. 55 Vgl. ebd.; vgl. auch Protokoll des Vorstands, 2.8.1984. BMW-Archiv, Sign. UA 1438-1. 56 Dieses Modell geht auf die Überlegungen des Organisationsfachmanns Willi Haller zurück, der bereits in den 1970er-Jahren flexible Arbeitszeitkonzepte entwickelt hatte
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plan von einer Schicht zu je acht Stunden an fünf Tagen resultierte der neue Plan in einer Reduktion der individuellen Wochenarbeitszeit von 40 auf 36 Stunden, aber in einer Verlängerung der wöchentlichen Betriebszeit auf 54 Stunden (also von 5 mal 8 Stunden auf 6 mal 9 Stunden). Die Betriebszeit wurde in diesem rollierenden Arbeitszeitsystem also von der individuellen Arbeitszeit entkoppelt, weil sich drei Arbeiter im Wechsel zwei Arbeitsplätze teilten. Für den einzelnen Mitarbeiter ergaben sich individuellere Arbeitszeiten und den Abschied von einer normalen Fünf-Tage-Woche. Gleichzeitig waren aber auch zusätzliche Arbeitsplätze und eine erhebliche Steigerung der Gesamtkapazität die Folgen der Ausdehnung der Betriebszeiten. Die Auslastung der Maschinen konnte um 35 Prozent gesteigert und der Fixkostenanteil am fertigen Produkt auf wenig mehr als 50 Prozent verringert werden.57 Die demonstrative Verbundenheit zum Standort Bayern und die Arbeitsplatzsicherung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und internationalen Wettbewerbs waren dabei die zentralen Argumente der BMW-Führung für die Notwendigkeit einer höheren Kapazitätsauslastung im neuen Werk in der Oberpfalz. Der Vorstandsvorsitzende Eberhard von Kuenheim erklärte auf einer Betriebsversammlung im November 1986: »Wenn wir uns eine persönlich kürzere Wochenarbeitszeit leisten wollen, müssen zumindest die industriellen Anlagen länger eingesetzt werden.«58 Man einigte sich 1986 schließlich auf einen »höheren Flexibilisierungsgrad« im Regensburger Werk: Das neue Modell wurde zunächst im Einschichtbetrieb umgesetzt, aber der freie Samstag wurde zunächst nicht angetastet. 1988 machte die Unternehmensführung mehr Druck: Es sollte zunächst der Einschichtbetrieb auch auf den Samstag ausgedehnt und zwei Jahre später der geplante Zweischichtbetrieb einschließlich der Samstagsspätschicht eingeführt werden. Gedroht wurde mit einer Kündigung der Gesamtbetriebsvereinigungen »Weihnachtsgeld« und »Erfolgsbeteiligung« für alle BMW-Mitarbeiter. Dies brachte den Regensburger Betriebsrat in eine doppelte Konfliktlage: »Der Regensburger Betriebsrat stand somit nicht nur unter dem Zwang, dass wegen damals 2.000 Beschäftigten in Regensburg 52.000 Beschäftigte in der AG ihre Sozialleistungen verlieren würden, sondern auch, dass in Regensburg ›nur‹ 3.500 Arbeitsplätze, wie geplant, entstehen.«59
und als »Vater der Gleitzeit« gilt. Vgl. Haller: Zwei Jobs, 1977; Haller/Neher: Arbeiten wir zeitgemäß?, 1986. 57 Vgl. Berghahn/Bihl/Theunert: Zukunftsorientierte Arbeitsgestaltung, 1993. 58 Bayernmotor. Zeitung für die BMW-Mitarbeiter, 12 (1986), S. 2. 59 Betriebsrat der BMW AG Werke Regensburg und Wackersdorf (Hg.): 10 Jahre BMW Regensburg 1986 … 1996, o.O., o.J., S. 28. BMW-Archiv, Sign. UI-1105-1.
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Der Betriebsrat stimmte schließlich einem Kompromiss zu: Für die Arbeiter und Angestellten im BMW-Werk Regensburg galt nun die 36-Stunden-Woche, bezahlt wurden sie für 37,5 Stunden. Der Samstag wurde zum regulären Arbeitstag. Abgelehnt hatte der Betriebsrat aber die zweite Schicht am Samstag. Ab Juni 1990 galt dann die Regelung auch für den Zweischichtbetrieb mit 11 Schichten à neun Stunden, so dass die Maschinen in Regensburg fortan 99 Stunden pro Woche liefen.60 Die kritischen Reaktionen ließen nicht auf sich warten: »Samstags-Arbeit bei BMW. Menschliche Arbeitszeit: Ade!«, titelte die IG-MetallZeitung.61 In der Zeitschrift Die Zündung der DKP-Betriebsgruppe kritisierte man den BMW-Vorstandsvorsitzenden direkt: »Herr von Kuenheim will neue Arbeitszeiten, bei denen die Maschinen länger laufen. Die Beschäftigten müssen sich dem anpassen – Flexibilisierung heißt das. Und nicht nur der Arbeitszeit, sondern auch des Familienlebens. Hat der Mann frei, ist die Frau in der Arbeit und die Kinder in der Schule und umgekehrt. Gemeinsames wohlverdientes Wochenende ist damit futsch.«62 Die Frage der Samstagsarbeit schlug hohe Wellen. Schließlich ging es bei dem arbeitsfreien Samstag um eine historisch erkämpfte und auch symbolisch höchst bedeutsame Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Der Gewerkschaftsführer Detlef Hensche erklärte entsprechend, dass die Gewerkschaften den freien Samstag in den 1950er-Jahren nicht mit der »Allerweltsformel ›40 Stunden sind genug‹« erkämpft haben, sondern unter dem inhaltlichen Ziel »Samstags gehört Vati mir«. Daher fragte sich Hensche: »Und das soll heute nicht mehr gelten? Im Namen von ›Individualität‹ und ›Flexibilität‹ sollen sich die Arbeiter vom ›starren Regime‹ festgelegter Arbeitszeiten und dementsprechend verläßlicher Freizeit ›befreien‹?«63 Gewerkschaftsfunktionäre wie Hensche wollten auch die sozialwissenschaftliche Begründung der Flexibilisierungspolitik nicht gelten lassen und warfen den »Propheten in den Unternehmensführungen, den Stabsabteilungen der konservativen Parteien und den pseudowissenschaftlichen Instituten« vor, den »Wertewandel« einseitig zu interpretieren und für Rationalisierungsmaßnahmen zu missbrauchen.64
60 Vgl. Bihl: Werteorientierte Personalarbeit, 1995, S. 107-112. 61 Metall-Nachrichten für die bayerische Metallindustrie, 2.3.1988, zit. nach: Die Zündung. Zeitung der DKP-Betriebsgruppe für die Arbeiter und Angestellten bei BMW, 11.3.1987, S. 2. 62 Anonym: Samstagsarbeit in Regensburg, in: Die Zündung. Zeitung der DKPBetriebsgruppe für die Arbeiter und Angestellten bei BMW, 11.3.1987, S. 1f. 63 Hensche: Wertewandel, 1987, S. 89. 64 Ebd., S. 92.
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Bei BMW in Regensburg sah man das anders. Trotz der Bedenken von Gewerkschaftsseite stimmte der Betriebsrat dem neuen Arbeitszeitmodell zu. Zentrales Argument waren die neuen Arbeitsplätze, die dadurch entstehen würden. Der Regensburger BMW-Betriebsratsvorsitzende Martin Held erklärte sein Dilemma angesichts kritischer Gewerkschaftsvertreter so: »Wie soll ich mich gegen 900 neue Arbeitsplätze stellen?«65 Wenige Jahre später fiel die Bilanz des Betriebsrats noch positiver aus: »Insgesamt konnten durch die harten Verhandlungen des Betriebsrates, die von der Regensburger Belegschaft auch in Form von Protestaktionen unterstützt wurden, in Regensburg zusätzlich 3.000 Arbeitsplätze entstehen, mit der Gegenleistung alle 3 Wochen einmal eine Samstagsfrühschicht zu arbeiten. Ein Erfolg für die ganze Region.«66 Ein weiteres Argument für das »Regensburger Modell« galt der Sicherung bestehender Arbeitsplätze angesichts internationaler Konkurrenz. Auf der BMW-Betriebsversammlung im April 1988 wurde das neue Arbeitszeitmodell von Vorstandsmitglied Hans Koch direkt in Verbindung mit der Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland gebracht.67 Ein Jahr später brachte Vorstandsvorsitzender Eberhard von Kuenheim die Argumentationsstränge in einer Rede vor der Hauptversammlung am 6. Juli 1989 zusammen: Durch einen höheren Auslastungsgrad teurer Produktionsanlagen müsse die Produktivität gesteigert werden, andernfalls werde der »Standort Bundesrepublik Deutschland« massiv leiden. Angesichts der japanischen Konkurrenz müsse die deutsche Automobilindustrie flexibel und schnell sein. »Zeit diktiert den Wettbewerb am Weltmarkt.« Entsprechend müssten nicht nur die Markteinführungen neuer Produkte schneller als die der Japaner gelingen, sondern auch die Arbeitszeiten weiter flexibilisiert werden: »Die Gewerkschaften sind aufgefordert, so modern zu denken wie die Arbeiter und Angestellten, für die sie sprechen.«68 Die neuen Arbeitszeitstrukturen in Regensburg galten in den späten 1980erJahren als überregionaler Testfall, ob Samstagsarbeit ein »Standortvorteil« für die Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb sein könne und wie weit die Gewerkschaften bereit sein würden, den auch symbolisch so bedeutsamen er-
65 Anonym: Produktivität, 1989. 66 Betriebsrat der BMW AG Werke Regensburg und Wackersdorf (Hg.): 10 Jahre BMW Regensburg 1986 … 1996, o.O., o.J., S. 28f. BMW-Archiv, Sign. UI-1105-1. 67 Bayernmotor. BMW Mitarbeiter Zeitung, 5 (1988), S. 1. 68 Ausführungen von Eberhard von Kuenheim, Vorsitzender des Vorstands der BMW AG, anläßlich der 69. ordentlichen Hauptversammlung am 6. Juli 1989. BMWArchiv, Sign. UA 757.
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kämpften freien Samstag wieder aufzugeben.69 Unter Verweis auf das »Regensburger Modell« und seine befürchtete Avantgardefunktion fragte sich der Stern im November 1988 in einem Beitrag mit dem Titel »Samstags gehört Vati mir!«, ob die neuen flexiblen Arbeitszeitregelungen den »Weg in eine neue Knechtschaft?« bedeuteten.70 Die Antwort auf diese Frage war auch politisch umstritten. Dabei waren die Fronten keineswegs eindeutig, denn auch viele SPDPolitiker – wie beispielsweise Oskar Lafontaine – befürworteten grundsätzlich, dass Maschinenlaufzeiten und individuelle Arbeitszeit stärker entkoppelt werden müssten. Arbeitsminister Norbert Blüm von der CDU erhob im Bundestag die Flexibilisierung der Arbeitszeit gar zum »Gebot der Stunde«71 und erklärte das »Regensburger Modell« zum Zukunftsvorbild: »Wenn die Menschen kürzer arbeiten wollen, dann werden die Maschinen länger laufen müssen. […] Deshalb glaube ich, viermal neun Stunden auf die Woche verteilt ist eine Möglichkeit, Arbeiten zu verkürzen und dennoch die Kosten nicht hochzutreiben. Dass es geht, beweist doch BMW in Regensburg: 900 neue Arbeitnehmer wurden eingestellt.«72 Lediglich die Grünen erkannten im BMW-Modell keine Zukunftsvision und waren entschieden gegen Arbeitszeitflexibilisierung und Samstagsarbeit. Der Abgeordnete Willi Hoss wandte sich im Bundestag vehement gegen eine »flexibilisierte Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft« und riet Norbert Blüm: »Gehen Sie und Herr Lafontaine doch zu BMW und IBM, und sehen Sie sich an, daß den Leuten dort diese Neun-Stunden-Zeit nur mit dem Argument aufgezwungen wird, daß sonst verlagert wird, und sie so nur mit erpresserischen Argumenten in diese Situation gebracht werden!«73 In der Wirtschaftspresse, Managementliteratur und in der Personalwissenschaft wurde das »Regensburger Modell« uneingeschränkt positiv bewertet. Im Manager Magazin wurde die Pionierfunktion von BMW anerkannt. Angesichts der internationalen Konkurrenz galt es für die deutschen Unternehmen, BMW und den anderen »Vorreitern beim Einsatz flexibler Arbeitszeiten« unbedingt zu folgen. Denn: »Wer Arbeits- und Maschinenzeit jetzt nicht entkoppelt, droht in Kosten zu ersticken.«74 Das »Regensburger Modell« fand als »Pionierleistung«
69 Vgl. zur Debatte um den Standort Deutschland Meteling: Standortsicherung, 2018; dies.: Nationale Standortsemantiken, 2016. 70 Thomssen: Vati, 1988, S. 36. 71 Deutscher Bundestag (Hg.): Stenographischer Bericht, 11. Wahlperiode, 107. Sitzung, 11.11.1988, S. 7382. 72 Ebd., S. 7383. 73 Ebd., S. 7381. 74 Nölting: Uhr, 1989, S. 246.
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der Arbeitszeitflexibilisierung Eingang in Standardwerke der Personal- und Managementlehre.75 Die Berufung auf »Wertorientierungen im strategischen Personalmanagement«76 war in den 1990ern keine Seltenheit mehr und ist in den 2000er-Jahren zur Regel geworden. Werte, Führungsleitsätze und Unternehmenskultur gehören seitdem wie selbstverständlich zur Personal- und Unternehmenspolitik.
FAZIT: SUBJEKTIVIERUNG VON ARBEIT ALS NEUE NORM? Die 1980er-Jahre brachten nicht nur einen Wandel der Arbeitswelt, sondern auch einen weiteren Bedeutungsaufstieg der Personalexperten.77 Auch die BMWPersonalmanager waren in ihrem Gestaltungsanspruch ausgesprochen selbstbewusst. War das Personalwesen in den 1950er- und 1960er-Jahren noch weitgehend mit primär administrativen Aufgaben beschäftigt, wurde es in den folgenden beiden Jahrzehnten zu einem eigenständigen und spezialisierten Bereich der Unternehmensführung. Personalpolitik war nicht mehr eine von vielen Aufgaben, die im Wesentlichen – rein funktional – in der Beschaffung, Verwaltung und Entlassung von Personal bestand. Stattdessen wurde der Faktor Arbeit selbst als strategischer Erfolgsfaktor interpretiert. Es ging nun um die Entwicklung gesamthafter, langfristiger und kohärenter personalpolitischer Konzepte als integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Damit war Personalpolitik zu einer genuinen Managementaufgabe aufgestiegen. Oder wie es Arthur Wollert ausdrückte: »In den vergangenen Jahren sind nun Einfluß und Reputation der Personalfunktion sichtbar gestiegen.«78 Das lag laut Wollert nicht zuletzt am gesellschaftlichen »Wertewandel«, der zwei zentrale Aufgaben des Personalmanagements in den Vordergrund gerückt hatte: »Sicherstellung von Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und Leistungsmöglichkeit der Ressource Mensch« und »Berücksichtigung der Bedürfnisse, Interessen und Forderungen der Mitarbeiter beim Leistungsvollzug«.79
75 Vgl. Wiegand: Personal- und Organisationsentwicklung, 1998; Lehndorff: »Flexibilität«, 1996; Hofmann: Arbeitszeitmodell, 1992. 76 Rosenstiel: Wertorientierungen, 1995. 77 Hierzu grundsätzlich Rosenberger: Experten, 2008. 78 Wollert: Wertewandel, 1987, S. 24. Vgl. auch Schartner: Neue Rolle, 1990. 79 Wollert: Wertewandel, 1987, S. 26.
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Die BMW-Personalexperten handelten dabei absolut im Sinne der Unternehmensführung. Die »Wertorientierte Personalpolitik« galt als ein zeitgemäßes Anreizsystem zur Leistungserhaltung und Leistungssteigerung im Sinne des Unternehmens. Sozialkulturelle Faktoren wurden bei BMW vor allem im neuen Regensburger Werk als zentrale Faktoren ökonomischen Erfolgs verstanden. Männern wie Wollert und Bihl war die Logik eines nach Selbstverwirklichung strebenden Menschen aus den verschiedenen motivationstheoretischen Neunansätzen der 1970er-Jahre vertraut. Nun half ihnen der sozialwissenschaftlich konstatierte »Wertewandel«, eine wertebasierte Personalpolitik in der betrieblichen Praxis umzusetzen. Aus der Analyse »Wertewandel« wurde in München und Regensburg eine neue normative Struktur. Die gesellschaftlich festgestellten Tendenzen zu Individualisierung, Autonomie und Selbstverantwortung wurden in normative betriebliche Maxime umgesetzt. Die Subjektivierung von Arbeit und die Identifikation mit den Unternehmenszielen über »erfüllende Arbeit« war nicht einfach ein Angebot, sondern wurde ausdrücklich gefordert: »Wir wollen den unternehmerisch agierenden Mitarbeiter«,80 hatte Helmut Schartner gesagt. Insofern ging die neue Personalpolitik in ihren Grundannahmen über die »Humanisierung der Arbeit« hinaus. Nicht die kollektiven Arbeitsbedingungen galt es zu verbessern, sondern die individuelle Identifikation des einzelnen Mitarbeiters mit dem Betrieb. Die Anreizquelle für Leistung verlagerte sich in dieser Logik von außen nach innen: Sie wurde nicht mehr eingefordert, sondern im Individuum produktiv stimuliert. Die »Erbschaft der rationalistischen Führungskonzepte« wollte man bei BMW explizit überwinden. Das Unternehmen sollte nicht mehr als ein geschlossenes System verstanden werden, in dem die Mitarbeiter »bloße Objekte von Humanisierungsprojekten« darstellen, sondern als ein auf Werten basierendes, flexibles, grundsätzlich »offenes soziales System«.81 Daher war die »Sinngebung« auch so wichtig. Das ganze Unternehmen sollte grundsätzlich kulturell verstanden werden: Nicht nur ökonomische Daten sollten die Basis für die Unternehmensführung liefern, sondern eben auch Werte, Leitbilder und orientierungsstiftende Grundsätze. Die »Wertorientierte Personalpolitik« wurde somit zum »Eckpfeiler der Unternehmenskultur«, wie Bihl rückblickend feststellte. Gemeint war damit »die Wirkung von Wertvorstellungen nach
80 Helmut Schartner: Wertewandel in der Arbeitswelt. Vortrag am 10.10.1985 bei der österreichischen Personalleitertagung in Badgastein. BMW-Archiv, Sign. UR 434-1. 81 Wertorientierung – Grundlage für erfolgreiche Unternehmen. BMW intern, 20/1983. BMW-Archiv, Sign. UU 2631.
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innen und außen, […] die Kommunikation sowie letztlich […] die Sinngebung der Arbeit als treibende, innere Kraft im Unternehmen«.82 Das Normative schuf neue betriebliche Fakten. Die Vorreiterrolle von BMW für die Automobilindustrie und die deutsche Industrie im Allgemeinen lag in der in Regensburg praktizierten Entkopplung von Betriebs- und Arbeitszeit durch das rollierende Arbeitszeitsystem. Die »Wertorientierte Personalpolitik« beinhaltete viele Elemente, die als moderne Antworten auf die neuen sozialkulturellen Rahmenbedingungen galten, aber wohl keine andere Maßnahme hatte eine solche Tragweite wie das neue Arbeitszeitmodell mit seiner Mannigfaltigkeit von individuellen Arbeitsregelungen. Das »Regensburger Modell« stand dabei zeitgenössisch auch deswegen so unter Beobachtung, weil hier in einer neuen, teuren und technisch hochmodernen Fabrik die klassische Fünftagewoche mit dem Achtstundentag erst gar nicht praktiziert werden sollte, sondern von Beginn auf das neue Modell gesetzt wurde, das vor allem in der Wirtschaft als Arbeitsform der Zukunft verstanden wurde. Nicht nur kehrte der Samstag als normaler Arbeitstag zurück, auch andere Flexibilisierungsmaßnahmen wie Teilzeit und Leiharbeit waren die Folge. Arbeitszeitflexibilisierung und »Standort Deutschland« wurden fortan zusammen diskutiert. Die Folge war weniger eine Humanisierung, als vor allem eine Entkollektivierung und Individualisierung von Arbeitsstrukturen. Angesichts neuer Fertigungstechnologien wurde die Flexibilisierung von Arbeitszeit selbst zu einer unternehmerischen Ressource. Neue komplexe Methoden des Zeitmanagements auf der Basis von elektronischen Personaldatenverarbeitungssystemen begünstigten diesen Prozess. Das wertebasierte »Regensburger Modell« steht somit für eine Neustrukturierung der Arbeits- und Sozialbeziehungen im Zeichen des Flexibilisierungsparadigmas, die vor allem in den 1990er-Jahren viele Nachahmer finden sollte.
LITERATUR Anonym: Arbeitsmoral. Chancen des Verfalls, in: Wirtschaftswoche, 27.4.1984, S. 62. Anonym: Eignungstest für Führungskräfte. So meistern Sie die Zukunft, in: Capital, 20 (1981) 7, S. 73. Anonym: Produktivität im Visier. Wie vier deutsche Firmen mit kürzeren Arbeitszeiten fertig werden, in: Manager Magazin, 19 (1989) 4, S. 250. Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973.
82 Bihl: Werteorientierte Personalarbeit, 1995, S. 131.
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Von der Humanisierung zur Flexibilisierung der Arbeit | 209
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Branchenspezifische Humanisierung?
Humanisierung unter Tage? Das HdA-Programm und seine Umsetzung im westdeutschen Steinkohlenbergbau Martha Poplawski
Als das Bundesprogramm Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) im Jahr 1974 seinen Anfang nahm, erlangte die Diskussion über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im westdeutschen Steinkohlenbergbau bereits ihren Höhepunkt. Hier führten unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg ein anhaltender Arbeitskräftemangel und der Einsatz zahlreicher ungelernter Neubergleute zu einer umfangreichen Problematisierung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitssicherheit unter Tage. Zur Feststellung, Bewertung und Lösung dieser Problembereiche wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren externe Institute und Experten in die Zechen des Steinkohlenbergbaus berufen. Dabei handelte es sich um eine weitgehend aus der Zwischenkriegszeit bekannte Praxis wissenschaftlicher Ursachenforschung, die eine Optimierung und Anpassung der bergbaulichen Arbeitsverhältnisse sowie der Bergarbeiter zum Ziel hatte.1 So verhielt es sich auch in den 1950er-Jahren, als Arbeitswissenschaftler, Betriebssoziologen und Psychologen Studien über die Arbeit im Steinkohlenbergbau durchführten und den Zechengesellschaften als Handlungsoptionen zur Verfügung stellten. Im Laufe der 1960er-Jahre gerieten die Arbeitsbedingungen unter Tage erneut in
1
Exemplarisch kann dafür die von 1912 bis 1926 durchgeführte Studie des EnqueteUnterausschusses zur Untersuchung der Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau angeführt werden, in welcher die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau auf ihre Optimierungsmöglichkeiten hin untersucht wurden. Neben dem Umgang mit neu eingeführten Maschinen und Arbeitsgeräten wurde auch die psychische Belastung der Arbeiter untersucht, vgl.: Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft: Arbeitsverhältnisse, 1928.
216 | Martha Poplawski
Kritik. Diesmal stand das problematische Zusammenspiel zwischen Rationalisierung, Mechanisierung und der Betriebsführung unter Tage im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. In den 1970er-Jahren wurde der Steinkohlenbergbau angesichts sowohl vieler noch ungelöster als auch neuer Problemfelder im untertägigen Arbeitsbereich zu einem der größten Empfänger externer Studien, die im Rahmen des HdA-Programms durchgeführt wurden. Unterschiedliche Forschungsprojekte hatten die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Steigerung der Arbeitszufriedenheit der Bergarbeiter zum Ziel. Im Hinblick auf die lange Entwicklung der Nutzung externer Wissenschaft im Steinkohlenbergbau wird in diesem Beitrag folgende These aufgestellt: Die im Rahmen des HdA-Programms erfolgte Implementierung externen Wissens zur Verbesserung der Arbeitsumstände und der Arbeitstätigkeiten im Steinkohlenbergbau stellte keine Neuerung dar, sondern muss vielmehr in den Verwissenschaftlichungsprozess des Steinkohlenbergbaus seit 1945 eingeordnet werden. Zudem stellt die Inanspruchnahme der zahlreichen Forschungs- und Förderungsprojekte des HdA-Programms eine etablierte Reaktionsstrategie auf technische und soziale Veränderungen im westdeutschen Steinkohlenbergbau dar. Im Fokus dieses Aufsatzes liegt die Betrachtung und Einordnung der praktischen Umsetzung der HdA-Forschungsergebnisse durch die Projektgruppe HdATransfer im Steinkohlenbergbau. Dargestellt werden zunächst die Vorläufer der Implementierung externen Wissens im Steinkohlenbergbau seit den 1950erJahren. Nachfolgend werden die Ursachen für die externen HdA-Forschungsprojekte im Steinkohlenbergbau sowie das Projekt HdA-Transfer beleuchtet. Es gilt dabei zu erarbeiten, welche Form der Weiterverwendung der Studienergebnisse durch die Zechengesellschaften gewählt wurde und inwiefern sich diese von der Umsetzung in den vorherigen Studien der 1950er- und 1960er-Jahre unterschieden.
DIE IMPLEMENTIERUNG EXTERNEN WISSENS IN DIE STRUKTUREN VON ARBEIT UND ARBEITSGESTALTUNG IM STEINKOHLENBERGBAU SEIT 1945 Den ursächlichen Auftakt für die Implementierung arbeitswissenschaftlicher Fachkenntnisse in die Zechenbetriebe des westdeutschen Steinkohlenbergbaus bildeten der anhaltende Arbeitskräftemangel und die hohe Fluktuation.2 Die Arbeitskräfteproblematik stellte insbesondere im Zuge der wirtschaftlichen Expan-
2
Vgl. Abelshauser: Ruhrkohlenbergbau, 1984, S. 46f.
Humanisierung unter Tage? | 217
sion des Steinkohlenbergbaus in den 1950er-Jahren das zentrale Problem der Zechenunternehmen dar. Der in Folge des Koreakrieges und dem damit einhergehenden Rüstungsboom der Vereinigten Staaten von Amerika kontinuierlich ansteigende Steinkohlebedarf bedingte eine entsprechende Fördersteigerung, die lediglich durch den Einsatz zahlreicher Arbeitskräfte erreicht werden konnte.3 Um die Ursachen für die hohe Fluktuation und den Absentismus im Steinkohlenbergbau der frühen 1950er-Jahre zu ergründen, wurde die Sozialforschungsstelle Dortmund (SFS) damit beauftragt, eine betriebssoziologische Untersuchung durchzuführen. Die daraus entstandene Studie »Bergmann und Zeche«4 bildete den Auftakt für eine langanhaltende Zusammenarbeit zwischen bergbaulicher Arbeitswelt und extern bestellter Wissenschaft. Die als Pilot-Studie der Betriebssoziologie bekannt gewordene Untersuchung beruhte auf einer Sammlung empirischer Befragungen von 116 Bergarbeitern, innerbetrieblichen Beobachtungen sowie zahlreichen Gruppeninterviews, die zum Verständnis über die sozialen Arbeitsverhältnisse und Problembereiche unter Tage beitragen sollten. Mit Hilfe dieser Methoden gingen die Sozialforscher aus Dortmund den Problemen zur Abkehr, Fluktuation und Integration der Neubergleute nach. Ergänzend wurden die Bergarbeiter systematisch über die Wirkungen der Gedingeformen, die Beziehungen zu den Vorgesetzten, über Unfallursachen, Berufskrankheiten und Versorgungsprobleme sowie ihre Meinungen zum Betriebsrat bzw. der Gewerkschaften befragt. In der Studie stellten die Dortmunder Forscher fest, dass die Problematik »nicht so sehr bei den technischen Neuerungen […] und Forderungen nach Leistungssteigerung […], sondern vielmehr bei der Entpersönlichung der Arbeit« lag.5 Mit der Weitergabe der Studienergebnisse an die Deutsche Kohlenbergbauleitung war die Studie »Bergmann und Zeche« für die Dortmunder Forscher abgeschlossen. Die in der Studie erarbeiteten Ergebnisse dienten lediglich als betriebssoziologische Diagnosen über die Ursachen für die Unzufriedenheit der Bergarbeiter und den Absentismus im Steinkohlenbergbau der frühen 1950er-Jahre. Eine Weiterverarbeitung oder Verwendung der Erkenntnisse in der betrieblichen Praxis war dabei nicht vorgesehen. In den 1960er-Jahren nahmen die Diskussionen über die problematischen Arbeitsumstände unter Tage ihren Fortgang. Mit Beginn der Bergbaukrise im Jahr 1958 wurden die ersten Zechen geschlossen, Belegschaften reduziert oder zusammengelegt. Unterdessen erfolgten innerbetriebliche Rationalisierungen durch organisatorische Verbesserungen der Arbeitsvorgänge und eine Weiter-
3
Vgl. Farrenkopf: Wiederaufstieg, 2013, S. 197-211.
4
Vgl. Jantke: Bergmann, 1953.
5
Ebd., S. 38.
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entwicklung der Bergtechnik. Die Folge waren veränderte Zusammenstellungen der Belegschaften sowie ein ausdifferenzierteres Qualifikationsprofil der Bergarbeiter.6 Nicht mehr die physische Leistungsfähigkeit des Einzelnen, sondern die Qualifikation der Arbeiter unter Tage war entscheidend, um den neuen technischen Anforderungen gerecht zu werden und um die Fördermengen und den ökonomischen Erfolg des Zechenbetriebes zu gewährleisten.7 Die Zechengesellschaften bemühten sich um qualifizierte und qualifizierungswillige Arbeiter, die für eine optimale Ausnutzung der untertägigen Anlagen und Maschinen sorgen sollten, jedoch im Zuge der Zechenschließungen schwer anzuwerben waren. Langfristig, so erkannten es die Unternehmer der Zechengesellschaften, würde dies nur mit Hilfe betrieblicher Weiterentwicklungen und Qualifizierung aller Belegschaftsmitglieder gelingen.8 Die technischen und qualifikatorischen Veränderungen wirkten auf verschiedenen Ebenen auf das betriebliche Sozialgefüge ein. Dabei entstanden vor allem neue Anforderungen an die Vorgesetztenebene, da die Betriebseinheiten vergrößert wurden und die Steiger mehr Verantwortung zugesprochen bekamen.9 Diese konnten mit der schnellen Entwicklung zumeist nicht Schritt halten und griffen auf die etablierten Befehls- und Gehorsamsmaßnahmen zurück, wodurch die nicht erst seit 1945 vorherrschenden Autoritätsstrukturen erneut in Kritik gerieten. Der Situation wurde seitens der Zechengesellschaften Rechnung getragen. Angesichts der Entwicklungen in der Betriebsführung forderten die Unternehmensleitungen eine Anpassung der Führungsmethoden an das fachliche Können der Mitarbeiter.10 Unter diesen Umständen bedienten sich die Zechengesellschaften erneut externer wissenschaftlicher Expertise. Im Auftrag der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde das Münchener Institut Mensch und Arbeit im Jahr 1961 mit einer Untersuchung zu den
6
Trotz des Arbeitsplatzabbaus in den 1960er-Jahren erhöhte sich die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer im westdeutschen Steinkohlenbergbau. Nach Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens 1961 nahm die Anzahl der türkischen Bergarbeiter zu, vgl. dazu: Seidel: Arbeitsbeziehungen, 2013, S. 497.
7
Vgl. Werks-Nachrichten. Dortmunder Bergbau AG und Hansa Bergbau AG, 14 (1964) 2, S. 29, Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv (BBA) 5/357.
8
Vgl. ebd., S. 30
9
Vgl. Seidel: Arbeitsbeziehungen, 2013, S. 496.
10 Rundschreiben des Eschweiler Bergwerks-Vereins anlässlich des Erscheinens der Broschüre Richtig Führen im Bergbau I. Führen braucht Methode, September 1965, montan.dok/BBA/160/758.
Humanisierung unter Tage? | 219
Arbeitsumständen und Bedingungen in den Zechenbetrieben beauftragt, um die Bergarbeiter und insbesondere die Betriebsführung auf die neuen technischen und sozialbedingten Herausforderungen vorzubereiten.11 In ihren ersten betriebspsychologischen und pädagogischen Nachforschungen widmeten sich die Arbeitswissenschaftler unterschiedlichen Problembereichen der bergbaulichen Betriebsführung. Sie erarbeiteten Themenfelder, wie die Arbeitssicherheit, die Integration von Neubergleuten, die Gruppenarbeit oder die Auswirkungen der Mechanisierung auf die Arbeitsanforderungen und die Führungsmethoden der Steiger und Betriebsführer. Dabei legten die Münchener Wissenschaftler ein besonderes Augenmerk auf die Nähe zur betrieblichen Praxis und ein umfangreiches Verständnis von den Arbeitsabläufen unter Tage. In Zusammenarbeit mit vier Bergwerksgesellschaften12 und der Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen13 erarbeiteten sie die vierteilige Heftreihe »Richtig Führen im Bergbau«.14 Die aktive Beteiligung der Gesellschaften an der Erarbeitung wurde dabei als Grundlage für die nachhaltige Wirksamkeit der Heftreihe im Betrieb angesehen.15 Die Veranschaulichung der Problembereiche und der Zielsetzungen erfolgten in den Broschüren mit der Verwendung von Metaphern und mit typischen Beispielen aus der bergbaulichen Arbeitswelt. Während die Sprache gewollt einfach gewählt war, dienten zahlreiche bergbauspezifische Begriffe der Erläuterung bestimmter Situationen. Mit Hilfe von Fotos, Grafiken und Statistiken wurden zudem die dargebotenen Vorschläge untermauert.16 Um ihr Ziel, den Vorgesetzten unter Tage die »richtigen Methoden der Menschen-
11 Anschreiben des Instituts Mensch und Arbeit an den Vorstand der Schachtanlage Westfalen bezüglich der ersten Konferenz »Richtig Führen im Bergbau« am 29.11.2961, montan.dok/BBA/157/587. 12 Folgende Gesellschaften waren beteiligt: Ewald-Kohle AG, Essener Steinkohlenbergwerke AG, Rheinstahl Bergbau AG, Eschweiler Bergwerks-Verein. 13 Die »Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen« ist eine Organisation der Kommende Dortmund-Brackel. Sie wurde 1950 von Heinrich Kost initiiert und diente der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Ruhrbergbau, vgl.: Friedrich: Beginn, 2000, S. 58. 14 Protokoll der konstituierenden Sitzung »Richtig Führen im Bergbau« am 15.02.1963, montan.dok/BBA/157/587. 15 Anschreiben des Instituts Mensch und Arbeit an Wolfgang Schneider, Vorstand der Westfalen Aktiengesellschaft vom 22.11.1961, montan.dok/BBA/157/587. 16 Vgl. Broschüren Richtig Führen im Bergbau I-IV, 1964, montan.dok/BBA/157/587.
