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German Pages 472 Year 2018
Annerose Keßler, Isabelle Schwarz (Hg.) Objektivität und Imagination
Image | Band 112
Annerose Keßler, Isabelle Schwarz (Hg.)
Objektivität und Imagination Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
Gedruckt mit der Unterstützung der Hochschule Hannover, Fakultät III – Medien, Information und Design
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Soweit nicht anders angegeben, liegen die Reproduktionsrechte bei den Künstlerinnen und Künstlern bzw. ihren juristischen Vertretern. Die Abbildungen stellen wissenschaftliche Referenzen dar, deren Angaben und Bildrechte nach bestem Wissen recherchiert und an entsprechender Stelle eingeholt worden sind. Verantwortlich zeichnen hierfür die jeweiligen Autorinnen und Autoren. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Alfred Ehrhardt, Scala pretiosa L., Chinesisches Meer, 1940/41, Silbergelatine, Sprengel Museum Hannover, Schenkung Ann und Jürgen Wilde, Foto: Sprengel Museum Hannover, Repro: Herling/Herling/ Werner, Sprengel Museum Hannover, © Alfred Ehrhardt Stiftung Redaktion: Annerose Keßler, Isabelle Schwarz Lektorat: Annerose Keßler, Isabelle Schwarz Satz: Annerose Keßler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3865-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3865-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
I. WEGE DER NATURGESCHICHTE IN DIE KUNST Verzweigungen von Naturgeschichte und Kunst, Objektivität und Imagination. Eine Einführung
Annerose Keßler und Isabelle Schwarz | 9 Ästhetik und Kommunikation der Arten
Verena Kuni | 39 Alfred Ehrhardt – von Muscheln, Schnecken und Mollusken
Christiane Stahl | 73
II. (AB -) BILDER DES WISSENS ÜBER NATUR Paradise Lost: Naturkundliche Sammlungen als Spiegel menschlicher Weltensicht Vom vollständigen Haben und vom exakten Abbilden
Annette Richter | 89 Naturding – Wissensding – Kunstding Mark Dions hybride Praktiken und die Naturgeschichte des Meeres
Annerose Keßler | 121 Gerhard Richters »Erster Blick« im Kontext nanotechnologischer Visualisierungen
Hubertus Butin | 163 Zwischen ›Objektivität‹ und Imagination: Zur Darstellung von Naturmotiven in der zeitgenössischen X-Ray-Art
Anne Marno | 173
III. NATURHISTORISCHE PRÄSENTATION UND VERMITTLUNG ›Architectonicidae Architectonica‹ – Architekt(ur)en und Naturwissen. Über die Wirkmacht von Lehrsammlungen in Technischen Hochschulen zu Beginn der Moderne
Martina Dlugaiczyk | 203
Natur im Kasten. Ästhetische und museale Antworten auf das Problem des naturgeschichtlichen Dioramas
Uta Kornmeier und Georg Toepfer | 225 Pretty Sparkie! – (Re)Presenting an Animal Celebrity
Ebony Andrews | 251
IV. TRANSFORMATIONEN VON BILDWISSEN Wellen und Zellen. Willi Baumeisters ästhetische Subversion aus dem Geiste der Naturgeschichte
Friedrich Weltzien | 273 »Das phantasievollste Sehen ist struktur-orientiert.« Computational Design und die Tradition der Naturgeschichte
Carolin Höfler | 297 Naturdarstellung in postkolonialen Zeiten
Oscar Ardila Luna | 327 Die Geschichte der Natur und die Gegenwart der Kunst Zu Werken von Anicka Yi, Lu Yang und Camille Henrot
Kassandra Nakas | 343
V. N EUSCHÖPFUNGEN VON NATURGESCHICHTE Transformationen und Neuschöpfungen von Natur im Werk Remedios Varos
Linn Burchert | 361 Zwitterwesen Unterwasserfilm Die mediale Durchmessung eines Naturraums in frühen Filmen von Jacques-Yves Cousteau und Hans Hass
Isabelle Schwarz | 387 »The Great Passenger Pigeon Comeback« – Die rekonstruierte Wandertaube als lebendiges Bild
Anna Lena Seiser | 445 Autorinnen und Autoren | 465
I. Wege der Naturgeschichte in die Kunst
Verzweigungen von Naturgeschichte und Kunst, Objektivität und Imagination Eine Einführung
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N ATURGESCHICHTEN
IN DER
K UNST
Die Kunst hat an so manchen Stellen sehr explizit ihre eigenen Naturgeschichten hervorgebracht. Einen solchen Entwurf erarbeitete beispielsweise der US-amerikanische Künstler Cy Twombly (1928-2011) mit einem Mappenwerk, das er Pilzen und Bäumen widmete – und damit zwei ausgewiesenen Netzwerkern der Natur. Nicht nur deshalb ist dieses druckgrafische Werk bestens dazu geeignet, zum Ausgangspunkt von Wegbeschreibungen und ihren Abzweigungen durch das Thema der Naturgeschichte in der Kunst sowie durch einander sich abwechselnde Gebiete der Objektivität und Imagination zu werden. Insbesondere das Titelblatt der besagten Mappe Natural History Part II, Some Trees auf Italy aus dem Jahr 1975/76 ist eine künstlerische Adaption von Elementen naturgeschichtlicher, systematisierender Beschreibungs- und Illustrationsinventare (Abb. 1 a). Sieben farbige Illustrationen – Lithografien von Vorlagen aus einem naturkundlichen Bestimmungsbuch – sind lose neben- und untereinander auf einem Büttenpapier angeordnet und so in den neuen künstlerischen Kontext eingefügt. In ihrem vergleichbaren Aufbau zeigen sie einen Zweig mit Blättern und Früchten, die Beschaffenheit der Rinde oder ein Exemplar en miniature von jeweils einer Baumart. Die ausgeschnittenen und auf dem Blatt montierten Collage-Elemente tragen eine handschriftliche Nummerierung und sind zweifach vom Künstler mit der binären Nomenklatur der Baumart versehen, davon einmal auf Reproduktionen von Zeitungspapier: Quercus Ilex, Fagus Silvatica, Castanea Sativa, Quercus Robur, Laurus Nobilis, Tilia Cordata, Ficus Carica.
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Abb. 1 a: Cy Twombly, Natural History Part II, Some Trees of Italy, 1975/76
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Abb. 1 b: Cy Twombly, Quercus Robur (Stieleiche), aus der Mappe Natural History Part II, Some Trees of Italy, 1975/76
Abb. 1 c: Cy Twombly, Ficus Carica (Echte Feige), aus der Mappe Natural History Part II, Some Trees of Italy, 1975/76
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Die handschriftlichen Ziffern und Bezeichnungen sind deutlich mit Korrekturen versehen und so gesetzt, dass sie die ihnen zugehörigen Abbildungen im unteren Bereich überlagern. Über dem collagierten Büttenpapier ist ein Transparentpapier montiert, auf dem horizontal angelegte Linien die Bildvorlagen in ein Raster einordnen. In den folgenden Arbeiten aus dem Mappenwerk kommt Twombly mit der Essenz der Naturobjekte in Fühlung, indem er zum Beispiel für deren (Entstehungs-)Formen oder Wachstumsphasen bei der Stieleiche zu einer eigenen Systematik gelangt (Abb. 1 b) oder die Form eines einzelnen Feigenblatts zeichnerisch nachvollzieht: Mittels farbiger Schraffuren, mehrerer Umrisslinien und sogar Chiffrierungen und Richtungspfeilen unternimmt er einen Annäherungsversuch an die charakteristischen Grundmerkmale der Blattform des Feigenbaumes (Abb. 1 c). Bei diesen künstlerischen Ergründungen der Natur entstehen individuelle Erfassungssysteme, die in ihrer Zeichenhaftigkeit jenen der Naturwissenschaften nicht allzu fernstehen und ihrerseits neues Wissen generieren können, beispielsweise wenn sie für die Objekte der Natur Veränderungsprozesse aufschlüsseln und (letztendlich wieder) zu einer ›Urform‹1 zurückführen. Die Mappe, in der Twombly formalästhetische Spezifika der italienischen Flora erkundet, lässt sich in ihrer Anlage analog zur vorliegenden Publikation als ein Itinerar und zugleich als ein Wissens- und Erfahrungsgebiet beschreiben, das in der Auseinandersetzung mit naturkundlichen Motiven die Bedeutsamkeit von Bildern für den Erkenntnisgewinn vor Augen führt. In gleicher Weise widmet sich ein Kapitel der Publikation dem Naturwissen in seiner Darstellbarkeit und seinen (Ab-)Bildern. Untersucht wird die Bedeutung einer Differenz zwischen Vorlage und künstlerischem oder wissenschaftlich distanziertem Ergebnis. Twombly setzte seine Naturgeschichte in den Rahmen eines Mappenwerkes, eine bewusste Entscheidung für ein Format, das ähnlich wie ein Herbarium die Idee von Präsentation und Vermittlung von Bildwissen mit einschließt. Auch in einem Kapitel dieses Bandes werden diese wesentlichen Aspekte, die zur Durch-
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Die Kunsthistorikerin Ruth Langenberg geht bei der Untersuchung einer anderen Phase seines Werklaufs auf Twomblys Beschäftigung mit der Italienreise (1786-88) Johann Wolfgang von Goethes ein, auf der Zeichnungen nach der Natur entstanden und die Erforschung von Naturgesetzen mit der Idee einer zur Vielfalt führenden ›Urpflanze‹ Gestalt annahm. Auch wenn Twombly sehr konkret dazu in seinem mehrteiligen Werk Goethe in Italy (1978) arbeitete, liegt es nahe, die Goethe’schen Studien und Ideen, die auf dieser Reise entstanden, assoziativ auch für die Natural History des italophilen Künstlers im Blick zu behalten, gerade da es sich explizit um Arten der italienischen Flora handelt, vgl. Langenberg, Ruth: Cy Twombly. Eine Chronologie gestalteter Zeit, Hildesheim/Zürich/New York 1998, hier insb. S. 184-187.
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dringung des Spannungsfeldes ›Naturgeschichte und Kunst‹ beitragen, aufgegriffen. Die charakteristische Handschrift des Künstlers, mit der er die Baumarten, ihre wissenschaftliche Systematisierung sowie Form- und Wachstumsstudien ergründet, steht paradigmatisch für ein weiteres Kapitel der Publikation, das sich mit der Transformation von Bildwissen befasst. Hierunter sind individuelle künstlerische Entwürfe zusammengeführt, mittels derer Wissen – naturkundliche Bildformen, Konzepte, Methoden, Ordnungen und Techniken – zu eigenständigen Formulierungen umgestaltet worden ist. Neuschöpfungen sind davon nicht weit entfernt: Nicht nur Cy Twombly hat eine Naturgeschichte ›erfunden‹ beziehungsweise Bilder von einer sinnlichen Auffassung der Natur in ihrem Werden und Wesen entworfen.2 Diesen neuen Erfindungen von Natur als eine wesentliche Möglichkeit der Kunst, den Wissenskanon zu erweitern oder durch die Erarbeitung von Alternativen mindestens kritisch zu hinterfragen, ist das abschließende Kapitel dieses Buches gewidmet. Eine der bekanntesten Naturgeschichten der Kunst legte Max Ernst (1891-1976) vor, dessen Werke vor allem ab 1920 auf (populär-)wissenschaftlichem Bildmaterial fußten. In ihnen zeichnet sich eine zum Teil sehr konkrete Auseinandersetzung mit dem naturhistorischen Diskurs und dem für seine Zeit aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsstand ab.3 Ernst bediente sich Abbildungsmaterial aus Zeitungen und wissenschaftlichen Publikationen verschiedener Disziplinen; in seinen Collagen und seiner Herangehensweise ist dieser Einfluss zu beobachten. Bereits Ernsts Studium bot einen weiten Blick auf verschiedene Fachdisziplinen, und sein Interesse an Naturkunde (etwa Paläontologie, Meteorologie und Kosmogonie) blieb in verschiedenen Dimensionen zeitlebens bestehen, auch über das geradezu ikonische Werk für die Verbindung zwischen naturkundlichen Ideen mit der Kunst im 20. Jahrhundert hinaus: die 1926 erschienenen 34 Tafeln der Histoire naturelle (hier beispielhaft Abb. 2 a-d).
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Die Mappe Natural History Part I, Mushrooms von 1974 befasst sich mit den Pilzen, deren Zuordnung zu Tier oder Pflanze lange nicht festgeschrieben war.
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Als Quellen für seine Vorlagen verwendete Ernst u. a. die Bibliotheca Paedagogica. Verzeichnis der bewährtesten und neuesten Lehrmittel für höhere, mittlere und Elementarschulen, Leipzig 1890 (Ausgabe von 1914), sowie Ausschnitte aus Ausgaben der Zeitschrift La Nature; vgl. Stokes, Charlotte: The Scientific Methods of Max Ernst. His Use of Scientific Subjects from La Nature, in: The Art Bulletin, Vol. 62, No. 3, September 1980, S. 453-465; Stokes, Charlotte: La Femme 100 têtes, by Max Ernst, PhD, University of Washington, Washington 1977; Ubl, Ralph: Prähistorische Zukunft: Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes, München 2004.
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Abb. 2 a: Max Ernst,Petites tables autour de la terre, 2 b: Max Ernst, Les éclairs au-desssous de quatorze ans, 2 c: Max Ernst, Le repas du mort, Blatt III, XXIV und XXVIII der Mappe Histoire naturelle,1925/26
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Abb. 2 d: Max Ernst, Eve, la seule qui nous reste, Blatt XXXIV der Mappe Histoire naturelle, 1925/26 Nicht zuletzt auf den Darwinismus nahm Ernst konkret in dieser Bildfolge Bezug, insbesondere mit Darstellungen von Hybriden, Zwischenformen und Zwitterwesen, die der Theorie über genetische Mutationen ein kurioses Gesicht verleihen und – die traditionellen Bereiche der Naturkunde überschreitend – die Entstehung und Kommunikation der Arten einer eigenen Chronologie übereignen (Abb. 2 a-c).4
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Zu Ernsts Histoire naturelle vgl. Kort, Pamela: Arnold Böcklin, Max Ernst und die Debatten um Ursprünge und Überleben in Deutschland und Frankreich, in: dies./ Hollein, Max (Hg.): Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Köln 2009, S. 24-53; vgl. auch Dickel, Hans: Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst, Berlin 2006, S. 151-167; van Hoorn, Tanja: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W. G. Sebald, Göttingen 2016; Metken, Günter: Naturselbstdruck und fossile Spuren. Max Ernsts mögliche Naturgeschichte, in: Orchard, Karin/Zimmermann, Jörg (Hg.): Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Kee, Wols und das surreale Universum, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Freiburg i. Br. 1994, S. 145-147; Spies, Werner: Max Ernst. Frottagen, in: ders.: Auge und Wort. Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur, Bd. 3, Berlin 2008, S. 199-229. Darüber hinaus leiten sich aus Vorbildern von Naturforschern und -wissenschaftlern wie
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Das in Abbildung 2 c dargestellte Geschöpf wirkt wie eine Kreuzung verschiedener Spezies, die sich jedoch, auch aufgrund der vereinheitlichenden, an Baumrinde erinnernden Oberflächenstruktur, nicht klar voneinander unterscheiden lassen. Ein Schuppen- oder Krustentier scheint sich mit einer Baumart gepaart zu haben, wobei der Kopf wiederum an den eines Nashorns denken lässt oder, was die Position des Horns betrifft, vielmehr an den heute vom Aussterben bedrohten Rhinozerosvogel (Buceros rhinoceros). Nicht nur über die Arten (Species), sondern sogar über die Reiche (Regna) hinweg verschwimmen hier die Grenzen zwischen Tieren (Animalia) und Pflanzen (Plantae). So lässt sich angesichts dieses Interspezies-Mischwesens, das nicht das einzige in dieser Bildfolge ist, auch eine Hybridisierung von Mensch und Tier als Teil einer möglichen zukünftigen Naturgeschichte weiterdenken, wie sie in anderen Werken Max Ernsts, beispielsweise mit seinen Vogelmenschen, immer wieder auftaucht.5 Am Ende der Histoire naturelle, die der Entwicklung des künstlerischen Bildprogramms entspricht, findet sich mit der Figur der Eva der Mensch als jetzt neu im Zentrum der Naturgeschichte stehende Art, deren sinnierender Zukunftsblick auch einer Ungewissheit über den Fortgang der Naturgeschichte zu gelten scheint (Abb. 2 d).6 Als Urgestalt markiert sie den Endpunkt einer prähistorischen Welt aus Fossilien, ergänzt um Mischwesen und Augen, die Ernst in der Frottagetechnik im Durchrieb von alltäglichen Materialien auf seinen Blättern entstehen ließ. Eva ist die Personifikation des Ausblicks auf einen geistigen Neubeginn und einer erweiterten Auffassung des Schöpfungsmythos. Das Blatt Eve, la seule qui nous reste zeigt die Konturen eines weiblichen Hinterkopfes mit Schulteransatz und verwehrt den Blick auf das Antlitz Evas und das, was sie ins Visier nimmt. Der Kunsthistoriker Ralph Ubl führt in diesem Zusammenhang aus: »Die Rückenfigur vergegenwärtigt als visuelle Trope der Romantik die Unzugänglichkeit dessen, wovor sie steht und wohin sie blickt. […] Die narrative
Georges-Louis Leclerc (1707-1788), Georges Cuvier (1769-1832), Ernst Haeckel (1834-1919) und Camille Flammarion (1842-1925) Elemente und Konzepte, aber auch die Idee einer eigenen Naturgeschichte für sein weiteres Schaffen ab. Vgl. Kort: Arnold Böcklin, Max Ernst (wie Anm. 4), S. 26. 5
Zur Hybridisierung unterschiedlicher Spezies bzw. von Mensch, Tier und Maschine vgl. u. a. Haraway, Donna J.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. 1995, u. dies: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, London 2016.
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Die hier entwickelten Grundmotive finden sich in späteren Werkgruppen wieder, zum Beispiel in den Darstellungen von sublimen Versteinerungen und Mineralien im Rahmen der Forêt-Bilder.
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Auflösung ist das Versprechen einer undarstellbaren Zukunft, die darstellbare Naturgeschichte wird bis in ihre Schlussfigur stets von einer bannenden und regressiven Macht begleitet.«7 Die Unergründlichkeit Evas verweist letztlich auf ihre (ursprüngliche) Materialität zurück und damit im übertragenen Sinne auf den schöpferischen Urstoff des surrealistischen Bildkosmos. Die Histoire naturelle Max Ernsts war neben anderen Werken und Positionen Gegenstand der die klassische Moderne auf ihr Naturverhältnis befragenden Ausstellung, Tagung und Publikation Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum im Sprengel Museum Hannover.8 Der britische Künstler Damien Hirst (geb. 1965) wiederum adaptierte Ende des 20. Jahrhunderts Methoden und Techniken der Naturkunde und setzte die so gewonnenen Erkenntnisse, inszeniert als eine auf den ersten Blick groteske Nature morte, in einer eigenen Naturgeschichte ins Bild: die Werkgruppe Natural History (1991-2014), für die er Tiere präparierte und in Formaldehyd einlegte.9 Vollständige Tierleiber und einzelne Organe, Schnitte durch den Körper und Körperteile sind hier auf spektakuläre Weise in Glasvitrinen mit Stahlrahmen präsentiert. Während Hirst die Schnittmenge zwischen Kunst und Naturkunde auslotet und in der Funktion des Präparators das künstlerische Schaffen zur »kulturgenerierende[n] Tätigkeit des Schöpferkünstlers«10 umdefiniert, verweist seine Werkgruppe auf den an sich absurden Versuch des Menschen, Erkenntnisse über das Leben anhand toter Exemplare einer Spezies, d. h. musealisierter Natur-
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Ubl, Ralph: Naturgeschichte und Automatismus. Beobachtungen zu Max Ernsts Histoire Naturelle, in: Max Ernst. Im Garten der Nymphe Ancolie, Ausst.-Kat. Museum Tinguely Basel, hg. vom Museum Tinguely, Ostfildern 2007, S. 67-68.
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Die Ausstellung wurde 1994 von Karin Orchard kuratiert, vgl. Orchard/Zimmermann: Die Erfindung der Natur (wie Anm. 4).
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In der Kunst wurde dieses zum Teil sehr arbeitsintensive Verfahren erst seit den 1930er Jahren eingesetzt, vor allem in den 1980er und 1990er Jahren finden sich verstärkt im Kunstkontext Anwendungen. Dieses zunehmende Interesse an der Präparation in beiden Dekaden lief einer Entwicklung in der Kunst in den 1970er Jahren entgegen, in der sich die Künstlerinnen und Künstler, allen voran Joseph Beuys, in eine von Einfühlung und Empathie geleitete Auseinandersetzung mit der Natur und insbesondere mit dem Tier begaben; vgl. Lange-Berndt, Petra: Unheimliche(s) Gestalten. Damien Hirsts ›Naturgeschichte‹ und das historische Verfahren der Naßpräparation, in: Haus, Andreas/Hofmann, Franck/Söll, Änne (Hg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000, S. 165-178, hier S. 166.
10 Ebd., S. 167.
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Abb. 3: Damien Hirst, Gone but not Forgotten, 2014 objekte zu gewinnen. In der Aneignung von naturgeschichtlichem Wissen durch das Aufschneiden, Zerlegen und Konservieren von Körpern folgt der Künstler einer grundlegend wissenschaftlichen Methode. Formal wie inhaltlich verweist er mit seinen exponierten Tierpräparaten auf die Vermittlungsstrategien eines Naturkundemuseums. So auch mit dem ebenfalls für die Werkgruppe Natural History geschaffenen, vollständig mit Blattgold bedeckten Skelett eines Wollhaarmammuts (Mammuthus primigenius), dem Hirst 2014 den Titel Gone but not Forgotten gab (Abb. 3). Gerade angesichts der aktuellen Versuche unterschiedlicher wissenschaftlicher Institutionen, das Wollhaarmammut mithilfe von DNA-Proben aus im sibirischen Permafrost konservierten Kadavern ›wiederzubeleben‹, erhält Hirsts Werk eine besondere Brisanz, zumal er mit der Vergoldung zugleich die Kostbarkeit des Gen-Materials dieser Tiere hervorhob.11 Über die bloße Faszination für die Schnittstelle zwischen Le-
11 Gerade ein Jahr zuvor, 2013, wurde noch flüssiges Blut in einem vor 43.000 Jahren verstorbenen, sehr gut erhaltenen Exemplar gefunden. Zu den Versuchen des genetischen Rekonstruktion des Mammuts und verschiedener ausgestorbener Arten siehe die Dokumentation: https://www.spektrum.de/video/die-wiedergeburt-des-mammuts/1567 650 und https://www.tagesspiegel.de/wissen/forscher-wollen-tiere-zum-leben-erwecken-mammutprobleme/9781618.html. Für weitere Informationen zu den Intentionen
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ben und Tod hinaus hinterfragen diese Präsentationsformen die Funktion und Macht von Institutionen, die durch die Musealisierung von Objekten über deren Archivwürdigkeit entscheiden beziehungsweise durch formale Aspekte der Objektpräsentation eine Wissensvermittlung unmittelbar beeinflussen.12 Der Wissenskomplex der Naturgeschichte, auf den sich die drei oben genannten Künstler durch die Werktitel ausdrücklich beziehen, umfasst die Vielfalt der belebten und unbelebten Natur, die Versuche ihrer systematischen Erfassung, ihren fachlichen Sprach- und Formschatz, ihre Präsentations- und Vermittlungsformen, aber auch den wissenschaftsgeschichtlichen Wandel dieser Aspekte in Bezug auf Bedeutungen, Strukturen und Hierarchien. Die naturhistorischen Untersuchungsbereiche unterliegen seit der Naturalis Historia von Plinius dem Älteren aus dem ersten Jahrhundert nach Christus einer chronologischen Aufeinanderfolge der natürlichen Erscheinungen. Diese resultiert aus der bereits seit Platon existierenden Vorstellung von einer Entstehung, Entwicklung und Ordnung des Universums, einer Scala naturae oder schließlich einer »Kette der Wesen«13. Das Forschungsgebiet der Naturgeschichte – alles von der Natur Hervorgebrachte – gliedert sich in die Astronomie, die Geologie, die Mineralogie, die Botanik und die Zoologie und nimmt schließlich den Menschen in den Blick. Diese Abfolge und die daraus konstruierten Hierarchien spiegeln sich in lexikalischen und enzyklopädischen Formen wider, die naturhistorische Erkenntnisse seit der Frühen Neuzeit tradiert haben und bis heute als Wissensspeicher fungieren. Dazu zählen nicht zuletzt die Illustrationen von Naturobjekten und
des Künstlers siehe: http://www.damienhirst.com/gone-but-not-forgotten. Eine Filmsequenz zeigt die aufwendige Entstehung von Gone but not forgotten: http://www. damienhirst.com/video/2014/mammoth [für alle vier Internetseiten gilt: Stand: Mai 2017]. 12 Generell gilt, dass kein grundsätzlicher Wert für einen Gegenstand festgelegt werden kann: Werte werden definiert und zugeschrieben in Abhängigkeit von der Kultur, ihre Hierarchien sind konstruiert. Boris Groys nennt diese in einer Kultur definierten Wertgefüge »kulturelle Werthierarchien«, vgl. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a. M. 2004, S. 55. Nicht nur die hier aufgeführten Künstler, auch weitere Künstlerinnen und Künstler haben im 20. und 21. Jahrhundert eine eigene Naturgeschichte vorgelegt, wie z. B. die Beiträge von Kassandra Nakas und Linn Burchert in dieser Publikation verdeutlichen. 13 Vgl. Feuerstein-Herz, Petra: Die große Kette der Wesen. Ordnungen in der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit, Ausst.-Kat. Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2007.
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-phänomenen, die in ihrer spezifischen Ästhetik für die Vermittlung von Wissen eine nicht zu unterschätzende Rolle eingenommen haben. Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, Illustratorinnen und Illustratoren, Künstlerinnen und Künstler haben unter verschiedenen Prämissen und mit unterschiedlichen Intentionen das in der Natur Beobachtete zunächst in Zeichnungen fixiert und es schließlich in Drucken und Gemälden umgesetzt. Mit einem gesteigerten Erkenntnisinteresse an den Funktionen und dem Wesen der Natur näherten sie sich dem Bildgegenstand wie Naturforschende und erschufen auf der Grundlage von Wahrnehmung und Beobachtung Bilder nach der Natur, die ihrerseits von erheblichem Wert für die Wissenschaft sein konnten und es zum Teil noch heute sind,14 in einigen Fällen auch gerade in ihrer Differenz zur Realität.
O BJEKTIVITÄT
UND I MAGINATION
Naturkunde und Kunst verbindet im 20. und 21. Jahrhundert ein komplexes Verhältnis, das nicht von Abhängigkeit oder Kausalität geprägt ist, sondern als ein Dialog beschrieben werden kann, obgleich die Beiträge der vorliegenden Publikation zeigen, dass es ein oft ungleicher, weil zeitversetzter und in der Auseinandersetzung mit der Naturkunde beziehungsweise -wissenschaft häufig nicht rückgekoppelter Dialog ist; sprich: künstlerische Arbeit setzt von außen an, wenn sie sich mit naturkundlichen Forschungen und Phänomenen beschäftigt, und wird (in den allermeisten Fällen) nicht von naturwissenschaftlicher Seite beantwortet oder in deren Diskurse einbezogen. Die Berührungspunkte von Wissenschaft und Kunst im Allgemeinen sind in den vergangenen Jahren im Zuge des Iconic Turn und der Bildwissenschaft vielfach herausgearbeitet worden und kristallisieren sich im interdisziplinären Blick auf das Bild, das als Mittel der Visualisierung von Erkenntnissen beider Disziplinen genutzt wird. Eine Gemeinsamkeit zeigt sich in der Tatsache, dass es sich beiderseits um »Formen des Wissens [handelt, Erg. d. Verf.], die sich für ihre Welterklärung und Welterfindung der visuellen Dimension bedienen«15. Die Begriffe Welterklärung und Welterfindung bezeichnen dabei in ihren divergierenden Zielsetzungen einen wesentlichen Unterschied: Während für erstere nach ei-
14 Vgl. Gockel, Bettina (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000, Berlin 2011. 15 Fiorentini, Erna: Naturwissenschaft und Kunst, in: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart/Weimar 2011, S. 299305, hier S. 299.
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ner objektiv fassbaren Wahrheit gestrebt wird und diese folglich vorrangig der Naturwissenschaft zugeschrieben wird, steht die Welterfindung für imaginäre Wahrheiten, die nicht oder noch nicht existent sind und deshalb mit dem Schöpferischen der Kunst in Verbindung gebracht werden können. Objektivität als »Widerpart der Subjektivität«16 und damit jeglicher Imagination ist von den Wissenschaftshistorikern Lorraine Daston und Peter Galison in ihrer grundlegenden Publikation als ein sich im Verlauf der Jahrhunderte wandelndes Konstrukt des Menschen beschrieben worden. Ihnen zufolge galt es in der Frühen Neuzeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein beispielsweise als Maßgabe für die Objektivität naturkundlicher Illustrationen, gerade nicht das individuelle Exemplar einer Spezies wiederzugeben, sondern ein idealisiertes oder zumindest charakteristisches Musterbeispiel einer Art – eine »geglättete Natur«17. Erst im Verlauf den 19. Jahrhunderts wurde die Objektivität eines solchen korrigierenden, stilisierenden Eingriffs in die Bildherstellung in Frage gestellt. Zur gleichen Zeit geriet Objektivität, aufgefasst als epistemische Tugend, zur wissenschaftlichen Norm, die es erforderlich machte, bestimmte Aspekte des Selbst zurückzuhalten:18 Das angestrebte Wissen sollte frei sein von einem menschlichen Urteil sowie von Fantasievorstellungen, Wünschen und Ambitionen des Forschenden. Naturobjekte galt es, mit möglichst wenigen menschlichen Eingriffen visuell zu erfassen.19 Neuartige Instrumente und Apparate, insbesondere die Fotografie, schienen eine Objektivität zu garantieren, (scheinbar) ohne eine Handschrift des Künstlers oder Wissenschaftlers zu erkennen zu geben: »Die objektive Qualität einer Aussage zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich einzig und allein auf die Eigenschaften des Objekts beschränkt und von den Dispositionen des beobachtenden Subjekts unabhängig ist.«20 Die Entwicklung weiterer bildgebender Verfahren wie der Röntgenstrahlung, Sonografie, Magnetresonanztomografie (MRT) und Rasterelektronenmikroskopie (REM) versprach, losgelöst von vorschnellen Bewertungen und Interpretationen, die Wiedergabe objektiver Bilder. Während bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine möglichst genaue künstlerische Darstellung der Naturreiche im Sinne einer der Mimesis verpflichteten Na-
16 Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 38. 17 Ebd., S. 58. 18 Vgl. ebd., S. 38. 19 Vgl. ebd., S. 17. 20 Baake, Annika: Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation, Univ.-Diss., Berlin 2013, S. 51.
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turwahrheit angestrebt wurde, emanzipierte sich die Kunst mit dem Aufkommen der Fotografie von ihrer dokumentarischen Abbildungs- und Repräsentationsfunktion und änderte neben ihren Bildstrategien auch ihr schöpferisch-performatives Potenzial. An die Stelle der Wiedergabe von Wirklichkeit trat die Wiedergabe einer Vorstellung möglicher Wirklichkeiten, häufig an der Grenze zum Wissbaren. Infolgedessen gewann – verkürzt gesagt – die künstlerische Imagination an Bedeutung und gab neben einer forschenden Herangehensweise auch fiktiven Aspekten wie Neuschöpfungen von Naturgeschichte und naturkundlichen Praktiken Raum. Imagination (griechisch: ; lateinisch: imaginatio) bezeichnet die Einbildungskraft des Menschen als dessen »spezielles Seelenvermögen«21. Sie ist die Vorstellung von etwas, das zum Zeitpunkt des Imaginierens gerade nicht sichtbar ist.22 Immanuel Kant unterscheidet diesbezüglich zwischen einem reproduktiven Vermögen der Einbildungskraft, das ein Wiederfinden von bereits Gewesenem und Gewusstem darstellt, und einem produktiven Vermögen, das als ein Finden oder Erfinden gelten kann.23 Diese Produktivität der Imagination kann folglich auch sichtbar werden lassen, was nicht oder noch nicht existent ist – und damit ein (Noch-)Nicht-Wissen über die Naturdinge.24 »Einerseits ist die Imagination ein repräsentatives sowie reproduktives Vermögen und als solches eng mit der Sinneswahrnehmung verbunden, dessen Eindrücke sie aufnimmt und aufbewahrt; andererseits ist sie aber auch eine schöpferische Instanz, welche die aufgenommenen Eindrücke neu kombinieren kann, sei es zu Gegenständen, die zwar faktisch in der extramentalen Realität nicht vorkommen, aber existieren könnten, sei es zu rein fiktiven Objekten wie etwa einer Chimäre, denen außerhalb des menschlichen Geistes keine
21 Dewender, Thomas/Welt, Thomas: Einleitung, in: dies. (Hg.): Imagination – Fiktion – Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie, München/Leipzig 2003, S. 1-11, hier S. 10. 22 Zur Begriffsgeschichte von Imagination vgl. u. a. Mattenklott, Gert: Einbildungskraft, in: Hüppauf, Bernd/Wulf, Christoph (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 47-64. Zur Imagination im Kontext der Kunstgeschichte vgl. u. a. Bredekamp, Horst/Kruse, Christiane/Schneider, Pablo (Hg.): Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010. 23 Vgl. Alloa, Emmanuel: Phantasia. Aristoteles’ Theorie der Sichtbarmachung, in: ders./Boehm, Gottfried/Budelacci, Orlando/Wildgruber, Gerald (Hg.): Imagination. Suchen und Finden, Paderborn 2014, S. 91-111, hier S. 92. 24 Vgl. ebd., S. 91.
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Existenz zukommen kann. Besonders diese schöpferische Seite der Imagination, mit der sie die Grenzen des faktisch Gegebenen überschreitet, bildet die Grundlage für die 25
menschlichen Kulturleistungen.«
Obgleich Imagination aufgrund ihrer schöpferischen Kraft und der Nähe zu Inspiration, Invention und Fantasie mit der künstlerischen Sphäre assoziiert werden kann,26 ist die Notwendigkeit, das Mögliche imaginieren zu können, für die Wissenschaft nicht zu unterschätzen, wie zum Beispiel die Untersuchung von Holger Wille Zur Rolle der Imagination in der neuzeitlichen Physik zeigt.27 Seinen Ausführungen zufolge wird paradoxerweise ausgerechnet in der Wirklichkeitswissenschaft Physik die »Opposition von Beobachtung und Imagination, von Faktizität und Fiktionalität, von empirischer Wirklichkeit und Möglichkeit«28 als strenge Alternative brüchig, da beachtenswerte Beziehungen zwischen den Opponenten existieren. Was die Bedeutung der Imagination im Erkenntnisprozess betrifft, so kommt die Kulturpädagogin Sabine Wettig zu dem Schluss, dass diese einen wesentlichen Anteil am Wissensgewinn haben könne und vor allem »die Erfahrbarkeit des Denkens«29 gewährleiste. Galison und Daston zufolge, die die Existenz rein objektiver Bilder in Zweifel ziehen, stehen hinter vielen Objektivitätsansprüchen des wissenschaftlichen Bildes subjektive Gestaltungsabsichten.30 Beispielhaft kann dafür eine einflussreiche Position wie die des Evolutionsbiologen Ernst Heinrich Philipp Haeckel (1834-1919) herangezogen werden: Er war nicht nur Forscher und Wissenschaftler, sondern zugleich Künstler, wenn er seinen etwa zwanzig wissenschaftlichen Monografien neben zahlreichen Aufsätzen selbst farbige Illustrationen hinzufügte.31 Über eine rein abbildende Funktion hinaus vermitteln die Zeichnungen den
25 Dewender/Welt: Einleitung (wie Anm. 21), S. 1. 26 Vgl. Mattenklott: Einbildungskraft (wie Anm. 22), hier S. 47. 27 Wille, Holger: Zur Rolle der Imagination in der neuzeitlichen Physik, in: Dewender/ Welt: Imagination (wie Anm. 21), S. 341-359. 28 Ebd., S. 343. 29 Vgl. Wettig, Sabine: Imagination im Erkenntnisprozess. Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der Bildmedien. Eine anthropologische Perspektive, Bielefeld 2009, S. 176. 30 Vgl. auch Daston, Lorraine/Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29-99. 31 »Seine künstlerischen Triebkräfte waren genauso stark wie seine wissenschaftlichen.« Richards, Robert J.: Die tragische Seite Ernst Haeckels: Sein wissenschaftliches und
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wissenschaftlichen Ansatz seiner Forschungen: Haeckel stellte nicht das Besondere eines einzelnen Exemplars dar, sondern entwarf anhand seiner Beobachtungen verkürzt gesagt den jeweiligen Repräsentanten einer Spezies – als Standard und Grundlage für die präzise Bestimmung auch durch andere Wissenschaftler.32 Seine Darstellungen besitzen eine besondere Qualität und einen Vorteil gegenüber dem eigentlich ›objektivierenden‹ dokumentarischen Medium der Fotografie, dem sich Haeckel verschloss, zumal erst in den 1930er Jahren farbige Fotografien möglich wurden. Der Wissenschaftshistoriker Robert J. Richards unterstreicht Haeckels Versuch, seinen gezeichneten Geschöpfen die Schönheit (des Lebendigen) wiederzugeben,33 ein Anspruch, den dieser in seiner Überspitzung ausreizte: »Dem Leser/Betrachter ihrer Bände [gemeint sind die Publikationen Haeckels u. Alexander von Humboldts, Anm. d. Verf.] wollten sie zu einer Erfahrung verhelfen, die der des Naturforschers vergleichbar war, der zum ersten Mal auf die verführerische Prachtentfaltung der Natur trifft.«34 Haeckels Ansatz, »das individuelle Erfahrungsbild eines Naturganzen«35 festzuhalten, basiert darüber hinaus auf den Begrifflichkeiten und der Ideengeschichte Johann Wolfgang von Goethes, für den der Naturkundler ebenso wie der Künstler ein Verständnis vom Archetypen und Ideal haben musste, um die Dinge durchdringen und vermitteln zu können.36 Mit Kenntnis der darwinistischen Theorien »verwandelte
künstlerisches Ringen, in: Kort/Hollein: Darwin. Kunst und die Suche (wie Anm. 4), S. 24-53. Kort geht in ihrem Artikel u. a. auf die Verschränkung zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit ein, zum Teil mit besonderem Blick auf die technischen Druckverfahren und künstlerischen Mittel. Zum Diskurs über Begrifflichkeiten des Künstler-Forschers vgl. u. a. Rotterdam, Paul Zwietnig: Wilde Vegetation. Von Kunst zu Natur, München 2014, hier insb. den Vortrag für das Fakultätsseminar am Carpenter Center for the Visual Arts, Harvard University, 1970, Übersetzung 2011, »Warum Kunst nicht Wissenschaft ist«, S. 15-24; vgl. Wilson, Stephen: Art as Research. Cultural Importance of Scientific Research & Technology Development, http://userwww.sfsu.edu/~swilson [Stand: August 2016]. 32 Vgl. Richards: Die tragische Seite Ernst Haeckels (wie Anm. 31), S. 98 u. S. 100. 33 Vgl. ebd., S. 99. 34 Vgl. ebd. 35 Breidbach, Olaf (2005): Die allerreizendsten Tierchen. Haeckels Radiolarien – Atlas von 1862, in: Ernst Haeckel. Kunstformen der Natur. Kunstformen aus dem Meer, mit einem Vorwort von Olaf Breidbach, München/London/New York 2014, S. 15-29, hier S. 24. 36 Vgl. Bies, Michael: Im Grunde ein Bild. Die Darstellung der Naturforschung bei Kant, Goethe und Alexander von Humboldt, Göttingen 2012, v. a. S. 136-148.
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sich seine eher metaphysische Betrachtungsweise des Goethe’schen ArchetypBegriffs in ein entwicklungsgeschichtliches Szenario«37. Ernst Haeckel steht in seiner Funktion als ›Forscher-Künstler‹38 in dieser Publikation auch für die Schnittstelle von Kunst und naturkundlicher Welterschließung, für eine Idee von naturgeschichtlichen Neuschöpfungen, indem er tote Exemplare einer Spezies – Vorlagen für Illustrationen – im Bild ins ›Leben‹ zurücksetzte, und zugleich für ein Primat des Ästhetischen, wenn er ornamentale Bildplatten schuf, die in der Symmetrie der dort angelegten Naturabbilder von den tatsächlich existierenden, individuelle Unregelmäßigkeiten aufweisenden Exemplaren der betreffenden Spezies abweichen.39 Zu einer Position wie sie Haeckel für die naturkundliche Forschung einer Epoche repräsentiert, tritt im 20. Jahrhundert eine Form der künstlerischen Forschung (artistic research)40 hinzu, bei der wissenschaftliche Methoden adaptiert werden, so dass objektive Beschreibungen eine subjektive Handschrift erhalten und sich Kriterien einer Wissenschaftlichkeit individuellen Bewertungen und Fragestellungen beugen.41
D IE P UBLIKATION ,
DIE
B EITRÄGE
Als Ergebnis einer von den Herausgeberinnen konzipierten interdisziplinären Tagung (10. bis 12. September 2015), ausgerichtet vom Sprengel Museum Hannover und der Hochschule Hannover – in Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover –, führt diese Publikation erstmals in einem größeren wissenschaftlichen Umfang durch das Themenfeld ›Naturgeschichte und Kunst‹. Die Beiträge untersuchen aus verschiedenen Blickwinkeln das Nach- und Eigenleben naturkundlicher Darstellungstraditionen in ihrer künstleri-
37 Richards: Die tragische Seite Ernst Haeckels (wie Anm. 31), S. 101. 38 Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus (1998): Ernst Haeckel – Der Künstler im Wissenschaftler, in: Ernst Haeckel. Kunstformen der Natur. Kunstformen aus dem Meer, mit einem Vorwort von Olaf Breidbach, München/London/New York 2014, S. 117-129. 39 Vgl. Breidbach, Olaf: Die allerreizendsten Tierchen (wie Anm. 35), v. a. S. 23-25 (zu Haeckels Natur-Ansichten und Naturgestalten). 40 Zum Begriff der ›künstlerischen Forschung‹ vgl. Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin 2009. Als Überblicksdarstellung vgl. Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/Rey, Anton/ Schenker, Christoph/Toro Pérez, Germán (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015. 41 Vgl. auch Daston/Galison: Objektivität (wie Anm. 16), S. 39.
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schen Aneignung, die Reflexe der Naturgeschichte in der Kunst auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Vorlagen, Motive und Bildstrategien, die Grenzen des gegenseitigen Austauschs und Potenziale einer Kritikfähigkeit sowie künstlerische Neuschöpfungen naturgeschichtlicher Konzepte und Methoden. Angesichts der Text- und Bilderfülle, die sich für die Diskurse ›Kunst und Natur‹,42 ›Kunst und Wissenschaft‹ und noch spezifischer ›Kunst und Naturwissenschaft‹43 eröffnet, besteht das Ziel dieser Publikation darin, einen speziellen Wissenschaftsbereich herauszugreifen und zu fokussieren, der von Seiten der Kunstgeschichte bislang noch nicht übergreifend für das 20. und 21. Jahrhundert erforscht worden ist: die Naturgeschichte. Der Fokus auf der Naturgeschichte richtet den Blick explizit auf die Entwicklung der Natur als Prozess, die naturkundlichen Forschungsmethoden und das (Bild-)Wissen der Naturkunde als den ihr immanenten Aspekten. Es gilt zu untersuchen, wie sehr Kunst ein Naturbild und Bild naturgeschichtlichen Wissens reflektiert hat. Die Frage, mit welchen Phänomenen, Techniken und Vorgehensweisen der Naturkunde sich die Kunst auseinandergesetzt hat, spiegelt auch ein kulturelles Selbstverständnis des Menschen und seine Beziehung zur Natur wider und trägt zur Erkundung beider Gesichtspunkte bei. Darüber hinaus gilt es, ein grundlegendes, gemeinsames Denkfeld zu eröffnen, um die verschiedenen künstlerischen Ansätze einer mitunter vergleichenden Betrachtung zu unterziehen und eine Aussage über das Wesen künstlerischer Adaptionen von naturhistorischem Wissen und seinen Bildformen treffen zu können. Die Beiträge sind vorwiegend kunstgeschichtlicher Natur, richten ihren Fokus jedoch auch auf Fragestellungen und Erkenntnisse der Kulturwissenschaft, der Designwissenschaft, der Architekturgeschichte, der Medienwissenschaft, der Wissenschaftsgeschichte, der Philosophie, aber auch der Biologie sowie der präparatorischen und museologischen Praxis. Wege der Naturgeschichte in die Kunst (Kap. I): In Erweiterung ebenso wie in Verdichtung der in diesem Beitrag dargelegten allgemeinen, hinleitenden Gedanken zu einem Spannungsfeld der Naturkunde und einer künstlerischen Aus-
42 Vgl. z. B. Dickel: Kunst als zweite Natur (wie Anm. 4); Fehrenbach, Frank/Krüger, Matthias (Hg): Der achte Tag. Naturbilder in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2016. 43 Zum Diskurs ›Kunst und Wissenschaft‹ vgl. u. a. Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hg.): Kunst und Wissenschaft, München 2007; Groß, Dominik/Westermann, Stefanie: Vom Bild zur Erkenntnis? Visualisierungskonzepte in den Wissenschaften, Kassel 2007; Gördüren, Petra/Luckow, Dirk (Hg.): Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel, Köln 2010.
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einandersetzung mit ihrem Wissenskomplex sind zwei weitere Beiträge in dieses einführende Kapitel mit aufgenommen worden. Die Vorstellung von einer Ordnung der Lebewesen, ihre Einteilung in Arten, behandelt Verena Kuni, indem sie nach einer ihr zugrunde liegenden Systematik und ihren Visualisierungen als wesentliches Thema der Naturgeschichte fragt. Die Scala naturae oder das Systema naturae nach Carl von Linné (17071778), spezifische Baum- und Namensbilder werden historisch verortet, naturkundliche Ordnungssysteme und ihre Wirkmacht auf die Naturerfahrung und das Formenrepertoire der Kunst sowie die künstlerische Bildgebung wissenschaftlicher Erkenntnisse diskutiert. Auf dieser Grundlage, die für eine Behandlung der Naturwissenschaften (in der Kunst) insgesamt herangezogen werden kann, stellt Kuni beispielhaft Ansätze zeitgenössischer Künstler wie Thomas Grünfeld (geb. 1956), Pierre Huyghe (geb. 1962), Eduardo Kac (geb. 1962) und Alexis Rockman (geb. 1962) vor, die auf (naturwissenschaftliche) Ordnungssysteme und Kategorisierungen Bezug genommen haben. Ausgehend von einem Portfolio verschiedener Werke wird in diesem Beitrag über alle Transformationen der Idee einer Naturgeschichte und der in sie eingeschriebenen Ordnungen der Natur hinaus nach der Bedeutung gefragt, die das Gegensatzpaar Objektivität und Imagination bis heute in den Wissenschaften spielt. Eine monografische Annährung unternimmt Christiane Stahl: Motiviert von der Darstellung einer Konchylie, der Wendeltreppenschnecke (Scala pretiosa), und ihrer ikonischen Repräsentanz für die vorliegende Publikation, unterzieht sie die vom deutschen Fotografen und Filmemacher Alfred Ehrhardt (1901-1984) ins fotografische Bild gesetzten Formen des Lebens, die auch ein ästhetisches und weltanschauliches Fundament offenlegen, im Kontext seiner Publikationen einer eingehenden Betrachtung. Die Natur insgesamt war – wie für so viele Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts – eine Inspirationsquelle der fotografischen Arbeit Ehrhardts. Er folgte der Idee, dass eine genaue Beobachtung zur (Natur-)Erkenntnis führe, und dieser versuchte er, in seiner Serie und dem Bildband Muscheln und Schnecken (1941) einen Rahmen zu geben: Ehrhardt lenkte durch Kameraeinstellung und Lichtführung die gesamte Aufmerksamkeit auf die Tiergehäuse, die vor tiefschwarzem Hintergrund im leeren Raum stehen, und auf die Schönheit der Form und Oberflächenzeichnung. Die den Überresten von Lebewesen gewidmeten Fotografien entsprechen seinem Interesse an Formen einer überzeitlichen Gültigkeit.
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(Ab-)Bilder des Wissens über Natur (Kap. II): Ausgehend von einer objektiven Naturbeobachtung reicht die Erarbeitung von ›Naturbildern‹44 von einer sachlichen Wiedergabe und mimetischen Wirklichkeitsaneignung bis hin zu Abstraktionen, Fantasie und Fiktion. Als Bildprogramme eines Naturwissens spiegeln diese (Ab-)Bilder unterschiedliche individuelle, gesellschaftliche und politische Welterfahrungen wider und folgen bestimmten Denkströmungen im Wandel der Zeiten. Mit Einsetzen der Forschungsexpeditionen im 17. Jahrhundert entstand zum Beispiel der Anspruch, die vorgefundenen Gegebenheiten und Objekte nicht nur zu sichten, zu untersuchen und auch mitzunehmen, sondern sie abzubilden und einem wachsenden Fachpublikum zu Bildungszwecken weiterzugeben. Naturkundliche Darstellungen entstanden zur gleichen Zeit von Künstlerinnen und Künstlern wie Maria Sibylla Merian (1647-1717),45 Alexander Wilson (1766-1833), Thomas Baines (1820-1875) und William Bartram (1739-1823). Neue Medien der Wahrnehmung und der Erforschung von Natur, beispielsweise das Mikroskop, die Lupe, das Fernrohr und weitere Instrumente, beeinflussten die Darstellungen. Die aus der Anwendung dieser Instrumente resultierenden Abbildungen sind zugleich »Dokumente von Beobachtung« und zeichnen in ihrem Wandel bis hin zu ihrer Technisierung und Digitalisierung während des 20. Jahrhunderts und bis heute »ein Moment der Geschichte des wissenschaftlichen Sehens«46 nach. Vor dem Hintergrund der Bedeutung dieses neuen Sehens für künstlerische und naturkundliche Erkenntnisprozesse geht es in diesem Kapitel zu Abbildern und Bildern des Wissens um den wechselseitigen Einfluss auf der Bildebene, zwischen naturwissenschaftlichen Darstellungen und ihrer Rezeption durch die Kunst. Grundlegend ist eine Fragestellung, wie sie Annette Richter von Seiten der naturkundlichen Praxis bearbeitet, wenn sie dem Herstellungsprozess von wissenschaftlichen Handzeichnungen nachgeht. Sie erläutert die Entwicklung eines naturkundlichen Bildes sehr konkret anhand der Methoden und dem Vorgehen beim Zeichnen, um anschließend zu diskutieren, was diese Bilder leisten können, indem sie die Grenzen der Objektivität naturwissenschaftlicher Abbildbarkeit
44 Zu verweisen ist hier auf die Arbeit der Forschungsstelle ›Naturbilder‹ an der Universität Hamburg unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Frank Fehrenbach, vgl. https://www.fbkultur.uni-hamburg.de/naturbilder.html. 45 Vgl. Roth, Michael/Sonnabend, Michael (Hg.): Maria Sibylla Merian und die Tradition des Blumenbildes, Ausst.-Kat. Städel Museum, München 2017. 46 Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005 (Bild und Text, hg. von Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter, Karlheinz Stierle), S. 14.
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herausarbeitet. Dass naturkundliche Sammlungen als Spiegel menschlicher Weltensicht und zugleich einer Idee verstanden werden können, der Welt habhaft zu werden, um über ihre Phänomene und Hervorbringungen zu sprechen, bringt dieser Artikel näher. Annerose Keßler greift aus der Perspektive der Kunst die Frage nach dem naturkundlichen Objekt und seiner Darstellbarkeit auf. Sie zeigt auf, dass eine klare Zuordnung zu Naturding, Wissensding und Kunstding immer schon wandelbar war und sich diese Kategorien historisch gesehen von Werk zu Werk, aber auch von Kontext zu Kontext verschieben. Der Ausschnitt der Natur, auf den hier insbesondere der Fokus gelegt wird, ist die Naturgeschichte des Meeres, die auch die Werke von Mark Dion (geb. 1961) wesentlich mitgeprägt hat. Anhand seiner Position wird dargelegt, wie sehr Naturbilder mit der historischen Entwicklung einer Sichtbarmachung naturkundlichen Wissens verknüpft sind. Eines der Ergebnisse dieses Beitrags ist die Verstärkung von Konturen eines Typus des ›Künstler-Forschers‹, der durch spezielle Verfahrensweisen und Methoden »künstlerische Forschung«47 betreibt und dabei die Objektivitätsansprüche der Naturkunde und der Wissenschaft insgesamt kritisch hinterfragt. Noch enger kreist Hubertus Butin den Blick auf die künstlerische Aneignung und Verarbeitung einer wissenschaftlichen Vorlage, nämlich einer nanotechnologischen Visualisierung, in einem konkreten Werk von Gerhard Richter (geb. 1932) ein, um dann den Fokus für Fragen nach dem Wesen und der Wirkmacht naturwissenschaftlicher Bilder zu erweitern. Untersucht wird, in welchem Maße die Bildwerke Richters die Einsicht bestärken, dass naturwissenschaftliche Bilder an der Formierung von Wissen maßgeblich beteiligt sind und Sachverhalte verändern, organisieren und hervorbringen. Bilder können die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung thematisieren und eine Rückversicherung auf das Medium der Abbildung notwendig machen, wie die Darstellung von Atomen und ihre lapidare Bezeichnung als ›Fotografie‹ in einer Zeitung zeigt. Der Beitrag von Butin zu Atomen, elementares Wissensgebiet der Naturgeschichte und ihrer Abbildbarkeit,48 unterstreicht die Bedeutung, die eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Art und Herkunft von Bildern des an sich nicht Sichtbaren beziehungsweise für Wissenschaftsbilder insgesamt einnehmen kann. Anne Marno wiederum durchdringt zwei Ebenen des Themas, indem sie den Einfluss des bildgebenden Röntgenverfahrens aus der Medizin auf Naturbilder der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts analysiert. Sie widmet sich der zeit-
47 Vgl. Badura et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 39). 48 Zur Rolle von Atomen in der Naturgeschichte vgl. beispielsweise Shubin, Neil: Das Universum in Dir. Eine etwas andere Naturgeschichte, Frankfurt a. M. 2014.
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genössischen X-Ray-Art, um dann anhand der Werke und Vorgehensweise von Nick Veasey (geb. 1962) der Darstellung von Naturmotiven nachzugehen. Im Zentrum des Artikels steht das Verhältnis von Objektivität und Imagination unter bildwissenschaftlicher Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung von Medium und Technik. Ausgewählte Arbeiten des Künstlers diskutiert Marno als Inszenierungen oder Konstrukte, die Einflüsse sichtbarmachender Medien aus der Medizin zwar aufnehmen, diese aber zugleich zugunsten einer jeweils spezifischen Bildintention transformieren. Naturhistorische Präsentation und Vermittlung in der Kunst (Kap. III): Wichtiger Aspekt der Beziehung zwischen Naturkunde und Kunst ist die Präsentation von Naturwissen auf der einen und dessen Wahrnehmung, das beobachtende, genaue und Wissen generierende Sehen, auf der anderen Seite. Dies schließt die Frage ein, welche Inhalte Institutionen vermitteln, auf welche Weise sie Erkenntnisse aufbereiten und von welchem (institutionellen) Standort aus Natur (orientiert an den entsprechend zeitgemäßen Diskussionen) erforscht wird. Schau- und Lehrsammlungen, historische und aktuelle Formen der Präsentation und Vermittlung, von Dioramen bis hin zu Biodiversitätswänden, aber auch Strategien der Bewahrung naturwissenschaftlicher Objekte und Erkenntnisse haben bis heute zum Verständnis und zur Rezeption von Welt und ihren Phänomenen beigetragen. Die fachkundlichen Ordnungen von Naturmaterialien und ihre verschiedenen Präsentationsformen sind dabei auch zum Ausgangspunkt von künstlerischer Bearbeitung geworden, die zum Teil als kritische Reflexion institutioneller Vermittlung zu verstehen ist. Dieses Kapitel schließt damit auch die Position des Betrachters mit ein und wird als ein Gefüge von Darlegen und Betrachten, Aufbereiten und Aufnehmen verstanden; die hier zusammengefassten Beiträge nähern sich diesen unterschiedlichen Perspektiven. Eine Grundlage für die Diskussion naturkundlicher Wissensvermittlung liefert der Beitrag von Martina Dlugaiczyk. Sie fragt nach der Anordnung und dem Aufbau, aber auch nach der Ausrichtung und dem pädagogischen Ziel von Lehrsammlungen in Technischen Hochschulen zu Beginn der Moderne als Mittel der Ausbildung und Forschung. Die Inspirationsquelle Natur und das Wissen über Natur, so legt Dlugaiczyk dar, spielte im Kontext dieser Sammlungen eine zunehmend wichtigere Rolle für die Bereiche des Kunstgewerbes und der Architektur, vor allem in Bezug auf die (wieder-)entdeckten Erkenntnisse über Struktur- und Ordnungsprinzipien der Naturformen. Insbesondere die grundlegenden Arbeiten von Ernst Haeckel und Karl Blossfeldt (1865-1932) werden hier als weitreichende Impulse rezipiert.
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Uta Kornmeier und Georg Toepfer befassen sich mit der Präsentationsform von Dioramen, die als klassisches Medium der Darstellung von Natur im Museum zum Ausgangspunkt für verschiedene künstlerische Positionen geworden sind. Anhand der ausgewählten Werke werden zwei wesentliche zeitgenössische Reaktionen auf das Problem des Dioramas dargestellt: einerseits im Medium der Fotografie, andererseits durch alternative museale Inszenierungsformen. Als naturhistorische Vermittlungsform behandelt das Autorenpaar das Diorama darüber hinaus in Gegenüberstellung zu Installationen, die die Biodiversität ohne Narrativ vor Augen führen und ebenfalls Eingang in künstlerische Arbeiten gefunden haben. Sie führen das Kapitel insgesamt zurück auf die Frage nach dem Einfluss und der Wirkung naturkundlicher Präsentationsformen auf eine künstlerische Praxis beziehungsweise – von anderer Seite betrachtet – auf die künstlerische Auseinandersetzung mit den dort anzufindenden Anordnungssystemen, Modellen und Aussagen. Einen weiteren Aspekt des Themas behandelt Ebony Andrews, wenn sie vor dem Hintergrund eines Animal Turn der Bedeutung von taxidermischen Exponaten als Repräsentanten von Spezies und als ehemaligen Individuen auf den Grund geht. Beispielgebend ist der Wellensittich Sparkie, heute naturkundliches Exponat im britischen Hancock Museum, zu Lebzeiten ein kulturelles Phänomen und eine Berühmtheit wegen seines beeindruckenden, Dialekt geprägten Wortschatzes. Im Kontext unterschiedlicher Museumsdisplays über die Dekaden hinweg bis zur aktuellen Präsentation lotet Andrews für Sparkie eben jene beschriebene Wahrnehmungsgrenze zwischen naturkundlicher und soziokultureller Bedeutung eines Objekts aus und fragt nach dem Erkenntnisgewinn von Exponaten im Rahmen spezifischer musealer Wissensvermittlung. Transformation von Bildwissen (Kap. IV): Naturgeschichte hat nicht nur mit ihrem Bildwissen, sondern auch als literarisches und lexikalisches Genre auf ein Naturverständnis von Künstlerinnen und Künstlern eingewirkt, wie der Beitrag von Friedrich Weltzien zum Bereich der klassischen Moderne belegt. Exemplarisch beleuchtet er Werke von Künstlern wie Willi Baumeister (1889-1955) und Ernst Wilhelm Nay (1902-1968), indem er motivische und ikonografische Verbindungslinien zwischen beiden Disziplinen rekonstruiert und (populär-)wissenschaftliche, naturhistorische Publikationen zur Untersuchung heranzieht. Ein nicht nur auf das Motiv reduziertes Zusammendenken von Kunst und Naturgeschichte im Werk beider Künstler wird hier sichtbar und lässt einen scheinbar offenkundigen Gegensatz zwischen Objektivität und Imagination überwinden: Naturkräfte wurden für die Künstler zu ästhetischen Vorbildern für eine stete Modulation von Formen. Baumeister beispielsweise nahm Bezug auf naturkund-
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liche Wissensbilder und die Gesetze der Natur, um hinter ihre Geheimnisse zu blicken. Weltzien untersucht auch den politischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund, auf dessen Folie eine solche Auffassung zu den vorliegenden Ergebnissen führen konnte. Eine ›Naturalisierung‹, die Ausdehnung naturwissenschaftlicher Paradigmen und Methoden auf die Untersuchung architektonischer und digitaler Phänomene einerseits und die Ausdehnung naturwissenschaftlicher Erklärungsansprüche und Deutungshoheiten auf gestalterische Problembereiche andererseits, hat auch Design und Architektur geprägt und neue Wege der Gestaltung aufgezeigt. Carolin Höfler widmet sich dieser Naturalisierung anhand der Arbeit von Greg Lynn (geb. 1964), der sich mit – durch das Medium des Computers veränderten – Bedingungen und Möglichkeiten der architektonischen Formfindung auseinandergesetzt hat. Die Aneignung morphologischer Modelle durch die zeitgenössische Architektur ist ein zentraler Aspekt in Höflers Beitrag. Grundlage ihrer Diskussion sind Traditionen und Strategien der Gestalttheorie und der strukturellen Architektur der 1950er und 1960er Jahre, die explizit Bezug auf die Naturgeschichte genommen und digitale Formgebungsverfahren mit angeregt haben. Die Entwürfe verschiedener zeitgenössischer Designer und Architekten werden als Annährungen an eine Vereinheitlichung und Versöhnung von Architektur und Natur sowie von Kunst und Wissenschaft untersucht. Der Beitrag stellt heraus, wie die gegenwärtige Reformulierung der Struktur in Übereinstimmung mit dem eigengesetzlichen Natur- und Formbegriff der Moderne erfolgt. Die Rolle des Architekten gerät damit in den Blick und wird neu befragt. Expeditionsreisende erschlossen während der Kolonialisierung eine unbekannte Flora und Fauna. Beschreibungen und Zeichnungen, angefertigt von kundigen Händen der Forschenden, aber auch von mitreisenden Künstlerinnen und Künstlern, wurden zu Medien der Vermittlung, die nicht frei von Interpretation waren und Wissen oftmals transformierten. Zwei weitere Beiträge knüpfen an diesen Punkt an und führen ihn in unterschiedliche thematische Richtungen bis in die Gegenwart weiter: Oscar Ardila Luna betrachtet postkoloniale Strategien zeitgenössischer, in Kolumbien lebender Künstler und Kunstkritiker (José Alejandro Restrepo, geb. 1959, Alberto Baraya, geb. 1968) in ihrer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und der Entstehung von Vorstellungen auf der Grundlage eines naturwissenschaftlichen Bildarchivs, angelegt von europäischen Forschungsreisenden und Illustratoren. Dieser historische Rekurs, so arbeitet Ardila heraus, manifestiert eine kritische, kunstpolitische Haltung gegenüber den aktuellen, bestehenden Verhältnissen, eine Position kulturellen Widerstands. Insbesondere das Verhältnis von Objektivität und Imagination innerhalb dieses Bildarchivs, dessen einzelne Abbildungen Deutungen und Umdeutungen erfah-
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ren haben und nicht nur als naturkundliche Bilder, sondern auch als kulturelle Konstrukte gelesen werden können, wird in Frage gestellt. Die Beispiele zeigen stellvertretend für viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler den Versuch, hegemonische Diskurse in der Wissenschaft aufzuspüren und zu dekonstruieren sowie naturalisierte Gesellschaftsordnungen und den Umgang mit Naturressourcen zu beleuchten. Zudem erörtern sie Macht und Reichweite der Wissenschaften, die partikulare Interessen und Hierarchien befördert haben und bis heute nachwirken. Naturgeschichte, verstanden als das Sammeln, Ordnen und Beschreiben, aber auch als Archivieren von Dingen vor allem durch westeuropäische und USamerikanische Naturkundemuseen untersucht Kassandra Nakas in ihrem Beitrag als kulturelle Hierarchien und Zeugnisse institutioneller und diskursiver Praxis. Künstlerinnen und Künstler haben die oben beschriebenen Tätigkeiten von Naturkundlern übernommen – neben den oben genannten Aspekten auch das Sezieren und Präparieren, das Konservieren und Dokumentieren von (tatsächlichen oder fiktiven) Naturobjekten vor allem in Reaktion auf aktuelle Forschungsdebatten der Ökologie, Gen- und Biotechnologie. Nakas nimmt dabei Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen in den Fokus, nämlich von Camille Henrot (geb. 1978), Lu Yang (geb. 1984) und Anicka Yi (geb. 1971), die den eurozentristischen und/oder anthropozentrischen Blick auf die Naturgeschichte auffächern. Ihre Werke tragen biotechnologischen Entwicklungen und Traditionslinien in der Wissenschaftsgeschichte von Naturkunde ebenso Rechnung, wie sie sich digitaler Produktions- und Darstellungsweisen bedienen. Es geht zugleich um eine kritische Rezeption von Naturkunde als Glaubens-, Medien- und Technikgeschichte. Die hier diskutierten Positionen und Strategien veranschaulichen die Bedingtheit heutiger Naturerfahrungen und die Wirkmacht historischer Ordnungssysteme. Neuschöpfungen von Naturgeschichte (Kap. V): Abschließend sind Beiträge zusammengeführt, die sich vor allem definitorischen Fragen zu neu entstehenden oder sich auflösenden Ordnungen und Kategorien, aber auch ethischen und ökologischen Fragestellungen zuwenden, mit denen die Kunst – auch als kritische Stimme gegenüber den Naturwissenschaften, ihren Forschungsgebieten und Verfahren, die mit großen gesellschaftlichen Erwartungen und Kontroversen verknüpft sind – Stellung bezieht. Unter dieser Perspektive wird gefragt, welche Bedeutung Wissenschaft und Kunst füreinander haben (können), in Bezug auf neue Impulse, den Transfer von Wissen und Kreativität und nicht zuletzt als ein Anstoß zum Anders-Denken.
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Linn Burchert widmet sich dem Werk der Künstlerin Remedios Varo (19081963), die sich seit den 1950er Jahren mit der Natur, Methoden des Erkenntnisgewinns aus Naturphänomenen und -prozessen – mit mythologischen, naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Zugängen – und dem Verhältnis des Menschen zur Natur auseinandersetzte. Damit ist sie im historischen Vorfeld der Umweltbewegungen und eines ökologischen Bewusstseins in den 1970er Jahren zu verorten, sodass ihr Werk symptomatisch für mögliche Verschiebungen im Naturverständnis ihrer Zeit steht und zugleich eine grundlegende Reflexion der Geschichte der Mensch-Natur-Relationen ist. Neben formalen Wiederaneignungen stellte sie motivisch und inhaltlich eine Verbindung zu antiken, neuzeitlichen und modernen Themen her, so verkörpern künstliche Lebewesen und Mensch-Tier-Hybride beispielsweise die Schnittstelle zu Alchemie, Gentechnik und Bionik. Die forschende, neuartige Spezies ist in ihren Gemälden oft als Eremit und Asket dargestellt oder setzt die Idee einer Rückkehr zur Natur und zum Ursprung ins Bild. Burchert diskutiert am Beispiel Varos die kreativen oder zerstörerischen Implikationen der historischen und modernen Naturkunde. Isabelle Schwarz untersucht die ersten Arbeiten der Unterwasserfilmer und Tauchpioniere Jaques-Yves Cousteau (1910-1997) und Hans Hass (1919-2013), die die Weite des unbekannten Raumes und die technischen Bedingungen mit ihrer (Selbst-)Darstellung als Taucher, Filmemacher und Forscher verbanden und so ein eigenes ästhetisches Spannungsfeld eröffneten. Im Medium des Films finden zwei an sich divergierende Bereiche, Wissenschaft und Kunst, nicht nur auf besondere Weise zusammen, sie kreieren mehr noch ihre eigenen Regeln und setzen inhaltlich und visuell eigene Definitionsgrenzen. Ein neues Genre formiert sich, dem u. a. Elemente des Wissenschaftsfilms, das Narrativ von Spielund Abenteuerfilm und Analogien zu künstlerischen Richtungen und Positionen eingeschrieben sind. Das Meer war in den 1940er und 1950er Jahren noch nicht medial erschlossen, es galt, dieses als Bildraum erstmals einzunehmen und zu durchmessen. Die Filme sind vor diesem Hintergrund mit frühen naturkundlichen Expeditionsreisen und ihren Formen der Dokumentation vergleichbar. Die Meeresoberfläche wird als Grenze diskutiert, die die weißen Flecken auf der Karte zur Projektionsfläche macht und von jenem trennt, was den Menschen in seinem Verhältnis zur Natur und insbesondere zu den unbekannten Lebensformen ausmacht; dies noch mehr in Gegenüberstellung der Arbeiten und Ansätze eines Avantgardisten wie dem Filmemacher Jean Painlevé (1902-1989). Die Filme stellen einzigartige Beispiele für das Phänomen dar, wie ein Genre im Spannungsfeld mannigfaltiger Einflüsse Form annimmt. Geradezu eine Utopie beschreibt wiederum Anna Lena Seiser mit dem Versuch der ›Wiederbelebung‹ der Wandertaube (Ectopistes migratorius) des US-
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amerikanischen Projektes Revive & Restore durch Genetic Engineering als Bildtechnologie. Es ist der Versuch, ein vom Menschen herbeigeführtes Artensterben nachträglich zu regulieren. Über die Bedeutung des Genetic Engineering hinaus geht es Seiser darum, Bild und Wiederbild der Wandertaube einzuordnen. Tod und Lebendigkeit als Kategorien spielen dabei ebenso eine Rolle wie Originalität und Rekonstruktion. Die rekonstruierte ›Wandertaube‹ wird ein aus dem Rahmen gelöstes Bild sein, dessen Lebendigkeit zum ersten Mal keine Metapher und keine Simulation mehr ist. Damit konkretisiert sich etwas bislang Imaginäres – die uneingelöste Wunschstruktur, den Tod und die Zeit im ›Rahmen‹ des Bildes zähmen und das Leben und die Realität nach den eigenen Vorstellungen modulieren und kontrollieren zu können. Die dann jüngste, hybride Lebensform diskutiert Seiser als eine neue Bildform. Die Vorstellung von Neuschöpfungen wird in diesem Beitrag zum Verhältnis von Tod, Bild und ›lebensechter‹ Naturnachahmung am Beispiel der Repräsentation und Rekonstruktion von Tieren (Synthetische Biologie) konkret. Das Projekt von Revive & Restore wird hier aus bildtheoretischer, wissenschaftsgeschichtlicher und medienphilosophischer Sicht befragt. Die Beiträge zeigen, wie heterogen die Versuche von Künstlerinnen und Künstlern sind, in der Beschäftigung mit sehr konkreten naturwissenschaftlichen Publikationen und Bildvorlagen, mit Denkkomplexen und Wissensbereichen oder historischen Überlieferungen und Traditionen eine kritische Stimme zu naturgeschichtlichen Forschungszweigen, einer Experimentalkultur, aber auch ethisch oder moralisch umstrittenen Forschungen zu entfalten. Dabei ist immer zu fragen, wie nah künstlerische Praxis an den jüngsten wissenschaftlichen Forschungen, Entwicklungen und Ergebnissen sein kann, und welchen Einfluss diese – oder ein kunsthistorisches Beschreibungsinventar – auf naturwissenschaftliche Arbeitsprozesse haben kann, und wie kritisch oder kritiklos wissenschaftliche Forschungsbereiche in der Kunst behandelt werden.49 Zu konstatieren ist, dass in der Konfrontation von Epistemologie und Ästhetik der Austauschprozess meist einseitig bleibt:
49 »Entweder dient die wissenschaftliche Forschung der Kunst und erhellt diese, oder die Kunst dient dem, was sich in der Wissenschaft abspielt, oder erhellt es. Derzeit gibt es vor allem ein großes Interesse an dieser letzteren Form. Die Annahme ist, dass die Künste imstande sein werden, die Verfahren, Ergebnisse und Implikationen der wissenschaftlichen Forschung auf ihre einzigartige Weise zu verdeutlichen.« Borgdorff, Henk: Forschungstypen im Vergleich, in: Badura et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 39), S. 69-76.
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»Es sind vorzugsweise die Künstler, die sich mit den Verfahren und Ergebnissen des Forschungsprozesses auseinandersetzen und sie in der einen oder anderen Form in ihre Arbeit integrieren. Die Wissenschaftler der beteiligten Labore bleiben meist Zuschauer. [...] Weit seltener kommt es vor, dass die engagierten Wissenschaftler den künstlerischen Prozeduren etwas für ihre eigenen Arbeit abgewinnen können.«50
Einmal mehr wird anhand der behandelten Beispiele deutlich, wie wichtig ein Blick auf explizite Quellen, die wiederum ihre eigene Geschichte mitbringen, und der Versuch ihrer Kontextualisierung sind, damit sich eine kunst- und kulturpolitische Position deutlicher umreißen und fundieren lässt.51
D ANK Der vorliegende Band ist aus einer dreitägigen Tagung hervorgegangen, die unter dem Titel »Objektivität und Imagination. Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts« im September 2015 im Sprengel Museum Hannover stattfand. Als Partner fanden dabei die Hochschule Hannover und das Sprengel Museum Hannover zusammen, eine Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover unterstrich die Interdisziplinarität des Vorhabens. Ermöglicht wurde die Tagung durch die großzügige Unterstützung der Hochschule Hannover und der Stiftung Niedersachsen. Wir sind daher der Hochschule Hannover, insbesondere dem damaligen Dekan, Prof. Wilfried Köpke, und Prof. Dr. Josef von Helden, dem Präsidenten der Hochschule Hannover, der die Tagung mit einer anregenden Rede eröffnete, zu großem Dank verpflichtet. In gleichem Maße gebührt unser Dank der Stiftung Niedersachsen, namentlich dem damals amtierenden Generalsekretär Joachim Werren und seiner Nachfolgerin im Amt, Lavinia Francke. Außerdem danken wir sehr herzlich Dr. Reinhard Spieler, dem Direktor des Sprengel Museum Hannover, für die Unterstützung unseres Projektes und die Bereitstellung der Räumlichkeiten. Unser Dank gilt weiterhin Prof. Dr. Friedrich Weltzien, der uns von Seiten der Hochschule Hannover als wichtiger Fürsprecher der Tagungs- und Publikationsidee zur Seite stand.
50 Rheinberger, Hans-Jörg: Labor, in: Badura et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 39), S. 311-314, hier S. 312. 51 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung sind in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche sowie weitere geschlechtliche Formen mit gemeint.
V ERZWEIGUNGEN VON N ATURGESCHICHTE UND K UNST
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Nicht zuletzt die Begeisterung von Dr. Annette Richter, der Oberkustodin für Naturkunde am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover, für unser Vorhaben führte schließlich zu einer fruchtbaren Kooperation mit dem Landesmuseum Hannover, für die wir ihr und der Direktorin, Prof. Dr. Katja Lembke, in besonderem Maße danken. Annette Richter gab wichtige Anregungen und zahlreiche Impulse bereits in der Planungsphase und stieß durch den Zugang zum Depot und einen Austausch vor Originalen wesentliche Fragestellungen insbesondere zu Formen der Präsentation und Rezeption naturkundlicher Objekte an. Die hoch spannenden Rundgänge durch die Dauerausstellung »NaturWelten« im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover sowie durch ausgewählte Bereiche der Naturkunde-Depots mit konkreten Einblicken in die Sammlungsbestände waren schließlich inspirierende Höhepunkte im Rahmenprogramm der Tagung, auch dafür gebührt Annette Richter unser großer Dank. Einen besonders herzlichen Dank möchten wir allen Rednerinnen und Rednern aussprechen, auch nochmals denjenigen, die unsere Tagung mit ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen sehr bereichert haben, aus verschiedenen Gründen jedoch in diesem Band nicht vertreten sind: Dr. des. Isabella Augart, Julia Bayerl M. A., Dr. Kerstin Borchardt, Dr. Maria Bremer, Prof. Dr. Hans Dickel, Prof. Dr. Hugo Fortes, Prof. Dr. Claudia Hattendorff, Prof. Dr. Christian Janecke und Dr. Heike Thienenkamp. Nochmals hervorzuheben und für ihren Beitrag und ihre Anregungen zur Diskussion ausdrücklich zu danken ist Julia Schmid, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit naturkundlichen Objekten auseinandersetzt und uns einen aufschlussreichen Einblick in ihre Herangehensweise gewährte. Unter dem Leitgedanken eines Zusammentreffens von naturkundlichen und künstlerischen Methoden und Praktiken durfte ein Blick auf konkrete Kunstwerke des 20. und 21. Jahrhunderts, denen naturgeschichtliches Wissen zugrunde liegt, nicht fehlen. Diesen vergönnte Dörte Wiegand M. A. anhand ausgewählter Exponate in der Sammlung des Sprengel Museum Hannover. Wir danken allen beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der drei Institutionen für ihr Engagement, insbesondere Ingrid Mecklenburg und Christiane Schilling. Des Weiteren möchten wir uns sehr bedanken bei den Moderatorinnen und Moderatoren der Tagungssektionen, Dr. Marvin Altner, Dr. Christiane Stahl, Prof. Dr. Friedrich Weltzien und Dörthe Wilke M. A., sowie bei Thekla Hansen M. A. und Dr. des. Charlotte Langhorst, die zum Gelingen der Veranstaltung mit großem Einsatz beigetragen haben. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Publikation sind wir der Fakultät III – Medien, Information und Design der Hochschule Hannover, stellvertretend ihrem Dekan, Prof. Dr. Martin Scholz, zu großem Dank verpflichtet.
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Ohne diese Förderung wäre die vorliegende Publikation nicht zu realisieren gewesen. Allen Autorinnen und Autoren sei aufs Herzlichste für die zügige Bearbeitung und die Qualität ihrer Texte gedankt – aber auch für Ihre Geduld, da es von der Tagung bis zur Publikation ein weiter Weg war. Zusätzlich zu den Texten der Vortragenden erweitern zwei Beiträge das Spektrum des Tagungsbandes, sie stammen von Ebony Andrews PhD und Oscar Ardila Luna M. A. Der Austausch mit den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern und schließlich allen Autorinnen und Autoren hat uns außerordentlich bereichert und inspiriert. Dafür und nicht zuletzt für den mit uns gemeinsam beschrittenen Weg der Umsetzung mit seinen zahlreichen Verzweigungen bis zum vorliegenden Buch danken wir allen – und nicht zuletzt unseren Familien – von Herzen. Wir hätten uns mit Alfred Ehrhardts Scala pretiosa kein schöneres Motiv wünschen können, um der Tagung und nun auch der Publikation ein Gesicht zu verleihen. Für die Genehmigung der Bildrechte ist der Alfred Ehrhard Stiftung, Berlin, ein besonderer Dank auszusprechen und hier vor allem ihrer Leiterin, Dr. Christiane Stahl, die mit einem einordnenden Beitrag zu eben diesem prägnanten Motiv die Einführung ins Thema der Publikation mit ausgebaut hat. Ausdrücklicher Dank gebührt ferner dem transcript Verlag, insbesondere Anke Poppen, die das Projekt von Verlagsseite professionell begleitet hat.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 a-c: Mappe mit acht Lithografien und Mischtechnik auf Fabriano Büttenpapier, Sprengel Museum Hannover, Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover, © Cy Twombly Foundation, 2018 Abb. 2 a-d: Lichtdruck nach Bleistiftfrottage auf Lafuma, Sprengel Museum Hannover, Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Abb. 3: © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS/Artimage 2018, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Ästhetik und Kommunikation der Arten V ERENA K UNI
Zu den zentralen Grundeinheiten der Biologie gehört bis heute die Einteilung der Lebewesen in Arten. Wie kaum ein anderes Konzept hat sie sich als prägsam für unsere Vorstellungen von der Ordnung der lebendigen Natur und des Lebens überhaupt erwiesen. Indessen haben sich die Auffassungen davon, was eine Art ist und was sie von anderen Arten unterscheidet, im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte nicht nur ausdifferenziert, sondern auch in wesentlicher Weise verändert. Nach Charles Darwins Evolutionstheorie sind es vor allem die Entwicklungen in der Genetik und der Gentechnologie, die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in diesem Sinne von maßgeblichem Einfluss gewesen sind. Im einen wie im anderen Fall bezeugt dies eine ebenso reichhaltige wie vielfältige Bildproduktion in Wissenschaft, Populärkultur und Kunst. So hat Letztere seit Mitte der 1990er Jahre parallel zu den Entwicklungen in den Biotechnologien eine Vielfalt ästhetischer und konzeptioneller Zugänge hervorgebracht, von denen insbesondere jene besondere Beachtung gefunden haben, die unter dem Rubrum einer ›Genetischen Kunst‹ unmittelbar auf die mit diesen Entwicklungen verbundenen Erwartungen und Ängste, Utopien und Dystopien zu antworten scheinen – vorzugsweise mit Bildern anderer Art(en) und einer mit diesen einhergehenden ›Neuordnung der Natur‹: Verfahren der Züchtung, Hybridisierung, Optimierung von Leben; Verschmelzungs- und Vereinigungsphantasien, die vielleicht nicht immer gleich eine Abschaffung der Arten, jedoch durchaus eine Überschreitung ihrer Grenzen imaginieren und mitunter sogar suggerieren, sie zu realisieren. In jüngerer Zeit haben sich schließlich im Umfeld einer interdisziplinär orientierten Do-It-Yourself-Kultur des ›Bio-Hacking‹ neue Szenen formiert, deren Projekte sich nicht ohne Weiteres in die bereits klassischen Kategorien von ›BioArt‹ und ›Genetischer Kunst‹ einpassen lassen – gerade aufgrund ihrer praktischen Ver-
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ankerung in den Verfahren der Biotechnologie, deren systematische Prämissen letztlich selbst dort sanktionieren, wo sie zu ihrer kritischen Reflexion einladen. Vor diesem Hintergrund scheint es zunächst wenig verwunderlich, dass für die Formulierung alternativer Positionen vorzugsweise auf ästhetische Strategien zurückgegriffen wird, die historische Figurationen von Naturgeschichte aufrufen, indem sie Darstellungspraktiken und bildgebende Verfahren aus der älteren Wissenschaftsgeschichte zitieren und/oder revitalisieren. Bei näherer Betrachtung des Feldes erweist es sich indessen als voreilig, hieraus auf eine – wie auch immer kritisch-reflexiv orientierte, mit Blick auf die wissenschaftliche und technologische Entwicklung jedoch nostalgische – Retrospektive zu schließen, die noch einmal jene ›Ordnung der Natur‹ aufrufen wollte, welche unter ebendiesen Konditionen in vielfacher Hinsicht brüchig geworden ist. Vielmehr finden sich hier auch Ansätze, deren Verständigung mit der Wissenschaftsgeschichte nicht nur im Dialog mit zeitgenössischer Theoriebildung im Umfeld von Natur- und Technowissenschaften steht, sondern die im Zuge eines wissenschaftsarchäologischen Erkenntnisinteresses auch dezidiert danach fragen, welche Rolle das Spannungsfeld von Objektivität und Imagination über alle Transformationen der Idee einer Naturgeschichte und der in sie eingeschriebenen Ordnung(en) der Natur hinweg bis heute in den Wissenschaften spielt. Exemplarisch aufzeigen und zur Diskussion stellen lässt sich dies anhand ausgewählter Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die sich ihrerseits mit den historischen und gegenwärtigen Formationen eben jenes Bildund Imaginationsraums befassen, über den sich Konzeptionen und Konfigurationen der Spezies und ihrer Ordnung, ihres Ortes im ›Reich der Natur(geschichte)‹ und ihrer Relationen zueinander vermitteln und über den sie vermittelt werden – kurzum: mit der Ästhetik und Kommunikation der Arten.1
A RTEN Innerhalb der Biologie gibt es bis heute keine einheitliche Definition des Artbegriffs, die für alle Teildisziplinen gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen kann. So lässt sich, auch in historischer Perspektive, zwischen verschiedenen Ansätzen unterscheiden: allem voran zwischen dem morphologischen Konzept, nach dem Individuen aufgrund charakteristischer äußerer und/oder genetischer Merkmale, die sie miteinander teilen und die sie zugleich von anderen Individuen unterscheiden, einer Art zugeordnet werden, sowie dem sogenannten biologischen
1
In Anlehnung an den programmatischen Titel der 1970 gegründeten Kulturzeitschrift.
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Konzept, das Arten als Fortpflanzungsgemeinschaften definiert, die aufgrund von in den Lebewesen angelegten Eigenschaften gebildet werden und sie zugleich von anderen Fortpflanzungsgemeinschaften isolieren. Beide Ansätze haben im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte eine Reihe von Weiterführungen und Ausdifferenzierungen erfahren, die jedoch nie in einer Vereinheitlichung des Artkonzepts mündeten.2 Gemeinsam ist beiden Ansätzen gleichwohl und mithin unabhängig von den ansonsten für das jeweilige Konzept entscheidenden Kriterien, dass mit ›Art‹ eine Grundeinheit beschrieben wird, die Lebewesen im Schema eben jener Klassifikationen verortet, über die der Mensch die ›Ordnung der Natur‹ zu systematisieren versucht. Hiermit geht – bereits bevor von Taxonomie im wissenschaftlichen Sinne gesprochen werden kann – nicht nur die Bildung von Gruppen einher, die über Ein- und Ausschlüsse definiert werden, sondern auch die Errichtung von Hierarchien; mit der Positionierung in einer solchen vertikalen Anordnung sind wirkmächtige Wertungen verbunden.3 Schon früh ist den Versuchen der Systematisierung des Lebens jedoch auch eine Unschärfe eingeschrieben: Jedes Ordnungskonzept stößt auf Elemente, die sich einer eindeutigen Zuordnung verweigern.4 So bezeichnet Aristoteles (384-322 v. Chr.), dessen Schriften als erster Beleg einer Klassifikation von Lebewesen gelten, mit ›Art‹ (im griechischen Original: eidos, also eigentlich ›Bild‹) die Wesensmerkmale eines Lebewesens, die es mit seinesgleichen teilt und die es von anderen unterscheidet; zugleich verwendet er jedoch den Begriff der ›Gattung‹ (genos), wenn er in seiner Historia Animalium Tierarten beschreibt.5 Im Unterschied zu genos fasst eidos dabei Gestalt- und
2
Vgl. Heuer, Peter: Art, Gattung, System. Eine logisch-systematische Analyse biologischer Grundbegriffe, Freiburg/München 2008; Wilkins, John S.: Defining Species. A Sourcebook from Antiquity to Today, New York/Frankfurt a. M./Bern u. a. 2009.
3
Vgl. hierzu grundlegend: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974 [Originalausgabe: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966].
4
Vgl. Daston, Lorraine/Park, Katherine (Hg.): Wonders and the Order of Nature 1150-
5
Vgl. [Balme, David M. (Hg.):] Aristoteles: History of Animals, 3 Bde. (9:1, 10:2,
1750, New York 1998. 11:3), Cambridge 2001-2009; Heuer: Art, Gattung, System (wie Anm. 2), Kap. 1.2.1 u. weiterführend Kap. 4; Wilkins: Defining Species (wie Anm. 2), S. 9-17; Kullmann, Wolfgang: Aristoteles als Naturwissenschaftler, Berlin/Basel/Boston u. a. 2014, Kap. 4; speziell zu genos und eidos vgl. Balme, David M.: and in Aristotle's Biology, in: The Classical Quarterly 12:1, Cambridge 1962, S. 81-98; weiterführend
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Wesensqualitäten, die durchaus auch gattungsübergreifend angetroffen werden können. Dementsprechend kommt Aristoteles zu dem Schluss, dass eine umfassende, einheitliche Ordnung der Lebewesen nach einem übergreifenden Schema kaum möglich ist. Gleichwohl weist er ihnen – am deutlichsten wohl in seiner Abhandlung von der Seele, De Anima – auf der Grundlage ihrer Merkmale und Eigenschaften Ränge zu, indem er etwa die Tiere aufgrund ihres Tastsinns und ihrer Fähigkeit, sich selbständig zu bewegen, über die Pflanzen stellt, die seiner Auffassung nach lediglich ein Empfindungsvermögen besitzen; nur der Mensch verfügt darüber hinaus über den Intellekt.6 Entscheidendes Kriterium für die Einordnung in die Hierarchie ist der dem Lebewesen zuerkannte Grad der Organisation.
S TUFEN Letzteres wiederum lässt Aristoteles Scala naturae jener Ordnung verwandt erscheinen, in die das sogenannte ›christliche Abendland‹ beziehungsweise das Europa des Mittelalters sein Weltbild fügt.7 In diesem hierarchischen Modell, das sich aus den biblischen Erzählungen und allen voran dem Buch Genesis speist, reichen die Stufen von der unbelebten Materie über Pflanzen, Fische, Vögel, Säugetiere und den Menschen bis in die himmlischen Sphären hinauf, insofern sie sich hier über die Ordnungen der Engel bis hin zu Gott auf der höchsten Stufe reihen. Die in deutschen Bibelübersetzungen begegnenden Formulierungen »alle Arten«8 beziehungsweise »ein jedes nach seiner Art« sind freilich nur bedingt beim Wort zu nehmen – zumal in der griechischen Septuaginta an der entsprechenden Stelle von genos die Rede ist,9 in der lateinischen Vulgata wie-
Lennox, James G.: Aristotle’s Philosophy of Biology. Studies in the Origins of Life Science, Cambridge u. a. 2001. 6
Vgl. Aristoteles: De Anima – Über die Seele, Übers. Thomas Buchheim (n. d. engl. Ausgabe v. William D. Ross, Oxford 1956), Darmstadt 2016.
7
Vgl. zur Ideengeschichte des Stufenmodells bzw. zur »großen Kette der Wesen« Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge/London (1:1936) 2:1964. Lovejoy geht zugunsten seines Fokus auf Platos Ideenlehre nur kurz auf Aristoteles ein (ebd., S. 58, 59); den Bezug zur Geschichte der Biologie, wie er hier im Mittelpunkt steht, stellt er vor allem in Kap. VIII. her (»The Chain of Being and Some Aspects of Eighteenth-Century Biology«, ebd., S. 227-241).
8
https://www.bibleserver.com/text/EU/1.Mose1 [Stand: 20. Mai 2017].
9
https://www.bibleserver.com/text/LXX/1.Mose1 [Stand: 20. Mai 2017].
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derum alternierend von genus und species.10 So weisen auch mittelalterliche Darstellungen maximal eine Ausdifferenzierung in analog zur Schöpfungsgeschichte unterschiedenen Gruppen (Pflanzen, Fische, Vögel, Landtiere, Mensch/ en) und innerhalb dieser Gruppen unterschiedliche Variationen auf, die diesen Formulierungen anschaulichen Ausdruck verleihen und zugleich der Vielfalt der in ihr gefassten Lebewesen Rechnung tragen. Es geht jedoch nicht darum, Letztere für sich genommen zu betrachten, sondern ihnen einen Platz in der wortwörtlich von Gott gegebenen Ordnung des Gesamten zuzuweisen – und dabei insbesondere den Ort des Menschen zu bestimmen. Dass der Homo sapiens hier ante post die einzige Art nach modernem Verständnis repräsentiert, ist in dieser ›Bedeutungsperspektive‹ bereits angelegt – die ihrerseits eine Fortführung auch über jene wissenschaftsgeschichtlichen Umbrüche hinaus erfahren sollte, in deren Zuge die Idee der Scala naturae zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend verabschiedet wurde. Ihr Fortleben im kulturellen Gedächtnis führen nicht zuletzt jene naturhistorischen Sammlungen vor Augen, in denen der Mensch die von ihm nach allen Regeln der Kunst wissenschaftlich geordneten ›Reiche der Natur‹ von den Mineralien über Wirbellose, Fische, Vögel und Säugetiere mitunter bis zur Anthropologie durchschreiten kann. Hierauf nimmt auch die Scala naturae Bezug, die der US-amerikanische Künstler Mark Dion (geb. 1961, New Bedford, Mass.) 1994 ins Bild gesetzt hat.11 Auf den neun Stufen einer schlichten, weißen Holztreppe werden ausgewählte Gegenstände und Präparate als Vertreter der Naturreiche präsentiert. Wenn sich dabei Mineralien und Pilze eine Stufe teilen, verweist dies auf das vergleichende Sehen, das noch bis in die Neuzeit hinein aus Ähnlichkeiten der Gestalt Verwandtschaftsverhältnisse abzuleiten suchte; auch die auf den anschließenden Stufen folgenden Arrangements von Feldfrüchten, Korallen, Krustentieren, Muscheln und Schnecken lassen ebenso wie die in Rahmen aufgespießten Schmetterlinge, die in Gläsern eingelegten Mollusken und schließlich die sorgfältig ›nach dem Leben‹ modellierten Taxidermien von Krake, Frosch, Fisch, Vogel und einer Hauskatze als Repräsentantin der Säugetiere keinen Zweifel darüber, dass hier der Fingerzeig auf die ästhetische Zurschaustellung
10 Vgl. https://www.bibleserver.com/text/VUL/1.Mose1 [Stand: 20. Mai 2017]. 11 Vgl. die Abb. in Baur, Andreas/Berg, Stephan (Hg.): Mark Dion – Encyclomania, Nürnberg 2003, S. 40 sowie die 1993 und 1994 entstandenen Grafiken gleichen Titels, online abrufbar auf den Webseiten der Tanya Bonakdar Gallery, http://www. tanyabonakdargallery.com/artists/mark-dion/emodal/works-on-paper-and-prints u. der Goodwater Gallery, http://www.goodwatergallery.com/GW01-06/GW/Exhibitions/ dion2/dion2_08.htm [Stand: 20. Mai 2017].
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einer als ›objektive Wissenschaft‹ geflaggten, aber durchaus von Willkür geleiteten Ordnungsmacht gelegt wird, an deren Spitze sich der Mensch – auf der obersten Stufe als Gipsbüste repräsentiert – positioniert. Umso mehr mag insofern zunächst die Besetzung der untersten Stufe irritieren, auf der unter anderem das Steuerrad eines Schiffes, ein Buch, ein Pfeil, ein gebrochener Krug, eine Kerze und ein Wecker versammelt sind. Stimmig erscheint das Ensemble, wenn man in den Dingen eben jene Instrumente erkennt, auf denen der Mensch sein Wissen und seine Herrschaft über die Welt begründet – wobei ein jedes von ihnen mit einem oder mehreren der primären Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, mit Raum und Zeit operiert.
B ÄUME Neben der Scala naturae begegnen in der jüdisch-christlichen Tradition Vorläufer für jenes Modell, das Abstammung und Verwandtschaft vegetabil beziehungsweise im Bild eines Baumes mit Ästen und Verzweigungen fasst. Der ›Baum des Lebens‹, der ähnlich auch in vielen anderen Religionen figuriert und den das Alte Testament im Garten Eden verortet, ist ihm zunächst zwar eher namens-, denn wesensverwandt. Insofern er jedoch als ›Baum der Erkenntnis‹ gilt, wird er zugleich zu einem ›Baum des Wissens‹, was sich später auch in seiner diagrammatisch angelegten Wiederkehr im kabbalistischen Lebensbaum der jüdischen Mystik des Mittelalters widerspiegelt.12 Im Hintergrund dieser »diagrammatischen Wende«13 steht seine Überblendung mit der zunächst über
12 Vgl. Stauch, Lieselotte/Föhl, Walther: Baum, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II, München 1938, Sp. 63-90; Ameisenova, Zofia: The Tree of Life in Jewish Iconography, in: Journal of the Warburg Institute 2:4, London 1938, S. 326345; für weiterführende Beiträge vgl. Salonius, Pippa/Worm, Andrea (Hg.): The Tree. Symbol, Allegory, and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought, Turnhout 2014; allg. zum Thema vgl. Höhler, Gertrud: Die Bäume des Lebens. Baumsymbole in den Kulturen der Menschheit, Stuttgart 1985; zum Baum als Bild gewordenes Ordnungssystem vgl. Roggenbuck, Simone: Die Wiederkehr der Bilder. Arboreszenz und Raster in der interdisziplinären Geschichte der Sprachwissenschaft, Tübingen 2005. 13 In Anlehnung an den ursprünglich von Steffen Bogen und Felix Thürlemann in die kunst- und bildwissenschaftliche Debatte eingebrachten, im Anschluss von Tom Holert, Astrit Schmidt-Burkhardt et al. durchaus kontrovers diskutierten Begriff; vgl. Bogen, Steffen/Thürlemann, Felix: Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zur Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen, in: Patschovsky,
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Boethius’ Übersetzung der Isagoge des Porphyrios von Tyros überlieferten »Arbor porphyriana« – wobei Porphyrius’ Einführung selbst wiederum als wichtige Mittlerin für die aristotelischen Grundbegriffe, so auch eidos und genos, fungiert.14 In der christlichen Theologie des Mittelalters vollzieht sich diese Zusammenführung freilich weniger bei Thomas von Aquin, in dessen auf Struktur ausgehender Scholastik vielmehr die aristotelische Scala naturae eine Rolle spielt und der das Bild des Lebensbaums insofern beim Wort genommen wissen will, als er ihn – wiederum aristotelisch – als Beleg für die Notwendigkeit einer dem Menschen äußeren, die »virtus activa speciei« nährenden Kraftquelle versteht.15 Es ist Ramon Llull (ca. 1232-1316), der in seiner 1295 verfassten Schrift Arbor Scientiae das Bild des Baumes für den Entwurf einer umfassenden Wissenschaftssystematik in Anspruch nimmt.16 Wie der Titel des Werks bereits anzeigt, geht es dabei um eine universale Anwendbarkeit des mithin seinerseits diagrammatisch zu verstehenden Bildes, die Llull unter anderem an den Reichen demonstriert, die auf der Scala naturae angeordnet sind.17 So finden sich in seinem »Wald des Wissens«18 ein »Arbor elementalis«, ein »Arbor vegetalis«, ein
Alexander (Hg.): Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 1-22. 14 Vgl. Zekl, Günther (Hg.): Aristoteles. Kategorien. Hermeneutik. Oder vom sprachlichen Ausdruck [= Organon, Bd. II], Hamburg 1998 (enthält auch die Isagoge); Baumgartner, Hans M.: Arbor porphyriana, porphyrischer Baum, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I, München/Zürich 1980, Sp. 889-890. 15 Vgl. Aquino, Thomas de: Summa Theologiae, Prima Pars, Quaestio 97 [= onlineAusgabe von: SANCTI THOMAE AQUINATIS Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. 4-5: Pars prima Summae, Rom 1888-1889], http://www.corpusthomitsticum.org/sth1090.html [Stand: 20. Mai 2017]; zur Scala naturae bei Aquin vgl. Lovejoy: The Great Chain of Being (wie Anm. 7), S. 73-79. 16 Vgl. [Llull, Ramon: Arbor Scientiae =] Arbor Scientiae Venerabilis et Caelitus Raymundii Lullii Maioricensis, opus nuperrime revisum et correctum, Lyon 1635. 17 Dementsprechend ist auch Lullus’ Variation auf die Scala naturae eine Scala intellectus, vgl. die prominente Darstellung aus Lullus, Raimundus: De ascensu et descensu intellectus, Valencia 1512 u. hierzu Yates, Frances: The Art of Raimund Lull. An Approach to it Through Lull’s Theory of the Elements, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 17, London 1954, S. 115-173. 18 Vgl. Siegel, Steffen: Im Wald des Wissens. Sichtbare Ordnungen der Enzyklopädie auf der Schwelle zwischen Kultur und Natur, in: Marschkies, Christoph/Reichle, Ingeborg/Brüning, Jochen (Hg.): Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, S. 280-293.
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»Arbor humanalis« und ein »Arbor angelicalis« – allerdings keiner, in dem das gesamte Stufenmodell der Scala aufgegangen wäre. Das eigentliche Potenzial dieser Baum-Bilder liegt zweifelsohne darin, dass sie den Topos von Ursprung und Ausdifferenzierung in einer hierarchischen Ordnung in der Anlehnung an ein natürliches Vorbild fassen und mithin eine machtvolle Wissensordnung naturalisieren. Und es ist zweifelsohne eben dieser Gestus, dem sich auch ihre späteren Konjunkturen verdanken. 19 Dem Baum des Wissens – genauer gesagt: seinem ab dem Mittelalter überlieferten Bild – ist nämlich noch eine ältere Figur eingeschrieben, die für die Verknüpfung des Baumes mit dem Gedanken der biologischen Abstammung im jüdisch-christlichen Überlieferungskontext von entscheidendem Einfluss ist: die ›Wurzel Jesse‹. Das im Bibeltext beschriebene Sprießen und Aufwachsen von Zweigen aus einem Stamm als Bild für die Abstammung des Messias von Jesse, dem Vater Davids, wird in den Darstellungen des Mittelalters zunächst gleichsam beim Wort genommen, insofern man den Stammbaum aus einem menschlichen Körper emporwachsen sieht.20 Letzterer geht auf dem Weg der Übernahme in eine generelle Nutzung des Bildes für Stammbäume aller Art rasch verloren –21 was jedoch nicht unbedingt für das Wissen um seinen Ursprung gilt, der ganz ähnlich wie die christianisierten Bilder der aristotelischen Scala eine gleichsam biblisch verbriefte Absicherung des Miteinanders von Biologie und Theologie bietet. Aus diesem Konnex wiederum mögen sich, zumal vor dem Hintergrund ihrer denkbar langen Tradition, Prägsamkeit und Wirkmacht sowohl des Stufen- wie auch des Baummodells erklären, in denen Vorstellungen von einer ›Ordnung der Arten‹ untereinander sowie die Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse zunächst innerhalb einer ›Art‹22 bis weit über die Neuzeit hinaus zur Darstellung gelangen. Zwar hat die Geschichte der wissenschaftlichen Diagrammatik durchaus auch eine Reihe von Alternativen hervorgebracht – von denen einige in der
19 Vgl. weiterführend zum Thema Bader, Barbara/Janser, Andres/Kwint, Marius (Hg.): einfach komplex. Bildbäume und Baumbilder in der Wissenschaft, Ausst.-Kat. Museum für Gestaltung Zürich, Zürich 2005 u. Lima, Manuel: The Book of Trees. Visualizing Branches of Knowledge, New York 2014. 20 Vgl. Watson, Arthur: The Early Iconography of the Tree of Jesse, Oxford 1934. 21 Zu Stammbaum-Darstellungen vgl. Klapisch-Zuber, Christine: Stammbäume. Eine illustrierte Geschichte der Ahnenkunde, München 2003. 22 Im einen wie im anderen Fall bleibt dabei den angesprochenen, historisch bedingten Divergenzen und Inkonsistenzen von Artkonzepten und -begriffen Rechnung zu tragen.
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jüngeren Gegenwart, in der die Visualisierung von Information auf Datenbasis insgesamt an Bedeutung gewonnen hat, wieder begegnen.23 Gleichwohl ist es durchaus bemerkenswert, dass Stufen- und Baummodell ab dem Ausgang der Neuzeit eine Reihe wissenschaftsgeschichtlicher Einschnitte überdauern, die nicht zuletzt das besagte Miteinander von Theologie und Biologie gravierend erschüttern.24
N AMENS -B ILDER Als erster für die Ästhetik und Kommunikation der Arten wesentlicher Einschnitt lässt sich sicherlich der Erfolg vermerken, den das vom schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) entwickelte System der binären Nomenklatur für die botanische und zoologische Taxonomie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbuchen konnte. Wenn die Vielfalt und Komplexität der ›Naturreiche‹ bis über das Mittelalter hinaus noch als Merkmal einer göttlichen Schöpfung gelten mochten, deren inneren Zusammenhang der Mensch im Detail kaum zu begreifen imstande war, so setzte Linnés Systema Naturae genau an diesem Ende an.25 Mit ihm wird eine besondere Macht in die Hände derer gelegt, die eine Art erfassen und ihr auf dem Wege der Namensgebung einen Ort in der Ordnung zuweisen. Handelt es sich doch um einen Akt, dessen Bedeutung in mehrfacher Hinsicht kaum zu unterschätzen ist – allem voran in dem Sinne, dem Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916) nachgegangen ist:
23 Vgl. Pietsch, Theodore W.: Trees of Life. A Visual History of Evolution, Baltimore 2012, S. 7-25. 24 Vgl. neben der im Folgenden noch genannten Literatur speziell hierzu Kutschera, Ulrich: From the scala naturae to the symbiogenetic and dynamic tree of life, in: Biology Direct 6:33, London 2011, https://biologydirect.biomedcentral.com/articles/10.1186/ 1745-6150-6-33 [Stand: 20. Mai 2017]. 25 Die nur wenige, der Nomenklatur gewidmete Seiten umfassende Erstausgabe erschien 1735; die letzte zu Linnés Lebzeiten erschienene 12. Auflage (1766-1768) war bereits über 2.300 Blätter stark. Vgl. für Digitalisate der Ausgaben http://dx.doi.org/ 10.5962/bhl.title.877 (1735), http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/toc/?PID=PPN362053170 (1766-68, Bd. 1.1., 1.2 u. 3) und http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k99 0062 (1766-68, Bd. 2) [Stand: 20. Mai 2017].
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»Alle Natur, sofern sie sich mitteilt, teilt sich in der Sprache mit, also letzten Endes im Menschen. Darum ist er der Herr der Natur und kann die Dinge benennen. Nur durch das sprachliche Wesen der Dinge gelangt er aus sich selbst zu deren Erkenntnis – im Namen. Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten.«26
Zugleich hat der Akt der Namensgebung – und dessen war sich Linné zweifelsohne bewusst – eine höchst weltliche Dimension, insofern es um die Besitznahme oder mindestens eine entsprechende Markierung von Leben geht, das von ökonomischer Bedeutung ist.27 Es ist möglicherweise nicht übertrieben, hierin einen historischen Vorläufer der zeitgenössischen Patentierung von Gensequenzen zu sehen, deren Gestus freilich in vielfacher Hinsicht radikaler ist und von einem ›Willen zur Macht‹ zeugt, mit dessen kolonialistischem Absolutismus frühere Jahrhunderte kaum konkurrieren können. Eine solche Perspektive einzuziehen negiert nicht die Anerkennung für Linnés Leistung, zumal sich deren Erfolg allem voran einem Bedarf nach der strukturellen und sprachlichen Vereinheitlichung von Wissen zum Zweck einer grenz- und sprachübergreifenden Kommunikation verdankt. Zugleich bleibt jedoch festzustellen, dass diese in einer ›linguistischen Kolonialisierung‹ resultierte, die mit den in den Herkunftsländern bereits existierenden Namen einzelner Arten auch deren ursprüngliche Verortung unsichtbar werden ließ und sie gleichsam zu einer international (ver-) handelbaren Sache machte, welcher mit dem Namen der Stempel einer anderen Handels- und Handlungsmacht aufgeprägt war.28 Auf diese genealogische Vereinnahmung der betroffenen Arten verweist die belgische Künstlerin Ana Torfs (1963, Mortsel) mit ihrer Arbeit Family Plot (2009-2010)29, wobei der Fokus auf das »Regnum vegetabile« beziehungsweise
26 Benjamin, Walter: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Walter Benjamin. Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M. 1988, S. 9-26, S. 13. 27 Weiterführend hierzu Koerner, Lisbet: Linnaeus. Nature and Nation, Cambridge 1999. 28 Vgl. ausführlich Schiebinger, Londa: Plants and Empire. Colonial Bioprospecting in the Atlantic World, Cambridge/London (1:2004) 2009, Kap. 5, »Linguistic Imperialism«, S. 194-225. 29 Vgl. http://www.anatorfs.com/works/22/family-plot-1-2 [Stand: 20. Mai 2017] sowie Mackert, Gabriele: Ghosts, or On the Beauty of Plants and their Names in Times of Ignorance in Ana Torfs’ »Family Plots«, in: Torfs, Ana (Hg.): Echolalia. Ana Torfs, Köln 2014, S. 71-74 u. die Abb. ebd., S. 51-84.
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die Botanik gerichtet wird, der Linnés besondere Aufmerksamkeit gegolten hatte.30 Die Installation versammelt monumentale, collagierte Foto-Tableaus, die jeweils einem botanischen Namenspatron gewidmet sind.31 Auf ihnen finden sich zeitgenössische Weltkarten, kombiniert mit Titelblättern von aus Entdeckungsreisen und kolonialen Expeditionen resultierenden Publikationen sowie Dokumenten aus dem weiteren Kontext, die kritische Perspektiven auf die Ökonomien und Politiken dieses Teils der Botanik einzuziehen gestatten. Diesen zur Seite gestellt finden sich Bildtafeln kleineren Formats, auf denen jeweils die Aufnahme einer Pflanze zu sehen ist; überlagert wird die Fotografie von einem Porträt der Persönlichkeit, der sie mit dem nach Linnés System vergebenen Namen zugeordnet wurde. Den Akt der Zuordnung selbst repräsentiert ein Diagramm, das nach Art eines Stammbaums den Namenszug mit kleineren Porträts des oder der Namensgebenden verknüpft.32 Natürlich lässt sich die Bildmacht der Namensgebung für Lebewesen bereits lange vor Linné beobachten. Für den hier zur Diskussion stehenden Komplex ist jedoch von besonderem Belang, dass sie mit der binären Nomenklatur speziell auf die Arten ausgerichtet wird. Es geht gewissermaßen um jede einzelne Position und das, was sie ausmacht, von anderen, ihr benachbarten unterscheidet. Dieser ›feine Unterschied‹ wird bis heute im entscheidenden Annex des Namens aufbewahrt, in dem sich zugleich Zu- und Unterordnung widerspiegeln.33
V ERZWEIGUNGEN (I) Auf den ersten Blick möchte man meinen, dass es sich bei den Tafeln von Linnés Systema Naturae um Darstellungen handelt, die der Schrift näher als dem
30 Seine Klassifizierungsmethode und den für diese zentralen »clavis systematis sexualis« hatte Linné auf der Grundlage seiner botanischen Studien entwickelt; neben Systema Naturae gelten seine Abhandlung zu den Pflanzengattungen, Genera Plantarum (1737), und das zweibändige Werk Species Plantarum (1753) als seine Hauptwerke. 31 Hierbei handelt es sich mehrheitlich um männliche, weiße Europäer; Ausnahmen sind u. a. der Sklave Quassi van Timotibo (1692-1787) und Sophia Charlotte von Mecklenburg-Strelitz (1744-1818); beide waren je auf ihre Weise in den Komplex von Botanik und Imperialismus bzw. Kolonialismus verstrickt, zu Quassi van Timotibo vgl. Schiebinger: Plants and Empire (wie Anm. 28), S. 211-214. 32 Vgl. weiterführend zu dieser Arbeit auch den Beitrag von Kassandra Nakas im vorliegenden Band. 33 Vgl. für eine aktuelle Reflexion Ohl, Michael: Die Kunst der Benennung, Berlin 2015.
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Bild sind und in diesem Sinne auch in geringerem Maße dazu verführen, als Bild gelesen zu werden. Indessen ist kaum zu übersehen, dass schon die tabellarische Darstellung als solche bilddiagrammatisch funktioniert – sie setzt das Signal, dass Ordnung im Detail geschaffen wird.34 Bereits rund zweihundert Jahre zuvor hatte der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner (1516-1565) in seinem mehrbändigen Hauptwerk, der Historia animalium (Bde. I-IV 1551-58, Bd. V posthum 1578), ein solches Schema sich in der Horizontalen ausdifferenzierender Klassifikation verwendet, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen einzelnen Tierarten aufzuzeigen; in der Plantarum, seu, Stirpium historia (1576) des französischen Botanikers Mathias de Lobel (1538-1616) findet sich ein vergleichbares, in Teilen bereits durchaus detailliertes System auf Pflanzen angewandt.35 Linné holt jedoch sehr viel weiter aus, auch wenn seine Publikation zunächst nur wenige Seiten umfasst. Denn mit seinen drei Tafeln, von denen eine jede einem der drei regna, also der Naturreiche gewidmet ist, will er nichts Geringeres als einen Generalschlüssel für deren Ordnung präsentieren. In diesem Gestus darf man durchaus eine Naturalisierung des Ordnungssystems sehen; wenngleich diese – anders als später bei Darwin – noch nicht als Angriff auf die Vorstellung von einer göttlichen Schöpfung oder die Schöpfungsgeschichte verstanden wird, deutet sich mit dem für das Pflanzenreich eingeführten »clavis systematis sexualis« und der Aristoteles folgenden Einordnung des Menschen ins Tierreich und in jene Klasse, die er später als Mammalia bezeichnen wird, eine in diesem Sinne säkularisierte Perspektive an.36 Die vertikalen Säulen selbst weisen dabei nur bedingt eine hierarchische Gliederung auf; vielmehr sind es die bereits angesprochenen horizontalen Verzweigungen, denen entscheidende Bedeutung für die Darlegung des Systems zukommt. Die Hierarchie, die hier gebildet wird, entspricht im Grunde jener, wie sie – in erweiterter Form – bis heute die biologische
34 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 3), insb. S. 107-113 u. S. 165-195; weiterführend Roggenbuck: Die Wiederkehr der Bilder (wie Anm. 12); speziell zu Linné ebd., S. 141-143. 35 Vgl. Pietsch: Trees of Life (wie Anm. 23), S. 7-8 sowie ebd. die Abb. S. 11 (Fig. 3, Gessner) u. S. 13 (Fig. 5, »Cornelius Gemma’s classification of orchids« aus de Lobel). 36 Vgl. weiterführend Müller-Wille, Staffan/Charmentier, Isabelle: Natural history and information overload. The case of Linnaeus, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 43, Amsterdam 2012, S. 4-15; Schiebinger, Londa: Why Mammals are Called Mammals. Gender Politics in Eighteenth-Century Natural History, in: The American Historical Review 98:2, Oxford 1993, S. 382-411.
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Taxonomie bestimmt: Von den Reichen über die Klassen und Ordnungen bis hin zu den Gattungen, den Arten und ihren Varietäten.37 Alles dies meint in der Konsequenz zweierlei: Erstens verlangen neue Relationen nach Aufmerksamkeit; es treten weit feiner granulierte Beziehungen innerhalb der Reiche und innerhalb ihrer Binnenhierarchie in den Vordergrund, für die andere, in einer einfachen Stufenleiter kaum zu fassende Kriterien entscheidend sind. In Folge dieser Perspektive entsteht zweitens ein Bedarf an Bildern, die geeignet sind, diese Beziehungen anschaulich darzustellen – was sich in der Geschichte der wissenschaftlichen Diagrammatik deutlich widerspiegelt. Nicht zuletzt das wachsende Bewusstsein um die existierende Vielfalt der Arten wirft die Frage nach ihrer Entstehung und Ausdifferenzierung auf, während zugleich die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts formierende Paläontologie nach einer historischen Perspektive verlangt, die dem Verschwinden alter und der Entwicklung neuer Arten Rechnung zu tragen vermag. Dass in diesem Zuge das Bild des Baumes wieder aufgenommen wird, verwundert wenig. Für eine zunehmende Verzweigung, der sich bei Bedarf an beliebigen Punkten weitere hinzufügen lassen und an deren vorläufigen Endpunkten ein Einzelnes steht, ist der Wachstumsalgorithmus geradezu ideal geeignet; zugleich suggeriert er, dass von einem bekannten Ursprung ausgegangen werden kann. Wiewohl noch lange Zeit vor der Entwicklung computergestützter Verfahren zur Simulation von Pflanzenwachstum – etwa dem vom ungarischen Biologen Aristid Lindenmayer (1925-1989) erstmals 1968 vorgestellten »L-System«, das die »algorithmische Schönheit der Pflanzen« feiert –38 begegnen entsprechend reduzierte Graphen in der Diagrammatik der Biologie: vorzugsweise nämlich dort, wo die in der kulturellen Überlieferung fest verwurzelte Tradition, die Vorstellung von Generation und/als Verzweigung als Stammbaum zu imaginieren, eine Systematisierung erfährt.39 Damit soll nicht behauptet werden, dass Linnés Systema Naturae von sich aus den entscheidenden Fingerzeig impliziert hätte, die Verzweigungen in ein
37 Die in dieser Aufzählung fehlende Stufe der ›Familie‹ hatte Mitte des 17. Jahrhunderts zwar bereits Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden, Linné verwendete diesen Begriff jedoch nicht. 38 Vgl. Lindenmayer, Aristid/Prusinkiewicz, Przemysaw: The Algorithmic Beauty of Plants, New York/Berlin/Heidelberg 1990. 39 Vgl. für die historische Entwicklung Pietsch: Trees of Life (wie Anm. 23); zur Darstellungssystematik weiterf. Gregory, T. Ryan: Understanding Evolutionary Trees, in: Evolution. Education and Outreach 1:2 (2008), S. 121-137, online unter https://doi. org/10.1007/s12052-008-0035-x [Stand: 14. November 2017].