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führung« näher zu bringen,17 erweiterte das Institut Mensch und Arbeit seinen Wirkungsraum in den bergbaulichen Betrieb hinein. Anders als bei der Studie der Sozialforschungsstelle in den 1950er-Jahren, wurden die vermeintlich neuen Erkenntnisse der Münchener zur Betriebsführung in Form von Seminaren in die Praxis des Bergbaubetriebes transferiert.18 Ziel dieser Veranstaltungen war es, die »modernen Methoden der Betriebsführung« an die Vorgesetzten heranzutragen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis anzuwenden, um eine verbesserte Arbeitsstruktur in den jeweiligen Arbeitsbereichen zu erzielen.19 Eine weitere Form der Implementierung externen Wissens in den Zechenbetrieb erfolgte ebenfalls zu Beginn der 1960er-Jahre, als sich die Hohe Behörde der EGKS veranlasst sah, die Themengebiete Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit zu überarbeiten, um die Risiken für die Arbeiter im Steinkohlenbergbau langfristig zu senken.20 Parallel zur Gremienarbeit der EGKS in Arbeitsschutzfragen und den daraus entstandenen Forschungsprogrammen21 ließ die Generaldirektion »Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung« der Hohen Behörde »Allgemeine Grundsätze der Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit« formulieren. Diese sollten insbesondere die Forschung durch Bereitstellung finanzieller Beihilfen erleichtern, die Zusammenarbeit zwischen den Forschern fördern sowie die Verbreitung der Ergebnisse begünstigen.22 Da insbesondere die Probleme der Arbeitssicherheit als zahlreich
17 Broschüre Richtig Führen im Bergbau I. Führen braucht Methode, S. 44, montan.dok/BBA/160/758. 18 Die Seminare wurden beispielsweise bei der Dortmunder Bergbau AG und bei der Hansa Bergbau AG durchgeführt. Um das mittlere Management auf den richtigen Umgang mit ihren Mitarbeiter hinzuweisen und vorzubereiten, wurden 248 Mitarbeiter aus allen Betriebsstellen abgeordnet, um sie an Lehrgängen zur »modernen Führungspraxis« teilnehmen zu lassen, vgl. Werkszeitschrift: Werks-Nachrichten. Dortmunder Bergbau AG und Hansa Bergbau AG, 14 (1964) 2, S. 30, montan.dok/BBA/5/357. 19 Broschüre Richtig Führen im Bergbau IV. Der Vorgesetzte in unserer Zeit, S. 46, montan.dok/BBA/160/758. 20 Vgl. Allgemeine Grundsätze der Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit, S. 1, Bundesarchiv (BArch) 149/4812. 21 Zur Gremienarbeit und den Forschungsprogrammen zum Arbeitsschutz siehe Nina Kleinöders Beitrag in diesem Sammelband sowie ausführlicher Kleinöder: Unternehmen und Sicherheit, 2015, 146-149. 22 Allgemeine Grundsätze der Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit, S. 3, BArch 149/4812.
Humanisierung unter Tage? | 221
angesehen wurden, berief die Hohe Behörde der EGKS ein Beratungssystem aus drei Sachverständigen-Ausschüssen ein, die im Auftrag der Generaldirektion »Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung« Forschungen und Untersuchungen zum Thema Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin betrieben. Den Ausschüssen gehörten Vertreter der Berufsorganisationen, wissenschaftliche Sachverständige und Regierungssachverständige an.23 Eine Vertretung der Arbeitnehmer war dabei nicht vorgesehen. Die Aufgabe der Ausschüsse bestand zum einen in der Feststellung der Probleme und zum anderen in der Auswahl der zu fördernden Programme und Institute, die die Studien durchführten.24 Hierbei wurden vorwiegend gut ausgestattete und personell leistungsfähige Institute für die Forschungsarbeit ausgewählt. Die Forschungsinhalte bildeten vorwiegend Themengebiete, die eine Reduktion der untertägigen physischen Belastung und den Gesundheitsschutz zum Ziel hatten. Dazu gehörte Forschung zum Thema Staubund Lärmreduktion sowie zur Wiederertüchtigung der Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.25 Ziel der Forschungsbestrebungen war es nicht mehr nur, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sicherer zu gestalten, sondern »einen Ausgleich zwischen Mensch und Arbeit herzustellen, um den physiologischen und psychologischen Forderungen des Menschen an die Arbeit und den Bedürfnissen des Unternehmens gerecht zu werden«.26 Die gewonnenen Forschungsergebnisse sollten abschließend über die Veröffentlichung wissenschaftlicher Monographien, Sonderdrucke und Berichte sowie der Veranstaltung von Tagungen verbreitet und »allen Interessierten innerhalb der EGKS zugänglich gemacht« werden.27 Inwiefern die von der Generaldirektion »Arbeitsfragen, Sanierung und Umschulung« der Hohen Behörde veranlassten Allgemeinen Grundsätze als Konkurrenzprogramm zu den Arbeitsschutz-Programmen der EGKS angesehen werden können, kann an dieser Stelle noch nicht beantwortet werden.
DAS HDA-PROGRAMM IM STEINKOHLENBERGBAU Monotone Arbeitsabläufe, hohe Leistungsforderungen, eine zunehmende Mechanisierung sowie daraus entstandene Qualifikationsanforderungen beförderten
23 Vgl. ebd., S. 4. 24 Vgl. ebd., S. 5. 25 Vgl. ebd., S. 13f. 26 Ebd., S. 1. 27 Vgl. ebd., S. 20-25, Zitat auf S. 23.
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in den 1970er-Jahren die Kritik an den Arbeitsumständen in vielen bundesdeutschen Betrieben.28 Besonders der westdeutsche Steinkohlenbergbau sah sich in den 1970erJahren neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Die Ursachen für diese Herausforderungen lagen vorwiegend in den Folgen einer sehr schnell voranschreitenden Mechanisierung, die mitunter die Arbeitsbedingungen, die Qualifikation und die Arbeitseinstellung vieler Bergarbeiter beeinflusste. Der erhöhte Mechanisierungsgrad der Bergbautechnik hatte seit den 1950er-Jahren zwar dazu beigetragen, dass bestimmte Formen körperlicher Schwerarbeit abgebaut werden konnten, die physische und psychische Belastung der Arbeitskräfte nahm allerdings weiter zu oder wurde in andere Problembereiche verlagert.29 Die Arbeitsbedingungen im untertägigen Betrieb wandelten sich entsprechend der weiterentwickelten Abbaumethoden. Durch den vermehrten Einsatz neuer Maschinen, wie dem Kohlenhobel, dem Schrämlader und dem Schildausbau veränderten sich die Arbeitsbedingungen unter Tage.30 So wirkten sich die technischen Entwicklungen beispielsweise auf die Temperatur unter Tage aus, die in Folge intensiver Strebmechanisierung und dem Einsatz großer Elektromotoren anstieg und die physischen Belastungen für die Bergarbeiter erhöhte. Auch die zunehmende Lärmbelastung wirkte ermüdend, beeinträchtigte die Leistung der Bergarbeiter und behinderte zudem die Verständigung. Die Zunahme der Belastungen, wie das Arbeiten unter Zeitdruck, schränkte zudem die Aufmerksamkeitsspanne der Bergarbeiter ein und ließ die Anzahl der Unfälle durch Unaufmerksamkeit ansteigen.31 Unter dem Einfluss der Technikentwicklung wandelten sich nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch das Qualifikationsprofil der Bergarbeiter. Das Berufsbild des stark körperlich arbeitenden Kohlehauers verschwand zunehmend und wurde durch technische Berufe wie den Hydrauliker, den Maschinen- und
28 Sauer: Reorganisation, 2016, S. 39. 29 Ders. u.a.: Rationalisierung, 1981, S. 119. 30 Der Einsatz des Kohlehobels erfolgte in den Zechen des Ruhrbergbaus seit den 1950er-Jahren zunächst langsam, stieg im Verlauf der 1970er-Jahre aber sprunghaft an. Bis 1960 stammten lediglich 20% der Gesamtförderung des Ruhrbergbaus aus Hobelbetrieben, 1970 waren es bereits 78%. Auch der Schrämlader und der Schildausbau avancierten zu Beginn der 1970er-Jahre zu den häufigsten Varianten der Kohlegewinnung und des Strebausbaus. 1970 waren bereits 92% der Zechen im Ruhrbergbau vollmechanisiert. Vgl. Bleidick: Gewinnungstechnik 2009, S. 348-350. 31 Vgl. Willet: Arbeitsbedingungen, 1973, S. 52.
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Elektrohauer sowie den Bergmechaniker ersetzt.32 Die Kompetenzverlagerung von Anlern- zu Facharbeiterqualifikationen wurde durch die fortschreitende Mechanisierung sowie komplexere Arbeitsvorgänge und Ausführungen befördert. Angesichts der zunehmenden Komplexität des Produktionsprozesses durch technische und personelle Veränderungen wandelten sich auch das Profil und die Funktion der Vorgesetzten bzw. Steiger im Zechenbetrieb. Diese wurden vermehrt auf die Dringlichkeit hingewiesen, ihre Führungsmethoden entsprechend der gestiegenen Qualifikationen und der gewandelten Arbeitseinstellung der Bergarbeiter anzupassen. Dazu zählten insbesondere die Anerkennung der geleisteten Arbeit durch den Vorgesetzten, die kommunikative Verständigung über Mängel und Verbesserungsmöglichkeiten sowie der Austausch und die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen. Darüber hinaus bestand eine weitere Aufgabe des Vorgesetzten darin, die Fähigkeiten des Arbeitnehmers zu erkennen, ihm potentielle Möglichkeiten für die Umsetzung seiner Fähigkeiten aufzuzeigen und ihn zu selbstverantwortlichem Arbeiten zu motivieren.33 Auch der sogenannte »Wertewandel«34 wurde im Steinkohlenbergbau sichtbar. Die Forderung nach einem ausgewogenen Zusammenspiel zwischen Arbeit und Freizeit wurde insbesondere durch ein gesteigertes Bewusstsein für die historische Entwicklung der Arbeit unter Tage befördert. Der Bergarbeiter musste in den 1970er-Jahren nicht mehr seine gesamte körperliche Leistung zu Verfügung stellen, um seinen wirtschaftlichen Status quo aufrecht zu erhalten, wie es noch in den 1950er-Jahren der Fall war. Damit einhergehend erfuhr die ohnehin stark identitätsprägende Arbeit unter Tage eine aufwertende Beurteilung und wurde zunehmend als qualitativer Bestandteil des Lebens dargestellt.35 Den dadurch steigenden Ansprüchen an die Qualität der Arbeit musste jedoch – anders als in der Metall- oder Automobilindustrie, wo durch den Einsatz der Fließbandarbeit und vermehrter Rationalisierungsmaßnahmen monotone Arbeit und inhaltsleere Tätigkeiten zu hoher Unzufriedenheit beitrugen – auf eine an den Bergbau angepasste Weise entsprochen werden. Neben Verbesserungen zu den Themen Gesundheit und Sicherheit sollte insbesondere das »Wohlbefinden« der Bergarbeiter gesteigert werden. Dabei spielte insbesondere die Integration des einzelnen Bergarbeiters in den Entscheidungsprozess unter Tage eine entscheidende Rolle.
32 Bleidick: Entwicklung, 2013, S. 442. 33 Sauer u.a.: Rationalisierung, 1981, S. 114. 34 Für einen Überblick über die historische Wertewandelforschung vgl. Dietz/Neumaier: Nutzen, 2012. 35 Jacob: Belegschaftspolitik, 1974, S. 984-986.
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Im Kontext dieser bergbaulichen Entwicklungen trat das bundesdeutsche Aktions- und Forschungsprogramm »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA) zu Tage.36 Die Integration des Steinkohlenbergbaus in das HdA-Programm erfolgte in Zusammenarbeit mit der Ruhrkohle AG, der Eschweiler Bergwerksverein AG, der Gewerkschaft Auguste Victoria, der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) sowie der Westfälischen Berggewerkschaftskasse Bochum (WBK).37 Der Steinkohlenbergbau bzw. die Ruhrkohle AG wurde zu einem der größten Empfänger innerhalb des HdA-Programms. In 91 Forschungsvorhaben bis 1984 war die Förderung der HdA-Forschung für den Steinkohlenbergbau sehr umfangreich besetzt.38 Neben der Automobilbranche, der Eisen- und Stahlindustrie, dem Elektro- und Maschinenbau und der Textilindustrie stach der Steinkohlenbergbau nicht nur durch die zahlreichen Forschungsvorhaben hervor, sondern auch durch zwei Schriftenreihen sowie eine eigens eingerichtete Projektgruppe, die den Transfer der HdA-Forschungsergebnisse zur Aufgabe hatte. Im Rahmen des HdA-Programms widmeten sich unterschiedliche Institute39 der Untersuchung von Arbeitsstrukturierungsmaßnahmen, der Arbeitsorganisation sowie der Verbesserung der Arbeitsbedingungen.40 Der forschungspolitische Schwerpunkt lag dabei auf der Verbesserung der physischen Arbeitsumwelt und
36 Vgl. Stefan Müllers Beitrag in diesem Band sowie Müller: Humanisierung, 2016. 37 Die Westfälische Berggewerkschaftskasse war bis zur Umbenennung in DMTGesellschaft für Lehre und Bildung die bergbauliche Forschungs- und Ausbildungsorganisation. Zur Geschichte der WBK vgl. Moitra: Das Wissensrevier, 2014. 38 Die Forschungsvorhaben teilten sich in folgende Disziplinen auf: Staubbekämpfung, Unfallverhütung, Klimatisierung, Lärm- und Vibrationsverminderung, Verbesserung der Sichtverhältnisse und der Verständigung, Katastrophenschutz, Brandschutz, Gebirgsschlagbekämpfung, psychische und physische Belastungen und Ergonomie, Arbeitsstrukturierung und Arbeitsorganisation sowie jene Disziplinen, die unter »Sonstige« aufgeführt wurden, vgl.: Stams: Übertragung, 1984, S. 20. 39 Folgende Institute waren u.a. mit Studien beteiligt: Das Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund, das Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.V. aus Saarbrücken, die Gesellschaft für Arbeitsschutz- und Humanisierungsforschung mbH aus Dortmund, das Institut zur Erforschung sozialer Chancen aus Köln oder das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. aus München, vgl. Fronz u.a.: Ergebnisse, 1981. 40 Dazu gehörten insbesondere Studien zur Unfallverhütung, zur Staubbekämpfung, zur Klimatisierung, zur Lärm- und Vibrationsminderung, der Verbesserung der Sichtverhältnisse, dem Katastrophenschutz, dem Brandschutz und der Gebirgsschlagbekämpfung, vgl. Hudewentz: Humanisierung, 1981, S. 552.
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der damit einhergehenden Erhaltung und Nutzung der Arbeitskraft.41 Die übergreifenden Ziele des HdA-Programms im Steinkohlenbergbau waren vergleichbar mit jenen in anderen Industriebranchen: Unfälle verhüten, Belastungen und Beanspruchungen vermindern, Inhalte der Arbeit verbessern sowie negative Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Freizeit verringern. Eine Konkretisierung der bergbaulichen Zielvorhaben erfolgte im Rahmen einer Systemstudie zur Verbesserung der Strategien zum Ende der 1970er-Jahre, die auch als ein Ergebnis der allgemeinen Kritik an der HdA-Forschung verstanden werden kann.42 Die Systemstudie hatte zum Ziel, einzelne Maßnahmen im Zusammenhang zu beurteilen, die Wirkung von Einzelmaßnahmen abzuschätzen sowie die Auswertung und Verbreitung der Ergebnisse zu optimieren.43 Gleichzeitig wurden darin die Schwachstellen der bisherigen HdA-Forschung im Steinkohlenbergbau identifiziert und neue Schwerpunkte definiert. Eine dieser Schwachstellen stellte die Umsetzung und Nachhaltigkeit der HdA-Ergebnisse in den Zechenbetrieben dar.44 Hinsichtlich der Umsetzung wurde besonders auf die psychologischen Widerstände innerhalb der Belegschaften hingewiesen, die es schwer machten, theoretisch erarbeitete Ergebnisse in die Praxis zu überführen und somit »an den Mann zu bringen«.45 Um dem Ziel der Nachhaltigkeit zu entsprechen wurden je nach Aufgabenstellung und vorhandenen Kapazitäten besondere Projektgruppen oder Koordinationsstellen eingerichtet, um das entsprechende Know-how und die neuen Erkenntnisse langfristig zu erhalten und kurzzeitig greifbar zu machen.46 Mit der Umsetzung und Verbreitung von HdAErgebnissen in die betriebliche Praxis der Zechenbetriebe beschäftigte sich fortan die Projektgruppe »Transfer von HdA-Ergebnissen im Steinkohlenbergbau, insbesondere des Ruhrgebiets«. Die von der Westfälischen Berggewerkschafts-
41 Vgl. Hudewentz: Humanisierung, 1981, S. 552. 42 Das HdA-Programm geriet zum Ende der 1970er in eine tiefe Krise. Besondere Kritik erfuhr die Umsetzung der Ergebnisse aus der Forschung und Entwicklung sowie deren Transfer in die Praxis der Betriebe, vgl.: Der Bundesminister für Forschung und Technologie: Programm »Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens«. Förderschwerpunkt Umsetzung, 1985, S. 1, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 5/DGEF000202. Historisiert und kontextualisiert bei Müller: Humanisierung, 2016, S. 261. 43 Vgl. Hamm: Systemanalyse 1, 1980; Systemanalyse 2, 1980. 44 Vgl. Fronz: Umsetzung, 1980, S. 1281. Für eine umfangreichere Aufarbeitung der Kritik am HdA-Programm siehe Stefan Müllers Beitrag in diesem Sammelband. 45 Fronz: Umsetzung, 1980, S. 1282. 46 Vgl. ebd., S. 1281.
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kasse eingerichtete Projektgruppe bestand aus sieben Personen und hatte das Ziel, die wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse zur Verbesserung der Arbeitsqualität und der Beseitigung von Belastungen am Arbeitsplatz zu dokumentieren und in die betriebliche Praxis zu transferieren.47 Auf der Grundlage der im Steinkohlenbergbau durchgeführten HdA-Projekte galt es, die Ergebnisse einzelner Studien zu systematisieren, sachliche Zusammenhänge zwischen Einzelergebnissen herzustellen, sie sprachlich und visuell aufzuarbeiten und anschließend weiterzugeben.48 Die Weitergabe der systematisierten und aufgearbeiteten HdA-Forschungsergebnisse an die Zechenbetriebe und die darin arbeitenden Bergarbeiter erfolgte in zwei Schritten. Zunächst galt es, die Forschungsergebnisse aus den HdAVorhaben in eine möglichst verständliche mediale und sprachliche Form zu bringen und sie anschließend zu einzelnen Transferschwerpunkten zusammenzutragen.49 Die erarbeiteten Transferschwerpunkte wurden dann zum Gegenstand von zweitägigen Pilotseminaren an denen je 15 Führungskräfte (Betriebsleitungen, Steiger und Ortsälteste sowie Betriebsräte) einer Zechengesellschaft teilnahmen. Die in den untertägigen Betrieben arbeitenden Führungskräfte stellten dabei eine Schlüsselgruppe dar, weil sie primär für die Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter verantwortlich und zudem selbst unmittelbar betroffen waren. Neben den im Vorfeld durch die Projektgruppe HdA-Transfer erarbeiteten Materialien, wie Schautafeln, Arbeitsblätter und Informationsschriften, wurde hier auch das Transferverfahren bzw. die Art der Informationsvermittlung erprobt, diskutiert und weiterentwickelt.50 Der zweite Schritt beinhaltete die anschließende Weitergabe der erarbeiteten Materialien und Erkenntnisse an die Zechengesellschaften zur Durchführung eigener Transfer-Veranstaltungen, wobei die Form der Veranstaltungen den Zechengesellschaften selbst oblag. 51 So wurden sowohl Kurz- und Betriebsseminare als auch Ingenieursgespräche durchgeführt. Die Seminare unterschieden sich hauptsächlich darin, von welcher Schachtanlage die Teilnehmer kamen und welche Vermittlungsform angewendet wurde. Bei den Kurzseminaren handelte es sich um zweitägige Seminare mit Kurzvorträgen für Mitarbeiter verschiedener Schachtanlagen. Der Fokus lag hier auf der Vermittlung neuester HdAErgebnisse zu jeweils einem speziellen Transferschwerpunkt. An den Betriebs-
47 Vgl. HdA-Transfer: Transfer, 1984. 48 Vgl. Fronz/Peter: Fachtagung, 1981, S. 1327. 49 Vgl. Hudewentz: Humanisierung, 1981, S. 552. 50 Vgl. ebd., S. 554. 51 Vgl. Fronz/Peter: Fachtagung, 1981, S. 1327.
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seminaren nahmen lediglich Betriebsangehörige einer einzelnen Schachtanlage, eines Reviers oder einer Arbeitsgruppe teil. Hier standen die speziellen Arbeitsbedingungen und der Erfahrungsaustausch im Vordergrund. Die Ingenieursgespräche wiederum waren lediglich für Fachingenieure unterschiedlicher Schachtanlagen, Gesellschaften und Institute angesetzt. Der Erfahrungs- und Wissensaustausch stand auch hier im Vordergrund.52 Mit der Teilnahme aller Betriebsangehörigen an den Veranstaltungen waren mehrere Ziele verbunden. Zunächst galt es, die neuesten Forschungsergebnisse der HdA-Projekte so zu vermitteln, dass das Interesse und Bewusstsein für die Themenfelder geweckt wurden und nachhaltig im Zechenbetrieb umgesetzt werden konnten. Die Umsetzung und Vermittlung erfolgte mit Hilfe unterschiedlicher Materialien, wie Modellen, Tonbildschauen und kurzgefassten Arbeitsblättern.53 Neben der Vermittlung war der Erfahrungsaustausch zwischen Arbeitnehmern und Vorgesetzten ein wesentlicher Bestandteil der Veranstaltungen. Der damit einhergehende Austausch untereinander sollte die Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen der Teilnehmer befördern und etwaige Kenntnislücken abbauen. Gleichzeitig sollte durch den Austausch gegenseitiges Verständnis füreinander geweckt werden, um das persönlichen Wertegefühl und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern.54 Darüber hinaus wurde das Ziel verfolgt, die Bergarbeiter zur eigenständigen Wahrnehmung von Unfall- und Gefahrenquellen zu mobilisieren und ihr Verständnis für bestimmte Sicherheitsmaßnahmen zu steigern.55 Die Reaktionen der Bergarbeiter auf die alternativen Vermittlungsformen durch die Seminare der HdA-Transfergruppe fielen positiver aus als anfänglich erwartet. Das Thema HdA hatte unter den Bergarbeitern hohe Erwartungen geweckt, aber auch viel Kritik, Misstrauen und sogar Ablehnung hervorgerufen.56 Anfänglich erkannten die Bergarbeiter in den wissenschaftlich erarbeiteten Forschungsergebnissen keinen direkten Bezug zu ihrer täglichen Arbeit. Nicht selten wurde im Vorfeld seitens der Belegschaften und der Wissenschaftler auf das schwierige Verhältnis zwischen Theorie und Praxis verwiesen. Im Anschluss an die Seminare war die Resonanz jedoch deutlich positiv.57 Insbesondere die Gruppenarbeit wurde als positiver Anstoß zum gemeinsamen Dialog über Pro-
52 Vgl. HdA-Transfer: Transfer, 1984, S. 12f. 53 Vgl. ebd., S. 11. 54 Vgl. Altmann u.a.: Veränderungen, 1985, S. 17. 55 Vgl. Kargar u.a.: HdA-Forschungsprogramm, 1983, S. 387. 56 Vgl. Fronz: Umsetzung, 1980, S. 1281. 57 Vgl. Koch u.a.: Staubbekämpfung, 1983, S. 328f.
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blemschwerpunkte und deren Beseitigung angenommen.58 Die grundlegenden Ziele der Herstellung eines Arbeitssicherheitsbewusstseins und einer damit einhergehenden Arbeitszufriedenheit schienen damit zunächst im Rahmen der Transferveranstaltungen eingelöst. Neben der Umsetzung der HdA-Forschungsergebnisse löste die Projektgruppe HdA-Transfer außerdem eine weitere Zielsetzung des HdA-Programms ein, indem sie eine eigene Dokumentation der erarbeiteten Forschungen betrieb. Diese Dokumentation diente in erster Linie der Projektgruppe selbst zur Vorbereitung von Transferveranstaltungen. Sie bot dazu Informationen über HdA-Forschungsprojekte und zu den dabei entstandenen Veröffentlichungen an. Darüber hinaus stand die Dokumentation allen Dienststellen und Personen zur Verfügung, die an einer Verbreitung oder Umsetzung der HdA-Ergebnisse interessiert waren.59
HDA IM STEINKOHLENBERGBAU: ETABLIERTE LÖSUNGSSTRATEGIE UND NEUE PRAXIS Die Darstellung und Erläuterung externer wissenschaftlicher Studien für den Steinkohlenbergbau hat gezeigt, dass die bergbaulichen Akteure vermehrt auf die Nutzung externer Wissenschaftsexpertise zurückgriffen, um sich den zeitgenössischen Problemen und Herausforderungen in den untertägigen Zechenbetrieben zu stellen. Durch eine Einreihung des HdA-Programms in diesen Verwissenschaftlichungsprozess konnte die These von der Inanspruchnahme der HdAForschung als eine etablierte Reaktionsstrategie in westdeutschen Steinkohlenbergbau bestätigt werden. Dennoch wurden hinsichtlich der Umsetzung der Studienergebnisse in die Praxis der Zechenbetriebe deutliche Unterschiede festgestellt. Eine praktische und nachhaltige Umsetzung externen Wissens erfolgte erst innerhalb des Transfer-Projektes im Rahmen des HdA-Programms. Dass dies zu Beginn der 1950er-Jahre noch nicht beabsichtigt war, wurde anhand der Studie »Bergmann und Zeche« deutlich gemacht. Die Dortmunder Wissenschaftler wiesen mit Nachdruck darauf hin, dass die Studie lediglich eine Diagnose lieferte und keine konkreten Prognosen oder Lösungsvorschläge damit verbunden waren. Die Nutzung und Umsetzung der Forschungsergebnisse lagen demnach im Ermessen der Deutschen Kohlenbergbauleitung bzw. der Zechengesellschaften. Mit den Studien aus den 1960er-Jahren wurde eine Annäherung an die Idee der nachhaltigen Umsetzung der externen Forschung sichtbar. Durch die Veröf-
58 Vgl. Hudewentz: Humanisierung, 1981, S. 554. 59 Vgl. Kargar: Dokumentation, 1984, S. 279.
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fentlichung der Studienergebnisse zur Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin wurden diese den Interessierten zur Verfügung gestellt, jedoch nicht mit einer konkreten Umsetzungspraxis in Verbindung gebracht. Eine solche wurde erst durch die Zusammenarbeit mit dem Institut Mensch und Arbeit in die Wege geleitet. Hier wurde die Studie »Richtig Führen im Bergbau« erst mit der Teilnahme der Vorgesetzten an den eigens konzipierten Lehrgängen als abgeschlossen angesehen. Letzteres kann bereits als Transfermaßnahme gewertete werden, wobei auf die Exklusion der Belegschaften bei diesen Lehrgängen hingewiesen werden muss. Erst im Rahmen des Projektes HdA-Transfer lag die Zielsetzung auf einer umfangreichen Verbreitung und Beteiligung aller Betriebsangehörigen sowie einer nachhaltigen Nutzung der Forschungsergebnisse. Die besondere Rolle des Steinkohlenbergbaus im Rahmen des HdA-Programms wurde nicht nur durch die hohe Anzahl der Forschungsprojekte deutlich, sondern vielmehr durch die direkte Umsetzung und Verbreitung der Forschungsergebnisse und der nachhaltigen Dokumentation.
LITERATUR Abelshauser, Werner: Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984. Altmann, Norbert u.a.: Forschungsverbund. Humanisierungsrelevante Veränderungen in der Arbeitswelt. Ein Gutachten, München 1985. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau in den Jahren 1912-1926, Berlin 1928. Bleidick, Dietmar: Gewinnungstechnik im Ruhrkohlenbergbau nach 1945, in: Farrenkopf, Michael u.a. (Hg.): Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlenbergbau nach 1945, Bochum 2009, S. 342-350. Bleidick, Dietmar: Entwicklung der Montanberufe und des bergbaulichen Bildungswesens seit Ende des 19. Jahrhunderts, in: Tenfelde, Klaus u.a. (Hg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahhrundert (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), Münster 2013, S. 413-443. Dietz, Bernhard/Neumaier, Christopher: Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012) 2, S. 293-304.
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Farrenkopf, Michael: Wiederaufstieg und Niedergang der Bergbaus in der Bundesrepublik, in: Ziegler, Dieter (Hg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013, S. 183-302. Friedrich, Norbert: Der Beginn der Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen, in: Jähnichen, Traugott u.a. (Hg.): Den Wandel gestalten. 50 Jahre Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau, Essen 2000, S. 58-68. Fronz, Manfred: Umsetzung von Forschungsergebnissen zur Humanisierung im Steinkohlenbergbau, in: Glückauf, 116 (1980) 24, S. 1280-1282. Fronz, Manfred/Peter, Gerd: Fachtagung über sozialwissenschaftliche Forschung im Programm Humanisierung des Arbeitslebens im Steinkohlenbergbau, in: Glückauf, 117 (1981) 19, S. 1327-1329. Fronz, Manfred u.a.: Neueste Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung im Steinkohlenbergbau. Tagungsbericht, Bochum 1981. Hamm, Eduard: Systemanalyse zur Humanisierung des Arbeitslebens im Steinkohlenbergbau Teil 1. Methodische Untersuchungen bei der Ruhrkohle AG 1, Essen 1980. Hamm, Eduard: Systemanalyse zur Humanisierung des Arbeitslebens im Steinkohlenbergbau Teil 2. Ergebnisse bei der Ruhrkohle AG 2, Essen 1980. HdA-Transfer, WBK Projektgruppe: Transfer von HdA-Ergebnissen im Steinkohlenbergbau, Essen 1984. Hudewentz, Dietrich: Humanisierung der Arbeit (Vorgetragen auf der Betriebsrätekonferenz der Eschweiler-Bergwerks-Vereins am 11.03.1981), in: Bergbau. Zeitschrift für Bergbau- und Energiewirtschaft, 32 (1981) 8, S. 551-555. Jacob, Karl-Heinrich: Belegschaftspolitik im Steinkohlenbergbau vor neuen Aufgaben, in: Glückauf, 110 (1974) 24, S. 984-989. Jantke, Carl: Bergmann und Zeche. Die sozialen Arbeitsverhältnisse einer Schachtanlage des nördlichen Ruhrgebiets in der Sicht der Bergleute, Tübingen 1953. Kargar, Said /Lohmann, R.: HdA-Forschungsprogramm »Staubbekämpfung unter Tage«, in: Glückauf, 119 (1983) 8, S. 386-387. Kargar, Said: Dokumentation »Humanisierung des Arbeislebens im Steinkohlenbergbau«, in: Glückauf, 20 (1984) 5, S. 279-280. Kleinöder, Nina: Unternehmen und Sicherheit. Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisenund Stahlindustrie nach 1945, Stuttgart 2015. Koch, Werner u.a.: Staubbekämpfung im Abbau. Grundlagen, Vorbereitung, Durchführung und erste Ergebnisse, in: Bergbau. Zeitschrift für Bergbau und Energiewirtschaft, 34 (1983) 7, S. 326-332.
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Moitra, Stefan: Das Wissensrevier. 150 Jahre Bergbauforschung und Ausbildung bei der Westfälischen Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung. Die Geschichte einer Institution, Bochum 2014. Müller, Stefan: Humanisierung der Arbeitswelt 1.0. Historisch-kritische Befragung eines Reformprogramms der Neunzehnhundertsiebzigerjahre, in: Buschak, Willy (Hg.): Solidarität im Wandel der Zeiten. 150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte, Essen 2016, S. 253-275. Pfützner, Robert: Taschenbuch Mensch und Arbeit. Für Führungskräfte im Betrieb, München 1966. Pöhler, Willi: Fünf Jahre Humanisierungsprogramm im Bereich des Bundesministers für Forschung und Technologie, in: Pöhler, Willi (Hg.): ... damit die Arbeit menschlicher wird. Fünf Jahre Aktionsprogramm Humanisierung des Arbeitslebens, Bonn 1979. Sauer, Dieter: Permanente Reorganisation. Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt, in: Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz/Schlemmer, Thomas (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 37-55. Sauer, Dieter u.a.: Einige Thesen zur Entwicklung von Rationalisierung und »Humanisierung« im Bergbau, in: Fronz, Manfred/Peter, Gerd/Pöhler, Willi (Hg.): Neueste Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung im Steinkohlenbergbau. Tagungsbericht, Bochum 1981, S. 113-127. Seidel, Hans-Christoph: Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik im Bergbau. Vom Nationalsozialismus bis zum Ende der alten Bundesrepublik, in: Tenfelde, Klaus u.a. (Hg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert (= Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4), Münster 2013, S. 446-514. Stams, Joachim: Übertragung von Ergebnissen der HdA-Forschung in den Steinkohlenbergbau, in: Bergbau. Zeitschrift für Bergbau und Energiewirtschaft, 35 (1984) 1, S. 20-25. Willet, H.L.: Arbeitsbedingungen, Grubensicherheit und Gesundheitsschutz, in: Glückauf, 109 (1973) 1, S. 47-52.
Lernen als Hürde und Überforderung? Qualifikation und Qualifizierung von Arbeitern in den HdA-Projekten bei VW Gina Fuhrich
»Was einmal gelernt worden war, erwies sich bei neuen Anforderungen als ungenügend. Die ständige Qualifizierung, die Fähigkeit, sich auf neue Aufgaben einstellen zu können, wird in Zukunft immer wichtiger werden, in den Betrieben und in den Büros.«1
Diese Worte stammen von Hans Matthöfer, dem prominentesten politischen Vertreter des Bundesprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA). Seine Aussage zielte auch auf neue Qualifizierungsanforderungen an un- und angelernte Arbeiter oder Facharbeiter, also Arbeiter mit spezifischer Ausbildung, in der Produktion ab, von denen nun eine flexiblere Anpassungsfähigkeit und eine vielfältigere und insbesondere permanente Qualifizierung erwartet wurden. Schon in den 1960er-Jahren hatte die bundesdeutsche Politik eine umfassende Bildungsreform angestoßen, die im Berufsbildungsgesetz 1969 oder im Bundesausbildungsförderungsgesetz 1971 seinen Ausdruck fand. Die Ziele waren unter anderem die Festlegung von Standards für anerkannte Ausbildungsberufe, der Ausbau von Berufsschulen und damit einhergehend die Erhöhung der Zahl der Auszubildenden.2 In den 1970er-Jahren wurde die flexible Anpassungsfähigkeit und höhere Qualifizierung von Arbeitern vor allem aufgrund der Wirtschaftskrisen notwendig. Zahlreiche Industriezweige, etwa die Automobilindustrie, muss-
1
Matthöfer: Humanisierung, 1977, S. 63.
2
Vgl. von Friedeburg: Bildungsreform, 1989, S. 429-436.