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vegetabiles Bild zu überführen. Vielmehr steht seine Darstellung in Form einer verklammerten Tabelle in einer Tradition, die ihre eigenen Vorläufer und Nachfolger in der Geschichte der wissenschaftlichen Diagrammatik aufweist. Wie Horst Bredekamp in seinen Überlegungen zu Darwins Korallen quellenreich aufgezeigt hat, gab es im 18. Jahrhundert andere Naturforscher, die sehr viel direkter an das Bild des (Stamm-)Baums anknüpften und dieses mit einer modellierten Darstellung ihrer Vorstellung von einer ›Ordnung der Natur‹ verwoben – allen voran der russische Naturforscher Peter Simon Pallas (1741-1811), dessen eine Entwicklung der Naturreiche aus einem sich verzweigenden Stamm imaginierendes Baummodell auch insofern folgenreich war, als der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) – der Pallas übersetzte – dieses für seine eigene Theoriebildung nutzte.40 Gleichwohl begegnen unmittelbare Überblendungen biologischer Taxonomien mit Baum-Bildern bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nur vereinzelt; Figuren der Verzweigung finden sich im Übrigen vorzugsweise in Darstellungen, für deren Konzeption eine vom Bemühen um Abstraktion getragene Diagrammatik ausschlaggebend ist. An dieser Linie orientierte sich auch Charles Darwin (1809-1882), als er 1837 skizzierte, was etwas mehr als zwanzig Jahre später in seinem wohl wichtigsten Werk, On the Origin of Species (1859), in ausgearbeiteter Fassung als Evolutionsdiagramm erschien, das zur »Blaupause für die so genannten Stammbäume«, werden sollte, »die in der Evolutionsbiologie bis heute angefertigt werden«.41 Die Kunsthistorikerin Julia Voss hat in ihrer erhellenden Studie über Darwins Bilder aufgezeigt, dass das Evolutionsdiagramm ebenso wie die Theoriebildung, deren Resultate es kommunizieren sollte, in engem Dialog mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Visualisierungen entstanden ist.42 Allerdings ist einzuräumen, dass die Idee der Verzweigung – wiederum nicht allein bei Darwin – durchaus im Bildraum des Vegetabilen und teils auch durchaus konkret mit dem Bild eines Baumes assoziiert war. Wenngleich Darwin selbst aus guten Gründen nicht so weit ging, dieses Bild gegenständlich auszuformulieren, scheint er sich dem Gedanken als solchem jedoch nicht gänzlich verschlossen zu haben – jedenfalls ist eine Korrespondenz mit Ernst Haeckel
40 Vgl. Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005, hier insb. S. 12-16. 41 Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874, Frankfurt a. M. (1:2007) 2:2009, S. 157. 42 Vgl. ebd., S. 95-174.
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überliefert, in der Darwin diesen in seiner Kühnheit ermutigt, sich an das »Zeichnen von Abstammungstafeln«43 zu machen. Eben dies hat der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) bekanntlich auch getan, und zwar mehrfach. Während sein »Monophyletischer Stammbaum der Organismen«, sein »Stammbaum der Wirbelthiere« und sein »Stammbaum der Säugethiere mit Inbegriff des Menschen« – sämtlich in der Generellen Morphologie (1866)44 publiziert – mit ihren korallenähnlichen und nicht auf Symmetrien ausgehenden Verzweigungen Darwins Diagrammen in ihrer visuellen Argumentation durchaus noch ähneln, ist sein »Stammbaum des Menschen« (1874) zu einer knorrigen Eiche mutiert, in deren obersten Ästen – Gorilla und Orang überragend – die Menschen wortwörtlich als ›Krone der Schöpfung‹ erscheinen.45 In dieser Setzung scheint eben jenes Bekenntnis zur tradierten Hierarchie der Scala naturae auf, das die zeitgenössischen Kritiker von Darwins Evolutionstheorie vermissten, insofern diese nicht nur der biblischen Schöpfungsgeschichte die Plausibilität entzog, sondern zudem den Menschen in eine unmittelbare, verwandtschaftlich begründete Nähe zum Affen rückte. Wiewohl es Haeckel selbst erklärtermaßen nicht nur um die Argumentation dieser Verwandtschaft ging, sondern durchaus auch darum, auf diesem Wege die »anthropocentrische Weltanschauung […], [den] eitle[n] Wahn, daß der Mensch der Mittelpunkt der irdischen Natur und das ganze Getriebe desselben nur dazu da sei, um dem Menschen zu dienen«46, endgültig zu verabschieden: Sein Baum-Bild stellt den Menschen über alle anderen Arten.
43 Charles Darwin, zit. nach: Voss: Darwins Bilder (wie Anm. 41), S. 158. Julia Voss wiederum zitiert Darwin nach Browne, Janet: Charles Darwin. The Power of Place, New York 2002, S. 270. 44 Vgl. Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, 2 Bde., Berlin 1866, insb. Bd. II, Tafel I, VII u. VIII. 45 Vgl. Haeckel, Ernst: Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte, Leipzig 1874, insb. Tafel XII. 46 Vgl. Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe, und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft, Berlin 1868, S. 487.
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Wer indessen meint, dass es sich hier entweder um einen visuellen Lapsus oder um ein wie auch immer unbeabsichtigtes Zugeständnis an eine längst historische Sichtweise handelt, wie sie heute kaum mehr propagiert werden würde, irrt – und zwar nicht nur, weil mancherorts noch immer Kreationisten erbittert für die biblische Perspektive streiten. Man muss nur in der Encyclopædia Britannica nachschlagen, um auf eine Illustration zu stoßen, die dem Menschen einen entsprechenden Ort zuweist: Zwar nicht im Wipfel einer knorrigen Eiche, aber an der Spitze einer Pyramide steht hier die Spezies Homo sapiens, die sich über die auf den darunterliegenden Stufen vom Genus »Homo« bis zur Ordnung der »Primates« erhebt.47
V ERZWEIGUNGEN (II) Der rhetorische Impetus des Bildes kann dabei fast vergessen lassen, dass diesem ›Baum‹ eigentlich etwas Entscheidendes fehlt. Jedenfalls wird in Haeckels vom eng gesetzten Rahmen rings beschnittener Darstellung ausgeblendet, worauf und woraus die knorrige Eiche wächst. Dass nicht zu sehen ist, ob der Baumriese über ein entsprechend verzweigtes Wurzelwerk verfügt, mag zunächst einmal als Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Klasse der diagrammatischen Figuren gewertet werden: Hier nämlich haben (Stamm-)Bäume, und dies gilt auch für die Haeckels Eiche vorgängigen Baum-Diagramme, in der Regel keine Wurzeln, sondern einen Ausgangspunkt.48 Im vorliegenden Fall wäre ihre Darstellung zudem schwerlich mit dem in Einklang zu bringen, was der Baum veranschaulichen soll: Tatsächlich würde auf diese Weise der ›natürlichen Schöpfungsgeschichte‹49 eine alles weitere wirkmächtig konstituierende Vorgeschichte hinzugefügt.
47 Vgl. Tattersall, Ian: Homo sapiens, in: Encyclopædia Britannica, online unter: https:// www.britannica.com/topic/Homo-sapiens [Stand: 20. Mai 2017], und die Illustration Homo sapiens: classification within primates (2005), ebd. 48 Auch in zeitgenössischen Dendrogrammen kann als Ausgangspunkt ein root point angenommen bzw. festgelegt werden, eine Verzweigung der Wurzel ist jedoch nicht vorgesehen. Dies gilt auch für sogenannte »phylogenetische Bäume«; als »gewurzelt« werden diese bezeichnet, wenn die Graphen über eine gemeinsame Kante verfügen, zu der sich als root point bzw. Knoten ein gemeinsamer Vorfahre einzeichnen lässt. Für Beispiele vgl. Bader/Janser/Kwint (Hg.): einfach komplex u. Lima: The Book of Trees (wie Anm. 19.). 49 Vgl. Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte (wie Anm. 46).
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Nun mag deren Ausblendung zunächst durchaus verwundern – und zwar nicht erst vor dem Hintergrund des heutigen Wissens darum, dass der Entstehung der Artenvielfalt prähistorisch eine massive Reduktion und dieser wiederum eine Vielfalt vorangegangen ist. Wurde doch über ein solches Artensterben bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts und namentlich unter dem Einfluss der Katastrophismus- beziehungsweise Kataklysmentheorie des französischen Anatomen und Zoologen George Cuvier (1769-1832) spekuliert.50 Und auch generell hatte die Erforschung der Vorgeschichte bereits zu Haeckels Zeit das Ziel, Erkenntnisse über die grundlegenden Konditionen der Entstehung von Arten zu beziehen. Eine schlüssige Einordnung dieser weiter ausgreifenden paläontologischen Perspektive in ein unmittelbar am vegetabilen Vorbild orientiertes Modell, wie es Haeckel hier vorlegen wollte, wäre gleichwohl kaum möglich gewesen. Denn an diesem Punkt wäre die intendierte Abbildlichkeit mit der wissenschaftlichen Logik der Diagrammatik kollidiert, da Letzterer zufolge auch vorgeschichtliche Entwicklungen – ob nun ›unterirdisch‹ angelegt oder nicht – sich ebenso wie die im Bild berücksichtigten ausgehend vom Hauptstamm nach oben hätten verzweigen müssen. Kurzum: Anders als es bei Darwins schlichten Graphen möglich war – an die sich Haeckel dann auch in seinen »phyletischen« Stammbäumen, die modernen phylogenetischen Bäumen entsprechend näher stehen, sehr viel enger anlehnte – hätte eine wissenschaftlich und zugleich bildlogisch stimmige Integration in seine Eiche schwerlich gelingen können. Die Konzentration auf die »Anthropogenie« beziehungsweise den »Stammbaum des Menschen« hingegen ermöglichte Haeckel die Überblendung von Symbol und Diagramm – wenn auch um den bereits benannten Preis eines Anthropozentrismus wider Willen. Im Übrigen steht zu vermuten, dass es Haeckel als (Paläo-)Anthropologen ein besonderer Ehrgeiz war, gleichsam auf seinem ureigenen Terrain die Argumentation für Darwins Abstammungslehre mit einem Bild zu unterstreichen, das auch deren erbitterten Gegnern denkbar vertraut sein musste – nur dass es die übergreifende Ordnung, deren Grundidee es transportiert, nicht länger als (von) Gott gegeben, sondern wortwörtlich als »natürlich« verstanden wissen will. Just in diesem Sinne aber handelt es sich – auch wenn sie weder Wurzeln hat noch Früchte trägt – auch bei Haeckels Eiche um einen Arbor scientiae in Llull’scher Tradition.
50 Vgl. Cuvier, Georges: Discours sur les Révolutions de la surface du Globe, et sur les changemens qu’elles ont produits dans le règne animal, Paris 1825; weiterführend Palmer, Trevor: Perilous Planet Earth. Catastrophes and Catastrophism Through the Ages, New York/Cambridge 2003.
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Schließlich sollte noch ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Darwins Diagrammen, aber auch Haeckels übrigen Stammbäumen Erwähnung finden, der den als Eiche gefassten »Stammbaum des Menschen« auszeichnet: Anders als die abstrakten Verzweigungen, die man – wie Darwin zeigt – sowohl als abgeschlossen als auch als offen für weitere Entwicklungen denken kann,51 wird uns Haeckels Baum als Organismus in weit fortgeschrittenem Lebensstadium präsentiert. Dass er noch weiterwachsen könnte, scheint schwer vorstellbar – zumal kein einziges Blatt seine Äste ziert, ganz so, als sei er bereits abgestorben. Zweifelsohne sind es gerade solche Details, die für die Reflexion der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Objektivität und Imagination in der stets vom Menschen aus gedachten Ästhetik und Kommunikation der Arten eine Rolle spielen. Weiterführend belegen mag das an dieser Stelle ein Blatt von Mark Dion, das 1998 in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Marina McDougall entstanden ist und das einen direkten Konnex zu Haeckels Stammbaum liefert. Die knorrige Eiche steht hier nämlich nicht für die Entstehung der Arten beziehungsweise die Darstellung der Anthropogenesis, sondern für die »History of Nature Documentaries«52. Unterhalb des Baumes werden, in Gestalt einiger Werkzeuge, die bei der Gartenarbeit Verwendung finden, die gängigsten Formate und Formatierungen vorgestellt: Die »Cinematic Language« figuriert als Axt, die »Master Narrative« als Gießkanne, die »Technical Innovation« als Heckenschere, für das »Public Sentiment« steht eine Blumenkelle.53 Den Abschluss der Reihe bildet ein Gerät, das auf den ersten Blick wie die Miniaturausgabe eines Drainagebohrers oder wie ein kleiner Handbohrer aussieht. Mindestens ebenso nah könnte angesichts seiner Zuordnung zur »Political/Historical Landscape«54 aber auch die Identifikation mit einem Korkenzieher liegen, mit dem nach erfolgreicher Bewirtschaftung der Landschaft der Zugang zum Genuss ihrer Früchte eröffnet
51 Vgl. Voss: Darwins Bilder (wie Anm. 41), S. 96-97. 52 Mark Dion/Marina McDougall, Schematic for the History of Nature Documentaries (1998), Abb. online unter http://www.goodwatergallery.com/GW01-06/GW/Exhibitions/dion2/dion2_17.htm [Stand: 20. Mai 2017]. Die Orientierung an Haeckels prominentem Blatt hat Dion in der Folge mehrfach aufgegriffen und variiert, so z. B. in der Arbeit Tree Scheme (2009), vgl. für eine Abb. und Hintergrundinformationen https://graphicstudiousf.wordpress.com/2015/04/30/mark-dion-and-graphicstudio/ [Stand: 7. Mai 2017]. 53 Vgl. für die hier und nachfolgend zitierten Begriffe Mark Dion/Marina McDougall, Schematic for the History of Nature Documentaries (1998) (wie Anm. 52). 54 Ebd.
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wird – wobei im diesem folgenden Rausch wohl umso leichter vergessen werden mag, auf wessen Kosten sie erfolgte. Eindeutiger nachzuvollziehen ist die Logik, die dem scheinbar so naturalistischen Baum-Diagramm selbst und seinen gleichsam direkt in die Rinde geschnitzten Beschriftungen zugrunde liegt. Zwar bringt man den Ästen und Zweigen der linken Seite, die ausgehend von der Perspektive auf das »Animal as Animal« Spielarten von der »Safari« bis zum »In the Lab Education« versammelt, zunächst vielleicht noch mehr Sympathien entgegen als den auf der rechten Seite dem »Animal as Human« zugeordneten »Animals in Pants« oder »Aping Ourselves«. Allerdings findet sich dort auch ein Zweig mit Tierrechts-Dokumentationen, während gegenüber das denkbar kritisch affizierte Genre des »Animal Snuff« sprießt. Wie artifiziell alle diese vom Menschen angelegten Perspektiven der sogenannten »Nature Documentaries« sind, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Baum in zwei von einem tiefen Riss geteilten Wipfel aufgewachsen ist. Neben dem biologisch korrekten »Man as Animal« ragt als Konterpart das »Animal as Person«55 – um tote Enden handelt es sich jedoch im einen wie im anderen Fall, was angesichts ihrer Genese aus dem im Ganzen anthropozentrisch geprägten Stamm nicht weiter erstaunen kann. Für die Ästhetik und Kommunikation der Arten hat sich der Weg an dieser Stelle ebenfalls längst verzweigt. Bedeutsam sind nämlich, auch in historischer Perspektive, zwei Zugänge geworden: Der eine sucht nach einer Verortung der Art(en) im System des Lebens, genauer gesagt nach der Verortung des Artkonzepts im System der Lebenswissenschaften; hier gehören Treppen, Pyramiden und Bäume zu den tradierten und mehrfach renovierten Bildern. Der andere Zugang geht auf die Vielfalt des Lebens aus, die sich in der Vielfalt der Arten vermittelt. Auch in diesem Zuge mag der Baum begegnen, zugleich und noch vor dem sind es jedoch die einzelnen Lebewesen und ihre Repräsentationen, die im Vordergrund stehen. Der Reiz, der von ihrer Betrachtung ausgeht, spiegelt sich in den unterschiedlichsten Displays ihrer Zurschaustellung wider, zu denen zunächst – und letztlich bis heute – reich illustrierte Bücher zählen, aber beispielsweise auch naturkundliche Sammlungen beziehungsweise Museen sowie botanische und zoologische Gärten.
55 Ebd.
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V ERGEHEN
UND
E NTSTEHEN
Wenn Darwins Beitrag zur Evolutionsbiologie beiden Zugängen zuarbeitet – insofern nämlich, als die Überlegungen zum Ursprung der Arten die grundlegende Frage aufwerfen, wie neue Arten entstehen und vergehen –, so sind die nächsten wesentlichen Schritte, die Konzept und Position sowie in der Folge Ästhetik und Kommunikation der Arten betreffen, von Entdeckungen und Entwicklungen in Feldern bestimmt, die diese Stränge je auf ihre Weise aufnehmen und weiterverfolgen lassen. Beide sind in den letzten Jahrzehnten auch in der allgemeinen Wahrnehmung in den Horizont der Aufmerksamkeit gerückt: Zu nennen ist hier zum einen die Genetik, aus der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die heutige Gentechnologie hervorgegangen ist – und zum anderen die Ökologie, die sich zunehmend mit den mittelbaren und unmittelbaren Folgen speziell des menschlichen Einflusses auf Ökosysteme zu beschäftigen hat. Während in der (Bio-)Ökologie Arten als zentraler Kenngröße für Biodiversität beziehungsweise deren Bedrohung durch das Aussterben zahlreicher Spezies eine prominente Position zukommt, operiert die Gentechnologie gleichsam direkt an deren Substanz – jedenfalls, wenn man ein biologisches Artkonzept zugrunde legt. Fragt man nach dem Niederschlag dieser Entwicklungen in der visuellen Kultur und der Kunst, lässt sich feststellen, dass beide Komplexe ab Beginn der 1990er Jahre – also in jener Zeit, in der auch die begleitenden Diskurse neuen Schwung aufnehmen – auf markante Weise aufgegriffen und mitunter auch miteinander überblendet werden.56 Zunächst einmal mögen die Gründe für das neuerliche Sichtbarwerden der Arten just zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt selbstverständlich auf der Hand liegen. Schließlich kann im Anschluss an Darwin – wie nicht zuletzt sein Evolutionsmodell anschaulich vermitteln will – weder das Verschwinden von Arten noch ihre Entstehung für sich genommen den Status einer Sensation beanspruchen. Die Erkenntnis, dass der Mensch schon früh und zunehmend erheblich Einfluss auf das eine wie das andere genommen
56 Vgl. exemplarisch Gerbel, Karl/Weibel, Peter (Hg.): Genetische Kunst – Künstliches Leben. Ars Electronica '93, Wien 1993; Rötzer, Florian (Hg): Die Zukunft des Körpers I, in: Kunstforum International 132, Ruppichteroth 1995; Rötzer, Florian (Hg): Die Zukunft des Körpers II, in: Kunstforum International 133, Ruppichteroth 1996; Syring, Marie-Luise (Hg.): ›Happy End‹. Zukunfts- und Endzeitvisionen der 90er Jahre, Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf, Köln 1996; Bott, Gudrun/Broska, Magdalena (Hg.): post naturam – nach der Natur, Ausst.-Kat. Städtische Ausstellungshalle Am Hawerkamp, Münster und Geologisch-Paläontologisches Museum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster/Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Bielefeld 1998.
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hat, beginnt sich allerdings erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf breiterer Basis durchzusetzen. Zwar hat das Hervorbringen neuer Arten durch Kreuzung und Züchtung in der Botanik ebenso wie in der Nutztierhaltung eine denkbar lange Tradition. Und für ein systematisches Verständnis der Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Handelns wiederum mögen bereits die vom tschechischen Naturforscher Gregor Mendel (1822-1884) erschlossenen Grundgesetze der Genetik eine wichtige Voraussetzung darstellen. Aber erst die sehr viel weiterreichenden Optionen, die gentechnologische Eingriffe in Organismen bieten, lassen die Frage nach den längerfristigen, ganze Ökosysteme betreffenden Folgen brisant erscheinen. Während sich die klassische Genetik zunächst noch im Rahmen dessen verorten lässt, was die traditionelle biologische Systematik und mithin ihren Artbegriff beziehungsweise ihr Artkonzept ausmacht, scheinen letztere durch gentechnologische Verfahren brüchig zu werden: Kann man transgene Lebewesen – also Individuen, denen durch gezielte Eingriffe auf genetischer Ebene merkmals- und eigenschaftsrelevante Qualitäten von Lebewesen anderer Arten oder gar Gattungen verliehen werden und die diese Qualitäten auch zu vererben im Stande sind – noch jener Art zuordnen, der sie ursprünglich entstamm(t)en? Und wenn bereits natürlich auftretende Mutationen innerhalb von Arten zu den evolutionsbiologisch relevanten Faktoren zählen, die auf lange Sicht nicht nur Konsequenzen für die Spezies haben können, aus der die betroffenen Individuen stammen – was ist dann von in großem Stil vorgenommenen und in die Umwelt entlassenen genetischen Manipulationen zu erwarten? Darf sich der Mensch solche Eingriffe gestatten, auch wenn er deren Folgen kaum einschätzen kann? Dafür wiederum, dass das Umwelthandeln des Menschen gerade auch langfristig höchst riskante Auswirkungen haben kann, die ursprünglich so nicht absehbar gewesen beziehungsweise schlicht nicht in Betracht gezogen worden sind, hat es ebenfalls schon lange vor den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zahlreiche Indizien gegeben. Auch das Verschwinden einzelner Arten in mittelbarer oder unmittelbarer Konsequenz menschlichen Agierens wurde registriert. 1964 – zwei Jahre, nachdem die Meeresbiologin Rachel Carson ihr vielbeachtetes Buch Silent Spring publizierte –57 erschien die erste internationale Rote Liste gefährdeter Arten, die zunächst nur mehrere hundert Säugetier- und Vogelarten
57 Carson macht in ihrem Buch darauf aufmerksam, dass die gezielte Vernichtung von Arten durch Biozide die Auslöschung weiterer Arten nach sich zieht; vgl. Carson, Rachel: Silent Spring, Boston 1962.
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umfasste;58 bereits ab der zweiten Auflage 1966 wurden zu diesen beiden Klassen einzelne Bände als Red Data Books herausgegeben.59 Die Tatsache, dass Daten zu bedrohten Pflanzenarten zunächst separat gesammelt wurden und dass Amphibien und Fische, Weichtiere und Insekten erst schrittweise hinzukamen,60 mag ein weiteres Mal auf die in der wissenschaftlichen Taxonomie fortlebende Hierarchie der Scala naturae verweisen, in der sich nicht zuletzt eine vom Menschen ausgehende Aufmerksamkeitsökonomie widerspiegelt. Letzteres muss in diesem Kontext insofern bemerkenswert erscheinen, als die wechselseitige Abhängigkeit der unterschiedlichsten Arten voneinander schwerlich in entsprechenden Hierarchien zu fassen ist – wenngleich das Handeln des Homo sapiens dies gern vergessen machen möchte. Zwar wurde eine weitergehende kritische Reflexion dieses Komplexes in den 1970er Jahren nicht zuletzt von ökologisch engagierten Alternativbewegungen in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Doch erst Mitte der 1980er Jahre wird der Begriff ›Biodiversität‹ geprägt und in der Folge in Programme übernommen, mit denen der Bedeutung der Artenvielfalt für das gesamte Ökosystem Rechnung getragen werden soll.61 Auch auf dieser Ebene wird mithin in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Frage wie jene ins Bewusstsein gerückt, die sich zeitparallel mit Blick auf die Gentechnologie stellt: Darf der Mensch weiterhin massive Eingriffe in das System vornehmen, wenn sich doch abzeichnet, dass dies gravierende Folgen zeitigt? Wenn zudem zeitgleich im Zuge der Debatten um das Klonen von Lebewesen – die mit dem 1996 in die Welt gebrachten ›Klonschaf Dolly‹ einen vorläufigen Höhepunkt erreichen – die Gentechnologie als eine dem Verfahren der Rückzüchtung überlegene Möglichkeit ins Spiel gebracht wird, ausgestorbene Arten ›wiederzubeleben‹, kann einmal mehr verständlich werden, warum es in Kunst und Populärkultur zu einer Verknüpfung der Diskurse kommt, die in Spekulationen über eine Um- und Neuordnung der Spezies kulminiert.62 Verglichen mit den spektakulären Bildern, die Filme wie Jurassic Park (1993) für die Phan-
58 Vgl. https://www.iucn.org/content/celebrating-50-years-iucn-red-list [Stand: 20. Mai 2017]. Die International Union for Conservation of Nature (IUCN) gibt die Liste heraus. 59 Vgl. ebd. sowie http://www.iucnredlist.org/about/publication/historical-red-lists [20. Mai 2017]. 60 Vgl. http://www.iucnredlist.org [Stand: 20. Mai 2017]. 61 Vgl. Wilson, Edward O.: The Diversity of Life, London 2001 [Erstausgabe: 1992]. 62 Vgl. weiterführend hierzu auch den Beitrag von Anna Lena Seiser im vorliegenden Band.
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tasie der gentechnologischen Wiederbelebung von Dinosauriern oder Alien: Resurrection (1997) für entsprechende Experimente mit terrestrischen und extraterrestrischen Lebensformen bieten,63 mögen Beiträge der bildenden Kunst mitunter bescheiden wirken. So erinnern etwa die Misfits des Düsseldorfer Künstlers Thomas Grünfeld (geb. 1956, Leverkusen), die seinerzeit im Bonner Teil des Ausstellungszyklus »Gen-Welten« im Schlusskapitel für die Zukunftsaussichten figurieren durften,64 als aus jeweils zwei Tierpräparaten zusammengesetzten Mischwesen zunächst an die aus dem Bayerischen bekannten ›Wolpertinger‹ und ähnliche Kuriosa der Kulturgeschichte.65 Allerdings lassen sich Letztere auf die mythische Chimära zurückführen, deren ›Bauprinzip‹ sich historisch bereits früh und überall dort in Naturkunden übernommen findet, wo aus bestehenden Ordnungen heraus deren Leerstellen besetzt werden sollen.66 In der Biologie und der Medizin wiederum versteht man unter einer Chimäre ein Lebewesen, das aus genetisch unterschiedlichem Zell- beziehungsweise Gewebematerial aufgebaut ist. Wenngleich solche Lebewesen auch natürlichen Ursprungs sein können, gehört ihre künstliche Generierung heute zum Kerngeschäft der Gentechnologie – wo es freilich stets um utilitaristische Anwendungen wie etwa die Züchtung medizinisch verwendbaren Materials geht, dessen Monstrosität eher in der entsprechend einseitig fokussierten Perspektive auf Leben angesiedelt ist.67 Betrachtet
63 Vgl. Jurassic Park, USA 1993, Regie: Steven Spielberg (das Drehbuch basiert auf dem Roman gleichen Titels: Crichton, Michael: Jurassic Park, New York 1990); Alien: Ressurrection, USA 1997, Regie: Jean-Pierre Jeunet (erschienen als vierte Folge des 1979 unter der Regie von Ridley Scott gedrehten ersten Alien-Films). 64 Vgl. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Bonn (Hg.): Gen-Welten, Bonn 1998. Die in der Bonner Ausstellung (»Gen-Welten: Prometheus im Labor?«) gezeigten künstlerischen Arbeiten fanden ungeachtet ihrer durchaus prominenten Position in der Ausstellung und deren Präsentation in einer Kunstinstitution keinen Eingang in den Katalog, der als Begleitbuch zum gesamten Zyklus konzipiert war. 65 Vgl. für einen Werküberblick Emsländer, Fritz (Hg.): Thomas Grünfeld. Homey, Dortmund 2013; im Unterschied zu anderen Werkkomplexen des Künstlers erfahren die Misfits seit den 1990er Jahren eine breite Rezeption weit über den Kunstkontext hinaus. 66 Vgl. weiterführend Foucault: Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 3), S. 135-203; Daston/Park: Wonders and the Order of Nature (wie Anm. 4); für die kunsthistorische Perspektive auf die Imaginationen des Monströsen noch immer grundlegend: Baltrušaitis, Jurgis: Réveils et prodiges. Le gothique fantastique, Paris 1960. 67 Vgl. weiterführend Jones, David Albert/MacKellar, Calum (Hg.): Chimera’s Children. Ethical, Philosophical and Religious Perspectives on Human-Nonhuman Ex-
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man Grünfelds Wiederaufnahme der klassischen, in naturkundlichen Sammlungen bis heute präsenten Präparation unter diesen Vorzeichen der mittels Gentechnologie gleichsam reanimierten Figur der Chimäre, die als neue Spezies mit dem tradierten Artbegriff bricht, bringt sein Konzept deren eigentliche Problematik auf den Punkt: Es lässt sich als Verweis auf die Imaginationsarmut eines Denkens lesen, das gerade dort, wo es Innovation verspricht, im engen Gehege einer nur auf den Nutzen für den Menschen beschränkten Vorstellung von Entwicklungspotenzialen verbleibt.
G ENETISCHE K UNST Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, dass Grünfeld selbst wenig Wert darauf legt, seine Misfits im Kontext der Debatten um Gentechnologie situiert zu sehen. Umgekehrt mag sich mit ihrer Positionierung im Feld einer Kunst, die alternative Perspektiven auf die Naturgeschichte entwirft, jedoch auch die Frage stellen, inwieweit jene künstlerischen Arbeiten, die sich explizit mit Gentechnologie assoziieren, in ihrer konzeptuellen und visuellen Argumentation tatsächlich einen anderen Weg einschlagen. Für die Diskussion dieser Frage bietet es sich an, ein Werk des amerikanischen Künstlers Eduardo Kac (geb. 1962, Rio de Janeiro) näher zu betrachten, der im Unterschied zu Grünfeld diese Verknüpfung aktiv verfolgt und für sein Œuvre den Begriff »Transgene Kunst«68 geprägt hat. Noch weitaus interessanter als sein prominentestes Projekt – das GFP-Kaninchen Alba (2000)69 – ist im hier verfolgten Zusammenhang das von Kac als plantimal bezeichnete Gewächs Edunia (2003-2008)70. Wenn bereits der Neologismus plantimal andeutet, dass es sich bei Edunia (Abb. 1) ungeachtet ihres pflanzlichen Erscheinungsbildes auf
perimentation, London 2012; für eine zeitgenössische Perspektive: Braidotti, Rosi/ Lykke, Nina (Hg.): Between Monsters, Goddesses and Cyborgs. Feminist Confrontations with Science, Medicine and Cyberspace, London/New Jersey 1996. 68 Vgl. Kac, Eduardo: Transgene Kunst, in: Stocker, Gerfried/Schöpf, Christine (Hg.): LifeScience. Ars Electronica '99, New York/Wien 1999, S. 298-296, http://www. ekac.org/transgerman.html [Stand: 20. Mai 2017]; ders.: The Eighth Day. The Transgenic Art of Eduardo Kac, New York 2003. 69 Vgl. zum Projekt und seiner weiteren Entwicklung ausführlich http://www.ekac. org/gfpbunny.html [Stand: 20. Mai 2017]. 70 Vgl. http://www.ekac.org/nat.hist.enig.html [Stand: 20. Mai 2017]. Die Jahresangaben beziehen sich auf das Projekt, nicht auf die Lebensspanne des plantimal.
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Eduardo Kac, Plantimal I, aus der Serie Natural History of the Enigma, 2009 der genetischen Ebene um eine Chimäre aus Pflanze und Tier handelt, verweist ihr Name auf die ›Eltern‹ des Lebewesens, eine Petunie (Petunia) und Eduardo Kac selbst. Sicherlich ist auch ein Nagetier, das dank genetischer Informationen von Quallen über deren Fluoreszenz verfügen soll, wortwörtlich aus der Art geschlagen. Anders aber als beim Kaninchen Alba, dessen Präsentation mit Plakaten und Pamphleten vornehmlich auf die bereits angesprochenen populären Debatten um die Folgen der Gentechnologie gemünzt war, wählt Kac für die Vorstellung von Edunia Formate, wie sie in der Wissenschaftskommunikation üblich sind und die an die hier etablierte Ästhetik und Kommunikation der Arten anknüpfen. Letzteres betrifft weniger die Farbfotografien, die verschiedene Exemplare der Edunia in voller Blütenpracht zeigen und die ebenso gut im Katalog eines Gartenbau-Centers figurieren könnten. Zur Seite gestellt findet sich diesen jedoch auch eine Grafik, die den Prozess der Insertion von Kacs DNA in den Organismus der Pflanze und das Wachstum des plantimal aus der Gewebekultur veranschaulichen soll. Ihre Diagrammatik ist dabei einerseits an der sachlichreduzierten Bildsprache wissenschaftlicher Illustrationen orientiert, andererseits ästhetisch ganz auf die visuelle Analogie zwischen menschlichen Arterien und den roten Adern in der Blüte der Edunia ausgerichtet, die – auch wenn vergleichbare Ergebnisse für gewöhnlich durch traditionelle Verfahren der Züch-
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tung erlangt werden – hier als Unterpfand der erfolgreichen Generierung eines genetischen Mischwesens figurieren: »›Natural History of the Enigma‹ is a reflection on the contiguity of life between different species. It uses the redness of blood and the redness of the plants veins as a marker of our shared heritage in the wider spectrum of life. By combining human and plant DNA in a new flower, in a visually dramatic way (red expression of human DNA in the flower veins), I bring forth the realization of the contiguity of life between different species.«71
Genau diese Positionierung im Diskursrahmen der Naturgeschichte ist nicht zuletzt auch in den Titel des Projekts eingeschrieben, in dem man zudem noch einen Nachklang auf Ernst Haeckels Welträthsel finden mag.72 Ungeachtet seines Zugriffs auf neue Technologien orientiert sich mithin auch Kac an eben jener Ästhetik und Kommunikation der Arten, die sich über die Tradition der Wissenschafts- und Kulturgeschichte etabliert hat und dementsprechend nach wie vor die Imagination möglicher Ordnung(en) der Natur ›objektiviert‹. In diesem Sinne ist seine Edunia als Bild von Grünfelds Misfits nicht so weit entfernt, wie man zunächst annehmen möchte. Und umso weniger wird verwundern, dass sich in diesen (Bild-)Rahmen zahlreiche Beiträge im Feld fügen – allen voran natürlich jene, die explizit an die tradierte Bildsemiotik der Naturgeschichte anknüpfen. Zu den prominenten Beispielen dürften die Arbeiten des US-amerikanischen Malers Alexis Rockman (geb. 1962, New York) zählen, die in Ausstellungen und Publikationen zur ›BioArt‹ und zur ›Genetischen Kunst‹ verschiedentlich Seite an Seite mit Projekten von Künstlern wie Kac erscheinen.73 So finden sich auf dem großformatigen Gemälde The Farm (2000) aus der Reihe Wonderful World geradezu lehr- beziehungsweise bilderbuchartig denkbar drastische Visionen für die Chimären der Gentechnologie aufgereiht.74 Während im Hinter- und Mittelgrund des Bildes die mähliche Mutation von Hausschwein und -rind zu agrarindustriell effizienten Züchtungen gestaffelt ist, geben sich das mit multip-
71 Kac, Eduardo: Natural History of the Enigma, http://www.ekac.org/nat.hist.enig.html [Stand: 20. Mai 2017]. 72 Vgl. Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1899. 73 So z. B. in Gerbel/Weibel: Genetische Kunst – Künstliches Leben (wie Anm. 56) und in Myers, William (Hg.): Bio Art. Altered Realities, London 2015. 74 Vgl. Rockman, Alexis: Alexis Rockman, New York 2003 (m. Beiträgen v. Stephen Jay Gould, Jonathan Crary u. David Quammen), hier S. (286) 287.
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len Eutern und auf die Unterbringung in engen Stallungen hin zur kubisch optimierten Fleischmasse aufgewachsene Rind und das überfette Schwein, in beziehungsweise auf dem menschliche Ersatzorgane heranreifen, als Resultate von Bio- und Gentechnologie zu erkennen. Im Stroh raschelt nicht weit von ihrer natürlichen Ahnin eine Vacanti-Maus, auf deren Rücken ein menschliches Ohr wächst;75 auf dem Gatter hocken drei Hähne, an denen sich die Wandlung vom klassischen Wahrzeichen des Bauernhof-Idylls zum möglichst zahlreiche ›Chicken Wings‹ produzierenden Monstrum beobachten lässt. In einem zwei Jahre zuvor entstandenen Gemälde wiederum präsentiert Rockman einen knorrigen Baum, der unmittelbar an Ernst Haeckels Darstellung des Evolutionsschemas anknüpft – ein Erbe, auf das nicht zuletzt die vier geschwungenen Klammern verweisen, die jeweils einen der durch unterschiedlich eingefärbte Segmente des Hintergrundes voneinander separierten Abschnitte der Darstellung fassen. Auch der Titel – Phylum, mithin dem Terminus der Taxonomie entsprechend: Stamm – ordnet das Werk unmissverständlich in diese Tradition ein.76 Anders als bei Haeckel, dessen Eiche durch die Applikation der Schrifttafeln anzeigt, dass sie letztlich diagrammatisch gelesen werden will, wird der Baum hier sehr viel stärker ›naturalisiert‹. In diesem Zuge stellt Rockman deutlich heraus, dass die Äste dieser Eiche kahl und tot sind;77 teils scheinen sie sogar abgebrochen oder abgesägt worden zu sein. Auf ihren Enden hocken Lebewesen, die sich zwar einerseits hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu den Phyla mindestens teilweise grob dem Schema des Vorbilds zuordnen lassen. Als deren konkretisierte Vertreter sind sie jedoch mehrheitlich auf die eine oder andere
75 Die ›Ohr-Maus‹ ist, obzwar kein transgener Organismus, aufgrund ihres spektakulären Erscheinungsbildes in den 1990er Jahren zur Ikone des Protests gegen Genmanipulation geworden. Sie entstand im Zuge von tissue engineering (Gewebezüchtungs-) Experimenten der Organtransplantationsforscher Charles und Joseph Vacanti an der University of Massachusetts Medical School; nach der Veröffentlichung der Ergebnisse kursierten Fotografien der Maus in Printmedien sowie online und verschafften ihr so große Popularität bis in den Kunstkontext hinein. 76 Vgl. Rockman: Alexis Rockman (wie Anm. 74), S. (90) 91; hier ist der Reproduktion des Gemäldes ein transparentes Blatt mit Haeckels »Stammbaum des Menschen« (Taf. XI) vorangestellt, das die Übernahme des Vorbilds unmittelbar nachvollziehen lässt. 77 Am Stamm des Baumes pickt – als eines der wenigen, nicht durch Mutationen gekennzeichneten Tiere – ein Specht; die einzigen mit Blättern bestandenen Zweige entpuppen sich bei näherer Betrachtung als einem parasitär am toten Geäst wurzelnden Gewächs zugehörig.
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Weise aus der Art geschlagen: Die meisten von ihnen verfügen über zusätzliche Extremitäten und/oder Köpfe, die mitunter zudem mutiert oder ihnen von einer anderen Spezies zugekommen zu sein scheinen. Missgebildet ist auch die kleine, nackte Gestalt in der Krone, die an Präparate von Embryonen und Totgeburten erinnert, wie sie sich bisweilen in alten anatomischen Sammlungen finden: Vier Beinchen und vier teils nur als Stummel ausgebildete Ärmchen müssen sich einen gedrungenen Torso teilen, auf dem ein nahezu gesichtsloses Köpfchen sitzt. Ungeachtet seiner erhabenen Position wirkt es ungleich hilfloser als die kaum weniger monströsen Tiere – die dennoch mit ihm das einsame Schicksal zu teilen scheinen, die ersten und zugleich die letzten ihrer Art zu sein.
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In dieser dystopischen Perspektive schlägt Alexis Rockmans Phylum die Brücke zu Imaginationen einer »Abschaffung der Arten«, die deren tradierte Ordnung nicht – wie dies der Autor Dietmar Dath in seinem Roman gleichen Titels vorschlägt –78 durch eine neue ersetzen, sondern vielmehr von ihrer Auslöschung künden. Letztere wiederum ist heute, gute zwei Jahrzehnte nach der Entstehung des Gemäldes, für viele Arten näher denn je zuvor in greifbare Nähe gerückt – und zwar in Dimensionen, die durch Umwelteinflüsse und durch Technologie hervorgebrachte Mutationen sicherlich weder signifikant verstärkt werden noch in irgendeiner Weise kompensiert werden können. Im Angesicht eines »sechsten Artensterbens«79, dessen Konsequenzen auch für den Menschen denkbar drastisch ausfallen werden, verwundert es kaum, dass sich auch die Ästhetik und Kommunikation der Arten dieser Perspektive zuwendet. Und möglicherweise ist es in diesem Zusammenhang auch nur allzu naheliegend, im Zuge eines Blicks zurück nach vorn nicht nur auf jene zu schauen, deren Verlust bereits zu beklagen ist oder in naher Zukunft zu beklagen sein wird, sondern hierbei auch Bildsprachen wieder aufzunehmen, die sich für die Kommunikation entsprechender Gesten bereits bewährt haben. So begegnen etwa in der populären Informations- und Gebrauchsgrafik neben steil ansteigenden Kurven und anderen Darstellungen, in denen das zunehmende Verschwinden von Arten in ›Maß und Zahl‹ visualisiert wird, immer wieder Bilder für die bedrohte Biodiversität, in denen ein bunter Strauß von Silhouetten oder Fotografien einzelner Tiere und Pflanzen – gerne kombiniert mit
78 Vgl. Dath, Dietmar: Die Abschaffung der Arten, Frankfurt a. M. 2008. 79 Vgl. Kolbert, Elizabeth: The Sixth Extinction. An Unnatural History, London 2014.
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einem Menschenpaar oder einer Familie – das Idyll eines Goldenen Zeitalters wieder aufzurufen scheinen. Alternativ fordern Nahaufnahmen einzelner Lebewesen dazu auf, die gleichsam im Porträt hervorgehobene Einzigartigkeit zu erkennen und zu würdigen. Während sich populärmediale und -wissenschaftliche Publikationen für Letztere mehrheitlich auf die Fotografie verlassen, stößt man in der Kunst auf Projekte, die einen anderen Ansatz verfolgen, um den Konnex von Vergänglichkeit und Vergangenheit in eine historisch-kritische Perspektive zu überführen. Der USamerikanische Maler Walton Ford (geb. 1960, Larchmont) etwa malt seine Bilder im Stil der detaillierten Darstellungen einzelner Tierarten, mit denen im 19. Jahrhundert die Ornithologen und Künstler John James Audubon (1785-1851) und John Gould (1804-1881) Furore machten. Bevorzugt wählt er für seine Arbeiten Arten aus, für deren Aussterben der Mensch mittelbar oder unmittelbar verantwortlich ist – stellt sie dabei allerdings durch ins Bild eingeschriebene Texte in einen weiterführenden Interpretationsradius, in dem historische und zeitgenössische Perspektiven auf Ökologie, Politik, Nationalismus und Kolonialismus zum Thema werden und mitunter auch konvergieren können. Beispielsweise wird auf der Aquatinta La Historia Me Absolverá (1999) die Darstellung eines Kuba-Ara (Ara tricolor), der Ende des 19. Jahrhunderts in Folge der zunehmenden Besiedelung und Bewirtschaftung der Insel ausstarb, mit einem Zitat von Fidel Castro kombiniert; das prächtige Tier ist von Insekten umschwirrt, am tief angelegten Bildhorizont ist eine lodernde Feuersbrunst zu erkennen.80 Dabei bleibt offen, ob der dargestellte Vertreter der zum Aussterben verurteilten Art mit dem zerrütteten Sozialismus beziehungsweise Castro und seiner stark persönlich geprägten Politik identifiziert, oder aber Letzterer eine Blindheit gegenüber anderen Lebensformen attestiert werden soll, die am Ende in die (Selbst-) Zerstörung führt. In beiden Fällen wird jedoch auf dem Wege der Projektion das Schicksal des Tieres auf den Menschen, der es verursacht hat, zurückgewendet. In der Gouache Delirium (2004) wiederum sieht man einen Steinadler (Aquila chrysaetos) – dessen Spezies zwar weltweit noch nicht als gefährdet gilt, gleichwohl in vielen Gegenden vom Menschen weitgehend oder gänzlich verdrängt wurde – in den Himmel steigen.81 Freilich trägt der stolze Raubvogel eine Fessel in den Klauen, in seiner Brust steckt eine Klinge und aus seinem geöffneten Schnabel dringt dichter Rauch. Diese zunächst einmal merkwürdigen Details
80 Vgl. Ford, Walton: Pancha Tantra, Köln 2015 (1: 2007), S. 79; für weitere, dem kubanischen Ara tricolor gewidmete Arbeiten aus den Jahren 2003/04 vgl. ebd., S. 164178. 81 Vgl. ebd., S. 160-163.
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verweisen auf John James Audubon zurück, dessen berühmtes Tafelwerk The Birds of America (1827-1839)82 als Leuchtturm eben jener Tradition der Naturdarstellung gilt, in deren Ästhetik sich auch Walton Ford mit seinen Bildern einreiht. Audubon hat sich allerdings nicht nur um die Dokumentation von Vogelarten und die Entdeckung einiger Spezies verdient gemacht. Für seine kunstvollen Darstellungen ließ er unzählige Vögel fangen und oftmals auch töten, um sie im Anschluss in Ruhe zeichnen und malen zu können. Neben feinem Schrot in der Flinte sollte die Betäubung und Vergiftung mittels Rauch dafür sorgen, dass die Gefieder möglichst unbeschädigt blieben; mit Drähten und Haken brachte er die Kadaver in möglichst lebensnah wirkende Positionen. In seiner Ornithologischen Biographie berichtet Audubon ausführlich von dem zunächst vergeblichen Versuch, einen gefangenen Adler mit Rauch zu vergiften;83 das stolze Tier wurde schließlich mit einem Stoß ins Herz umgebracht, »ohne dass dabei auch nur eine einzige seiner Federn durcheinander geriet«84. Mit Delirium erinnert Ford jedoch nicht nur an die Grausamkeit dieses Verfahrens, die angesichts von Audubons Verdiensten um die Vogelkunde weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt worden zu sein scheint. Hier dreht er den Spieß um, indem er der Vogeljagd einen alternativen Ausgang gibt: Tief unten in der verschneiten Landschaft liegt mitsamt seiner Flinte der Jäger im Schnee, vermutlich dahingestreckt von eben jenem Gas, das den Adler hätte betäuben und töten sollen. Solche für die bedrohten Spezies siegreichen oder auch nur glücklichen Wendungen sucht man in Brandon Ballengées (geb. 1974, Sandusky) Projekt The Frameworks of Absence (seit 2006)85 vergebens. Der Biologe und Künstler, der sonst für seine hoch ästhetischen Foto-Drucke von Skeletten aufgrund von
82 Vgl. Audubon, James John: The Birds of America. From Original Drawings, 4 Bde., London 1827-1838; aufgrund der großen Nachfrage erschienen bereits zeitnah weitere Auflagen und Ausgaben. 83 Vgl. Audubon, James John: Ornithological biography, or an account of the habits of the birds of the United States of America. Accompanied by descriptions of the objects represented in the work entitled The Birds of America, and interspersed with delineations of American scenery and manner, 5 Bde., Edinburgh 1831-1839. Die Bände enthalten den Textkorpus zu The Birds of America, da sich Audubon aus ökonomischen Gründen entschieden hatte, das aufwändige Tafelwerk separat zu publizieren, um an Belegexemplaren für die Bibliotheken sparen zu können. 84 Ebd., hier in Übersetzung zit. nach: Ford: Pancha Tantra (wie Anm. 80), S. 162; für das gesamte Zitat vgl. ebd., S. 161, 162. Im Original findet sich das Kapitel in Bd. II, S. 464-469, ebd. als Golden Eagle beziehungsweise nach Linné als Falco chrysaïtos. 85 Vgl. http://brandonballengee.com/the-frameworks-of-absence/ [Stand: 20. Mai 2017].
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Umwelteinflüssen mutierter Tiere bekannt ist,86 wählt hier Tafeln aus älteren sowie jüngeren naturhistorischen Werken, auf denen sich inzwischen ausgestorbene Arten porträtiert finden. Die Darstellungen schneidet er mit scharfer Klinge aus den Blättern, so dass nurmehr die leeren Silhouetten der Tiere zurückbleiben; die ausgeschnittenen Figuren finden Eingang in ein chronologisch geführtes Totenbuch,87 in dem sie von kurzen Texten begleitet werden, die über Ort und Jahr der letzten Sichtung eines Exemplars der jeweiligen Spezies informieren. Die Tafeln wiederum werden gerahmt und gleich Epitaphen gehängt; indem die verschwundenen Arten hier wortwörtlich als Leerstellen präsentiert werden, rufen sie ebenso wie die Titel – »RIP Lesser Antillean Macaw, After Matthäus Merian«, »RIP Great Auk, After John Gould«, »RIP Charles Island Tortoise, After Ernst Haeckel« – in unmittelbarer Referenz auf die vom Menschen eingetragene und erfasste, für die Tiere in ihrer Durchsetzung letztlich tödliche ›Ordnung der Natur‹ zum Gedenken und zur Trauer über die unwiederbringlichen Verluste auf.
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Hält man sich vor Augen, dass eine jede ausgestorbene Art in Charles Darwins Diagramm ein abgeschlossenes Ende, einen toten Zweig markieren würde, liegt es nahe, an die abgestorbenen Baumriesen zu denken, wie sie uns bereits in Alexis Rockmans Gemälde und auf dem Blatt von Mark Dion und Marina McDougall begegnet sind. Allerdings gibt es in Dions Œuvre auch Arbeiten, die das Baum-Bild auf andere Weise weiterdenken – und möglicherweise sogar eine ›Natur nach der Natur‹ imaginieren lassen, die alternative Zukunftsperspektiven birgt. So hat Dion 2002 für sein Düsseldorfer Vivarium den Stamm einer gefällten Pappel in ein eigens für diesen Zweck errichtetes Gewächshaus gelegt und – abgesehen von den mit der Unterbringung verbundenen gärtnerischen Grundmaßnahmen – weitgehend sich selbst überlassen.88 Ähnlich wie dies auch in ei-
86 Vgl. Triscott, Nicola/Pope, Miranda (Hg.): Brandon Ballengee. Malamp. The Occurrence of Deformities in Amphibians, London 2010 sowie http://brandonballengee.com [Stand: 20. Mai 2017]. 87 Vgl. Ballengee, Brandon: The Book of the Dead, o. O. 2015, pdf-Download über einen Dropbox-Link unter http://brandonballengee.com/the-frameworks-of-absence/ [Stand: 20. Mai 2017]. 88 Vgl. für die Werkdaten http://www.duesseldorf.de/dkult/DE-MUS-042524/147678 [Stand: 20. Mai 2017]; zum Projekt Lux, Ulla: Vivarium. Sind die Pilze wirklich
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ner ›natürlichen Umgebung‹ der Fall wäre, dient das verfallende Holz zahlreichen Lebewesen – Pflanzen, Tieren, Pilzen und Mikroorganismen – als Nahrungsquelle und Lebensraum. Wie in einem Schaukasten wird im Vivarium vorgeführt, dass der abgestorbene Stamm zum Fundament für ein neues, vielfältig besiedeltes Biotop wird, das seinerseits voller Leben ist. Als 2013 das Sturmtief ›Ela‹ über Nordrhein-Westfalen hinwegfegte, wurden auch am Standort der Installation, dem Düsseldorfer Hofgarten, mehrere Bäume entwurzelt; einer davon stürzte quer über das Vivarium, das dabei komplett zerstört wurde. Vor dem Hintergrund, dass Anzahl und Heftigkeit von Gewitterstürmen sowie teilweise auch die mit diesen verbundenen Forstschäden den mittelbaren Folgen menschlichen Umwelthandelns zugerechnet werden können, möchte man geneigt sein, in dem Sturz die glückliche Fügung eines hasard objectif zu entdecken, der Dions Werk konsequent weiterführt. Zwar hat die Stadt Düsseldorf 2015 in Rücksprache mit dem Künstler – der keinerlei Interesse daran hatte, den veränderten Zustand zu erhalten – die Installation abgebaut; in der Nähe des ursprünglichen Standortes soll ein komplett neues Vivarium entstehen.89 Was indessen ins Gedächtnis eingeschrieben bleibt, ist das Bild der ›Kunstnatur‹, die von durch den Menschen potenzierten ›Naturgewalten‹ zerstört und damit der menschlichen Ordnung und Kontrolle entzogen wurde. Ob es einprägsam genug ist, um auf seine Weise zu überdauern? Auf einen toten, umgestürzten Baumriesen – eine Eiche, wie sie seinerzeit für den Haeckelschen Stammbaum Modell gestanden hat – konnten im Sommer 2012 auch die Spaziergänger in der Kasseler Karlsaue stoßen. Ob dieser Baum absichtsvoll, als Teil eines Kunstwerks der zu dieser Zeit stattfindenden dOCUMENTA(13) an diese Stelle gebracht worden oder ob er bereits vorher dort zu finden gewesen war, mochte ungeachtet des Wissens um die Verortung des Projekts – das für viele überhaupt erst zum Anlass dafür geworden sein dürfte, die Schritte in diesen Teil des Landschaftsgartens zu lenken – durchaus offen bleiben. Der französische Künstler Pierre Huyghe (geb. 1962, Paris) hatte für seinen
echt?, in: Baur/Berg (Hg.): Mark Dion – Encyclomania (wie Anm. 11), S. 76-77 u. die Abb. ebd., S. 74-75. Dion hat im Anschluss mehrere ähnliche Projekte realisiert; das bis dato wohl bekannteste ist das Neukom Vivarium in Seattle, das 2004-2006 entstand und 2007 dauerhaft installiert wurde; vgl. hierzu https://art21.org/read/mark-dionneukom-vivarium/ [Stand: 20. Mai 2017]. 89 Vgl. die Pressemeldung der Stadt Düsseldorf vom 29. September 2015, als pdfDownload im Archiv online abrufbar unter https://www.duesseldorf.de/medienportal/ pressedienst-einzelansicht/pld/vivarium-im-hofgarten-wird-abgebaut.html [Stand: 20. Mai 2017].
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documenta-Beitrag, Untilled,90 einen abgelegenen Winkel am Rande des Parks ausgewählt, der sonst der Lagerung von Gartenabfällen und Baumaterialien dient. Für die Anlage seines Projekts nutzte er teilweise die bestehenden Strukturen und die vorhandenen Materialien, ließ jedoch auch selbst Hügel aufschütten und Pfade anlegen sowie Aussaaten und Anpflanzungen vornehmen, bevor er das Arrangement durch eine Skulptur und einen performativen Eingriff komplettierte. Inmitten eines vergleichsweise kahlen Platzes, umgeben von künstlichen, mit frischem Grün überwucherten Aufschüttungen platzierte er einen liegenden Akt, auf dessen Kopfpartie ein Bienenvolk angesiedelt worden war; während der dOCUMENTA-Tage streifte ein weißer Windhund durch das Terrain, dessen rechter Vorderlauf durch eine pink-rosa Färbung auffiel. Wer über Kenntnisse in der Botanik verfügte oder sich bereits über das Kunstwerk informiert hatte, konnte unter den angesiedelten Pflanzen zahlreiche erkennen, die für ihre toxischen und psychoaktiven Wirkstoffe bekannt sind – und beim Anblick des Eichenbaums mochte vor Ort ohnedies der Gedanke an Joseph Beuys’ (1921-1986) documenta-Projekt 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung naheliegen, mit dem der deutsche Künstler im Rahmen der documenta 7 (1982) die Anpflanzung von Stadtbäumen initiiert hatte, von denen ein jeder mit einer der zuvor vor dem Museum Fridericianum zu einem gigantischen Keil aufgeschütteten Basaltstelen gepaart werden wollte.91 Wenngleich Huyghes Projekt über mehrere Monate vorbereitet, sorgfältig geplant und arrangiert worden war, wirkte es wie eine vom Moment verzauberte Brache; das Traumbild eines verwunschenen, weil vom Menschen aufgegebenen Ortes, an dem sich die Natur zurückholt, was ihr zuvor genommen wurde. Diese Spur legte, neben der zum Bienenstock mutierten Skulptur, nicht zuletzt der ›Human‹ genannte Hund, dessen grazile Gestalt – das Ergebnis menschlicher Züchtung – durch die partielle Einfärbung des Fells gleichsam feenhaft verwandelt wirkte, so dass das Tier bei seinen Erkundungsgängen durchs Gelände wie ein Botschafter zwischen den Welten wirken mochte. Anders als bei Beuys’ von Anfang an als eine ›freundliche Übernahme‹ konzipiertem Projekt, in dessen Fortführung die Stadt Kassel nach wie vor die gepflanzten Bäume pflegt und nachsetzt, war die Verortung von Untilled temporär. Die Skulptur wie auch das Gesamtkonzept wurden, in modifizierter Form, in-
90 Vgl. Lavigne, Emma/Baudin, Katja/Gregory, Jarrett (Hg.): Pierre Huyghe, München 2014, zu Untilled (2011-2012) in Kassel ebd., S. 186-198. 91 Vgl. weiterführend zum Projekt Groener, Fernando/Kandler, Rose-Marie (Hg.): Joseph Beuys. 7000 Eichen, Köln 1987; Stiftung 7000 Eichen (Hg.): 30 Jahre Joseph Beuys 7000 Eichen, Köln 2012.