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ten neue Produkte und damit einhergehend neue Produktionsmodelle einführen um wettbewerbsfähig zu bleiben.3 Auch Volkswagen unterzog sich einer solchen Anpassungskrise, die mit der Umstellung auf eine flexible Produktion, einer vielfältigeren Modellpalette und der Einführung neuer Produktionstechnologien einherging.4 Daraus resultierten für die Arbeiter in der Produktion bei VW wiederum neue Qualifikationsanforderungen. Diese höheren Qualifizierungsanforderungen stellten auch im Bundesprogramm ein Schlüsselelement zur »Humanisierung der Arbeit« dar. Durch eine umfassendere Qualifizierung sollten Arbeiter vielfältigere Aufgaben übernehmen und somit anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben können, um etwa monotonen Belastungsstörungen, geistiger Unterforderung, aber auch Arbeitsplatzverlust entgegenzuwirken.5 Welche Auswirkungen hatten nun die gestiegenen Qualifikationsanforderungen aufgrund neuer Technologieeinführung oder neuer Arbeitsorganisation auf die Arbeiter in der Produktion? Wie war die Akzeptanz der Arbeiter gegenüber den neuen Qualifizierungsmaßnahmen und wie handelten sie in betrieblichen Qualifizierungsprozessen? Diese Fragen sollen exemplarisch anhand von zwei HdA-Projekten beantwortet werden: Das Projekt zur Gruppenarbeit in der Motorenmontage bei VW Salzgitter von 1975 bis 1977 und die Einführung von Industrierobotern bei VW Wolfsburg zwischen 1977 und 1979.6 Das Projekt der Gruppenarbeit diente VW einerseits zur Erprobung alternativer Produktionskonzepte im Vergleich zur konventionellen Fließbandfertigung und andererseits sollten mit dem Projekt komplexere Arbeitsvorgänge, mehr Gestaltungsfreiheit sowie Eigenständigkeit für die beteiligten Arbeiter erreicht werden.7 Die Gruppenarbeiter, jeweils zehn Arbeiter in vier Gruppen, besprachen den Fortgang des Projektes und die auftretenden Probleme in ihren regelmäßig stattfindenden Gruppengesprächen. Diese Gespräche wurden von den am Projekt beteiligten Wissenschaftlern auf Tonband aufgenommen und liegen nun als Digitalisate im Universitätsarchiv Heidelberg vor. Im Industrieroboterprojekt führten die beteiligten Wissenschaftler hingegen Interviews mit 133 Arbeitern anhand eines festgelegten Fragebogens, der sich auf die neuen Arbeitsbedingungen an den Roboterstraßen konzentrierte. Diese Interviews sind im Archiv des Soziologischen Forschungsinstituts in Göttingen einsehbar. Jene Quellen ermöglichen es, das
3
Vgl. Metz: Expansion, 2001, S. 76.
4
Vgl. Bauer: Ölkrisen, 2008, S. 70; Grieger: Wirtschaftswundertüte, S. 45, 53.
5
Vgl. Forschungsaktionsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens Februar 1974, Bundesarchiv, Sign. B 149/27879, S.11, 38, 57-58.
6
Vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1980; Mickler/Kalmbach: Industrieroboter, 1981.
7
Vgl. Ebd., S. 26.
Lernen als Hürde und Überforderung? | 235
Handeln von Arbeitern zu analysieren. Um die Gesprächsquellen in Form von Tonbandaufnahmen und transkribierten Interviews für eine historische Analyse nutzbar zu machen, bedarf es einer Methodik, wie mit diesen Quellen geschichtswissenschaftlich umzugehen ist. Hierfür eignet sich die Oral History. Sie macht das subjektive Erleben und Handeln sowie das Verorten des eigenen Lebens im historischen Kontext durch das Individuum selbst greifbar. Zwangsläufig nimmt die Oral History immer eine Mikro- und keine Makroperspektive ein.8 Dennoch ist es möglich, die Erfahrungen der Befragten in größere Bezüge und Prozesse einzuordnen, die sie unter anderem für die Entwürfe ihrer Erzählungen auch selbst herstellen. So orientiert der befragte Mensch sein Erzählen über Lebens- oder Arbeitsgeschichte an bestimmten gesellschaftlichen Mustern und verknüpft es gleichzeitig mit individuellen Erfahrungen.9 Allerdings birgt die Nähe zu den Akteuren auch neue Wagnisse, die bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen, wie etwa der Einfluss der Wissenschaftler bei der Produktion des Quellenmaterials und auch die asymmetrischen Machtverhältnisse in den Gesprächen. Trotzdem sind diese Quellen besonders wertvoll, da der Zugriff von Historikern auf Arbeiterhandeln vor allem aufgrund des Mangels an Quellen, die selbst von Arbeitern produziert wurden, schwierig ist. Die Qualifikation war sowohl beim Industrieroboterprojekt als auch beim Gruppenarbeitsprojekt ein entscheidender Faktor für die Zuteilung von Arbeitsplätzen. Demnach entschied nach Einführung der Industrieroboter in der Produktion bei VW die Qualifikation darüber, an welche Arbeitsplätze die Arbeiter versetzt wurden und ob ein Roboter ihre Tätigkeit übernehmen konnte. In der Gruppenarbeit hingegen mussten die Arbeiter aufgrund der Projektanforderungen einen sehr hohen Qualifikationsstand erreichen, um eigenständig einen Motor montieren zu können. In allen Projekten setzten sich die Arbeiter daher mit den neuen Qualifizierungsanforderungen und -maßnahmen auseinander.
LERNEN ALS HÜRDE? Im HdA-Projekt zur »Einführung von Industrierobotern« wurden die Arbeiter mit den Qualifizierungsanforderungen einer neuen Technologie und einer flexibleren Produktionsweise konfrontiert.10 Allerdings strebten nur wenige der be-
8
Vgl. Spuhler: Oral History, 1994, S. 9.
9
Vgl. Ebd., S. 9.
10 Zur Entwicklungsgeschichte und Einführung der Industrieroboter bei VW vgl. Heßler: Halle 54, 2012, S. 59-64.
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fragten Arbeiter in den Projekten bei VW eine höhere Qualifizierung an und benannten zahlreiche Hürden für die Weiterbildung. Die meisten der interviewten Arbeiter im Projekt waren ungelernte beziehungsweise angelernte Arbeitskräfte ohne Fachausbildung oder weitere Arbeitsqualifikation. Viele stammten aus anderen Berufsfeldern. So waren unter den in Wolfsburg 133 befragten Arbeitern Maurer, Tischler, Bäcker, Arbeiter aus der Landwirtschaft und Maler die häufigsten Berufe. Nur neun der 133 Befragten hatten eine Fachausbildung, wie Mechaniker, Elektriker oder Maschinenschlosser.11 Das offensichtliche Problem, welches hierdurch entstand, war, dass sie meist nur Kenntnisse über einfache Tätigkeitsbereiche hatten und dadurch keine anspruchsvolleren Arbeiten ausüben konnten. Dies wurde auch von den Arbeitern selbst als Problem erkannt: »Wie ich angefangen habe, ja. Daß man sich hocharbeiten kann, habe ich gedacht. Liegt jetzt nicht mehr drin. Man muß technisch gebildeter sein, Nachhilfeunterricht, Abendschule usw.«12 Durch die höheren Qualifikationsanforderungen in den 1970er-Jahren kamen die Arbeiter folglich an einen Punkt, an dem sie weitere Qualifikationen erwerben mussten, um im Betrieb aufzusteigen. Diese bezogen sich allerdings nicht mehr auf handwerkliche Fähigkeiten, sondern nun musste eine »intellektuelle« Weiterbildung im Sinne einer Schul- oder Technikausbildung erworben werden. Hieran zeigt sich der Bedeutungsgewinn von Kopfarbeit gegenüber der Handarbeit deutlich.13 Handwerkliches Geschick trat hinter technischem Wissen zurück. Demnach sollten an den neuen Roboterstraßen etwa auch Gruppen- und Straßenführer Weiterbildungskurse nachweisen; im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten, in denen die Einarbeitung, Verantwortungsbewusstsein und Erfahrung in der Praxis dafür ausreichten. Diese Hürde nahmen die wenigsten Arbeiter. Obwohl ihnen die Bedeutung von Qualifikationen für ihr Weiterkommen im Betrieb bewusst war, verzichteten zahlreiche Arbeiter freiwillig auf eine höhere Qualifizierung. So wollten knapp zwei Drittel der Befragten grundsätzlich keine Weiterbildung wahrnehmen. Die genannten Gründe hierfür waren vor allem die Angst vor dem Lernen und einem möglichen Scheitern sowie die fehlende Motivation zu Lernen oder die Ablehnung, größere Verantwortung zu tragen: »Nein, ich will auch gar nichts anderes machen. Ich will kein Vorarbeiter werden. Ich will keine
11 Vgl. Mickler/Kalmbach: Industrieroboter, 1981, S. 19. 12 eLabour-SOFI-IR01_003_022.pdf Gespräch mit Arbeiter aus dem Untergruppenrohbau, o. A. am 15.09.1977, SOFI Göttingen, S. 9. 13 Vgl. Andresen: Strukturbruch, 2011, S. 160-163.
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Verantwortung haben, da hätte ich keine Lust zu. Die Vorarbeiter haben hier ja eine solche Verantwortung, die werden manchmal so zusammengeschissen.«14 Die Interviewantwort legt dar, dass dieser Arbeiter sich vehement gegenüber der Anforderung verweigert, Verantwortung zu übernehmen oder zu lernen. Er wollte dem Gebot nach einer weiteren Qualifizierung nicht nachkommen, was seine mehrmalige Verneinung verdeutlicht. Darüber hinaus waren ganze 29 Arbeiter mit ihrer Stelle zufrieden und wollten sich daher nicht weiterbilden.15 Diese Tatsache erklärt sich bei genauerem Hinsehen aus der Biografie der einzelnen Arbeiter. Von den 29 Zufriedenen waren 20 wegen des hohen Lohns zu VW gekommen und sieben zuvor arbeitslos. Von den 20 Arbeitern, die infolge des hohen Lohns zu VW kamen, hatten zehn keine Ausbildung und die anderen berufsfremde Ausbildungen, in denen sie wesentlich weniger verdienten. In manchen Fällen gaben die Arbeiter auch ökonomische oder soziale Gründe für ihren freiwilligen Verzicht auf eine weitere Qualifizierung an: »Man hat mich öfter mal darauf angesprochen, ob ich nicht noch was lernen will, Elektriker oder Werkzeugmacher. Der Meister hat mir damals gesagt, er würde es auf jeden Fall tun, aber von den Eltern hat niemand dahinter gestanden, und dann hatten wir ja schon etwas Geld in der Tasche, und das wäre dann ja wieder alles flach gefallen.«16
Es mangelte bei diesem Arbeiter an Unterstützung in seinem sozialen Umfeld für eine Weiterbildung und auch die finanziellen Einbußen, die mit einer Qualifizierung einhergehen konnten, waren nicht unerheblich für die Entscheidung zum Verzicht. Die mehrheitlich ablehnende Haltung der angelernten oder fachfremden Arbeiter gegenüber einer Weiterbildung führte zu einer Schichtung innerhalb der Arbeitergruppe. So konnten einige Arbeiter durch diese höheren Tätigkeiten mehrere Arbeitsschritte ausüben im Vergleich zu Angelernten ohne Weiterbildung, die nur wenige Handgriffe ausführten. Ein Meister aus der Blechschneiderei fasste das Problem folgendermaßen zusammen:
14 eLabour-SOFI-IR01_006_002.pdf Gespräch mit Arbeiter aus der Gießerei, 40 Jahre am 24.10.1977, SOFI Göttingen, S. 7. 15 Vgl. eLabour-SOFI-IR01_004_029.pdf Gespräch mit Arbeiter, 43 Jahre aus der Gießerei am 14.10.1977, S. 7, SOFI Göttingen oder eLabour-SOFI-IR01_006_006.pdf Gespräch mit Arbeiter, 41 Jahre aus der Gießerei am 25.10.1977, SOFI Göttingen, S. 8. 16 eLabour-SOFI-IR01_005_031.pdf Gespräch mit Arbeiter aus dem Rohbau, 34 Jahre am 21.10.1977, SOFI Göttingen, S.1.
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»Personelle Engpässe gibt es vor allem hinsichtlich des Nachwuchses für Vorarbeiter- und Einrichterposten. Gerade in den mittleren Jahrgängen sperren sich Werker gegen Schulungen und Lehrgänge, die nötig wären, um in der betrieblichen Hierarchie nach oben zu kommen. Diesbezüglich wird ein besonderes Augenmerk auf die jüngeren Neueinstellungen gelegt.«17
Durch die Verweigerung einer weiteren Qualifizierung zahlreicher Arbeiter entstanden etwa bei der Besetzung von Vorarbeiterstellen in der Produktion Engpässe. Diese versuchte die Betriebsleitung durch Neueinstellungen zu kompensieren. Somit kam es aufgrund von Qualifizierung also zu einer Binnendifferenzierung in der Gruppe der un- und angelernten Arbeiter. Durch die fortschreitende Spezialisierung der Arbeit und höhere Qualifizierungsanforderungen hatten Facharbeiter wesentlich bessere Chancen im Betrieb aufzusteigen als Angelernte. Dies lässt sich ebenso an der Äußerung des Hauptabteilungsleiters der Elektrobetriebe herausstellen: »Für die Spezialeinheiten der [Industrieroboter]-Instandhalter soll ein eigenes Ausbildungsprogramm konzipiert werden. Im Grunde ist hierfür eine Technikerausbildung erforderlich. Elektriker sind besser geeignet als Mechaniker, da logisches Denken erforderlich ist und weniger handwerkliche Fähigkeiten, um Instandhaltungsaufgaben zu gewährleisten. […] Einfache Facharbeiter sind bei der Wartung schon überfordert.«18
Allerdings waren auch nicht alle Facharbeiter gleichermaßen beim Einsatz der neuen Technologie gefragt. Überwiegend wurden Elektriker und Techniker benötigt. Der Hauptabteilungsleiter spricht von »Spezialeinheiten«, die ein eigenes Ausbildungsprogramm erhielten. Es waren also besonders qualifizierte Arbeitskräfte. Deutlich wird auch, dass etwa Facharbeiter der Mechanik hier weniger gefragt waren, da sie mit der Wartung der Industrieroboter überfordert seien. Damit differenzierte sich ebenso, wie schon bei den un- und angelernten Arbeitern, die Schicht der Facharbeiter in für die neue Technologie gezielt geschulte Fachkräfte und normale Facharbeiter, die diese Aufgaben nicht übernehmen konnten. Dies belegt einerseits die gestiegenen Qualifikationsanforderungen des Betriebes und andererseits die stärkere Formalisierung der Ausbildung. VW setzte ab Mitte der 1970er-Jahre verstärkt auf Ausbildungsprogramme, um den
17 eLabour-SOFI-IR01_001_006.pdf Gespräch mit Meister aus der Blechzuschneiderei am 12.09.1977, SOFI Göttingen, S. 3. 18 eLabour-SOFI-IR01_009_033.pdf Gespräch mit Hauptabteilungsleiter der Elektrobetriebe am 01.06.1977, SOFI Göttingen, S. 10.
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eigenen qualifizierten Nachwuchs zu sichern. Seit 1975 stiegen die Einstellungszahlen von Auszubildenden allein im Werk Wolfsburg um insgesamt 45,6 Prozent an.19 Volkswagen war hierbei allerdings kein Einzelfall. Auch andere Großbetriebe, etwa Stahl- und Chemieunternehmen, setzten in den 1970er-Jahren vermehrt auf die unternehmensinterne Ausbildung von Facharbeitern und investierten in Ausbildungszentren sowie die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter.20 Der Prozess zur Etablierung eigener Ausbildungsgänge speiste sich einerseits aus der Minderung der Qualifikationsform des Anlernens, hervorgerufen etwa durch die Umstellung der Produktionsbedingungen. Andererseits wurde dies aufgrund der Spezialisierung und höheren Qualifizierung der Arbeitskräfte in der Produktion infolge neuer Produktionstechnologien notwendig.21 Das Anlernen wurde immer teurer, da sich die neue Technologie durch kompliziertere Abläufe sowohl grundsätzlich zeitintensiver gestaltete als auch eine vermehrte Betreuung durch Vorgesetzte erforderte.22 Die Verknappung des Arbeitskräfteangebots insbesondere an handwerklich qualifizierten Arbeitskräften – gleichsam wie die besonderen Risiken des Berufsverlaufs von Angelernten, die häufig von vorzeitigem Verschleiß ihrer Gesundheit und Einbußen ihrer Arbeitsfähigkeit betroffen waren – machten ein Umdenken in der Qualifizierung innerhalb der Betriebe notwendig.23 Ebenso führten die sinkenden Produktionszahlen in den 1960er-Jahren bei VW zu einer Überprüfung der Investitionspolitik. Die Krisen der 1970er-Jahre führten zu einem starken Belegschaftsabbau sowie zeitgleich zu Bemühungen um eine effektivere Nutzung der Produktionstechnologien und einer strafferen Arbeitsorganisation.24 Allerdings setzte die Politik insbesondere die großen Betriebe mit der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes 1969 unter Druck, ihr Ausbildungsniveau und ihre Lehrstellen massiv zu steigern.25 VW setzte daher zunächst auf die Weiterbildung älterer Mitarbeiter, um dann mit eigenen Ausbildungszentren und Ausbildungswegen Mitte der 1970er-Jahre gezielt junge Arbeitskräfte anzuwerben und zu qualifizieren.26
19 Vgl. Geschäftsberichte VW-Werk Aktiengesellschaft Wolfsburg 1978, S. 39 und 1977, S. 38. 20 Vgl. Drexel: Qualifizierung, 1979, S. 38. 21 Vgl. ebd., S. 21f. 22 Vgl. ebd., S. 153. 23 Vgl. Drexel: Belegschaftsstrukturen, 1982, S. 6f. 24 Vgl. Henninges/Tessaring: Entwicklungstendenzen, 1977, S. 38. 25 Vgl. Greinert: Erwerbsqualifizierung, 2015, S. 81. 26 Vgl. Drexel: Qualifizierung, 1979, S. 20.
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Dies war ein schleichender Prozess, der bereits in den 1960er-Jahren bundesweit begann. Bis in die 1950er-Jahre reichte das Arbeitskräftepotenzial qualitativ und quantitativ in der westdeutschen Produktion aus und somit bedurfte das Bildungswesen keiner organisatorischen oder strukturellen Veränderung. Ab den 1960er-Jahren allerdings mit der Verknappung der Arbeitskraftreserven – auch aufgrund des Mauerbaus in der DDR und dem damit einhergehenden Stopp der Zuwanderung von (Fach-)Arbeitern – problematisierte die Politik zunehmend die zu geringen Ausbildungskapazitäten.27 Infolgedessen wurden bildungsökonomische Planungsansätze und eine Qualifikationsbedarfsplanung vorgenommen und neue Bildungswege und -strukturen konzipiert, etwa bei der Ausbildung von Lehrlingen und mit dem Bau von Berufsschulen.28 In den 1960er-Jahren hielt dadurch das Konzept des »lebenslangen Lernens« 29 in der bundesdeutschen Politik und in den Betrieben Einzug.30 Dieses Konzept wird auch im HdAProgramm aufgegriffen. So betonte Hans Matthöfer: »Der Appell an die Bereitschaft der Arbeitnehmer zum lebenslangen Lernen ist im Kern berechtigt, wenn er auf die Fähigkeiten der Menschen Rücksicht nimmt.«31 Daraus leitet sich ab, dass die Arbeiter in der Produktion nun während ihres ganzen Berufslebens lernen sollten und nicht nach der Ausbildung etwa »ausgelernt« hatten. Hierdurch wurde jedoch die Abwertung von ungelernter Tätigkeit insgesamt und auch gegenüber Facharbeit vorangetrieben und in den folgenden Jahrzehnten verfestigt.32 Den Übergang in der Qualifizierungsstruktur kompensierten die Unternehmen meist durch Qualifizierungsmaßnahmen von einzelnen Arbeitern unterhalb des Niveaus einer Facharbeiterausbildung, bei VW etwa mit einem werksinternen Schweißkurs.33 Mit der Qualifizierung überwiegend junger Arbeitskräfte wollte der Betrieb erreichen, diese möglichst lange an das eigene Werk zu binden, eine Abwanderung von qualifizierten Kräften zu minimieren und eine ausgeglichene Altersstruktur im Betrieb zu schaffen, da VW in den 1970er-Jahren einen hohen Altersdurchschnitt von knapp 40 Jahren hatte.34
27 Vgl. Baethge: Produktion, 1974, S. 5. 28 Vgl. ebd., S. 6. 29 Zum Begriff des »lebenslangen Lernens« und seiner Entstehung vgl. Gerlach: Lebenslanges Lernen, 2000, S. 9-10, 14-16. 30 Vgl. Baethge: Produktion, 1974, S. 6. 31 Matthöfer: Humanisierung, 1977, S. 64. 32 Vgl. Andresen: Strukturbruch, 2011, S. 160-161, 174-175. 33 Vgl. Drexel: Qualifizierung, 1979, S. 23. 34 Vgl. ebd., S. 132 oder Sozialbericht der Volkswagen Aktiengesellschaft: Menschen im Blickpunkt, Wolfsburg 1982, S. 8.
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Wie der erste Teil der Analyse zeigt, führte die mehrheitlich Verweigerung einer Weiterbildung der angelernten Arbeiter zu einer stärkeren Binnendifferenzierung der Arbeitergruppe anhand von Qualifikation und der betriebliche Aufstieg war durch die höheren Qualifikationsanforderungen kaum mehr möglich. Allerdings gab es auch zahlreiche betriebliche Hürden, die es Angelernten erschwerten aufzusteigen, selbst wenn sie sich weiterbilden wollten. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Von 41 Arbeitern, die sich gerne im Sinne neuer Qualifikationen, einer Versetzung mit höherem Lohn oder der Ausbildung zum Facharbeiter weitergebildet hätten, waren 32 Arbeiter nicht erfolgreich. Über die Hälfte gab an, dass die Höherversetzung durch Vorgesetzte oder das Betriebsbüro abgelehnt wurde. Nur drei von den 133 Arbeitern konnten eine Ausbildung zum Facharbeiter absolvieren und nur zwei erreichten eine Versetzung mit höherem Lohn. Elementar für einen Karriereaufstieg waren nach Auffassung eines Arbeiters aus dem Untergruppenrohbau eine abgelegte, nicht fachfremde Ausbildung und ein gutes Verhältnis zu den Vorgesetzten.35 Nur mit einer Empfehlung des Meisters oder Vorarbeiters konnten die angelernten Arbeiter in der Produktion aufsteigen. Zudem bekamen Angelernte aufgrund ihrer geringen Qualifikationen kaum höherwertige Tätigkeiten von ihren Vorgesetzten zugewiesen, was die Aussage eines Arbeiters aus der Gießerei nahelegt: »Eine anspruchsvollere Arbeit bekommt man meistens nicht. Entweder bekommt man, bezogen auf die Lohngruppe, schlechtere Arbeit oder eben gleich schlechte. Die sagen doch: Der Mann hat ja nur die Kurbelwelle abgestapelt. Wo soll man den denn hinstellen? Der kann doch nichts anderes.«36 Die Darstellung des Arbeiters legt die von den Vorgesetzten angenommenen Grenzen der Lern- und Leistungsfähigkeit der angelernten Arbeiter offen. Jene Vorstellung davon, wie weit Arbeiter per se qualifizierbar waren, prägte massiv ihre Aufstiegschancen und Qualifizierungsprozesse im Betrieb. Insofern war das vorherrschende Bild eines un- oder angelernten Arbeiters im Unternehmen ein wichtiger Faktor, der über Qualifizierungsmöglichkeiten entschied.37 Bis in die 1970er-Jahre war diese Vorstellung in den Köpfen der Vorgesetzten von VW vor allem durch tayloristische und fordistische Modelle der Arbeitsorganisation und Produktion geprägt. Diese Modelle gehen auf den Ingenieur Frederick Taylor
35 Vgl. eLabour-SOFI-IR01_007_014.pdf Gespräch mit Arbeiter aus dem Untergruppenrohbau, 20 Jahre o. D., SOFI Göttingen, S. 6. 36 eLabour-SOFI-IR01_006_006.pdf Gespräch mit Arbeiter aus der Gießerei, 41 Jahre am 25.10.1977, SOFI Göttingen, S. 9. 37 Vgl. Luks: Betrieb, 2010, S. 146f.
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und sein Konzept der »wissenschaftlichen Betriebsführung« Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Die Planung und Koordination des Produktionsablaufs wurden hierin in den höheren Hierarchieebenen angesiedelt, wobei die direkten Vorgesetzten in der Produktion für die Kontrolle der Arbeiter zuständig waren. Arbeiter sollten in diesem Konzept keine planenden Tätigkeiten ausführen, sondern vielmehr durch einen nach Leistung gestaffelten Lohn und Konkurrenzdruck zu mehr Produktivität angetrieben werden.38 Der Betrieb wurde also anhand von Qualifikationshierarchien strukturiert. Dieses Modell der Arbeitsorganisation war, wie in aktuellen wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschungen dargelegt, vielfachen Anpassungen in deutschen Unternehmen seit der Weimarer Republik unterworfen, allerdings erwiesen sich einzelne Elemente als äußert flexibel sowie beständig und waren bis in die 1970er-Jahre in den Betrieben präsent.39 Um aufsteigen zu können, mussten sich die angelernten Arbeiter zuvor als kurzzeitige Vertretungen an höher qualifizierten Arbeitsplätzen beweisen. In manchen Fällen waren sie daher bezüglich einer Versetzung regelrecht machtlos, wenn die zuständigen Personen und Stellen diese verweigerten: »Ja, das habe ich schon oft gemacht. Ich bin schon oft zum Personalbüro gegangen, aber die haben mich ewig wieder vertröstet. Ich wollte ja mal in die Forschung und Entwicklung, aber dann habe ich die Schnauze voll gekriegt, und in den letzten 2 Jahren habe ich mich darum überhaupt nicht mehr gekümmert. […] Der Leiter meinte wohl immer, daß ich nicht entbehrlich bin.«40
Folglich sprach sich der Vorgesetzte aufgrund von betrieblichen Notwendigkeiten gegen eine Qualifizierung des Arbeiters aus, da seine Tätigkeit schwer ersetzbar war. Das führte mitunter zu großer Frustration unter den Arbeitern, insbesondere da angelernte Arbeiter sich nicht wie Facharbeiter eigenständig auf freie Plätze in der Produktion bewerben konnten, sondern auf die Beurteilung ihrer Vorgesetzten angewiesen waren.41
38 Vgl. Uhl: Faktor, 2010, S. 234; Wellhöner: Wirtschaftswunder, 1996, S. 143-145. 39 Vgl. Uhl: Rationalisierung, 2014, S. 137; Wischermann: Unternehmenskultur, 2003, S. 32. 40 eLabour-SOFI-IR01_005_024.pdf Gespräch mit Schweißer aus dem Karosseriebau, 29 Jahre am 05.10.1977, SOFI Göttingen, S. 8. 41 Vgl. eLabour-SOFI-IR01_001_026.pdf Gespräch mit Abteilungsleiter Rohbau am 08.08.1977, SOFI Göttingen, S. 5f.
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Die oben dargestellten Aufstiegsmuster galten hauptsächlich für deutsche, männliche Arbeiter. Frauen und Migranten hatten noch größere betriebliche Hürden zu überwinden. So gab es für Arbeiterinnen nach eigenen Aussagen keine Möglichkeiten auf ein »Weiterkommen« im Unternehmen.42 Die einzige weibliche Vorarbeiterin gäbe es »in der Hausmeisterei beim Putzen«.43 Für Frauen war ab einer bestimmten Lohngruppe und Tätigkeit im Betrieb kein Aufstieg mehr möglich. Sie verblieben auf diesen Arbeitsplätzen und in ihrer Lohngruppe.44 Bei diesen sogenannten Leichtlohngruppen handelte es sich um Niedriglohngruppen, die »körperlich leichte« und »einfache« Tätigkeiten enthielten und von den Tarifparteien im Lohn deutlich niedrigerer bewertet wurden, als vergleichbare Arbeitsplätze männlicher Kollegen.45 Die nicht vorhandenen Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten und der geringe Verdienst für Frauen in der Produktion bei VW waren Spiegel der westdeutschen Industrie. Frauen dienten ebenso wie migrantische Arbeiter in den 1960er- und 1970er-Jahren als flexibles Arbeitskräftereservoir, das insbesondere in nicht-qualifizierten Tätigkeitsbereichen eingesetzt wurde.46 Eine höhere Qualifizierung der angelernten Arbeiter scheiterte also einerseits am freiwilligen Verzicht der Arbeiter darauf und andererseits an betrieblichen Hürden, die ihren Aufstieg erschwerten. Beides führte zu einer stärkeren Binnendifferenzierung der Arbeitergruppe anhand von Qualifikation im Betrieb.
LERNEN ALS ÜBERFORDERUNG? Im Unterschied zum Industrieroboterprojekt bot das Gruppenarbeitsprojekt den Arbeitern erweiterte Spielräume im Bereich der Qualifikation, als unter normalen Betriebsbedingungen, denn die Höherqualifizierung der beteiligten Arbeiter war in diesem Projekt eine Grundvoraussetzung.47 So sollte jeder Arbeiter unter
42 eLabour-SOFI-IR01_006_019.pdf Gespräch mit Arbeiterin aus der Vormontage, 46 Jahre am 15.12.1977, SOFI Göttingen, S. 9. 43 eLabour-SOFI-IR01_004_023.pdf Gespräch mit Einlegerin, 42 Jahre am 10.10.1977, SOFI Göttingen, S. 9. 44 Vgl. Frerichs: Fraueninteressen, 1989, S. 52, 122. 45 Hachtmann/von Saldern: Gesellschaft, 2009, S. 190f. 46 Vgl. Atzmüller/Hürtgen: Arbeitskraft, 2015, S. 64; Hunn: »Gastarbeiter«, 2004, S. 79f. 47 Vgl. zur umfangreichen Information über die Ziele der Gruppenarbeit und zum Verlauf des Projektes bei VW sowie zum Verhalten anderer Akteure darin, wie Betriebs-
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anderem am Ende des Projektes in der Lage sein, alleine einen kompletten Motor zu montieren. Zusätzlich zu Bau und Reparatur eines Motors mussten die Arbeiter in den Gruppen noch zahlreiche andere Qualifikationen erlernen, etwa Materialbestellung, Auffüllen der Lagerbestände, Gesprächsführung, Erstellung von Arbeitsplänen, Verwaltungsaufgaben und die Funktion eines Gruppensprechers.48 Diese ehrgeizigen Qualifizierungsanforderungen stellten für die meisten Arbeiter einerseits eine Überforderung dar, andererseits erwarben sie durch den immensen Lerndruck zahlreiche neue Qualifikationen. Zahlreiche Gruppenarbeiter haderten etwa mit der Verwaltungsarbeit, wie dem Ausfüllen der Formulare für die Materialbestellung, da sie große Schwierigkeiten mit dem Schreiben und der deutschen Rechtschreibung hatten, insbesondere in Gruppe 4, in der überwiegend migrantische Arbeiter waren. Außerdem stellte die Unkenntnis über betriebliche Abläufe und die richtigen Ansprechpartner nach eigener Aussage eine Herausforderung dar: Arbeiter G4: »Überhaupt viel Arbeit, die wir nicht machen können […]. Schreibarbeit zum Beispiel. […] [D]ie deutsche Schrift ist viel zu schwer. Damit komme ich nicht klar. […] [W]o habt ihr die Teile bestellt und so Sachen. […] Lieber einer dem bekannt sein, der sich schon längst [auskennt], wie ein Meister oder Vorarbeiter oder so etwas.«49
Daher äußerte die Mehrheit der Gruppen nach Beginn der Gruppenarbeit rasch wieder den Wunsch, einen Vorgesetzten zu haben, der sie hierbei unterstützte, obwohl im Projekt zunächst keine Meisterstellen geplant waren. Sie sollten nur als Berater in der Anlernphase agieren und die ihre Aufgabenbereiche an die gewählten Gruppensprecher und die Gruppen übergeben.50 Am Anfang des Projektes wollten zunächst alle vier Gruppen auf einen ständigen Vorgesetzten verzichten, doch trotz des Lernzuwachses der Arbeiter waren die Gruppen 1, 2 und 4 schnell mit den umfassenden Aufgaben jenseits des Motorbaus überfordert. Sie wünschten sich langfristig nun doch einen Vorarbeiter oder Meister, da sie dessen Aufgaben- und Verantwortungsbereich nicht übernehmen wollten und konnten. Die Gruppen gaben auch zu, sich am Anfang der Gruppenarbeit gegen einen
rat oder Betriebsleitung vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1980; Müller: Humanisierung, 2016, S. 267-271. 48 Vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1980, S. 26. 49 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G2 und G4 25.03.1976 I ab 1:54 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 50 Vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1980, S. 29.
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Vorgesetzten ausgesprochen zu haben, in völliger Unkenntnis darüber, was die Aufgaben eines Meister überhaupt waren: Gruppensprecher G1: »Die Schulung, die die Meister alle mitgemacht haben […] das haben die in jahrelanger Erfahrung haben die das sich angesammelt und angeeignet, jetzt sollen wir innerhalb von kurzer Zeit mitkriegen das ist überhaupt nicht möglich. […] Deswegen ist es auch … irgendwie ein bisschen will nicht sagen hirnverbrannt, aber wahrscheinlich eine voreilige Entscheidung in der ersten Zeit von uns, dass wir gesagt haben ohne Meister ohne Vorarbeiter, wir können das alles alleine. Da wussten wir ja noch gar nicht, was für Tätigkeiten überhaupt alles noch dranhängen.«51
Die Gruppen fühlten sich mit den vielfältigen neu zu lernenden Aufgaben überfordert und erkannten daher die langjährige Erfahrung ihrer Vorgesetzten an. Dies stärkte die vorherrschenden betrieblichen Qualifikationshierarchien. Die Überforderung zeigte sich auch an anderer Stelle. Ein Arbeiter aus Gruppe 4 lernte wesentlich weniger und langsamer als alle anderen Gruppenmitglieder. Die Gruppe war der Auffassung, dass besagter Arbeiter A. von jedem, auch den Meistern, beim Anlernen unterstützt werde und es einfach nicht fruchtete. Sie meinte, dass sie so einen Mann in der Gruppenarbeit nicht halten konnte, da er seine Arbeit alleine nicht gewissenhaft verrichte. Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler schalteten sich in die Diskussion ein und setzten sich für Arbeiter A. ein: »Ich finde es verblüffend […] dass sie hier so schnell bereit sind … von jemandem anzunehmen, dass er das sowieso nicht lernt oder dass […] das zu lange geht.«52 Die Gruppe demotiviere Arbeiter A. und das sei ein völlig falscher Lernansatz. Der Wissenschaftler wollte erst intensiv mit Arbeiter A. arbeiten, bevor die Gruppe ihn aufgab. Es gehe hier durchaus um »Solidarität«.53 Hieran zeigt sich eine unterschiedliche Auffassung von Qualifizierung zwischen Gruppenarbeitern und den beteiligten Wissenschaftlern. Die beteiligten Arbeiter sollten nach Auffassung der Wissenschaftler möglichst alle zur Höchstform qualifiziert werden, solidarisch sein und nicht nur den Leistungsvorgaben des Betriebes folgen, wohingegen die Gruppe die Erreichung der geforderten Stückzahlen priorisierte, um
51 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ Gruppengespräche G1 und G2 am 05./06.05.1976 II ab 45:17 Min. und ab 48:35 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 52 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G2, G4, G1 und G3 21./22.04.1976 I ab 46:53 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 53 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G2, G4, G1 und G3 21./22.04.1976 I ab 49:43 Min., Universitätsarchiv Heidelberg.
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die Gruppenarbeit rentabel zu machen und damit einhergehend ein Weiterbestehen der Arbeitsstrukturen zu erreichen. Die Gruppenarbeit musste sich nämlich im HdA-Projekt als kosteneffizient im Vergleich zum Band erweisen.54 Daher wollten die Gruppenarbeiter die von der Unternehmensleitung geforderte Stückzahl und Qualität produzieren. Daher zeichnete sich ein Konflikt zwischen den Wissenschaftlern mit ihrem sozialreformerischen Ansatz und den Arbeitern im Betrieb ab, die korrekte Arbeit leisten wollten. Dieser Konflikt zwischen Theorie und Praxis entstand in zahlreichen HdA-Gestaltungsprojekten.55 Es stellte sich eine Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Forschungsanspruch und der betrieblichen Projektanpassung heraus, die in den Projekten immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Akteuren führte. Es ging also um wesentlich mehr als die Montage von Motoren in der Gruppenarbeit. Vielmehr spielten unterschiedliche Vorstellungen eines Arbeiters und generelle Unterschiede des möglich »Erlernbaren« im Betrieb und in der Wissenschaft eine wichtige Rolle. Obwohl Arbeiter A. letztlich lediglich als Ersatzmann der Gruppe diente, sorgte sein Verhalten auch bei den anderen Gruppen für Unmut. Die Sonderförderung von Arbeiter A. sei eine »ganz große Schweinerei.« »Der hats gar nicht kapiert und das Institut unterstützt den Mann noch. Man muss auch von da aus gehen, die Gruppen sollen Leistung bringen, wenn ich da einen beihabe, den kann ich vielleicht 3 Wochen, 4 Wochen durchziehen, aber dann ist Feierabend…«56 Hieran bestätigt sich, dass die Arbeiter ein völlig anderes Leistungsverständnis hatten als die beteiligten Wissenschaftler. So würden die Arbeiter »ungeeignete« Arbeiter, die massive Schwierigkeiten beim Anlernen zeigten, durch andere ersetzen, wie bei VW üblich. Auch die Unternehmensleitung tauschte Bandarbeiter aus, wenn sie eine Aufgabe nicht vollständig erfüllen konnten. Für alle galt das Leistungsprinzip. Bei den Wissenschaftlern hingegen war zunächst die Maxime maßgeblich, dass alle Arbeiter alles konnten, wenn sie nur ausreichend Zeit und die passende Förderung erhielten, es zu lernen. Daran zeigt sich eine neue Wertvorstellung von Arbeit, die nicht nur den Zweck der Existenzsicherung beinhaltete, sondern zeitgleich geistig erfüllend sein sollte. Diese Annahme lässt sich in den 1960er- und 1970er-Jahren in den aufkommenden Konzepten des Human Resource Management wiederfinden.57 Durch diese Unternehmensfüh-
54 Vgl. Granel: Gruppenarbeit, 1980, S. 19. 55 Vgl. Fricke: Qualifikation, 1981, S. 112-115. 56 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G3 und G2 24.06.1976 II ab 42:02 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 57 Vgl. Donauer: Faktor Freude, 2015, S. 58f., 76f.
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rung sollten die Mitarbeiter zu einer höheren Motivation, zum Hinauswachsen über die eigenen Grenzen in Bezug auf das »lebenslange Lernen« und zur eigenen Selbstoptimierung angehalten werden.58 Im Projekt stellten sich jedoch auch der Erwerb und die Anwendung vieler neuer Qualifikationen durch die Arbeiter heraus. So lernten die Arbeiter im Projektausschuss, ihre Meinung auch gegenüber Vorgesetzten zu vertreten und Kritik an den Vorschlägen der Planung zu äußern. Darüber hinaus artikulierten sie selbstbewusst ihre Wünsche und Vorstellungen zu ihren Arbeitsbedingungen und zur Arbeitsorganisation. Die Arbeiter wussten nun, wie sie sich in den Betriebshierarchien zu bewegen hatten und wer die zuständigen Ansprechpartner waren. Daher äußerten die Arbeiter etwa Kritik am Anlernprogramm und forderten eine umfassendere, genauere Fehlererklärung sowie rechtzeitiges Vorhandensein des benötigten Lernmaterials: Arbeiter G4: »Der Anfang war schlecht […] Videorekorder kam zu spät […]. Wir haben selber angefangen zu mauscheln und jetzt kommt das da, wir sollen nach Möglichkeit so wie es uns vorgeführt wird mit dem Videorekorder, aber wir haben uns einen anderen Arbeitsrhythmus angewöhnt. […] Wir bleiben jetzt bei unseren Methoden […]. Das kam zu spät.«59
Ansonsten, wie an dem Zitat zu sehen ist, eigneten sich die Arbeiter eigenständig Handgriffe an und zeigten damit Handlungskompetenz. Darüber hinaus übten die Gruppenarbeiter Mitsprache bei ihren Lernzielen respektive ihren Lerninhalten aus. So wehrten sie sich besonders gegen die Anforderung der Wissenschaftler, Themen und Ergebnisse der Gruppengespräche zu protokollieren. Oft war es schwierig und zeitaufwendig, in den Sitzungen überhaupt einen Protokollanten zu finden, da sich kein Arbeiter bereit erklärte, diese Aufgabe zu übernehmen. In allen Gruppen weigerten sich die Arbeiter das Protokoll zu führen, insbesondere nach fortschreitendem Verlauf des Projektes. Immer wieder lehnten sich die Gruppen gegen das Protokollschreiben auf und gingen in Konfrontation mit den Wissenschaftlern: Arbeiter G3: »[…] Ich finde das hier eine richtige Idiotenschule. Der eine wirft dem das vor, der andere dem das […]. Hier läuft alles durcheinander (schreit). Der reinste Kindergarten oder Zirkus.«
58 Vgl. ebd., S. 20. 59 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G2, G4, G1 und G3 21./22.04.1976 I ab 01:30 Min., Universitätsarchiv Heidelberg.
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Arbeiter II G3: »Und so n Kindergarten soll ich jetzt notieren und…vielleicht noch irgendwo hinhängen.«60
Die Arbeiter wollten demnach mitbestimmen, welche Qualifikationen sie erlernten und welche nicht. Allerdings argumentieren die Wissenschaftler bei jeder aufkeimenden Kritik gegen die Verweigerung der Arbeiter: »Da trainiert man eine Fähigkeit, die hat man überhaupt nicht als Arbeiter […] ist nicht mit das der Grund, dass es eben heißt, der Arbeiter […] Vieles kann er sowieso nicht erreichen. Da braucht er irgendjemand, ders für ihn macht. […] Weil er eben nie die Möglichkeit erhält, so etwas selber zu lernen und es dann auch selber zu machen [...]. Die anderen sie sind oft überhaupt nicht besser oder schlauer, die haben nur gerade das gelernt, sich geschickt ausdrücken. […] Ein Arbeiter ist nämlich dafür nicht zu blöd, der hat bloß die Übung nicht«.61
Für die Arbeiter hatte das Protokollschreiben im Gegensatz zu den Wissenschaftlern keine Priorität. Vielmehr beschäftigten sie Themen wie Arbeitsaufgaben und Arbeitsbelastung in der Gruppenarbeit. Dem entgegen konstruierten die Wissenschaftler eine Art Klassenkampf und übertrugen ihr Menschenbild eines Arbeiters auf die betriebliche Umsetzung des Gruppenarbeitsprojektes. In der Aussage des Wissenschaftlers schwingt die Bemühung mit, den Arbeiter auf Augenhöhe mit den höheren Angestellten zu bringen. Für ihn existierten Lerngrenzen anscheinend nicht. Jeder Arbeiter könne sich ebenso wie seine Vorgesetzten artikulieren, wenn er gewillt sei, es zu lernen. Dafür waren die Wissenschaftler sogar bereit die Arbeiter zu disziplinieren. Die Arbeiter hingegen traten in Konflikt mit den Wissenschaftlern und äußerten selbstbewusst ihre Unlust und ihre Kritik an der Projektplanung und der Übernahme von Aufgaben, wie am Beispiel der Protokollierung gezeigt werden konnte. Sie empfanden diese als einen unnötigen Arbeitsinhalt und legten ihren Fokus auf andere Qualifikationen. Besonderes Interesse zeigten die Gruppenarbeiter an praktischen Arbeitsinhalten, wie der kompletten Montage eines Motors und den Kenntnissen über die einzelnen Teile und deren Funktion, da sie diese Arbeitsschritte am Band nicht ausführen durften und ihnen das Wissen über das komplette Produkt bisher fehlte. Daher bewiesen sie großen Lernwillen und äußerten sich positiv über ihre
60 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G1 und G3 23.09.1976 II ab 27:56 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 61 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G1 und G4 28.10.1976 II ab 04:22 Min., Universitätsarchiv Heidelberg.
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Lernerfahrungen.62 Folglich begrüßten die Arbeiter eine Qualifizierung, die unmittelbar mit ihrer Tätigkeit in der Produktion zusammenhing und nahmen daher die Lernanforderungen des Projektes als für sie gewinnbringend wahr. Außerdem arbeiteten sie nach ihren Aussagen in der Gruppenarbeit aufmerksamer, da sie nun die Eigenverantwortung für einen Motor trugen und hierbei viel mehr lernten als am Band. Dies führte zu einer stärkeren Identifikation mit ihrer Arbeit und damit einhergehend zur Übernahme von Verantwortung für das eigenständig hergestellte Produkt: Arbeiter G2: »Ich arbeite auch mit mehr Lust, […] weil mehr lerne und mach mehr perfekt, weil ich weiß dein Nummer ist das von Motor und falsches ist, ist dann meine Schuld, am Band ist sowieso Nachreparatur […].«63 Letztlich zeigt sich, dass die Arbeiter einerseits mit bestimmten Aufgaben, wie der Verwaltungsarbeit oder Personalverantwortung, überfordert waren und diese Tätigkeitsbereiche freiwillig abgaben. Dies bedeutet allerdings auch, dass sie ihre eigenen Lerngrenzen abschätzen konnten. Andererseits erwarben sie zahlreiche Qualifikationen vom Bau eines kompletten Motors bis hin zum Sprechen vor Vorgesetzten, die sie selbst als sinnvoll bewerteten und als für sich gewinnbringend wahrnahmen.
FAZIT Die Analyse von Qualifikation und Qualifizierungsprozessen in den HdAProjekten ergab, dass Qualifizierung für ungelernte Arbeiter eine Hürde darstellen konnte, wenn die Qualifikationsanforderungen des Unternehmens aufgrund der Einführung neuer Produktionstechnologien stiegen. Einerseits verzichteten zahlreiche Arbeiter freiwillig auf eine Qualifizierung, etwa aus Angst oder Unlust zu lernen. Andererseits erschwerten ihnen betriebliche Hürden, wie die von den Vorgesetzten angenommene begrenzte Lernfähigkeit angelernter Arbeiter ihren Aufstieg. Im Gruppenarbeitsprojekt führten die umfassenden Qualifikationsanforderungen zu einer Überforderung der Arbeiter insbesondere in Themengebieten, die bisher außerhalb ihres Kompetenzbereiches lagen, wie z.B. Verwaltungsarbeit oder Personalverantwortung. Während die Gruppenarbeiter sich diesen Qualifikationen verweigerten, erlernten sie motiviert praxisnahe Kennt-
62 Vgl. Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ G2, G4, G1 und G3 21./22.04.1976 I ab 03:25 Min., Universitätsarchiv Heidelberg. 63 Projekt Gruppenarbeit bei VW Digitalisat VW-SZ Gruppengespräche G1 und G2 am 05./06.05.1976 I ab 01:20:48 Min., Universitätsarchiv Heidelberg.
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nisse, etwa die komplette Montage eines Motors oder die Funktion der einzelnen Bauteile. Hier wirkte sich der bestehende Qualifikationsdruck positiv aus. Die Einführung neuer Produktionstechnologien und neuer Arbeitsorganisation führten in beiden Projekten zu einer Schichtung der Arbeiter anhand ihrer Qualifikation und ihrer Leistungsstärke. Es offenbarten sich unter den Arbeitern innerhalb der Produktion mehrere Binnendifferenzierungen, die sich an der Qualifikation orientieren: Zwischen angelernten Arbeitern und Facharbeitern, zwischen Männern, Frauen sowie Migranten und nicht zuletzt zwischen Facharbeitern und Spezialisten der neuen Industrieroboter-Technologien. Die Qualifikation eines Arbeiters entschied also über einen möglichen Aufstieg in der Produktion oder den Verbleib in einfachen Tätigkeiten. Darüber hinaus blieben die Qualifikationshierarchien im Unternehmen sowohl im Gruppenarbeitsprojekt als auch im Industrieroboterprojekt bestehen und wurden sogar von den Arbeitern durch den freiwilligen Verzicht auf Weiterbildung oder Übernahme von Aufgaben bestärkt. Ebenso offenbart sich, dass die Arbeiter in beiden Projekten Handlungsmöglichkeiten besaßen. So konnten sie sich einerseits einer Qualifizierung entziehen, wenn sie diese verweigerten und deren Nutzen für sie selbst anzweifelten. Anderseits bestimmten sie etwa im Gruppenarbeitsprojekt über ihre Arbeitsinhalte und Lernziele mit. Darüber hinaus agierten die Arbeiter nicht immer solidarisch miteinander, sondern trafen durchaus wirtschaftlich rationale Entscheidungen basierend auf dem Leistungsprinzip. Letztlich zeigte sich, dass sowohl auf politischer Seite im Zuge der Bildungsreform als auch auf betrieblicher Seite ein Wandel im Qualifizierungsprozess von Arbeitern ab den 1960er-Jahren angestoßen wurde. Das Ziel war, diese durch das Erlernen umfassender Tätigkeiten flexibler in der Produktion einsetzen zu können und sie damit an die Produktionsumstellungen anzupassen.64
LITERATUR Andresen, Knud: Strukturbruch in der Berufsausbildung? Wandlungen des Berufseinstiegs von Jugendlichen zwischen den 1960er- und den 1980er Jahren, in: Ders. u.a. (Hg.): »Nach dem Strukturbruch«? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011, S. 159-180.
64 Vgl. von Friedeburg: Bildungsreform, 1989, S. 403-404, 429-433; Andresen: Strukturbruch, 2011, S. 161-170.
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Die IG Metall im Diskurs um die Humanisierung des Arbeitslebens Moritz Müller
AKTIVE IDEOLOGIETRÄGER Einem Bonmot von Terry Eagleton zufolge verhält es sich in politischen Auseinandersetzungen in der Regel so, dass sich kein Akteur selbst als ideologisch bezeichnet. Ganz unabhängig davon, ob der Vorwurf nicht vielleicht doch zutreffen mag, weist man den Ideologievorwurf zumeist weit von sich, wirft dem Gegner jedoch ebendies vor. Damit ist Ideologie laut Eagleton »wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben«, nie jedoch man selbst.1 Vielleicht ist das ein Grund dafür, weshalb es um das Geschichtsbewusstsein der im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften, zumindest was die letzten Jahrzehnte anbelangt, nicht zum Besten steht. Schließlich fürchten sich diese laut Jörg Neuheiser davor, ihre Organisationen »in unproduktive Neuauflagen vergangener interner Auseinandersetzungen zu verstricken«.2 Fernab einer Betrachtung, die Ideologie rein pejorativ auffasst, bezeichnet der Soziologe Klaus Dörre Gewerkschaftsfunktionäre als »aktive Ideologieträger«, die nicht nur – wie jede/r – selbst ideologisch geprägt sind, sondern bestimmte »Integrationsideologien« produzieren und verbreiten.3 Dörre entlehnt diese Bestimmung einem Text von Richard Hyman, in dem dieser Ideologie als strategischen Filter und »politische Machtquelle« bezeichnet. Ideologie wird hier nicht als »Gegenstück zu etwas Realem«, sondern als »eine von vielen anderen
1
Eagleton: Ideologie, 2000, S. 8. Für hilfreiche Kommentare danke ich Jan Kellers-
2
Neuheiser: Geschichte, 2016, S. 19.
3
Dörre: Gewerkschaftseliten, 2006, S. 19.
hohn.
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und konkurrierenden Orientierungen hin zur Realität« verstanden.4 In dem Begriff drückt sich also keine politische Wertung aus, sondern bezeichnet etwas, das alle Personen aufweisen. Gewerkschaftsfunktionäre zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie solche Ideologien qua Amt stärker als andere Akteure zu verbreiten suchen. Diesem Ansatz folgend untersucht der vorliegende Aufsatz die Frage, welches Konzept von Humanisierung die IG Metall (IGM) im Zuge der allgemeinen Debatte um die Humanisierung der Arbeit sowie des Humanisierung-desArbeitslebens-Programms (HdA) im Besonderen während der 1970er- und 1980er-Jahre entwickelte und wie sie sich diesbezüglich von den Konzepten anderer arbeitspolitischer Akteure, namentlich der Vertreter von Staat und Kapital, abgrenzte. Als Untersuchungsgegenstand fungieren die bereits genannten aktiven Ideologieträger, da die »programmatische Zielfindung« in Großorganisationen wie den Gewerkschaften – neben den Betriebsräten auf betrieblicher Ebene – vorrangig Sache der Spitzenfunktionäre und der oft akademisch ausgebildeten Sekretäre ist.5 Die Fragestellung wiederum bietet sich an, da gewerkschaftliches Handeln im vermachteten Feld der industriellen Beziehungen stattfindet, wo diese nicht nach Gutdünken agieren können, sondern ihre Praxis an den (vermuteten) Interessen und Handlungen der anderen Akteure ausrichten. Dies führt dazu, dass sie immer auch die Interessen der staatlichen Akteure sowie der Kapitalvertreter in ihre Strategien inkorporieren.6 Insofern sind Gewerkschaften Intermediäre, die zwar als Interessenvertretung ihrer Klientel fungieren, diese Interessen zugleich jedoch immer auch mit den »staatlich regulierten, rechtlich institutionalisierten und bürokratisch vermachteten […] Imperativen der Systemstabilisierung« vermitteln.7 Der Humanisierungsdiskurs der IGM wird im Folgenden besonders in seinem Bezug auf das Handeln der staatlichen Akteure sowie das der Kapitalvertreter hin untersucht, da diese – neben den beteiligten Personen und Institutionen aus der Wissenschaft – auch die Geschichte und den Verlauf des HdA-Programms durch ihr spezifisches Verhältnis von Kooperation und Konflikt entscheidend prägten.8 Die IGM bietet sich insbesondere deshalb an, da sie innerhalb des DGB mit dem 1973 in Nordwürttemberg/Nordbaden erkämpften Lohnrahmentarifvertrag II als Eisbrecher in der qualitativen Tarifpolitik galt. Darin wurden erstmals umfassende Regelungen über Leistungsanforderungen,
4
Hyman: Geometrie, 1996, S. 6.
5
von Beyme: Gewerkschaftliche Politik, 1990, S. 360.
6
Vgl. Haipeter: Interessenvertretungen, 2011, S. 9.
7
Deppe: Integration, 1989, S. 628.
8
Vgl. Müller: Humanisierung, 2016, S. 275 sowie Pöhler: Beteiligung, 1982, S. 15.
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Arbeitsbedingungen sowie Prinzipien der Arbeitsgestaltung festgehalten.9 Außerdem verfügte die IGM mit ihrer Automationsabteilung lange Zeit als einzige DGB-Gewerkschaft über eine eigene Stabsabteilung, die sich explizit mit dem Themenkomplex HdA befasste, dieses Kürzel zeitweilig sogar im Namen trug sowie eigene im Rahmen von HdA geförderte Projekte leitete.10 Um die Fragestellung zu beantworten, gliedert sich der Beitrag wie folgt: Im ersten Kapitel wird dargestellt, wie unterschiedlich das HdA-Programm und seine Entwicklung innerhalb der IGM rezipiert wurden. Dabei wird auch danach gefragt, welchen Begriff von Humanisierung bzw. menschengerechter Arbeit die IGM selbst entwickelte. In den darauffolgenden Kapiteln wird dann untersucht, welche Motive für die Beteiligung am HdA-Programm und welche Humanisierungskonzepte und -motive die IGM den Vertretern des Staats sowie der Kapitalseite unterstellte.
DIE REZEPTION DES HDA-PROGRAMMS INNERHALB DER IG METALL Obgleich die Gewerkschaften im Laufe des HdA-Programms in einem »für staatliche Technologiepolitik sonst unüblichen Maß beteiligt« waren,11 hatten sie kaum Einfluss auf die Konzeption des HdA-Programms. Folglich wurde innerhalb der IGM moniert, es habe »lediglich Kontakte zwischen Ministerialbeamten und Einzelpersonen« aus den Gewerkschaften gegeben. Zwar erfolgte ab 1976 eine systematische Beteiligung, zu diesem Zeitpunkt waren allerdings bereits Projekte mit einer Gesamtsumme von etwa 120 Millionen Mark gefördert worden, die – so die Kritik – eher »dem Typ traditioneller unternehmerorientierter Technologiepolitik als den weitergehenden Zielen und Anforderungen des Humanisierungsprogrammes« entsprochen hätten.12
9
Vgl. Bergmann: Septemberstreiks, 1979, S. 15; Müller-Jentsch: Gewerkschaftliche Politik, 1990, S. 402f.
10 Die Geschichte der Automationsabteilung ist noch nicht geschrieben, ebenso wenig wurden die von der IGM geleiteten HdA-Projekte historisch untersucht. Beides ist Gegenstand einer Dissertation, die der Autor zurzeit am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum anfertigt. Vgl. Voigt: Transformationen, 2018, S. 697f. 11 Pöhler: Beteiligung, 1982, S. 17. 12 Alle Zitate aus Anonym: Ansatz, 1983, S. 21. Vgl. zur Entstehung des HdAProgramms den Beitrag von Stefan Müller in diesem Band.
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Trotz dieser Kritik an der mangelnden Beteiligung begrüßte die IGM den Start des HdA-Programms. Hans Mayr, der damalige Zweite Vorsitzende und Experte für Tarifpolitik, warnte die Gewerkschaften jedoch davor, sich der Illusion hinzugeben, eine Humanisierung der Arbeitswelt könne allein durch staatliche Gesetze und Förderprogramme vorangetrieben werden. Für das »geeignetste« Mittel zur Humanisierung der Arbeit hielt Mayr – womöglich den Lohnrahmentarifvertrag II vor Augen – den Flächentarifvertrag.13 Auch das geschäftsführende Vorstandsmitglied Georg Benz wurde in einem Artikel der IGMFunktionärszeitschrift Der Gewerkschafter mit den Worten zitiert, das beste Mittel der Gewerkschaften zur Humanisierung bestehe darin, »die Mitwirkungsrechte bei der Gestaltung menschengerechter Arbeit extensiv auszuschöpfen«. Durch Tarifverträge sei es möglich, »Mindestarbeitsinhalte, Mindesterholzeiten und die Mitwirkung bei der Gestaltung von technischen Anlagen, Arbeitsverfahren und Arbeitsplätzen« festzulegen.14 Die Gewerkschaften sollten sich also, so proklamierten die Funktionäre, nicht auf staatliche Anstrengungen verlassen, sondern mittels ihrer eigenen Instrumente zur Humanisierung der Arbeit beitragen. Schließlich hatten diese mit dem Lohnrahmentarifvertrag II bereits einen Humanisierungserfolg gelandet, bevor das HdA-Programm startete. Folglich beanspruchte die IGM, wie im Folgenden dargestellt wird, der eigentliche Treiber in Richtung einer menschengerechteren Arbeitswelt zu sein. Das HdA-Programm wurde hingegen als eine mögliche Konkurrenz aufgefasst; zumindest fürchteten die Funktionäre, die Gewerkschaftsklientel könne eine Politik der Arbeitsgestaltung durch Tarifverträge angesichts des staatlichen Programms für nunmehr überflüssig halten. Für die IGM bedeutete Humanisierung mehr als ein staatliches Aktions- und Forschungsprogramm. Exklusiv reklamierte der Zweite Vorsitzende Hans Mayr für die Gewerkschaften, diese betrieben Humanisierung nicht bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck und betrachteten diese als Ergebnis der »Erkenntnis, dass erst die Chance der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung im unmittelbaren Erfahrungsbereich jene schöpferische Initiative des arbeitenden Menschen freisetzt, die ihn seine objektiven Interessen erkennen lässt und seine subjektive Bereitschaft zur kollektiven Gegenwehr festigt«.15
13 Mayr: Erste Schritte, 1974, S. 2. 14 Alle Zitate aus Anonym: Humane Arbeitsbedingungen, 1977, S. 25. 15 Mayr: Humanisierung, 1977, S. 43f.
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Darüber hinaus beanspruchte Mayr, dass die Gewerkschaften seit Beginn ihres Bestehens bereits eine Politik der Humanisierung avant la lettre betreiben würden, während Initiativen wie HdA zwar begrüßenswert seien, jedoch nicht auf Augenhöhe mit den gewerkschaftlichen Anstrengungen rangierten. Mayr wollte keinen Zweifel daran lassen, »dass der Mensch auch im Konflikt zwischen ökonomischen und sozialen Interessen«, wie sie im HdA-Programm zutage traten, »Vorrang haben muss«. Mit dieser Positionierung hoffte Mayr »die Brücke […] zwischen dem tarifpolitischen Postulat einer Humanisierung der Arbeitsbedingungen und dem gewerkschaftlichen Postulat einer Demokratisierung des Arbeitslebens« zu schlagen. Ungeachtet der Bereitschaft zur Unterstützung des HdA-Programms reklamierte Mayr, dass man bei allen Handlungen im Bereich HdA »von dem ungebrochenen Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der individuellen Verfügungsgewalt der Produktionsmittel« auszugehen habe. Die IGM wollte sich laut Mayr jedenfalls nicht mit der Tatsache abfinden, »dass Entscheidungen über Beschäftigung und Preise, über Investitionen und Unternehmen vorrangig nach Kriterien des privaten Gewinns getroffen werden«.16 Angesichts des Umstands, dass die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Gewerkschaften und Betriebsräte gesetzlich stark eingeschränkt waren und sich die IGM nicht imstande sah, im HdA-Programm auf Augenhöhe mit den Unternehmern über die Gestaltung der Arbeit zu verhandeln, nahm Mayr das HdAProgramm zum Anlass, die Durchsetzung der paritätischen Mitbestimmung auf überbetrieblicher Ebene zu fordern. Sollte es den Gewerkschaften nicht gelingen, Einfluss »auf Arbeitsabläufe wie auf Investitions- und Produktionsentscheidungen« zu nehmen, würden die Gewerkschaften Gefahr laufen, dass ihre »Humanisierungsstrategie mit technokratischen Mitteln und Methoden durchkreuzt wird«. Aufgrund der dualen Struktur der Interessenvertretung, die den Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene nur geringe Handlungsmöglichkeiten einräumt, sah Mayr in den Betrieben die Betriebsräte als die zentralen Akteure der Humanisierung. Die starke Beteiligung der betrieblichen Interessenvertreter im Rahmen von HdA sei »eine schwierige, aber auch dankbare Aufgabe«. Schließlich war die Vergabe von Projektmitteln an die Zustimmung der Betriebsräte zum Projektantrag geknüpft. Die Rolle der Betriebsräte betonte er mit dem Hinweis darauf, dass auch die »besten Tarifverträge und Gesetzte« nichts nützen würden, »wenn sie in den Betrieben nicht wirksam umgesetzt werden«.17
16 Alle Zitate aus Mayr: Humanisierung, 1977, S. 43. 17 Alle Zitate aus Mayr: Erste Schritte, 1974, S. 3.
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Schwierig war die Lage der Betriebsräte aus Sicht des für die Themen Automation und Technologie zuständigen geschäftsführenden Vorstandsmitglieds Karl-Heinz Janzen unter anderem deshalb, da diese aufgrund ihrer Unerfahrenheit mit Gestaltungsthemen große Probleme damit hätten, sich auf die neuen Aufgaben einzustellen. Dies habe zur Folge, dass sich »in der Regel […] nur ein oder zwei Mitglieder eines Betriebsrates wirklich um ein Projekt kümmern« könnten, während ihnen »ganze Stabsabteilungen der Unternehmen und sehr oft auch die wissenschaftlichen Institute der Begleitforschung« gegenüberstünden.18 Die Angst vor der Durchkreuzung der gewerkschaftlichen Strategien schien also nicht unbegründet. Janzen empörte sich, dass »die Arbeitnehmer und ihre Vertreter ständig mit lechzender Zunge hinter den Initiativen der Unternehmer herlaufen und diesen weitgehend machtlos ausgesetzt sind«. Ein Grund dafür war, dass die IGM nicht über annähernd so viel Personal verfügte wie ihre Gegenspieler.19 Anhand der bisherigen Schilderungen und der in gewerkschaftlichen Publikationen häufig anzufindenden Losung, dass eine »menschengerechtere Arbeitswelt« nur durch die »Arbeitende[n] selbst« erkämpft werden könne,20 wird deutlich, dass die Funktionäre das staatliche HdA-Programm eher als Begleitmaßnahme zu ihrer eigentlichen, tarifpolitischen Humanisierungsarbeit betrachteten. Überhaupt nahm die IGM für sich in Anspruch, Urheberin der Humanisierung der Arbeit zu sein. So konstatierte der Vorsitzende Eugen Loderer, in der Öffentlichkeit herrsche »vielfach der Eindruck vor, dass die gewerkschaftliche Forderung nach Humanisierung der Arbeitswelt eine relativ neue Forderung sei«. Dem entgegnete er, dass dies lediglich ein neuer Name für eine etablierte Politik sei. Schließlich seien die Gewerkschaften nie »eine reine Lohnmaschine« gewesen. Immer sei es ihnen auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gegangen. Als Erfolge führte er das Verbot von Kinder- und Sonntagsarbeit, den 8-Stunden-Tag und spezielle Schutzrechte für arbeitende Frauen an.21 Damit argumentierte Loderer quasi, dass die Gewerkschaften zwar nicht den Begriff der Humanisierung, jedoch das Prinzip der Humanisierung erfunden hätten. Zugleich hob der Vorsitzende der IGM hervor, dass eine Humanisierung der Arbeit
18 Aktenvermerk Karl-Heinz Janzen an Georg Benz, Hans Janßen und Hans Preiss am 16.02.1978, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (im Folgenden: AdsD), 5/IGMA240147, S. 2. 19 Aktenvermerk Karl-Heinz Janzen an Georg Benz, Hans Janßen und Hans Preiss am 16.02.1978, AdsD, 5/IGMA240147, S. 4. 20 Brunner: Arbeitswelt, 1974, S. 6. 21 Alle Zitate aus Loderer: Eröffnungsansprache, 1977, S. 9f.
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nur dann möglich sei, wenn die Beschäftigten und ihre Vertretungen über ausreichend handfeste Machtmittel und Einfluss verfügen. Folglich forderte er einen Ausbau der Mitbestimmung, ohne die eine Humanisierung der Arbeit »auf Dauer nicht durchzusetzen und zu erreichen« sei.22 Eine solche Demokratisierung der Arbeitswelt wurde als notwendig erachtet, da das Humanisierungskonzept der IGM, wie auf den folgenden Seiten gezeigt wird, über das Konzept des staatlichen HdA-Programms hinausging. Für die größte deutsche Gewerkschaft war Humanisierung also nicht gleich Humanisierung. Verstärkt wurde diese Haltung der IGM, die sich auch deshalb als Pionier der Humanisierung verstand, da sie diese nicht bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck verfolge, vor dem Hintergrund folgender Entwicklung: Noch unter der sozial-liberalen Koalition kühlte sich das Verhältnis zwischen der IGM und der Regierung merklich ab. Ein Auslöser dafür war, dass mit Volker Hauff ein Minister im BMFT zum Nachfolger von Matthöfer wurde, der den Gewerkschaften deutlich distanzierter gegenüberstand als der ehemalige Abteilungsleiter der IGM. Allgemein führte das Abflauen der Reformpolitik dazu, dass sich die IGM stärker auf ihre eigene Kraft besann und Ende der 1970er-Jahre einige Tarifauseinandersetzungen zur Humanisierung der Arbeit führte. Dabei gelang es ihr jedoch nicht, die errungenen Erfolge über einen Tarifbezirk hinaus auszuweiten.23 Insofern blieben die Tarifverträge im Bezirk Nordwürttemberg/Nordbaden Erfolge, an die in den Jahren und Jahrzehnten »nach dem Boom« nicht angeknüpft werden konnte.24 Allerdings änderte dies nichts daran, dass die Beteiligung der IGM am HdA-Programm – zumindest dem gewerkschaftlichen Selbstanspruch nach – bloß als ein Element der allgemeinen Humanisierungspolitik der IGM betrachtet wurde. Noch Mitte und Ende der 1970er-Jahre lieferten die beiden Tarifexperten Hans Mayr und Reimar Birkwald in verschiedenen Texten jedenfalls eine wortgleiche Definition darüber, was sie sich unter Humanisierung bzw. humaner Arbeit vorstellten. Arbeit sei dann »menschengerecht«, wenn »möglichst viele Zwänge durch möglichst viele Eigenentscheidungen ersetzt werden«. Programmatisch wurde festgestellt: »Ziel einer menschengerechten Arbeitsgestaltung der
22 Loderer: Montanmitbestimmung, 1982, S. 616. 23 Vgl. Thelen: Union, 1991, S. 190-192. 24 Vgl. Ahlheim: Betrieb, 2015, S. 218. Zur Diskussion der Umbruchphase der 1970erJahre als Zäsur für die Geschichte der Bundesrepublik (und darüber hinaus) vgl. Doering-Manteuffel/Raphael: Boom, 2012.
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Arbeitsorganisation ist der Abbau jeglichen verzichtbaren Zwangs«.25 Birkwald fügte noch hinzu, das allgemeine Ziel gewerkschaftlicher Humanisierungspolitik bestehe in der Etablierung einer »demokratischen Betriebsstruktur«.26 Damit bezog sich das Humanisierungskonzept der IGM nicht nur und nicht vorrangig auf die Reduzierung von psychischen und physischen Belastungen in der Arbeitswelt, sondern forderte überhaupt die Reduzierung von Zwangsverhältnissen. Als solche wurden auch die betrieblichen Befehlsstrukturen aufgefasst und kritisiert.27 Einer der Leidtragenden des Umstands, dass die IGM im Zuge der 1970erJahre kaum dazu kam, eine vom HdA-Programm losgelöste, genuin gewerkschaftlich ausgerichtete Humanisierungspolitik zu betreiben, war Günter Friedrichs. Friedrichs leitete die Automationsabteilung beim IGM-Vorstand und war, wie die wenigen anderen Sekretäre seiner Abteilung, im Zuge der 1970er-Jahre immer mehr damit befasst, das HdA-Programm für die IGM zu betreuen.28 In einem Schreiben an Loderer, Mayr und Janzen monierte Friedrichs, dass es der personell dünn besetzten Abteilung zunehmend schwer falle, den ca. 200 zu betreuenden HdA-Projekten »auf der Spur zu bleiben«. Dabei sei die Kapitalseite den Vertretern der Arbeitenden allein schon deshalb überlegen, »weil sie rein quantitativ über mehr Personal verfügt«. Die Stärke der IGM sei es hingegen, dass sie »auf eine ganz präzise Einhaltung des Betriebsverfassungsgesetzes« (BetrVG) poche. Überhaupt erwog Friedrichs, dass der eigentliche Nutzen des HdA-Programm für die IGM womöglich »nicht so sehr in der besseren Gestaltung von Arbeitsplätzen«, sondern darin bestehen könne, dass sich viele Unternehmen »nur unter dem Druck der öffentlichen Mittel« an die Bestimmungen des BetrVG hielten.29 Dieses Schreiben verdeutlicht, was für unterschiedliche Funktionen die IGM-Funktionäre dem HdA-Programm zuweilen zuschrieben.
25 Mayr: Humanisierung, 1977, S. 47 sowie wortgleich bei Birkwald: Menschlichkeit, 1977, S. 15. 26 Birkwald: Menschlichkeit, 1977, S. 15. 27 Müller: Humanisierung, 2016, S. 270f. zeigt, dass zuweilen auch die IGM ihr Heil in bürokratischen und autoritären Maßnahmen suchte, wenn sie angesichts von Demokratisierungsvorhaben im Rahmen eines HdA-Projekts ihre Machtressourcen bedroht sah. 28 Vgl. Schreiben Udo Blum an Kollegen Günter Friedrichs am 31.01.1977, AdsD, 5/IGMA240043. 29 Alle Zitate aus Aktenvermerk Günter Friedrichs an Eugen Loderer, Hans Mayr und Karl-Heinz Janzen am 29.03.1977, AdsD, 5/IGMA240043.