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zwischen bereits mehrfach in Ausstellungen des Künstlers präsentiert.92 Dennoch hat Untilled auch vor Ort Bleibendes hinterlassen – und zwar nicht nur, weil das Projekt rasch zu einem der bekanntesten Exponate der dOCUMENTA(13) wurde und sich als Bild, zumal unzählige Male fotografisch festgehalten und verbreitet, in der individuellen und kollektiven Erinnerung eingeprägt hat. Zudem dürften sich auch einige der von Huyghe angesiedelten Pflanzen über den Sommer weiterverbreitet haben, und mit ihnen zahlreiche weitere Lebewesen – so auch dort, wo der tote Baumriese ihnen Nahrung bot. In diesem Sinne bieten sich beide Projekte, Mark Dions Düsseldorfer Vivarium ebenso wie Pierre Huyghes Kasseler Installation, für einen Ausblick zur Ästhetik und Kommunikation der Arten an. Man kann sie als zeitgenössische Beiträge zum Thema verstehen, in denen sowohl der tradierte Blick auf die ›Ordnung der Natur‹ als auch dessen blinde Flecken eine Rolle spielen – allen voran jenen, die daraus resultieren, dass es diese Ordnung nur aus menschlicher Sicht gibt. Ihre wissenschaftliche Objektivität vermag sich allein in diesem engen Rahmen zu behaupten; wobei eben dieser Rahmen zu den gesetzten Konditionen gehört, in denen wir uns als Menschen zu bewegen pflegen. Zu diesen gehören auch die Vereinbarungen über unsere kulturellen Hervorbringungen, der Landschaftsgestaltung ebenso wie der bildenden Kunst. So sehr Letztere unsere Imagination von der Existenz anderer Ordnungen herausfordern mag, in denen der Mensch nicht im Mittelpunkt oder gar an der Spitze steht: objektiv sind es die Regeln der Kunst, die eben diese Imagination auch wieder in ihre Grenzen verweisen. Woran wohl auch deshalb, aus menschlicher Sicht, insofern nur wenig auszusetzen sein mag, als es dem Menschen letztlich aus guten Gründen schwerfällt, eine Welt ohne sich zu denken. Und dennoch: Es sind nicht zuletzt die gestürzten Bäume, aus denen heraus sich ein für das unbewehrte menschliche Auge teilweise unsichtbares Leben entwickelt, das uns daran erinnern kann, dass wir selbst zeitlebens und darüber hinaus Organismen sind, in denen andere Organismen ihr Eigenleben führen. Mit uns, aber auch ohne uns. Wenn es denn so sein sollte, dass wir als Menschen auf unserer Sicht auf die ›Ordnung der Natur‹ beharren wollen, dann muss uns auch Folgendes klar sein: Mit unserer Spitzenposition auf Ernst Haeckels knorriger Eiche sitzen wir auf einem toten Ast. Die Zukunft werden andere Arten (er)leben.
92 Vgl. z. B. Lavigne/Baudin/Gerory: Pierre Huyghe (wie Anm. 90), S. 200-203 für die Pariser Station der Retrospektive 2013-14.
Alfred Ehrhardt – von Muscheln, Schnecken und Mollusken C HRISTIANE S TAHL
Jeder kennt die betörenden Formen von Muschel- und Schneckengehäusen oder das Meeresrauschen, das man zu hören meint, wenn man eine Meeresschnecke ans Ohr hält. Diese farbenprächtigen und formschönen Naturkörper wecken Erinnerungen an Strandurlaube, lassen unsere Phantasie in exotische Gefilde schweifen, rufen Fernweh hervor und zieren Kaminsimse und Bücherregale. Sie demonstrieren die große Formenvielfalt und Ästhetik, die die Natur in ihren Gestaltungen hervorzubringen imstande ist und gewinnen Erstaunen wie Bewunderung. All dies mögen Gründe sein, weshalb der Fotograf und Filmemacher Alfred Ehrhardt (1901-1984) dem Motiv der Konchylie beharrlicher anhing als dem der Kristalle, die, in der Erde verborgen, den wenigsten aus eigener Anschauung bekannt sind. Sein Buch Kristalle erschien 1939, zwei Jahre vor Muscheln und Schnecken, aber Alfred Ehrhardt hat seiner Faszination für die Formschönheit dieser Meerestiergehäuse über 40 Jahre seines künstlerischen Schaffens hinweg Ausdruck verliehen. Vielleicht liegt diese Faszination auch an der organisch runden Form und handschmeichlerischen Oberfläche einiger Muscheln, die jeder kennt? Eine Erklärung bietet der Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) in seinem Buch Die Poetik des Raumes an, in dem er der Form von Konchylien ein philosophisch-literarisches Monument setzt. Insbesondere beschäftigte ihn die mathematisch exakte Geometrie sowie die dextrale Drehung von Meeresschnecken: »Der Muschel entspricht ein so sauberer, so sicherer, so harter Begriff, daß der Dichter, der von ihr sprechen muß, anstatt sie einfach nur zu zeichnen, sich zunächst in Bildernot befindet. In seinem Fluge zu den Traumwerten wird er durch die geometrische Realität der Formen aufgehalten. Und die Formen sind so zahlreich, oft so neu, daß die Einbildungs-
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kraft bei nüchterner Prüfung der Welt der Konchylien durch die Wirklichkeit mattgesetzt wird. Hier phantasiert die Natur, und die Natur ist gelehrt. Es genügt, ein Album mit Ammoniten durchzusehen, um zu erkennen, daß die Weichtiere ihre Muscheln seit der zweiten erdgeschichtlichen Periode nach der Lehre der transzendentalen Geometrie gebaut haben. Die Ammoniten formten ihr Haus gemäß der Achse einer logarithmischen Spirale. In dem schönen Buch von Monod-Herzen findet man eine sehr klare Darlegung dieser geometrischen Gestaltung durch das Leben. […] Das fertige Ding hat einen hohen Grad von Verständlichkeit. Was geheimnisvoll bleibt, ist der Gestaltungsvorgang, nicht die Gestalt. Welche Lebensentscheidung, welche schöpferische Wahl mag auf der Stufe des Entwurfs darüber bestimmen, ob die Muschelspirale linksherum oder rechtsherum gerollt sein wird? Tatsächlich beginnt das Leben weniger mit einem Aufschwung als mit einer Drehung. Was ist nicht alles über diesen Initialwirbel geschrieben worden! Ein élan vital, der sich dreht, welches abgefeimte Wunder, welches feinsinnige Bild des Lebens! Und was für Träume ließen sich über die linksgedrehte Muschel träumen! Über die Schnecke, die vom Drehungssinn ihrer Gattung abwiche!«1
Bachelards Text von 1957, drei Jahre später in deutscher Übersetzung erschienen, hat Alfred Ehrhardt wahrscheinlich nicht gekannt. Aber er war wie viele seiner Zeitgenossen Goetheaner und als solcher mit der Fragestellung der geometrischen Regelmäßigkeit und der Chiralität, also der Drehrichtung, vertraut, mit der Schnecken ihre Gehäuse bauen. Er wusste, dass Goethe nicht nur Steine, sondern auch Muscheln sammelte. Goethe beschrieb seine Muscheln als »fetischartige Heiligtümer«, die die »nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde und so im Kleinen wie im Größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur sinnlich vergegenwärtigen«.2 Und er erkannte in der Form der Spirale ein Prinzip, das er von der Pflanze ausgehend für alle Lebewesen aufzeigte: das Zusammenwirken der Vertikalen, der festen Achse, mit der sich an ihr emporrankenden Spirale, der »vitalen Inkurvation als Grundtendenz des Lebens«3. Alfred Ehrhardt war ein medialer Grenzgänger. Er war Organist, Chorleiter, Komponist, Maler und Kunstpädagoge, bevor er Fotograf wurde. Nach einem Aufenthalt am Dessauer Bauhaus 1928/29, wo er bei Josef Albers studierte und bei Wassily Kandinsky und Oskar Schlemmer hospitierte, leitete er an der Landeskunstschule Hamburg den ersten Vorkurs für Materialkunde außerhalb des
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Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. 2014, S. 117-118.
2
Goethe, Johann Wolfgang von: Naturwissenschaftliche Schriften, Hamburger Ausga-
3
Ebd., S. 134.
be, Bd. 13, München 1975, S. 206.
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Bauhauses. Erst nach dem Berufsverbot durch die Nationalsozialisten 1933 wandte er sich der Fotografie und dem Film zu. Mit der Veröffentlichung seiner Fotografien in über 20 Bildbänden4 und zahlreichen Zeitschriften zählt er zu den von der Publikationstätigkeit her erfolgreichsten Fotografen unter den ehemaligen Bauhäuslern. Für seine mehr als 50 Kulturfilme erhielt er vier Bundesfilmpreise und internationale Auszeichnungen. Nachdem sich Ehrhardt in den 1930er-Jahren mit seinen abstrakten Aufnahmen von Strukturen im Watt und in den Sanddünen der Kurischen Nehrung ei-
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Das Watt, Text: Kurt Dingelstedt und Alfred Ehrhardt, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1937. Die Kurische Nehrung, Text: Alfred Ehrhardt, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1938. Niederdeutsche Altarschreine, Text: Karl Wilhelm Tesdorpf, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1938. Island, Text: Ferdinand Dannmeyer, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1939. Mittelalterliche Taufen aus Erz und Stein, Text: Harald Busch, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1939. Kristalle, Text: Waldemar Schornstein, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1939. Fohlen auf der Weide, Text: Paul Schurek, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1939. Werner Ruge: Die Melodie des Lebens. Ein Bildbuch aus der Zeit der Wende abendländischen Denkens. Mit 40 mikroskopischen Aufnahmen von Alfred Ehrhardt, Leipzig: Reclam Verlag, 1939. Lämmer, Kücken und Kälbchen, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1940. Niederdeutsche Madonnen. Ein Bildwerk, Text: Hans Wenzel, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1940. Muscheln und Schnecken, Text: Eduard Degner, Hamburg: Verlag Heinrich Ellermann, 1941. Alte Kunst, lebendig. Bildwerke einer Privatsammlung, Text: Hubert Wilm, Frankfurt a. M.: Privatdruck der Bauerschen Giesserei, 1942, und Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1942. Gotische Gesichter. Bildwerke einer Frankfurter Privatsammlung, Text: Konrad F. Bauer, Frankfurt a. M.: Privatdruck der Bauerschen Giesserei, 1942. Ewiges Flandern. Ein Bildwerk in 180 Tafeln, Text: Cyriel Verschaeve, Hamburg: Verlag Broschek & Co., 1943. Zwischen Schlei und Eidermündung. Eine alte Welthandelsstrasse des Nordens, Text: Alfred Ehrhardt, Hamburg: Verlag Hamburgische Bücherei, 1947. Das Tier der Wildnis, Text: Alfred Ehrhardt, Hamburg: Verlag Hamburgische Bücherei, 1949. Hamburg als Industrieplatz, hrsg. von der Handelskammer Hamburg und der Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hamburg 1952. Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann, Text: Fritz Fuglsang, Schleswig: Verlag Hildegard Bernarts, 1959, 1971. Die Bronzesäule des Bernward von Hildesheim, Text: Walter Schmand, München: StarczewskiVerlag, 1967. Das Wattenmeer. Formen und Strukturen, Text: Alfred Ehrhardt, München: Starczewski-Verlag, 1967. Geprägte Form. Über die Architektur der Schneckengehäuse aus allen Meeren der Welt, Text: Josef Mühlberger, München: Starczewski-Verlag 1968.
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nen Namen gemacht hatte, widmete er sich anorganischen Naturgegenständen wie Kristallen und Gesteinen, dann jedoch auch Korallen, Schwämmen, Muscheln, Schnecken, Mollusken, Seeigeln und Seesternen. Aber einzig mit dem Motiv der Muscheln und Schnecken hat er sich sein halbes Leben lang beschäftigt. Sein Bildband Muscheln und Schnecken erschien 1941 im Hamburger Heinrich Ellermann Verlag. Zwischen 1940 und 1943 brachten die Zeitschriften Volk und Welt, Atlantis und Westermann’s Monatshefte fünf Artikel mit Aufnahmen dieser Serie.5 Der Film Spiel der Spiralen (1951), der ihm seinen zweiten Bundesfilmpreis einbrachte, zählt zusammen mit Tanz der Muscheln (1956) und Korallen – Skulpturen der Meere (1964) zu seinen formal stärksten und experimentellsten Arbeiten. Auch nach dem Krieg fanden Ehrhardts Aufnahmen weiterhin Verbreitung in Zeitschriften und Büchern.6 1968 erhielt er mit der Wiederveröffentlichung seines Buchs im Starczewski-Verlag unter dem Titel Geprägte Form. Über die Architektur der Schneckengehäuse aus allen Meeren der Welt erneut Aufmerksamkeit. Und zuletzt bestand eines der Portfolios, die Ann und Jürgen Wilde 1981 in ihrer Kölner Galerie herausgaben, aus Aufnahmen von Muscheln und Schnecken, von Jürgen Wilde neu abgezogen und noch von Alfred Ehrhardt signiert, drei Jahre bevor er verstarb. So kann man sagen, dass es sich bei Alfred Ehrhardts Fotografien im weitesten Sinn um Naturaufnahmen handelt. Er interessierte sich für die Bodenformationen im Watt und in der Dünenlandschaft der Kurischen Nehrung, fotografierte Kristalle, Muscheln und Korallen und beschäftigte sich mit Mikrofotografie.
5
Ehrhardt, Alfred: Schöpfer Meer, in: Volk und Welt, Mai 1940, S. 51-61; ders.: Architekturkünste der Meeresschnecken, in: Volk und Welt, September 1940, S. 53-60; ders.: Fruchtbares Meer, in: Atlantis, Oktober 1940, S. 399-405; ders.: Des Meeres wunderbare Formenwelt, in: Westermanns Monatshefte, November 1940, S. 135-140; Lengerken, Hanns von: Das schöne Schneckenhaus, in: Westermanns Monatshefte, Dezember 1943, S. 155-158.
6
Schnack, Friedrich: Blütenbäume auf dem Meeresboden, in: Velhagen & Klasings Monatshefte, Heft 2, 1952, S. 135-142; ders.: Blumen aus fernen Gärten, München 1959, Abbildungen auf S. 23, 25, 29, 33; ders.: Blütenbäume des Meeresbodens, in: erdkreis, Mai 1964, S. 178-192; ders.: Baumeister und Maler in den Tiefen des Meeres, in: erdkreis, April 1965, S. 133-145; Sieker, Hugo: Die Schatzkammer des Meeres, Anonym, 18.9.1965, Archiv Alfred Ehrhardt Stiftung; Anonym: Baumeister der Welt, in: Hamburg Kurier, Dezember 1965, S. 18-23; Anonym: Korallen, in: Hamburg Kurier, Februar 1969, S. 20-27; Korthaus, Edith: Im Wundergarten der Natur, in: Zoologischer Zentral-Anzeiger, Januar 1970, o. S.
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Aber weitere Schwerpunkte bilden auch die Architektur- und Skulpturenfotografie. Für seine ersten fotografischen Serien Das Watt und Die Kurische Nehrung verband Alfred Ehrhardt mit seiner grafisch-abstrakten Motivwahl, dem extrem begrenzten Bildausschnitt, der Kompositionsstrenge und seriellen Rhythmisierung der Bildstrukturen Tendenzen der Fotografie der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens. Wie viele deutsche Fotografen seiner Zeit beeinflussten ihn vor allem Karl Blossfeldt (1865-1932) und Albert Renger-Patzsch (1897-1966). Jedoch lässt sich sein fotografischer Stil nicht allein aus fotohistorischer Perspektive erklären. Die frühe Beschäftigung in der Malerei mit Abstraktion, UrForm und Oberflächenstruktur sowie, in Anlehnung an die Musik, mit Rhythmus, Dynamik und Kontrapunktik, formte sich in seinem fotografischen Werk zu stilistischer Eigenständigkeit. Die weltanschauliche Dimension, die darin zum Ausdruck kommt, wurde ihm mehr von der Malerei als von der Fotografie mitgegeben. Ehrhardts Aufnahmen zeugen von einer religiös motivierten Natursicht, die in seinen Texten am Begriff der »erhabenen Landschaft«7 festzumachen ist. Mit der systematischen Reihung seiner Landschaftsausschnitte, die den Eindruck einer unendlichen Formenvielfalt schaffen, versuchte er, die »kosmischen Gesetze, mechanischer und organischer, materieller und ideeller Art«8 und die »gestaltenden Urkräfte«9 der Natur darzustellen. Seine strenge, auf wenige Linien reduzierte, menschenleere Landschaftsfotografie gibt seine Erfahrungen in den kargen Landschaften des Watts, der Kurischen Nehrung oder Islands wieder und will die Einsicht vermitteln, dass der Mensch nur ein Teil der überwältigenden, zeitlosen Natur ist. Nicht umsonst hat man ihn damals »Naturphilosoph mit der Kamera«10 genannt. Alfred Ehrhardt hat im Hamburgischen Zoologischen Museum fotografiert,11 das nach Kriegsverlusten seine Sammlung durch Bestellungen aus dem Warenkatalog der Firma Theodor Umlauff Muschel-Import-Export Hamburg
7
Alfred Ehrhardt: Das Watt, Hamburg 1937, S. 11.
8
Alfred Ehrhardt, aus einem Brief vom 9.10.1929 an die Mitglieder des Bachkreises,
9
Alfred Ehrhardt, in: Gestaltende Urkräfte. Wind, Wasser, Erde, Typoskript, ca. 1936,
auf Briefpapier der Schulgemeinde Gandersheim, Archiv Alfred Ehrhardt Stiftung. Archiv Alfred Ehrhardt Stifung. 10 Hopfengart, Christine/Stahl, Christiane (Hg.): Alfred Ehrhardt. Fotografien, Ausst.Kat. Kunsthalle Bremen/Kunstmuseum Bonn, Stuttgart 2001; Stahl, Christiane: Alfred Ehrhardt: Naturphilosoph mit der Kamera. Fotografien von 1933 bis 1947, Diss. Freie Universität Berlin, Berlin 2007. 11 Ehrhardt, Alfred: Muscheln und Schnecken, Hamburg 1941, S. II.
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Abb. 1: Alfred Ehrhardt, Scala pretiosa L., Chinesisches Meer, 1940/41 neu ergänzt hatte.12 Für die Dreharbeiten zu seinem preisgekrönten Film Spiel der Spiralen (1951) legte er sich dann eine eigene Konchylien-Sammlung zu.13 Jene Seeschnecken, für die Ehrhardt überschaubare Summen bezahlte, waren zu Zeiten, als das Sammeln von Naturalien exotischer Herkunft das Prestige europäischer Fürstenhäuser erhöhte, schwindelerregend teuer. Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen, Gemahl von Maria Theresia, soll die damals noch unbekannte Schneckenart »Wendeltreppe« (Abb. 1) für 4.000 Gulden erworben haben, was dem Jahresgehalt eines hochgestellten Staatsbeamten entsprach. Er hatte Mitte des 18. Jahrhunderts die zu dieser Zeit größte, aus 30.000 Objekten bestehende Sammlung seltener Schnecken, Korallen, Muscheln, kostbarer Edel-
12 Der Inhaber der Muschel-Import-Firma, Theodor Umlauff, starb 1932, danach übernahm sein Sohn Kurt Umlauff das Geschäft. Bis Anfang der 1970er Jahre wird es in den Hamburger Firmenverzeichnissen noch als Im- und Exportunternehmen geführt. Mit Dank für diesen Hinweis an Roland Jaeger, Hamburg. 13 Alfred Ehrhardts Sammlung von Muscheln befindet sich im Archiv der Alfred Ehrhardt Stiftung, Berlin.
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steine und Mineralien erworben, für deren Erweiterung ihm nichts zu teuer war. So rüstete er 1755 eine Expedition zu den Antillen und nach Venezuela aus, um lebende Tiere, Pflanzen und 67 Kisten Naturalien nach Wien bringen zu lassen. Nach seinem frühen Tod brachte Maria Theresia die bereits nach wissenschaftlichen Kriterien systematisch geordnete Sammlung in der Wiener Hofburg unter und machte sie öffentlich zugänglich.14 Die Sammlungen naturhistorischer Museen stehen in der langen Tradition fürstlicher Sammeltätigkeit, die der Vergewisserung dynastischer Legitimität verpflichtet war. Dabei hat auch der nationale Besitzanspruch auf neu entdeckte Teile der Welt zur Ansammlung von Dokumenten fremder Kulturen die leidenschaftliche Sammlertätigkeit entfacht.15 Der schwunghafte Handel mit diesen exotischen »Blumen des Meeres«16 begann vor allem in Holland, dessen Schiffe in den Indischen und Pazifischen Ozean reisten. Diese Preziosen der Natur waren nicht nur Ausdruck individuellen Reichtums, sondern drückten auch den Stolz auf die holländische Beherrschung des Meeres und der Kolonien aus. Für einen von Gottes Gnaden ermächtigten Herrscher glich die Anhäufung exotischer Naturprodukte und fremdartiger kunsthandwerklicher Gegenstände, die nach der Eroberung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert noch als Kuriosa zusammen mit den Schiffsladungen gewinnbringender Handelsgüter nach Europa kamen, einer Besitznahme der fassbaren Welt und letztlich ihrer Bewohner. Hierin sah sich der Fürst einem Schöpfer ähnlich, der über das gesamte Universum gebietet. Bei den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock trennte man noch nicht zwischen Naturalia, Artefacta, Antiquitates und Scientifica. Es galt, »das gesamte Wissen der Menschheit über den Mikro- und Makro-
14 Vgl. Riedl-Dorn, Christa: Das Haus der Wunder. Zur Geschichte des Naturhistorischen Museums in Wien, Wien 1998. 15 Vgl. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2007, S. 39. 16 Im 17. Jh. wurde eine direkte Verbindung zwischen Schalentieren und Pflanzen gezogen, wie bei Filippo Buonanni, der in seiner die Muschel als »die schönste, weil unvergängliche Blume des Meeres bezeichnet (il piu bel fiore del Mare, ma non corruttibile)«. Vgl. Leonhard, Karin: Die Muschel als symbolische Form, oder: Wie Rembrandts Conus marmoreus nach Oxford kam, in Gockel, Bettina (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600–2000, Berlin 2011, S. 122-155, hier S. 131.
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Abb. 2 a: Alfred Ehrhardt, Nautilus pompilius L. Philippinen, 1940/41 kosmos in ein überschaubares Beziehungssystem zu übertragen und auf diese Weise eine verbindliche Ordnung der Dinge herzustellen«17. In den kunstvollen Hervorbringungen der »Lehrmeisterin Natur« meinte man, die Gesetze der Schöpfung »wie in einem offenen Buch« lesen zu können.18 Schnecken galten als Verkörperung absoluter göttlicher Proportionalität, wobei insbesondere die Nautilus (Abb. 2 a), die nach den Verhältnissen des Goldenen Schnitts, der »divina proportione« gegliedert war, in Analogie zum göttlichen Weltenbau gese-
17 Richter, Thomas: Wunderkammer. Kunst, Natur und Wissenschaft in Renaissance und Barock, Bern 2005, S. 8-9. 18 Wunderkammer des Abendlandes, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn 1994, S. 131.
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Abb. 2 b: Alfred Ehrhardt, Querschnitt durch ein NautilusGehäuse, 1940/41 hen werden konnte.19 Ihre große Form- und Farbvarianz, die Präzision ihrer komplexen Muster sowie die Möglichkeit, sie zu Familien zu ordnen, deren Verwandtschaft über Kontinente hinweg nachweisbar war, diente nachgerade als Gottesbeweis: »Die ›Nutzlosigkeit‹ der Schalen und Gehäuse, prädestinierte sie nicht nur als ästhetische Objekte. Sie waren schöner Schein und Zeichen von Überfluss zugleich.«20 Und in der handwerklichen Weiterverarbeitung exotischer Naturgegenstände wie Kokosnüsse, Nautilus-Muscheln, Straußeneier oder Korallen zu Meisterwerken der Gold- und Silberschmiedekunst vermochte sich das
19 Busch, Werner: Rembrandts Muschel – Nachahmung der Natur? Ein methodisches Lehrstück, in: Gockel: Vom Objekt zum Bild (wie Anm. 16), S. 92-121, hier S. 97. 20 Ebd., S. 101.
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Ingenium des Menschen, seine schöpferische, von Gottes Gnaden verliehene Kraft des manuellen und geistigen Schaffens, frei zu entfalten. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts setzte sich zunehmend der Ordnungsgedanke der Aufklärung durch, und die Sammlungen wurden den neuen Wertmaßstäben von Rationalismus und Spezialisierung entsprechend bei Übernahme in Museen einzelnen Sparten zugeordnet oder veräußert. Die Naturalienkammern bilden nunmehr den Übergang von der kaleidoskopischen Renaissancesammlung zum naturhistorischen Museum nach den Vorstellungen von Carl von Linné (17071778) und seinem hierarchischen Klassifizierungssystem. Die im Grunde ahistorische Naturgeschichte der Aufklärungszeit, bei der man von einem festen Gefüge des Weltgebildes ausging, wurde erst im 19. Jahrhundert unter dem zunehmenden Eindruck des Evolutionsgedankens wirklich historisch. Der Mensch verlor seine Sonderstellung und wurde selbst Teil der Natur. Wie bereits mit seinem fotografischen Erstlingswerk Das Watt verdeutlichte Alfred Ehrhardt bei all seinen Aufnahmen von Naturgegenständen den Formenreichtum und die Gesetzmäßigkeiten der Natur mit typologischer Systematik und naturwissenschaftlichem Darstellungsmodus. Den lebensphilosophisch geprägten Vorstellungen seiner Zeit verpflichtet, waren für ihn die vielfältigen Erscheinungsformen der Natur Zeichen eines übergeordneten, schöpferischen Plans im Sinne einer pantheistisch verstandenen natura naturans, der auch den Menschen als Teil der Natur und die von ihm geschaffenen Produkte bestimmt. Ehrhardts Faszination für diese toten Überbleibsel von Lebewesen rührte auch daher, dass er in diesen Formen Sinnbilder einer überzeitlichen Gültigkeit sah. Sie waren für ihn »Teil jener unveränderlichen Schöpfung, die in kommenden Jahrtausenden die gleichen Züge tragen wird, wie sie sie in vorgeschichtlichen Zeiten trug«21. Durch den Biologen und Darwinisten Ernst Haeckel war Ehrhardt die Auffassung vermittelt worden, dass Naturschau zu Naturerkenntnis führt. Haeckel veranschaulichte seine Art der Naturbetrachtung mit detailgenauen Zeichnungen, an die Ehrhardt mit seinem Aufnahmemodus anknüpfte. Er wollte verdeutlichen, dass die Fülle der Naturformen nicht einfach dem Chaos oder der gestaltlosen Verschwendung entspringt, sondern mathematischen Regeln des geometrischen Aufbaus folgt. In den regelmäßigen Formen der Kalkablagerungen, die die Tiere nach ihrem Ableben zurücklassen, fand er bestätigt, »welch vorbildlicher architektonischer und motorischer Geist diese Lebewesen beim Entwickeln ihrer Körper-, Blatt-, Schalen- oder Gehäuseformen bestimmt«22. Ehrhardt war über-
21 Ehrhardt, Alfred: Schöpfer Meer, in: Volk und Welt, Mai 1940, S. 51. 22 Ebd., S. 52.
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zeugt, dass sich in der Formanalogie zwischen den »Kunstformen der Natur« (Ernst Haeckel) und den »Urformen der Kunst« (Karl Blossfeldt) eine kosmologische Kraft manifestiere, die die Formen des Mikrokosmos und des Makrokosmos gleichermaßen gestaltet. Die Natur, die es zu studieren galt, wurde zum Ausgangspunkt und zur Inspirationsquelle für Ehrhardts künstlerisches Schaffen: »Betrachten wir uns einmal das Innere einer Nautilusschale, des Tintenfisches der ozeanischen Gewässer um die Philippinen! Das Gehäuse ist genau längs durchgesägt und zeigt nun eine räumliche Spiralform, die den kunstsinnigen Menschen ebenso begeistert wie jeden kühlen Techniker und Ingenieur. Dasselbe ist von dem architektonisch klug angelegten vielstöckigen Bauwerk der purpurfarbenen Orgelkoralle zu sagen. Das zarte Aderwerk mit seinen versteifenden Astformen gibt der elfenbeinfarbigen Fächerkoralle, die im Indischen Ozean beheimatet ist, ein besonders kunstvolles Aussehen. Ein eigenartiges Formengewinde hat einer der Korallen mit überzeugender Anschaulichkeit den Namen ›Hirn‹-Koralle oder auch ›Neptun-Gehirn‹ eingetragen, während die Bäumchen-Formen einer gewöhnlichen Koralle einen guten Einblick in den Aufbau der großen und oft weitverzweigten Siedlungen und hochragenden Riffe gewähren. Nur ein Meeresbewohner hat trotz seiner unzähligen und sehr stark voneinander abweichenden Arten das gleiche Bauprinzip in den verschiedensten Formen der Gehäuse angewendet: die Meerschnecke mit ihrem immer wieder spiralig gewundenen Haus.«23
In der Publikation Muscheln und Schnecken stammt der Einleitungstext vom Kurator der Molluskensammlung des Hamburger Zoologischen Museums, Prof. Dr. Eduard Degner. Dieser schreibt zwar auch vom »ästhetischen Erleben«, das ein Grundpfeiler heutiger Tierkunde sei, weil lange vor der wissenschaftlichen Fragestellung das »Wohlgefallen an der Formenmannigfaltigkeit und Farbenfülle der tierischen Schöpfung«24 zum Aufbau höfischer Naturalienkabinette im 17. Jahrhundert verlockt habe. Von dort aus geht er jedoch zügig weiter, um die Wachstumsgesetze der unterschiedlichen Spiralbildungen wissenschaftlich zu begründen. Er ließ jedoch auch unerklärte Phänomene wie etwa die Rolle der Färbung im Leben der Tiere als nicht geklärt stehen, ohne eine Interpretation spekulativer Art vorzunehmen.25 Zusätzlich werden die ohne Bildunterschriften wiedergegebenen Objekte in den »Tafelerklärungen«26 mit Angabe von lateinischem Namen, Lebensraum, Heimat und Größe erläutert, ergänzt durch die Be-
23 Ebd., S. 52 u. 61. 24 Degner, Eduard: Einleitung, in: ders.: Muscheln und Schnecken (wie Anm. 11), S. III. 25 Vgl. ebd., S. VIII. 26 Ebd., S. XV–XXIII.
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schreibung ihrer wesentlichen Eigenschaften. Wenn Ehrhardt in seinem eigenen Text darauf verwies, auch Kunstinteressierte, Techniker, Ingenieure und Architekten würden diese Aufnahmen ansprechen,27 so bewegte sich Degner nicht auf dieser Assoziationsebene. Entsprechend Degners Ausführungen verläuft die Ordnung der 111 Bildtafeln in wissenschaftlicher Reihenfolge: zuerst die Meeres- und Landschnecken, die wie in der Natur den größten Teil auch im Bildband ausmachen (Tafel 1-81), dann die Muscheln (Tafel 82-95) und Tintenfische (Tafel 96-101), und schließlich angeschliffene Schalen, die den inneren Aufbau der Gehäuse verdeutlichen (Tafel 102-112). Ansonsten beruht die Ordnung der Bildabfolge auf dem Dialog der sich auf den Doppelseiten gegenüberstehenden Abbildungen. Dabei setzte Ehrhardt weitaus mehr als in seinem vorausgehenden Buch Kristalle auf das Prinzip der Paarung als auf das der Kontrastierung. Die zweite Auflage des Buches, 1968 unter dem Titel Geprägte Form. Über die Architektur der Schneckengehäuse aus allen Meeren der Welt erschienen, unterscheidet sich von seinem Vorgänger darin, dass die Tafelabbildungen jeweils auf der rechten Seite allein stehen, dass die wissenschaftlichen Angaben zu den Objekten auf die lateinischen Bezeichnungen und Größenangaben beschränkt sind und dass mit Josef Mühlberger nicht ein Naturwissenschaftler, sondern ein Schriftsteller den Begleittext beisteuerte. Mühlberger geht auf die Bedeutung der archimedischen und logarithmischen Spirale in der Kultur- und Kunstgeschichte ein, staunt über den »Überschuss an Schöpferkraft und auch Schöpfungslust über das Notwendige und Zweckmässige hinaus« und erwähnt das Phänomen, dass man bei Konchylien – wie bei Baumringen – die Zeit an der Schale ablesen kann: »So muten uns die Gehäuse an wie das andere Ich der in ihnen sich bergenden Lebewesen, wie hinterlassene Werke eines längst dahingegangen Künstlers.«28 Wie im Klappentext vermerkt, vermochte dieses Buch »durch seine sachlich-künstlerische Darstellungsart sowohl den modernen Bildhauern und Fotografen, als auch den Kunsthandwerkern und Designern zahlreiche Anregungen zu geben«29. Das ästhetische und weltanschauliche Fundament zu seiner Serie Muscheln und Schnecken wurde in den Jahren 1939/40 gelegt, und seitdem wich Ehrhardt so wenig von seiner Kameraeinstellung und Lichtführung ab, dass eine rein stilistische Unterscheidung der Aufnahmen aus den 1940er und 1960er Jahren na-
27 Vgl. Ehrhardt: Schöpfer Meer (wie Anm. 21), S. 92. 28 Mühlberger, Josef: in: Ehrhardt, Alfred: Geprägte Form. Über die Architektur der Schneckengehäuse aus allen Meeren der Welt, München 1968, o. S. 29 Ebd., Klappentext.
A LFRED E HRHARDT – VON M USCHELN , S CHNECKEN UND M OLLUSKEN
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Abb. 3: Alfred Ehrhardt, Rostellaria fusus, Chinesisches Meer (links) und Rostellaria fusus, Chinesisches Meer, Detail (rechts), 1940/41 hezu unmöglich ist: Sämtliche Gehäuse sind vor tiefschwarzem Hintergrund fotografiert. Der Untergrund oder Sockel, auf dem die Objekte beim Fotografieren geruht haben müssen, ist nicht zu erkennen. Die Tiergehäuse stehen ohne Bezug zur Umgebung im leeren Raum, keine Lichtreflexe oder Grauschattierungen des Hintergrunds lenken von der Konzentration auf die Schönheit ihrer Form und Oberflächenzeichnung ab. Das Prinzip des zentralgerichteten Aufbaus dieser Formen kommt in der Aufnahme der bereits erwähnten Nautilus besonders klar zum Ausdruck. Wie bei vielen dieser Aufnahmen ist das Gehäuse knapp im Bildrahmen eingefangen und mittig gesetzt. Nur schmale Streifen trennen den oberen und unteren Schalenrand von der Bildgrenze, und die obere Röhrenwindung liegt genau in der Bildmitte. Das Licht ist so gesetzt, dass der Schalenrand eine weiße Linie bildet, die sich vom schwarzen Hintergrund abhebt, und sich das Licht auf dem Bauch der Schale spiegelt. Auch die Rostellaria fusus (Abb. 3 links) ist mittig gesetzt, wobei das längliche Bildformat der schlanken Schneckenform angepasst ist. Der Wechsel von der vollständigen Ansicht zur Teilansicht (Abb. 3 rechts) funktioniert wie ein Zoom an den Gegenstand heran, der sich leicht dreht, um die Bewunderung des Betrachters auf das scheinbar vollkommen unnütze, verschnörkelte Ornament zu lenken, das die Muschelöffnung schlängelnd ziert und im Kontrast zur spitz zulaufenden strengen Spiralform steht.
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Abb. 4: Alfred Ehrhardt, Xenophora solaris, Sundastraße, Indonesien, 1940/41 Wie bei der Xenophora solaris (Abb. 4) fällt häufig ein scharfes, punktuelles Licht auf, das mittels Schattenbildungen die Beschaffenheit der Oberflächenstrukturen hervorhebt. Die feinen Riffelungen werden betont, die Stacheln erheben sich kontrastreich vom Hintergrund, die Schneckenöffnung tut sich durch das von links kommende Licht als schwarzes Loch auf. Mit der Reflexion auf dem glänzenden Perlmutt werden Assoziationen mit dem wässrigen Element erweckt, aus dem die Schnecke hervorgegangen ist. Nur etwa ein Viertel der Gehäuse sind angeschnitten wiedergegeben, vorwiegend weil sie eine Vergrößerung aus der Gesamtaufnahme darstellen. Eine der schönsten Aufnahmen steht in Ehrhardts Bildband Muscheln und Schnecken an letzter Stelle und bildet einen gebührenden Abschluss dieser Publikation: der Schnitt durch jenes Nautilusgehäuse, das dem Leser zuvor nur von außen zu betrachten vergönnt war (Abb. 2 b). Wie in kreisender Bewegung begriffen drängt die Spirale von der Zentrifugalkraft bewegt nach außen und sprengt das Bildfeld – die Spirale als Grundtendenz des Lebens wird so zum Symbol galaktischer Unendlichkeit.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1, 2, 4: © bpk / Alfred Ehrhardt Stiftung Abb. 3: Alfred Ehrhardt: Muscheln und Schnecken, Hamburg 1941, S. 66 u. 67.
II. (Ab-)Bilder des Wissens über Natur
Paradise Lost: Naturkundliche Sammlungen als Spiegel menschlicher Weltensicht Vom vollständigen Haben und exakten Abbilden
A NNETTE R ICHTER Karol Sabath gewidmet
E INLEITUNG Naturkundliche Sammlungen erfüllen zwei hauptsächliche Zwecke: Zum einen sollen sie die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten möglichst umfänglich widerspiegeln, indem Teile dieser Organismen oder sogar die Organismen selbst – gegebenenfalls auch in ihren unterschiedlichen Lebensphasen – an speziellen Orten verwahrt und gepflegt werden und dort einer interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit prinzipiell zugänglich sind. Sie entsprechen sozusagen ›Präsenzbibliotheken‹ der sammelbaren Spuren des Lebens. Zum anderen dienen diese Sammlungen der Erforschung der gesammelten Objekte, so wie aus jedweder Sammlung im Idealfall der Erkenntnisgewinn über die Dinge hervorgehen soll. Dieser Erkenntnisgewinn funktioniert am besten über Forschergemeinschaften, wie sie die frühe Form der Naturgeschichte in Europa mit ihrem regen wissenschaftlichen Briefwechsel des 18. Jahrhunderts belegt – beispielsweise in Frankreich zwischen den französischen Naturforschern Georges Cuvier (1769-1832) und Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire (17721844). Sie manifestiert sich daher im Zwang zur Veröffentlichung a) der geistigen Ergebnisse in geschriebener Sprache und b) des vorliegenden naturkundlichen Untersuchungsgegenstands in Form möglichst exakter Abbildungen, also Illustrationen. Dies ist die Basis für jedweden wissenschaftlichen Diskurs zur Deutung der komplexen naturkundlichen Phänomene.
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Die heute verwendeten Abbildungen in der Naturkunde haben ihre Wurzeln dabei weder in den ›flachen‹ Schemata naturkundlicher Darstellungen der Antike – wie beispielsweise dem ›Herbarium‹ des Dioskurides – noch in den medizinisch verwendeten Heilpflanzenabbildungen aus dem europäischen Mittelalter.1 Ihre tatsächlichen Vorbilder sind vor allem in den ›räumlich‹ wirkenden Kunstdarstellungen der Renaissance und des Barock zu finden. Ihre Anfertigung folgt bis zum heutigen Tage dem Kanon des Sehens und Darstellens in der bildenden Kunst ab 1500, und es ist von großem Interesse, dass Sehgewohnheiten und Darstellungskonventionen eine viel größere Rolle spielen, als man es bei ›exakten‹ Darstellungsformen bei oberflächlicher Betrachtung vermuten würde; ihre erforderliche Objektivität ist also durchaus diskutabel. Auf den Konventionen basieren auch viele illusionistische Darstellungsverfahren, die erstaunlich oft die Frage nach wirklicher und vorgetäuschter Exaktheit aufwerfen. Hinzu kommt die naturkundliche Frage nach der Legitimation von Simplifizierungen – der Übergang von der Realdarstellung zum immer stärker interpretierenden Schema unter Weglassung vermeintlich ›unwichtiger‹ Details ist dabei die Schneide, auf der Naturforscher ihre Untersuchungsgegenstände in ihrer realen Präsenz, aber auch in der eigenen Deutung erläuternd zum Text bildlich zur Diskussion stellen. Der vorliegende Artikel widmet sich auf der Grundlage eines einführenden Vortrages aus naturkundlicher Sicht im Rahmen des interdisziplinären Symposiums »Objektivität und Imagination. Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts« diesem Brennpunkt naturkundlicher Sammlungs- und Illustrationsphänomene mit den Schwerpunkten Zoologie und Paläozoologie sowie etwas weniger der Botanik, aus angewandter Sicht und erster Hand und im Abgleich mit der bildenden Kunst.
1
Vgl. Stückelberger, Alfred: Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik, Mainz 1994, S. 83.
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1. S AMMLUNGEN Die Wurzeln exakter naturkundlicher Darstellungen Dann warhafftig steckt die kunst inn der natur / wer sie herauß kann reyssen der hat sie. ALBRECHT DÜRER
Zu den heutigen umfangreichen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglichen Naturkunde-Sammlungen der Museen sowie der Universitäten war es ein weiter Weg. Das in der Renaissance wiedererweckte Interesse an der Natur war neben dem spezielleren Gebiet der Anatomie des menschlichen Körpers ein starker Antrieb dafür, naturkundliche Objekte aus neuen Blickwinkeln wissenschaftlich zu ergründen. Nördlich der Alpen erweckte vor allem Albrecht Dürer diese in der Antike wurzelnde Befassung mit der Natur zu neuer bildlicher Blüte: Die meisten seiner Naturstudien gelten bis heute als meisterlich, viele wurden zu regelrechten Stilvorbildern, wie das unendlich oft kopierte Nashorn, sein Feldhase oder aber etliche seiner Vögel.2 In der Renaissance gab es jedoch noch keine großen naturkundlichen Sammlungen, sodass jemand wie Dürer bereits in frühen Jahren damit begann, ein überaus nützliches Konvolut von Skizzen und Bildvorlagen anzulegen. Schon mit 30 Jahren verfügte er über eine detail- und umfangreiche Bildersammlung, die weit über die damals üblichen Musterbücher hinausging, die er zudem stetig ergänzte und auf die er ein Leben lang zurückgriff.3 Seine Stiche wiederum wurden für viele nachfolgende Künstler zu wichtigen Vorlagen. Große Sammlungen zum wiederholten Studium bestimmter Naturobjekte existierten noch nicht, ganz zu schweigen von öffentlich zugänglichen, und man war daher im Europa der Renaissance auf die zeichnerischen Dokumente aus Vorlagensammlungen angewiesen. Die Disziplinen ›Wissenschaft‹ und ›Kunst‹ hatten sich noch nicht auseinanderentwickelt, und wie eng sie miteinander verwoben waren, kann man in den folgenden Textpassagen nachvollziehen. Mit dem Aufkommen der europäischen Seefahrt und dem damit verbundenen Handel kam es seit Beginn der Barockzeit zu intensiver Sammeltätigkeit,
2
Vgl. Eisler, Colin: Dürers Arche Noah. Tiere und Fabelwesen im Werk von Albrecht
3
Vgl. ebd., S. 12-13.
Dürer, München 1996, S. 341-348.
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Abb. 1: Willem Kalf, Stillleben, um 1661, Landesmuseum Hannover (Landesgalerie) beflügelt durch den Faktor des Exotischen: Kunst- und Wunderkammern sowie private Spezialsammlungen und Raritäten-Kabinette entstanden. Ein typisches Beispiel für extrem genaue, naturalistische Darstellungen von Pflanzen sind daher per se die niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts. Ein schönes Beispiel hierfür befindet sich im Landesmuseum Hannover, stammt von Willem Kalf (1619-1693; Stillleben, ca. 1661) und zeigt in einer typischen Zusammenstellung von edlen und wertvollen Dingen unter anderem ein verziertes Weinglas und chinesisches Porzellan zusammen mit mediterranen Früchten wie Granatapfel und Zitrone in einem lockeren, aber kunstvollen Arrangement (Abb. 1). Die Fruchtdarstellungen dienten in diesem Typ von Stillleben als Statussymbole für Wohlstand und erfüllten daher keinerlei naturkundlichen Bestimmungszweck, sind aber gleichwohl so genau wiedergegeben, dass sie sich identifizieren lassen. Wer meint, dass nur die anthropogenen Gegenstände auf dem Gemälde mit höchster malerischer Präzision ausgeführt wurden, der irrt: Man vergleiche den das Malerzimmer spiegelnden Glanz auf dem Glasrand mit den einzelnen ›Glanzpünktchen‹ auf dem Fruchtfleisch der zum Teil geschälten Zitrone. Erst Letztere verleihen der Frucht einen so realistischen, ja vermeintlich adstringierend wirkenden Anblick – man glaubt, sie regelrecht aus dem Bild herausnehmen zu können. Diese Form der Trompe-lŒil-Malerei hatte ihre Wurzeln bereits in der Renaissance. In Form von Vanitas-Symbolen wie beispielsweise ›echt‹ wirkenden Fliegen auf Altardarstellungen der späteren Renaissance wurde
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sie eingesetzt und kam in der Barockmalerei besonders bei naturkundlichen Objekten und bei Glasobjekten zum Tragen. Profanisierte, jetztzeitliche Varianten mit Früchten, Vögeln und elysischen Landschaften und Ähnlichem sind in der modernen, dekorativen Illusionsmalerei zu finden.4 Innerhalb der Stillleben stärker der Natur zugewandt und damit den Naturkunde-Sammlungen noch ähnlicher sind reine Blumenstillleben, die um zusätzliche naturkundliche Attribute erweitert wurden. Der jüngst ›wiederentdeckte‹ niederländische Maler Balthasar van der Ast (1593-1657) sei hierfür als ein passendes Beispiel aufgeführt: Er kombiniert nur wenige artificialia mit zahlreichen naturalia (animalia, vegetabilia, mineralia).5 In vielen seiner Gemälde stellt er verschiedenste Blumen – und vor allem die damals rasant beliebter werdenden Tulpen – zusammen mit äußerst wirklichkeitsnah gemalten Schneckengehäusen und Insekten dar. Etwa in seinem Stillleben Blumen in einer Wanli-Vase und Schneckenhäuser aus dem Koningklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis in Den Haag (Inv.-Nr. 1108, um 1632) ist nur noch die chinesische Vase anthropogen, der Rest des Gemäldes umfasst sehr realistische Blumen und unauffällige kleine Insekten, vor allem aber äußerst prägnante und sehr detailreiche Schneckengehäuse. Es handelt sich in diesem Fall durchweg um taxonomisch bestimmbare Gattungen und Arten von Meeresschnecken.6 Selbst in diesem kunsthistorischen Kontext deutet sich schon parallel zu den noch nicht ganz so eindrucksvoll dokumentierenden Naturwissenschaften jener Zeit ein Trend an: Mehrere Insekten, etliche Schnecken, viele Blumen nicht aus jeweils einer Organismengruppe, sondern verschiedene Vertreter eines Grundtyps werden zusammen wiedergegeben. Hier diente die Malerei selbst als naturwissenschaftliche Illustration – sie war im Sinne der artes liberales Bestandteil der Wissenschaft.7 Wie erscheinen die Schneckengehäuse im vorliegenden Gemälde? Sie überdecken einander nicht zu sehr und werfen auch nur geringfügig die Farbmuster verschleiernde Schatten aufeinander. Man kann also einen Gutteil des Gehäuses erkennen und bestimmen.
4
Vgl. Wahl, Christian/Forster, Carlo: Illusionsmalerei. Effektvolle Dekoration für jeden
5
Vgl. Trümper, Timo: Die Stilllebenmalerei Van der Asts. Naturportraits im Span-
Raum, München 1997, S. 32-33. nungsfeld von Wissenschaft und Kunst, in: Ayooghi, Sarvenaz/Böhmer, Sylvia/Trümper, Timo (Hg.): Die Stillleben des Balthasar van der Ast (1593/94-1657), Petersberg 2016, S. 45-67. 6
Vgl. Wallert, Arie: Balthasar van der Ast. Matrialien und Techniken, in: Ayooghi et
7
Vgl. Trümper: Stilllebenmalerei (wie Anm. 5), S. 52.
al.: Die Stillleben des Balthasar van der Ast (wie Anm. 5), S. 81-93.
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Streng wissenschaftlich und damit objektiv ist diese Form der Darstellung dennoch nicht, da der Betrachter mal auf Gehäusespitzen, mal auf Mündungsöffnungen, mal auf Unterseiten blickt. Kurze Zeit nach diesem Darstellungstyp in der bildenden Kunst zweigt sich mit der rein ›naturkundlichen Kunst‹ ein strengerer Bildtypus mit klar definierten Ansichten ab. Bei Balthasar van der Ast kommen die verschiedenen Schneckengehäuse – jene indopazifischen Meeresschnecken ebenso wie karibische Landschnecken oder Muscheln unterschiedlicher Provenienzen – tatsächlich individuell wiedererkennbar auf seinen Gemälden vor. Er verewigte sie also mehrfach. Der Maler hatte nämlich eine Serie einzelner Aquarelle als Vorlage angefertigt, die vermutlich auf Originalen aus der Privatsammlung eines reichen Mäzens basierten, die er für seine Studien anscheinend heranziehen durfte. Individuelle Merkmale einzelner Stücke wie besondere Zeichnungsmuster oder kleine Bruchstellen wurden von ihm abgebildet und später immer wieder übernommen.8 Seine Musterbücher für Motive, die er auch für Blumenarten erschuf – vor allem für solche, die zu völlig unterschiedlichen Zeiten blühen – stellen also in der Nachfolge der Renaissance-Musterbücher einen bereits spezialisierten Proto-Katalog noch heterogener Sammlungsbestände dar. Schneckengehäuse sind ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeiten von naturkundlichen Sammlungen. Die eingangs gewählte Formulierung, dass selbige die Vielfalt des Lebens einfangen sollen, bezieht sich unter anderem auf das Problem der Sammelbarkeit von vollständigen Organismen. Das Schneckengehäuse stellt schließlich nur den mineralisierten Panzer des eigentlichen Tieres dar, das als Mitglied der Großgruppe der ›Weichtiere‹ (Mollusca) selbstverständlich noch über den Weichkörper sensu stricto verfügt. Dieser besteht wie bei vielen höheren Tieren aus den Sinnes- und Verdauungs- sowie den Fortpflanzungsorganen und ist damit der organische Kern – nicht hingegen das Gehäuse als reines Biomineralisat. Der Schnecken-Weichkörper lässt sich jedoch nicht gut trocknen oder anderweitig erhalten, sondern muss in speziellen naturkundlichen Feuchtpräparate-Sammlungen aufbewahrt werden. Hierfür sind spezialisierte Alkoholsammlungen vorzuhalten, wenn derartiges organisches Material gesammelt und erforscht werden soll – im Idealfall gemeinsam mit dem Gehäuse. Es bedarf also besonderer Maßnahmen, um Entitäten von Lebewesen zu sammeln und zu konservieren, weswegen viele Sammlungen allein aus diesem Grunde heraus unvollständig sind.
8
Vgl. Lokin, Daniëlle: Schöner als die Wirklichkeit. Der Maler und Inventor Balthasar van der Ast, in: Ayooghi/Böhmer/Trümper: Die Stilleben des Balthasar van der Ast (wie Anm. 5), S. 55-67.
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Ein weiteres Problem der naturkundlichen Sammlungen stellen Organismen dar, die nicht von Anfang an so aussehen wie die Adulti, also erwachsene Vertreter der jeweiligen Art. Dies gilt auch für die eben besprochenen Schnecken, deren transparente Larven im freien Wasser schwebende, von zarten Fortsätzen umkränzte, noch schalenlose Mitglieder des Planktons darstellen. In ungleich stärkerem Maße gilt dies für Insekten: Viele stammesgeschichtlich weit entwickelte Insekten durchlaufen eine ausgeprägte und vollkommen die Gestalt wandelnde Metamorphose. Sammelt man das letzte und meist auch größte Stadium, so erhält man den Adultus (Imago) – aber nicht die Stadien auf dem Wege dorthin. Hinzu kommt, dass sich oft auch die Ernährungsweise ändert – Larven mit einer bestimmten Kiefermorphologie fressen naturgemäß andere Nahrung als Imagines mit einer vollkommen anderen. Die Naturforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian (1647-1717) hat diese Problematik in ihren meisterlichen Darstellungen zu einem großen Teil gelöst, wofür ein besonders schönes und gut bekanntes Blatt ihrer Abhandlung über Schmetterlinge als Beispiel dienen möge: Auf dem Aquarell Maniok, Jastropha-Edelfalter, Jacruarú (unter anderem im Archiv der Wissenschaften in St. Petersburg hinterlegt; zwischen 1700 und 1702 entstanden) kombiniert sie beispielsweise für den wissenschaftlichen Betrachter sowohl die Raupe als auch die Puppe mit dem ausgewachsenen Edelfalter (Anartia jatrophae) und lässt dieses Szenario auf der Futterpflanze der Raupe stattfinden. Streng genommen fehlt nur noch die Blütenpflanze, auf der der erwachsene Falter sich zu seiner eigenen Ernährung niederlässt. Da die Lebensdauer der adulten Schmetterlinge meist wesentlich kürzer ist als die der langlebigen und futterbedürftigen Raupen, legt Merian den Schwerpunkt in der Regel auf die Futterpflanze. Das Arrangement dieses Aquarells und das der meisten anderen von ihrer Hand beugt sich also bereits dem Diktat eines streng naturkundlichen Zwecks, nämlich der Dokumentation einer einzigen Schmetterlingsart in ihren drei morphologischen Erscheinungsformen auf einer logisch dazu passenden Futterpflanze, dem Maniok. Lediglich das gefällige räumliche Arrangement und das hinzugefügte Reptil sind gleichsam Dekoration, fast noch im Sinne eines Stilllebens.9 Es handelt sich bei Letzterem um einen im Titel Jacruarú genannten Vertreter der Schienenechsen (Teiidae), Gattung Tupinambis, auf dessen genauere Erklärung Merian in einem späteren Werk verweist, welche jedoch nie erschien. Das beschriebene Schmetterlingsaquarell selbst ist bekanntermaßen Teil eines größeren Ganzen, also einer
9
Vgl. Wettengl, Kurt: Katalogteil 4. Surinam, Amsterdam, in: ders.: Maria Sibylla Merian 1647–1717. Künstlerin und Naturforscherin, Ostfildern-Ruit 1997, S. 221-253.
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Serie zahlreicher, sehr genau abgebildeter Schmetterlingsarten Surinams und damit die konsequente Fortsetzung der zunehmenden Spezialisierungen. Ebenso wie Maria Sibylla Merian die Abfolge der Schmetterlingsentwicklung dokumentierte, müssen naturkundliche Sammlungen strukturiert sein: Puristisch betrachtet sollten die ›Vorgänger-Morphologien‹ des Adultus ebenfalls Eingang in die Sammlungen finden, vor allem unter einem ganzheitlichen Blickwinkel auf ›Natur‹. Realiter zeigt sich jedoch in vielen zoologischen Disziplinen mit ähnlich gelagerter Problematik, dass der Sammlungsschwerpunkt schlussendlich doch auf den Adultus gelegt wird, da er am größten ist und das Endstadium darstellt, seine Bestimmung am einfachsten ausfällt und zudem die praktische Arbeit vorwiegend mit diesem erfolgt. Darum finden sich in riesigen Insektensammlungen einzelne Gattungen mit ihren Artengruppen ausschließlich als Imagos und nur im deutlich selteneren Falle auch Larven- und Puppenstadien. Noch stärker zugespitzt erscheint dieses Phänomen in der Paläontologie: Im Falle von Fossilien liegen ohnehin nur die versteinerungsfähigen Reste ehemaliger Organismen vor, hier ist die Unvollständigkeit sozusagen Programm. Umso wichtiger ist aber die Vergleichbarkeit sehr ähnlich bis fast gleich aussehender Objekte jeweils eines Typs, was auch für die anderen naturkundlichen Disziplinen gilt. Diese Darstellungsform – ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis heute vor allem in der Bestimmungsliteratur maßgeblich – verströmt natürlich nicht mehr die Faszination einzeln gemalter, farbiger Früchte oder kunstvoll gruppierter, verschiedenartiger und bunter Meeresschnecken. Die in der Fachliteratur abgebildeten Fossilien werden alle in derselben beziehungsweise denselben Ansicht/en gezeigt: Es handelt sich um die der Bestimmung förderlichsten Seiten des Fossils mit wiedererkennbaren Merkmalen, und die Sicht darauf ist stets eine rein orthogonale, niemals eine perspektivisch verzerrte. Die wissenschaftliche Nüchternheit hat im Arrangement, der gewählten Ansicht und der Darstellungsform gesiegt. Die Darstellungsgenauigkeit, nachgerade eine Detailverliebtheit der bildenden Kunst, bleibt jedoch auch in dieser zunehmend gebrauchsorientierten Form der grafischen Darstellung erhalten, wie man am Beispiel einer lithografischen Druckplatte für vier Bildtafeln eines paläontologischen Buchklassikers zur Bestimmung von deutschen Fossilien erkennen kann (Der Petrefaktensammler von Eberhard Fraas, 1910; Abb. 2 a). Dicht an dicht drängen sich die für den Laien sehr ähnlich aussehenden und kaum kommentierten Fossilien, zum Beispiel die verschiedenen Ammoniten und die als ›Donnerkeile‹ bekannten Belemniten, Innenskelette ausgestorbener Tintenfische aus dem
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Abb. 2: a) Lithografie-Stein mit den Tafeln 53 bis 56 zu Eberhard Fraas: Der Petrefaktensammler, 1910. b) Original-Druck der Tafel 56 in der Erstauflage des Werks Erdmittelalter).10 Ihre schiere Menge führt zu gedrängter Darstellung auf engstem Raum, farbige, flächig großzügige Zeichnungen wären nicht mehr möglich. Farbige Ausgestaltung ist allerdings bei den monochromen Fossilien im Regelfall ohnehin nicht notwendig beziehungsweise sinnvoll; nur selten ist eine partielle, delikate Farberhaltung nachweisbar, die grundsätzlich zurückhaltend visualisiert werden muss. Auf der Suche nach kostengünstigen Publikations- und somit Drucktechniken wurden im Laufe der Jahrhunderte Methoden wie der lithografische Druck herangezogen. Im fertigen, spiegelverkehrten Druck (Abb. 2 b) der oben beschriebenen Fossiltafeln offenbart sich die Meisterschaft des Tuschezeichners, der die wissenschaftlichen Vorlagen übertragen hat – im Falle der Fraas-Tafeln offensichtlich ein Könner, der den Abbildungen neben kleinsten Details auch räumliche Tiefe einzuhauchen vermochte (er signierte mit »I. Braun« am Bildrand des Kalksteins; Abb. 2 a).