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Wie groß der Stellenwert war, den die IGM dem HdA-Programm trotz aller Kritik beimaß, verdeutlicht eine Analyse der gewerkschaftlichen Stellungnahmen zum Programm nach dem Regierungsantritt der schwarz-gelben Koalition. Im Zuge des Machtwechsels verschob sich der Fokus des HdA-Programms immer mehr und Fragen der Partizipation spielten immer weniger eine Rolle, wohingegen noch stärker als zuvor Innovationsaspekte in den Vordergrund rückten.30 Diese Wendung des Programms wurde innerhalb der IGM wiederholt und drastisch kritisiert. Da die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigtenvertreter eingeschränkt würden, werde das Programm »mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Arbeitgeber«.31 Außerdem habe die neue Bundesregierung versucht, den bisherigen HdA-Projektträger auszutauschen oder die Verantwortung für das HdA-Projekt auf mehrere Träger aufzuteilen, da dort, aus Sicht des neu besetzten Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT), »zu viele gewerkschaftsfreundliche Leute« säßen.32 Kurz vor Auslaufen des Programms zog das geschäftsführende Vorstandsmitglied Karin Benz-Overhage folglich eine kritische Bilanz zur HdA. Grundsätzlich hätten sich die Bedingungen zur Durchsetzung einer sozialverträglichen und humanen Gestaltung von Arbeit und Technik im Zuge der 1980er-Jahre deutlich verschlechtert.33 Sie stellte fest, dass an »die Stelle einer – zumindest programmatisch – sozialorientierten Modernisierungspolitik […] seit der Wende eine konservative Modernisierungspolitik getreten« sei, die »vor allem unter dem Druck harter marktwirtschaftlicher Positionen eine Beteiligung der Gewerkschaften wie soziale Intervention zur Steuerung technologischen Wandels explizit ablehnt«. Zwar habe auch schon die sozialdemokratisch geführte Regierung »massiv auf Innovation und Rationalisierung« gesetzt, sei dabei allerdings – vor allem im Rahmen von HdA – gewerkschaftlichen Forderungen entgegengekommen. Anders als die Regierung unter Kohl sei die sozial-liberale Forschungs- und Technologiepolitik gegenüber den Gewerkschaften »in ›Legitimationszwänge‹« eingebunden gewesen. Nun hätten es die Gewerkschaften jedoch mit einer Regierung zu tun, »die sozialorientierte Dimensionen auch programmatisch ausdrücklich eliminiert«.34
30 Vgl. Müller: Humanisierung, 2016, S. 246-265; Seibring: Humanisierung, 2011, S. 109. 31 Anonym: Mitbestimmung, 1982, S. 36. 32 Ihloff: Letzte Meldung, 1983, S. 35. 33 Benz-Overhage: Einführung B, 1987, S. 282. 34 Alle Zitate aus Benz-Overhage: Einführung B, 1987, S. 283.
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Die gewerkschaftliche Enttäuschung über die Entwicklung des HdAProgramms wird verständlich, stellt man in Rechnung, dass sich die Humanisierungs- und Gestaltungspolitik der IGM weitgehend auf die Beteiligung am HdAProgramm und die Ausschöpfung der damit verbundenen Ressourcen und Mittel beschränkte. Während die IGM den Start des HdA-Programms vor dem Hintergrund ihres eigenen Humanisierungserfolgs durch den Abschluss des Lohnrahmentarifvertrags II noch dahingehend kommentieren konnte, dass derartige staatliche Anstrengungen sicher begrüßenswert seien, jedoch nicht dieselbe Rolle spielten wie tarifvertragliche Regelungen, wurden die mit dem HdA-Programm verbundenen Vorteile für die Gewerkschaft im Projektzeitraum angesichts der eigenen Schwäche immer energischer verteidigt.35 Folglich wurde jede weitere Schwächung des Einflusses der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen in diesem Programm drastisch kritisiert. Diese Schilderungen werfen die Frage auf, welches Motiv die IGMFunktionäre den staatlichen Akteuren dabei unterstellten, das HdA-Programm zu konzipieren, durchzuführen und weiterzuentwickeln.
HDA ZUR FLANKIERUNG DER MODERNISIERUNG DER VOLKSWIRTSCHAFT In seiner Biographie über Hans Matthöfer – der das HdA-Programm zwar nicht konzipierte, allerdings für eine relativ starke Beteiligung der Gewerkschaften sorgte – schildert Werner Abelshauser, der damalige Bundesminister für Forschung und Technologie habe im HdA-Programm ein »objektiv notwendiges Begleitprogramm zur Meisterung des Technischen [sic] Fortschritts in hoch entwickelten Industriegesellschaften« erblickt.36 Matthöfer, selbst einmal Leiter der Bildungsabteilung beim IGM-Vorstand, äußerte sich in einem Interview mit der IGM-Mitgliederzeitung Metall wie folgt zu den Motiven, das HdA-Programm zu konzipieren, zu finanzieren und durchzuführen: Zwar sei die Bundesrepublik Deutschland ein »technisch hochentwickeltes Land«, das jedoch zum Import der meisten Rohstoffe gezwungen sei. Aus diesem Grund seien »die arbeitenden Menschen die wichtigste Produktivkraft« des Landes. Letztlich habe es die SPDgeführte Regierung daher für »unumgänglich« gehalten, »den ungemein großen Nachholbedarf im Bereich der arbeitswissenschaftlichen Forschung und Entwicklung durch kaufkräftige Anstöße aufarbeiten zu helfen«. Als weiteren
35 Vgl. Helfert: Fortschritt, 1980, S. 248. 36 Abelshauser: Matthöfer, 2009, S. 289.
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Grund führte Matthöfer an, dass »die mit der erstmaligen Einführung neuer, menschengerechter Arbeitssysteme verbundenen Investitionskosten oft so groß« seien, dass Unternehmen dieses Risiko scheuten. Das HdA-Programm minimiere diese Risiken. Außerdem werde der Staat durch die Fördermaßnahmen dazu in die Lage versetzt, auf den Ablauf und die Ziele der Maßnahmen einen »positiven gestalterischen Einfluß im Sinne einer allgemeinen Übertragbarkeit zu nehmen«.37 In den Reihen der IGM wurden die Motive der staatlichen Akteure deutlich skeptischer beurteilt. Karl-Heinz Janzen beispielsweise monierte, dass die Bundesregierung Projekte zu neuen Technologien fördere, die völlig losgelöst vom HdA-Programm liefen und dem Einfluss der Gewerkschaften vollends entzogen seien. Daraus schloss er, dass HdA die Aufgabe zukomme, die durch andere staatliche Maßnahmen hervorgerufenen Verwerfungen nachträglich abzumildern: »Techniker basteln vor sich hin. Wenn ihre Entwicklungen fertig sind und auf den Markt kommen, verlangt man von den Arbeitnehmern, sich anzupassen. Hinterher kommt ein Humanisierungsprojekt, das wieder reparieren soll, was ein technokratisch gestaltetes Technologieprojekt versäumt hat.«38
Deutlich wird, dass Janzen HdA als »soziale Abfederung des […] Konzepts der Modernisierung der Volkswirtschaft« verstand.39 Dieses war ein innerhalb der SPD entwickeltes Konzept zur Bewältigung des Strukturwandels.40 Ein weiterer Grund für diese Deutung war, dass weder das BMFT noch die Vertreter der Industrie die Gewerkschaften an der Technologieentwicklung selbst beteiligen wollten.41 Überhaupt war Janzen skeptisch, wenn es um die Frage ging, inwiefern der Staat den gewerkschaftlichen Ansprüchen in Sachen Humanisierung, Technikgestaltung und Arbeitsorganisation entgegenkomme. Dies galt schon für die Endphase der sozial-liberalen Koalition und verschärfte sich unter der Regierung Kohls abermals. Schon 1981 rechnete er in »Anbetracht der politischen Konstellation […] nicht mit erfolgversprechenden Gesetzesinitiativen, die die
37 Alle Zitate aus Anonym: Risiko, 1976, S. 13. 38 Janzen: Technologiepolitik, 1980, S. 260. 39 Lompe: Gewerkschaftliche Politik, 1990, S. 260. Vgl. zu dieser Deutung auch Abelshauser: Matthöfer, 2009, S. 394 sowie Schumann: Industriearbeit, 2013, S. 19. 40 Vgl. Hauff/Scharpf: Modernisierung, 1975. 41 Vgl. Pöhler: Beteiligung, 1982, S. 20 sowie Pfeiffer: Arbeit, 2017, S. 38.
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Gestaltungsrechte der Betriebsräte und Vertrauensleute hinsichtlich der Arbeitsorganisation verbessern« würden.42 Wieso der Staat gerade diese und nicht eine andere Technologie- und Humanisierungspolitik betreibe, thematisierte auch Rudolf Kuda, der Leiter der Wirtschaftsabteilung der IGM, in einer Vorlesung an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) im Rahmen der Kooperationsstelle RUB/IGM.43 Aus seinen Äußerungen wird ein ganz bestimmtes gewerkschaftliches Staatsverständnis deutlich: »In der Strategie des Staates werden Probleme der Beschäftigung und der Arbeitsbedingungen vorrangig unter dem Aspekt der sozialen Befriedung, einer Erhaltung der staatlichen Legitimationsbasis bei Unternehmern und Arbeitnehmern behandelt.«44
Eine solche Strategie schloss für Kuda die »Verabschiedung sozialer Schutzgesetze« sowie »die Ausdehnung formaler Beteiligungsrechte und die Finanzierung von Versuchsprogrammen« ein. Staatliche Strategien für eine Beschneidung der »unternehmerischen Verfügungsgewalt über Produktionsmittel im allgemeinen, [und] über Arbeitsbedingungen im besonderen« vermochte sich Kuda dagegen nicht vorzustellen.45 Eine solche Politik sei im Rahmen des Kapitalismus nicht realisierbar, da hier »ökonomische und soziale Prinzipien zueinander im Gegensatz stehen« würden.46 Letztlich könnten auch HdA-Projekte nichts daran ändern, dass »die Entfaltung des Kapitals und die Entfaltung des Menschen« im Widerspruch zueinander stünden. Deshalb folgte die staatliche Strategie bei HdA laut Kuda auch nicht dem »Imperativ der Menschenwürde«, sondern dem »Imperativ der sozialen Befriedung, der Vermittlung einer möglichst breiten gesellschaftlichen Übereinstimmung«.47 Aus diesem Grund finanziere der Staat »betriebliche Experimente mit neuen Formen der Arbeitsgestaltung«, um den Anschein zu erwecken, »man könne beiden Seiten gerecht werden«. Allerdings scheue er sich davor, »das grundsätzliche Gestaltungsrecht der Unternehmen anzurühren«.48
42 Janzen: Auswirkungen, 1981, S. 50. 43 Zur Kooperationsstelle RUB/IGM bzw. der Gemeinsamen Arbeitsstelle RUB/IGM vgl. die Beiträge in Pries/Urban/Wannöffel (Hg.): Kooperation, 2015. 44 Kuda: Voraussetzungen, 1977, S. 49f. 45 Alle Zitate ebd. 46 Ebd., S. 57. 47 Ebd., S. 58. 48 Ebd., S. 59.
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Dabei betonte Kuda, dass die IGM von »einem Staatsverständnis, das die öffentliche Hand pauschal und ausschließlich als Sachverwalter der Interessen eines fiktiven Gesamtkapitalisten, als Handelsagentur der herrschenden Klassen missversteht, […] weit entfernt« sei. Ebenso wenig würde sie jedoch der »Illusion eines neutralen Staates, der Vorstellung vom Staat als einer unabhängigen Clearingstelle für gesellschaftliche Konflikte« erliegen.49 Letztlich sei die Politik des Staates nämlich »das Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse«, die wiederum einseitig blieben, »so lange der gesellschaftliche Charakter der Produktion und die individuelle Verfügungsgewalt über Produktionsmittel nebeneinander stehen, so lange Entscheidungen über Produktion und Investitionen, über Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen nach Maßstäben des privaten Gewinns und nicht nach Maßstäben des gesellschaftlichen Nutzens getroffen werden«.50
Angesichts dieser dem Staat unterstellten Haltung müssten die Gewerkschaften autonom im Rahmen von Tarifverhandlungen, jedoch auch mit politischen Kräften im Parlament für die Interessen der abhängig Beschäftigten kämpfen. Da Kuda davon ausging, dass der Staat vorrangig die »Kanalisierung von Konflikten« fokussiere, ging er nicht davon aus, dass ihm eine herausragende Position bei der Humanisierung der Arbeit zukomme. Vielmehr seien es die Gewerkschaften selbst, denen die »Vorreiterrolle […] im Kampf um menschengerechte Arbeitsbedingungen« zukommen müsse.51
RATIONALISIERUNG DURCH HUMANISIERUNG Noch kritischer fiel die Haltung der IGM zur Humanisierungspolitik und den Motiven der Kapitalseite aus. Schon als das HdA-Programm 1974 startete, wurde innerhalb der IGM Kritik an den Bestrebungen der Unternehmer laut. Schließlich würden sich diese als Pioniere der Humanisierung und letztere als einen konfliktfreien und harmonischen Prozess darstellen. Damit schürten die Unternehmer die »Illusion vom großen Wohltäter«, was jedoch nichts daran ändere, dass »die grundlegende Zielrichtung der Unternehmen« die Profitmaximie-
49 Ebd., S. 59. Zur Geschichte gewerkschaftlicher Staatsverständnisse vgl. die Beiträge in Ruck (Hg.): Staatsverständnisse, 2017. 50 Kuda: Voraussetzungen, 1977, S. 60. 51 Alle Zitate ebd., S. 61f.
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rung sei und bleibe. Diese resultierten wiederum aus dem »Gewinnanreiz« und dem Konkurrenzdruck, die ein »einseitiges Denken in Geldgrößen« förderten. Letztlich würden sich die Unternehmer einzig und allein deshalb für die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten interessieren, da viele Beschäftigte aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen Fehltage anhäufen und kündigen würden.52 Demzufolge seien die Humanisierungsofferten der Kapitalseite als Versuch zu betrachten, »diese Entwicklungen aufzufangen«. Letzten Endes wurde die »Bereitschaft der Arbeitgeber zu humaneren Arbeitsformen« als »eine Frucht von sozialen und politischen Auseinandersetzungen« bezeichnet. Die Kapitalseite mache den Beschäftigten nur deshalb »klug ausgewählte und wohldosierte Angebote, um die wesentlichen Privilegien desto sicherer bewahren zu können«. Selbstverständlich nicht zur Disposition stünden dabei die »private Verfügungsmacht« über die Produktionsmittel und »die alleinige Entscheidung über die Unternehmensziele sowie über die organisatorische Gestalt der Unternehmen«.53 In vielen Beiträgen in der IGM-Presse wurde außerdem darauf hingewiesen, dass nicht jede Maßnahme der Unternehmer, die »Rationalisierung heißen müsste«, auch als solche bezeichnet werde. Dabei erwiesen sich »veränderte Organisationsstrukturen« und »kooperative Führungsstile« häufig bloß als »eine andere Form von Rationalisierung oder Arbeitsintensivierung«. Demzufolge seien die Maßnahmen der Unternehmer nichts anderes als »ein Mittel zur Arbeitsmotivation und Integration«.54 Anstatt die Humanisierung als ein »grundsätzliches Problem der gesellschaftlichen Ordnung« zu betrachten, verkauften die Unternehmer den Beschäftigten die Illusion, dass eine »humane Arbeitswelt […] im herrschenden System realisierbar« sei.55 Die zitierten Schilderungen stützen in der Forschung verbreitete Aussagen zu den Auswirkungen von HdA auf das Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. So stellt beispielsweise Dieter Sauer fest, dass HdA nicht grundlegend an der Machtasymmetrie zwischen Beschäftigten und Unternehmern gerüttelt habe und »Humanisierung durch Rationalisierung« der Ansatz vieler Unternehmensleitungen gewesen sei.56 Und auch Anne Seibring urteilt, dass sich betriebswirtschaftliche und wettbewerbspolitische Komponenten des HdA-Projekts – verglichen mit demokratischen und par-
52 Alle Zitate aus Raspini: Alter Wein, 1974, S. 10. 53 Alle Zitate ebd., S. 11. 54 Strauss-Fehlberg: Unternehmer, 1978, S. 16. 55 Ebd., S. 17. 56 Sauer: Humanisierung, 2011, S. 21.
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tizipatorischen Aspekten – schnell als die dominanten Elemente des Programms erwiesen.57 Am Beispiel einzelner HdA-Projekte lässt sich die Kritik der IGM gut im Detail verdeutlichen. Über das seinerzeit »teuerste HdA-Einzelprojekt«, einem Versuch mit teilautonomer Gruppenarbeit im Volkswagen-Werk (VW) Salzgitter, wurde etwa berichtet, dass sich das Unternehmen auf Staatskosten modernisiert habe. Nach Abschluss des Projekts sei ohne Berücksichtigung der gewonnen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse auf rationalisierter Basis weitergearbeitet worden. Aus diesem Grund habe sich das Projekt als »Kuckucksei« erwiesen: »Alles, was der Wirtschaftlichkeit dient, wird umgesetzt. Die Arbeitsbedingungen werden nur dann verbessert, wenn es Profit bringt.« Während das Projekt VW einen »Rationalisierungserfolg« beschert habe, sei die Humanisierung »auf der Strecke« geblieben.58 Auch einer anderen Firma, Bilstein, warf die IGM vor, sich »eine Rationalisierungsmaßnahme durch öffentliche Mittel – sprich Steuergelder« finanzieren lassen zu wollen. Um den Betriebsrat zur Zustimmung zu dem anvisierten HdA-Projekt zu bewegen – das aus Sicht von Gewerkschaft, Betriebsrat und Belegschaft Arbeitsplätze gekostet hätte –, habe die Geschäftsleitung dem Betriebsrat eine »vorformulierte Stellungnahme zur Unterschrift vorgelegt«. Dieser habe jedoch insistiert, dass es sich bei dem geplanten Projekt nicht um eine Humanisierungs-, sondern um eine Rationalisierungsmaßnahme handle. Folglich habe die Geschäftsleitung ihre Aussichten auf staatliche Fördermittel schwinden sehen und dem Betriebsrat im Rahmen einer gegen ihn gerichteten »Diffamierungskampagne« vorgeworfen, »er habe durch seine Stellungnahme die Firma um runde 300.000 DM gebracht«.59 Die IGM und der Betriebsrat hielten der Geschäftsleitung entgegen, »bei einer gemeinsamen Betriebsbegehung, eventuell unter Hinzuziehen der Werksärztin des TÜVRheinland, die HdA-Defizite im Betrieb aufzulisten und bei einer HdAProjektinitiierung behilflich zu sein«. Dieser Vorschlag sei jedoch »strikt abgelehnt« worden. Für den Betriebsrat, so wurde in dem Artikel in der IG MetallFunktionärszeitschrift festgestellt, sei »eben Humanisierung des Arbeitslebens etwas anderes als Rationalisierung«. Aus diesem Grund habe er verhindert, »dass Arbeitsplatzvernichtung auch noch mit Steuergeldern finanziert wird«.60
57 Vgl. Seibring: Humanisierung, 2011, S. 126. Vgl. auch den Beitrag von Bernhard Dietz in diesem Band. 58 Alle Zitate aus Bergmann: Kuckucksei, 1979, S. 32f. Zum HdA-Projekt bei VWSalzgitter vgl. den Beitrag von Gina Fuhrich in diesem Band. 59 Birk: Wegrationalisieren, 1981, S. 28. 60 Ebd., S. 29.
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Zugute kam der IGM hier, dass sie durch ihre Beteiligung an den HdAGutachterausschüssen in der Lage war, die Ablehnung von Projektanträgen von Unternehmen, denen sie unterstellte, »Rationalisierung als Humanisierung zu verkaufen«, zu forcieren. So berichtete beispielsweise der Projektsekretär Udo Blum in einem Schreiben an Friedrichs über vier ihm vorliegende HdA-Anträge, in denen »nur wenig kaschiert« der Versuch unternommen werde, sich Rationalisierungsmaßnahmen staatlich bezuschussen zu lassen. Blum riet ihm, im Ausschuss die »Kaschierung von Rationalisierung als Humanisierung […] massiv anzugreifen«.61 Über die Gründe für ein solches Auftreten gegenüber den Unternehmen schrieb der Redakteur Edmund Möller, dass die Unternehmen die bezuschussten Steuergelder größtenteils dazu verwenden würden, »neue flexible Fertigungsverfahren und moderne Betriebsmittel anzuschaffen«, um sich in der Konkurrenz gegen andere Unternehmen durchzusetzen. Folglich werde der »eigentliche Zweck« von HdA, die Schaffung menschengerechter Arbeitsbedingungen, »nur insoweit erfüllt, wie er mit der wirtschaftlichen Zielvorstellung ohne jegliches Risiko kurzfristig in Einklang zu bringen« sei. Auf diese Weise werde die Humanisierung »zum ›Abfallprodukt‹«.62 Weniger skeptisch, wenn auch nicht unkritisch, äußerte sich Andreas Drinkuth, Friedrichs Nachfolger als Leiter der Abteilung Automation/Technologie. Zwar gestand auch er zu, dass Unternehmer neue Technologien zu Rationalisierungszwecken nutzen würden, betonte jedoch, dass diese »zumeist auch Spielräume zur Humanisierung« böten. Trotz aller Kalkulationen der Kapitalseite könne mit »staatlich geförderten Projekten« im Rahmen von HdA »der politische Anspruch auf Humanisierung der Arbeit ein Stück weiter realisiert werden«, indem »Beispiele ›zum Anfassen‹ und ›zum Nachmachen‹ geschaffen werden«. Die Worte der Unternehmer, so Drinkuth, könne man dann an ihren Taten messen.63 Um solch eine Politik gegen den Widerstand der Unternehmer durchzusetzen bedürfe es jedoch, so Klaus Lang, Leiter der Abteilung Tarifpolitik, einer »betriebliche[n] Interessenvertretung mit Gestaltungsanspruch oder klare[r] tarifliche[r] Regelungen«, da nur so technischer Wandel »zu einer humanen und sozialen Neugestaltung für die menschliche Arbeit führen« könne.64
61 Alle Zitate aus Schreiben Udo Blum an Kollegen Günter Friedrichs vom 18.02.1976, AdsD, 5/IGMA240043. 62 Alle Zitate aus Möller: Humanisierung, 1977, S. 7. 63 Drinkuth: Spielräume, 1984, S. 24. 64 Lang: Gegenpositionen, 1987, S. 42.
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SCHEITERN AM EIGENEN IDEAL, ENTTÄUSCHTE ERWARTUNGEN UND KLARE FRONTSTELLUNGEN Die IGM-Funktionäre begrüßten das HdA-Programm, blieben bezogen auf den Anspruch von HdA, eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Technik durchzusetzen, jedoch reserviert. Ursächlich für diese Haltung war eine von den Funktionären verkörperte Gewerkschaftsideologie, die der Beteiligung des Staates sowie der Kapitalvertreter an HdA unterstellte, Humanisierungspolitik nicht als Zweck, sondern vorrangig oder lediglich als Mittel zu betreiben. Während es der Kapitalseite darum gehe, sich Rationalisierungsmaßnahmen subventionieren zu lassen, gehe es den Politikern darum, durch HdA-Maßnahmen sowie die Beteiligung der Gewerkschaften und Betriebsräte Zustimmung zum Programm zur Modernisierung der Volkswirtschaft zu organisieren. Von dieser Prämisse ausgehend beurteilten sie auch die einzelnen HdA-Projekte. Versuche, über staatliche Initiativen wie HdA eine Humanisierung herbeizuführen, unterstützten die IGM-Funktionäre zwar, hielten jedoch die Vorstellung für illusionär und falsch, dass sich Humanisierungspolitik im HdA-Programm erschöpfe. Stattdessen betonten die Funktionäre als aktive Ideologieträger die Vorreiter- und Pionierrolle der Gewerkschaften, da die Schaffung menschlicherer Arbeits- und Lebensbedingungen seit jeher ihre Aufgabe sei. Im Tarifvertrag erblickten die Funktionäre dann auch das vorrangige und genuin gewerkschaftliche Mittel, eine solche Humanisierung weiterzutreiben. Allerdings gelang ihnen in der Zeit nach Unterzeichnung des Lohnrahmentarifvertrags II im Jahr 1973 kein vergleichbarer Humanisierungserfolg mehr, weshalb sich die Humanisierungspraxis der IGM nach Start des HdA-Programms entgegen dem Wollen der Funktionäre doch weitestgehend auf die Beteiligung an diesem Projekt beschränkte. Und je weniger die IGM den eigenen Anspruch einzulösen vermochte, aus eigener Kraft eine Humanisierung der Arbeit zu erstreiten, desto heftiger kritisierten die Funktionäre die staatlichen Akteure und Kapitalvertreter: Während diese versuchten, Rationalisierungsambitionen als Humanisierungsmaßnahmen zu kaschieren und sich eine Modernisierung der Arbeitsstrukturen und Technik staatlich alimentieren zu lassen, würden jene ebenfalls keine genuinen Humanisierungsinteressen verfolgen, sondern vorrangig die Legitimität der gerade herrschenden Regierungskoalition zu sichern beabsichtigen. Als Gründe für diese Positionierung führten die Funktionäre an, dass die Gewerkschaften zunächst gar nicht und dann nur unzureichend an HdA beteiligt gewesen seien, die eigentliche Förderung neuer Technologien in Projekten geschehe, auf die die Gewerkschaften keinen Zugriff hätten, und zuhauf über Unternehmen berichtet werden kön-
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ne, die das HdA-Programm zum Zweck der Gewinnmaximierung missbrauchen würden. Aufgrund dieser Kritik am HdA-Programm hielten die IG MetallFunktionäre an ihrem Anspruch fest, dass die Gewerkschaften die einzigen Akteure seien, die Humanisierungspolitik nicht bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck verfolgen würden. Dabei leiteten sie ihre Pionierrolle aus dem für die damaligen Funktionäre nach wie vor prägenden Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit bzw. von gesellschaftlicher Produktion und privater Verfügungsmacht über die Produktionsmittel ab. Diesen Anspruch ließen sie auch dann nicht fallen, als sich die eigenen Mittel immer mehr als unzulänglich und sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen als zunehmend ungünstig erwiesen.
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Humanisierung transnational
Eine neue Art, Autos zu produzieren? Arbeitskämpfe und betriebliche Gewerkschaftsinitiativen bei FIAT-Mirafiori zu Beginn der 1970er-Jahre Dietmar Lange
In Italien entfalteten die Gewerkschaften zu Beginn der 1970er-Jahre unter dem Leitsatz »eine neue Art zu produzieren« (un nuovo modo di produrre) eine Reihe arbeitspolitischer Initiativen, die auf eine Veränderung als besonders belastend geltender Arbeitsbedingungen in der Industrie zielten. Die Kampagne und ihr Leitsatz entstanden im Rahmen der Auseinandersetzungen um einen Firmentarifvertrag bei der FIAT 1971 und wurden auf weitere Betriebe ausgedehnt. Sie bündelte und führte jedoch eine Reihe von Gewerkschaftsinitiativen fort, die bis in die 1960er-Jahre zurückreichten und deren Ziel zugleich darin bestand, in einer betrieblichen Realität Fuß zu fassen, in der die Gewerkschaften nur mangelhaft präsent waren. Von der Humanisierungsdebatte wurde sich allerdings abgegrenzt, da sie mit dem Human-Relations-Ansatz und Managementstrategien identifiziert wurde, die im Verdacht standen, lediglich den Konflikt am Arbeitsplatz befrieden zu wollen.1 Die Gewerkschaftsinitiativen in Italien wurden hingegen im Rahmen eines Konzepts der Arbeiterkontrolle (controllo operaio) verortet, das die Durchsetzung neuer Formen betrieblicher Interessenvertretung verfolgte, in denen die Fabrikräte (consigli di fabbrica) und die Delegierten (delegati) als Träger einer Reformpolitik »von unten« fungieren sollten. Gab es formal daher große Unterschiede, lassen sich inhaltlich jedoch durchaus Parallelen zu den Initiativen, die in der BRD unter dem Oberbegriff der »Humanisierung des Arbeitslebens« unternommen wurden, feststellen. So zielten sie vor allem
1
Vgl. Libertini: FIAT, 1973, S. 94-104.
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darauf, die Arbeitsgestaltung den Bedürfnissen der Arbeitenden anzupassen und Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz vorzubeugen.2 Besonders die Auseinandersetzungen bei der FIAT hatten dabei eine Signalwirkung. Die Gewerkschaften führten hier eine Reihe von betrieblichen Initiativen bezüglich des Gesundheitsschutzes, der Taktzeiten sowie der beruflichen Qualifizierung durch. Das Ziel bestand in einer Reform der fordistischtayloristischen Arbeitsorganisation,3 für die der größte italienische Automobilkonzern beispielgebend wirken sollte. Zugleich sollten damit Probleme und Konflikte am Arbeitsplatz aufgegriffen werden, die seit 1969 in oft spontanen und informellen Arbeitsniederlegungen zum Ausdruck kamen. Die Kampagne, die bei der FIAT unter dem Motto »eine neue Art Autos zu produzieren« lief, fand dabei im Rahmen gesellschaftlicher Diskurse statt, die seit Beginn der 1960er-Jahre die Arbeitsbedingungen in der industriellen Serienproduktion thematisierten. Der Beitrag wird zunächst auf diese Diskurse und die Herausbildung der neuen Institutionen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung im Betrieb eingehen. Anschließend werden durch zwei Mikrostudien die praktischen Ausprägungen der gewerkschaftlichen Strategien untersucht. Anhand der Fallbeispiele soll geklärt werden, wie die Gewerkschaften auf Konflikte in den Abteilungen und deren Austragungsformen reagierten und diese transformierten. Zudem sollen die konkrete Funktionsweise der neuen Institutionen und die realen Auswirkungen der »neuen Art Autos zu produzieren« auf die Arbeitsorganisation und die Arbeitsbedingungen untersucht und die Frage beantwortet werden, inwieweit diese tatsächlich verändert wurden.
2
Auch im Rahmen des HdA-Programms entstanden einige Studien zu den Gewerkschaftsinitiativen in Italien. Vgl. Fricke/Notz/Schuchardt: Arbeitnehmerbeteiligung, 1985; Kern: Neue Formen, 1978.
3
Die Bezeichnung der Arbeitsverhältnisse als fordistisch-tayloristisch wurde von der zeitgenössischen italienischen Industriesoziologie übernommen. Ursprünglich wurden darunter unabhängig von einander entstandene Methoden der Arbeitsorganisation und Arbeitslaufzeitmessung (Taylorismus) sowie der Mechanisierung und Fließfertigung (Fordismus) verstanden. Im Italien der Nachkriegszeit fanden beide Methoden jedoch häufig zusammen bei der Restrukturierung der Arbeitsprozesse in der boomenden Massenfertigung Anwendung und wurden daher als zusammengehörige Phänomene rezipiert. Vgl. Causarano: La fabbrica, 2015, S. 60-68.
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KRITIK AM »NEOKAPITALISMUS« UND ENTSTEHUNG DER DELEGIERTENBEWEGUNG Vor dem Hintergrund einer rapiden Industrialisierung und sozioökonomischen Umwälzung in Italien in den 1950er- und 1960er-Jahren entstand zunächst an den Rändern der traditionellen Linken, vor allem der Sozialistischen und Kommunistischen Partei, eine Debatte über den so bezeichneten »Neokapitalismus«. Wird diese zumeist mit dissidenten Zirkeln und Intellektuellen wie Raniero Panzieri, einem Vordenker des später so bezeichneten »Operaismus«, oder Lelio Basso, dem Vertreter eines italienischen »Luxemburgismus« identifiziert, so muss festgehalten werden, dass diese Diskussionen schon sehr früh auch in der Gewerkschaftsbewegung geführt wurden.4 Sowohl die am Klassenkampf ausgerichtete sozialistisch-kommunistische Gewerkschaftsbewegung, als auch die sozialpartnerschaftlich orientierten katholischen und sozialdemokratischen Gewerkschaften waren mit ihren Konzepten in den Jahren zuvor in eine tiefe Krise geraten.5 Dies hatte seine Ursachen in repressiven und paternalistischen Unternehmenspolitiken, die den Ausschluss der Gewerkschaften aus allen Entscheidungsprozessen forcierten, kombiniert mit einer Restrukturierung der Produktionsprozesse entlang des fordistisch-tayloristischen Paradigmas: die Produktion großer Serien, deren deutlichste Ausprägung das Fließband wurde. Dies ging einher mit einer Abwertung traditioneller Berufsprofile und einer Zunahme von un- und angelernten Arbeitskräften, die zumeist aus Einwanderern aus dem wirtschaftlich abgehängten Süden des Landes bestanden. Der Organisationsgrad der Industriegewerkschaften fiel dabei von 50 Prozent Mitte der 1950er-Jahre auf unter 30 Prozent ein Jahrzehnt später, wovon alle Richtungsgewerkschaften betroffen waren. Er begann erst ab 1969 wieder signifikant zu steigen und näherte sich in den 1970er-Jahren wieder den alten Höchstwerten an.6 In den Fokus der Diskussionen rückten daher der Betrieb und Arbeitsbedingungen in der industriellen Massenproduktion. Kritisiert wurde eine Betrachtung der Technik als gesellschaftlich neutrale Kategorie, die auch lange Zeit die tradi-
4
Zur Entstehung und Geschichte dieses gewerkschaftlichen Operaismus, der insbesondere in den Metallgewerkschaften des Nordes seine Hochburgen hatte, vgl. Loreto: L’»anima bella«, 2005, S. 27-62.
5
Italien war von einer pluralistischen Gewerkschaftslandschaft geprägt, die sich entlang von Parteizugehörigkeiten gliederte. Dabei bildeten sich verschiedene Gewerkschaftskulturen aus, die bis heute – nach der Auflösung der meisten maßgeblichen Parteien – weiterexistieren. Vgl. Cella: Culture sindacali, 2015.
6
Vgl. Causarano, La fabbrica, 2015, S. 63.
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tionelle Arbeiterbewegung prägte. Technische Entwicklung und Rationalisierung wurden nun hingegen als von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen durchdrungen begriffen. Die Arbeit wurde in dieser Sicht einer kapitalistischen Rationalität unterworfen, die sich in der technischen Organisation des Produktionsprozesses »objektivierte«. Das wurde an den parzellierten, monotonen und maschinell bestimmten Tätigkeitsvollzügen am Fließband und an gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen festgemacht. Mit den Begriffen eines populär gewordenen Neomarxismus wurde dies auch als »Entfremdung« des Arbeiters nicht mehr nur von seinem Arbeitsprodukt, das das Eigentum eines Anderen war, sondern nun auch von seiner Arbeitstätigkeit, die ihm als technischer Mechanismus gegenübertrat, bezeichnet. Kritisiert wurden aber auch eine bürokratische Organisation und Arbeitsteilung, die Kopf- und Handarbeit voneinander trennen und damit Hierarchien produzieren und festigen und die sich von der Fabrik aus auf die gesamte Gesellschaft erstrecken würden. Ein zentrales Schlagwort bildete die Nicht-Delegation: die Probleme und negativen Folgen der Arbeitsorganisation sollten nicht mehr der Bewertung und Behebung durch externe Experten überlassen, sondern durch eine breite Partizipation der Arbeitenden selbst behoben werden.7 Besonders innerhalb der Metallgewerkschaften stieß diese Kritik Ende der 1960er-Jahre auf fruchtbaren Boden. So schrieb Gian Primo Cella 1968 im Mailänder Debattenorgan Dibattito sindacale der ursprünglich in der katholischen Gewerkschaftstradition stehenden Federazione Italiana Metalmeccanici (FIM, Italienischer Metallarbeiterbund): »Der Übergang von einer Gewerkschaft der Defensive zu einer der Offensive […] heißt: der Übergang zu einer Aktion der Arbeiter, die sich nicht auf Fragen der finanziellen Kompensation oder die negativsten Konsequenzen des technischen Prozesses beschränkt, sondern die sich auf bisher wenig beachtete Bereiche erstreckt, insbesondere solche, die im Zusammenhang mit der Organisation der Ausbeutung der Arbeitskraft in der modernen Industrie stehen. Eine Gewerkschaft, die angreift, um die aktuelle Lage der Arbeiter verändern zu können, die von der kapitalistischen Arbeitsorganisation hervorgebracht wird. Eine Gewerkschaft, die auf progressive Weise eine alternative Arbeitsorganisation gegenüber derjenigen der Unternehmer entwirft.«8
7
Vgl. Loreto, L’»anima bella«, 2005, S. 27-41. Das Schlagwort der Nicht-Delegation tauchte zum ersten Mal in den 1960er-Jahren im Bereich des Gesundheitsschutzes auf. Vgl. Carnevale/Baldasseroni: Mal da lavoro, 1999, S. 230-237.
8
Cella: Organizzazione, 1970, S. 16. Übersetzung DL.
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Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits Anfang der 1960er-Jahre mit der contrattazione articolata (gestaffelte Verhandlungen) gemacht. Diese beinhaltete Öffnungsklauseln für Betriebsverhandlungen in den nationalen Tarifverträgen (die diesbezüglichen Konzepte und Strategien zeigen dabei große Ähnlichkeiten und Parallelen mit der zeitgleich geführten Debatte um eine betriebsnahe Tarifpolitik in der Bundesrepublik).9 Der Durchbruch kam jedoch mit den großen Streikbewegungen 1968/69 und dem Entstehen der Delegiertenbewegung. Die Delegierten wurden von den Arbeitern einer Arbeitsgruppe oder Abteilung gewählt. Sie entstanden zum Teil spontan, wurden aber recht schnell von den Gewerkschaften kooptiert und ihre Ausbreitung vorangetrieben. Sie traten im Fabrikrat zusammen, der ab 1970 die gewerkschaftliche Basisorganisation im Betrieb bildete. Die Einrichtung und Durchsetzung der neuen Gewerkschaftsinstitutionen im Betrieb war vor allem eine Reaktion auf spontan und informell ausbrechende Arbeitskämpfe an den Bändern der Massenindustrie und die dortige geringe gewerkschaftliche Präsenz.
DIE GEWERKSCHAFTSINITIATIVEN BEI FIAT-MIRAFIORI FIAT-Mirafiori in Turin war die größte Fabrik des italienischen Automobilkonzerns und stand exemplarisch für die oben genannte Entwicklung. In den 1950erJahren wurde die Produktion mithilfe des Fließbandes und tayloristischer Methoden der Arbeitsorganisation restrukturiert. Die Beschäftigtenzahlen stiegen dabei von 17.712 im Jahr 1948 auf über 57.000 im Jahr 1967. Der Anteil der Facharbeiter ging rapide zurück, die meisten der Neueingestellten wurden in die dritte Lohngruppe für un- und angelernte Arbeitskräfte eingestuft. Es waren zumeist männliche Einwanderer aus dem Süden und jungen bis mittleren Alters, die als besonders produktiv galten. Die 1960er-Jahre hindurch hatten die Gewerkschaften große Probleme, in diesen Schichten Fuß zu fassen. Das sollte sich erst mit den Streikbewegungen 1968/69 ändern.10
9
Vgl. Zoll: Partizipation, 1981.
10 Von 1948 bis 1965 sank der Anteil der über 40-jährigen von über 54 auf 26 Prozent, derjenige der 31- bis 40-jährigen stieg von 25 auf 40 Prozent und der Anteil der unter 30-jährigen von 21 auf 34 Prozent. Der Frauenanteil sank hingegen von 9,78 auf marginale 2,69 Prozent. Sie arbeiteten vor allem in der Sattlerei oder als Sekretärinnen in den Büros der Verwaltung. In der gleichen Zeit nahm der Anteil der dritten Lohngruppe von 44,1 Prozent auf über 70 Prozent zu, während alle anderen abnahmen. Vgl. Musso: Mirafiori, 1997, S. 369-377.
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Bei Mirafiori kamen diese einer Eruption gleich. Nach einer Reihe von Arbeitskämpfen im Frühjahr und Sommer 1969, die zum Teil spontan und gegen den Willen der Gewerkschaften ausgebrochen waren, und dem »heißen Herbst«, große landesweite Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie im gleichen Jahr, sollte die Fabrik nicht mehr zur Ruhe kommen. In diesen Auseinandersetzungen gelang es den Gewerkschaften, den Fabrikrat als Koordinierungsorgan der Betriebskämpfe zu etablieren. Er umfasste schließlich um die 800 Delegierte. Hinzu kamen Sektions- und Werkstatträte. 1971 wurde nach langwierigen Auseinandersetzungen in einem Firmentarifvertrag den Delegierten schließlich etwas verklausuliert das Recht zugestanden, über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Hierfür wurden drei Kommissionen eingerichtet – eine für das Arbeitsumfeld, eine Akkordkommission und eine für Qualifikation. Im Folgenden werden zwei Beispiele für die Arbeit der Delegierten und der Kommissionen untersucht: Die Lackiererei im Karosseriewerk (Werkstatt 54) und die Motormontage im Motorenwerk (Werkstatt 26).
DIE AUSEINANDERSETZUNGEN UM GESUNDHEITSSCHUTZ IN DER LACKIEREREI Die Lackiererei, zwischen Rohbau und Endmontage gelegen, nahm eine zentrale Stellung innerhalb des Produktionszyklus im Karosseriewerk ein.11 Die fertigen Karosserien aus dem Rohbau wurden mithilfe von in Säure und Lösungsmittel eingetauchten Lappen zunächst von übriggebliebenem Dreck und Fettresten gesäubert. Die Arbeiter standen dabei, wie in der gesamten Werkstatt, über einer mit einem Gitterrost abgedeckten Wanne, in welche das Wasser zusammen mit den eingesetzten Stoffen entsorgt wurde. Das sorgte für eine entsprechende Konzentration an giftigen Dämpfen und Feuchtigkeit. Anschließend wurden die Karosserien in speziellen Öfen getrocknet, in denen die Temperatur bis auf 150 Grad anstieg, und in Becken mit Aqualith getaucht, wobei dieses von den Arbeitern mit Schwammrollen verteilt wurde. Aus den Becken kam ein unerträglicher Gestank, der für beständigen Unmut sorgte. Das Auftragen des Rostschutzes und
11 Zur Beschreibung der folgenden Arbeitsprozesse vgl. die Studie von Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 43-82; Documento unitario FIM, FIOM, UILM e SIDA della Commissione interna della Mirafiori presentate alle Organizzazioni sindacali nazionali per la trattative sull’ambiente, Januar 1969, Istituto Gramsci piemontese, Archivio storico FIOM, b. 770, fasc. 1; Officina 77 78 Verniciatura vetture piccole e grandi, ebd., b. 711, fasc.1.
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des Lacks erfolgte in speziellen, abgedichteten Kabinen. Diese waren nichts anderes als ein 20 Meter langer Raum ohne jede Schutzvorrichtung, Belüftungsoder Klimaanlage. Hier trugen jeweils Gruppen von vier Arbeitern Rostschutz und Lack mit Spritzpistolen auf. Hinzu kamen Vorarbeiten mit mehreren Schleifprozessen, damit sich der Lack gleichmäßig verteilen konnte. Zur ungünstigen Haltung kam die Vibration der Schleifmaschinen hinzu. Insbesondere die giftigen Dämpfe, die große Hitze und die Feuchtigkeit machten die Arbeit in der Lackiererei zu einer der gesundheitsschädlichsten im gesamten Karosseriewerk. Der Atemschutz bestand lediglich aus einer Papiermaske. Hinzu kamen Gummistiefel und Gummischürzen, in den Kabinen außerdem noch Beinschienen. Dies schützte jedoch nicht vor Feuchtigkeit, da die Arbeiter in der luftundurchlässigen Bekleidung und aufgrund der sehr großen Hitze in der Werkstatt sehr schnell zu schwitzen begannen. Neben der Feuchtigkeit und den giftigen Dämpfen trat außerdem noch die Staubentwicklung aus den Schleifprozessen hinzu, da es auch keine Abzugshauben gab. Zudem herrschten hier die für die Arbeit am Band typischen Belastungen, wie hohe Rhythmen, Monotonie und Repetitivität der Arbeitsprozesse. Aufgrund der schwierigen Arbeitsbedingungen herrschte eine hohe Fluktuation. In der Werkstatt arbeitete deshalb ein besonders großer Anteil an frisch eingestellten, neu zugewanderten, jungen Arbeitern aus dem Süden. Die meisten waren in die dritte Lohngruppe eingestuft.12 Die Lackiererei war die Werkstatt, die sich im Herzen der gesamten Sektion befand und direkt mit den vorhergehenden und anschließenden Arbeitsprozessen (Rohbau und Endmontage) in Verbindung stand. Sie bildete daher einen besonders neuralgischen Punkt bei Arbeitsunterbrechungen und Störungen. Hinzu kam die besondere Sensibilität einzelner Arbeitsphasen. In der Grundierung drohten etwa bei einer Unterbrechung der Produktion von mehr als einer Stunde irreparable Schäden an den Karosserien durch Oxidation. Deshalb war vertraglich eine Vorankündigung von Streiks von mindestens eineinhalb Stunden vorgesehen.13 Seit 1969 traten spontane Streiks, die zu einer unmittelbaren Gefährdung der Produktion führten, häufiger auf. Die Werkstatt 54 gehörte zu den Schwerpunkten der Streiks im Karosseriewerk. Standen zu Beginn Forderungen nach Lohnerhöhungen und nach einer Hochstufung in die zweite Lohngruppe im Vordergrund, wurden ab 1970 auch die Arbeitsbedingungen thematisiert. Es wurden häufigere Pausen verlangt, die Versetzung nach einem Jahr an einen weniger ge-
12 Vgl. Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 78. 13 Siehe dazu Officina 77 78 Verniciatura vetture piccole e grandi, S. 2, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 711, fasc.1.
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sundheitsschädlichen Arbeitsplatz, Belüftungsanlagen in den Kabinen und eine tägliche Reinigung derselben sowie spezielle Schutzanzüge. Die Forderungen wurden direkt von den Arbeitern auf Versammlungen während spontaner Arbeitsunterbrechungen aufgestellt. Die Streiks wurden von kleinen Gruppen insbesondere in den Kabinen organisiert. Hier war es für eine einige und entschlossene Gruppe von Arbeitern ein leichtes, die Produktion zu unterbrechen und großen Schaden anzurichten, da die Karosserien bei der Unterbrechung des Lackiervorgangs ausgesondert werden mussten. Von den Kabinen dehnten sich die Streiks aber auch rasch auf weitere Abteilungen aus, vor allem auf die Schleifarbeiter und die Arbeiter an den Aqualith-Becken. Die Rolle der Gewerkschaften beschränkte sich zunächst darauf, die Forderungen der Arbeiter zu übernehmen und den Kampf damit nachträglich zu legalisieren. Mit der Ausbreitung der Streiks und einer wachsenden öffentlichen Resonanz14 reifte jedoch die Absicht innerhalb der Gewerkschaften heran, die Probleme der Gesundheitsschädlichkeit durch eine kontinuierliche Aktion umfassend anzugehen. Den Ausgangspunkt bildeten die Etablierung der Umweltkommission und entsprechende Vereinbarungen im Firmentarifvertrag von 1971. Der Vertrag sah vor, dass die FIAT für die Untersuchung der Gesundheitsrisiken der betrieblichen Umweltkommission eine Liste mit sämtlichen Substanzen für jede Sektion und jede Werkstatt sowie Tabellen mit den jeweils zugelassenen Höchstwerten zur Verfügung stellt. Ziel einer solchen Untersuchung sollte es sein, nicht nur ein aussagekräftiges Gesamtbild zu erhalten. Es war auch vorgesehen, ein individuelles Risikobuch mit biostatistischen Daten für jeden Arbeiter zu erstellen. Hierfür verpflichtete sich die FIAT, neben der Untersuchung durch den Betriebsarzt bei der Einstellung auch periodische medizinische Visiten durchzuführen, deren Ergebnisse in einem zusätzlichen individuellen Gesundheitsbuch festgehalten werden sollten. Die gesammelten Daten sollten ein umfassendes Informationssystem ermöglichen, das nicht nur eine Kontrolle der vorhandenen Umwelteinflüsse vonseiten der betroffenen Arbeiter, sondern auch ihrer Auswirkungen auf die einzelnen Arbeiter über einen längeren Zeitraum hinweg erlauben würde.15
14 Die Arbeitsbedingungen in der Werkstatt 54 wurden am 10.11.1970 auf einer eigens dafür einberufenen Gemeinderatssitzung thematisiert, auf der nicht nur eine Arbeitsinspektorin von ihren Eindrücken erzählte, sondern auch die Kabinenarbeiter zu Wort kamen. Vgl. Seduta pubblica del Consiglio Comunale, 10.11.1970, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 770, fasc. 1. 15 FIOM-FIM-UILM: Dispensa per l’applicazione dell’accordo FIAT, Oktober 1971, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 711, fasc. 1.
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Die Regelungen im Vertrag blieben zunächst jedoch Absichtserklärungen. Diese enthielten keine Kriterien und Modalitäten für die Erhebung und Bereitstellung der Daten, das wurde auf zukünftige Regelungen zwischen den Vertragsparteien verschoben, die das Unternehmen jedoch hinauszuzögern versuchte. Ein wichtiger Bestandteil der Gewerkschaftspolitik war daher die Untersuchung, die zugleich eine möglichst große Anzahl der betroffenen Arbeiter mobilisieren und die FIAT unter Druck setzen sollte.16 Den Anfang machte ein Pilotprojekt im Karosseriewerk, wo beschlossen worden war, eine Untersuchung entlang des Bandes des erst vor einigen Jahren eingeführten FIAT 124 durchzuführen. Die Untersuchung, besonders die in der Werkstatt 54, sollte Modellcharakter über die FIAT hinaus entwickeln, weshalb die Analysen und Ergebnisse in einem eigenen Handbuch publiziert wurden. »Sie soll Kultur im gramscianischen Sinn produzieren […] kritisch die bereits entdeckten Wahrheiten verbreiten, sie sozusagen ›vergesellschaften‹, und sie dadurch zur Grundlage lebendiger Aktionen machen, zu Elementen der Koordinierung und der intellektuellen und moralischen Ordnung«, wie die Herausgeber aus dem Umfeld der FIOM darin ihre Absicht erklären.17 Das zentrale Subjekt der Untersuchung sollte die »homogene Gruppe« sein, Arbeiter, die den gleichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren. Zur Vorbereitung fanden eine Reihe von Treffen mit den Delegierten der betroffenen Abteilungen sowie Versammlungen auf Werkstatt- und Abteilungsebene statt. Zunächst ging es dabei um die Identifizierung der homogenen Gruppen und die Ausarbeitung eines Fragebogens, der von der Gruppe kollektiv ausgefüllt werden sollte. Hinzu kam ein provisorischer individueller Risikoausweis, der von jedem einzelnen Arbeiter auszufüllen war. Beide waren als Instrumente für eine erste Annäherung an die Bedingungen in der Werkstatt und zur Mobilisierung der Arbeiter gedacht. Sie waren jeweils in vier Teile aufgeteilt: Eine Beschreibung der Aufgaben und der ausgeführten Arbeiten, eine Analyse der vorhandenen gesundheitsschädlichen Faktoren, eine Analyse der Beschwerden, der Risiken und der möglichen Ursachen für vorhandene Gesundheitsschäden sowie
16 Vgl. Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 100f. 17 Ebd., S. 9. Übersetzung DL. Für Gramsci basiert Herrschaft neben materieller Gewalt auch auf einem durch kulturelle Hegemonie erzeugten Konsens. Dessen Wandel wird dadurch ebenfalls zur Voraussetzung einer Veränderung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Insbesondere in der italienischen kommunistischen Bewegung hatten die hegemonietheoretischen Überlegungen Gramscis großen Einfluss. Vgl. Corradi: Marxismi, 2005, S. 53-83.
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schließlich erste Bewertungen, Beobachtungen, Vorschläge und mögliche Forderungen sowohl vonseiten der Gruppe als auch der Gewerkschaften.18 Ziel der Aktion war es auch, eine beständige Qualifizierung der Arbeitsgruppen selbst in Gang zu setzen, um die Kämpfe für einen effektiven Gesundheitsschutz auf ein immer höheres Niveau zu heben. »In anderen Worten, die Gewerkschaft hat die Absicht, die ›spontane‹ Bewertung der Gruppe in eine permanente Registrierung zu transformieren, die Tag für Tag die eigene Gesundheit, die eigenen Krankheiten, die eigenen Störungen, die eigene physische und psychische Effizienz, die Lebensdauer der Gruppenbestandteile, die physischen und psychophysischen Kosten einer bestimmten Produktionsweise und einer bestimmten Arbeitsorganisation misst.«19
Ein gewerkschaftliches Ziel war es, die diffusen spontanen Aktionen in den Abteilungen durch eine kontinuierliche und koordinierte Aktion abzulösen, die zugleich einen breiteren Austausch von Erfahrungen ermöglichen sollte. Dadurch sollten die Kontrollmöglichkeiten am Arbeitsplatz ausgebaut werden und die Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeiter kollektiv wachsen. Diese hochfliegenden Ziele wurden jedoch nur sehr partiell und eingeschränkt erreicht. Größere Probleme traten bereits zu dem Zeitpunkt auf, als die Ergebnisse aus der Umfrage zusammen mit externen Technikern und Medizinern evaluiert und in die Arbeitsgruppe zurückgetragen werden sollten. Hierfür wurden mehrere Versammlungen und Kolloquien abgehalten, auf denen die Arbeiter den Externen Datenmaterial und Beschreibungen der Arbeitsorganisation bei der FIAT zur Verfügung stellten. Die Experten selbst hatten jedoch nur wenig beizutragen, waren doch zumeist Spezialkenntnisse zu bestimmten Maschinensystemen erforderlich, die die wenigsten besaßen. Zudem wurde beklagt, dass aus der Flut von gesammelten Daten nur sehr schwer unmittelbare Schlussfolgerungen gezogen werden könnten und dies einen längeren Auswertungsprozess erforderlich machen würde. Bereits bei diesem Arbeitsschritt begann die Initiative ins Stocken zu geraten, der Rückfluss der Ergebnisse in die Arbeitsgruppe blieb daher eher spärlich.20 Lediglich die von den Arbeitsgruppen ausgefüllten Listen mit den verzeichneten gesundheitlichen Beschwerden und eine Karte der Arbeitsprozesse in der
18 Vgl. Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 104f. 19 CGIL-CISL-UIL: Esperienze applicative sull’ambiente di lavoro, 6.3.1972, in: Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b . 769, fasc. 1. Übersetzung DL. 20 Vgl. FIM-FIOM-UILM: Organizzazione del lavoro, Nota 1, 2.10.72, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 769, fasc. 1.
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Werkstatt, auf der farbige Kreise das Vorhandensein und die Konzentration gesundheitsschädlicher Faktoren anzeigten, kehrten in die Hände der Gruppen zurück. Sie bestätigten die Existenz vielfacher Gefahrenstellen in der Werkstatt 54: Giftige Dämpfe führten zu Kopfschmerzen und Magengeschwüren sowie Verbrennungen an den Augen, Staubentwicklung beförderte Lungen- und Atembeschwerden bis hin zur Bronchitis, Gelenk- und Gliederschmerzen waren dauerhafte Probleme und schließlich wurden die für die Bandarbeit typischen Beschwerden wie besondere Müdigkeit und Nervosität aufgrund der hohen Rhythmen, der Monotonie und Repetitivität als Probleme benannt.21 Bereits bei den individuellen Ausweisen traten jedoch Probleme auf. Ein Grund bestand darin, dass innerhalb der Gewerkschaften selbst ein Konflikt in der Frage existierte, wie mit den Daten umgegangen werden sollte und wer der institutionelle Ansprechpartner für eine adäquate Erhebung und entsprechende Verbesserungen war: das Unternehmen oder die öffentlichen Institutionen? Dabei spielte auch die Sorge eine Rolle, zu einer Art »rotem Gesundheitszentrum« zu werden, das beide Institutionen aus ihrer Verantwortung entlassen würde. Insbesondere die sozialistisch-kommunistische FIOM strebte eigentlich eine Verbindung ihrer betrieblichen Aktionen mit dem Kampf für die Einrichtung lokaler Gesundheitszentren in öffentlicher Verwaltung an. Diese Strategie machte die Weiterführung der Aktion in der Fabrik jedoch sehr stark von der Entwicklung externer Faktoren abhängig und lähmte sie, aufgrund der vielen Verzögerungen und der damit verbundenen Unsicherheiten.22 Demgegenüber stand die von einem Teil der FIM und der Delegierten vertretene Auffassung, die Aktion sollte dazu genutzt werden, um unmittelbaren Druck auf die FIAT auszuüben und neue Kämpfe zu entfachen.23 Als Beispiel dienten die Vorgänge bei FIAT Motori Avvio, einer Großmotorenfabrik im Norden Turins, wo es 1970/71 nach medizinischen Untersuchungen und einer Reihe von Beschwerden Arbeitern gelang, durch Streiks ohne große Vorbereitungen die Unternehmensleitung zu einigen Modifizierungen an den Anlagen zu zwingen.
21 Ebd. 22 Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 108-138. 23 Die Protest- und Streikbewegungen in den 1960er-Jahren hatten auch die traditionellen Rollen und Selbstverständnisse der Gewerkschaften auf den Kopf gestellt. Insbesondere die ursprünglich in der katholischen Tradition stehende FIM radikalisierte sich und öffnete sich der Neuen Linken, wohingegen es in der sozialistischkommunistischen FIOM stärkere Vorbehalte gab. Vgl. Loreto, L’»anima bella«, 2005, S. 46-51.
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Bei Mirafiori hatte die FIAT jedoch bereits 1971 damit begonnen, von ihrer starren Haltung abzurücken und die Situation in der Werkstatt 54 durch vereinzelte Zugeständnisse zu befrieden. Dies betraf die Einführung spezieller Helme und Abzugshauben in den Kabinen, ebenso die Einführung von Kühlern und Belüftungsanlagen sowie von mehr Personal vor allem bei den Schleifprozessen. Zudem stellte die Unternehmensleitung einen eigenen Plan für die Restrukturierung des Produktionsprozesses in der Werkstatt auf. Dieser bezweckte nicht nur die Ausschaltung besonders gesundheitsschädlicher Arbeitsphasen, sondern minimierte auch die Möglichkeiten der Arbeiter, den Produktionsprozess zu stören. Dies wird etwa deutlich an der gezielten Automatisierung spezieller Arbeitsphasen: So wurden die Aqualith-Becken durch eine Anlage zur Elektrophorese ersetzt, die durch elektrostatische Aufladung dafür sorgte, dass der Rostschutz automatisch an sämtlichen Stellen der Karosserie gleichmäßig aufgetragen wurde. Die Arbeit mit Schwammrollen entfiel dadurch. Ähnliche Anlagen wurden auch in den Kabinen für den Lack installiert, wo dieser nun als eine Art Nebel versprüht wurde. Zudem konnten die neuen Sprühköpfe bei einer Arbeitsunterbrechung automatisch eingezogen werden, was den möglichen Schaden erheblich minimierte. Dadurch gelang es, die Arbeitskraft besonders in den Arbeitsphasen auszuschalten oder erheblich zu minimieren, die bis dahin zu den »heißen Punkten« der Streikbewegung gehört hatten. Weitere Maßnahmen betrafen eine Flexibilisierung des Produktionsprozesses: Die Erhöhung der Personalstärke an den Bändern ging mit einer Verdopplung der Bänder selbst einher, was nicht nur die Forderungen der Arbeiter nach mehr Personal erfüllte, sondern auch die Rigidität des Produktionszyklus lockerte. Bei einem Arbeitsausfall an einem Band konnte nun einfach die Arbeit auf das danebenliegende Band verlagert werden. Die Gewerkschaften vermuteten dahinter auch eine von der Unternehmensleitung intendierte abschreckende Wirkung auf unentschlossene Arbeiter, indem diesen demonstriert wurde, dass die Arbeit weiterging. Ähnlich beurteilten sie die Einrichtung von mehreren Zwischenlagern zwischen den einzelnen Produktionsphasen. Diese bestanden aus dicht aneinander aufgereihten Transfermaschinen, in denen die Karosserien hingen und flexibel, nach den Bedürfnissen des Produktionsprozesses, an die dafür vorgesehenen Bänder weitergegeben werden konnten.24
24 Officina 77 78 Verniciatura vetture piccole e grandi, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 770, fasc. 1. Es handelte sich hierbei vor allem um eine Prozessflexibilisierung. Wie Maielli gezeigt hat, bewegten sich die Maßnahmen zur Automatisierung und Flexibilisierung bei der FIAT im Rahmen der vorgegebenen Bahnen von Kostensenkung und einer Reduzierung der Taktzeiten, nicht im Sinne einer Erhöhung
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Die FIAT begann also durchaus sich des Themas der Gesundheitsschädlichkeit anzunehmen, aber sie tat es zu ihren Bedingungen. Dies beinhaltete auch, dass sie mit der Umweltkommission, die sie als »Experten« anerkannte, in Verhandlungen über die Forderungen der Arbeiter trat, allerdings stets zu spezifischen und partiellen Problemen, nicht über eine umfassende Lösung. Sie stellte hierfür eigens einen Techniker ab, der Vorschläge zu Umstrukturierungen und technischen Maßnahmen in die Kommission einbrachte. Zugleich führte dies zu einer gewissen Zentralisierung der Verhandlungen. Schon bald wurde Kritik an der Kommission laut, diese nehme erneut ein Verhältnis der Delegation nicht nur gegenüber den Arbeitern, sondern selbst gegenüber den Delegierten ein. Die Kritik kam dabei nicht nur vonseiten radikaler, linken Gruppen nahestehender Delegierter, sondern auch aus Kreisen der FIOM, die an der Untersuchung zur Gesundheitsschädlichkeit beteiligt waren.25 Die als große koordinierte Aktion gestartete Untersuchung franste daher schnell in Auseinandersetzungen und Verhandlungen zu Einzelproblemen aus, während zugleich durch Restrukturierung und Automatisierung an besonders heiklen Punkten die Möglichkeiten der Arbeiter zur Produktionsunterbrechung minimiert wurden. Während sich im Verlauf des Jahres 1972 die gewerkschaftlichen Institutionen im Bereich der Gesundheitsprävention auf Ebene der Fabrik daher ausbreiteten, begannen die Kämpfe zu stagnieren und es trat eine gewisse Ernüchterung, aber auch Enttäuschung bei vielen Arbeitern und Delegierten ein.
der Auslastung durch die Schaffung von Möglichkeiten, flexibel die Produktion auf verschiedene Modelle umstellen zu können. Ihre These, dass Sinken der Produktivität und entsprechende Gegenmaßnahmen der FIAT Anfang der 1970er-Jahre seien stärker auf technische Probleme und Notwendigkeiten und weniger auf Streiks zurückzuführen, die sie vor allem aus einer Untersuchung der Schweißprozesse im Rohbau gewinnen, halte ich für den hier behandelten Zeitraum für keine überzeugende Erklärung. Am Beispiel der Lackiererei kann gezeigt werden, dass entsprechende Maßnahmen erst nach länger anhaltenden Arbeitskämpfen unternommen wurden und die Automatisierung besonders störanfällige Bereiche im Produktionsprozess betraf. Das es sich daneben in erster Linie um eine Prozessflexibilisierung handelte und nicht darum, die Modellflexibilität zu erhöhen, legt eher noch einen stärkeren Zusammenhang mit den Arbeitskämpfen nahe. Vgl. Maielli: Spot-Welding Technology, 2005. Tatsächlich bereiteten insbesondere die kurzen Arbeitsunterbrechungen an besonders heiklen Produktionsphasen der FIAT-Direktion erhebliche Kopfschmerzen, wie auch eine interne Dokumentation aus den frühen 1970er-Jahren zeigt. Vgl. Conflittualità Mirafiori Carrozzeria 1970-1976, Archivio Storico FIAT, Fondo Sindacale, b. 39. 25 Vgl. Milanaccio/Ricolfi: Lotte operaie, 1976, S. 93.
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Dies wurde auch von den Gewerkschaften einige Jahre später rückblickend festgestellt.26 Eine Reevaluation der Untersuchung von 1973/74 kommt zu einem sehr durchwachsenen Ergebnis. So waren einige der schlimmsten Zustände eliminiert oder gemildert worden, auch gab es jetzt eine garantierte Versetzung der Arbeiter nach einer gewissen Periode in andere Werkstätten. Im Ganzen gesehen wurde die Situation von diesen jedoch kaum als wesentliche Erleichterung wahrgenommen, zu spezifisch waren die vorgenommenen Modifizierungen. Die Parzellierung und Monotonie der Arbeitsprozesse blieb weiterhin sehr hoch, mit teilweise lediglich 20 Sekunden für einen Arbeitsschritt. Dafür war die Anzahl der Meister deutlich erhöht worden, teilweise auf das doppelte. An den Grundkonstanten der Arbeitsorganisation im Karosseriewerk hatte sich also wenig geändert.27
DER KAMPF UM DIE ZEIT IN DER MOTORMONTAGE Das relative Scheitern des ambitionierten Programms für eine kontinuierliche Bewertung und Kontrolle der Arbeitsbedingungen in der Lackiererei bedeutete jedoch nicht, dass es grundsätzlich illusionär gewesen wäre. Dies zeigt die gegenteilige Erfahrung einer Reihe von Initiativen zur Kontrolle der Taktzeiten, die zeitgleich an den Montagebändern des Motorenwerks durchgeführt wurden. Sie sind insofern einzigartig, weil es hier dem Werkstattrat der Werkstatt 26 sowie dem Akkordkomitee für das Motorenwerk gelungen war, über einen längeren Zeitraum hinweg eine sehr intensive und umfassende Untersuchung über den Arbeitsprozess und die Messung der Zeiten durchzuführen und zugleich diese Aktion mit einer nachhaltigen Auseinandersetzung um die Neubewertung der Zeiten und Einrichtung der Arbeitsprozesse zu verbinden. Das war etwas, das in dieser Form in keiner der übrigen Sektionen, weder im Karosserie- noch im Presswerk, in gleicher Weise gelang und daher den Vorstellungen über die zu errichtende Gewerkschaftsmacht im Betrieb, als Ansatz für eine grundlegende Transformation der Arbeitsorganisation, am nächsten kam.28
26 Siehe dazu das von 1975 stammende Dokument Nota sui problemi di fabbrica: Iniziative aperte e ipotesi rivendicative per l'applicazione degli accordi, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 768, fasc. 1. 27 Guidi/Bronzoni/Germanotto: FIAT, 1974, S. 62. 28 In den 1980er-Jahren hat bereits der US-amerikanische Industriesoziologe Giovanni Contini Interviews mit den Beteiligten geführt. Vgl. Contini: Rise, 1987, S. 144-167.
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In der Werkstatt 26 wurde die Endmontage der Motoren aus den verschiedenen Bestandteilen, die im Motorenwerk gefertigt wurden, vorgenommen. Sie hatte daher stärker als alle anderen Werkstätten im Motorenwerk einige Charakteristiken mit den Arbeitsprozessen im Karosseriewerk gemeinsam, vor allem die Bandarbeit und die damit verbundenen Probleme, die Parzellierung der Arbeitsschritte und die Kürzung der Taktzeiten. Die Werkstatt bildete einen Produktionsfluss in L-Form. Am unteren Ende wurden die Motorblöcke mithilfe von Transfermaschinen oder auf Transportern angeliefert und bekamen eine Seriennummer sowie Zettel mit Anforderungen an die Kolben und weiteren Informationen angeheftet. Von hier gingen insgesamt fünf Montagebänder für die verschiedenen Motortypen ab. Der Motorblock wurde hier von Transfermaschinen abgeladen und auf einem vom Band gezogenen Anhänger mit vier Schrauben befestigt. Anschließend wurden die verschiedenen Bestandteile, wie Zylinderkopf, Kurbel- und Nockenwelle, bis hin zu den Drähten der Zündkerzen und der Verteiler montiert. Dies geschah auf einem Raum von gerade einmal zwei Meter Länge pro Arbeiter, der zudem noch durch anliegende Bänke und Gerätekästen begrenzt wurde. Nach dem Test der Motoren wurden die Getriebe als Letztes montiert. Danach wurden die fertigen Motoren erneut in die Transfermaschinen eingehängt und in das Karosseriewerk abtransportiert oder auf LKWs verladen, die andere FIAT-Werke ansteuerten.29 Der beschränkte Platz für die Arbeitsprozesse brachte es mit sich, dass den Arbeitern nicht viel Zeit und Manövrierraum blieb, um ihre Operationen auszuführen, bevor sie in den Arbeitsbereich ihrer Kollegen eindrangen. Dadurch war das Unfallrisiko hoch, insbesondere wenn Ausfälle auch Auswirkungen auf die danach folgenden Arbeitsprozesse hatten, wie bei der Befestigung der Motorblöcke. Ähnlich der Arbeitsorganisation im Karosseriewerk gab hier also die Geschwindigkeit der Bänder den Takt vor. Zugleich waren die Arbeitsprozesse sehr stark parzelliert. Cesare Così, Delegierter aus der Werkstatt 26, arbeitete bei der Montage der Getriebe für den FIAT 500 und beschreibt die Zustände wie folgt: »In den 26 Sekunden, die der Zeitzyklus vorsah, machten wir ca. 1080 Stück pro Schicht. Meine Aufgabe bestand darin, ein komplettes Differenzialgetriebe und eine Antriebswelle aus der Hängebahn zu ziehen, die aus der Prüfstelle kam, zwei Halteringe und die Dich-
29 Für die Beschreibung der Werkstatt vgl. hier und im Folgenden den Bericht des Werkstattrates über die dortigen Zustände, Consiglio di officina 76 + 77: Indagine fatta a livello di capannone della meccanica 1 tra le traverse n 1 e n 2 per arrivare a esaminare le nocività dell’officina 76, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 770, fasc. 1.