10 Vgl. Fraas, Eberhard: Der Petrefaktensammler. Ein Leitfaden zum Sammeln und Bestimmen der Versteinerungen Deutschlands, Stuttgart 1910, Tafel 53-56; hier S. 56.
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Warum die reine Präsenz von Sammlungsobjekten und deren bildliche Dokumentation über Jahrhunderte Hand in Hand gehen mussten und sich dies bis heute so verhält, ist auf zahlreiche weitere Probleme zurückzuführen. Hier können beispielsweise aufgezählt werden: das Verwelken von Pflanzen, das Ausbleichen farbiger Arthropoden-Panzer, das Zerfallen von nicht skelettgestützten Organismen; bei vielen Tieren kommt zudem noch der Komplex des ›Verhaltens‹ hinzu, also Bewegungen und/oder Lautäußerungen, die ebenfalls artspezifisch sein können und nur mit Hilfe anderer Medien überhaupt dokumentierbar, jedoch nicht als ›Ding‹ selbst und als klassisch schwarz-weiße oder farbige Abbildung festzuhalten sind.
2. I LLUSTRATIONEN Die illusionistischen Grundlagen exakter naturkundlicher Darstellungen Item dw solt wissen, je genewer man der natur und dem lewen mit abmachen nach kumt, je pesser vnd künstlicher dein werck würt. ALBRECHT DÜRER
Die naturkundliche Illustration soll exakt sein, so genau wie möglich. Wenn nicht primär die moderne Fotografie dafür bemüht wird, was in vielen Wissenschaftszweigen Usus und tatsächlich der objektivste Weg ist, so soll die manuell zu erstellende, zeichnerische Illustration mit dem Blick aufs Objekt und nicht aus dem Gedächtnis heraus entstehen. Letzteres führt zu unerwünschten Ungenauigkeiten. Der kontinuierliche Blick aufs originale Objekt hat den Zweck, zur Objektivität des illustrativen Ergebnisses zu führen. Aber was bedeutet das in praxi? In der deutschen Paläontologie, in der das ›Zeichnen nach der Natur‹ bis heute auch in der Grundausbildung noch eine gewisse Rolle spielt (zur Diskussion des Grundes hierfür siehe den unten folgenden Epilog), galt für Berufsanfänger von jeher der ideelle Grundsatz: Zeichne so genau, dass derjenige, der Deine Zeichnung sieht, dazu in die Lage versetzt wird, auf dieser Basis eine dreidimensionale Version des Objektes nachzubilden (in diesem Gedankenexperiment natürlich unabhängig von der Skalierung). Für die textliche Beschreibung können ähnlich hohe Maßstäbe gelten. Diese Qualität zu erreichen ist jedoch schwer.
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Drei große Probleme beherrschen das Feld der gezeichneten naturkundlichwissenschaftlichen Illustration, und nur große Meister (in der Kunst) oder begnadete Wissenschaftler beziehungsweise Wissenschaftsillustratoren vermögen alle drei zu lösen. Dies sind zum einen die Künstlichkeit der ›Linie‹ und alles, was mit ihr zusammenhängt, zum anderen die meist notwendige Vereinfachung, die die Gefahr des graduellen Übergangs zum Schema darstellt und die ihrerseits meist eng mit der Linien-Problematik verknüpft ist, sowie die auf der zweidimensionalen Ebene schlicht unmögliche, ›authentisch‹-dreidimensionale Darstellung von räumlichen Objekten. 2.1 Die Linie Das erstgenannte Problem ist das in naturkundlichen Kreisen am wenigsten als solches erkannte: Die Linie einer Zeichnung ist eine künstliche Struktur, die vom Menschen definiert und als »Begrenzung eines Körpers« darstellerisch genutzt wird. Sie gehört zu der Hierarchie »Punkt – Linie – Fläche« sowie zu dem »Körper, der sich in diese Oberfläche kleidet« sensu Leonardo da Vinci (selbst Paul Klees Kunstauffassung basierte noch auf diesen fundamentalen Grunderkenntnissen).11 Ein Schneckengehäuse, das man abzeichnet, wird tatsächlich von keiner Linie umgrenzt und müsste schließlich, wenn dem so wäre, eine Hundert- bis Tausendschaft von verschiedenen denkbaren Linien in den verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln des Betrachters aufweisen. Der Moment, in dem eine Linie festgelegt und beibehalten wird, stellt gleichermaßen die erste Abweichung von der Exaktheit dar, da die Linie notgedrungen überbetont wird und damit, ähnlich wie die auf Autokarten dargestellten Straßensignaturen, überdimensioniert erscheint. Sie kann dem Umriss eines naturkundlichen Objekts eine übergroße und verfremdende Bedeutung verleihen, was die angestrebte Objektivität deutlich mindert. Hier gilt der Liebermann’sche Ansatz: Zeichnen heißt Weglassen.12 Im Regelfall tun weniger und vor allem dünnere Linien dem Realismus einer naturkundlichen Studienzeichnung sehr gut. Linien fast gänzlich zu vermeiden, gelingt nur in der Malerei mit Farbflächen, die aneinandergrenzen. Bei der Vielzahl der notwendigen Abbildungen, zum Beispiel der oben genannten Fossilien, ist dies jedoch bereits ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr das Mittel der Wahl für die große Zahl der notwendigen Publikationen mit ihrer ebenso umfangreichen Menge an Tafeln, die zudem einen erheblichen Kostenfaktor darstellten.
11 Vgl. ebd., S. 204. 12 Vgl. ebd., S. 212.
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2.2 Das Schema Das zweite große Problem ist die mit dem Einsatz von Linien verbundene Schemahaftigkeit. Klare Linien für die Umrisse und weitere Linien zur Erläuterung der Texturen oder Untereinheiten eines Organismus ergeben leicht den in der Kunst vielmals gewünschten, verfremdenden, eben künstlerischen Effekt, der aber in der naturkundlichen Darstellung gerade nicht gewollt ist. Die Reduktion auf wenige Linien lässt ein übergroßes Maß an Simplifikation zu. Dies kann durchaus notwendig sein, wenn etwa ein naturkundliches Prinzip erläutert werden soll, wie der grundsätzliche Bauplan einer Organismengruppe, zum Beispiel auf Gattungs- oder Familienniveau (Abb. 3). Die Reduktion auf das Grundsätzliche – taxonomisch meist deutlich oberhalb der Art – stellt sich naturgemäß am besten über ein solches vereinfachtes Linienkonstrukt dar. Für die exakte, naturgetreue naturkundliche Darstellung jedoch muss die Schematisierung nachgerade vermieden beziehungsweise herausgefiltert und unterdrückt werden, von erwünschten Ausnahmen abgesehen. In der Paläontologie mit ihren häufig unvollständigen Fossilien werden jedoch Fehlstellen am Objekt, also abgebrochene Areale, mit konventionellen und stets schattenlosen Schemata wie zum Beispiel Schraffurflächen gefüllt, um eine Verwechslung mit den aussagekräftigen Partien des Objekts zu verhindern. Ein Schema ist ansonsten aber immer bereits eine Deutung des Forschungsobjektes, eine Hervorhebung bestimmter Strukturen, einhergehend mit einer oft unzulässigen Gewichtung gegenüber anderen, vernachlässigten Strukturen. Die-
Abb. 3: Schematisierte Darstellung eines Vertreters der Cycadatae: Cycas sp., 2014
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se Interpretation kann hingegen auch in einer zusätzlichen, begleitenden Zeichnung bildlich wiedergegeben werden. Die Primärdokumentation des naturkundlichen Objektes sollte weitestgehend frei davon sein. Nur sie ist zeitlos und kann jederzeit aufs Neue erforscht und interpretiert werden. Schemata können bei der Anlage einer Zeichnung helfen, wenn sie BauplanStereotypen darstellen, wie beispielsweise bei bestimmten Schnecken- und Ammoniten-Spiraltypen. Diese lassen sich als schematische Hilfs-Vorzeichnungen anlegen, und die Darstellung des tatsächlichen Fossils beziehungsweise dessen, was vom Gehäuse de facto auf uns gekommen ist, kann entsprechend eingepasst werden, da es ohnehin zwingend dem Bauplanmuster folgt.13 2.3 Die Räumlichkeit Das dritte Problem der naturkundlichen Illustration ist die fehlende Räumlichkeit auf dem flachen Medium des Papiers. Dieses Problem teilt sie zu hundert Prozent mit der bildenden Kunst, weswegen insbesondere hierbei von beiden Disziplinen fast identische Herangehensweisen praktiziert werden. Im europäischen Abendland überwiegt – wohl aufgrund der vorherrschenden Rechtshändigkeit – eindeutig eine klar definierte ›Beleuchtung von links beziehungsweise links oben‹. Teilt man jede Zeichnung in vier Quadranten, so ergibt dies bei konvexen Objekten einen kräftigen Schatten im unteren rechten Quadranten (Abb. 4 a). Dieser täuscht durch die Seherfahrung ›Räumliches wirft Schatten‹ auch auf der Zeichnung ein gewisses Maß an Dreidimensionalität vor. Dieser Schatten, meist Objektschatten genannt,14 modelliert darüber hinaus ein Stück weit die reale Morphologie des Objektes heraus. Während der Renaissance und des Barocks wurde er häufig mit dem Schatten kombiniert, den das Objekt seinerseits auf seinen Hinter- oder Untergrund wirft – dem Schlagschatten. Auf diesen naturkundlich unnötigen Schattenbereich der Zeichnung wird ab der aufkommenden Aufklärung und der Herausbildung der exakt beschreibenden, naturkundlichen Wissenschaften verzichtet. Da ein Objektschatten jedoch auf dem oberen, linken Quadranten nicht gesetzt werden darf, wenn man puristisch der Lichtquellentheorie folgt, die diesen Bereich naturgemäß hell ausleuchtet, muss eine zweite Schattengabe durchge-
13 Vgl. Nield, Edward W.: Drawing and Understanding Fossils. A Theoretical and Practical Guide for Beginners, with Self-Assessment, Oxford 1987, S. 59 u. 68. 14 Vgl. Fischer, Hans Wilhelm: Naturwissenschaftliches Zeichnen und Illustrieren, Würzburg 1999, S. 59-61.
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Abb 4: Annette Richter, Schattengabe und Materialität, 2000/2001 a) Der von der Hauptlichtquelle erzeugte Objektschatten im rechten unteren Quadranten des Objekts. b) Der auf der Morphologie basierende Tiefenschatten c) Kombination aus Objekt- und Tiefenschatten, rechts mit verdünnter Umrisslinie. d) Kombination aus Objekt- und Tiefenschatten, verbunden mit den Glanzstreifen für den Materialitäts-Code ›reflektierend‹ führt werden. Diese wird in den naturkundlichen Kreisen gern als Tiefenschatten bezeichnet.15 Die beste Metapher zur Erklärung des Tiefenschattens ist, sich das zu zeichnende Objekt gleichsam als eine Landschaft vorzustellen, die man durch topografische Linien gleicher Höhe – Isophypsen – darstellt. Die tiefer gelegenen Bereiche werden entlang dieser gedachten Linien dunkler ausgeführt als die höheren Bereiche, da auch hier eine Seherfahrung vorliegt, nämlich die des Prinzips ›Weiter weg Liegendes ist dunkler, Näheres heller‹16 Dieser rundum verlaufende, wertgleiche Schatten (Abb. 4 b) ergänzt den Objektschatten optimal, wenn beide umsichtig genug miteinander kombiniert werden, sodass sowohl die räumliche Modellierung des gesamten Objekts als auch die Erkennbarkeit von Details (kleine Riefen, Grate, Foramina etc.) innerhalb des Schattenbereichs erhalten
15 Vgl. ebd., S. 61-62. 16 Vgl. Jessup, Marsha E./Mascaro, David: Light on Form, in: Hodges, Elaine (Hg.): The Guild Handbook of Scientific Illustration, New Jersey 2003, S. 89-110.
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bleiben (Abb. 4 c). Diese beiden Prinzipien gegeneinander abzuwägen und ausbalanciert einzusetzen, erfordert eine Könnerschaft und Routine gleichermaßen und führt hie und da auch in der Wissenschaft zu einem überbetonten Objektschatten oder viel zu dunklem Tiefenschatten, der verfälschte Graustufenwerte des Objekts vortäuscht. Hinzu kommt, dass – ähnlich wie in der Fotografie – zusätzlich eingesetzte Reflexionen durch rechts positionierte Lichtquellen im Objektschattenbereich dort zu entsprechenden Aufhellungen führen, und dass zudem fast immer die zentrale Hauptlichtquelle auch im Vordergrund auf das Objekt strahlt, nie ausschließlich von der linken Seite.17 Die Tatsache, dass vor allem der erstgenannte Schattentypus sehr stark von Sehkonventionen abhängt und damit auf wahrnehmungspsychologischen Faktoren basiert, führt zu optischen Täuschungen: Wenn die Anlage ›Schatten rechts unten‹ mit ›konvex‹ kodiert ist, so steht fast selbstverständlich ›Schatten links oben‹ gleichbedeutend für ›konkav‹, wie an einer realen Lichteinfallsituation gut nachzuvollziehen ist (Abb. 5 a).18 Damit geht einher, dass konvex gezeichnete Kreise konkav wirken, wenn man sie um 180 Grad dreht (Abb. 5 b) – eine der bekanntesten optischen Täuschungen.19 Schließlich muss in der zeichnerischen Darstellung noch die Materialität bedacht werden: Bei Schädelresten fossiler Wirbeltiere beispielsweise ist es unerlässlich, bereits innerhalb der visuellen Grunddokumentation ›Knochen‹ klar von ›Zahnschmelz‹ unterscheidbar zu machen – ersterer ist matt, letzterer glänzend beziehungsweise Licht reflektierend. Dies führt genau wie in der bildenden Kunst zum Einsetzen von Lichtglanzpunkten und -streifen, die jedoch weit häufiger als in der Kunst eben nicht real existierenden Punkten bei einem bestimmten Beleuchtungswinkel folgen, sondern ›einen der Morphologie des Objektes folgenden Streifen‹ darstellen. Die Abbildung Nr. 4 d dokumentiert dies: In der bildenden Kunst hätte die dargestellte, hoch-reflektive Kugel vermutlich einen effektvollen Glanzpunkt links oben gehabt, der im Idealfall sogar wiederum reale Situationen der Raumumgebung widerspiegelt (wie im Fall des oben behandelten niederländischen Stilllebens). Ausgerechnet im naturkundlichen Fall besonders ›exakter‹ Dokumentation jedoch wird diese Form präziser Malerei im Regelfall nicht angewendet, sondern ein definiertes Areal freigelassen, das die Reflexion des Lichtes entlang einer nicht-realen Zone im eigentlichen Schattenbereich vortäuscht.
17 Vgl. ebd., S. 89. 18 Vgl. ebd., S. 93. 19 Vgl. ebd., S. 95.
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Abb. 5: a) Definition von konkav und konvex über richtungsdefinierte Licht- und Schattengabe. b) Optische Täuschung: Die Drehung konkav angelegter Zeichnungen um 180 Grad ergibt einen konvexen Eindruck Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ›exakte‹ naturkundliche Illustrationen schon per se auf der Grundlage unnatürlicher Strukturgaben und Überhöhungen (Linien), interpretativer Teil-Schematisierungen, optischer Täuschungen (Räumlichkeitsproblem) und nicht-realer Materialitätscodierungen fußen. Jedweder Objektivität läuft dies eigentlich zuwider. Als Metapher für das neurobiologische Funktionieren derartiger Illustrationen, die dennoch stets als ›sehr exakt‹ wahrgenommen werden, lässt sich jedoch die digitale Welt erklärend bemühen: Letztlich stellt das Zeichnen nichts anderes als einen Datenkomprimierungsprozess dar, eine Art Zipping. Ist diese zeichnerische Komprimierung gelungen, so vermag der Betrachter die erblickten Codierungen in seinem Großhirn wieder zu dekomprimieren und kann damit, bildlich gesprochen, das Originalobjekt wieder zu einer Raumwirkung ›entfalten‹. Denn: »Sehen ist nicht einfach die Diagnose dessen, was da ist«20. Dies gilt sowohl für das Original als auch für dessen Illustration.
20 Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 14.
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3. V ERÖFFENTLICHUNG Die Umsetzung der naturkundlichen Illustration in eine druckreife Vorlage – Tradition, Diskussion und Status Quo Ähnlich wie in der bildenden Kunst werden die hochwertigsten SchwarzweißIllustrationen naturkundlicher Objekte seit jeher in Halbtontechniken erstellt.21 Der klassische Grafitstift (Bleistift) bietet sich vor allem durch seine perfekten Gradierungsmöglichkeiten für jedes Stadium der Zeichnung von der Grobskizzierung über die Festlegung bis hin zur finalen Ausführung mit Schattengabe an. Von sehr dunkel beziehungsweise schwarz bis hell lassen sich bei letzterem Arbeitsschritt unendlich viele Nuancen der Objekt- und der Tiefenschatten setzen. Dies ermöglicht eine besonders detailreiche und – was die vorgetäuschte räumliche Tiefe durch Schattengabe angeht – auch verstärkt dreidimensional wirkende Darstellung. Mit dem Aufkommen der Lithografie im 19. Jahrhundert ließ sich eine ähnlich graustufenreiche Darstellungs- und Druckmethode anwenden. Für die meisten anderen Druckverfahren jedoch bis hin zum heutigen Offset-Druck gilt: Befördert wird kostengünstiges Drucken durch aufgerasterte Zeichnungen. Bei Radierungen hatte sich dieser Effekt gleichsam von selbst ergeben und zum höchst kunstvollen Einsatz von gut gravierbaren Schraffurtechniken geführt. Diese wurden später in Tusche lediglich zeichnerisch nachgeahmt. Heute stellt die Schraffur nur eine von mehreren in der schwarz-weißen Naturwissenschaftszeichnung üblichen Techniken zur Herstellung einer druckreifen Illustration dar. Sie konkurriert mit dem Aufrastern durch Pünkteln von Hand oder dem Zeichnen mittels Fettstiften auf texturiertem Papier, dessen vorgegebenes Relief dann als ›gepünktelte‹ Rasterung erscheint. In allen drei Ansätzen führt kein Weg um die alles vereinende, umkleidende (s. o.) Begrenzungslinie des Objektes, die mittels opaker Tusche gesetzt wird. Am Beispiel einer etwa drei Zentimeter großen, homogen eierschalfarbenen, rezenten Krebsschere wird die Herangehensweise von der Skizze bis zu den drei unterschiedlichen, aber gleichermaßen druckreifen Endzeichnungen nachfolgend erläutert und deren ›Exaktheit‹ abgeglichen.
21 Vgl. Jastrzebski, Zbigniew T.: Scientific Illustration. A Guide for the Beginning Artist, New Jersey 1985, S. 41-43.
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Seltener verwendete Techniken wie Airbrush – für große Flächen mit hervorragenden Übergängen –22 oder die Grafitstaub-Technik – nur mit aufwendiger Fixierung machbar – werden hier nicht im Detail behandelt, obwohl gerade letztere bei der Darstellung dunkler und glänzender Chitinpanzer von Gliedertieren exzellente Ergebnisse zeigt.23 Vorzeichnung: Skizze und Halbtonzeichnung (Abb. 6 a u. 6 b) Im Idealfall nähern sich Naturwissenschaftsillustratoren oder Naturwissenschaftler dem zu zeichnenden Naturobjekt durch einen Proportionsentwurf an. Dieser Schritt entfällt heutzutage meist, da eine schnell zu fertigende Digitalfotografie mit den absoluten Proportionen der gewünschten Ansicht unterlegt werden kann. Nach der endgültigen Festlegung des Umrisses und aller markanter Strukturen, die eine eigenständige Liniengabe erfordern (Kämme, Rillen, ausgeprägte Protuberanzen etc.), erfolgt die Schattengabe, im Regelfall durch weiche Grafitstifte. Bei sauber ausgeführter Gradierung der dunklen zu den helleren Schattenwerten kann hierbei eine sehr hochwertige Halbtonzeichnung entstehen. Zeichnung: Tuschepünktchen und Tuschelinien auf verschiedenen Papiersorten (Abb. 6 c) Im Falle einer langsamen Annäherung an das zu zeichnende Objekt und dessen Entwicklung aus der Halbton-Vorzeichnung heraus empfiehlt sich die Benutzung von Transparentpapier, das auf die Vorzeichnung gelegt werden kann. Zeichenkarton kann jedoch ebenso gut verwendet werden. Die Umrisslinie (sowie gegebenenfalls weitere strukturgebende Linien, s. o.) wird danach mit opaker Tusche gesetzt. Hier können sowohl die klassische Feder als auch technische Tuschefüller sowie die heute modernen Tusche-Einwegstifte mit definierten Linienstärken zum Einsatz kommen. Dann werden zunächst der bereits in der Vorzeichnung definierte RechtsUnten-Schatten (Objektschatten), danach der Tiefenschatten durch Gruppen einzelner Tuschepünktchen gesetzt. In der puristischen Zeichenmethode berühren sich die Pünktchen nicht, verlieren dadurch jedoch an Raumwirkung. In der angewandten Praxis sollten sich die Pünktchen durchaus berühren – in den dunkle-
22 Vgl. Ito, Joel/Sadler, Lewis: Airbrush, in: Hodges: The Guild Handbook (wie Anm. 16), S. 189-197. 23 Vgl. Froeschner, Elsie Herbold/Druckenbrod, L. Michael: Carbon Dust, in: Hodges: The Guild Handbook (wie Anm. 16), S. 151-160.
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ren Schattenbereichen sogar mehrfach. Diese kontrastreiche Darstellungsform wurde für die vorliegende Abbildung gewählt. Im fertigen Endprodukt liegen die Pünktchenwolken exakt im zuvor via Halbton definierten Schattenbereich.
Abb 6: Annette Richter, Scheren-Element einer Krabbe (Crustacea), kalzifiziertes Chitin, ca. 5 cm, Skizze und Vorzeichnung sowie drei darauf basierende, druckreife Umsetzungen, 2000. a) Proportionsannäherung und Entwicklung der Skizze. b) Anlage der Vorzeichnung mit Grafit/Halbton. c) Anlage einer gepünktelten Tuschezeichnung auf Transparentpapier. d) Anlage einer Kombinationszeichnung aus Tuschelinien mit Fettstift-schattierungen auf Runzelkornpapier. e) Anlage einer Tuschezeichnung auf der Basis einer konzentrischen Schraffur Zeichnung: Fettstift-›Pünktchen‹ mit Tuschelinien auf Texturpapier (Abb. 6 d) Das meist ›Runzelkornpapier‹ (coquille board) genannte, unter anderem auch im Bilddruck eingesetzte Spezialpapier für diese Methode ist beidseitig texturiert und weist zwar kein Pünktchen-, aber eine Art ›Körnelungs- oder Würmchenmuster‹ auf. Zeichnet man mit fetthaltigen, schwarzen Stiften eine Schattenfläche mit ebenmäßigem Auftrag, so ergibt sich eine durch das Papier vorgegebene
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Körnelung beziehungsweise Rasterung dieses Areals.24 Auch hier muss die Basiszeichnung wegen des Kontrasts und der Raumwirkung schlussendlich mit Tuschelinien kombiniert werden. Der Schattenbereich kann jedoch von erfahrenen Zeichnern mit Fettstiften ähnlich zügig wie mit einem Bleistift ausgeführt werden. Diese Zeichentechnik wird gerade aufgrund ihrer schnellen Ausführbarkeit von nordamerikanischen Paläontologen präferiert, vor allem für atlantenhafte, sehr umfängliche Darstellungen ganzer Fossil-Serien. Zeichnung: Schraffur durch Tuschelinien auf verschiedenen Papiersorten (Abb. 6 e) Ebenso wie die Tuschepünktchen lässt sich die Schraffurtechnik gleichermaßen auf Transparentpapier wie auch auf Zeichenkarton anwenden. Beim direkten Auflegen auf eine Vorzeichnung ist wiederum Ersteres geeigneter. Ähnlich wie in der bildenden Kunst stehen grundsätzlich mehrere Schraffurtypen zur Verfügung; bei naturkundlichen Objekten überwiegt jedoch ganz eindeutig der Einsatz der konzentrischen Schraffur, die hier wieder am Beispiel der Krebsschere vorgestellt wird. Dies hängt ursächlich mit den vielfach irregulär-rundlichen Formen zusammen. Die Radialschraffur eignet sich viel eher für Kanten und Grate. Neben den auch bei beiden vorhergehenden Methoden eingesetzten, klaren Umrisslinien kommen hier im definierten Schattenbereich parallel zueinander gesetzte Schraffurlinien zum Einsatz. In ihrem räumlichen Verlauf können sie teilweise den oben erwähnten, gedachten Isophypsen aus dem kartografischen Ansatz gleichgesetzt werden. Vergleich der aufgezeigten wissenschaftlichen Zeichentechniken Schon beim nur oberflächlichen Vergleich fällt die Reihung der Zeichenansätze auf: Die Halbtonzeichnung wirkt am natürlichsten, darauf folgt die Tuschepünktelzeichnung. Mit deutlichem Abstand folgen die Fettstift- und die Schraffurzeichnung. Die Problematik fällt sofort ins Auge: Die Raumwirkung durch Schattengabe ist tatsächlich beim Grafit am gelungensten. Die Übergänge sind kaum merklich, selbst kleinste Vertiefungen können subtil angedeutet werden. Beim Tuschepünkteln hingegen geht mit der Aufrasterung auch die illusionisti-
24 Vgl. Honomichl, Klaus/Risler, Helmut/Rupprecht, Rainer: Wissenschaftliches Zeichnen in der Biologie und verwandten Disziplinen, Stuttgart 1982, S. 23.
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sche Wirkung der Graustufen teilweise verloren; sie kann aber noch ›imitiert‹ werden. Sehr sauber gezeichnete, winzige Pünktchen vermögen auch schwache morphologische Details einzufangen, jedoch nicht so gut wie bei der Halbtonnutzung. Je kleiner die Pünktchen sind, desto halbtonnäher wirkt allerdings der Schatten – bei proportional entsprechend größer angelegten Zeichnungen wird der Halbtoneffekt also immer deutlicher. Da dies durch die schiere Menge kleiner, sehr sauber zu zeichnender Pünktchen extrem arbeits- und damit zeitaufwendig ist, bleibt es im Regelfall bei gewissen Maximalgrößen der Zeichnungsanlage, da in der Naturkunde oft viele verschiedene Ansichten in derselben Dokumentationstechnik darzustellen sind. Die wesentlich schneller ausführbare Fettstift-Technik ahmt ihrerseits die Tuschepünkteltechnik nach, vermag dies aber nur mit weiteren qualitativen Abstrichen: Die Textur des Papiers kann bei klein angelegten Zeichnungen aufgrund ihrer Grobkörnigkeit allzu leicht mit morphologischen Merkmalen des gezeichneten Objekts verwechselt werden, beispielsweise mit kleinen Grübchen und unregelmäßigen, gewundenen Vertiefungen, wie sie gerade an Krebspanzern durchaus vorkommen können. Besonders die Intensitätsunterschiede zwischen opaker, tief schwarzer (kontrastreicher) Tuschelinie und dem Anthrazit des Fettstifts (kontrastärmer) führen zu weniger Naturalismus und einer stärkeren Schemahaftigkeit. Diese kann manuell wiederum durch zusätzliche Tuschepünktchen abgemildert werden. Letztlich ist die beste denkbare Fettstiftzeichnung auf Runzelkornpapier diejenige, welche mit Tuschepünktchen kombiniert wird. Am Ende der Bewertungsskala rangiert die schnell zu zeichnende Schraffur. Im vorliegenden Beispiel ist dies an den wenigen gesetzten Linien erkennbar – ihrer nur sechs im Objektschattenbereich rechts unten. Schraffurzeichnungen ähneln jedoch einem Schema oder auch einem künstlerischen Ansatz und kommen damit der Imagination zu nahe. Eine gelungene, naturkundliche Schraffurzeichnung muß daher sehr groß angelegt werden, damit die Schraffurlinien weder wie objektbedingte Morphologie, noch wie ›Minimal-Schatten‹ wirken. Am besten verdeutlicht sich die Problematik anhand der Längsriefungen von Krokodilzähnen – wenn das Auge des Betrachters nicht zwischen den Wertigkeiten ›Schatten‹ und ›Morphologie‹ unterscheiden kann, hat die Zeichnung ihr Ziel verfehlt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass in der jüngeren Vergangenheit (im 20. Jahrhundert) für eine Vielzahl anatomischer Atlanten, also Druckwerke mit einer großen Anzahl von Einzeldarstellungen, verstärkt die Schraffur zum Einsatz kam. Professionelle Institutszeichner mit extrem großer Erfahrung beim Schraffieren schufen diese auf groß angelegten Blättern – DIN A3 bis DIN A2 – die beim Schraffieren dennoch arbeitstechnisch bei weitem nicht so sehr ins Gewicht fallen wie beim Punktieren. Dabei entstanden zum Teil hoch ästhetische
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naturgeschichtliche Bildsammlungen.25 Es bedarf jedoch einer sehr ruhigen Hand, um die somit immer länger werdenden Linien vor allem der hier besprochenen, konzentrischen Schraffur ebenmäßig auszuführen. Bei besonders gründlichem und dichtem Setzen dieser Linien kann ein ›Flimmern‹ vor den Augen entstehen, das aus dem Bereich der optischen Täuschungen bekannt ist, das Objekt aber dennoch plastisch erscheinen lässt.26 Unregelmäßigkeiten sieht man jedoch auch bei der radialen Schraffur oder der Kreuzschraffur gleichermaßen überdeutlich. Ein großes, jedoch meist nicht beachtetes Problem in der Bewertung der ›Exaktheit‹ der fertigen Druckwerke stellt jedoch auch die Übertragung von der Skizze in die Reinzeichung dar. Vor allem Naturwissenschaftler des Goldenen Zeitalters der Erforschung fremder Kontinente im 18. und 19. Jahrhundert hatten schlichtweg keine zeitlichen Kapazitäten, alle ihre unter hohem Zeitdruck vor Ort entstandenen Vorzeichnungen und Skizzen in Reinzeichnungen und Druckvorlagen umzuwandeln – sie waren mit dem Formulieren des jeweiligen Textwerkes vollauf beschäftigt. Zahllose Zeichner und Koloristen und später auch Lithografen übernahmen die Aufgabe des finalen Illustrierens beziehungsweise der Druckvorbereitung, was jedoch einen nachweislichen Genauigkeitsverlust bedeutete. Je nach Aufmerksamkeit, Talent, Erfahrung und Zeit-Budget des Umsetzers sowie natürlich auch der Genauigkeit und Nutzbarkeit der Vorlage selbst konnten die Ergebnisse mehr oder weniger abweichen. Ein schönes Beispiel ist das berühmte südamerikanische Schwarzkopfäffchen Alexander von Humboldts,27 dessen Druckversion in einigen nicht unwichtigen Details von der als Vorlage dienenden Skizze abweicht. Erstaunlicherweise ist hier die gedruckte Tafel stimmiger als von Humboldts Skizze, da die Physiognomie und vor allem die Augenregion des kleinen Affen in der finalen Version nicht so menschenartig sind, die Strecker-Muskulatur des Oberschenkels natürlicher verläuft und die Füße auf eine plausible Weise dem Untergrund aufliegen.28 Es würde daher durchaus spannend erscheinen, weitere Vergleiche zwischen noch erhaltenen
25 Vgl. u. a. Schmid, Elisabeth: Atlas of Animal Bones. Knochenatlas. Drawings by/ Zeichnungen von Otto Garraux, Amsterdam/New York 1972, S. 1-159; Pales, Léon/ Garcia, Michel A.: Atlas Ostéologique pour servir à l’identification des Mammifères Du Quarternaire. Carnivores, Hommes, I. Les Membres, Pl. 1-48, II. Tête, Rachis, Pl. 1-77, Paris 1981. 26 Vgl. Jastrzebski: Scientific Illustration (wie Anm. 21), S. 58 u. S. 143. 27 Vgl. Lubrich, Oliver (Hg.): Alexander von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk, Darmstadt 2014, S. 15. 28 Vgl. ebd., S. 228.
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Skizzen und daraus resultierenden Tafeln aus von Humboldts Gesamtwerk anzustellen, zumal hier der Wissenschaftler sogar selbst zeichnete. Aber selbst wenn auf den Expeditionen Illustratoren mitgenommen wurden, so kämpften diese ihrerseits mit den typischen Unbilden naturkundlicher Phänomene wie dem oben schon erwähnten Verblassen und Verwelken von Originalvorlagen und Ähnlichem. Im Werk des Naturwissenschaftsillustrators Ferdinand Bauer, der die Australienumrundung von Matthew Flinders von 1801 bis 1803 begleitete und die naturkundlichen Objekte bildlich dokumentierte, finden sich faszinierende schwarzweiße Linienvorzeichnungen von Krabbenpanzern und anderen, farblich schnell verblassenden Organismenresten wie Pflanzen und vor allem deren Blüten.29 Diesen sind Myriaden von in feiner Handschrift ausgeführten Zahlen mit kleinen Zuordnungsstrichen beigefügt, die jeweils in bestimmten Zonen der Zeichnung enden. Die Zahlen entsprechen dabei den gängigen Nummerierungen für damals käuflich erwerbbare Malerpigmente, sodass auch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt mit einer Art sehr elaboriertem ›Malen nach Zahlen‹ die Farben gesetzt werden konnten. Heute würden diese Nummern den Farbtönen der Stifte, Pastellkreiden und Aquarellfarben der großen Künstlerbedarfsmärkte entsprechen. Da dies aber ein Stück weit der in den Naturwissenschaften unerwünschten Gedächtniszeichnungen entspricht, können hie und da auch zwischen dem damaligen naturgeschichtlichen Tafelwerk und dem tatsächlichen Aussehen der heute noch lebenden Organismenart feinste Unterschiede festgestellt werden. Diese sind allerdings meist minimal, da die großen Illustratoren jener Tage ihr Handwerk verstanden. Zum Thema des Druckens lässt sich zudem die Problematik der spiegelverkehrt anzulegenden Druckvorlagen gut nachvollziehen. Bei bilateralsymmetrischen Organismen stellt dies kein Problem dar, jedoch bei im Regelfall strikt rechtsgewundenen Schnecken und anderen Organismengruppen mit Trochospiralen ist die korrekte und nicht die spiegelbildliche Ansicht unumgänglich. Dies scheint jedoch einigen Illustratoren, die zum Beispiel im Falle der Lithogafie mit dem Auftragen der Tuschezeichnung auf dem Stein befasst waren, schwergefallen zu sein, wie die eine oder andere leicht missglückte Fossildarstellung belegt.
29 Vgl. Norst, Marlene: Ferdinand Bauer. The Australian History Drawings, London 1989, S. 62, 69, 86 u. a. Vgl. auch die Abbildung auf S. 143 hier im Buch.
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Abb. 7: Digitales 3D-Modell eines Backenzahns (Molar) von Teutonodon langenbergensis, dem ersten jurassischen Säugetier Deutschlands. Das Modell des im Original etwa 2 mm großen Molaren basiert auf einem hochaufgelösten Mikro-CT-Scan am SteinmannInstitut der Universität Bonn, O. Wings Auf erstaunliche Weise exakt erweisen sich vor allem in den beschreibenden Wissenschaften mit ›Morphologien‹ sensu lato die in den vergangenen zwei Dekaden aufgekommenen Digitalabbildungen. Im einfachsten Falle werden serielle, aus verschiedenen Blickwinkeln getätigte Fotografien mittels der Photogrammetrie in ein Oberflächenmodell umgerechnet. Im nur noch geringfügig komplexeren Fall wird das Objekt komplett via Tomografie (zum Beispiel MikroComputertomografie, Abb. 7) oder mit dem Laserscan erfasst und kann dann tatsächlich nicht nur abgebildet, sondern auch via 3D-Druck als frei skalierbares Kunststoffmodell wiedergegeben werden. Durch entsprechende Computerprogramme kann das fertige, virtuelle 3D-Modell des untersuchten Objektes danach in den Schattierungsgraden beeinflusst und zudem in alle Raumebenen frei in so genannten turntables gedreht werden, sodass diese modernste Methode jedweder Bilddokumentation die seit der Renaissance vorgegebene Prämisse der anzustrebenden Objektivität letztlich am besten erfüllt: Der weit vom eigentlichen Original entfernte Betrachter kann sich durch das auf dem Monitor drehbare Digitalisat ein frappierend genaues Bild des Untersuchungsobjekts verschaffen und zudem – je nach Auflösung – an interessante kleinere Details dieses ›digitalen Zwillings‹ heranzoomen. Die vielen verschiedenen Blickwinkel ermöglichen dem Großhirn eine Zusammensetzung zu einem Gesamtbild, wie es von der zweidimensionalen Abbildung in zwei bis fünf klassisch definierten Ansichten nicht mehr übertroffen, ja nicht einmal annähernd erreicht werden kann. Nur das dreidimensionale Hologramm wird in der näheren Zukunft diese Darstellungsform nochmals übertreffen, wenn die Mittel zu seiner Herstellung und vor allem zur identischen Wiedergabe an einem anderen Ort ähnlich wenig aufwendig sein werden, wie es dies beim heutigen Scannen bereits ist.
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Dennoch gibt es einige Einschränkungen, die das manuelle Zeichnen partiell auch in Zukunft erforderlich machen: Zum einen liegen besonders in der Paläontologie vielfach Objekte mit einem hohen Fragmentarisierungsgrad vor. Das heißt: Viele ›unwichtige‹ Brüche und Risse ohne wissenschaftliche Information überlagern die tatsächlichen Merkmale, werden jedoch im Gehirn des fachlich kundigen Zeichners bereits beim Zeichnen ein Stück weit gefiltert beziehungsweise in ihrer Bedeutung vermindert, indem ihnen zum Beispiel sehr dünne Linien oder nur Punktlinien zugeordnet werden. Zu diesem interpretativen Akt sind Computerprogramme zur Zeit noch nicht fähig, zumal in der Paläontologie jedes Objekt einmalig ist und vollkommen anders aussieht, d. h. anders fragmentiert ist als alle anderen. Zum anderen lassen sich die verschiedenen TiefenschärfeEbenen stark räumlicher, aber transparenter mikroskopischer Objekte wie einzelner Zellen oder planktonischer Organismen bis heute zeichnerisch am besten kombinieren,30 obwohl die bildgebenden Verfahren rund um die Mikroskopfotografie gerade in jüngster Zeit eine ernorme Optimierung genau in dieser Richtung erfahren (durch schichtweise Fotoerfassung und Zusammenrechnen der Daten durch spezialisierte Programme). Dass das Zeichnen selbst mittlerweile recht komplikationslos und vor allem optimal korrigierbar auf Tablets erfolgen kann, stellt eine weitere Erleichterung bei der grundsätzlich manuellen Herangehensweise dar. Problematisch bleiben extrem fragile Objekte, die nicht ohne Weiteres bewegt werden dürfen und daher schwerlich in eine für das Scannen notwendige, fixierte Position zu bringen sind. Aus der eigenen Sammlungserfahrung am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover sind solche, häufig elongate und gleichermaßen sehr brüchige Objekte bekannt, die zunächst aufwendig zu stabilisieren sind, um überhaupt gescannt werden zu können. Hier ist die Zeichnung einer Ansicht und gegebenenfalls einer zweiten meist wesentlich schneller und für das Objekt selbst ungefährlicher zu bewerkstelligen. Eine andere Ausnahme werden auch zukünftig sehr kleine Objekte sein, die seit langer Zeit schon direkt im Prozess ihrer Erforschung dokumentiert werden, wie es beispielsweise beim Rasterelektronenmikroskop der Fall ist. Die beim ›Rastern‹ entstehenden Fotografien der oberflächenbedampften Objekte lassen sich direkt zur Dokumentation verwenden und bedürfen in der Regel keiner Umzeichnungen. Sehr flache Objekte wie zum Beispiel Blätter können exzellent durch die klassische Makrofotografie in den beiden Standardansichten dokumentiert werden.
30 Vgl. Honomichl et. al.: Wissenschaftliches Zeichnen (wie Anm. 24), S. 65.
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E PILOG Die Objekte in naturkundlichen Sammlungen stellen einen Ausgangspunkt von Forschung dar, müssen jedoch dokumentiert werden, um den wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Für eine solche naturkundlich-naturwissenschaftliche Dokumentation ist es notwendig, von forschungsrelevanten, dreidimensionalen Untersuchungsobjekten eine möglichst exakte zweidimensionale Darstellung anzufertigen. Die zeichnerisch-bildliche Wiedergabe originaler Strukturen bedient sich allerdings eines großen Teils der Techniken und Medien der bildenden Kunst, was den Grad der Objektivität auf den ersten Blick erheblich mindert. Proportionsannäherung, Linieneinsatz und die Arbeit mit fest definierten Lichtquellen sowie die damit verbundenen, auf der Wahrnehmungspsychologie beruhenden illusionistischen Phänomene der Schattengabe von Objekt- und Tiefenschatten zeigen ganz klar, dass die tradierte naturkundliche Darstellung nicht in dem Maße ›exakt‹ ist und sein kann, wie sie es zu sein vorgibt. Wirklich exakt und damit objektiv ist sie vornehmlich in dem Verzicht auf den Umgebungsschatten, in dem Verbot freier Objekt-Kompositionen und vor allem der Vermeidung perspektivischer Ansichten – außer bei subsummierenden Gesamtdarstellungen wie zum Beispiel Rekonstruktionszeichnungen in der Paläontologie. Erst die klare Definition ausschließlich lotrechter Ansichten verschiedener Seiten der vorliegenden Objekte, welche orthogonale Bilder ohne Verzerrungen ergeben, in denen man im optimalen Falle sogar im Bild noch Messungen verschiedener Strecken (Länge, Breite, Höhe etc.) vornehmen kann, fügt dem Kanon der illusionistischen Bildgestaltung das eigentlich Exakte hinzu. Auch hier jedoch verbleiben vielerlei Probleme, wie sie die druckreife SchwarzweißZeichnung deutlich dokumentiert: Schemahaftigkeit und Textur-Ungenauigkeiten sind die Folge des aufrasternden Zeichnens. Vor dem Bild dieser Problematik und dem hohen Zeitaufwand des manuellen Illustrierens – sowie einer generellen Unbeliebtheit dieser Tätigkeit bei vielen Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftlern – zeichnet sich heutzutage ein starker Trend zur Darstellung in digitalen Abbildungen ab. Der Blick in verschiedenste naturkundliche Zeitschriften, und zwar sowohl in viel zitierten Journalen mit peer review als auch in nachgeordneteren Druckwerken mit weniger hohem wissenschaftlichen Einfluss, lässt jedoch erkennen, dass es immer noch einen hohen Prozentsatz an Handzeichnungen beziehungsweise an klassischen Illustrationen gibt. Sinn und Zweck dieser manuell erstellten Dokumentation dürften in dem liegen, was der bekannte Paläo-Ichthyologe Walter R. Gross (1903-1974) einst
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formulierte: »Was Du nicht gezeichnet hast, das hast Du nicht gesehen.«31 Wer heutzutage noch im großen Stile zeichnet, benutzt diesen Vorgang primär zum eigenen Erkenntnisgewinn. Der Erkenntnisprozess, das genaue Kennenlernen des Untersuchungsobjektes als solches, steht dabei deutlich im Vordergrund. Kommen geeignete Vorzeichnungen heraus, so lassen sich diese darüber hinaus ohne allzu großen Mehraufwand in nutzbare Reinzeichnungen umwandeln. Ein passendes Beispiel für den sich zeichnerisch annähernden Prozess ist hier (Abb. 8) wiedergegeben: Es handelt sich um Bleistiftzeichnungen aus einem über eine volle Dekade verwendeten Skizzenbuch (›Kladde‹) der Autorin dieses Beitrags. Das gewählte Beispiel stellt verschiedene Schädelknochen eines kleinen oberjurassischen Dinosauriers aus der ostafrikanischen Lokalität Tendaguru in Tanzania dar. Das Material lagert im Museum für Naturkunde in Berlin und bietet durch die Tatsache, dass es disartikuliert ist, die Möglichkeit, sich einzelne Knochen von mehreren Seiten ansehen zu können und nicht im Verbund, bei dem sie sich gegenseitig überlappen und die Sicht aufeinander nehmen. Selbst für Fachleute stellen diese einzelnen Knochen mit ihren ›abstrakt‹ wirkenden Fortsätzen und Graten, den Mulden und Winkeln zwischen verschiedensten Knochenflächen eine räumliche Herausforderung dar. Wo ist oben? Wo ist vorn? Welcher benachbarte Knochen setzt wo an? Wer dies lernen will, versucht zu ›begreifen‹; das haptische Erlebnis ist in der Paläontologie hingegen je nach Erhaltungszustand oftmals gar nicht möglich, und auch ein mehrfacher Besuch der Sammlung ist nicht immer machbar. Daher kommt es zur zeichnerischen Annäherung, deren Ergebnis man anschließend mitnehmen kann. Auch hilft der Eindruck der illusionistisch wiedergegebenen räumlichen Tiefe besonders vertikaler Strukturen enorm. Ein Beispiel ist der mit »Pterygoid« beschriftete Knochen, der in drei Drehungsphasen wiedergegeben ist, wovon zwei Zeichnungen mit sehr kontrastreichem Schatten ausgeführt sind. Dadurch wird dieses sehr komplexe Element in seiner Dreidimensionalität durchdrungen und stellt für das Studienbuch jeweils einen ›Langzeit-Schlüssel‹ zum Verständnis seiner räumlichen Orientierung dar. Nach dem zeichnerischen Prozess ist auch das Verständnis für die Zusammengehörigkeit der Knochen innerhalb des Skeletts und ihre jeweilige Überlagerung größer geworden. Dies beeinflusst nicht nur das eventuelle publikatorische Endprodukt auf der wissenschaftlichen Ebene positiv, sondern erleichtert natürlich auch im Gelände die Prospektion und in frühen Grabungsphasen die schnelle Ansprache von noch nicht vollständig
31 Zit. nach: Hans-Peter Schultze, freundliche mündliche Mitteilung.
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Abb. 8: Annette Richter: Studienbuchskizzen in Grafit; jeweils mehrere Schädel-Elemente, Grafit/Halbton auf kariertem FeldbuchPapier, 1990 Knochen des kleinen, pflanzenfressenden Dinosauriers Dysalotosaurus lettow-vorbecki, Oberjura von Tanzania, paläoherpetologische Sammlung im Museum für Naturkunde zu Berlin
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freigelegten Knochen. Allerdings darf der nun anwachsende Faktor der ›Erfahrung‹ keinesfalls zu erhöhter Subjektivität führen. Erfahrung führt zur Integration einzelner Beobachtungen in einen Gesamtzusammenhang und damit zu wachsender Erwartungshaltung und Subjektivität.32 Das naturwissenschaftliche Zeichnen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit als ein Mittel der Wiedergabe von Objektabbildungen erhalten bleiben, jedoch in der Zukunft von den digitalen Dokumentationsmöglichkeiten nicht nur flankiert, sondern weiter übertroffen werden. Erst diese erreichen das Ziel der größtmöglichen Objektivität im Sinne des Wortes. Als geistiger Durchdringungsprozess vor allem von komplexen Objektassoziationen wird das Zeichnen stets ein unersetzliches Mittel zum Zweck für diejenigen bleiben, die ihr Verständnis für die Dinge der Natur bestmöglich entwickeln wollen. Die Exaktheit solcher Zeichnungen sollte jedoch besser als ›mehr oder weniger wirklichkeitsnah‹ bezeichnet werden, und letztlich wird es wahrscheinlich immer der Originale aus den umfangreichen, aber ihrerseits unvollständigen Sammlungen bedürfen, um Vergleich und Diskurs über die Abbildungen hinaus zu verstetigen. Es sei noch anekdotenhaft vermerkt, dass es im Übrigen gerade die sehr ›genauen‹ beziehungsweise wirklichkeitsnahen Darstellungen von Originalen des 18. und 19. sowie des frühen 20. Jahrhunderts waren, die trotz kriegsbedingter Wirren wie auch Um- und Auslagerungen vielfach dazu geführt haben, dass sich naturkundliche Stücke haben re-identifizieren und damit in ihre Ursprungssammlungen zurückführen lassen. Sie verdanken ihre Statuszuordnung der individuellen Erkennungsmöglichkeit einzelner Objekte durch genaue Dokumentation auf veröffentlichten Tafeln. Besonders noch im 20. und 21. Jahrhundert stattfindende Zuordnungen und Rückverfolgungen, wie für das in Paläontologenkreisen bekannt gewordenen Göttinger »Medusenhaupt«,33 eine Gesteinsplatte mit fossilen Seelilien, sind wissenschaftsgeschichtlich von größtem Interesse. Zum Abschluss soll auch der hohe ästhetische Reiz wirklichkeitsnaher, manuell erstellter Illustrationen natürlicher Objekte in Erinnerung gerufen werden. Wenn allerdings bestimmte wissenschaftliche Erwartungen Hand in Hand mit hohen ästhetischen Idealen gehen, kann dabei eine »Designer-Realität des Beobachtbaren«34 im Sinne Ernst Haeckels und seiner Kunstformen der Natur herauskommen. Mit Objektivität hat dies nichts mehr zu tun. Es waren allerdings
32 Vgl. Breidbach: Bilder des Wissens (wie Anm. 20), S. 18. 33 Vgl. Reich, Mike: Von Medusenhäuptern und Medusenpalmen… Zur Geschichte einer Fossilienplatte, Göttingen 2014, S. 8 u. S. 9. 34 Breidbach: Bilder des Wissens (wie Anm. 20), S. 130.
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gerade diese Tafeln mit ihren arrangierten und stilisierten Organismen, die ein massenhaftes naturkundliches Interesse der Öffentlichkeit anstießen und zur durchaus erwünschten Popularisierung der Naturkunde führten. Naturkundliche Illustrationen sind aus der Kunst hervorgegangen, ihrerseits oft sehr kunstvoll gemacht und können daher durchaus auch selbst Kunst sein. Die Besten von ihnen wirkten und wirken als Inspiration der Kunst, wie in den nachfolgenden Kapiteln des vorliegenden Bandes zu sehen sein wird.
D ANK Sehr danken möchte ich den beiden Herausgeberinnen, Isabelle Schwarz und Annerose Keßler, mit denen ich die Zusammenarbeit schon seit dem Vorfeld des interdisziplinären Symposiums »Objektivität und Imagination. Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts« (10.-12. September 2015 im Sprengel-Museum Hannover, in Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover) sehr geschätzt habe. Von der tatsächlichen Durchführung des Symposiums in ihrer Rolle als Tagungsorganisatorinnen bis hin zur Entstehung dieser Publikation gestaltete sich die Zusammenarbeit sehr angenehm und überaus konstruktiv. Herzlicher Dank gebührt auch unserer Museumsfotografin Kerstin Schmidt; sie beschaffte die Fotografie des Kalf-Gemäldes und fertigte eine neue Fotografie der Lithografie-Platte Fraas 1910 an. Christiane Schilling half mir bei der Verifikation der Schmetterlingsart der im Text beschriebenen Merian-Tafel, wofür ich ihr sehr danke. Samuel Dodds, Bremen, danke ich sehr herzlich für die aufwendige Anfertigung der Bildvorlagen für die Abbildungen 5 a und 5 b. Dr. Oliver Wings, Halle, gebührt großer Dank für die Inspiration, sich mit Balthasar van der Ast auseinanderzusetzen, und für die Bereitstellung und Beschreibung der Abbildung 7. Meinen Mediendesign-Praktikantinnen der Hochschule Hannover, Velvet Vogel, Tracy Heinemann und Judith Burau, danke ich herzlich für die guten Tipps und die freundlichen und geduldigen Hilfestellungen bei der Bildbearbeitung. Meinen Angehörigen danke ich für ihre Geduld, da seit mehr als drei Jahrzehnten und somit ›statistisch permanent‹ Verschriftlichungen von Projekten verschiedenster Art anstehen, die mich von gemeinsamen Unternehmungen abhalten. Aufs Neue gelobe ich Besserung.
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A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Öl auf Leinwand, 66 x 55,6 cm, Landesmuseum Hannover (Landesgalerie), Kat. Nr. 107 Abb. 2: a) 30,5 x 41 cm, 7 cm hoch mit den vier Tafeln 53 bis 56 zu Eberhard Fraas: Der Petrefaktensammler, 1910; b) Original-Druck der Tafel 56 in der Erstauflage des Werks aus der Bibliothek des Landesmuseums Hannover. Stein: Privatsammlung Annette Richter, Fotografie: K. Schmidt Abb. 3: Für eine Überblicksdarstellung mit den generalisierten botanischen Grundmerkmalen der Gruppe, aber deutlich ausgedünntem Wedel, ›NaturWelten‹ des Landesmuseums. Annette Richter, Tusche und Fettstift auf Runzelkornpapier, 2014 Abb. 4: Tusche und Fettstift auf Runzelkornpapier, Annette Richter, 2000/2001 Abb. 5: a) Nach Brudon 1988, in Hodges 2003, umgezeichnet. b) Nach Wood 1994, in Hodges 2003, umgezeichnet von S. Dodds Abb. 6: Alle Zeichnungen: Annette Richter, Privatsammlung Annette Richter
Naturding – Wissensding – Kunstding Mark Dions hybride Praktiken und die Naturgeschichte des Meeres
A NNEROSE K ELER
Naturkundliche Bilder und Praktiken sind im 20. und 21. Jahrhundert vielfach Gegenstand künstlerischer Positionen gewesen. Angesichts dieses Phänomens fallen drei Vorgehensweisen auf, die entweder gemeinsam oder unabhängig voneinander im Werkprozess vertreten sein können: Auf der visuellen Ebene knüpfen Künstlerinnen und Künstler explizit an die tradierte Bildsemiotik der Naturgeschichte an, indem sie spezifische Bildsprachen, Ordnungssysteme und Präsentationsformen übernehmen. Sie bedienen sich also einer Naturgeschichtsästhetik, die durch Besuche in naturhistorischen Museen in der individuellen und kollektiven Erinnerung eingeprägt sind oder ganz allgemein mit Naturgeschichte assoziiert werden. Auch die Nutzung von naturkundlichen Objekten wie beispielsweise Präparaten als künstlerisches Material zählt zu dieser Kategorie.1 Auf der Kognitionsebene reflektieren sie über Naturgeschichte als komplexes Wissensgefüge mit einer eigenen Geschichtlichkeit, über etabliertes naturhistorisches Handeln sowie über historische und gegenwärtige Modi der musealen Präsentation. Sie suchen nach neuartigen Erkenntnissen über ihren ausgewählten Forschungsgegenstand, über seine Herkunftswirklichkeit und das in ihm konzentrierte Bildwissen und hinterfragen auf diese Weise mitunter auch wissenschaftliche Objektivitätsansprüche. Die Auseinandersetzung mit historischen Na-
1
Zur Verwendung von Tierpräparaten in der Kunst vgl. bes. Lange-Berndt, Petra: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst, 1850-2000, München 2009.
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turforschern, ihren Entdeckungen und Schriften kann ebenfalls Teil dieser künstlerischen Reflexionen sein. Auf der agierenden Ebene adaptieren Künstlerinnen und Künstler bekannte und weniger bekannte naturkundliche Methoden und wenden sich in der Naturkunde gebräuchlichen, prozessorientierten Arbeitsweisen zu, zum Beispiel wenn sie Präparationstechniken anwenden.2 Durch derartige künstlerische Aneignungen naturgeschichtlicher Verfahrensweisen entwickeln sich nicht selten disziplinübergreifende »hybrid practices«3. Zu den naturhistorischen Praktiken zählen neben dem Präparieren und Konservieren viele weitere wie das Sammeln, Klassifizieren, Sezieren, Ordnen, Archivieren, Beforschen, Dokumentieren, Interpretieren, Präsentieren und Vermitteln von Naturdingen. Sobald diese per se kunstfernen Praktiken in die Sphäre der Kunst übertragen werden, entstehen neuartige Formen des Zugangs zur klassischen Naturgeschichte. Ein Künstler, der sich intensiv und immer wieder ausdrücklich mit Naturgeschichte auseinandersetzt, ist der US-Amerikaner Mark Dion (geb. 1961, New Bedford, Mass.), der schon in seiner Kindheit und Jugend leidenschaftlich gern die Flora und Fauna um seinen Geburtsort herum erkundete. Ein sicherlich prägender Begleiter wurde ihm das einzige Buch, das in seinem Elternhaus existierte: Seashores. A Guide to Animals and Plants Along the Beaches. 1981 begann er an der Hartford Art School, Connecticut, Kunst zu studieren, ursprünglich um paläontologischer Illustrator zu werden.4 Er selbst charakterisiert seinen künstlerischen Schwerpunkt wie folgt: »I’m an artist who works a lot around the topics of the history of natural history, the kind of history of the representation of nature. I work a lot about the ideas about nature [...]. So I’m really interested
2
Ein Beispiel ist die Nasspräparation im Werk Damien Hirsts. Siehe Lange-Berndt, Petra: Unheimliche(s) Gestalten. Damien Hirsts ›Naturgeschichte‹ und das historische Verfahren der Naßpräparation, in: Haus, Andreas/Hofmann, Franck/Söll, Änne (Hg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktion, Berlin 2000, S. 165-178.
3
Dieser Begriff ist dem Titel der Tagung »Hybrid Practices in the arts, sciences, & technology from the 1960s to today« entlehnt, auf der Mark Dion Keynote Speaker war und die am 18. Februar 2015 im Spencer Museum of Art, University of Kansas, stattfand.