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tung anzubringen, es per Hand herunterzunehmen (es wog um die 23 kg) und zum Band zu bringen, es am Anhänger zu befestigen und um 30 Grad zu drehen, damit die Anderen daran weiterarbeiten konnten. Die Arbeit war an sich schon sehr hart und nicht immer lief alles glatt. Es gab viele Unsicherheiten, Störfälle, die es nicht zuließen die Produktion über eine Erhöhung der Geschwindigkeit nachzuholen. Daher ging die durchschnittliche Zeit für jedes Stück auf 23-24 Sekunden zurück.«30
Die auszuführende Tagesproduktion wurde von der FIAT mithilfe einer komplizierten Rechnung auf der Grundlage der »durchschnittlichen« Zeiten für jeden einzelnen Arbeitsschritt festgelegt. Dabei wurden 470 Minuten (acht Arbeitsstunden minus zehn Minuten Pause) durch die Anzahl der Minuten (und Sekunden) für die einzelnen Arbeitsschritte geteilt, wodurch sich eine Grundmenge gleich einem Index von 100 ergab. Die zugrundeliegende Durchschnittszeit wurde aus der Menge der gemessenen Zeiten errechnet, die verschiedene Arbeiter für eine Operation benötigten. Vor der Veröffentlichung der Zeiten, die nach einer Vereinbarung von 1969 offen auf Tabellen in den Abteilungen aufgehängt werden mussten, wurde jedoch ein sogenanntes Effizienzkriterium mitberechnet. Dabei wurden den Zeitnehmern Filme gezeigt, in denen die Arbeiter konstant in einer Geschwindigkeit arbeiteten, die bei der FIAT dem Leistungsertrag »133« (der Basisindex 100 plus einem Akkordzuschlag von 33) entsprach. In der Regel führte das noch einmal zu einer Kürzung der gemessenen Zeiten und einer Annäherung derselben an das offizielle Modell, wobei jedoch der objektive Schein auch gegenüber den Zeitnehmern gewahrt blieb, die überzeugt waren, rein technische Kriterien anzuwenden.31 Die offiziellen Zeiten waren also keine real gemessenen, sondern das Ergebnis komplizierter Berechnungen, deren Formel und Kriterien die FIAT streng unter Verschluss hielt. Sie waren die Bausteine der berühmten »wissenschaftlichen Arbeitsorganisation«, ein aseptisches Modell der Betriebsorganisation, bei dem es keinerlei Störungen gab und die Arbeiter in konstanter Geschwindigkeit über den gesamten Arbeitstag hinweg die Arbeitsprozesse ausführten, die einem Räderwerk gleich perfekt ineinandergriffen und einen kontinuierlichen Produktionsfluss sicherstellten. Dieses Modell entsprach jedoch schon auf der Ebene der Meister und der Produktionsleitung in den Werkstätten und Abteilungen nicht
30 Interview mit Cesare Così, in: Polo: Mirafiori, 1989, S. 145f. Übersetzung DL. 31 Documento dei consigli di settore della FIAT-Mirafiori, 25.3.1971, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 767, fasc. 1. Die FIAT hatte bereits in den 1920erJahren mit Methoden der Arbeitszergliederung und Arbeitslaufzeitmessung experimentiert, wie dem Bedaux-System. Vgl. Bigazzi: Management Strategies, 1986.
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mehr der Realität, da diese bei Rückständen gegenüber den offiziellen Produktionszielen die Geschwindigkeit der Bänder erhöhten, Überstunden machen ließen oder sich bei Ausfällen Arbeiter aus anderen Abteilungen ausliehen. Doch auch die Arbeiter hatten die einzelnen Operationen über die Jahre zum Teil erheblich modifiziert, um mit den Anforderungen mithalten zu können und die Belastung erträglich zu halten. So berichtet Così weiter: »Die informelle Arbeitsorganisation modifizierte die Verteilung der Arbeit unter den Arbeitern, mit einer planmäßigen Rotation der mühevollsten Aufgaben, um die Belastung soweit wie möglich zu nivellieren, schaffte die Verwendung einiger Teile der Ausrüstung ab oder passte sie an die individuellen Bedürfnisse an, transformierte die Gestiken der Arbeit, indem einige Bewegungen aufgegeben und andere hinzugefügt wurden. Auf diese Weise wurde im Verlauf der Jahre technisches und organisatorisches Wissen angesammelt, das zum gemeinsamen Erbe wurde.«32
Waren diese informelle Reorganisation der Arbeit und die sich dabei herausbildenden Gruppen- und Kommunikationsstrukturen der Arbeiter zunächst aus der Defensive heraus entstanden, um nicht unter der Last der offiziellen Arbeitsorganisation und ihrer Anforderungen zusammenzubrechen, so trat bald eine sich ausweitende organisierte Aktion gegen das vorherrschende System der Arbeitslaufzeitmessung in der Werkstatt 26 hinzu. Im Unterschied zum Karosseriewerk gab es im Motorenwerk bereits vor dem »heißen Herbst« eine gewisse Präsenz vor allem der FIOM und der Parteien der Linken. Dies hing damit zusammen, dass die Arbeiterschaft zum Teil noch älter war und sich neben Einwanderern aus dem Süden auch altgediente piemontesische Aktive fanden. Es wurden hier bereits vor 1969 Untersuchungen durchgeführt, auf deren Basis im Frühjahr 1969 ein Streik für die Einstufung in die zweite Lohngruppe erfolgte. Ein Vertrag vom Juni des gleichen Jahres, der die Arbeit an den Bändern regulierte, bildete schließlich den Ausgangspunkt, um die Taktzeiten zu thematisieren. Der Vertrag machte die Rahmenwerte der offiziellen Betriebsorganisation für jeden Arbeiter einsehbar und brachte die Konstituierung von Bandkommissionen mit den (zunächst »Experten« genannten) Delegierten mit sich. Neben der Veröffentlichung der Taktzeiten, der Belegschaftsstärke und der Tagesproduktion sah der Vertrag auch ein festes Verhältnis von Belegschaft und Produktionsmenge nach den ausgehängten Zeiten vor, was bedeutete, dass die Produktion zum Aufholen von Ausfällen nur erhöht werden konnte, wenn die Personalstärke stieg. Erstmals gab es nun öffentlich einsehbare Daten bezüglich der formellen
32 Polo: Mirafiori, 1989, S. 148. Übersetzung DL.
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Betriebsorganisation, und mit der Bandkommission existierte nun eine Einrichtung an den Bändern zur Kontrolle derselben. Damit die Delegierten jedoch mit den Daten arbeiten konnten, mussten sie zuerst verstehen, wie diese zustande gekommen waren. In einem Dokument von 1975, in welchem die Erfahrungen in der Werkstatt rekapituliert werden, heißt es dazu: »Eins der ersten Dinge, die die Delegierten versucht haben zu verstehen, war das Verhältnis von Arbeitszeit, Produktion und Belegschaft. Über verschiedene Anläufe, viele davon gescheitert, wurden Arbeitsgruppe für Arbeitsgruppe alle Daten, die an den Säulen aufgehängt wurden, eingesammelt, kopiert, die ›einheitlichen Kosten‹ eines jeden Bestandteils zurückgerechnet (zum Beispiel: Motor und Getriebe), wobei mit ›Kosten‹ die Summe der Arbeitsminuten gemeint ist, die es brauchte, um ein Stück zu montieren. In der zweiten Phase wurden diese ›einheitlichen Kosten‹ in Relation zu den Arbeitsminuten des achtstündigen Arbeitstages (die ersten 470 Minuten) gesetzt, die angeforderte Produktionsmenge, die Anzahl der Arbeiter und die durchschnittliche Auslastung. Es gab verschiedene Probleme, die dadurch gelöst werden sollten: Das wichtigste war, zu verstehen, wo die Fiat betrog, weil man sicher war, dass etwas nicht passte, weil es eine allgemeine Beobachtung war, dass zu diesen Konditionen zu arbeiten absurd wäre.«33
Die Delegierten gelangten im Verlauf der Untersuchung schließlich zu der Überzeugung, dass in Wirklichkeit drei verschiedene Modelle der Arbeitsorganisation bei der FIAT existierten: dass formelle des Büros »Zeiten und Methoden«, das der Produktionsleitung und schließlich die Realität am Arbeitsplatz. Die Delegierten und die Arbeiter gelangten zu der Ansicht, dass das Problem der Taktzeiten auf die Widersprüche zurückzuführen sei, die sich aus der Koexistenz dieser drei Modelle ergaben. Innerhalb der Bandkommission und auch unter den beteiligten Arbeitern traten jedoch bald Differenzen zwischen einer Position der »technischen« und der »politischen Auseinandersetzung« auf. Erstere beharrte auf der Notwendigkeit, alle drei Modelle zu studieren sowie eigene »kohärente und ›objektive‹ Formeln im Vergleich zu denen, die das Unternehmen anwendet zu entwickeln, um die Probleme der Arbeiter zu lösen und auch um eine gemeinsame Sprache zu haben«.34 Letztere setzte dagegen auf das zu dem Zeitpunkt günstige Kräfteverhältnis und einen Streik ohne lange Vorbereitung, um so das Ziel einer Reduzierung der Arbeitsbelastung auf direktem Wege zu erreichen. Die Kritiker verurteilten die Tendenz zum Technizismus und Spezialistentum. Zudem betrachteten
33 Consiglio FIAT Mirafiori: Contestazione, 1975, S. 4. Übersetzung DL. 34 Ebd., S. 6.
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sie es als absurd, auf der einen Seite gegen die bestehende fordistischtayloristische Arbeitsorganisation vorgehen, andererseits diese studieren und zum Instrument der Arbeiter machen zu wollen. Zwar wurden diese Differenzen nie wirklich aufgelöst, innerhalb der Werkstatt 26 setzte sich jedoch die »technische« Position durch. Das Sammeln von Informationen und das Studium der formellen Betriebsorganisation fiel in die Zeit großer Streikbewegungen, die 1969 und 1970 die FIAT erschütterten. Der Kreis der beteiligten Aktiven und Delegierten wuchs beständig, die erzielten Resultate waren zunächst jedoch ernüchternd. Es zeigte sich, dass bei jeder Beanstandung der offiziellen Taktzeiten das Problem immer auf ein mathematisches zurückgeführt wurde. Die FIAT gestand lediglich eine Neuberechnung zu. In so gut wie allen Fällen wurde dabei entweder auf der Korrektheit der Zeiten beharrt oder lediglich einzelne Fehler und Abweichungen zugestanden, die grundsätzliche Verfahrensweise wurde jedoch nie infrage gestellt. Daher erwuchs das Bedürfnis unter den Delegierten, sämtliche Aspekte der Aufstellung der Zeiten verhandeln zu können: die Laufzeit der Maschinen, die Erhebungsmethoden der Zeitnehmer, das Effizienzkriterium, das Verhältnis zwischen technischen Anlagen und Zeiten. Diese Forderungen fanden schließlich Eingang in den Vertrag von 1971, der eine neue Phase im Kampf um die Zeit einläutete. Der Vertrag sah eine Senkung der Auslastung auf 84 bis 88 Prozent des Produktionsvolumens vor, je nach Taktzeit der zu produzierenden Stücke (88 Prozent bei über vier, bis zu 84 Prozent bei unter einer Minute), womit erstmals die Parzellierung der Arbeit als Kriterium eingeführt wurde.35 Außerdem erhielten die neu zu konstituierenden Akkordkommissionen, die für jeden Sektor eingerichtet wurden und die älteren Bandkommissionen ablösten, das Recht sämtliche Kriterien und Methoden einzusehen, die bei der Konstituierung der Zeiten zur Anwendung kamen. Über die Interpretation dieser Vereinbarung entstanden jedoch schnell Konflikte zwischen der Gewerkschaft und der Direktion. Diese hielt eine einfache Neuberechnung der Produktionsmenge durch das Büro für Zeiten und Methoden für ausreichend, dessen Ergebnis in einer geringfügigen Reduzierung der zugewiesenen Tagesproduktion bestand. Die Delegierten und die Gewerkschaften beharrten jedoch darauf, dass die zugrundeliegenden Zeiten neu berechnet werden mussten.36 Nach mehreren heftigen Auseinandersetzungen mit den Ingenieuren und internen Diskussionen in der Akkordkommission be-
35 Zuvor war eine Auslastung von 91 Prozent möglich, da pauschal neun Prozentpunkte als Erholfaktor aufgeschlagen wurden. 36 Note zu den Erfahrungen des Delegiertenrates von FIAT-Mirafiori bezüglich des Akkords, 26.9.1972, Istituto Gramsci piemontese, Archivio FIOM, b. 767, fasc. 1.
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schlossen die Delegierten der Werkstatt 26, die maximale Auslastung für jeden einzelnen Arbeiter und jeden Arbeitsplatz zu berechnen. Dies war ein Novum, da der Bezugspunkt bis dahin immer die Arbeitsgruppe gewesen ist. Nach den Berechnungen der FIAT war die Auslastung bei allen Arbeitern in der Werkstatt 26 exakt gleich (dies weil sie mit einem Durchschnittswert operierte). Es war daher ein Leichtes für die Delegierten, über eine exemplarische Untersuchung nachzuweisen, dass die Auslastung tatsächlich zwischen den einzelnen Arbeitsstationen zum Teil stark variierte. Die Diskussion an den Bändern wurde mithilfe von Flugblättern geführt, auf denen die Akkordkommission auf Grafiken die Werte der FIAT infrage stellte. Selbst die Vorgesetzten wurden involviert, da die Meister den Argumenten der Delegierten wenig entgegenzusetzen hatten und sich für diese sogar zu interessieren begannen. Nach mehreren Streiks, die große Resonanz in der Werkstatt erhielten, gab die FIAT letztlich nach. Sie akzeptierte die Anpassung der Produktionskennziffern und der Belegschaftsstärke nach der Interpretation des Komitees.37 Die FIAT akzeptierte damit auch eine komplette Neuberechnung der Zeiten und Verteilung der Produktion für jede Arbeitsgruppe nach einem so bezeichneten bilanciamento, einer persönlichen Auslastungsbilanz. Dabei handelte es sich um ein Dokument, in dem das Verhältnis von Belegschaft und Produktion auf der Grundlage einer konkreten Bewertung der auszuführenden Aufgaben Arbeiter für Arbeiter festgelegt wurde. Jeder Wechsel in der Produktion zog auch ein neues bilanciamento nach sich, das auf Grundlage des Basiswerts erstellt wurde. Ausgehend von diesem Erfolg und einer minutiös geführten Wiederlegung der gemessenen Basiswerte, die den bilanciamenti zugrunde lagen, wurde schließlich eine Vereinbarung mit der FIAT getroffen, bis zu einer Neuberechnung und Messung der Zeiten die maximal zulässige Auslastung in der gesamten Werkstatt um vier Prozent zu senken. Diese Nachricht erregte großes Aufsehen, da es das erste mal war, dass eine Senkung der Produktion bzw. eine Erhöhung der Personalstärke ohne einen langwierigen Arbeitskampf erreicht wurde. Auch die neuen bilanciamenti, die ausgegeben wurden, erwiesen sich bald als unrealistisch, was dieses Mal selbst die Meister zugaben, die teilweise offen gegen die Direktion aufbegehrten und sich weigerten die neuen Produktionsvorgaben umzusetzen. Das Problem bestand neben offensichtlichen Fehlern darin, dass die Berechnungen anhand abstrakter Durchschnittswerte durchgeführt wurden, die eine Reihe unregelmäßig, dafür aber beständig auftretender Widerstände und Probleme in der Produktion gar nicht berücksichtigen konnten. Dies galt auch für die Erhöhung der Belegschaften an den Bändern, die von der FIAT ein-
37 Consiglio FIAT Mirafiori: Contestazione, 1975, S. 11.
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fach entsprechend der erwünschten Produktion durchgeführt wurde, ohne die konkreten Umstände vor Ort zu berücksichtigen. Das führte insbesondere an den Montagebändern zu einer starken Überfüllung, wodurch die Unfallrate noch einmal erheblich gesteigert wurde.38 Letztlich bestand die Lösung der ausgebrochenen Krise innerhalb der Betriebshierarchie wiederum darin, das anfängliche bilanciamento erneut einer Bewertung am Arbeitsplatz zu unterziehen. Hier wurden nun die Meister hinzugezogen, die durch eine Überprüfung der Operationen auf ihre Ausführbarkeit hin künftigen Problemen und Streiks vorbeugen sollten.39 Tatsächlich handelte es sich hierbei um eine teilweise neue Rolle der Meister, von denen nun nicht mehr nur erwartet wurde, die Produktionsvorgaben mit einem möglichst geringen Einsatz an Arbeitskräften zu erfüllen, sondern vielmehr potenzielle Konflikte am Arbeitsplatz im Vorfeld zu identifizieren und noch vor ihrem Entstehen vermeiden zu helfen, »als Techniker, als Koordinator der Produktion und nicht mehr bloß als ›Polizist‹«.40 Ein Teil fand sich auch dazu bereit, seine bisherige Funktion zu überdenken, der größte Teil jedoch widersetzte sich dem neuen System und opponierte offen gegen dessen Implementierung, die nicht nur mit einem Status- und Machtverlust einherging, sondern auch mit großen Unsicherheiten und Anforderungen im Umgang mit den Arbeitern bei der FIAT. Dem zeigten sich viele nicht gewachsen.41
38 Consiglio di officina 76 + 77: Indagine fatta a livello di capannone della meccanica 1 tra le traverse n 1 e n 2 per arrivare a esaminare le nocività dell'officina 76 (linee di montaggio e rep.), Istituto Gramsci piemontese, Archivo FIOM, b. 770, fasc. 1. 39 Consiglio FIAT Mirafiori: Contestazione, 1975, S. 23. 40 Ebd., S. 24. 41 Dieser Aspekt ist auch in Hinblick auf Debatten um die Rolle verschiedener Managementstrategien interessant. Insbesondere die frühe Labour-Process-Theory sah eine dominierende Tendenz zur Ausweitung von Kontrolle über den Produktionsprozess in der kapitalistischen Produktionsweise. Dies wurde mehrfach kritisiert und auch zum Teil revidiert. So werden mittlerweile auch Managementstrategien hervorgehoben, die auf die Erzielung von Konsens und Beteiligung zielen, wie etwa der HumanRelations-Ansatz. Vgl. Braverman: Arbeit, 1985, S. 45-119; Friedman: Industry, 1982, S. 77-80; Welskopp: Class Structures, 1999; Uhl: Faktor, 2010. Auch die FIAT begann in diesen Jahren entsprechende Methoden anzuwenden. Das beinhaltete vor allem Bestrebungen, die nun nicht mehr lediglich darauf zielten, die Subjektivität der Arbeiter aus der Organisation des Produktionsprozesses auszuschalten, sondern sie als Indikator für Störanfälligkeiten nutzbar zu machen. Diese neuen Methoden der Personalführung ersetzten allerdings nicht die tayloristisch-fordistische
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Unter den Arbeitern und Delegierten hatten die Erfahrungen aus den Auseinandersetzungen in der Motormontage nicht nur zu einer Verbreiterung und Verallgemeinerung des Wissens über die Werkstatt und ihrer formellen und informellen Funktionsweise, sondern auch zu einem enorm gesteigerten Selbstbewusstsein im Umgang mit der Betriebshierarchie geführt. »Heute, nach Jahren der Aktivität kann man sagen, dass alle Arbeiter, auch wenn auf unterschiedliche Weise, gewachsen sind, sich verändert haben; und der Fakt, dass der ein oder andere Delegierte zum Spezialisten geworden ist, widerspricht dem Gesagten nicht«, heißt es in einer Evaluation der Initiativen aus dem Jahre 1975.42 Die angesprochene Spezialisierung eines Teiles der Delegierten war Resultat der sehr aufwendigen und zeitraubenden Beschäftigung mit den verschiedenen Modellen der Betriebsorganisation und den vielfältigen und kleinteiligen Problemen am Arbeitsplatz. Dabei begann die Akkordkommission mit der Zeit, ihre Aktivität auf immer weitere Bereiche auszudehnen, sowohl über die Grenzen der Werkstatt hinaus, als auch auf Themen des Gesundheitsschutzes und der Qualifizierung, für die eigentlich eigene Kommissionen zuständig waren. Es entwickelte sich auch eine breitere Diskussion in den übrigen Werkstätten des Motorenwerks und im Sektionsrat. Dieser versuchte in den Folgejahren, aufbauend auf den Erfahrungen in den Werkstätten der Motormontage, das Problem der Arbeitsbelastung mit dem der Gesundheitsrisiken und der Qualifizierung zusammenzuführen und gemeinsam mit der Direktion zu verhandeln.43 Beklagt wurde jedoch, dass die Initiative über das Motorenwerk hinaus in den übrigen Sektionen kaum Resonanz fand und die Erfahrungen daher weitestgehend auf dieses beschränkt blieben.
SCHLUSS Ähnlich wie die Programme zur Humanisierung des Arbeitslebens in der BRD, fußte auch die Kampagne »Eine neue Art zu produzieren« in Italien auf Initiativen und Bestrebungen, die bis in die 1960er-Jahre zurückreichten und in denen
Arbeitsorganisation bei der FIAT, sondern ergänzten sie lediglich. Es gab zwar ebenfalls Experimente mit Montageinseln in anderen Werken, diese wurden jedoch nach wenigen Jahren eingestellt, weil sie die Produktivitätskriterien des Unternehmens nicht erfüllten. Vgl. Rollier: Mutamenti, 1977. 42 Ebd., S. 25. 43 Diese sperrte sich zunächst dagegen, weichte ihre Position aber diesbezüglich im Verlauf der Jahre 1973 und 1974 auf.
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der Arbeitsschutz eine zentrale Rolle spielte. Dabei lässt sich auch hier eine Ausweitung von der Unfallverhütung und dem Umgang mit giftigen Substanzen auf ergonomische Faktoren, wie Arbeitshaltung, und psychologische, wie Monotonie und geistige Ermüdung, feststellen.44 Bemerkenswert ist auch die Parallele bei der Verschiebung des Fokus auf Prävention und die Gestaltung der Arbeitsprozesse nach Aspekten der Lebensqualität. Hierbei lässt sich ebenfalls eine Individualisierung bei den Untersuchungsmethoden durch individuelle Datenerhebung und Risikobewertung etwa mithilfe der Gesundheitsbücher in der Lackiererei oder dem bilanciamento im Motorenwerk feststellen, ebenso wie der Versuch einer Totalisierung über die Durchsetzung neuer Normen und neuer als normal geltender Verhältnisse am Arbeitsplatz. In Italien waren dies jedoch keine staatlich getragenen Programme, sondern Initiativen der Gewerkschaftsbewegung, mit denen auf eine diffuse und oft unreguliert ablaufende Konflikthaftigeit im Betrieb reagiert wurde, weshalb sie zugleich mit Strategien der Demokratisierung und gewerkschaftlichen Gegenmacht einhergingen. Ihre konkrete Wirkung entfalteten sie höchst dezentral und fragmentarisch, im Rahmen von Konflikten und Auseinandersetzungen auf Werkstatt- und Abteilungsebene. Ein Vergleich der beiden untersuchten Fälle zeigt dabei, dass, obwohl die Arbeitsprozesse in beiden Werkstätten einige gemeinsame Charakteristiken aufwiesen (Fließbandarbeit), die Konfliktkulturen doch sehr unterschiedlich ausfielen. Dies scheint von der Sektion und der Herkunft der Arbeitskraft abhängig gewesen zu sein. In der Werkstatt 26 war die Gewerkschaft besser verankert und es gab vor 1971 bereits Erfahrungen mit einer kontinuierlichen Untersuchungsarbeit aus der Werkstatt heraus. In der Lackiererei wurde die Untersuchung der Gesundheitsschädlichkeit hingegen von außen von der Gewerkschaft herangetragen. Im Gegensatz zum Motorenwerk gelang es dabei nicht, eine längere kontinuierliche Beteiligung der Arbeiter aufrecht zu erhalten. Für den unterschiedlichen Verlauf war jedoch ebenfalls von Bedeutung, dass sich das Thema der Taktzeiten aufgrund seiner uniformen Anwendung durch die FIAT schnell von konkreten Einzelerfahrungen aus auf die gesamte Werkstatt verallgemeinern ließ und sich dadurch bald erste Resultate erzielen ließen, die die Arbeitsbelastung für alle senkten. Dagegen gelang es dem Unternehmen, das Thema der Gesundheitsschädlichkeit in der Lackiererei durch Teillösungen in einzelnen Abteilungen und eine Automatisierung der gesundheitsschädlichsten Arbeitsprozesse zu entschärfen. Es zeigte sich ebenfalls eine Tendenz in den Kommissionen, über ihre begrenzten Zuständigkeitsbereiche hinauszugehen und sämtliche Aspekte der Ar-
44 Vgl. auch den Beitrag von Nina Kleinöder in diesem Band.
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beitsbedingungen zu thematisieren. Nach den ersten Erfahrungen in der Lackiererei und der Motormontage wurde deshalb von den Gewerkschaften dazu aufgerufen, die Auseinandersetzungen stärker in den Werkstatt- und Sektionsräten zu bündeln und zu koordinieren, die die Ergebnisse der Untersuchungen der verschiedenen Kommissionen zusammentragen und daraus gemeinsame Forderungen ableiten sollten.45 Das Ziel war nichts weniger als eine Überwindung der überkommenen fordistisch-tayloristischen Arbeitsorganisation. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die »neue Art Autos zu produzieren« bei Mirafiori noch für eine ganze Weile die alte blieb, wenn auch mit einer deutlichen Senkung der Arbeitsbelastung und einer Reihe von Mechanismen versehen, die eine willkürliche Intensivierung der Arbeit erschwerten. Die Auseinandersetzungen ab 1969 hatten zu einer Trendwende bei der Arbeitsorganisation beigetragen, die in den Folgejahren aber vor allem in einer Automatisierung und Dezentralisierung der Produktion bestand. Hierauf waren die Gewerkschaften und die Delegiertenbewegung nur unzureichend vorbereitet und zeigten sich überfordert, zumal sich die Aufmerksamkeit mit dem Einsetzen der Krise ab 1973/74 immer mehr auf die Sicherung von Beschäftigung und den Kampf gegen Kurzarbeit konzentrierte.
LITERATUR Bigazzi, Duccio: Management Strategies in the Italian Car Industry 1906-1945. Fiat and Alfa Romeo, in: Tolliday/Zeitlin (Hg.): Automobile Industry, 1986, S. 76-96. Braverman, Harry: Die Arbeit im modernen Produktionsprozess, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1985. Carnevale, Francesco/Baldasseroni, Alberto: Mal da lavoro. Storia della salute dei lavoratori, Rom 1999. Causarano, Pietro: La fabbrica fordista e il conflitto industriale, in: Musso (Hg.): Storia, 2015, S. 59-101. Cella, Gian Primo: Organizzazione produttiva e alienazione, in: Dibattito sindacale, 7 (1970) 1, S. 16-29. Cella, Gian Primo: Culture sindacali e modelli di relazioni industriali, in: Musso (Hg.): Storia, 2015, S. 489-523.
45 Vgl. dazu das Dokument Nota per i delegati nella carrozzeria, 17.4.1972, Istituto Gramsci piemontese, b. 768, fasc. 1.
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304 | Dietmar Lange
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Humanization of Work in Scandinavia, 1960-1990 Strategies Against Problems of the Modern Industrial Work Maths Isacson
From the mid-1960s to the 1990s, a number of reform efforts were carried out in Scandinavian industries in order to create more humane working conditions. Economic growth and rising prosperity had occurred at the price of work pace, stress injuries and a perceived lack of influence in companies. As resistance among employees grew, reform strategies were developed and tested. With humane working conditions, I refer to efforts aimed at reducing physical and mental pressure, reducing injury risks, increasing employees’ influence and utilizing their knowledge. Three reform strategies were used in Scandinavia. One was political. Through laws and regulations with the state as a central actor, working hours per week were reduced from 48 to 37 or 40, vacation was extended from three to five weeks, job security was improved, a public social security system was introduced, the employee participation in companies was extended and demands regarding working conditions were intensified. Furthermore, the retirement age was reduced by two years to 65 years. The 1970s mark the peak of this reform strategy. The second strategy comprised of central agreements between the labor market’s main organizations without the government’s involvement. The agreements were a major part of the Nordic model, most important in Sweden.1 This model was based on partners in the labor market who negotiated in matters relating to production without sacrificing their basic principles: the right of association and collective agreements and the right to manage and delegate work, respectively.
1
Hilson: Nordic Model, 2008.
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Central agreements restricted the employers’ power to some extent and strengthened employees’ involvement in production through the trade unions. The agreements required a high level of membership, a strong union economy that could cope with long-term conflicts, knowledgeable ombudsmen and negotiators at the central and local levels. During the 1970s and 1980s, the union movement advanced its position and stretched the limits of its influence. When agreements yielded poor returns, the trade unions turned to the political level. In Sweden, in the 1970s, the parliament introduced a number of labor laws regarding board representation, work environment, employment protection and union shop steward’s participation.2 The third reform strategy brought the demand for humanization, power and influence down to the factory floor. It challenged industrial capitalism’s common way of organizing and managing work, but was at the same time necessary for its survival. This strategy was most intensive in Norway and Sweden, where the different actors, for various reasons, became involved in the reform work. Business executives wanted to solve recruitment and staffing problems, reduce costs arising from sharpened competition and end the conflicts. The trade unions’ goal was to raise the value of work, provide scope for their members’ knowledge of work, increase their influence, and improve their health and wages. The state wanted to reduce the sick leave that hollowed the state budget and created distress in society. Researchers were involved in the reform work. Everyday experiences, scientific theories and practical attempts were merged to create a more humane, efficient and less conflict-ridden working life. The focus of this chapter is on the third reform strategy. However, to explain why the humanization of work became an important issue during the 1960s, I start with a description of the main features of the post-war economic history of Scandinavia (Norway, Sweden and Denmark).
THE EXPANSIVE POST-WAR DECADES At the end of the Second World War, there was a fear in the industrialized world for a new economic crisis, as well as after the First World War. Infrastructure in Europe was demolished and people were suffering. The outcome of the 1919 peace treaty was a warning example. To prevent the spread of communism, the United States government provided financial assistance – the Marshall Plan – to
2
Lundh: Spelets regler, 2002, p. 254.
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the Western European countries, including the Nordic ones. The reconstruction took off and the economies of the countries soon recovered. From the mid-1940s to mid-1970s, the industrialized world experienced strong economic growth. In fixed prices, per capita gross domestic product (GDP) in Western Europe grew by almost four per cent each year on average, slightly lower in Scandinavia.3 In the northern countries, industry and foreign trade were the engines of economic growth. The service sector also grew, while agriculture fell in economic terms, and even more in terms of employment. People moved from rural areas to industrial centers and cities, to better paid jobs in industry and the service sector.4 During the decades after 1945, the countries in Scandinavia became welfare societies with the rational industry as a model for other economic sectors.5 This was a period when the Social Democrats alone or in cooperation with bourgeois parties held the government. In the labor market, coordinated wage negotiations reduced the number of conflicts and limited wage increases in the important export industry.6 Real wages rose and with this consumption, taxes and the public sector’s share of GDP. States and municipalities became as important as employers when education, health and social care expanded.7 In Sweden, from the 1930s, industry and construction were, in terms of the number of employed and as a share of GDP, more important than agriculture and forestry. In 1965 almost 45 percent of the workforce in Sweden was employed in industrial and construction companies.8 The engineering industry was most important with almost half of all industrial employees. It was in this industry that rationalization was carried out most intensively, and problems first arose. The process-oriented iron and steel industry was also of importance for the economy, as was the cellulose industry.9 The industrial sector in Denmark reached its peak in the mid-1960s, but the share of industrial and construction workers was not more than 35 percent. Agriculture was of major economic importance and the food industry competitive. In
3
Maddison: World Economy, 2001, p. 265; Schön: Vår världs, 2010, pp. 205-207.
4
Flygare/Isacson: Tension, 2011.
5
Fellman/Isacson: High-Industrial, 2007.
6
Lundh: Spelets, 2002, p. 206.
7
Nordic Statistical Yearbook.
8
Historia.se. Labor market, tab.2.
9
Gråbacke: Internationalisering, 2008, p. 47; Schön: Sweden´s road, 2010, pp. 409, 420-424.
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addition, a range of specialty products had large sales abroad: pharmaceuticals, electronics, machines for the food industry and ships.10 In Norway it was not until the mid-1950s that industry employed more people than agriculture, forestry and fishing. The state gave an active support for agriculture throughout the country and the sea fishing along the coast was extensive. The industrial and construction sectors’ share of all employees rose from 20 percent in the mid-1940s to 23 percent in 1974 before the curve turned down.11 Also in Norway, the engineering industry employed most industrial workers. With shipyards, this industry’s share of all industrial employees was 35 percent. Furthermore, Norway had a significant aluminum and fertilizer industry, and a forest industry that utilized the water power of the rivers.12 Men worked in industry and construction, while women from the 1950s were employed in public and private service sectors. Men worked with machines and had managerial tasks, women worked with people in less well-paid jobs. Up to the 1960s, women also worked in the textile, clothing and food industries. When these factories were closed, the number of women in industry fell.13 Sweden’s labor market was the largest in the Nordic region and grew rapidly. The mines, steelworks and workshops had to recruit new people continuously. One way was to locate factories in regions where farms had been shut down or mechanized.14 To spread out the factories and filling them with men and women from rural areas was however not sufficient when the demand continued to rise. Swedish industrial companies went abroad. During the decades of economic growth, the need for workers was partly solved through immigration from Finland and Yugoslavia. In 1954 the Nordic labor market was opened.15 In 1972 over half of the workforce on the shop floor at Volvo car factory in Gothenburg was immigrants.16 A comparison with other countries in Europe shows that the number of industrial employees in Sweden and Denmark peaked in 1965, one year before Britain, five years before West Germany, and nine years before Norway and France. For Sweden, and partly for Denmark, one explanation is that these countries came out of the Second World War with intact but gradually outdated in-
10 Berner: Oversigten, 2001, p. 13. 11 Skoglund: Industrisysselsettingen, 2008, p. 76. 12 Ibid., p. 80. 13 Schön: Sweden´s Road, 2010, pp. 366-367. 14 Isacson: Going, 2007. 15 Lundh: Spelets, 2002, pp. 204-205; Lundh: Invandringen, 2005. 16 Berggren: Changes, 1980, p. 240.
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dustrial companies that had experienced »good days« during years with high demands from war disabled countries. This came to an end when foreign companies could produce goods with more efficient technology, in larger series and at lower costs. In Sweden, both wages and employer’s fees rose more than in other countries, which subsequently cancelled the industrial companies’ previous competitive advantages. In Norway, which also belonged to the war-affected countries, the forestry and metal industries were able to assert themselves on the market thanks to the good supply of hydro power. The metal industry, which tested new grips at an early stage, was, as in Sweden, however affected by the increased international competition. The changed competition and higher labor costs explain the interest in Scandinavia from the mid-1960s to renew the work organization. This was however not enough. The renewal was also a response to a growing dissatisfaction with the working environment, channeled through trade unions, and through new ideas to organize industrial work. Industry restructured The industrial growth came to an abrupt end in Western Europe, including Scandinavia, after the oil-producing countries, through their cooperative organization OPEC, drastically raised oil prices twice in the 1970s. The price increases hit energy-intensive industrial companies very hard. Their profitability had already deteriorated in competition with companies in low-wage countries and additionally a high inflation rate. Sweden and Denmark experienced several years of falling GDP and rising unemployment.17 Primarily the steel industry, shipyards and the cellulose industry were hit. The Swedish government supplied several billion crowns to save big companies in crisis. The shipyards could not be saved, while the steel industry was restructured in cooperation between companies, unions and the state.18 Norwegian shipyards and metal companies also experienced problems following oil price increases but were able to recover because major oil and gas deposits were discovered in the North Sea in the late 1960s. These deposits provid-
17 Maddison: World Economy, 2001, pp. 272-273; Schön: Sweden´s Road, 2010, ch. 6; Historia.se 18 Schön: Sweden´s Road, 2010, pp. 420-424.