4
Vgl. Erickson, Ruth: Into the Field, in: dies. (Hg.): Mark Dion. Misadventures of a 21st-Century Naturalist, Ausst.-Kat. The Institute of Contemporary Art, Boston, Boston 2017, S. 13-69, hier S. 13. Es handelte sich um folgendes Buch: Zim, Herbert Spencer/Ingle, Lester: Seashores. A Guide to Animals and Plants Along the Beaches, Baltimore 1955.
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in where those ideas come from and how our ideas shape our behaviour to the natural world.«5 Was die hier erwähnte history of natural history anbelangt, so fällt in seinem Werk in der Tat ein vermehrter Rekurs auf naturhistorische Themen vergangener Jahrhunderte auf, und zwar insbesondere auf das 19. Jahrhundert. Die intensive Beschäftigung mit der Materie zeigt sich auch in Dions eigener Definition des Begriffes Naturgeschichte, die er 1997 in dem von ihm selbst zusammengestellten Lexicon of relevant terms festhielt. Dort findet man unter dem Lemma »Natural History« ausschließlich die Feststellung »A confounding paradoxical term«6. Diese Widersprüchlichkeit des Naturgeschichtsbegriffs, der ja das stete Werden, Sein und Vergehen der Natur (Gegenwart und Zukunft) und zugleich die Beschreibung dessen im Sinne von Geschichtsschreibung (Vergangenheit) in sich birgt, scheint Movens für Dions wiederholte Befragung dieses Themengebiets in einer ganzen Reihe seiner Arbeiten gewesen zu sein. Da Dion in New Bedford, Massachusetts, aufgewachsen ist, einem Zentrum des Walfangs im 19. Jahrhundert, wo die Seefahrt noch heute allgegenwärtig ist, nahm schon bald seine Faszination für das Meer sowie dessen Tier- und Pflanzenwelt zu und konnte an den umliegenden Küsten und bei Besuchen im New Bedford Whaling Museum genährt werden. Aufgrund dieser persönlichen Leidenschaft des Künstlers soll hier ganz konkret der ›Naturgeschichte des Meeres‹ beziehungsweise der biologischen Meereskunde als speziellem Teilgebiet der Naturkunde in seinem Werk nachgegangen werden.7 Doch zunächst einige grundsätzliche Gedanken zur Naturgeschichte und ihrer Verbindung zur Kunst:
N ATURGESCHICHTE Was es so schwierig macht, den Begriff der Naturgeschichte – und damit auch den des ›naturkundlichen Bildes‹ – zu fassen, ist die Tatsache, dass ihr Gegenstandsbereich ausgesprochen heterogen ist. Als Wissensgebiet, das alles von der
5
IKS (Institut für Kunstdokumentation) Medienarchiv: Mark Dion – Monaco 2011,
6
Mark Dion: The Lexicon of Relevant Terms, compiled on the Occasion of the Exhibi-
https://www.youtube.com/watch?v=vquTbHl6HiA [Stand: 12. Juli 2017], Min. 0:26. tion: Natural History and other Fictions by Mark Dion, in: Natural History and Other Fictions. An Exhibition by Mark Dion, Ausst.-Kat. Ikon Gallery/Kunstverein Hamburg/De Appel Foundation Amsterdam, West Bromwich 1997, o. S. 7
Meereskunde teilt sich auf in physikalische Meereskunde (Ozeanografie) und biologische Meereskunde (Meeresbiologie), wobei hier im Zusammenhang mit Dions Werk vorrangig die Letztere von Interesse ist.
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Natur Hervorgebrachte zu erfassen versucht, beschreibt und klassifiziert, umfasst Naturgeschichte die Astronomie, Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie und schließlich auch den Menschen als Subjekt und Objekt dieser Disziplin.8 Die Heterogenität und Vielfalt ihrer Gegenstände betonte schon der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), der die Naturgeschichte in der Einleitung seiner zwischen 1749 und 1788 in 36 Bänden herausgegebenen Histoire Naturelle générale et particulière wie folgt definierte: »Die Historie der Natur, wenn sie in ihrem ganzen Umfange betrachtet wird, ist eine unermeßliche Historie, und sie begreifet alle Dinge in sich, so uns die Welt vor Augen stellet.«9 Was die Naturgeschichte jedoch zusammenhält und von anderen Wissenschaften deutlich absetzt, ist weniger ein klar abgegrenztes Gebiet als vielmehr eine »gewisse epistemische Haltung, die statt auf Quantifizierung, Messung, Experiment und Beweisführung primär auf das Sammeln, Ordnen, Dokumentieren und Tradieren beobachteter und beschriebener Naturdinge abzielt«10.
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WERDEN
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Wechselseitige formale und motivische Bezüge zwischen Kunst und Naturgeschichte fallen bei der Durchsicht der Bildteile von Buffons Histoire Naturelle auf. Besonders augenfällig sind dabei die Darstellungen von auf variantenreichen Erhöhungen wie Felsen, Hügeln oder Ästen platzierten Tieren und Tierskeletten. Letztere sind auf eindeutig vom Menschen mit unterschiedlicher Kunstfertigkeit hergestellten Sockeln zu finden und damit der Kultur anstelle von Natur zugeordnet. So zeigt beispielsweise die Tafel 52 im 13. Band einen skelettierten Seehund auf einem Sockel aus grob behauenem Stein am Fuße eines fel-
8
Vgl. Müller-Wille, Staffan: Naturgeschichte, in: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 1175-1196, hier Sp. 1176.
9
De Buffon, Georges-Louis Leclerc: Histoire Naturelle, générale et particulière, Köln 2009 (Deutscher Titel: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Mit einer Vorrede von Herrn Doctor Albrecht von Haller, Hamburg/Leipzig 1750-1774), zit. nach: Feuerstein-Herz, Petra: Die große Kette der Wesen. Ordnungen in der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit, Ausst.-Kat. Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2007, S. 33.
10 Müller-Wille: Naturgeschichte (wie Anm. 8), Sp. 1176.
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Abb. 1: Jacques de Sève, Squelette du Phoque (Seehundskelett), Vorzeichnung für die Illustration in der Histoire Naturelle génerale et particulière von Georges-Louis Leclerc de Buffon, 1764 sigen Meeresufers (Abb. 1). Das Verhältnis von Tier und Lebensraum zu Lebzeiten des Seehundes wird zwar durch die Wellen, Muscheln und Korallen im Vordergrund angedeutet, sein Skelett auf einem künstlichen Sockel, umgeben von rauer Natur, bietet jedoch einen befremdlichen Anblick. Sowohl der in die Natur gesetzte Sockel als auch der vom Menschen aus dem natürlichen Kontext isolierte, getötete, präparierte und damit zum Artefakt gewordene Tierkörper wirken deplatziert, denn: »Sobald die Naturdinge vom Menschen erfaßt werden, bewegen sie sich grenzüberschreitend in der Trennzone zwischen Naturgebilde und Kunstwerk.«11 Mit jedem Bearbeitungsschritt des Menschen wird das animalische Subjekt zum Objekt und dringt damit tiefer in jenen Bereich vor, der normalerweise Kunstwerken vorbehalten ist.
11 Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2006, S. 11.
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Der Sockel steht in diesem naturhistorischen Bildband folglich für die Verschränkung des Bereichs der Naturgeschichte mit dem der Kunst (beziehungsweise von Natur und Kultur, Leben und Tod). Als Präsentationsform hebt ein Sockel den Kunstanspruch des auf ihm stehenden Objekts hervor. Er ist für eine Skulptur oder andere dreidimensionale Ausstellungsobjekte das, was ein Rahmen für ein Gemälde ist, – die ästhetische Grenze zwischen der realen Welt des Betrachters und der ›erzählten Welt‹ (Diegese) des Exponats. Der ehemalige Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin Wilhelm Waetzold konstatierte: »Die wichtigste Aufgabe des Sockels ist die, das plastische Gebilde von der realen Welt zu trennen, es gegen die Wirklichkeit deutlich abzugrenzen und im wörtlichen Sinne aus ihr herauszuheben in eine höhere Daseins- und Wirkungssphäre.«12 Demzufolge ergibt sich mit dem zeichnerisch dargestellten, exponierten Seehundskelett nicht nur ein »Bild im Bild«13, sondern auch ein Spiel mit den Realitätsebenen. Das einzig Objektive ist das ins Bild gesetzte präparierte Tier. Dieses könnte jedoch noch so detailliert und naturgetreu wiedergegeben sein – die eigenwillige Gesamtkomposition bleibt eine Imagination des Illustrators der naturhistorischen Bildtafel, in diesem Fall von Jacques de Sève (1742-1788). Und selbstverständlich ist diese Form der Bildorganisation dem didaktischen Anspruch naturkundlicher Wissensvermittlung geschuldet, gepaart mit dem Wunsch zu unterhalten.14
12 Waetzoldt, Wilhelm: Einführung in die bildenden Künste, Leipzig 1912, S. 113-114, zit. nach: Kerber, Bernhard: Sockel und Sockelformen seit der Antike. Ein kulturhistorischer Exkurs, in: Brunner, Dieter (Hg.): Das Fundament der Kunst. Die Skulptur und ihr Sockel in der Moderne, Ausst.-Kat. Städtische Museen Heilbronn, Heilbronn 2009, S. 19-28, hier S. 19. 13 Zum »Bild im Bild« siehe Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998. Zum ›Sockel im Bild‹ siehe Keßler, Annerose: Meta-Bildhauerei. Überlegungen zur Sprachfähigkeit und Beseelung der Skulptur am Beispiel der Pygmalion-Gruppe Falconets im Pariser Salon von 1763, in: Großmann, G. Ulrich/Krutisch, Petra (Hg.): Die Herausforderung des Objekts, 33. Internationaler Kunsthistoriker-Kongress, Nürnberg, 15.-20. Juli 2012, Nürnberg 2013, S. 286-290. 14 Vgl. Müller-Wille, Staffan: Text, Bild und Diagramm in der klassischen Naturgeschichte, in: kunsttexte.de. E-Journal für Kunst und Bildgeschichte 4, 2002, S. 1-13. Siehe auch Raulff, Ulrich/Smith, Gary: Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, Berlin 1999.
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Skelette und Taxidermien von Tieren auf Sockeln mit Museumsarchitektur im Hintergrund kommen unseren Sehgewohnheiten weitaus näher.15 Diese als Lehrstück dienende exponierte ›Natur‹ kennen wir schon seit den Besuchen von Naturkundemuseen in unserer Kindheit. Wie das Seehundpräparat, das bei Buffon allerdings über den Umweg der Zeichnung vermittelt wird, ist auch jegliches im Museum ausgestellte ›Tier‹ ein »Repräsentant einer Spezies, ein Ding von universeller Anonymität«16. Diese Repräsentanten haben in einem »Moment der Dingwerdung«17, der sich durch den Eintritt in die naturhistorische Sammlung definiert, einen Transformationsprozess durchschritten: »Musealisierung hat eine Kontextänderung des Objektes zur Folge. [...] Das Objekt gewinnt eine neue semantische Dimension, mithin eine neue Qualität des Seins.« Diese Qualität »zeichnet sich durch besondere Beweiskraft aus. Das Objekt wird zum Dokument«18. Im Fall von naturhistorischer Musealisierung werden Naturdinge zu Wissensdingen, die wie folgt definiert werden können: »Wissensdinge zeichnen sich [...] durch eine Verschiedenheit aus, die scheinbar nur durch den gemeinsamen institutionellen Rahmen des Museums für Naturkunde zusammengehalten wird. Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings auf, dass allen naturkundlichen Wissensdingen eine Eigenschaft gemein ist: Sie nehmen eine Zwischenstellung ein, sie sind ein Drittes zwischen vermeintlichen Gegensätzen. So stehen Wissensdinge zwischen den natürlichen Dingen und den künstlichen, den Artefakten. Auf der einen Seite gelten sie als Stellvertreter der Natur. [...] Auf der anderen Seite und in mindestens dem gleichen Maße sind sie Belege einer musealen und wissenschaftlichen Kultur. Wissensdinge wurden – soweit es sich um Tiere handelt – erlegt, sie wurden gesammelt, herausgelöst, beschrieben, verschickt, ausgepackt, präpariert, ausgestellt, verkauft oder verschenkt, getauscht, beforscht, verliehen, beschädigt. Sie wurden ein Teil von wissenschaftlichen Abhandlungen, von Romanen oder Vorträgen. Diese Verschiebungen aus natürlichen in kulturelle
15 Zur Taxidermie, der kunstvollen, konservierenden Gestaltung der Haut von Wirbeltieren, siehe Turner, Alexis: Ausgestopft! Die Kunst der Taxidermie, Wien 2013. 16 Ullrich, Jessica: Vom Subjekt zum Objekt und wieder zurück. Mortifizierungs- und Verlebendigungsstrategien in taxidermischen Präparaten der Gegenwartskunst, in: Großmann/Krutisch: Herausforderung des Objekts (wie Anm. 13), S. 277-281, hier S. 280. 17 Dietz, Bettina: Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte, in: Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 615-621, hier S. 615. Zum Dingbegriff in der Wissenschaftsgeschichte siehe Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001, S. 21. 18 Flügel, Katharina: Einführung in die Museologie, Darmstadt 2005, S. 25-26.
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Zusammenhänge machen aus komplexen Naturdingen mindestens ebenso komplexe Kulturdinge. [...] Sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und sind in mehrfacher Hinsicht ein Zeitspeicher.«19
Nicht ohne Grund also ist Naturkunde eine Disziplin, die abhängig vom Sammeln von Naturdingen und den mit ihnen verbundenen Fakten ist.20 So ist es immer wieder ein Ereignis von großem naturkundlichen Interesse, wenn neue, nie zuvor beschriebene Arten entdeckt werden, was auch heutzutage jährlich noch bis zu 20.000-mal geschieht.21 Dies war auch der Fall am 13. März 1899, als es der Besatzung des kaiserlichen Forschungsschiffes Valdivia, das für die erste deutsche Tiefseeexpedition unterwegs war, gelang, im Indischen Ozean östlich von Sansibar einen Schwarzanglerfisch (Melanocetus krechi) aus 2.500 Metern Tiefe an die Wasseroberfläche zu befördern.22 Aufsehenerregend war neben seiner Herkunft aus dem unbekannten Lebensraum das für den mit dieser Art bis dato nicht vertrauten Menschen groteske Erscheinungsbild dieser Kreatur, das geprägt ist von einem Gebiss mit gläsern wirkenden Zähnen von unterschiedlicher Länge und einem bioluminiszierenden, angelähnlichen Leuchtorgan, mit dem sie ihre Beute anlockt. 1906 erschien erstmals eine Abbildung des als »Ikone der Tiefsee«23 bekannt ge-
19 Hermannstädter, Anita/Heumann, Ina/Pannhorst, Kerstin: Fisch und Wissensding. Zur Bedeutung naturkundlicher Objekte, in: dies. (Hg.): Wissensdinge. Geschichten aus dem Naturkundemuseum, Berlin 2015, S. 10-24, hier S. 21. 20 Vgl. Findlen, Paula: Die Zeit vor dem Laboratorium. Die Museen und der Bereich der Wissenschaft 1550-1750, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 191-207, hier S. 192. 21 Vgl. Glaubrecht, Mathias: Forscher entdecken immer mehr neue Tierarten, in: Welt online, 27. Februar 2008, https://www.welt.de/wissenschaft/article1729919/Forscherentdecken-immer-mehr-neue-Tierarten.html [Stand: 12. Juli 2017]. 22 Vgl. Bartsch, Peter: Aus der Tiefsee ins Buch, in: Hermannstädter/Heumann/ Pannhorst: Wissensdinge (wie Anm. 19), S. 126-127, hier S. 127. Der nach Kapitän Adalbert Krech benannte Fisch wurde um 5 Uhr morgens an der Station 239, 5°42 Süd, 43°36 Ost gefangen. Die Weibchen werden ca. 10 cm lang, die Männchen sind deutlich kleiner. 23 Boetius, Antje, in: Antje Boetius, Tiefseeforscherin, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bayerischer Rundfunk, alpha-forum, Sendung vom 25. Februar 2015, https://www.br.de/mediathek/video/alpha-forum-antje-boetius-tiefsee-
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Abb. 2: August Brauer, Tiefseeanglerfisch (Melanocetus krechi), 1906, Illustration aus: Wissenschaftliche Ergebnisse der Deutschen TiefseeExpedition auf dem Dampfer »Valdivia« 1898-1899 wordenen Schwarzanglerfisches in der systematischen Beschreibung der Tiefseefische der Valdivia-Expedition durch den mitgereisten Zoologen und späteren Direktor des Berliner Museums für Naturkunde August Brauer (18631917).24 Diese Darstellung hielt wie keine andere Einzug in unsere Vorstellungswelt von der Tiefsee (Abb. 2). Das Typusexemplar, also genau dieser damals gefangene Fisch, befindet sich heute eingelegt in Alkohol als Nasspräparat im Berliner Museum für Naturkunde (Abb. 3). Signifikant ist der Verlust von eben jener namensgebenden schwarzen Färbung, die der schon an Bord der Valdivia durch den geringeren Druck verstorbene Fisch über die Jahre eingebüßt hat. Dies zeigt der Vergleich des bis in ein helles, gräuliches Gelb verblassten Präparats mit einer noch auf der Valdivia aufgenommenen Fotografie (Abb. 4). Und während der fotografierte Anglerfisch schwarz wirkt, zeigt Brauers Illustration ihn davon abweichend in einem dunklen Braun. Welchem dieser drei ›Bilder‹ können wir also Glauben schenken? Die Kunsthistorikerin Petra Lange-Berndt definiert Präparate als »fixierte Organismen, denen ein umfangreicher Formverlust droht«, beziehungsweise als »Leichen, deren formzersetzende Verfallsprozesse durch Präparationstechniken gestoppt werden konnten, damit sie in Größe, Gestalt, Färbung und Oberflächen-
forscherin-alfred-wegener-institutfuer-polar-und-meesesforschung-av:59a848b64c6a3 200121c52e1 [Stand:12. Juli 2017], Min. 2:53. 24 Brauer, August: Die Tiefsee-Fische I. Systematischer Teil, Tafel 15, 1-2, in: Chun, Carl (Hg.): Wissenschaftliche Ergebnisse der Deutschen Tiefsee-Expedition auf dem Dampfer »Valdivia« 1898-1899, Bd. 15, Teil 1, Jena 1906.
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Abb. 3: Typusexemplar des Tiefseeanglerfisches Melanocetus krechi von der ValdiviaExpedition 1899, Alkoholpräparat, Museum für Naturkunde, Berlin beschaffenheit unverändert erscheinen«. Keiner dieser Gesichtspunkte – Bewahrung von Form, Größe und Farbe – trifft jedoch tatsächlich auf den »stillgelegten Körper«25 des präparierten Schwarzanglerfisches zu, denn der Alkohol, der die für die Wissenschaft so wichtige DNA zu erhalten imstande ist, hat nicht nur die Farbpigmente des Fisches angegriffen, sondern ihn auch schrumpfen lassen und ihm Fette entzogen, so dass dieser Tierkörper im Vergleich zum ursprünglichen
25 Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 9 u. S. 234.
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Abb. 4: Historische Fotografie des Typusexemplars von Melanocetus krechi auf dem Schiff Valdivia, 1899 (beschrieben von August Brauer 1902) Phänotyp nur ein deformiertes, verzerrtes Bild überliefert.26 Die Gegenüberstellung der drei hier beschriebenen (Ab-)Bilder von ein und demselben speziellen Fisch zeigt uns, dass naturgeschichtliche Bilder – und insbesondere Zeichnungen und Fotografien – in bestimmten Aspekten wie der Farbgebung aussagekräftiger sein können als das konservierte biologisch originäre Objekt. Dieses wiederum kann aufgrund der drastischen Entfernung von seinem früheren Erscheinungsbild, die paradoxerweise dem Schutz vor dem biologischen Zerfall durch Konservierung geschuldet ist, als ein »prekäres Objekt«27 der Naturgeschichte bezeichnet werden. Nicht weniger spektakulär war die Entdeckung des mit einem ähnlich furchteinflößenden Gebiss samt diversen Leuchtorganen ausgestatteten Vipernfisches (Chauliodus sloani) aus der Gattung der Barten-Drachenfische, der schon fast ein Jahrhundert vor dem Schwarzanglerfisch, nämlich 1801, von den deutschen Fischkundlern Marcus Élieser Bloch und Johann Gottlob Theaenus Schneider in deren Systema Ichthyologiae iconibus CX illustratum beschrieben wurde.
26 Zur Geschichte von Alkoholpräparaten sowie zu den Vor- und Nachteilen dieser Konservierungstechnik vgl. Arndt, Walter: Alkoholfragen in Naturkundemuseen, in: Neue Museumskunde, N. F., Bd. 9 (1937), S. 61-106. 27 Dietz: Die Naturgeschichte (wie Anm. 17), S. 615.
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Mehrere Exemplare dieser Spezies werden als Nasspräparate im Zoologischen Museum Kiel aufbewahrt. Der ungefähr 30 cm lange Tiefseefisch bereitet dem Betrachter noch immer einen Schauder mit seinen im Vergleich zur Größe des Kopfes überproportional langen Zähnen, die ihm 2011 gar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde verschafften. Jedoch auch seine Farbe, die beim lebenden Tier je nach Lichteinstrahlung zwischen Blau, Grün, Schwarz und Silber changiert, ist mittlerweile verblichen, wodurch er einen großen Teil seiner Lebensechtheit verloren hat.
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2010 nutzte Mark Dion, der seit Anfang der 1990er Jahre neben ökologischen und archäologischen auch naturhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Dimensionen in den Fokus seiner Arbeiten nimmt, ein Nasspräparat des Vipernfisches als Material für seine Installation Sea Life, die er für die Ausstellung »Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft« in der Kunsthalle zu Kiel konzipierte (Abb. 5).28 Dafür setzte er das Wissensding des Chauliodus sloani mit über 20 weiteren in Alkohol konservierten Tiefseeorganismen aus dem benachbarten Zoologischen Museum in Szene. Darunter befanden sich Grenadierfische, Beilfische, ein Schnepfenaal, ein Borstenmaul, ein riesiger Flohkrebs, eine rote Garnele, eine Asselspinne, eine Atollaqualle und eine pelagische Seegurke. Alle Exemplare waren von unterschiedlicher Visualität, einige sogar unbestimmt.29 Für die Kunstausstellung wurden sie eigens in einheitliche Gläser umgefüllt. Die einzige Lichtquelle in dem dunklen Ausstellungsraum befand sich unter einem hüfthohen, schwarzen Sockel, auf dem die Präparatgläser platziert waren. Unter ihnen waren jeweils kreisrunde Löcher eingelassen, so dass sie
28 Gördüren, Petra/Luckow, Dirk (Hg): Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel, Köln 2010. 29 Für diese und weitere Informationen zu den von Dion verwendeten Tiefseespezies sei an dieser Stelle Lina Rosotta vom Sammlungsmanagement des Zoologischen Museums Kiel gedankt. Es handelt sich bei dem ausgestellten Chauliodus sloani nicht um das Typusexemplar, da diese zu wertvoll sind, um ausgeliehen zu werden, sondern um einen Vipernfisch, der 1925 in der östlichen Straße von Messina gefangen wurde. Der Chauliodus sloani wurde nach dem aus Irland stammenden Mediziner und Botaniker Hans Sloane (1660-1753) benannt und kommt in Tiefen von bis zu 1.800 Metern in gemäßigten und tropischen Ozeanen vor.
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Abb. 5: Vipernfische (Chauliodus sloani), Alkoholpräparat, Zoologisches Museum Kiel. Mark Dion nutzte 2010 ein Exemplar dieser Tiefseefische als Material für seine Installation »Sea Life« in der Kunsthalle zu Kiel
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durch das Licht erstrahlten.30 Obwohl die Ausstellungsbesucher von den auf diese Weise in hohem Maße ästhetisierten Präparaten angezogen wurden, konnten sie die Meerestiere lediglich in ihrem ausgeblichenen Zustand rezipieren. Hinzu kam, dass der Zugang sowie ein Blick aus der Nähe zunächst durch einen Paravent behindert wurden. In diesen Paravent eingelassen waren kleine Glasrahmen, die ein beidseitiges Studium von Postkarten mit Aquarellen von Meereslebewesen ermöglichten. Während die Zeugnisse der Tiefsee in ihrer Fremdartigkeit, Materialästhetik und Kostbarkeit für die Wissenschaft hervorgehoben wurden, trugen sie jedoch durch keinerlei Beschriftung zur Wissensproduktion beim Betrachter bei und fungierten dadurch umso mehr als »›Bilder‹ ihrer selbst«31. Hingegen waren die Meeresbewohner auf den Postkarten nicht nur bekannter, die Besucherinnen und Besucher konnten durch rückseitige Beschreibungen sogar weiteres Wissen über sie erwerben, darunter beispielsweise die lateinische oder englische Terminologie, Fundorte und -daten sowie die Namen der Personen, die sie aquarelliert haben. Nicht nur Mark Dion persönlich hatte Aquarelle von gesammelten Meerestieren angefertigt und als Postkarte an die Kunsthalle zu Kiel verschickt, er hatte auch andere Personen beauftragt, dies zu tun. Dieses Vorgehen erinnert an dasjenige auf den historischen, naturkundlichen Entdeckungsreisen, bei denen nur in den selteneren Fällen die lebenden Spezies den Weg in die Heimat überlebt haben, weshalb sie vor Ort in natura gezeichnet und so ausschließlich durch Bilder vermittelt wurden.32 Wenngleich es sich bei Dions Postkarten nicht um wissenschaftlich repräsentative Illustrationen handelte, erhielten die subjektiv ausgewählten, aquarellierten Lebewesen mitsamt der rückseitigen Erläuterung im Auge der Museumsbesucher einen höheren Status als Studienoder Forschungsobjekt als die tatsächlichen wissenschaftlichen Zeugnisse. Der Eindruck, dass die Abbilder auf den Postkarten objektiver waren als die Orga-
30 Eine solche Inszenierung ist für naturkundliche Objekte eher unüblich, wenngleich sie jener in der derzeitigen Dauerausstellung »Tiefsee« des Zoologischen Museums Kiel ähnelt, wo die akzentuierende Beleuchtung von Tiefseepräparaten wesentlicher Bestandteil des Ausstellungsdesigns ist. Auch die 2010, also in demselben Jahr wie Dions Kieler Installation eröffnete Alkoholsammlung im Berliner Museum für Naturkunde setzt auf eine ästhetisierende Beleuchtung der Nasspräparate. 31 Rheinberger, Hans-Jörg: Präparate – ›Bilder‹ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Skizze, in: Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik: Oberflächen der Theorie, Bd. 1, 2, Berlin 2003, S. 9-19, hier S. 10. 32 Vgl. Rice, Anthony: Reise nach Jamaika. Sir Hans Sloane, in: ders. (Hg.): Der verzauberte Blick. Das Naturbild berühmter Expeditionen aus drei Jahrhunderten, München 2000, S. 14-55, hier S. 17.
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nismen in den Gläsern, verstärkte sich noch durch ihre naturgetreuere Farbigkeit. Ihre Lebensechtheit stand in Opposition zu den verblassten und deformierten konservierten Kadavern auf dem Sockel. Was durch diese Kontrastierung von ›Lebendigkeit‹ und Tod ebenfalls anklingt, ist die paradoxe Tatsache, dass es auf historischen Expeditionen gängige Forschungspraxis war, Tiere nach dem Fang zu erlegen, um ein detailgetreues Abzeichnen überhaupt erst zu ermöglichen.33 Mit seiner Installation beleuchtete Mark Dion also implizit den Topos vom Zeichnen nach der Natur und die damit verbundenen Fertigkeiten der damaligen Zeichner, die Lebendigkeit der de facto leblosen abzuzeichnenden Spezies imaginieren zu können.34 Indem er »unterschiedliche Verfahren der visuellen Naturaneignung in ihrer historischen Verankerung«35 einander gegenüber stellte, machte er die Wahrnehmung von naturkundlichen Bildern zum eigentlichen Thema dieser Arbeit. Der Paravent mit den farbigen Naturbildern übernahm dabei buchstäblich die Funktion eines Wahrnehmungsfilters zwischen Betrachter und tatsächlichen Naturobjekten. Mark Dion warf so die Frage nach einer angemessenen Übersetzung von Natur ins Bild auf und wies naturkundliche Bilder als Medien mit vielfachen Möglichkeiten, aber eben auch Grenzen in Bezug auf ihre Produktions-, Rezeptions- und Materialästhetik aus.36 Mit der Verschiebung der Naturobjekte aus dem Kontext der naturgeschichtlichen Sammlung in jenen einer Kunstausstellung ermöglichte Dion dem Betrachter anstelle einer konventionellen, rational-begrifflichen Erfahrbarkeit der wissenschaftlichen Präparate eine alternative, vornehmlich subjektive, so dass ihr Anspruch auf Objektivität in dieser Konstellation als fragwürdig erkannt werden konnte. Wie bei jeder Form des Neuarrangierens kam es hier zu einem »transformativen Prozess, in dem etwas Drittes entsteht, dem [...] im Nachhinein Evidenz zuerkannt wird«37. Dadurch dass Dion naturhistorische Objekte wie den
33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Gördüren, Petra: Triebkräfte der Natur. Die Natur als Künstlerin, in: Luckow/ Gördüren: Dopplereffekt (wie Anm. 28), S. 134. 35 Gördüren, Petra: Die Taxonomie des Bildes. Präparate im Werk von Mark Dion, in: Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik: Präparate, Bd. 9, 1, S. 7-17, hier S. 16. 36 Zur Übersetzbarkeit von Natur ins Bild vgl. bes. Gockel, Bettina (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000, Berlin 2011. 37 Siegmund, Judith: Formieren / Arrangieren, in: Badura, Jens/Dubach, Selma, Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/ Rey, Anton/Schenker, Christoph/Toro Pérez, Germán
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Vipernfisch aus dem zoologischen Museumsdepot als künstlerisches Material einsetzte, auf einem Sockel exponierte und mit den Aquarellen in Beziehung setzte, entstand eine Arbeit, die auf komplexe, transdisziplinäre Zusammenhänge verwies. Zugleich wurde das Wissensding temporär zum Kunstding, und zwar genau für die Zeitspanne, in der es im Kunstkontext präsentiert wurde. Neben diesem Perspektivwechsel nahm Dion mit der Kontextverschiebung der Präparate eine allgemeine Kritik an den Präsentations- und Vermittlungsformen von Naturkundemuseen vor, und zwar insbesondere an der Tatsache, dass hochinteressante Praktiken und Fragestellungen im Verborgenen ablaufen, da die Museumsaufgaben des Sammelns, Forschens und Bewahrens in Büros, Laboren und Depots nur allzu oft mit einer Unzugänglichkeit von naturhistorischem Material für die Besucherinnen und Besucher verbunden sind. Darüber hinaus können die Museumsaufgaben des Ausstellens und Vermittelns aufgrund der Größe vieler naturgeschichtlicher Sammlungen zum Bedauern des Künstlers bei weitem nicht auf alle Objekte angewendet werden: »In the case of natural history museums, what you really see on display, which represents 1-10% of the entire collection, is usually remedial pandering equivalent to material in school science textbooks. But there are hundreds of people in the back rooms working with specimens and artefacts, hidden from the public. That’s where the museum is really alive and interesting. They directly adress questions like: what is the function of a collection? Why is it important to name things in the natural world? The museum needs to be turned inside out – the back rooms put on exhibition and the displays put into storage.«38
Ein Jahr nach der Kieler Installation setzte Dion diese bereits 20 Jahre zuvor geäußerte Forderung um. Für seine Ausstellung im Musée océanografique de Monaco mit dem Titel »Oceanomania. Souvenirs des mers mystérieuses. De l’expédition à l’aquarium« platzierte er nicht nur zwölf seiner in den 20 Jahren zuvor entstandenen und auf das Meer bezogenen Werke wie Flamingo (2002) und The Tar Museum (2006) oder den Paravent der Kieler Sea Life-Installation
(Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015, S. 139-142, hier S. 140. Vgl. auch dies.: Die Evidenz der Kunst, Bielefeld 2007, S. 89-91. 38 Kwon, Miwon: Miwon Kwon in conversation with Mark Dion, in: Corrin, Lisa Graziose/ders./Bryson, Norman (Hg.): Mark Dion, London 1997, S. 6-33, hier S. 18. Auf dieses Ungleichgewicht machte Dion ebenfalls 2010 mit der Ausstellung »The Marvelous Museum: A Mark Dion Project« im Oakland Museum of California aufmerksam, in der er beispielsweise die Taxidermie eines Babyelefanten aus dem Depot präsentierte. Vgl. Erickson: Into the Field (wie Anm. 4), S. 21.
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Abb. 6: Installationsansicht von Mark Dions »Oceanomania, cabinet de curiosités pour le Musée océanographique de Monaco«, 2011 zwischen den naturhistorischen Exponaten in den Sammlungssälen, er beförderte auch bisher selten oder noch gar nicht ausgestelltes Depotmaterial in den Hauptsaal. Erneut widmete sich der leidenschaftlich mit der Unterwasserflora und -fauna verbundene Künstler damit einem meereskundlichen Thema. Nachdem das wissenschaftliche Interesse für die Ozeane im 19. Jahrhundert auch die populäre Begeisterung und Imagination beflügelt hatte, was insbesondere mit Jules Vernes 1870 erschienenem Science-Fiction-Roman Vingt mille lieues sous les mers (20.000 Meilen unter dem Meer) einen Höhepunkt fand, legte Fürst Albert I. (1848-1922) 1899 den Grundstein für das Museum. Dieser wurde nicht nur ›prince navigateur‹ genannt, sondern brachte als Ozeanbegeisterter auch zahlreiche Objekte von seinen Expeditionen nach Monaco und trug damit eine reichhaltige, aber naturgemäß uneinheitliche Sammlung zusammen. Zwischen 1957 und 1988 wurde das Museum von Jacques-Yves Cousteau (1910-1997) geleitet, dem Pionier der Meeresforschung und des Unterwasserfilms, den Mark Dion 2015 als »a great hero of mine«39 bezeichnet hat.
39 Mark Dion: »Troubleshooting and Mischief-Making«, Keynote Vortrag im Spencer Museum of Art, University of Kansas, anlässlich der Tagung »Hybrid Practices in the arts, sciences, & technology from the 1960s to today«, 18. Februar 2015, https:// www.youtube.com/watch?v=wGMbmguPtg8 [Stand: 12. Juli 2017], Min. 51:55.
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Ein Jahr lang begab sich der Künstler auf eine ›Expedition‹ in die unterirdischen Depots, Labore, Werkstätten und die Bibliothek auf der Suche nach bedeutsamen oder selten gezeigten meereskundlichen Objekten. Mit diesen maritimen Fundstücken bestückte er unter Mitgestaltung der Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ein gigantisches Kuriositätenkabinett von fast 18 m Länge und 10 m Höhe, also insgesamt 180 m2 Schaufläche (Abb. 6). Sogar einen historischen Kabinett-Schrank fand er im Depot und verwendete ihn als Präsentationsform für dieses Werk mit dem Titel Oceanomania, cabinet de curiosités pour le Musée océanographique de Monaco. Wieder wurden – wie in Kiel – Meerestiere in Präparatgläsern in Szene gesetzt, jedoch dieses Mal zusammen mit einer Vielzahl weiterer Naturalien aus dem Meer und Artefakten wie Gemälden, ozeanografischen Instrumenten und sämtlichen wissenschaftlichen Publikationen des Museums seit seiner Eröffnung im Jahr 1910. Die Exponate unterschiedlichster Herkunft wurden von links nach rechts entsprechend ihrer Nähe zur Natur und hin zur Nähe zur Kultur aufgestellt sowie von unten nach oben nach ihren Dimensionen geordnet, wobei die großen Objekte aufgrund der besseren Sichtbarkeit ganz oben platziert wurden. Von einem kleinen Konvolut an Fossilien aus einer bis dato ungeöffneten Schachtel über Korallen und Taxidermien von Seehunden und Eisbären bis hin zu historischen Fangnetzen, Modellen von Expeditionsschiffen wie Cousteaus Calypso oder dem ledernen Taucheranzug des Mechanikers Karl Heinrich Klingert (1760-1828) aus dem Jahr 1797 setzte Dion die Objekte so neu miteinander in Beziehung: »Collectionner, archiver et classer, en tant que méthode scientifique, il déplace et transfère les artefacts et traduit les phénomènes dans un contexte nouveau, où ils perdent leur fonction initiale, se libérat pour une réflexion critique.«40 Diese Objektwand erinnert in ihrer medialen Überwältigung des Betrachters durch ein »Bild der unendlichen Menge«41, an die 2007 eröffnete Biodiversitätswand im Berliner Museum für Naturkunde, wobei in Monaco nicht nur Re-
40 Basta, Sarina/McAllister, Jackie: Exposition et Expédition. Le Musée comme Objet et Les Manœuvres Sous-marines de Mark Dion, in: Oceanomania. Souvenirs des mers mystérieuses. De l’expédition à l’aquarium. Un projet de Mark Dion, Ausst.-Kat. Villa Paloma-Nouveau Musée National de Monaco/Musée océanographique de Monaco, London 2011, S. 147-160, hier S. 160. Zu den ausgewählten Exponaten und einer detaillierten Gesamtansicht der Wand vgl. die Abb. in dem hier genannten Katalog, S. 155 u. das Video: IKS Medienarchiv: Mark Dion – Monaco 2011 (wie Anm. 5) 41 Te Heesen, Anke: Das Bild der unendlichen Menge, in: Hennig, Jochen/Andraschke, Udo (Hg.): Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin, München 2010, S. 88-93, hier S. 90.
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präsentationen von Natur vertreten waren, sondern auch Artefakte unterschiedlichster Sparten, was Dion eine vollkommen andere, von Taxonomien unabhängige Ordnungsstrategie ermöglichte. Darüber hinaus übertraf die monegassische Wand (18 x 10 m) die Berliner Wand (12 x 4 m) in ihren Ausmaßen bei Weitem. Aus der visuellen Vernetzung der Vielzahl an Exponaten in ihrer räumlichen Anordnung entstand nicht nur ein dreidimensionales, »plurales Bild« mit neuen Sinnpotentialen, »eine neue, mehrteilige ›Konfiguration‹ mit eigener Bedeutung«42, sondern auch die Sichtbarmachung einer spezifischen Sammlungsgeschichte meereskundlicher Wissensdinge mit einer gleichzeitigen Orts- und Funktionsverschiebung von Depotgut in Ausstellungsmaterial.
D ER INTERDISZIPLINÄRE U RSPRUNG N ATURKUNDEMUSEEN
VON
K UNST -
UND
Mit dem riesigen Kabinettschrank in Monaco ließ Dion explizit die historische Ausstellungspraxis der Kunstkammern und Kuriositätenkabinette wiederaufleben. Dabei findet sich eine Parallele in den unendlichen Anordnungsmöglichkeiten der Exponate, die stets ein Experimentieren mit der Gesamtkomposition sowie mit den formalen und inhaltlichen Bezügen untereinander zuließen.43 So ist es bezeichnend, dass die Kuratorin Sarina Basta, die Dion bei dem nicht bis ins Detail planbaren Prozess der Einrichtung der Oceanomania-Wand zur Seite stand, ihn als »an artist who experiments curatorially«44 bezeichnet hat. Auch mit der gleichzeitigen Präsentation von Aquarellen (Kunst) und biologischem Material (Natur) in seiner Kieler Installation machte Dion nicht nur auf die unterschiedliche Ästhetik naturkundlicher Bilder und Objekte aufmerksam, sondern zusätzlich auf die historisch verankerte Zusammengehörigkeit von
42 Ganz, David/Thürlemann, Felix: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder, in: dies. (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin 2010, S. 7-38, hier S. 8. Zur Berliner Biodiversitätswand vgl. den Aufsatz von Uta Kornmeier und Georg Toepfer in diesem Tagungsband, wo sich auch eine Abbildung findet. 43 Zu den Ordnungsprinzipien von Kunstkammern vgl. Beßler, Gabriele: Ordnung versus Theatralik? Überlegungen zu den Raum- und Strukturprinzipien der Wunderkammer, in: Natter, Tobias G./Fehr, Michael/Habsburg-Lothringen, Bettina (Hg.): Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung, Bielefeld 2010, S. 31-48. 44 Basta, Sarina: Encountering Daedalus: A Letter to Mark Dion, in: Erickson: Mark Dion (wie Anm. 4), S. 128.
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Kunst- und Naturdingen als Wissensdinge, wie sie in frühneuzeitlichen Kunstund Naturalienkammern betont wurde. Die Auseinandersetzung des Künstlers mit diesen Räumen des Wissens wird in vielen seiner Installationen deutlich, die im Aufbau zwar an diese angelehnt sind, häufig aber zugleich heutige museale Strategien beispielsweise im Hinblick auf die Präsentation und Vermittlung von Exponaten befragen.45 In diesen Vorläufern unserer heutigen Museen, die zunächst nur einem kleinen, elitären Kreis zugänglich waren, wurden Naturalien und Artefakte gemeinsam ausgestellt. Ihr Erscheinen ging nach der Wiederentdeckung antiker Werke im 15. Jahrhundert wie der Naturalis historia Plinius des Älteren mit einer Renaissance der Naturkunde einher. Es waren Präsentationen des Wissens ihrer Besitzer, die eine Kultur des Sammelns, Ordnens und Studierens von Naturobjekten vorantrieben.46 Ausgelöst durch das Bedürfnis, sich Wissen anhand von Naturalien anzueignen, die zum Teil aus fernen Ländern stammten, stieg die Zahl dieser Sammlungen in Europa zwischen 1550 und 1700 an. Wenngleich der Prozess des Sammelns häufig subjektiv geleitet war, wurde er zur Grundlage der naturhistorischen Erfassung der Welt. So wundert es nicht, dass neben Kunstdingen (artificialia) und Kuriosem (meraviglia) das große Feld der Naturdinge (naturalia = mineralia, vegetabilia, animalia) stets in beeindruckender Weise vertreten war, was diese Sammlungen zu wichtigen Instrumenten der Naturerkenntnis machten. Zum Beispiel brachte die Beobachtung von Fossilien die Erkenntnis, »dass die Natur über eine Geschichte bzw. die Fähigkeit verfügte, sich selbst neu zu formen«47. An diesen Wissensorten legten Naturforscher von Ulisse Aldovrandi (1522-1605) bis Carl von Linné (1707-1778) die Verfahren und Kriterien fest, nach denen Natur organisiert werden sollte. Linnés taxonomisches System, womit Sammlungsexponate genauer beschriftet und geordnet werden konnten, wurde zum Vorbild. Im 18. Jahrhundert etablierte sich allmählich eine Trennung von Natur- und Kunstsammlungen, und das Sammeln erfolgte nun systematischer und zielgerichteter. Im Laufe des 19. Jahrhundert wichen die Natursammlungen vollständig den Na-
45 Dazu zählen u. a. folgende Installationen: Cabinet of Curiosities for the Wexner Center for the Arts, Columbus, Ohio, 1997, Cabinet of Curiosities, Weisman Art Museum, Minneapolis, Minnesota, 2001, oder Universal Collection: A Mark Dion Project, The Frances Lehman Loeb Art Center, New York, 2016. 46 Vgl. Felfe, Robert/Lozar, Angelika (Hg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006. Te Heesen, Anke/Spary, E. C. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. 47 Findlen: Die Zeit vor dem Laboratorium (wie Anm. 20), S. 201; vgl. auch S. 191.
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turgeschichtsmuseen, die als »wertvolle Quelle wissenschaftlicher Forschung, Lehre, aber auch der Unterhaltung«48 mit eigenständigen Strategien der Präsentation ihrem öffentlichen Bildungsansatz nachkamen.
M EDIENKONKURRENZ Während Mark Dion mit der monegassischen Kunstkammerabwandlung historische und zeitgenössische museale Bewahrungs- und Ausstellungstechniken thematisierte, spielte er mit den Aquarellzeichnungen der Kieler Installation auf die historische Rolle naturkundlicher Bilder sowie auf das unterschiedlich geartete Potenzial der verwendeten Bildmedien im Hinblick auf die Wissensvermittlung an. Naturkundliche Zeichnungen wurden spätestens seit den großen frühneuzeitlichen Entdeckungsfahrten zur unverzichtbaren Vermittlungsinstanz. Insbesondere wenn es um die Darstellung von exotischen Pflanzen und Tieren ging, die die Leser von Kompendien und Enzyklopädien aufgrund der Entfernung nicht selbst in Augenschein nehmen konnten, trugen Zeichnungen zum »Entstehen eines Weltbildes im vorfotografischen Zeitalter«49 bei. Sowohl Naturforscher als auch Künstler der Frühen Neuzeit übten sich neben dem Beobachten und Beschreiben besonders im präzisen Zeichnen von Naturdingen, um zur Sicherung von Wissen beizutragen: »Die piktoriale Wiedergabe und Dokumentation von teilweise nur kurzzeitig verfügbaren Objekten [...] waren eine Grundvoraussetzung für die weiterführende Forschung nach der Rückkehr von einer Entdeckungsreise.«50 Zwar existierte bereits seit dem 17. Jahrhundert die Praxis, in der Ferne entdeckte Tiere in Gefäßen mit Alkohollösungen zu verschicken.51 Aber das eigentliche Problem – und damit die Not-
48 Turner: Ausgestopft (wie Anm. 15), S. 33. Zur institutionellen und inhaltlichen Entwicklung naturhistorischer Museen vgl. Lenoir, Timothy/Ross, Cheryl Lynn: Das naturalisierte Geschichtsmuseum, in: Grote: Macrocosmos (wie Anm. 20), S. 875-908, hier bes. S. 875. Vgl. auch Müller-Wille: Naturgeschichte (wie Anm. 8), Sp. 1184, sowie Findlen: Die Zeit vor dem Laboratorium (wie Anm. 20), S. 191. 49 Gaede, Peter-Matthias: Einleitung, in: Rice: Der verzauberte Blick (wie Anm. 32), S. 8-13, hier S. 9. 50 Altmann, Jan: Pazifische Impulse. Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation, in: Schneider, Ulrich Johannes (Hg): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin/New York 2008, S. 523-532, hier S. 524. 51 Vgl. u. a. Turgot, Étienne-François: Anweisung, wie die verschiedenen Seltenheiten der Naturgeschichte zu sammeln, zuzubereiten, zu erhalten und zu verschicken sind.
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wendigkeit des Zeichnens – bestand in der Unmöglichkeit einer wirklich zufriedenstellenden Konservierung, denn viele der gesammelten Proben ließen sich nicht angemessen haltbar machen, um nach der Heimkehr noch einen objektiven Eindruck vom lebenden Organismus vermitteln zu können. Wie sollte man also von diesen fremden Spezies anschaulich berichten, wenn nicht durch Bilder? Die Naturforscher jener Zeit waren deshalb fast alle auf begabte Künstler oder entsprechende eigene Fertigkeiten angewiesen, um möglichst objektive Darstellungen zu erhalten, solange der Verwesungsprozess noch nicht eingesetzt hatte.52 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch »existierte keine Tradition der Vermittlung oder Veröffentlichung visueller Informationen über das Entdeckte«, und »erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts gewannen wissenschaftliche Interessen entscheidenden Einfluss auf die Planung und Durchführung von Entdeckungsreisen«.53 Belegt sind professionelle Zeichner erstmals an Bord von James Cooks (1728-1779) Südseeexpedition (1768-1771). Wie sehr eine präzise künstlerische Farbgebung zur Abbildungsgenauigkeit und damit zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen konnte, zeigt eine Zeichnung des aus Österreich stammenden Illustrators Ferdinand Bauer (1760-1826), der von 1801 bis 1803 unter Matthew Flinders auf der britischen Investigator die australischen Gewässer bereiste und die angetroffenen Spezies mithilfe eines standardisierten Verfahrens zeichnerisch dokumentierte. Die Akribie, mit der er vorging, um beispielsweise die Farbnuancen einer blauen Schwimmkrabbe (Portunus pelagicus) möglichst differenziert festhalten zu können, äußert sich in den bis zu vierstelligen Zahlen, die jeder Fläche zwischen den feinen Linienvorzeichnungen zugeordnet sind (Abb. 7). »Die Zahlen entsprechen
Nebst einer Anweisung, wie die Bäume, die Pflanzen, die Saamen und verschiedene andere Seltenheiten über Meer zu verschicken sind [...], Nürnberg 1761 (Mémoire instructif sur la manière de rassembler, de préparer, de conserver, et d’envoyer les diverses curiosités d’histoire naturelle [...], Lyon 1758); vgl. Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 193, dort Anm. 3. 52 Vgl. Rice, Anthony: Epilog, in: ders.: Der verzauberte Blick (wie Anm. 32) S. 320. Ein Beispiel für die Schwierigkeit einer lebensnahen Vermittlung ist die Reise Hans Sloanes nach Jamaika, von der er auf der Rückfahrt von März bis Mai 1689 mehrere lebende Tiere mitnahm, darunter einen Leguan, ein Krokodil und eine fast zweieinhalb Meter lange Schlange. Keines der Tiere überlebte die Atlantikpassage. Vgl. ders.: Reise nach Jamaika (wie Anm. 32), S. 17. 53 Altmann: Pazifische Impulse (wie Anm. 50), S. 524.
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Abb. 7: Ferdinand Bauer, Blaue Schwimmkrabbe (Portunus pelagicus), Bleistiftvorzeichnung, 1801-1803
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dabei den gängigen Nummerierungen für damals käuflich erwerbbare Malerpigmente, sodass auch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt mit einer Art sehr elaboriertem ›Malen nach Zahlen‹ die Farben gesetzt werden konnten.«54 Da die Krabbe selbst schon bald nach ihrem Tod verblasst wäre, hätte der Kadaver – zumindest im Hinblick auf seine Farbe – kein objektives Bild mehr abgeliefert. Eine wichtige Zäsur für den Herstellungsprozess naturkundlicher Bilder und zugleich für den Beginn der modernen Meereskunde stellte die ozeanografische Forschungsreise der britischen HMS Challenger unter Kapitän Sir George Nares (1831-1915) und Frank Tourle Thomson (1829-1884) dar, da erstmals an einer Expedition nicht nur Zeichner, sondern auch Fotografen teilnahmen.55 Zwischen 1872 und 1876 sammelte die Besatzung in 240 Schleppnetzzügen Tiere und Proben vom Meeresboden aus bis zu 5.700 Metern Tiefe. Die eingefangenen Spezies wurden sorgsam sortiert, in Gläsern konserviert, etikettiert und später beschrieben. Zwar steckte die Fotografie damals noch in den Anfängen, und wegen der langen Belichtungszeiten konnte an Deck nur Unbewegtes – und damit meist wiederum Lebloses – monochrom in Schwarz-Weiß fotografisch festgehalten werden.56 Aber es war insofern ein wichtiger Meilenstein, als dass zumindest die tatsächliche Gestalt der Lebensformen in ihren Volumina, Proportionen und Kontrasten objektiv dargestellt werden konnte. Dies verdeutlicht auch die 1899 noch auf der Valdivia aufgenommene Fotografie des oben beschriebenen Typusexemplars des Schwarzanglerfisches (Abb. 4). Bewusst hatten sich die Forscher jener Zeit ›objektive‹ Methoden der Bildgebung angeeignet: »Diese neuen Methoden zielten auf Automatisierung: Bilder sollten ›ohne Berührung‹ durch die Hand des Künstlers oder Wissenschaftlers hergestellt werden. [...] Der springende Punkt war weder das Medium noch die Mimesis, sondern die Möglichkeit, Eingriffe
54 Dieses Zitat entspringt dem Textbeitrag von Annette Richter in diesem Tagungsband (S. 111). Zu Ferdinand Bauer siehe auch Watts, Peter/Pomfrett, Jo Anne/Mabberley, David: An Exquisite Eye. The Australian Flora and Fauna Drawings 1801-20 of Ferdinand Bauer, Glebe 1997. 55 Vgl. Rice: Epilog (wie Anm. 52), S. 323. Zu den Entdeckungen der ChallengerExpedition vgl. auch Boetius, Antje/Boetius, Henning: Das dunkle Paradies. Die Entdeckung der Tiefsee, München 2011, S. 72-73. 56 Vgl. Rice, Anthony: Entdeckungen der Tiefsee 1872-1876. Die Fahrt der »Challenger«, in: ders.: Der verzauberte Blick (wie Anm. 32), S. 290-296, hier S. 293.
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auf ein Minimum zu beschränken, in der Hoffnung, ein Bild herzustellen, das nicht von Subjektivität ›verschmutzt‹ war.«57
Wenngleich das automatisierte und damit von der Hand des Forschenden befreite Verfahren der Fotografie »nicht von sich aus objektiv«58 ist, sahen viele Wissenschaftler gerade in den Jahren nach der Challenger-Expedition die Vorteile, die die vom menschlichen Verstand unabhängige, mechanische Methode bereithielt. So lobte man von Seiten der Naturwissenschaften die fotografischen Eigenschaften gegenüber denen von Malerei und Zeichnung: »Die photographische Platte dagegen spiegelt mit unbeugsamer Objektivität die Dinge wider, wie sie wirklich sind, und was auf der Platte erscheint, kann als sicherstes Dokument für die thatsächlichen vorliegenden Verhältnisse angesehen werden.«59 Trotzdem machte die Fotografie die Zeichnung bei der Dokumentation der Challenger-Entdeckungen nicht überflüssig, denn längst nicht alle Arten, geschweige denn ihre natürlichen Farbgebungen, konnten fotografisch festgehalten werden; und schließlich sollten ihre Auswertungen und Beschreibungen möglichst anschaulich und medial einheitlich veröffentlicht werden, was zwischen 1880 und 1895 in Edinburgh in 50 Bänden im Report on the scientific results of the voyage of H. M. S. Challenger erfolgte.
57 Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 46. 58 Trempler, Jörg: Grundriss zu einer historischen Anthropologie der Bilder, in: Feist, Ulrike/Rath, Markus (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 3-18, hier S. 9. 59 Fraenkel, Carl/Pfeiffer, Richard: Mikrophotographischer Atlas der Bakterienkunde, Berlin 1887, S. 1, zit. nach: Daston/Galison: Objektivität (wie Anm. 57), S. 187. 1881 sollte der spätere Nobelpreisträger Robert Koch (1943-1910) in Zusammenhang mit seiner Entdeckung des Milzbranderregers ebenfalls die Faktizität und wissenschaftliche Beweiskraft der Fotografie betonen: »Man vergesse nie, dass das photographische Bild nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück, gewissermaßen ein Document sein soll, an dessen Glaubwürdigkeit auch nicht der geringste Zweifel haften darf.« Vgl. Koch, Robert: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen, in: Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 118, 1, S. 11 u. S. 14., zit. nach: Bredekamp, Horst/Brons, Franziska: Fotografie als Medium der Wissenschaft. Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration, in: Burda, Hubert/Maar, Christa: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 365-381, hier S. 373.
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»Die meisten Illustrationen stammen von wissenschaftlichen Spezialisten, denen Exemplare ganzer Tiergruppen zugeschickt worden waren, oder von Künstlern, die von diesen Spezialisten die Aufträge erhalten hatten. Die Mehrzahl der Abbildungen verdanken wir also Dutzenden von Malern, Kupferstechern und Lithographen, die die ›Challenger‹ nie gesehen haben.«60
Unter ihnen war auch der deutsche Biologe Ernst Haeckel (1834-1819), der 3.500 neue Radiolarien-Arten aus der Tiefsee beschrieb und zeichnete und einige davon zusätzlich 1904 in seinen berühmten Kunstformen der Natur in Leipzig veröffentlichte. Der Akt des Zeichnens verlagerte sich also an das Festland. Da die an Land verschickten Spezies in vielen Fällen bereits an Volumen und Farbintensität verloren hatten, mussten diese Faktoren häufig im Geiste anhand von Beschreibungen ergänzt werden und beruhen somit auf der Vorstellungskraft der Zeichner.61 Im Hinblick auf die Medienkonkurrenz ist es bezeichnend, dass Haeckel sich noch in seinem 1913 erschienenen Bildband Die Natur als Künstlerin geradezu rechtfertigte, weshalb seine Zeichnungen objektiv seien: »Die starren, festen Formen dieses Gebildes [der Radiolarie Histriastrum boseanum, Anm. d. Verf.] kann man mit dem Zeichenapparat ebenso genau wiedergeben wie es die beste Photographie vermag.«62 Da gerade im Verlauf des 19. Jahrhunderts Objektivität zur epistemischen Tugend und wissenschaftlichen Norm erhoben wurde, stellt sich nicht nur in diesem Fall die Frage, wie objektiv beide Bildmedien – Fotografie und Zeichnung – das naturkundlich und wissenschaftlich wertvolle Anschauungsmaterial tatsächlich wiederzugeben vermochten. Kann die Übersetzung von Natur ins Bild durch eine Zeichnung, also Menschenhand, ein wirklich objektives Bild ergeben? Und kann die Fotografie des 19. Jahrhunderts ohne die Fähigkeit, die natürliche Farbigkeit zu vermitteln, als objektiv bezeichnet werden? Fest steht, dass Bilder die Natur nie ersetzen können.63 Und selbst die konservierten Vipern- und Schwarzanglerfische, die in ihrer biologisch-genetischen Qualität und dreidimensionalen ›Anwesenheit‹ den beiden anderen Medien zwar voraus sind, machen deutlich, wie stark die Verschmutzung durch menschliche Konservierungsmaßnahmen an diesen Artefakten abzulesen ist. Ohne jegliche Berührung und Einwirkung kam hingegen die Kamera eines ferngesteuerten Fahrzeuges aus, mit deren Hilfe Forscher des kalifornischen
60 Rice: Entdeckungen der Tiefsee (wie Anm. 56) S. 296. 61 Vgl. Hermannstädter/Heumann/Pannhorst: Fisch und Wissensding (wie Anm. 19), S. 14. 62 Haeckel, Ernst: Die Natur als Künstlerin, Berlin 1913, S. 13-14. 63 Vgl. Trempler: Grundriss (wie Anm. 58), S. 3-18, hier S. 5.