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ed shipyards and mechanical workshops with a new market when ships, oil platforms and countless installations were needed at sea.19 Denmark experienced several difficult years and chose to become a member of the European Community (the predecessor of the European Union). In Sweden, it was not until the mid-1980s that the economy recovered with unemployment at a politically acceptable level (2 to 2.5 percent).20
RATIONALIZATION MOVEMENT In Scandinavia rationalization became a key concept among the industrialists from the 1920s. It meant to study and plan work using scientific methods in order to better utilize business resources.21 The rationalization movement was inspired by the American engineer Frederick W. Taylor’s writings. Attempts to implement the Taylor program in Scandinavian industrial companies in the 1910s and 1920s, however, did not go very well. Workers and supervisors pushed back against it.22 Instead, from the end of the 1920s, a modified form gained entry into larger engineering and clothing companies that could set up planning and control departments and employ supervisors. Before the 1940s the Scandinavian industrial companies were overall relatively small and mostly lacked a mass market.23 Most factories produced goods of various dimensions and grades in small batches. Production was thus difficult to plan in advance. Therefore, skilled workers were required; workers who could make their own decisions. However, assembly lines were also introduced in Scandinavia, for instance in Ford’s factory in Copenhagen, in Nyman’s bike factory in Uppsala and in the clothing industry in the areas of Borås.24 In Norway, assembly lines were similarly used during the interwar period. Yet here, as well as in Sweden and Denmark, it was only at the end of the 1940s that markets grew and mass production accelerated.25
19 Smith-Solbakken: Oljehistorie, 2018. 20 Statistiskt Centralbyrån/SCB: Sysselsättning, 2005. 21 De Geer: Rationaliseringsrörelsen, 1978, p. 47. 22 Johansson: Arbetarrörelsen, 1990, ch. 7; Magnusson: Arbetet, 1987, ch. 5. 23 Jörgensen: Rational. 2007, p. 70. 24 Jörgensen: Rational 2007; Darphin: Nymans, 1995, p. 113; Wikander: Algots, 1995; Brunnström: Fabriken, 1990. 25 Johansen: Forsök, 2015 p. 51; Schön: Sweden´s Road, 2010, pp. 283, 363.
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The rising demand from the late 1940s made the transition to the mass production of standard consumer goods possible. This was followed by investments in conveyer belts, specialization and an increased division of labor. With the MTM-system (Method-Time-Measurement) from the beginning of the 1950s, basic movements could be mapped based on the working method and operating time. In Sweden, the car company Volvo was first with MTM. It worked well in the engine factory and was soon introduced into Volvo’s other factories and spread to other mass-production companies.26 Companies that produced capital goods and exclusive consumer goods retained a more mixed production. Workers contributed to the productivity increase through their skills, own tricks and tools, attracted by the piecework’s possibilities for higher pay through »wage drift«.27 Even in such companies, work study methodology was refined. Simpler tasks were isolated and handed over to unskilled workers. Productivity increased with new technology, time studies and piecework.28 Most industrialists in Scandinavia accepted trade unions from the beginning of the 20th century. Collective agreements were concluded and trade unions were soon involved in the rationalization work. Psychology, in accordance with the principles of the Human Relations School, became one tool to create a sense of participation and community in companies. From the 1930s, these principles began to gain acceptance within industrial companies.29 Industrial peace and cooperation The confrontation policy of the 1920s resulted in many disruptions in production. Sweden had the greatest number of conflicts per hour worked in the western world. In Denmark, the conflicts were fewer, but more people were involved.30 From the 1930s, organized capitalism gained momentum in Scandinavia. Industrial peace would be achieved through negotiations and agreements on issues related to production. In Scandinavia, the governments and parliaments took the overall responsibility for social welfare. Employers tried to avoid legislation that, with social-
26 Luthman: MTM, 1990, pp. 22, 27. 27 Ibid., p. 11; Isacson: Industrisamhället, 2007, ch. 7. 28 Isacson: Industrisamhället, 2007, p. 110. 29 De Geer: Rationaliseringsrörelsen, 1978, pp. 93, 98-102; Björkman/Lundqvist: MAX, 1981, p. 30. 30 Nilsson: Septemberforliget, 2001, p. 14.
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democratic governments, would limit their power and income. The trade unions had long experience of negotiations and considered them strong enough to negotiate good agreements. In Norway, the partners on the labor market concluded a main agreement in 1935 and in Sweden in late autumn 1938.31 The agreements secured work peace, strengthened the trade union movement and, to some extent, restricted the employers’ power.32 In Denmark, the main organizations in the 1930s modified their basic agreement from the turn of the century. In the mid-1940s, a cooperation agreement was added that expanded employee participation in management decisions.33 In Sweden, the main agreement was completed in the 1940s with special agreements on occupational safety, occupational boards and work studies. In Norway, the main organizations Norwegian Confederation of Trade Unions (NCTU) and the Norwegian Employers’ Association (NAF) signed a time study agreement in 1947.34 The year before, NCTU had established a rationalization office that proposed work and time studies.35 With increased productivity, the possibilities for wage increases also improved. In the early 1940s, the Swedish Metalworkers’ Federation initiated a study program aimed at increasing knowledge about time study issues and the contractual rights of its members. The studies were based on a book published by the industrial employers.36 During the 1950s, the number of members who followed the Metalworker’s Federation courses in work studies and work evaluation increased.37 With the main and subsequent agreements, the reformist trade union movement in Scandinavia abandoned the previously negative attitude towards the rationalization movement. Real wages rose steadily during the decades after WWII.38
31 Bull: Retten, 1975, p. 21; Schön: Sweden´s Road, 2010, p. 298; Nilsson: Septemberforliget, 2001, p. 19. 32 Ibid. 33 Ibid.; Knudsen: Demokrati, 1997. 34 Forrás: Arbeidet, 2015. 35 Johansen: Forsök,2015, p. 52. 36 Ager: Sällfors, 1943. 37 Isacson: Arbetets, 2008, p. 672. 38 Historia.se, Löner/wages.
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From adaptation to the new conditions to concern and resistance During the 1950s, social scientists and politicians were interested in how well people adapted to the modern industrial society. Overall, the picture was positive. Problems in the form of sick leave and staff turnover were individualized. One question for the researchers was the extent to which full and semi-automatic machines increased or decreased the need for qualifications.39 Above all, they were interested in the relationship between well-being, »a good spirit« (morale) and the productivity of companies.40 According to Elton Mayo, the »spirit« showed whether employees identified themselves with the company and its objectives. Their motivation and participation in the organization’s development was considered decisive for productivity.41 Swedish sociologists argued that more information and participation improved well-being and increased production. The 1946 Company Board Agreement was approved to contribute to this.42 From the 1950s, the labor market policy in Scandinavia was characterized by consensus.43 Workers’ well-being was more important than influence over work planning and implementation.44 Good communication within companies was praised, but by the 1960s, the workers’ dissatisfaction with the information they got and their ability to influence working conditions grew. Staff turnover and the number of spontaneous strikes increased.45 Large mass-producing companies had difficulties recruiting and retaining workers. Arthur M. Ross and Paul T. Hartman’s pronouncement in 1960 that the strike was an outdated form of struggle in the complex post-war society was ill-suited with reality.46 Strikes The data about the number of strikes in Scandinavia, analyzed by researchers, indicates a growing number of strikes and strike days from the mid-1960s with
39 Björkman/Lundqvist: MAX, 1981, pp. 159-162. 40 Ibid, ch. 2. 41 Claussen: Ingeniörtradisjoner,1998, pp. 16-18. 42 Björkman/Lundqvist: MAX, 1981, pp. 29-43. 43 Birke: Strejker, 2007. 44 Björkman/Lundqvist: MAX, 1981, pp. 379-80. 45 Ibid., pp. 37-40. 46 Ross/Hartman: Changing, 1960.
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the peak ten years later. Norway had a peak 1969-1971 and a new one in 1976. In Sweden, the number of strikes rose 1969-1970, after which they first decreased and increased again in 1974. Denmark also had a strong increase in strikes around 1970, followed by a certain decline and a new rise again after some years. From the mid-1970s the strike wave subsided.47 Several factors explain the strike rate: wages and inflation, political/ideological shifts in society, the role of trade union organizations, rationalization and the working environment.48 The work organization and the working environment were not as significant as the dissatisfaction with wages, but were not unimportant factors.49 Fordism and the MTM system clearly encountered a growing resistance among workers.50 For the trade union movement, research became a tool that provided more knowledge about working conditions and laid the foundation for long-term union policy work. In 1963, the Sweden Metalworkers Federation already initiated a sociological survey of the causes of wildcat strikes in the metal industry. It showed that the strikes were numerous at car factories with a few skilled workers and lots of piecework, as well as at large workshops with heavy manufacturing and many skilled workers.51 In the Swedish car factories the usual cycle time was 1.5 minutes (36 seconds in the US).52 The strike in the minefields in northern Sweden at the turn of the year 1969/70 gave a clear signal of the dissatisfaction with the work environment, company information and piecework system. The strike affected 5,000 workers and was followed by a series of strikes in Sweden and gained political importance in terms of labor laws.53
ORGANIZATION AND DEMOCRATIZATION OF WORK Around 1960, democratization of work became a political issue in Scandinavia. However, what theory of governance would be used for democratization? Inspiration was taken from a number of thinkers, theories and countries. The theory
47 Thörnqvist: Strejkrörelser, 1994, ch. 4; Birke: Strejker, 2007. 48 Thörnqvist: Strejkrörelser, 1994, pp. 61-76. 49 Ibid., p. 143. 50 Berggren/Greiff: Svensk historia, 2000, p. 282. 51 Isacson: Metalls, 2016. 52 Berggren: Changes, 1980, p. 240. 53 Nilsson Mohammadi: Kiruna, 2018.
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that became important in Scandinavia was the socio-technical, designed at the Tavistock Institute of Human Relations in London from the late 1940s.54 In Scandinavia, the theory came to bear Fred Emery's signature when it was introduced, which included »a strategy for change« in companies and in society. His critical reform theory was inspired by the Frankfurt School and especially Marcuse’s writings.55 Emery was critical of hierarchical organizations and strategic planning. Leadership was to strengthen solidarity and the community between people. Democracy thus became a key element in the socio-technical theory and in the reform process that was initiated in Scandinavia during the 1960s.56 Norway The theory was taken to Scandinavia by Einar Thorsrud, a psychologist who worked at the Norwegian University of Technology.57 Thorsrud and Emery also began a close cooperation. In the autumn of 1961, the Norwegian Confederation of Trade Unions (NCTU) established a cooperation committee under the leadership of the chairman of the Norwegian iron and metal industry workers' union. Its task was to investigate issues about the democratization of work. The Norwegian employers’ association (NAF) and the Norwegian Confederation of Industry, however, were concerned about a too »ideologically tinged program«. Instead they proposed a joint research project. The proposal received support from the newly established collaborative project between NCTU and NAF. The assignment went to Einar Thorsrud. He, like Fred Emery, was interested in practically testing the socio-technical theory. At the request of the union chairman of the cooperation committee, Thorsrud first examined the experience of employee representation in Norway and internationally. His conclusion was that board representation was not an effective way of »promoting the main goals of industrial democracy«.58 Instead, Thorsrud and Emery initiated trial programs in larger Norwegian industrial metal companies, the first at Christiania Spigerverk. The purpose was not to fundamentally change the factory but to start a process that »would change the whole of the western world’s industry«.59 Another early attempt with clear
54 Johansen: Forsök, 2015, p. 55. 55 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 69; Emery: Socio-Technical, 1972. 56 Gustavsen: Reformer, 1987, pp. 26-27. 57 Gustavsen: Vägen, 1990, ch. IV; Johansen: Forsök, 2015. 58 Johansen: Forsök, 2015, pp. 55-56. 59 Gustavsen: Reformer, 1987, p. 28.
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practical results was carried out at Hunsfos paper mill in Vennesla. Here the division of labor had created hierarchies, a high rate of sick leave and a constant need for relocations to manage the personal crew. The result was additional costs. The researchers therefore proposed increased flexibility through learning, job rotation and team work with some self-government. The proposal met with resistance. Foremen were concerned about their role if self-governing teams were introduced, while individual workers worried that they would lose in salary and status. Protests were carried out, and the reform attempt nearly stopped, but it continued and, according to the researchers, resulted in effective internal flexibility.60 In the mid-1960s, four practical experiments were conducted in cooperation between NCTU and NAF based on the socio-technical theory. Emery and Thorsrud organized the Norwegian field attempts and wrote reports before and after.61 The company’s work organization was studied and changes were initiated. The information improved, as did learning among employees. An important feature was »self-governing groups«. The researchers found that the reforms increased well-being, skills, interest in work and reduced absence. In addition, they showed that productivity increased.62 Norwegian trade unions initially had high expectations of the field attempts. The Iron and Metalworkers Federation, however, became critical afterwards. The union did not mind the fact that the work content was broadened and that the experiment provided knowledge of how well-being could be improved. The criticism was that the attempts were aimed at democratic forms in the daily work. Instead, they should focus on increasing the »employees’ real influence over the companies’ organization«.63 The union therefore started its own research project based on the members’ »own perceptions, wishes and needs«. The goal was to change the power balance at workplaces and to give workers influence over the introduction and use of new technologies. In 1971, such a project was started, but unknown why not with Emery and Thorsrud as project managers. It went on for two years at four metal companies and involved union-organized workers. They developed their own strategies for the introduction of new technology in
60 Johansen: Forsök, 2015, pp. 56-58. 61 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 71; Thorsrud/Emery: Industrielt demokrati, 1964; Emery/Thorsrud: Democracy, 1976. 62 Johansen: Forsök, 2015, p. 59. 63 Ibid., p. 60.
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order to replace the rigid specialization with a flexible work organization and training for more tasks.64 In the early 1970s, the number of Norwegian field attempts decreased due to difficulties in spreading the results and reform efforts to other industrial companies. One explanation is that companies with process manufacturing of cellulose, metals and chemical products had less need for a flexible work organization and self-governing teams.65 The reform attempts within the framework of the NCTU/NAF cooperation continued but focused more on practical changes than on the use of »structural theory«. The aim was to increase self-governing and flexibility at workplaces. The researchers and practitioners became more equal in the development work. Shortly after the mid-1970s, »job design workshops« were launched to achieve effective changes in working life. A few years later, the Norwegian Work Environment Act was supplemented with new organizational principles which in 1982 were sanctioned in an agreement between the partners on the Norwegian labor market.66 Sweden From the mid-1960s Norway stood at the forefront of working life’s humanization in Western Europe. Sweden soon followed.67 The Swedish Trade Union Confederation (LO) and Metalworkers Federation discussed at several congresses how democracy could be deepened. Metalworkers Federation conducted and participated in official investigations that touched upon the organization of work. Towards the end of the 1960s, the newly launched »Development Council for Cooperation« initiated a project that was inspired by the reform work in Norway. In the council, employers and white and blue collar workers were represented by their main organizations. The Development Council early published a report on the Norwegian attempts regarding autonomous teams, written by Thorsrud and Emery.68 The Development Council's Research Group (URAF) initiated pilot projects in Swedish industrial companies. Around ten URAF projects started at the turn of the 1970s. The results became important for the continued work. The partners
64 Johansen: Forsök, 2015, pp. 60-64. 65 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 85. 66 Gustavsen: Reformer, 1987, p. 30. 67 Berggren: Changes, 1980. 68 Thorsrud/Emery: Medinflytande, 1969.
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on the labor market participated but could not agree on how to proceed. The attempts were completed after a few years and the development council was disbanded in 1977. But the idea of a team organization had won support among employers and union leaders. The local reform work continued in the 1970s in cooperation between companies and trade unions, or by companies supported by the Swedish employers’ association (SAF). Researchers were often involved in the projects. Through the Norwegian researcher Björn Gustavsen they had an intermediary link to the ongoing renewal work in Norway. 69 Car companies Saab and Volvo conducted limited attempts in the early 1970s, as did larger engineering companies, such as ASEA (General Swedish Electric Company) and the telecommunications company Ericsson. Soon, the efforts were extended to more full-scale initiatives.70 Volvo engaged in the most attention-getting and for its time boldest initiative. In 1974, the company opened a new factory in Kalmar. The assembly line was retained, but work teams performed their tasks at small workshops along the line. The workers were still dependent on the rhythm of the line, but the work cycles were extended. 71 During the 1970s, SAF organized conferences about new forms of work and published books on this theme. By the end of the 1970s, the conversion of work had accelerated even though it affected a small part of all Swedish industrial companies. But the share of piece wages diminished, in the metal industry from 65 to 38 percent in the years 1965-1980, a demand made during many strikes.72 However, the economic downturn in the mid-1970s slowed down the reform efforts in the companies. Yet the 1970s was a decade when the Swedish parliament appointed several new labor laws which, not least, intended to deepen the economic democracy. The laws encouraged and strengthened the trade union movement. Investigators and ombudsmen were employed at the union offices with the task of implementing the laws on co-determination and working environment. New research projects were initiated through an additional employer`s fee that involved companies, trade unions and researchers. The Metalworkers Federation was particularly active. It focused early on the work organization in companies, inspired by the reform work in Norway, and strengthened by members’ complaints and reports of problems in Swedish workplaces. Also important
69 Gustavsen: Vägen, 1990. 70 Isacson: Arbetets, 2008, p. 691. 71 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 75; Isacson: Arbetets organisering, 2017, p. 475; Berggren: Nya bilarbetet, 1990. 72 Gråbacke: Internationalisering, 2008, p. 72.
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was the debate and research that followed upon Harry Braverman’s book about the degradation of work in the twentieth century.73 Metalworkers Federation established contacts with researchers who carried out company studies on the working environment, the content of the work and participation. These studies were also important when the major engineering companies such as Ericsson, Volvo and SKF (Swedish Ball Bearing Factory) invested in automation with industrial robots as basic components. The Metalworkers Federation subsequently increased its ambitions, conducted investigations, participated in trials, initiated education and wrote reports.74 Around 1980, work expansion and job rotation were key concepts in the reform work. With the Participation Act 1977 and a work organization in accordance with the socio-technical theory, the influence of metal workers would be strengthened in companies. This was the explicit goal of Metalworkers Federation and LO in the early 1980s. In 1985, Metalworkers Federation presented after years of planning a well-developed program for »Good Employment« at its congress. It contained nine principles as well as a two-part strategy for the development of work and ended with a requirement for a renewal of the union organization. Knowledge would be strengthened through study activities, culture and information activities.75 In the first pages of the program, it was emphasized (to calm the employers) that there was no contradiction between good working and employment conditions and a rational and efficient production. The report as a whole had a positive view of new technology, but Metalworkers Federation required that the workers had to be involved in a renewal of working conditions. The vision was presented in more detail in nine points: 1. Security of employment. 2. Fair distribution of production results. 3. Democratization. 4. Collaboration on the workshop floor (team work). 5. Skilled knowledge (whole work). 6. Education. 7. Working hours after social needs. 8. Increased equality. 9. Improved working environment. The first part of the two-part strategy focused on the workplace and the development of work. The strategy would be implemented through a long-term development of positions supported by wage forms, a work organization based on teams without a detailed division of labor and ongoing education. The labor teams would take over duties from the foremen and the remaining ones would provide service to the teams.
73 Braverman: Labor, 1974. 74 Isacson: Arbetets, 2008. 75 Ibid.
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The second strategy concerned the level of society and industrial development. An active technology policy that involved unions was required. In this way, new machines and control systems would function in a work organization based on teams. The research needed to be strengthened, as did the trade union movement’s influence over investment funds and regional policy initiatives.76 In the years following the congress, Metalworkers Federation prepared guidelines for local development projects, provided support to local union clubs and conducted training. The »annual follow-up« to the Federation in September 1988 revealed ongoing projects at 23 major workplaces. At the next congress in 1989, the union presented a program for the 1990s that reconnected to the 1985 program. Focus was on the development of work and the trade union movement’s influence over wage formation. Emphasis was placed on qualifications, work content and the environmental impact.77
1980s AND BEYOND A Swedish researcher involved in the reform work from around 1970 makes the following comment half a century later. »The Norwegians were an important source of inspiration for the URAF family where I participated. They had a stated ambition to strengthen democracy in society as a whole through changes in workplaces. With more psychology and strengthened self-esteem than power, I think one can say. But the development took several paths there like here ... there were quite a few ›schools‹.«78 How successful was the effort to create a more humane and more democratic work through team work, job expansion and job rotation? Reports presented in Sweden by companies and unions provide a mixed picture. Often the attempts were reported in positive terms, sometimes after initial problems. What happened in the long run is more uncertain. The decisive factor was that the company and the local union were in agreement and could cooperate. In such cases, the results were often good. Other times the attempts were interrupted. Engineers, workers and/or foremen could be quite difficult. Sometimes education, modifications, and the departure of the critics were required before the reorganization was possible.79
76 Isacson: Metalls, 2016, pp. 126-127. 77 Isacson: Arbetets organisering, 2017. 78 Christer Marking, mail 2018-07-30. 79 Isacson: Arbetets organisering, 2017, pp. 499-506; Sandberg: Forskning, 1981.
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Renewal work at its peak In Denmark, the metal industry in the 1970s also initiated projects aimed at democratizing of work in accordance with socio-technical theory.80 I do not know if the projects inspired companies and trade unions in other industries, but it is likely. In Norway and Sweden, however, reform work was conducted with some success during the 1970s and 1980s. There were also projects other than those I have mentioned above that aimed to change the work organization and increase employee influence over their work. One was DEMOS (Democratic governance and planning) from 1975 to 1980. It focused on the consequences of computerization in Sweden. Its prime concern was how employees should be able to influence organization and planning of work in companies. It was followed by UTOPIA, a Nordic research project on trade union development of and education in computer technology and work organization. The goal was to develop powerful computer-aided tools for skilled graphic workers with quality in both work and products. Graphic workers, computer scientists and sociologists cooperated during five years (1981-1985) with support from the Scandinavian Graphic Workers’ Union, the universities of Stockholm in Sweden and Aarhus in Denmark. 81 An estimate in Norway at the end of the 1980s showed that about one fifth of industrial workplaces had, in some way, been inspired by the cooperation that NCTU/NAF initiated in the mid-1960s.82 The economic growth in Sweden in the mid-1980s increased the interest in reforms of working conditions again among managers, union leaders and politicians. The car companies Volvo and Saab invested in brand new car factories without assembly lines where the workers were to perform a number of tasks, work in teams that decided how the work was to be performed and recruit new members. That was the initial idea, but it was difficult to realize. Volvo pursued this ambition the longest in its new assembly plant in Uddevalla, opened in 1989. A rigid, controlled mass production with assembly lines was replaced by flexible, customer-driven production with the work team at the center. The »car builder« replaced the piece worker.83
80 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 75. 81 Ehn: Datorer, 1987, p. 48; Lundin: Den skandinaviska, 2008. For other research projects with the same ambition, see Sandberg: Ledning, 1987. 82 Gustavsen: Reformer, 1987, p. 30. 83 Isacson: Arbetets organisering, 2017, pp. 482-484; Berggren: Nya bilarbetet, 1990.
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Trade unions participated in the planning of this new factory. At Saab’s car factory in Malmö, which was opened at about the same time, the company did not go as far, but here too the traditional way of building cars was to some extent ended.84 At the same time, the Swedish government initiated several official investigations, including a large work environment commission. Its task was to present proposals for actions to »change working conditions that cause harm and ill health«, costs for companies and society and suffering for individuals.85 One of the commission’s conclusions was that work »with meager content and limited influence is associated with a variety of health problems«. The solution was to change working life »so that most people are assigned tasks that they perceive as meaningful and that they themselves can influence«.86 Repetitive, monotonous industrial work was condemned. With an extra fee on industrial companies, the government allocated funds for the reform. Over five years, 25,000 programs were carried out, primarily in smaller companies and organizations, for the development of the work organization, competence, work environment and rehabilitation. At the same time, the Labor Environment Fund initiated a major effort in 70 workplaces with the aim of changing jobs through technical, organizational and ergonomic measures.87 The decline In Sweden, the reform work slowed down in the early 1990s because of the recession, which in a short period of time increased unemployment on the entire Swedish labor market to 14 percent.88 Other issues became more important to all actors. The number of trade union members decreased and fewer people worked at union offices with questions about work organization and work environment. Automatization, computerization and globalization were more important issues for companies and trade unions during the 1990s. The researchers addressed other questions and turned to new collaborations. Business owners listened more to US consultants who offered programs for increased flexibility and cost-effective production. Concepts like just-in-time, outsourcing, downsizing, and lean production came into fashion. Volvo closed its factories in Kalmar and Uddevalla
84 Isacson: Arbetets organisering, 2017, pp. 506-507. 85 Ibid., p. 490. 86 Kartläggningsgruppen: Arbeten utsatta, 1990, p. 61. 87 Isacson: Arbetets organisering, 2017, pp. 491-492. 88 http://www.Historia.se.
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and prioritized the older plant in Gothenburg, and Saab phased out its factory in Malmö. Computerization accelerated the shift towards lean production. It became common with individual employment and wage settlements. Qualification requirements rose for some and decreased for others, while polarization grew. The neoliberal winds interrupted the cooperation between employers and trade unions. Demands on employees increased and the rate of sick leave grew again.89 Metalworkers Federation's commitment to »the Good Employment« also slowed down during the economic crisis when 24 percent of its members were unemployed. However, the program did not disappear and was reactivated after a few years. However, its success was limited. The line was reinstated in the assembly halls when the lean system won entry with elements of flexibility and teamwork. Were the humanization efforts done in vain? Björn Gustavsen, a researcher involved in the reform work in the 1970s and 1980s with a good knowledge of what was done in Norway and Sweden concluded in an evaluation that »although no one succeeded in creating a broad change in working life in the short term, all these projects and attempts were not ineffective. Firstly, a series of processes were initiated which subsequently became broader even though it took considerably longer time than originally thought. In part, practical examples created an extensive discussion [...]. However, the discussions occurred more in the workplace than among the researchers.«90
He wrote this in 1990, the year before Sweden was hit by a deep recession. The trade unions had to deal with other issues while the government cut fundings and companies that survived rationalized, with increased automatization, flexibility and lean production for a global market as the keywords.
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89 Isacson: Metalls, 2016, pp. 129. 90 Gustavsen: Vägen, 1990, p. 91.
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Autorinnen und Autoren
Ahlheim, Hannah, Professorin für Zeitgeschichte an der Justus-LiebigUniversität Gießen ([email protected]) Studium der Neueren/Neuesten Geschichte, Alten Geschichte und Theaterwissenschaften/Kulturellen Kommunikation an der HU Berlin, 2008 Promotion an der RuhrUniversität Bochum, 2016 Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Georg-August Universität Göttingen. Wichtigste Publikationen: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, 2. Aufl., Göttingen 2012; Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit, Göttingen 2018. Dietz, Bernhard, Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz ([email protected]). Dort forscht Dietz zu Wertewandelsprozessen im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nach dem Studium in Mainz, Berlin und Brighton ging er 2005 für einen vierjährigen Forschungs- und Lehraufenthalt nach London und wurde 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. 2012 war er Visiting Lecturer an der University of Glasgow; 2016/17 Research Fellow an der Georgetown University Washington. 2019 hat er sein Habilitationsverfahren an der Johannes Gutenberg-Universität abgeschlossen. Wichtigste Veröffentlichungen: mit Jörg Neuheiser (Hg.): Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, München 2016; Neo-Tories. British Conservatives in Rebellion Against Democracy and Political Modernity, 1929-39, London 2018. Fuhrich, Gina, Historisches Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ([email protected]). Nach dem Master-Studium der Neueren und Neuesten Geschichte ist Gina Fuhrich seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur der Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Historischen
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Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Ihre Dissertation »Humanisierung oder Rationalisierung? Die betriebliche Umsetzung des politischen Programms ›Humanisierung des Arbeitslebens‹ bei der Volkswagen AG« wurde im Februar 2019 eingereicht. Holtwick, Bernd, stellvertretender Leiter der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund ([email protected]). Studium der Geschichte, Soziologie und Germanistik an der Universität Bielefeld. 1999 promovierte er am dortigen Graduiertenkolleg »Sozialgeschichte von Gruppen, Klassen, Schichten und Eliten« bei Hans-Ulrich Wehler. Er arbeitete von 2000 bis 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Haus der Geschichte Baden-Württemberg« in Stuttgart, danach bis 2010 als Leiter des Kultur- und Archivamts beim Landkreis Biberach. Seit 2011 ist er Stellvertretender Leiter der zur Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gehörenden DASA. Wichtige Publikationen: Der zerstrittene Berufsstand. Handwerker und ihre Organisationen in OstwestfalenLippe 1929-1953, Paderborn 2000; gemeinsam mit A. Burkarth: Dorf unterm Hakenkreuz. Die Diktatur auf dem Land im deutschen Südwesten 1933-1945, Ulm 2009. Isacson, Maths, Professor emeritus of Economic History at Uppsala University (1996-2017) ([email protected]). Ph.D. in Economic History at Uppsala University; Research director at the Museum of Work in Norrköping 19881995, then chairman of its Research Council; part-time professor in industrial heritage research at the Royal Institute of Technology in Stockholm 2005-2011. Isacson has published books and articles primarily on economic transition, working life and industrial heritage, among them: with Lars Magnusson: Protoindustrialization in Scandinavia. Craft Skills in the Industrial Revolution, Leamington Spa et al. 1987; with Marie Nisser, Anders Lundgren and Andis Cinis (eds.): Industrial Heritage around the Baltic Sea, Uppsala 2012. Kellershohn, Jan, Institut für soziale Bewegungen, Bochum (jan.keller [email protected]). Studium der Geschichtswissenschaft, französischen Romanistik und Soziologie in Bochum und Tours von 2011 bis 2016. Derzeit Promotionsstipendiat der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets und Doktorand am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum mit dem Projekt »Der Wille zur Umstellung. Strukturwandel, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit«. Wichtigste Publikation: »Automatisierungsverlierer«. Kybernetische Pädagogik, »Lernbehinderung« und der Körper des Bergberufsschülers in den 1960er Jahren, in: Body Politics, 6 (2018) 9, S. 175-199.
Autorinnen und Autoren | 331
Kleinöder, Nina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg (nina.kleinoeder@ staff.uni-marburg.de). Nina Kleinöder studierte Neuere und Neueste Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promovierte dort 2014 mit einer Dissertation zur Geschichte des Arbeitsschutzes in der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie im 20. Jahrhundert. Wichtigste Publikation: Unternehmen und Sicherheit. Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisenund Stahlindustrie nach 1945 (= VSWG-Beiheft 234), Stuttgart 2015. Lange, Dietmar, Friedhof der Märzgefallenen, Berlin ([email protected]). Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Potsdam und der Freien Universität Berlin. Promotion zu »Arbeitskämpfen und Arbeitsverhältnissen bei FIAT Mirafiori in Turin 1962 bis 1973« an der Freien Universität (Veröffentlichung ist in Vorbereitung). Wichtigste Publikationen: Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Münster 2012; Demokratisierung als Strategie im sozialen Konflikt: Konzepte der Gewerkschaftslinken in den 1960er und 1970er Jahren in Italien und der Bundesrepublik Deutschland, in: Axel Weipert (Hrsg.): Demokratisierung von Wirtschaft und Staat, Berlin 2014, S. 169-181. Dietmar Lange ist Redakteur der Zeitschrift »Arbeit-Bewegung-Geschichte«. Müller, Moritz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der digitalen Arbeit am Institut für Arbeitswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung am Institut für soziale Bewegungen der RUB ([email protected]). Seine Forschungsschwerpunkte sind der Wandel von Arbeit und Gewerkschaften in Vergangenheit und Gegenwart. Publikation: »Entweder wir werden mit den Technologien fertig oder sie mit uns«. Mikroelektronik, Arbeitsorganisation und die DGBGewerkschaften in den 1970er und 1980er Jahren, in: Bluma, Lars/Czierpka, Juliane (Hg.): Der Steinkohlenbergbau in Boom und Krise nach 1945. Das Ruhrgebiet als Vergleichsfolie für Transformationsprozesse in der Schwerindustrie (im Erscheinen). Müller, Stefan, Referent im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung ([email protected]) und Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen. Nach Berufsausbildung zum Drucker und Studium der Politikwissenschaft 2010 Promotion an der FU Berlin. 2017 Habilitation mit einer Arbeit zu den Ostkontakten der Gewerkschaften in der Phase der Entspannungspo-
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litik (Publikation in Vorbereitung). Wichtigste Publikationen: Gewerkschafter, Sozialist und Bildungsarbeiter. Heinz Dürrbeck (1912-2001), Essen 2010; gemeinsam mit Knud Andresen, Michaela Kuhnhenne und Jürgen Mittag (Hg.): Repräsentationen der Arbeit. Bilder – Erzählungen – Darstellungen, Bonn 2018. Poplawski, Martha, Deutsches Bergbau-Museum Bochum (Martha.Poplawski@ rub.de). Studium der Geschichtswissenschaften und Komparatistik an der RuhrUniversität Bochum. Seit 2015 ist sie im Projekt »Steinkohle als Georessource der Moderne« als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Im Rahmen ihres Dissertationsprojektes erforscht sie die Verwissenschaftlichung der betrieblichen Führungspraxis im westdeutschen Steinkohlenbergbau seit 1945. Veröffentlichung: »Richtig Führen im Bergbau« – Zur Verwissenschaftlichung des Steinkohlenbergbaus nach 1945, in: Bluma, Lars/Czierpka, Juliane (Hg.): Der Steinkohlenbergbau in Boom und Krise nach 1945. Das Ruhrgebiet als Vergleichsfolie für Transformationsprozesse in der Schwerindustrie (im Erscheinen). Uhl, Karsten, Technische Universität Darmstadt ([email protected]). Studium der Geschichte, Psychologie und Politischen Wissenschaft an der Universität Hamburg; Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2000. Aufbaustudium »Museum & Ausstellung« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KZGedenkstätte Mittelbau-Dora (2003-2006). Ab 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt, Habilitation 2012. In der Folge wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der TU Darmstadt. 2018-2019 Vertretung der Professur für Technikgeschichte an der TU Darmstadt. Seit 2016 DFG-geförderte Forschung zur »Computerisierung als Herausforderung der Gewerkschaftsgeschichte« und Lehre als Privatdozent an der TU Darmstadt. Publikationen u.a.: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014; mit Lars Bluma (Hg.): Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012.
Dank
Am Entstehungsprozess dieses Sammelbandes waren viele Menschen beteiligt, ohne deren individuelle Hilfe das Buch in dieser Form nicht publiziert worden wäre. In erster Linie möchten wir uns bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung bedanken, die über das Kooperationsprojekt »Jüngere Gewerkschaftsgeschichte« mit der Finanzierung der Tagung und der Drucklegung des Buches das Projekt erst ermöglicht haben. Hier danken wir auch der Heinrich-Heine-Universität sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der dortigen Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte für die finanzielle, organisatorische und ideelle Unterstützung. Dank geht in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich an Gina Fuhrich, Martha Poplawski und Daniel Monninger als Mitorganisator*innen der Tagung, die deren Konzeptionierung, Entstehung und Ablauf maßgeblich begleitet und unterstützt haben. Ebenso danken wir den Teilnehmer*innen in Düsseldorf für die anregenden Vorträge und Diskussionsbeiträge. Nicht unerwähnt bleiben dürfen zum Schluss die zahlreichen studentischen Hilfskräfte, die zum Gelingen der Tagung oder zur Drucklegung des Sammelbandes beitragen haben. Namentlich genannt seien hier aus Darmstadt, Düsseldorf und Marburg Carolin Bosse, Josephine Gauselmann, Gero Wollgarten, Lino Schneider-Bertenburg und Annika Schüttler. Nina Kleinöder Stefan Müller Karsten Uhl
Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Gertrude Cepl-Kaufmann
1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6
Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.)
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Geschichtswissenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.)
Die Bonner Republik 1945–1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära Geschichte – Forschung – Diskurs 2018, 408 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4218-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4218-0
Julia A. Schmidt-Funke, Matthias Schnettger (Hg.)
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