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Monterey Bay Aquarium Research Institute 2014 zufällig erstmals einen lebenden Schwarzanglerfisch in seinem natürlichen Lebensraum in rund 580 Metern Tiefe filmen konnten. Ohne das Tier zu stören, dokumentierten sie neben seiner Fortbewegung, seiner Atmung und seinem Verhalten auch seine tatsächliche Farbgebung, die übrigens vielmehr einem dunklen Braun als einem Schwarz gleicht und somit der Illustration August Brauers (Abb. 2) äußerst nahe kommt.64 Es liegt, was diese Aspekte betrifft, also ein höherer Informations- und Wahrheitsgehalt des heutigen Unterwasserfilms gegenüber den anderen Medien vor. Eine annähernd objektive Erfahrbarkeit der Natur kann folglich genau dann erreicht werden, wenn man sich an den Anfang der Abbildungskette begibt, also die zu untersuchenden Spezies lebend und in ihrem natürlichen Kontext noch einmal selbst beobachtet, – von der Schwierigkeit der medialen Vermittlung dieser Eindrücke einmal abgesehen. Eine solche Selbsterfahrung im Sinne einer ›subjektiven Objektivierungsmaßnahme‹ suchte Mark Dion bei mehreren seiner Projekte.
E IN K ÜNSTLER
ALS
N ATURFORSCHER
Von einer ernsthaften Neugierde geleitet, schlüpft Dion – wenn auch stets spielerisch-experimentierfreudig – gerne selbst in die Rolle des Naturforschers, der außerhalb des Labors Feldforschung betreibt. Dabei scheint dem Künstler viel daran zu liegen, den Herkunftsort seiner erwählten Untersuchungsobjekte zu erkunden und mit eigenen Sinnen zu erfahren. So tauchte Dion beispielsweise 2010 zusammen mit dem Museumsdirektor des Musée océanographique de Monaco, Robert Calcagno, und ehemaligen Mitgliedern des Teams von JacquesYves Cousteau 30 Meter tief, um die Unterwasserwelt vor Monacos Küste unmittelbar in Augenschein zu nehmen.65 1991 verbrachte der Künstler für seine Arbeit On Tropical Nature drei Wochen im Regenwald von Venezuela in der Nähe von Caracas am Orinoco, wo er
64 Vgl. Lee, Jane J.: Schwarzanglerfisch: Monster aus der Tiefsee. Kalifornische Forscher untersuchen erstmals einen lebenden Schwarzanglerfisch, http://www.nationalgeographic.de/tiere/schwarzanglerfisch-monster-aus-der-tiefsee [Stand:12. Juli 2017]. Das beeindruckende Originalvideo ist abrufbar unter MBARI: The anglerfish: The original approach to the deep-sea fishing, https://www.youtube.com/embed/VqPMP9X-89-o [Stand: 12. Juli 2017]. Trotzdem wurde das Tier danach eingefangen und unter lebensraumähnlichen Bedingungen untersucht, aber schließlich freigelassen. 65 Vgl. Basta/McAllister: Exposition et Expédition (wie Anm. 40), S. 151.
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auf sich allein gestellt war und nur gelegentlich von einem Fotografen besucht wurde. Dort sammelte Dion verschiedenste Proben, darunter Erde, Samen, Insekten, kleine Reptilien, Pflanzen und Vogelnester.66 Als Vorbild für dieses aufwendige Projekt dienten ihm die reisenden Naturforscher der Expeditionen des 19. Jahrhunderts, die für ihr Streben nach Wissen oft mehrere Jahre unter widrigen Bedingungen an unbekannten Orten verbrachten. Das Sammeln vor Ort erfolgte damals nach keinem logischen Schema. Und auch bei Dions Form der Materialbeschaffung handelte es sich um Zufallsfunde. Alles, was seine Aufmerksamkeit erregte, wurde von ihm als naturkundlich wertvoll erachtet. Auf den Aspekt der Zufälligkeit naturkundlichen Sammelns wies der Kurator James Meyer Anfang der 1990er Jahre hin: »Der Prozeß des Aufbaus einer Sammlung bleibt an subjektive Bedingungen gebunden. Wenn es an einem Tag, als Charles Darwins Schiff The Beagle auf einer bestimmten Insel landete, geregnet hätte, dann hätte dies seine Sammlungen [...] beeinflußt.«67 Am Ende einer jeden Woche kam ein Boot zu vorher mit Dion verabredeten Punkten, um eine Kiste mit Naturalien abzuholen, die daraufhin nach Caracas geschickt wurde, um dort in der Sala Mendoza ausgestellt zu werden. Nicht etwa der Künstler, der sich schließlich noch im Urwald aufhielt, sondern das Personal des Ausstellungsortes öffnete die Boxen und entschied, in welcher Anordnung die zusammenhanglosen Objekte ausgestellt werden sollten. Dies geschah auf drei Tischen, während auf einem vierten abschließend die Hilfsmittel des ›Naturfoscher-Künstlers‹ exponiert wurden, darunter Schmetterlingsnetze, Schaufeln, Gefäße, Notizbücher und Karten. Mit diesem Instrumentarium fand zusätzlich zu dem Material aus der Natur auch der Verweis auf die Handlungsdynamik naturkundlichen Sammelns Einzug in den White Cube. Ein Jahr später, 1992, recycelte der Künstler diese Fundstücke für eine der drei Installationen seiner Nature Bureaucracies, die er für die Galerie American Fine Arts Co. in New York, anfertigte. Dort richtete Dion drei fiktionale Forschungseinrichtungen ein. Meist mit einem Laborkittel bekleidet, bearbeitete er
66 Vgl. zu diesem Projekt: Leslie, John: Among the Naturalists, in: Natural History and Other Fictions (wie Anm. 6), S. 8-11. Vgl. auch Corrin, Lisa Graziose: Mark Dion’s Project: A Natural History of Wonder and a Wonderful History of Nature, in: dies./Kwon, Miwon/Bryson, Norman (Hg.): Mark Dion, London 1997, S. 36-87, hier bes. S. 63-64. Vgl. auch Erickson: Into the field (wie Anm. 4), S. 27-30. 67 Meyer, James: Was geschah mit der institutionellen Kritik?, in: Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Ausst.-Kat. Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1993, S. 239-256, hier S. 247.
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einen Monat lang Naturmaterialien mit drei unterschiedlichen Methoden, wobei die Besucher ihn beobachten konnten. Der erste Arbeitsplatz erhielt den Titel The NY State Bureau of Tropical Conservation. Hier öffnete Dion die Kisten mit den Proben aus Venezuela erneut und begann, jedes Blatt und jeden Schmetterling einzeln in säurefreiem Papier zu verpacken und mit einer Inventarnummer zu versehen. Mit diesem Vorgehen ahmte er einerseits das eines Restaurators im Kunstmuseum nach, andererseits spielte er auf Praktiken historischer Naturforscher an, für die das Beschriften und Ordnen ein Versuch der Rückgewinnung von Kontrolle über das scheinbare Chaos in der Natur war, dem sie im Dschungel gegenüberstanden.68 Die Ordnungsstrategie, die Dion verfolgte, verlief allerdings im Vergleich zu den herkömmlichen naturkundlichen sehr unkonventionell, beispielsweise nach Größe oder Beschaffenheit der nun zu Objekten gewordenen Naturalien. Durch ihre vor dem Zerfall schützenden Verpackungen wurde den Ausstellungsbesuchern der unmittelbare Zugang zum Inhalt verwehrt, was jedoch zugleich Raum für Interpretationen ließ und die Schwierigkeit einer objektiven bildlichen Vermittlung von dekontextualisierten oder in Depots unzugänglich gemachten Gegenständen noch betonte: »[...] something has been put into a condition where it will never rot but it will also never be seen.«69 Auf diese Weise sind Naturdinge unmittelbar zu Kunstdingen geworden, ohne jemals Wissensdinge gewesen zu sein. Das zweite ›Büro‹, The Upper West Side Plant Project, widmete Dion der Pflanzenwelt. Hierfür sammelte er sein botanisches Material jedoch nicht mehr im ursprünglichen Kontext, sondern auf den Märkten von New Yorks Upper West Side in Manhattan zwischen der 110. und 111. Straße. Einen Teil der Pflanzen hatte Dion während der Ausstellungsphase gepresst und auf Herbarienblätter geklebt, was als spezifisch naturhistorisches Vorgehen im Gegensatz zur Form der Beschaffung steht. Obwohl die in den Herbarien archivierte Natur eine gekaufte und folglich von konventionellen naturkundlich relevanten Forschungsorten entrückte ist, entstanden so Präparate, die durchaus als Wissensobjekte bewertet werden können.70
68 Vgl. Corrin: Mark Dion’s Project (wie Anm. 66), S. 54. Vgl. auch Kwon, Miwon: Unnatural Tendencies. Scientific Guises of Mark Dion, in: Natural History and Other Fictions (wie Anm. 6), S. 38-41, hier S. 41. 69 Mark Dion: Vortrag zur Tagung »Contemporary Cabinets of Curiosity« im Nasher Sculpture Center, Dallas, Texas, 27. Januar 2013, https://www.youtube.com/watch? v=FnH3UocF2Sk&t=2701s [Stand: 12. Juli 2017], Min. 16:00. 70 Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 17), S. 8.
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Auch für den dritten Arbeitsplatz mit dem Titel Department of Marine Animal Identification of the City of New York (China Town Division) machte Dion sich nicht etwa in einem natürlichen Lebensraum auf die Suche. Die Meerestiere, die das Thema dieses Raumes darstellten, kaufte er kurzerhand auf einem Fischmarkt in der New Yorker Canal Street: »This was an expedition five blocks over to New York City’s Chinatown where for four hours I collected every fresh sea creature I could get my hands on.«71 Diese Praxis des Erstehens von Forschungsmaterial auf Märkten – also an vollkommen naturfernen Fundorten – wurde schon von historischen Expeditionen überliefert sowie als gängige Methode von Tierpräparatoren, wie der Zoologe und Präparator William Hornaday 1891 anschaulich darlegte: »Während meiner gesamten Sammlertätigkeit ist es mir noch nie passiert, daß es sich nicht ausgezahlt hätte, Fischexemplare von professionellen Fischern zu kaufen, anstatt selbst zum Angler zu werden. [...] Sei der erste auf dem Fischmarkt, wenn der Tagesfang gelandet wird; [...], und so wirst du als erster die Möglichkeit haben, die ansehnlichen Haie, Rochen und Rhinobati etc. zu kaufen, bevor sie grausam zerteilt und stückchenweise verkauft werden.«72
Im Anschluss an seinen aufgrund des selbstgesetzten Zeitlimits und des unvorhersehbaren Tagesangebots von vielen zufälligen Faktoren abhängigen Kauf machte Dion es sich zur Aufgabe, die unterschiedlichen auf Eis gelegten Fische direkt im Ausstellungsraum anhand von Bestimmungsbüchern zu identifizieren, was teilweise auch gemeinsam mit Besucherinnen und Besuchern geschah. Daraufhin begann er, die Tierkörper einzeln in Gläser mit Alkohol einzulegen sowie die so entstandenen Präparate entsprechend mit englischem und lateinischem Namen zu beschriften und wie in einer naturkundlichen Sammlung in
71 Mark Dion: Vortrag zur Tagung »Contemporary Cabinets of Curiosity«, Min. 16:59. Zu dieser Arbeit vgl. auch Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 196-200. 72 Hornaday, William: Taxidermy and Zoological Collecting. A Complete Handbook for the Amateur, Taxidermist, Collector, Osteologist, Museum-Builder, Sportsman, and Traveller, London 1891, zit. u. übersetzt nach: Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 197; vgl. auch S. 199. Der Künstler Damien Hirst kaufte 1991 für seine Arbeit Isolated Elements Swimming in the Same Direction for the Purpose of Understanding ebenfalls Fische, und zwar auf dem Billingsgate Market in London. Vgl. LangeBerndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 193.
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Abb. 8: Mark Dion, Department of Marine Animal Identification of the City of New York (Chinatown Division), 1992 einem Metallschrank zu platzieren (Abb. 8).73 Die Assoziation mit dem Depot eines Naturkundemuseums verstärkt sich angesichts einer Fotografie, die Dion an eine Pinnwand über seinem Arbeitstisch geheftet hatte. Wie bei den darauf abgebildeten wissenschaftlich relevanten Nasspräparaten, die teilweise gekrümmt in ihrem Glas fixiert sind, da größere Meerestiere nicht immer von der Länge oder Breite her exakt in die Gläser passen, fanden sich auch bei Dions Präparaten vergleichbare Stauchungen der Fischkörper.74
73 Vgl. Corrin: Mark Dion’s Project (wie Anm. 66), S. 65, u. Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 199. 74 Vgl. Lange-Berndt: Gespräch mit Mark Dion, 27. Februar 2004; vgl. dies.: Animal Art (wie Anm. 1), S. 201, dort Anm. 33. De Buffon beklagte schon 1752 die ästhetischen Nachteile von zu engen Gläsern, da diese eine natürliche Körperstellung der Tiere verhinderten. Vgl. de Buffon, Georges Louis Leclerc: Allgemeine Historie der Natur (wie Anm. 9), 2. Teil, Hamburg/Leipzig 1752, S. 123. Vgl. auch Lange-Berndt: Ani-
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Abb. 9: Frans Snyders und Antonis van Dyck, Fischmarkt (Zinsgroschen?), 1621 Zudem verhinderte die Anordnung der Gläser im Regal in beiden Fällen die Sicht auf manchen der konservierten Organismen. Hat man die Gelegenheit, die Pinnwand im Nachhinein anhand einer hochauflösenden Digitalaufnahme genauer zu studieren, so wird deutlich, dass sie mit ihrem Bildmaterial heterogener Herkunft und Thematiken als komplexes Verweissystem diente, das vielfältige Lesarten der Arbeit zulässt: Neben einer Karte von New York, auf der Dion den ›Fundort‹ seines ›Forschungsmaterials‹ markiert hatte, zeigte sie zum Beispiel eine Reproduktion des Gemäldes Fischmarkt (Zinsgroschen?), das 1621 als Gemeinschaftsarbeit des Tier- und Stilllebenmalers Frans Snyders (1579-1657) und Antonis van Dycks (1599-1641), der die Figuren malte, entstanden ist und sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet (Abb. 9). Die Berge dargebotener Meerestiere auf jenem frühneuzeitlichen Markt verwiesen in diesem neuen Kontext auf das Überangebot von Fischmärkten und weckten trotz der dargestellten Artenvielfalt und der dazwischen liegenden Jahrhunderte die Assoziation an die Überfischung der Meere. Weiterhin korrespondierte ein Greenpeace-Sticker mit dem Aufruf »Save the Dolphins« aus den 1970er Jahren mit einer großen Karte Amerikas, auf der mit farbigen Nadeln an den Küsten der Grad der Schadstoffbelastung im Wasser gekennzeichnet war. Eine von Dion angeheftete Legende zeigte Indizien für eine ökologische Bedrohung von Meerestieren auf: »High levels of toxic chemicals in fish livers – PCB or pestizide contamination – Areas of oxygen depletion – Areas in which more than one-third of acreage is closed to commercial shellfish harvest«.
mal Art (wie Anm. 1), S. 201, Anm. 33. Zudem werden die Formen der Tierkörper durch die Rundung der Gläser optisch verzerrt.
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Eine Schwarz-Weiss-Abbildung von Damien Hirsts Arbeit Isolated Elements Swimming in the Same Direction for the Purpose of Understanding (Left) von 1991, für die der Künstler ebenfalls Fische in Alkohol konserviert hatte, sie aber in eckigen Behältnissen und jeweils mit dem Kopf nach links weisend präsentierte, nahm direkten Bezug auf eine darunter hängende Abbildung von Fischmodellen unterschiedlicher Spezies, wie sie samt Bestimmungslegende in Naturkundemuseen zu finden sind. Im Gegensatz zu Hirsts und Dions einzeln eingelegten Tierkörpern schienen sie in unterschiedlichen Abständen zueinander frei im Wasser zu schwimmen und zeigten so eine weitere Möglichkeit der Anordnung von Fischen im Ausstellungskontext auf. Zeitungsausschnitte von dem aus einer U-Boot-Luke kletternden JacquesYves Cousteau, Cartoons von miteinander diskutierenden Fischkundlern oder eine Comicdarstellung von ›Aquaman‹ öffneten Verbindungslinien zu populärwissenschaftlichen Dimensionen und der Faszination, die von der Entdeckung unbekannter submariner Welten ausgeht. Für Mark Dion war aufgrund des bevorstehenden Verwesungsprozesses der Meerestiere Eile geboten. Ihre taxonomische Bestimmung war nach seiner Aussage ein sehr forderndes Unterfangen, da er kein Biologe oder gar Ichthyologe ist und ihm zudem die tatsächliche Herkunft der gekauften Tiere vollkommen unklar war: »this isn’t the artist taking on the mantle of scientific truth. This is someone really struggling with something and really struggling with a discipline«.75 Der Künstler bewegte sich bewusst zwischen zwei in Opposition zueinander stehenden Polen: Einerseits hatte er sich das Ziel gesetzt, sich streng an die Normen der Taxonomie zu halten, was er durch ein postkartengroßes Portrait Carl von Linnés an der Pinnwand noch betonte.76 Andererseits war seine Vorgehensweise zugleich geprägt von einem amateurhaften, fast schon dilettantischen Ansatz, der ein langsames Herantasten an ein Ergebnis ebenso wie Fehlurteile zuließ: »It’s also an important part of the project that I do not assume a role of mastery. I’m not the master marine biologist [...]. At certain times, people come in and see that I don’t have the mastery over what I’m doing.«77
75 Mark Dion: Vortrag zur Tagung »Contemporary Cabinets of Curiosity« (wie Anm. 69), Min. 16:53. 76 Vgl. Lange-Berndt, Petra: Gespräch mit Mark Dion, 27. Februar 2004, zit. nach: dies.: Animal Art (wie Anm. 1) S. 199, Anm. 31. 77 Dion, Mark: Confessions of an Amateur Naturalist: A Discussion with Miwon Kwon, James Marcovitz and Helen Molesworth, in: Documents 1, no. 1/2, Herbst/Winter 1992, S. 37 u. S. 44, zit. nach: Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 293, Anm. 32.
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Indem Dion die Praxis des Einlegens von Fischkörpern in Alkohol in die Kunst transferierte, nahm er eine künstlerische Aktualisierung dieser historischen Präparationstechnik vor.78 Bei diesem Werkteil lässt sich zudem eine Abwandlung der im Regelfall zu beobachtenden Reihenfolge ›Naturding – Wissensding – Kunstding‹ im Hinblick auf den jeweiligen Status der präparierten Organismen feststellen, wobei die Übergänge sich fließend gestalteten. So waren die bereits gefangenen und getöteten Meerestiere als Naturdinge auf dem Markt von vornherein ihrem Lebensraum entrückt, und das Sammeln gestaltete sich weitaus weniger zeit- und kostenintensiv. Die auf Eis gelegten Fische erhielten schon unmittelbar mit ihrer Lieferung in die Ausstellung als Bestandteil der Arbeit den Status von Kunstdingen, und erst mit der abschließenden Etikettierung machte der Künstler sie zu Wissensdingen. Für Dion stand eindeutig der performative Prozess dieser drei Arbeiten mit ihren unterschiedlichen Materialgeschichten und methodischen Ausrichtungen im Vordergrund, also die Abfolge von Sammeln, Klassifizieren und Bewahren, die zugleich (pseudo-)wissenschaftlichen und experimentellen Charakter besitzen sollte: »I’m more interested in using a method where you begin with a general idea of what might happen, but your hypothesis can be disproven in the process. Even if that means you fall flat on your face and end up doing the opposite of what you’re interested in, that’s part of the project.«79 Dies mag ein Grund sein, weshalb Dion seine ›Büros‹ mit sämtlichen Arbeitsmaterialien als Hinweise auf deren Entstehungsgeschichten ausstellte. Obwohl es sich bei der Beschaffung seines ›Forschungsmaterials‹ um eine vom Tagesangebot der Märkte abhängige oder wie im ersten Werkteil um eine zufällig in der Natur angetroffene Konstellation handelte und folglich um ein ganz und gar nicht systematisches Sammeln, inszenierte der Künstler sein Vorgehen als ein wissenschaftliches. Dies unterstrich er durch das Tragen des Laborkittels in den verschiedenen Arbeitssituationen, denen wiederum allein durch ihren Aufbau und die verwendeten Instrumente und Utensilien ihrerseits eine Wissenschaftsästhetik anhaftete. In dem Bewusstsein, dass Wissenschaft aber gerade nicht uneingeschränkt objektiv ist, spielte Dion mit ihrer Objektivität evozierenden Wahrnehmbarkeit: »Science of course is supposed to be objective and we know that there’s a lot of problems with that, but of course one of the
78 Die Aneignung dieser Techniken im Kunstkontext stieg in den 1990er Jahren sprunghaft an. Vergleichbare Arbeiten finden sich zum Beispiel bei Nikolaus Lang, Damien Hirst oder Tony Oursler. Vgl. Lange-Berndt: Animal Art (wie Anm. 1), S. 193. 79 Dion: Confessions of an Amateur Naturalist (wie Anm. 77), S. 43, zit. nach: Erickson: Into the Field (wie Anm. 4), S. 15.
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things looking at science as an artist is you realize that science has an aesthetic.«80 Erst bei längerer Beobachtung seiner Bestimmungsversuche beispielsweise konnten die Besucher erkennen, dass diese Wissenschaftlichkeit eine vorgetäuschte war. Vielmehr stellte Dion mit seiner »Wissenschaftsmimikry«81 den Status sowohl des Forschers als auch des Künstlers grundsätzlich zur Disposition,82 da er auf diese Weise etablierte naturkundliche Methoden und vermeintlich objektive Setzungen befragen konnte.
K ÜNSTLER UND HISTORISCHE P ERSÖNLICHKEITEN N ATURGESCHICHTE
DER
Die Auseinandersetzung Dions mit der ›Geschichte der Naturgeschichte‹ erfolgte auch auf einer weiteren Ebene: In mehreren Werken bezog sich der Künstler auf historisch faktische Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts wie den Mitbegründer der Paläontologie und vergleichenden Anatomie Georges Cuvier (17691832), den britischen Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823-1913) oder den US-amerikanischen Botaniker Henry Perrine (1797-1840). Was diese für die Naturgeschichte bedeutsamen Personen gemeinsam haben, sind ihre zum Teil sehr tragischen Lebensläufe, die ihrem Streben nach Wissen über die Natur geschuldet sind. Den Künstler interessierten ihre Motivationen, sich an unwirtlichen Orten unvorhersagbaren Gefahren auszusetzen oder gar ihr Leben zu riskieren. Dieses Dilemma formulierte Dion wie folgt: »[...] what was thought to be observation of life was actually the study of death.«83 In seinen Arbeiten thematisierte er die Aktivitäten, Arbeitsweisen und Schicksale dieser Naturkundler.
80 IKS Medienarchiv: Mark Dion – Monaco 2011 (wie Anm. 5), , Min. 2:40. 81 Gördüren: Taxonomie (wie Anm. 35), S. 11. 82 Vgl. Holert, Tom: Künstlerische Forschung. Anatomie einer Konjunktur, in: Texte zur Kunst 82, 2011, S. 38-63, hier S. 55. 83 Kwon, Miwon: In conversation with Mark Dion (wie Anm. 38), S. 22. Die Tragik von Alfred Russel Wallace beispielsweise bestand darin, dass er unabhängig von Darwin eine Evolutionstheorie entwickelte, jedoch langsamer und intuitiver arbeitete als dieser, so dass Darwin ihm mit der Veröffentlichung zuvorkam und die gesamte Anerkennung erntete. Zudem sank Wallace’ Schiff und damit ein Teil seiner Sammlung. Dion thematisierte Wallace’ Arbeitsweise in seiner Installation The Delirium of Alfred Russel Wallace (1994). Vgl. Molesworth, Helen: The Delirium of Alfred Russel Wallace, in: Natural History and Other Fictions (wie Anm. 6), S. 30-33. Zu der in Dions
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Im Fall von Dr. Henry Perrine bildete Dion sogar einen fingierten Teil von dessen meeresbiologischen Forschungen nach und begab sich dafür in eine vergleichbare Arbeitssituation. Perrine beschäftigte sich mit der medizinischen Wirkung der tropischen Flora, während und nachdem er als Konsul in Campeche (Mexico) stationiert war. Sein Anliegen war es, die dort entdeckten Tropenpflanzen in den USA anzubauen. Außerdem war er einer der ersten, der die Pflanzenwelt Floridas sammelte, dokumentierte und erforschte. Damit er eine botanische Forschungsstation aufbauen konnte, wurde ihm in den Florida Keys (India Key) in Süd-Florida Land zur Verfügung gestellt. Am 7. August 1840 endeten seine Bemühungen jedoch abrupt, als Seminolen ihn ausraubten und ermordeten. Sein Haus wurde in Brand gesteckt, so dass auch der Präparatschrank verbrannte, in dem er seine gesamte Sammlung an Pflanzen, Samen und Wurzeln sowie all seine Aufzeichnungen zur Forschungsarbeit der letzten Jahre auf der Insel verwahrt hatte. Lediglich einige wenige Blätter mit gepressten Meeresalgen blieben in einer angesengten Mappe, deren Verbleib unbekannt ist, erhalten.84 Der wissenschaftliche Wert von solchen historischen Herbarien ist nicht zu unterschätzen, denn eine Herbarpflanze kann, so der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, »jederzeit als solche reaktiviert und zum Gegenstand neuer Studien gemacht werden. [...] Sie ist damit ein auf Vorrat gehaltenes Epistemologicum par excellence.«85 Das Schicksal von Henry Perrine und insbesondere von seinen für die Wissenschaft ausgelöschten Erkenntnissen inspirierte Dion zu seinem Herbarium Perrine (Marine Algae), das er 2006 im Pérez Art Museum in Miami ausstellte. Die Idee für dieses Herbarium rührte aus Dions Imagination zu der Frage, was sich wohl in Henry Perrines Schrank an Wissen und Wissensdingen befand, und was genau die verschollene Mappe beinhaltete. Es besteht aus Algen, die der Künstler an den Küsten Floridas sammelte, zwischen Papier presste und drei Wochen lang trocknen ließ. Dann klebte er sie auf Papiere, die er zuvor per Hand mit Tee eingefärbt hatte, um ihnen ein entsprechend altes Aussehen zu ge-
Zitat ebenfalls impilizierten gewaltsamen Aneignung von Naturdingen durch die Forschenden vgl. auch den Artikel von Isabelle Schwarz in diesem Tagungsband. 84 Zum Leben Henry Perrines sowie zu seinen Forschungen vgl. Staff, G. S.: Mark Dion and graphicstudio, https://graphicstudiousf.wordpress.com/2015/04/30/mark-dion-and graphicstudio/ [Stand: 12. Juli 2017]. 85 Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologica: Präparate, in: te Heesen, Anke/Lutz, Petra (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln 2005, S. 65-75, hier S. 70.
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Abb. 10: Mark Dion, Herbarium, 2007-2011 ben.86 Durch diese Form der ›Wiederherstellung‹ auf der Grundlage echter Meeresalgen ist Dions Herbarium Perrine sowohl ein imaginiertes als auch ein faktisches Wissensding. Diese Algensammlung wurde zum Ausgangspunkt für die zwischen 2007 und 2010 entstandene Folge Herbarium, für die sieben der Herbartafeln in einer Auflage von 20 Stück gedruckt wurden (Abb. 10). Eine Filmsequenz von art:21 zeigt den Künstler, wie er für das Herbarium Perrine gesammelte, gepresste und auf großformatigen Papieren fixierte Meeresalgen durchblättert.87 Der Betrachter erhält dabei einen Eindruck von Dions Arbeitszimmer in Pennsylvania, das bezeichnenderweise anmutet wie das eines Naturforschers aus dem 19. Jahrhundert, der darin unterschiedlichste Wissensdinge aufbewahrt und exponiert. Vogeltaxidermien und Skelette, ein Nasspräparat, historische Stiche, Karten und Folianten finden sich dort. Dieses Sammel-
86 Zum Herbarium Perrine siehe Flannery, Maura C.: Visualization in Biology: An Aquatic Case Study, in: Ursyn, Anna (Hg.): Knowledge Visualization and Visual Literacy in Science Education, S. 101-121, hier S. 116. Siehe auch Staff: Mark Dion and graphicstudio (wie Anm. 84). 87 Art:21: Mark Dion. Herbarium Perrine (Marine Algae), https://art21.org/watch/extended-play/mark-dion-herbarium-perrine-marine-algae-short/ [Stand: 12. Juli 2017].
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surium von Natürlichem und Menschengemachtem erinnert einerseits an frühneuzeitliche Kunst- und Naturalienkammern, andererseits ist es Beweis für die intellektuelle Auseinandersetzung des Künstlers mit diesen Objekten und naturhistorischen Themen. Seine Bibliothek enthält sowohl historische als auch kritische Texte über die Entwicklung von Museen, über Naturwissenschaft und Naturgeschichte.88 An diesem Ort werden Wissensdinge nicht nur bewahrt, beforscht und präsentiert, in diesem Miniaturmuseum über die Geschichte des Sammelns und Interpretierens von Naturobjekten werden all diese Tätigkeiten auch explizit durch entsprechendes Handeln des Künstlers praktiziert und zum Thema dieses Arbeits- und Wissensraumes erhoben.
K ÜNSTLERISCHE N ATURFORSCHUNG Der Kunstwissenschaftler Tom Holert zählt Mark Dion zu jener Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die Arbeits- und Verfahrensweisen nutzen, welche er als »recherchebasierte Kunst« oder »künstlerische Forschung« (im Englischen artbased research oder artistic research) bezeichnet.89 Dieser zunächst in sich widersprüchliche Begriff geht davon aus, dass Kunst das Potenzial besitzt, eine forschende und somit Wissen und Erkenntnis generierende Praxis zu sein: »Im beginnenden 21. Jahrhundert wird vielmehr beansprucht, dass Kunst forschend sein kann in dem Sinne, dass sie originäres Wissen erzeugt und damit dasjenige tut, was traditionell den Wissenschaften zugeordnet war. Diese neue und zugleich heftig umstrittene Korrelation von Kunst und Wissenschaft hat auch damit zu tun, dass die kritische Selbstreflexion der Wissenschaften seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur These führte, dass wissenschaftliche Erkenntnisproduktion keineswegs allein das Ergebnis selbsttransparenter, objektivierbarer Verfahrensweisen ist, sondern wie künstlerische Praxis
88 Vgl. Corrin: Mark Dion’s Projects (wie Anm. 66), S. 38. 89 Vgl. Holert: Künstlerische Forschung (wie Anm. 82), S. 45. Ein konkretes Beispiel in Dions Werk nennt Holert an dieser Stelle jedoch nicht. Zu den unterschiedlichen Begriffen, die in diesem Zusammenhang aufgetreten sind, siehe auch Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hg.): Kunst und Wissenschaft, München 2007, sowie Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin 2009. Als Überblicksdarstellung siehe Badura et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 37).
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auch wesentlich durch Intuition und Kreativität oder Praktiken des Experimentierens und des ›impliziten Wissens‹ geprägt sind.«90
Forschung und Wissenschaft charakterisiert der Soziologe und Philosoph Bruno Latour (geb. 1947, Beaune) sogar als gegensätzliche Pole: Während Wissenschaft sich von Emotionen und Leidenschaften entfernt wissen möchte, um Objektivität zu erzeugen und Debatten zu beenden, sei Forschung gerade an Kontroversen und einer Leidenschaft gegenüber dem Untersuchungsgegenstand interessiert.91 Latour zeigt auf, dass Forschung nicht ausschließlich rational und objektiv ist und infolgedessen nicht zwangsläufig innerhalb der Wissenschaften angesiedelt sein muss. Forschung in der Kunst und durch Kunst ist demnach durchaus möglich. Adaptionen naturkundlicher Arbeitsmethoden wie sie Mark Dion mit On Tropical Nature, den Nature Bureaucracies und seinem Herbarium Perrine praktiziert hat, zeugen von einem solchen leidenschaftlichen, künstlerischen Forscherdrang. Aber anders als bei konventioneller wissenschaftlicher Forschung, spielte für den Künstler auch die Suche nach Erkenntnissen eine Rolle, die auf einer (selbst-)erfahrbaren Welterfassung beruhen und nicht in begrifflich repräsentierbarer Form zu erschließen oder gar für andere nachzuvollziehen und zu vermitteln sind. So strebte Dion beim Department of Marine Animal Identification of the City of New York (China Town Division) mit der Benutzung von Bestimmungsbüchern sowie mit der Benennung und Etikettierung verschiedener Meeresspezies vordergründig eine objektivierbare, rational-begriffliche Erkenntnis an, zusätzlich jedoch auch eine komplementär operierende intuitive, »sinnliche Erkenntnis«92. Diese Form der Erkenntnis wurde Dion allein schon durch das Berühren seiner Forschungsgegenstände, der Meerestiere, zuteil. Dies gilt auch für die vielgestaltigen Reize, die die Herkunftsorte der Objekte für Dion bereithielten, sei es beim Sammeln der Meeresalgen an den Küsten Floridas oder der Naturmaterialien im Dschungel Venezuelas. Der Kulturphilosoph Jens Badura schlägt in Anlehnung an die von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) in dessen Aesthetica von 1751 dargestellten Theorie der »Wissenschaft von der
90 Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke: Warum ein Handbuch zur künstlerischen Forschung?, in: dies. et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 37), S. 9-16, hier S. 9. 91 Vgl. Latour, Bruno: From the World of Science to the World of Research?, in: Science 280, 1998, S. 208-209. 92 Zum Begriff der ›sinnlichen Erkenntnis‹ siehe Badura, Jens: Erkenntnis (sinnliche), in: ders. et al.: Künstlerische Forschung (wie Anm. 37), S. 43-48, hier bes. S. 46.
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sinnlichen Erkenntnis« vor, die Komplementarität dieser beiden Erkenntnisformen als »traditionelle Dichotomien intuitiv versus diskursiv, sinnlich versus rational oder objektiv versus subjektiv nicht als Entgegensetzung, sondern als Ergänzung zu denken«93. Erkenntnisproduktion sei schließlich ein »Zusammenspiel vielfältiger Praktiken der Welterschließung«94. Ausgehend von den hier vorgestellten Beobachtungen zu Mark Dion als exemplarischem Künstler kann darauf geschlossen werden, dass künstlerische Forschung im Hinblick auf den Wissenskomplex Naturgeschichte gültige Perspektivierungen von Verfahrensweisen und Erkenntnisformen zur Disposition stellt. Häufig wenden sich diese ›Künstler-Naturforscher‹ materialbasierten und prozessorientierten Arbeitsweisen zu und entwickeln eigenständige Formen von Forschung, Experiment und Analyse, die jenseits der empirischen Logik der Wissenschaften liegen können, aber nicht müssen. Hybride Praktiken, wie sie Mark Dion betreibt, können dabei zu einem wichtigen Erkenntnisinstrument werden. Nicht selten befragen forschende Künstlerinnen und Künstler – neben ihrem eigenen Status – etablierte Forschungsmethoden und Objektivitätsansprüche, und im Gegensatz zu Naturhistorikerinnen und Naturhistorikern oder Kuratorinnen und Kuratoren sind sie in der Lage, ihre Fragen an die Naturgeschichte sowie an ihre Methoden und Institutionen auf sehr eindrückliche Weise zu visualisieren. Sie übertragen ihre sowohl rational als auch sinnlich erfassten Erkenntnisse über Natur- und Wissensdinge in die spezifische Ausdruckssprache der Kunst und stellen so vielfältige neue Zusammenhänge her, die bei entsprechender Bereitschaft anderer Disziplinen auch für jene wertvolle Erkenntnismomente bereithalten können. Wenngleich nicht alle Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich mit Naturgeschichte auseinandersetzen, künstlerische Forschung betreiben, so entwerfen sie doch stets alternative Lesarten dieses Wissensgebie-
93 Badura: Erkenntnis (sinnliche) (wie Anm. 92), S. 46. Jens Badura nimmt auf S. 44-46 Bezug auf: Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik, Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern, hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2009, Bd. 1, § 1-2. Siehe auch Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a. M. 1985, S. 306-307. 94 Badura: Erkenntnis (sinnliche) (wie Anm. 92), S. 46. Was die Bedeutung der Imagination im Erkenntnisprozess betrifft, so kommt Sabine Wettig zu dem Schluss, dass diese einen wesentlichen Anteil daran haben kann und »die Erfahrbarkeit des Denkens« gewährleiste. Siehe Wettig, Sabine: Imagination im Erkenntnisprozess. Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der Bildmedien. Eine anthropologische Perspektive, Bielefeld 2009, S. 176.
M ARK D IONS HYBRIDE P RAKTIKEN UND DIE N ATURGESCHICHTE DES M EERES
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tes und seiner Objekte und eröffnen ungewöhnliche Sichtweisen auf naturkundliche Sammlungs-, Ordnungs- und Ausstellungspraktiken.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Bleistift, Tinte, Tusche, 18,8 x 14,8 cm. Die 1765 gedruckte Version ist im Band XIII, Tafel 52, S. 414 der Histoire Naturelle génerale et particulière von Georges-Louis Leclerc de Buffon zu finden. Quelle: gallica.bnf.fr, Bibliothèque Nationale de France, Paris Abb. 2: Illustration aus: Brauer, August: Die Tiefsee-Fische I. Systematischer Teil, Tafel 15, 1-2, in: Chun, Carl (Hg.): Wissenschaftliche Ergebnisse der Deutschen Tiefsee-Expedition auf dem Dampfer »Valdivia« 1898-1899, Bd. 15, Teil 1, Jena 1906 Abb. 3: Museum für Naturkunde, Berlin, Fischsammlung: ZMB PISC 17688 (Foto: Carola Radke – Museum für Naturkunde Berlin, 2013) Abb. 4: Unbekannter Fotograf, das Originalfoto befindet sich im Museum für Naturkunde Berlin Abb. 5: Diese beiden Exemplare wurden 1925 in der östliche Straße von Messina gefangen, Zoologisches Museum Kiel, Inv.-Nr.: Pi 493, Foto: Jutta DrabekHasselmann Abb. 6: Abrufbar unter: https://www.oceano.mc/photos_site/137103061.jpg Abb. 7: Naturhistorisches Museum Wien, aus: Rice: Der Verzauberte Blick (wie Anm. 32), S. 223 Abb. 8: In Chinatown gesammelte Meerestiere, Tür, Metallregal, blauer Laborkittel, Dimensionen variabel. Courtesy the artist and Tanya Bonakdar Gallery, New York Abb. 9: Öl auf Leinwand, 253 x 375 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 383, gemeinfrei, abrufbar unter: www.khm.at/de/ object/90599c8fdd/ [Stand: 12. Mai 2017] Abb. 10: Courtesy the artist and Tanya Bonakdar Gallery, New York
Gerhard Richters »Erster Blick« im Kontext nanotechnologischer Visualisierungen H UBERTUS B UTIN
Am 26. Juli 2000 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein erstaunlicher Artikel unter dem Titel »Erster Blick in das Innere eines Atoms«.1 Der kurze Text ist mit einer schwarz-weißen Abbildung illustriert, die sehr verschwommene, weitgehend undefinierbare Flächen in starkem Hell-Dunkel-Kontrast zeigt. Der Artikel erklärt, dass es sich um ein Bild handelt, das erstmals inneratomare Strukturen sichtbar macht. Das Motiv stellt die Elektronenwolken eines einzelnen Siliziumatoms dar. Elektronen sind negativ geladene Elementarteilchen, die die Atomhülle um den winzigen Atomkern bilden. Kurz vor dem Erscheinen des Zeitungsartikels hatte die Forschergruppe um die Physiker Franz Josef Gießibl von der Universität Regensburg und Jochen Mannhart von der Universität Augsburg ihr Experiment in der Zeitschrift Science veröffentlicht.2 Unter der FAZ-Abbildung ist das Wort »Foto« zu lesen; bedeutet dies, dass man Atome mittlerweile visuell wahrnehmen und fotografieren kann? Atome sind aufgrund ihrer geringen Größe selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht wahrnehmbar. Die Größe eines Menschen verhält sich zu der eines Atoms wie die Größe der Erde zu einem Stecknadelkopf. Typische Atomdurchmesser liegen zwischen 0,1 und 0,3 Nanometer, wobei ein Nanometer einem milliardstel Meter
1
Anonym: Erster Blick in das Innere eines Atoms, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
2
Giessibl, Franz J./Hembacher, Stefan/Bielfeldt, Hartmut/Mannhart, Jochen: Subato-
Beilage Natur und Wissenschaft, Nr. 171, 26. Juli 2000, S. 3. mic Features on the Silicon (111)-(7x7) Surface Observed by Atomic Force Microscopy, in: Science, Bd. 289, Nr. 5478, 21. Juli 2000, S. 422-425, hier S. 425.
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Abb. 1: F. J. Gießibl, S. Hembacher, H. Bielefeldt, J. Mannhart: Elektronenwolken eines Siliziumatoms, Computerbild, 2000 entspricht. Die Visualisierungsstrategien der Wissenschaftler haben die Bereiche des sichtbaren Lichts also längst verlassen und haben nichts mehr mit der Physik des menschlichen Sehens zu tun. Wie konnte dann dieses Bild produziert werden? Das Experiment in Augsburg wurde mit einem Rasterkraftmikroskop durchgeführt; fälschlicherweise gibt der FAZ-Artikel ein Rastertunnelmikroskop als Messgerät an. Das eingesetzte Instrument erlaubt es, Oberflächen in atomarer Auflösung darzustellen, weshalb man von Nanotechnologie spricht. Bei der Untersuchung wurde das Halbmetall Silizium mit einer atomfeinen Sonde in einem Rasterprozess Punkt für Punkt abgetastet, wobei die elektromagnetischen Wechselwirkungen zwischen Sonde und der zu untersuchenden Probe gemessen und aufgezeichnet wurden. Ein Computerprogramm rechnete dann die gewonnenen Daten in ein digitales Bild um. Durch dieses bildgebende Verfahren entstand zuerst eine Art topografische Karte der Oberfläche, die zahlreiche Atome in Form von hellen Kügelchen zeigt, welche sich zu gleichmäßigen Strukturen zusammenschließen.3 Doch Gießibl und Mannhart gelang es, sogar in das Innere eines einzelnen Atoms vorzudringen und dessen Elektronenwolken in eine Sichtbarkeit zu überführen (Abb. 1). Da die Positionen der Elektronen nach der Theorie der sogenannten Heisenbergschen Unschärferelation nie exakt zu bestimmen sind, sprechen Physiker grundsätzlich nur von Aufenthaltswahrscheinlichkeiten dieser Teilchen, was nicht zuletzt den Eindruck der Unschärfe des Bildes erklärt. Nicht nur Bildwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker, sondern auch bildende Künstler interessieren sich mitunter für die kritische Reflexion solcher
3
Abb. siehe: ebd., S. 424.
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nanotechnologischen Visualisierungen und ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Definitionsmacht. Als Gerhard Richter den Artikel und die Darstellung in der FAZ entdeckte, musste er als Künstler davon geradezu zwangsläufig fasziniert sein. Entspricht doch die Unschärfe des Motivs dem spezifischen Darstellungsmodus vieler seiner eigenen Gemälde und Druckgrafiken. Seit den 1960er Jahren hat Richter immer wieder einen Rekurs auf eine medial vermittelte Wirklichkeit in Form bereits reproduzierter Bilder unternommen. Die Aneignung und Transformation vorgefundener fotografischer Motive aus Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Lexika und Familienalben geht einher mit einer malerischen, weichzeichnenden Unschärfe in der bildnerischen Repräsentation. Diese Verschleierung oder gar Auflösung der Form entzieht das Motiv in seiner Gegenständlichkeit unserem optischen und erkenntnismäßigen Zugriff und bildet somit für Richter das »Paradigma eines fundamentalen Erkenntniszweifels«4. Bereits 1972 meinte er in einem Interview: »Ich mißtraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität [...]. Ich kann über Wirklichkeit nichts Deutlicheres sagen als mein Verhältnis zu Wirklichkeit, und das hat dann was zu tun mit Unschärfe, Unsicherheit, Flüchtigkeit [...].«5
Gerhard Richter gibt sich hier als Skeptizist, der den Zweifel zum Prinzip des Denkens erhebt und die Möglichkeit einer Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit infrage stellt. Mithilfe des Kölner Lithografen Heinrich Miess ließ der Künstler im Jahr 2000 eine leicht vergrößerte Reproduktion des FAZ-Artikels als Offsetdruck anfertigen (Abb. 2). Diese Druckgrafik hat die Maße 18,2 x 15,1 cm und trägt den Titel Erster Blick.6 Der Text ist nur ausschnittweise wiedergegeben, sodass die Aufmerksamkeit vor allem auf das bildnerische Motiv gelenkt wird. Doch die schriftlichen Angaben und die auch in der Druckgrafik sichtbare lineare Einfassung der Abbildung machen den ursprünglichen Kontext und damit die Herkunft
4
Hentschel, Martin: Die Ordnung des Heterogenen. Sigmar Polkes Werk bis 1986, Diss. Ruhr-Universität Bochum 1991, S. 147.
5
Richter, Gerhard, zit. nach: Schön, Rolf: Interview, in: Gerhard Richter. 36. Biennale
6
Vgl. Butin, Hubertus/Gronert, Stefan/Olbricht, Thomas (Hg.): Gerhard Richter. Editi-
in Venedig. Deutscher Pavillon, Venedig/Essen 1972, S. 23-25, hier S. 24. onen 1965–2013, Ostfildern 2014, S. 283.
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Abb. 2: Gerhard Richter, Erster Blick, 2000
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des Sujets deutlich. Das Papier besitzt einen leicht gelblichen Farbton, wie ihn älteres Zeitungspapier aufweist, und die Schrift der Zeitungsrückseite scheint auch bei der Grafik durch die Fläche durchzuscheinen, da die Rückseite wie bei einer echten Zeitung ebenfalls bedruckt ist. Zudem ist das Blatt ohne abdeckendes Passepartout auf einen Karton montiert, womit der Papiercharakter nochmals betont wird und das Ganze als eine Art FAZ-Fake erscheint. Das Blatt verschleiert demnach seinen eigenen medialen Status als Druckgrafik, da es sich um die perfekte Simulation eines Readymades handelt.7 Es ist also kein Readymade, erscheint aber als solches. Denn Richter sah es nicht als notwendig an, die bildnerische Vorlage maßgeblich zu modifizieren, um sie für den Betrachter im Kunstkontext zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Es wirkt im ersten Moment paradox, dass ein solches nanotechnologisches Motiv wie von Gießibl und Mannhart etwas zeigt, das visuell nicht unmittelbar erfahren, aber trotzdem angeschaut werden kann. Denn es handelt sich nicht um das Abbild einer Erscheinung, sondern um eine Konstruktion, ein computergeneriertes Anschauungsmodell, das seine eigene Realität besitzt. Das Bedürfnis, Atome darstellen zu können, ist verständlich, wird jedoch letztendlich zu einer Aporie, zumal es keine Möglichkeit gibt, das Bild mit dem visualisierten Objekt optisch zu vergleichen und auf diese Weise zu verifizieren. Deshalb plädiert der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger dafür, bei Bildern dieser Art nicht mehr von einer »Repräsentation« zu sprechen, sondern den neutraleren Begriff der »Sichtbarmachung« zu verwenden, denn »Sichtbarmachen kann, muss aber nicht mit Abbilden zu tun haben«.8 Das Motiv der Elektronenwolken erscheint jedoch wie ein klassisches rasterloses Halbtonbild mit weichen Abstufungen der Tonwerte, wie sie auch eine Fotografie aufweist. Ebenso erinnert die Unschärfe unmittelbar an ein stark verwackeltes oder falsch fokussiertes Foto, das dadurch mit einem besonderen, eben fotografischen Geltungsanspruch auftritt. Doch es ist und bleibt eine konstruierte und simulierte Sichtbarkeit, die nur aus medial aufbereiteten Messdaten besteht. Den Physikern selbst ist dies natür-
7
2004 und 2005 folgten mit Silikat und Graphit eine Fotoarbeit und eine Druckgrafik, die ebenfalls auf nanotechnologischen Visualisierungen basieren. Weitere Motive dieser Art finden sich in Zweite, Armin: Die Silikat-Bilder von Gerhard Richter und andere Mikrostrukturen, in: Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der K20/K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Gerhard Richter. Silikat, Düsseldorf 2007, S. 6-63.
8
Rheinberger, Hans-Jörg: Objekt und Repräsentation, in: Heintz, Bettina/Huber, Jörg: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien 2001, S. 55-61, hier S. 57.
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lich bewusst, den laienhaften Betrachtern jedoch sicherlich nicht, zumal unter der Abbildung in der FAZ fälschlicherweise auch noch der Terminus »Foto« angegeben ist. Bei der Bearbeitung solcher atomaren und subatomaren Bilder am Computer fließen traditionelle Darstellungsformen in die Bildgestaltung ein, die wiederum die Interpretation des Visualisierten beeinflussen: Licht, Farbe, Schatten, Plastizität, mitunter auch Perspektive werden von Physikern oftmals als suggestive Mittel eingesetzt, um den Visualisierungen eine größere Anschaulichkeit und einen höheren Realitätsgrad zu verleihen. So wurde etwa das Bild der Elektronenwolken blau eingefärbt, und es mutet nun fast wie eine fotografische Cyanotypie aus dem 19. Jahrhundert an. Wie sehr Bilder aus der Nanotechnologie ästhetisch codiert, ja mitunter manipuliert sind, um das Visualisierte den herkömmlichen Erwartungen und Vorstellungen von einem Bild anzupassen, kann auch mit zwei weiteren Beispielen aufgezeigt werden. Nachdem der Physiker Gerd Binnig 1981 in Rüschlikon bei Zürich zusammen mit Heinrich Rohrer das erste Rastertunnelmikroskop entwickelt hatte, untersuchte er neben Silizium- auch Goldatome. Für die Darstellung der atomaren Oberfläche einer Goldprobe konstruierte er auf der Basis der gemessenen Daten ein Modell aus Papier und Pappe.9 Dabei bemühte er sich, den Eindruck einer plastischen und räumlichen Ausdehnung zu erzeugen, indem er unter anderem mit grauen Bleistiftschraffuren Schatten auf das Motiv zeichnete. Diese artifizielle Bearbeitung macht deutlich, dass solche Visualisierungen letztendlich das zeigen, was sie zeigen sollen. 1989 entstand im kalifornischen IBM Research Center in Almaden bei San Jose ein Bild, das als Ikone der Nanotechnologie in die Geschichte einging. Die Atomphysiker Donald M. Eigler und Erhard K. Schweizer gelang ein sensationelles Experiment: Mit der Abtastspitze eines Rastertunnelmikroskops konnten sie einzelne Xenonatome auf einer Nickeloberfläche nicht nur verorten und visualisieren, sondern auch bewegen und gezielt platzieren. Zur Freude ihres Arbeitgebers ordneten sie 35 Atome zu dem Schriftzug »IBM« an.10 Außerdem verliehen sie den Atomen, die auf dem Bild
9
Abb. siehe: Hennig, Jochen: Die Versinnlichung des Unzugänglichen – Oberflächendarstellungen in der zeitgenössischen Mikroskopie, in: Heßler, Martina (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 99-116, hier S. 106.
10 Vgl. Eigler, Donald M./Schweizer, Erhard K.: Positioning single atoms with a scanning tunneling microscope, in: nature, Bd. 344, Nr. 6266, 5. April 1990, S. 524-526. Siehe auch: Hennig, Jochen: Das Neue im traditionellen Gewand. Zum Wechselspiel
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Abb. 3: Giordano Bruno, Abbildung der kleinsten Bestandteile der Materie, De triplici minimo et mensura, Frankfurt 1591 wie seitlich angestrahlte Perlen auf einer dunklen Fläche erscheinen, jeweils einen Schlagschatten und eine relativ klar umrissene Kugelform. Was der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme über bildgebende Verfahren in den Naturwissenschaften äußerte, trifft auch hier zu: »Wir wollen immer so sehen, wie wir es kulturell gewohnt sind.«11 Denn bemerkenswerterweise sind die kleinsten Bestandteile der Materie bereits Ende des 16. Jahrhunderts in Kugelform dargestellt worden, auch wenn damals Atome natürlich noch nicht bekannt waren. So etwa in Giordano Brunos Buch De triplici minimo et mensura, erschienen 1591 in Frankfurt am Main (Abb. 3). Das Bild von Eigler und Schweizer entspricht also diesen traditionellen Erwartungen, doch physikalisch ist es höchst fragwürdig, da einzelne Atome keinen Schatten werfen und auch keinen so relativ klar erkennbaren Umriss aufweisen können. Die eingesetzte Bilddramaturgie diente nicht zuletzt der populären visuellen Kommunikation der Wissenschaftler mit der Öffentlichkeit. Denn sie publizierten ihre Forschungsergebnisse nicht nur in der angesehenen Zeitschrift nature, IBM benutzte das Motiv auch für eine groß angelegte Werbekampagne (Abb. 4) in Form doppelseitiger Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften. Der außerordentliche apparative Aufwand, den die Physiker betrieben hatten, die extrem schwierigen experimentellen Bedingungen sowie
von Formtradition und Differenz in der wissenschaftlichen Bildpraxis, in: Heßler, Martina/Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 235-257. 11 Böhme, Hartmut: Was sieht man, wenn man sieht? Zur Nutzung von Bildern in den neuzeitlichen Wissenschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 6, 8. Januar 2005, S. 38.
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Abb. 4: IBM, Werbeanzeige in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, 1991
die manipulative Bildgestaltung wurden dabei weitgehend verschwiegen. Die Untersuchung fand bei minus 273 Grad Celsius in einem Hochvakuum statt, wobei das Rastertunnelmikroskop in einem schallisolierten und völlig erschütterungsfreien Raum stehen musste. 2012 konnten die Physiker Andreas Heinrich, Christopher Lutz und ihr Team im selben Labor von IBM in Kalifornien ein weiteres medienwirksames Experiment durchführen. Es gelang ihnen, einzelne Kohlenmonoxid-Moleküle auf einer Kupferoberfläche mehrfach so zu verschieben, dass die Bilder dann zu einem Trickfilm zusammengefügt werden konnten (Abb. 5).12 Man sieht in diesem Film einen Jungen, der mit einem Ball spielt, wobei dieser Ball aus nur einem einzigen Molekül besteht.13 Sowohl in dem atomaren IBM-Schriftzug als auch in dem
12 Vgl. Heinrich, Andreas/Lutz, Christopher/Baumann, Susanne/Rau, Ileana: A Boy and his Atom: The World’s smallest Movie, hg. von IBM, Almaden 2013. 13 https://www.youtube.com/watch?v=oSCX78-8-q0
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Abb. 5: Andreas Heinrich, Christopher Lutz, Susanne Baumann, Ileana Rau, A Boy and his Atom: The World’s smallest Movie, Einzelbild aus dem Film, 2013
Trickfilm konnte geschickt der Eindruck einer schöpferischen Beherrschbarkeit von Atomen suggeriert werden. Dem Betrachter wurde vorgegaukelt, man würde durch die Nanotechnologie über geradezu spielerische Produktionsmöglichkeiten neuer Strukturen verfügen. Der Traum physikalischer Weltbemächtigung scheint hier einen neuen Höhepunkt erreicht zu haben. Die Bilder fanden in unterschiedlicher Form in den Medien große Verbreitung, sodass die Public-Relations-Kampagne des Konzerns aufging. Allein der Trickfilm wurde auf YouTube bis zum Juli 2016 fast sechs Millionen Mal aufgerufen. Dass die Nanowissenschaft das Versprechen auf eine neue industrielle Revolution impliziert und heute als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts gilt – so etwa in den Bereichen Materialproduktion, Computertechnologie, Kommunikation, Medizin, Energie und Ökologie –, findet nicht zuletzt in dem Einsatz derartiger Bilder seine suggestive Unterstützung. Doch es bleibt zu diskutieren, ob die nicht zu vermeidende eigene Realität der Darstellungen mitunter nicht eine Dynamik entwickelt, die sowohl einen fragwürdigen Einfluss auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als auch vor allem auf die Wissensvermittlung in der Öffentlichkeit nimmt. Bei künstlerischen Bildern wissen wir, dass es sich um artifizielle Produktionen handelt, während nanotechnologische Bilder für Laien nicht zu erkennen geben, dass sie auf ästhetisch aufbereiteten Messdaten beruhen. Auch wenn wissenschaftliche Bilder mit dem Nimbus der Objektivität auf-
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treten, spielen ästhetische Kategorien eine große Rolle. Denn wenn nanotechnologische Bilder als Instrumente der Erkenntnisgewinnung und Wissensvermittlung eingesetzt werden, sind Sehgewohnheiten und Darstellungskonventionen konstitutiver Teil der von den Physikern eingesetzten Mittel.14 Wie sehr sich bildende Kunst und das Fach der Wissenschaftsgeschichte in einer repräsentationskritischen Haltung annähern können, zeigen Aussagen Gerhard Richters und des Wissenschaftshistorikers Olaf Breidbach. Letzterer betonte 2006, dass man einem wissenschaftlichen Bild nicht den gleichen Realitätsgrad zusprechen dürfe wie dem zu untersuchenden Objekt und dass eine solche Visualisierung nichts anderes als eine »Interpretationshilfe«15 sei. Nach Breidbachs Meinung kann die Kunst »helfen, die damit geforderte Offenheit des Blickes auch den Wissenschaften zu erhalten«16. Gerhard Richter äußerte in einem ähnlichen Duktus eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus bereits 1962: »Wir können zwar auf das Unsichtbare schließen, also dessen Existenz mit relativer Sicherheit voraussetzen, aber darstellen können wir nur ein Gleichnis, das für das Unsichtbare steht, es aber nicht ist.«17 Die künstlerische Druckgrafik Erster Blick aus dem Jahr 2000 lässt diesen Gedanken besonders anschaulich werden.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: © F. J. Gießibl, S. Hembacher, H. Bielefeldt, J. Mannhart Abb. 2: Offsetdruck auf Papier, 18,2 x 15,1 cm, © Gerhard Richter, Köln, Olbricht Collection, Foto: Jana Ebert Abb. 3: Giordano Bruno: De triplici minimo et mensura, Frankfurt 1591, S. 90 Abb. 4 u. 5: © IBM, Ehningen
14 Siehe z. B. Krohn, Wolfgang: Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg 2006, S. 3-38, hier S. 35. 15 Breidbach, Olaf: Naturbilder und Bildmodelle. Zur Bildwelt der Wissenschaften, in: Hinterwaldner, Inge/Buschhaus, Markus (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 23-43, hier S. 41 u. S. 42. 16 Ebd., S. 43. 17 Richter, Gerhard: Notizen 1962, in: Elger, Dietmar/Obrist, Hans Ulrich (Hg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2008, S. 14-15, hier S. 14.
Zwischen ›Objektivität‹ und Imagination Zur Darstellung von Naturmotiven in der zeitgenössischen X-Ray-Art
A NNE M ARNO
Die vorliegende interdisziplinäre Studie befasst sich mit der Darstellung von Naturmotiven in der zeitgenössischen X-Ray-Art. Sie geht von der Annahme aus, dass die X-Ray-Art Einflüsse aus (Röntgen-)Fotografien und aus Werken der bildenden Kunst, die eine dem Röntgenbild ähnliche Visualität erzeugen, synthetisiert. Am Beispiel der Bilder von Naturobjekten im Werk des Gegenwartskünstlers Nick Veasey (geb. 1962) soll die zeitgenössische X-Ray-Art im Spannungsfeld zwischen ›objektiver‹ fotografischer Reproduktion und künstlerischer Imagination verortet werden. Im ersten Teil wird zunächst in die Technik und Geschichte des Röntgenverfahrens eingeführt. Der zweite Teil stellt den Künstler Nick Veasey, seine Buchpublikation X-ray. See Through The World Around You (2008) sowie seinen spezifischen Umgang mit der Röntgentechnik vor und erläutert die historischen Vorbilder seiner X-Ray-Art.
Z UM M EDIUM
DES
R ÖNTGENBILDS
X-Ray-Kunstwerke stehen im Kontext eines weitreichenden und expandierenden Bereichs in der bildenden Kunst, in dem Künstlerinnen und Künstler Visualisierungen aus technischen Bildern aufgreifen und damit experimentieren. Neben Röntgenbildern haben Röntgenfilme, Computertomografien, Magnetresonanztomografien, Sonografien und andere moderne bildgebende Durchleuchtungsverfahren zeitgenössische Kunstwerke inspiriert. Obwohl es längst neuere Bildgebungsverfahren gibt, geht weiterhin vom Medium des Röntgenbilds eine starke
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Faszination für Künstlerinnen und Künstler aus. Die Darstellung von Naturmotiven in Röntgenbildern ist seit vielen Jahrzehnten populär in der Verbrauchsgrafik, unter anderem in Kalendern sowie auf Postern und Postkarten.1 Bilder dieser Art erfahren heute eine weltweite Verbreitung. Die Entdeckung der Röntgenstrahlung im Jahr 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) revolutionierte die Wissenschaft – die Technik verbreitete sich in kurzer Zeit und fand zahlreiche Anwendungsbereiche. Seit dem Aufkommen der Röntgentechnik ist sie immer wieder mit der Fotografie verglichen worden. Bereits Röntgen erwähnte in seinen Schriften »photographische Aufnahmen«2 nach Exposition fotografischer Trockenplatten mit X-Strahlen. Aufgrund der den Lichtstrahlen vergleichbaren Wirkung der Röntgenstrahlen auf lichtempfindlichen Oberflächen wurde in der Folgezeit häufig von einem »fotografischen Prozess«3 gesprochen. Obgleich anfangs als »Neue Photographie« bezeichnet, unterscheidet sich die Röntgentechnik wesentlich von der Fotografie: Das Röntgenbild ist ein »Summationsbild«, das auf einer Zentralprojektion beruht und Informationen über den Strahlengang enthält, der von einer Kathodenröhre ausgeht und durch den Körper oder das Objekt bis zu einem lichtempfindlichen Bildträger führt.4 Im Gegensatz zur Fotografie liegt der Bildträger hinter dem abzubildenden Objekt.5 Das Röntgennegativ entsteht dadurch, dass die von der Kathodenröhre ausgesendeten Röntgenstrahlen auf den lichtempfindlichen Bildträger treffen und an dieser Stelle die Röntgenplatte schwärzen, wobei der Grad der Schwärzung davon abhängig ist, welche Objekt- beziehungsweise Körperteile die Röntgenstrahlung zu welchem Anteil absorbieren.6 Seit den 1980er Jahren haben digitalisierte
1
Vgl. etwa die Tier- und Pflanzenaufnahmen des niederländischen Physikers Arie vant Riet, http://www.x-rays.nl/ [Stand: 15. Januar 2016].
2
Röntgen, Wilhem Conrad, zit. nach: Dünkel, Vera: Röntgenbild und Schattenbild. Ge-
3
Ebd., S. 103.
4
Vgl. Buschhaus, Markus: Zwischen Büchern und Archiven. Ikonotopische Annähe-
nese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Univ.-Diss., Berlin 2016, S. 103.
rungen an das Röntgenbild, in: Hinterwaldner, Inge/Buschhaus, Markus (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 145-159, hier S. 149. 5
Vgl. ebd., S. 149.
6
Vgl. ebd., S. 150; zu den Weiterentwicklungen des Röntgenverfahrens seit 1965 vgl. Konecny, Ewald: Die Elektrizität in der Medizin, in: ders. (Hg.): Medizintechnik im 20. Jahrhundert. Mechanik–Elektrotechnik–Informationssysteme, Berlin/Offenbach 2003, S. 93-104, hier S. 98, 99.
Z UR D ARSTELLUNG VON N ATURMOTIVEN IN DER ZEITGENÖSSISCHEN X-R AY -A RT
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Röntgenbilder die konventionellen Aufnahmen abgelöst. Im Gegensatz zu früheren Techniken besteht bei den digitalen Bildern ein deutlich höheres Maß an Manipulationsmöglichkeiten. Anwendungsbereiche des Röntgenverfahrens sind heute neben der medizinischen Diagnostik unter anderem auch der industrielle Bereich, etwa die Materialprüfung von Werkstoffen und die Qualitätskontrolle von Nahrungsmitteln, sowie die Sicherheitskontrolle. Seit ihrem Aufkommen im 19. Jahrhundert ist der Fotografie, begründet durch ihren technischen Prozess der Herstellung, häufig eine überzeugende Kraft zugesprochen worden: Sie wurde als Abbildung der Natur verstanden, die Bestehendes und Veränderliches vor dem Verschwinden bewahren konnte:7 Mit der Fotografie entsteht ein »Relikt der Vergangenheit, das objektiv und realistisch sein möchte und gleichzeitig eine Realität präsentiert, die nicht mehr existent ist«8. So schreibt etwa der Philosoph, Literatur- und Kulturtheoretiker Roland Barthes dem Medium der Fotografie eine starke Überzeugungskraft zu.9 Seiner Auffassung entsprechend hat in der Fotografie »das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe«10: »Ohnmächtig gegenüber allgemeinen Vorstellungen (der Fiktion), ist ihre Kraft gleichwohl allem überlegen, was der menschliche Geist zu ersinnen vermag und vermocht hat, um uns der Wirklichkeit zu versichern. […] Jegliche Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz.«11 Neben den mit dem technischen Herstellungsprozess verbundenen Eigenschaften der Fotografie haben auch historische Zuschreibungen zu diesem Medium dazu beigetragen, dass die Fotografie bis in das 20. und 21. Jahrhundert hinein mit Vorstellungen von Objektivität verbunden und ihr eine starke Evidenz zuerkannt wird.12 Fotografien spielten in der rechtlichen Sphäre schon früh eine
7
Vgl. Baacke, Annika: Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation. Objektivität und Ästhetik, Kontinuität und Veränderung im Werk von Bernd und Hilla Becher, Albert Renger-Patzsch, August Sander und Karl Blossfeldt, Univ.-Diss., Berlin 2014, S. 60.
8
Ebd.
9
Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 2012, S. 117.
10 Ebd., S. 99. 11 Ebd., S. 96, 97. 12 Vgl. Geimer, Peter: Einleitung, in: ders. (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 7-28, hier S. 17. Lorraine Daston und Peter Galison geben einen Überblick über verschiedene Definitionen der Objektivität in den Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert. Objektivität
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wichtige Rolle. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten sie Einzug in die Gerichtssäle, wo sie als Beweismaterial herangezogen wurden; seit den 1870er Jahren wurden Fotografien häufig in den juristischen Zusammenhang einbezogen.13 Letztendlich erhielten sie als glaubwürdige visuelle Beweise neben Zeugenaussagen eine besondere Bedeutung und fungierten als selbständige juristische Größen in Zivilprozessen.14 Dabei spielten Röntgenfotografien eine besondere Rolle. Während Fotografien noch durch einen Zeugen beglaubigt werden konnten, entzogen sich Röntgenbilder von vorneherein einem Vergleich mit einer visuellen Sinneserfahrung.15 Nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung im Jahr 1895 wurden erstmals Röntgenbilder des Körperinneren vor Gericht als Beweismittel angeführt: Die Autorität solcher Bilder stand besonders in Prozessen zur Diskussion, in denen medizinische Kunstfehler verhandelt wurden.16 Die Evidenz (röntgen-)fotografischer Bilder wurde so über den wissenschaftlichen Kontext hinaus zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Ärzten, Richtern und Patienten, wobei unterschiedliche Interessen eine Rolle spielten.17 Nicht nur im juristischen, sondern vor allem auch im naturwissenschaftlichen und medizinischen Kontext konnte sich die Fotografie als glaubwürdiges Medium über lange Zeit behaupten: Die Fotografie ist seit der Wende zum 19. Jahrhundert in der Wissenschaft zunehmend als bildgebendes Medium eingesetzt worden; mit ihrer technischen Verbesserung und den nachfolgenden Entwicklungen von Mikroskopen und hochempfindlichen Filmen ergaben sich völlig neue Einblicke in kleinste Organismen und Mikrostrukturen.18 Damit entstanden
wird hier als ein sich veränderndes Konstrukt verstanden, das auf den jeweiligen historischen und kulturellen Kontext bezogen werden muss, vgl. Daston, Lorraine/ Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer: Ordnungen der Sichtbarkeit (wie Anm. 12), S. 29-99; vgl. auch Dünkel, Vera: Röntgenbild und Schattenbild. Zur Spezifik der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen, in: Bredekamp, Horst/ Schneider, Birgit/dies. (Hg.): Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 136-151, hier S. 148. 13 Vgl. Baacke: Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation (wie Anm. 7), S. 29. 14 Vgl. ebd., S. 29, 32. 15 Vgl. Geimer: Einleitung (wie Anm. 12), S. 19. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Orchard, Karin: (Un)Ordnung schaffen, in: dies./Zimmermann, Jörg (Hg.): Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum, Freiburg i. Br. 1994, S. 9-14, hier S. 11.
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neuartige Abbildungen der Natur, die auch bildende Künstlerinnen und Künstler, insbesondere die Surrealisten und ihr Umfeld, nachhaltig beeinflussten.19 In der Medizin hatte der Einsatz der Fotografie eine starke Erweiterung der Forschung, Verbreitung und Dokumentation medizinischen Wissens zur Folge.20 Es entstanden zahlreiche Bilder, Bildarchive und Veröffentlichungen, die dazu beitrugen, das medizinische Wissen zu vermitteln und bekannt zu machen.21 Im Zuge eines Prozesses, in dem den Beobachtungen von Medizinern wachsende Bedeutung zugeschrieben wurde, erhielt die Fotografie einen besonderen Status.22 Sie erzeugte »neue ›Formen der Sichtbarkeit‹, die durch ›die Souveränität des Blicks gekennzeichnet‹«23 waren. Die Fotografie ermöglichte die Dokumentation von Krankheitssymptomen und Forschungsergebnissen sowie deren Weitergabe an Zeitgenossen – an Mediziner und Nicht-Mediziner – und spätere Generationen.24 Sie eröffnete einen neuen Blick auf den kranken Menschen und seine Symptome, deren Abbildungen sich nun auch im Nachhinein analysieren, klassifizieren und vergleichen ließen.25 Die X-Ray-Art vieler zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler bezieht einen Teil ihrer Wirkung auf den Betrachter aus der Kraft des Mediums, die sich durch den technischen Prozess der Herstellung sowie Zuschreibungen zu den Medien Fotografie und Röntgenbild seit dem 19. Jahrhundert erklären lassen. Zugleich fließen künstlerische Imaginationen und in der Kunstgeschichte weit zurückreichende Bildvorstellungen in die Werke ein.26
19 Vgl. ebd., S. 11. 20 Baacke: Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation (wie Anm. 7), S. 35. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Zur Imagination als Bildsphäre vgl. Bredekamp, Horst/Kruse, Christiane/Schneider, Pablo (Hg.): Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010; zum Begriff Imagination vgl. Dewender, Thomas/Welt, Thomas: Einleitung, in: dies. (Hg.): Imagination – Fiktion – Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie, Leipzig 2003, S. 1-12, hier S. 1.
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D IE X-R AY -A RT N ICK V EASEYS Exemplarisch soll im Folgenden der britische Fotograf und Gegenwartskünstler Nick Veasey vorgestellt werden, der seine Kunstwerke international in Galerien präsentiert.27 Er kreiert seine X-Ray-Art überwiegend auf der Grundlage von Röntgenaufnahmen, die er anschließend in einem aufwendigen Prozess bearbeitet.28 Veaseys Buchpublikation X-ray. See Through The World Around You stellt seine erste Sammlung von Röntgenbildern in gebundener Form dar.29 In der Einführung des Buchs nimmt er Stellung zu seinen Intentionen: Das eigentliche Ziel seiner Kunst bestehe in der Enthüllung der inneren Schönheit von Gegenständen, die sich unter deren Oberfläche verberge. Dabei gehe es ihm auch darum, den Betrachter in seinen Sehgewohnheiten zu irritieren und damit den Blick von außen beziehungsweise vom Äußerlichen nach innen auf den wahren Kern, das Wesentliche zu lenken.30 Darüber hinaus artikuliert Veasey eine Gesellschaftskritik. Er versteht seine eigene Praxis des Umgangs mit der Röntgentechnik als Antwort auf die verstärkt praktizierten Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen im Alltag: »This society of ours, obsessed as it is with image, is also becoming increasingly controlled by security measures and surveillance. Take a flight or go into a high profile courtroom and your belongings will be x-rayed. […] Security cameras track our every move. […] To create art with equipment and technology made to help Big Brother delve deeper, to use some of that fancy complicated equipment that helps remove the freedom and individuality in our lives, to use these instruments to create beauty brings a smile to my face.«31
27 Veasey arbeitet heute in seinem Radar Studio in Coldblow Lane, Thurnham, Maidstone in Kent (UK). Er bot zunächst Röntgenfotografien als kommerzielle Dienstleistung im Bereich der Werbung und im Verlagswesen an, bevor er künstlerisch mit der Röntgentechnik zu experimentieren begann, vgl. das Interview der Autorin mit Nick Veasey vom 13. Januar 2016. 28 Vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). 29 Das Buch diente Veasey vor allem dazu, seine X-Ray-Art bekannt zu machen. Die hier gezeigten Röntgenkunstwerke präsentiert er bis heute in Ausstellungen, vgl. ebd. 30 Vgl. Veasey, Nick: X-ray. See Through The World Around You, London 2008, S. 7. 31 Ebd., S. 7.
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Abb. 1: Nick Veasey, Nautilus Shell, 2008 Mit dem Verweis auf Big Brother spielt der Künstler auf den bekannten Roman 1984 von George Orwell (1903-1950) an, die literarische Vision eines totalitär geführten und diktatorischen Überwachungsstaates, in dem die Bürger durch die Parole »Big Brother is watching you« immer wieder an ihre Überwachung erinnert werden.32 Der Roman ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt – viele Visionen Orwells haben sich jüngst realisiert, denkt man etwa an die Enthüllungen Edvard Snowdens und die NSAAffäre. London, wo Veasey im Jahr 1962 geboren wurde, gilt heute als die weltweit am stärksten durch Videokameras überwachte Stadt, und längst haben sich Protestbewegungen gegen diese Überwachung organisiert.33 Am deutlichs-
32 Vgl. Orwell, George: 1984, übersetzt von Michael Walter, hg. von Herbert W. Franke, Frankfurt a. M. 1984 (1. Aufl. 1949). 33 Vgl. etwa die Protestgruppe ›Big Brother Watch‹, Volkery, Carsten: Kameraüberwachung in London. Big Brother sieht sich satt, in: Spiegel online, 20. Juli 2010, S. 1,
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Abb. 2: Nick Veasey, Cimbidium Orchid, 2008
Abb. 3: Nick Veasey, Gramastola rosea, 2008
ten artikuliert Veasey seine Kritik in Röntgenbildern von Gepäckstücken, die er als »airport-style x-ray images of luggage«34 bezeichnet. In der Einleitung seines Buches macht er jedoch deutlich, dass es ihm – nicht nur in diesen Werken – um eine grundsätzliche Kritik an Überwachungsmaßnahmen geht. Veasey gliedert das Werk X-ray. See Through The World Around You in vier Sektionen: »Objects«, »The Body«, »Nature« und »Fashion«.35 Die Sektion »Nature« umfasst digital bearbeitete Röntgenbilder von Früchten, Pflanzen (Laub und Blüten), Tieren (Fledermäuse, Spinnen, Käfer und andere Insekten) und auch von Meerestieren (Fische, Krebse und Korallen). Diese Bilder folgen in drei Abschnitten innerhalb des Kapitels aufeinander. Jedes Naturmotiv beziehungsweise jede Anordnung von mehreren Motiven erscheint im farbigen oder schwarz-weißen Druck auf jeweils einer DIN A4-Seite oder beide Seiten übergreifend (Abb. 1-3).36 In den präsentierten Kunstwerken liegen sehr
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kameraueberwachung-in-london-bigbrother-sieht-sich-satt-a-704269.html [Stand: 5. August 2015]. 34 Veasey: X-ray (wie Anm. 30), Abb. 60-61, S. 212; vgl. zu diesen Werken die Fotoserie Checked Baggage (1975-1987) des Künstlers Timm Ulrichs (geb. 1940). 35 Diese Gliederung wird vom Künstler nicht kommentiert. 36 Im Anhang des Buches befinden sich kurze Kommentare zu den einzelnen Werken, in denen der Künstler auch seine Erfahrungen im Umgang mit den Objekten beschreibt.
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unterschiedliche Stufen der Bearbeitung des ursprünglichen Röntgenbilds vor: Neben anscheinend wenig veränderten Aufnahmen gibt es stark kolorierte Bilder, die kaum mehr an Röntgenaufnahmen, sondern eher an Farbfotografien erinnern. Vor dem Kapitel »Nature« befindet sich ein Text von Veasey, in dem er zu seiner künstlerischen Arbeit mit den dargestellten Objekten und deren Herkunft Stellung nimmt.37 Hier erklärt er, dass es ihm darum gehe, das Eigenleben der Naturgegenstände sowie ihre Vergänglichkeit darzustellen.38 Über die Herkunft der Pflanzen und den Vorbereitungsprozess für das Röntgen schreibt Veasey, dass er diese selbst mit einer Heckenschere schneide und anschließend in seinem Studio solange pflege, bis sie die Zustandsform erreicht haben, die für das Röntgen erforderlich sei.39 Überblickt man das gesamte Buch, so lassen sich wiederkehrende Gestaltungsprinzipien bei der Darstellung von Naturobjekten und von Motiven aus anderen Sektionen des Buches feststellen. Dazu zählen etwa die monochromen Bildhintergründe, die Wechsel von Negativ- und Positivbildern sowie von schwarz- und weißgrundigen Seiten (sodass häufig eine gegensätzlich unterlegte Doppelseite entsteht), die Wechsel von Nah- und Fernsicht, die Präsentation von Objekten auf zentralen Bildachsen und an betonten Stellen (zum Beispiel nahe der Bildmitte), Anschnitte von Gegenständen durch die Bildränder und insbesondere ihr Aufragen am unteren Bildrand.40 Hierdurch erfolgt formal eine Annäherung der Bereiche. Naturmotive sind ähnlichen künstlerischen Gestaltungsprinzipien unterworfen wie Alltagsgegenstände und Modeartikel. Damit verbunden ist, dass sie aus ihrer natürlichen Umgebung isoliert und auf eine sterile Untergrundfläche versetzt werden – Artefakte und Verunreinigungen werden nicht gezeigt. Offenbar ging es Veasey darum, das Segment »Nature« in den Kontext des Buches so einzugliedern, dass insgesamt ein einheitliches Bild der Gestaltung entsteht.
37 Vgl. Veasey: X-ray (wie Anm. 30), S. 113. 38 Veasey kündigt an, dieses Thema in Zukunft weiter auszuführen in »a complete lifecycle of a plant in an x-ray journey«, ebd. 39 Der Künstler berichtet hier von seinen Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Insekten sowie Fledermäusen und dass er die dargestellten Meerestiere und Korallen in Sammlungen und Museen auslieh, vgl. ebd. Im Interview vom 13. Januar 2016 (wie Anm. 27) gibt Veasey an, dass er die Objekte für das Röntgen größtenteils bei der Internetplattform eBay kauft oder auf seinen Reisen sammelt. 40 Vgl. Two Freesias (Iridaceae) aus dem Segment »Nature«, All-metal microphone aus dem Segment »Objects« und The Finger aus dem Segment »The Body«, in: Veasey: X-ray (wie Anm. 30), S. 136, 33, 111.
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Z UM SPEZIFISCHEN U MGANG V EASEYS R ÖNTGENTECHNIK
MIT DER
Mit den Werken des Künstlers liegen keine Röntgenbilder vor, wie sie etwa aus dem medizinischen Bereich bekannt sind.41 Zu Beginn seiner Karriere mietete er die Ausstattung für das Röntgen in einem industriellen Röntgenbetrieb und experimentierte mit dieser Technik; seine Kenntnisse und Fähigkeiten entwickelte er mit Hilfe von industriellen Radiographen.42 Darüber hinaus unterstützten ihn auch Wissenschaftler, und er kooperierte mit dem Fraunhofer Institut in Deutschland.43 Bei seinem Fotografiestudio handelt es sich um eine »umgebaute Radarstation, die Besucher als ›Tschernobyl-ähnlichen Bunker‹ beschreiben«44; es befindet sich auf einem ehemaligen Militärgelände.45 In diesem Studio bearbeitet Veasey die Röntgenaufnahmen am Computer: Die Bilder scannt er auf einem Trommelscanner, sie werden digitalisiert, eingefärbt und optimiert mittels Photoshop.46 Dabei geht es ihm vor allem darum, die Bildqualität und Detailgenauigkeit zu verbessern.47 Die Kolorierung der Bilder erfolgt nicht nach festen Kriterien, sondern unterliegt nach Aussage des Künstlers dem Zufall; mitunter ist sie das Resultat eines experimentellen Vorgehens.48 Im Unterschied zu konventionellen Röntgenaufnahmen verwendet Veasey wesentlich längere Bestrahlungszeiten von bis zu fünf Minuten, abhängig vom Durchmesser des zu durchstrahlenden Gegenstands.49 Ungewöhnlich ist zudem auch die Zusammensetzung
41 Vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). Im Gegensatz zu der in der Forschung vertretenen Auffassung, dass die Bilder in den meisten Fällen in Kooperation mit »Krankenhäusern und wissenschaftlichen Hightech-Laboren« in Großbritannien entstehen (Arackal-Kohlhöfer, Sebastian: X-Man. Portfolio Nick Veasey, in: Photographie 30 (10), Hamburg 2006, S. 90-97, hier S. 90), bestreitet der Künstler selbst eine solche Kooperation, vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Arackal-Kohlhöfer: X-Man (wie Anm. 41), S. 90. 45 Vgl. Hanselle, Ralf: X-Ray Bilder mit Durchblick. Nick Veaseys Röntgenbilder öffnen der Fotokunst völlig neue Dimensionen, in: Fotomagazin 7, Hamburg 2010, S. 116-121, hier S. 120. 46 Vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). 47 Vgl. das Interview der Autorin mit Nick Veasey vom 10. November 2016. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. Hanselle: Bilder mit Durchblick (wie Anm. 45), S. 120.
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von Bildern aus zahlreichen einzelnen Aufnahmen:50 Er durchstrahlt die Objekte abschnittsweise mit dem Röntgengerät und setzt die Aufnahmen anschließend am Computer zusammen.51 Der aufwendige Prozess der Bearbeitung der gescannten Röntgenbilder, bei dem Veasey in jedem Stadium die größtmögliche Perfektion anstrebt, ist zeitintensiv, und es kommt nicht selten vor, dass – besonders bei den Aufnahmen von großen Gegenständen – der Vorgang mehrere Monate in Anspruch nimmt.52 Neben dem Künstler selbst sind vier bis fünf weitere Personen am Gestaltungsprozess beteiligt.53 Im Folgenden werden die Einflüsse aus technischen Bildern und Werken der bildenden Kunst auf die X-Ray-Art Veaseys verdeutlicht. Eine Nachfrage bei dem Künstler im Interview, von welchen Vorbildern er bei der Schaffung seiner X-Ray-Art inspiriert war, ergab überraschende und heterogene Ergebnisse. Als wesentliche Vorbilder nennt der Künstler die floralen Fotografien des Professors für Zahnheilkunde Albert G. Richards (1917-2008),54 Fotografien des amerikanischen Elektroingenieurs und Professors am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge Harold Eugene »Doc« Edgerton (1903-1990),55 den Künstler Man Ray (1890-1976), insbesondere dessen Werk Électricité (1931) neben Pflanzenfotogrammen, Cyanotypien von Algen der Botanikerin Anna Atkins (1799-1871) sowie die englische Op Art-Künstlerin Bridget Louise Riley (geb. 1931). Nicht für alle von Veasey genannten Vorbilder lässt sich in seinen Bildern von Naturobjekten ein deutlicher Einfluss nachweisen. Das historische Feld, in dem Veaseys Arbeiten zu verorten sind, reicht über die von ihm selbst genannten Einflüsse hinaus.
50 Das Verfahren der Zusammensetzung von Röntgenbildern wurde auch in den Jahren nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) praktiziert. 51 Dieses Vorgehen ermöglicht es ihm, große Objekte, zum Beispiel Häuser und Flugzeuge, zu röntgen, vgl. ebd., S. 120. 52 Vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). 53 Sein »studio team« und seine Frau, die mit Ideen zum Prozess beiträgt, Veasey, Interview (wie Anm. 27). 54 Vgl. ebd. 55 Edgerton wurde für seine Erfindung des elektrischen Stroboskops und seine Kurzzeitfotografien bekannt. Unter seinen Fotografien befinden sich Aufnahmen von Naturobjekten, zum Beispiel von Tieren und Früchten.
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H ISTORISCHE V ORBILDER X-R AY -A RT
ZEITGENÖSSISCHER
Florale Stereografien Albert G. Richards Röntgenbilder von Blumen waren die ersten Aufnahmen dieser Art, die Nick Veasey kennenlernte; er begeisterte sich für ihre Kompositionen, ihre zeitlose Eleganz (»timeless elegance«) und die Detailgenauigkeit der Aufnahmen.56 Richards lehrte an der University of Michigan. Seine floralen Röntgenfotografien wurden erstmals im National Geographic Society's School Bulletin (1962) und nachfolgend im Smithsonian Magazine (Oktober 1986) publiziert, dort auch auf dem Cover.57 Im Jahr 1990 veröffentlichte der Herausgeber des Smithsonian Magazine florale Fotografien Richards in einem Buch,58 und Richards selbst publizierte einen Bildband unter dem Titel The Secret Garden. 100 Floral Radiographs.59 Seine Aufnahmen entstanden mit der Stereoradiografie, einer Technik, bei der durch die Kombination von zwei Röntgenfilmen, die jeweils das Objekt aus einem geringgradig veränderten Blickwinkel zeigen, ein einziges dreidimensionales Bild entsteht, das sich durch eine starke räumliche Tiefenwirkung auszeichnet. Frühe Röntgenbilder und Uraniumgrafien Das Vorgehen Veaseys, der in zahlreichen Experimenten nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch Tiere, Pflanzen und andere Objekte durchleuchtet, lässt sich mit der Praxis Wilhelm Conrad Röntgens bei seinen frühen Versuchen unmittelbar vergleichen (Veasey verweist in der Einleitung seines Buches selbst
56 Veasey, Interview (wie Anm. 47). 57 Nach Aussage von Albert Richards erschienen insgesamt 2.400.000 gedruckte Exemplare dieser Auflage, zitiert nach http://www-personal.umich.edu/~agrxray/ history.html [Stand: 15. Januar 2016]. 58 Vgl. Anonym: Editor's choice. Smithsonian. An anthology of the first two decades of Smithsonian magazine, Washington 1990. Vgl. http://www-personal.umich.edu/~agr xray/history.html [Stand: 15. Januar 2016]. 59 Vgl. Richards, Albert G.: The Secret Garden. 100 Floral Radiographs, Ann Arbor 1990. Eine Sammlung seiner Werke befindet sich im Museum of Jurassic Technology in Los Angeles.
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auf sie als historisches Vorbild).60 Bereits für diese frühesten Röntgenbilder gilt, dass Röntgen sie »als Repräsentationen von Innenwelten – und dabei als Einblicke und Enthüllungen – gestaltete und inszenierte«; er erzielte diese Wirkung durch die Auswahl von allgemein bekannten Objekten, vor allem von Alltagsgegenständen, sowie die Selektion von Röntgenbildern, in denen zwischen den dem Betrachter vertrauten Ansichten der dargestellten Gegenstände und deren neuartiger, teilweise verfremdeter Erscheinung im Röntgenbild eine »fruchtbare Differenz« besteht.61 Darüber hinaus verstärkte Röntgen dieses »Prinzip der Erzeugung einer bedeutungsvollen Differenz«62, indem er die Bilder mit Überschriften und Beschreibungen versah. Vera Dünkel fasst die Wirkung der frühen Bilder Röntgens zusammen: »[…] es sind Gestaltungen, die die Imagination in Gang setzen und so erlauben, auch Nutzbarmachungen der neuen Technik in sie hineinzusehen. In dieser Offenheit liegt ihre Wirkungskraft, die auch die Tragweite der Entdeckung ausmacht.«63 Das Röntgen unterschiedlicher Objekte war in der Zeit nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung eine weit verbreitete Praxis. In Frankreich wurden zwischen 1897 und 1899 zahlreiche Röntgenaufnahmen, unter anderem von Tiermumien aus der Sammlung Arthur Radiguets, in Büchern über Röntgentechnik publiziert.64 Auch die Tafeln aus der Mappe Photographien mit Röntgen-Strahlen. Aufgenommen im Physikalischen Verein zu Frankfurt a. M. von Professor Dr. Walter König zeigen Teile von Mumien und kleine Tiere.65 Ähnlich wie Röntgen gingen Joseph Maria Eder und Eduard Valenta bei ihren Aufnahmen von Naturgegenständen vor: Sie röntgten in der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien neben dem menschlichen Körper zahlreiche Tiere, Gesteine und Metalle.66 Die Ergebnisse dokumentierten sie im Jahr 1896 in ihrem Werk Versuche über Photographie mittelst der Rönt-
60 Vgl. etwa Röntgens Aufnahmen der amerikanischen Freiheitsglocke und seines Jagdgewehrs, in: Hennig, Ulrich: Deutsches Röntgen-Museum Remscheid-Lennep, Braunschweig 1989, S. 95, 98. 61 Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 30. 62 Ebd., S. 31. 63 Ebd. 64 Vgl. ebd., S. 38, 40. Das Musée Radiographique Radiguet befindet sich in Paris. 65 Ebd., S. 58. 66 Joseph Maria Eder (1855-1944) war ein österreichischer Fotochemiker; der Tscheche Eduard Valenta (1901-1978) war ebenfalls Chemiker; seit den 1880er Jahren arbeiteten Eder und Valenta zusammen, vgl. ebd., S. 72.
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gen’schen Strahlen.67 Die Blätter dieser Serie gelten als die bekanntesten und eindrucksvollsten Zeugnisse der frühen Röntgenfotografie.68 Sie umfassen neben Darstellungen von inneren Strukturen von Lebewesen (zum Beispiel von Fischen und Fröschen) auch Bilder von Kameen, Metallen und anderen Substanzen.69 Alle Tafeln der Serie enthalten unter dem Bild jeweils eine Unterschrift und die Zeile: »Eder. Valenta. Versuche mit Röntgen-Strahlen«; diese befindet sich jeweils innerhalb eines »eingestanzten Bildraums«, der Rückschlüsse auf die bei der Reproduktion angewendete Tiefdrucktechnik zulässt; da der Druckerschwärze unterschiedliche Farbtöne beigemischt wurden, erscheinen die Tafeln abhängig von den dargestellten Motiven in Tönungen »von gelb-braun über bläulichgelb bis hin zu grünlich-bläulich«70. Eine Besonderheit besteht in der Zusammenstellung von positiven und negativen Darstellungen, wobei die in frühen Röntgenbildern selten vorkommende Negativdarstellung überwiegt.71 Im Gegensatz zu Röntgen wählten Eder und Valenta keine Alltagsgegenstände aus, sondern zum Teil Objekte aus Museen und seltene Tierarten; die Gestaltung zugänglicher und häufig verwendeter Röntgenbildobjekte, wie etwa von Fischen, Fröschen und Schlangen, unterscheidet sich hier durch die Art der Inszenierung grundsätzlich von ähnlichen zeitgenössischen Bildern.72 Zu diesen Inszenierungsstrategien Eders und Valentas zählen etwa die Auswahl kleiner Objekte, die der Größe der fotografischen Negativplatten entsprechen, und die Anordnung von Tieren auf der Platte, die eine Dynamik suggeriert; hinzu kommen die von den Autoren zugefügten Beschreibungen, die auf spezifische Details der Aufnahmen aufmerksam machen.73 Fast alle Tafeln imponieren durch eine »fast plastische Haptik und Schärfe der Darstellung«; die präsentierten Objekte erscheinen harmonisch angeordnet und sind sorgfältig gerahmt.74 Das Ziel Eders und Valentas war es, eine im Vergleich zu Röntgens Aufnahmen deutlich bessere Bildqualität zu erzeugen: »Mit dieser Ästhetik ihrer Tafeln, der technisch er-
67 Eder, Joseph Maria/Valenta, Eduard: Versuche über Photographie mittelst der Röntgenschen Strahlen, Wien 1996. 68 Vgl. Joseph Bellows Gallery: Josef Maria Eder & Eduard Valenta, http://www.joseph ellows.com/artists/josefmaria-eder-and-eduard-valenta/bio/ [Stand: 5. Mai 2016]. 69 Abbildungen finden sich bei Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 68, 69. 70 Ebd., S. 70. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. ebd., zu den Inszenierungsstrategien vgl. S. 70-87, 100. 73 Vgl. ebd., S. 80. 74 Ebd., S. 70, 71.
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zielten, kristallklaren Sichtbarmachung innerer Details, haben Eder und Valenta die Schattenästhetik der Röntgenaufnahmen, wie sie in Röntgens Bildern noch offensichtlich war, überwunden.«75 Schon in diesen frühen Röntgenbildern werden ästhetische Eingriffe deutlich erkennbar. Grundsätzlich waren sie auch mit erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten verbunden, die durch ihre Eigenschaften als Schattenbilder bedingt waren: Sie waren abhängig vom Aufnahmemodus verzerrt; bei der Visualisierung von durchleuchteten Objekten repräsentierten die Graustufen jeweils die Dichtewerte, wobei sich diese durch Überlagerung summierten; aufgrund der Flächigkeit der Darstellungen entstand das Problem der räumlichen Lokalisation, und die durchleuchteten Körper erschienen im Röntgenbild und in Reproduktionen seitenverkehrt.76 Diese Verzerrungen lassen sich größtenteils auch heute noch an Röntgenbildern nachweisen.77 Vorbilder zeitgenössischer X-Ray-Art aus dem Bereich der bildenden Kunst sind Frottagen und Fotogramme. Die Gestaltung von Naturobjekten in Frottagen lässt sich auf Naturselbstdrucke zurückführen. Naturselbstdrucke Frühe Zeugnisse des Naturselbstdruckes sind die Pflanzenabdrücke des Arztes und Naturforschers Johann Scheuchzer (1672-1733) in seinem Herbarium diluvianum von 1723.78 Johann Hieronymus Kniphof (1704-1763), Professor der Medizin und Botanik an der Universität Erfurt, publizierte 1733 sein später be-
75 Ebd., S. 71, 75. 76 Vgl. ebd., S. 147. 77 Seit 1899 setzten Forscher radioaktive Strahlung experimentell zur Durchleuchtung des menschlichen und tierischen Körpers ein. Henri Becquerel (1852-1908) erforschte seit Anfang des Jahres 1896, inwieweit die Strahlung phosphoreszierender Körper in ihrer Wirkung mit der Röntgenstrahlung vergleichbar ist, vgl. Artz, Carolin: »Uranium-graphien«. Fotografische Selbsteinschreibungen radioaktiven Gesteins, in: Bredekamp, Horst/Bruhn, Matthias/Werner, Gabriele (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 8 (1) Kontaktbilder, Berlin 2010, S. 26-34, hier S. 26. Uranium-graphien, unter anderem von Naturobjekten, wurden zum Beispiel in der französischen Fachzeitschrift Le Radium (Februar 1904) veröffentlicht, vgl. ebd., S. 29, 32. 78 Vgl. Metken, Günter: Naturselbstdruck und fossile Spuren. Max Ernsts mögliche Naturgeschichte, in: Orchard/Zimmermann: Die Erfindung der Natur (wie Anm. 18), S. 145-147, hier S. 146.
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kannt gewordenes Werk Botanica in originali. Das ist: Lebendig Kräuter-Buch, worinne alle in hiesigen Landen wachsende Kräuter nach ihrer vollkommenen Schönheit vorgestellet werden.79 Kniphof ließ erstmals systematisch Pflanzen in Büchern drucken;80 diese hatte er zuvor getrocknet, färbte sie mit Druckerschwärze ein und presste sie dann auf dünnes Papier.81 Das Werk leistete einen wesentlichen Beitrag zur Popularisierung und Verbreitung botanischer Erkenntnisse.82 Kniphof warb für die hier verwendete Technik, der seiner Auffassung entsprechend eine größere Originalität als dem Kupferstich und der Zeichnung eigen sei »weil wir uns dazu des Originals selbst bedienen, und uns so zu sagen die Natur in den Pflanzen selbst die genaueste und richtigste Kupferplatte dazu liefert«83. Das hier artikulierte Versprechen einer naturgetreuen, objektiven Darstellung der Natur mittels des Pflanzenselbstdrucks wird jedoch nur sehr bedingt eingelöst: Insbesondere bei der Neuauflage seines Werks von 1757 bis 1767 wurden die Pflanzen für den Druck schwach eingefärbt, sodass eine nachträgliche Kolorierung mit Aquarellfarbe sowie eine weitere Bearbeitung gut möglich war.84 Solche Manipulationen umfassten auch die Kolorierung zur Darstellung voluminöser Pflanzenteile (zum Beispiel von Früchten), das »nachträgliche Einfügen von Teilen anderer Pflanzenindividuen« oder sogar »von gemalten Früchten«.85 Wenngleich der Umgang mit dem Verfahren stark variierte und unterschiedlichen Zielen diente, so war der Naturselbstdruck doch grundsätzlich eine Technik, die eine gewisse Standardisierung der Abbildungen ermöglichte.86 Die »Naturtreue« botanischer Illustrationen, unter anderem auch von Naturselbstdrucken, bemaßen die Zeitgenossen an der »Wirkungskraft der Bilderfindung, die eine bestimmte ästhetische Erfahrung ermöglichte«87, den Betrachter also zu »eigener
79 Klinger, Kerrin: Ecytypa Plantarum und Dilettantismus um 1800. Zur Naturtreue botanischer Pflanzenselbstdrucke, in: Breidbach, Olaf/Klinger, Kerrin/Karliczek, André (Hg.): Natur im Kasten. Lichtbild, Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck um 1800, Jena 2010, S. 80-97, S. 83. 80 Vgl. Metken: Naturselbstdruck und fossile Spuren (wie Anm. 78), S. 146. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. Klinger: Ecytypa Plantarum und Dilettantismus (wie Anm. 79), S. 83. 83 Ebd., S. 84. 84 Vgl. ebd., S. 85. 85 Ebd. 86 Vgl. ebd., S. 93. 87 Lechtreck, Hans-Jürgen: Die Äpfel der Hesperiden werden Wirtschaftsobst. Botanische Illustration und Pomologie im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München u. a.
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Naturbeobachtung« anleitete.88 Solche Illustrationen konnten »eine individuelle Pflanze genau abbilden, die Pflanzenart typisierend darstellen oder aber mit dem Ziel bestimmte Erkenntnisse zu veranschaulichen frei erfinden«89. Obwohl die Naturselbstdrucke bei der Herstellung von wissenschaftlich korrekten botanischen Dokumenten den Herbarien unterlegen und oft weniger anschaulich als aquarellierte Grafiken waren, wurde ihnen – ähnlich wie Fotografien – eine »besondere Ausstrahlung«90 der Echtheit und von Objektivität zugesprochen; entsprechend schätzten sie insbesondere Laien als authentisch ein, da diese die wissenschaftliche Qualität kaum beurteilen konnten.91 Alois Auer (1813-1860), der Leiter der Wiener Hof- und Staatsdruckerei, führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anwendung des galvanischen Stroms beim Naturselbstdruck ein.92 Die Technisierung des Naturselbstdrucks sollte – so Auer – in Zukunft in vielen Fällen die Zeichnung ablösen.93 Sie leistete einen wesentlichen Beitrag zur Vervielfältigung der Bilder von fossilen Tieren, Insekten und Pflanzen, die in den Buchdruck eingebracht wurden.94 Drucke dieser Art geben die jeweils dargestellten Naturobjekte – wie »Fasern und Rispen, die Bruchlinien von Kristallen und die Wachstumsringe der Bäume« rein flächenhaft wieder, sie »legen die Natur zur Betrachtung still«.95 Diese Technik liegt auch dem 1856 erschienenen botanischen Werk Physiotypia Plantarum Austriacarum. Der Naturselbstdruck in seiner Anwendung zugrunde.96 Während die Wiener Hof- und Staatsdruckerei unter der Leitung von Alois Auer das Verfahren des Naturselbstdrucks mit der Absicht förderte, die Natur ohne »künstliche Mittel« und »Mitwirkung eines Zeichners, Graveurs oder anderen Künstlers«97 zu visualisieren, erfolgte die Abbildung von Natur in der Physioty-
2000, S. 250, zit. nach: Klinger: Ecytypa Plantarum und Dilettantismus (wie Anm. 79), S. 93. 88 Klinger: Ecytypa Plantarum und Dilettantismus (wie Anm. 79), S. 93. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 94. 92 Vgl. Metken: Naturselbstdruck und fossile Spuren (wie Anm. 78), S. 147. 93 Vgl. Auer, Alois, zit. nach: ebd., S. 147. 94 Vgl. ebd. 95 Ebd. 96 Das Werk wurde von Constantin von Ettingshausen und Alois Pokorny herausgegeben, vgl. Dünkel, Vera/Bredekamp, Horst/Bruhn, Matthias/Werner, Gabriele: Editorial, in: dies.: Bildwelten des Wissens (wie Anm. 77), S. 5-6, hier S. 5. 97 Zit. nach: ebd., S. 5 u. S. 6.
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pia Plantarum Austriacarum nicht unmittelbar und ohne manipulierende Eingriffe: Die Darstellung der Pflanzenmorphologie war das Ergebnis zahlreicher Bearbeitungsvorgänge an den abzubildenden Originalen.98 Dazu zählten etwa das Flachdrücken der Originale, das Trocknen und die Präparation, die Herstellung einer »beständigen Druckform« in mehreren »Kopierschritten« sowie die Auswahl von Farbe und Papier.99 Die Autoren betrachteten die hier gezeigten Bilder als »Präparate« und den Naturselbstdruck als »Präparationsmittel«, da das galvanoplastische Verfahren die Sichtbarmachung von mit bloßem Auge kaum erkennbaren, verborgenen »Nervationsverläufen von Blättern« sowie feinster Gefäßbündel und ihrer Verzweigungen ermöglichte.100 Frottagen Vom Naturselbstdruck inspiriert verwendete Max Ernst (1891-1976) die Technik der Frottage in den Vorlagen für seinen Zyklus Histoire Naturelle, der ursprünglich 34 Lichtdrucke umfasste.101 Der Titel deutet auf die Naturkunde hin und erinnert darüber hinaus an die »Histoire Naturelle«, die ein Kernelement der bekannten französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts ist.102 Eine Zuordnung der in Serien angeordneten Blätter zu den Naturreichen des Tierischen, Pflanzlichen, Mineralischen und Anthropomorphen ist möglich.103 Die auf den ersten Blick offensichtliche Ordnung wird allerdings durch Ernsts künstlerisches Vorgehen selbst in Frage gestellt, da er in seinen Frottagen durch die Kombination von Formen und Strukturen auch imaginäre Wesen schuf.104 Er beabsichtigte keine naturgetreue, wissenschaftliche Abbildung, sondern eine künstlerische Neuschöpfung von Natur.105 Die Frottagetechnik diente ihm in diesem Sinne als eine Art »Imaginationsmaschine«106. Wie der Naturselbstdruck ist die Frottage eine Technik, die im Kontakt mit den Objekten ihre »Wesens-Struktur, ihr ›Ske-
98
Ebd.
99
Ebd.
100 Ebd., S. 5. 101 Vgl. Witzgall, Susanne: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Nürnberg 2003, S. 41, 38, 39. 102
Vgl. ebd., S. 38, 39.
103
Vgl. ebd., S. 39.
104
Vgl. ebd.
105
Vgl. ebd., S. 41; vgl. auch Orchard: (Un)Ordnung schaffen (wie Anm. 18), S. 9, 12.
106
Konersmann, Ralf: Max Ernst und die Idee der Naturgeschichte, in: Orchard/ Zimmermann: Die Erfindung der Natur (wie Anm. 18), S. 159-167, hier S. 162.
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lett‹ fossilienhaft aufscheinen läßt«107 . In dieser Eigenschaft ist die Frottage dem Röntgenverfahren prinzipiell verwandt. So charakterisiert der Kunsthistoriker Günter Metken die Frottagen der Histoire Naturelle von Max Ernst als »eine Röntgenplatte ohne Tiefenschärfe und organische Anmutung«108 . Im Gegensatz zu Röntgenbildern handelt es sich jedoch bei Naturselbstdrucken und Frottagen um Kontaktbilder, da die Körperlichkeit und Materialität der Naturobjekte wesentlich zu ihrer Darstellung beitragen – durch die Übertragung der Druckplatte auf Papier erhalten die Bilder einen Reliefcharakter und damit auch eine »haptische Qualität«109. Fotogramme Sehr ähnlich wie beim Röntgenbild entsteht auch im Fotogramm ein Gegenbild der Realität, in dem die Objekte als helle und die belichteten Flächen als kompakte, dunkle Formen erscheinen.110 Das Fotogramm, auch als Rayographie bezeichnet, war seit den Anfängen der Fotografie als »optisches Experiment«111 bekannt. Bei beiden Techniken werden auf einer fotografischen Platte platzierte Objekte mit Licht bestrahlt, wodurch »negative Schatten« entstehen, die mit ei-ner »abstrahierende[n] Verfremdung«112 des Objekts einhergehen. Ein grundsätzliches Prinzip der Röntgenbildgebung besteht darin, die dargestellten Gegenstände oder Teile von ihnen aus ihren ursprünglichen räumlichen Beziehungen zu lösen und in eine neutrale Fläche zu transferieren, wobei die Zusammenhänge
107 Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft (wie Anm. 101), S. 41. 108 Metken: Naturselbstdruck und fossile Spuren (wie Anm. 78), S. 145. Ernst übertrug diese Methode auf die Ölmalerei: In seinen Grattagen erscheinen auf der Leinwand – dem Zeichenblatt entsprechend – durchgeriebene Strukturen darunterliegender Objekte sowie die Gitterstruktur der Leinwand selbst, vgl. Spies, Werner: Max Ernst. Frottagen, Stuttgart 1986, S. 21. 109 Dünkel et al.: Editorial (wie Anm. 96), S. 6. 110 Jenderko-Sichelschmidt, Ingrid: Zu Christian Schads »Gaspard de la Nuit«, in: dies. (Hg.): Hommage à Schad. Schadographien 1962–1977, Ausst.-Kat. Schlossmuseum der Stadt Aschaffenburg, Köln 1994, S. 11-15, S. 13; vgl. auch de L’Ecotais, Emmanuelle: Man Ray. Der Erfinder der surrealistischen Fotografie, in: Heiting, Manfred (Hg.): Man Ray. 1890–1976, Köln 2008, S. 77-85, hier S. 80. 111 Leonhard, Kurt: Nachtstücke, in: Jenderko-Sichelschmidt: Hommage à Schad (wie Anm. 110), S. 17-21, hier S. 17. 112 Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 130.
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Abb. 4: Christian Schad, Farn, solarisiertes Fotogramm, 1994
Abb. 5: Nick Veasey, A Fern leaf (Dryopteris dilatata) in the style of early photograms, or contact prints, 2008
zwischen den Objekten neu bestimmt werden.113 Dies gilt auch für das Fotogramm. Bevor die Dadaisten und Surrealisten die Technik des Fotogramms einsetzten, um alltägliche Objekte zu verfremden, war diese Technik gebräuchlich, um naturgetreue Bilder zu produzieren.114 Beispiele hierfür sind etwa die Cyanotypien von Meeresalgen von Anna Atkins sowie William Henry Fox Talbots (1800-1877) Pflanzendarstellungen im »skiagraphischen Prozess«115. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Fotogramm als künstlerisches Ausdrucksmittel entdeckt.116 Viele Künstler dieser Zeit arbeiteten mit dieser Technik, weil
113 Vgl. ebd., S. 126. 114 Vgl. ebd., S. 130. 115 William Henry Fox Talbot, zit. nach: Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 131. Analog lässt sich dies auch für frühe Protagonisten in der Entwicklung der Röntgentechnik wie etwa Albert Peignot und Victor Chabaud feststellen, die das Ziel der Anwendung des Röntgenverfahrens vor allem darin sahen, Objekte mechanisch zu reproduzieren, vgl. ebd. 116 Neusüss, Floris M.: Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die andere Seite der Bilder – Fotografie ohne Kamera, Köln 1990, S. 13.
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sie es ermöglichte, bestimmte Bildwirkungen »automatisch«117 hervorzubringen. Neben den Konstruktivisten schätzen vor allem die Surrealisten das Fotogramm, weil sich damit Bilder erzeugen ließen, die eine surreale Wirkung erzielten sowie »uneindeutige, irritierende, ›jenseitige‹ Eindrücke«118 vermittelten. Auch im Rahmen der Dada-Bewegung wurde das Fotogramm als Kunstform weiterentwickelt.119 Christian Schad (1894-1982), der das Fotogramm erstmals als künstlerische Technik verwendete, schuf im Jahr 1919 in Genf eine als Schadographien bezeichnete Bildserie, in der er sich mit dem Dadaismus auseinandersetzte;120 nach 40 Jahren nahm Schad dieses Prinzip wieder auf.121 Wahrscheinlich waren Veasey die Fotogramme Schads zumindest für eines seiner Werke vor Augen, da zwischen einem Röntgenbild von Veasey und einer Schadographie eine auffällige Ähnlichkeit besteht (Abb. 4 u. 5). Veaseys X-Ray-Art ist vor allem von Man Rays Fotogrammen inspiriert.122 Ray (1890-1976) gehörte nach seiner Übersiedlung aus New York zu den wichtigsten Ideenträgern und Persönlichkeiten der Avantgarde in Paris und integrierte sich hier für die folgenden fast zwanzig Jahre in eine Kunstszene, die einen internationalen Einfluss ausübte.123 Er experimentierte seit der Jahreswende 1921/22 mit der Rayographie.124 Darüber hinaus schuf er auch Pflanzenfotografien mit der Methode der Solarisation, bei der eine Fotografie vor ihrer vollständigen Entwicklung kurzfristig dem Licht ausgesetzt wird.125 In diesen Fotografien – etwa in seinen Liliendarstellungen – entsteht wie im Röntgenbild teilweise
117 Ebd., S. 14. 118 Ebd. 119 Vgl. Foresta, Merry: Einführung. Wiederkehrende Motive in der Kunst von Man Ray, in: Man Ray. 1890–1976. Sein Gesamtwerk, übersetzt aus dem Amerikanischen von Angela Roethe und Anne Leopold, Schaffhausen 1989, S. 7-50, hier S. 27. 120 Vgl. Leonhard: Nachtstücke (wie Anm. 111), S. 17; zu den Experimenten Christian Schads vgl. auch Hanselle: Bilder mit Durchblick (wie Anm. 45), S. 120. 121 Neben Schad und Ray verwendeten auch andere Künstler diese Technik, zum Beispiel László Moholy-Nagy, vgl. Leonhard: Nachtstücke (wie Anm. 111), S. 17. 122 Vgl. Veasey, Interview (wie Anm. 27). 123 Seine Kunst bewegte sich »zwischen dadaistischer Revolte und surrealistischer Ikonographie«, Foresta: Einführung (wie Anm. 119), S. 7. 124 Rays fotografische Experimente sind von den Schadografien inspiriert, vgl. de L’Ecotais: Man Ray. Der Erfinder (wie Anm. 110), S. 79, 80, 81. 125 Vgl. Hudson, Christopher: Man Ray, Photographs from the J. Paul Getty Museum, Los Angeles 1998, S. 58.
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eine Inversion von Hell-Dunkel-Werten.126 Sie wurden im Jahr 1934 in Paris unter dem Titel Photographs by Man Ray publiziert und anschließend von Lewis Mumford im New Yorker kritisch besprochen.127 Im Interview gab Veasey an, dass er die Pflanzenfotogramme von Man Ray kenne, dass dessen surrealistisches Vorgehen (»surrealist approach«) aber einen wesentlich größeren Einfluss auf seine Kunst hätten.128 Sowohl in der Fotogrammkunst als auch in fotogrammatischen Bildern der »vor-künstlerischen Phase«129 spielt der Zufall eine entscheidende Rolle – das Zusammenwirken des Objekts, des Lichts und der fotografischen Platte ergibt daher ein breites Spektrum möglicher Ergebnisse. Im Unterschied zu den nichtkünstlerischen Fotogrammen sind die künstlerischen Fotogramme – so auch die von Man Ray – grundsätzlich einer »anderen Sphäre«130 zugehörig, da diese Bilder auf einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Darstellungsformen beruhen. Dünkel fasst dies zusammen: »Den experimentellen Inszenierungen eines Man Ray stehen so die inszenierten Experimente von Chabaud und Peignot gegenüber. Während mit der bewussten Suche nach Verrätselung alltäglicher Objektwelten im einen Fall Verfremdung zum Prinzip eines neuen Sehens wird, ist das Spiel mit Verfremdungseffekten an Alltagsobjekten im anderen Fall dem Austesten bildgebender Möglichkeiten eines neuen, noch zu stabilisierenden Verfahrens zuzuordnen.«131
So wurde das Fotogramm von Naturwissenschaftlern wie Paul Lindner und Anna Atkins aufgrund seiner »peniblen, Erkenntnis vermittelnden, detailgenauen Abbildungsqualitäten« eingesetzt, während Künstlerinnen und Künstler die Technik schätzten, weil sich damit »Mehrdeutigkeiten« evozieren ließen.132 Das Fotogramm diente einerseits dazu, »wissenschaftliche Erkenntnis als Vorstufe zu
126 Vgl. dazu Man Ray: Calla Lilies, 1930, Gelatin silver print (solarized), Tafel 26, in: ebd.; de L’Ecotais: Man Ray. Der Erfinder (wie Anm. 110), S. 84; Banana Plant, 1935, Tafel 39, in: Hudson: Man Ray, Photographs (wie Anm. 125), S. 82, 83; Dead Leaf, 1942, Tafel 43, in: ebd., S. 90, 91; die Abbildungen S. 19-22 in: Ray, Man: Photographien. Paris 1920–1934, München 1980. 127 Hudson: Man Ray, Photographs (wie Anm. 125), S. 58. 128 Veasey, Interview (wie Anm. 47). 129 Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 131. 130 Ebd., S. 130. 131 Ebd., S. 131. 132 Neusüss: Das Fotogramm in der Kunst (wie Anm. 116), S. 17.
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praktischer Nutzanwendung« zu vermitteln, und andererseits, um »Natur wieder von Wildheit und Unwägbarkeiten bestimmt auftreten zu lassen«.133
›O BJEKTIVITÄT ‹ UND I MAGINATION : E IN V ERGLEICH DER D ARSTELLUNG VON N ATURMOTIVEN IN EINER H ELIOGRAVÜRE E DERS UND V ALENTAS UND IN EINEM DIGITALEN R ÖNTGENBILD V EASEYS Nach dieser zusammenfassenden Darstellung möglicher Vorläufer der X-RayArt Veaseys, soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, inwiefern der Künstler auf historische Vorläufer zurückgreift und inwieweit sich seine Bilder als künstlerisch-imaginative Werke überhaupt von den historischen Vorbildern abgrenzen lassen. Ein Röntgenbild Veaseys von Naturobjekten aus dem Jahr 2008 wird daher mit einer Darstellung solcher Objekte in der Mappe von Joseph Maria Eder und Eduard Valenta von 1896 verglichen. Wie bereits angedeutet bestand für Eder und Valenta eine »besondere Herausforderung« darin, »scharfe, detailreiche und plastisch wirkende Bilder herzustellen, die als Beweis einer perfekt beherrschten Technik bewundert werden konnten«.134 Mit der Heliogravüre verwendeten sie eine Drucktechnik, die eine besondere Schärfe der Darstellung sowie eine deutliche Plastizität ermöglichte; dabei wurden die »Glasbilder« in ihrer originalen Größe auf eine Kupferplatte übertragen, auf der »durch Ätzung ein Druckstock entsteht, der dann im Tiefdruckverfahren das Bild gibt«.135 Dieses Verfahren ermöglichte eine differenzierte Darstellung der Halbtöne – Eder und Valenta wählten somit eine Technik, die der Ästhetik der Röntgenaufnahmen, die viele unterschiedliche Grautöne enthalten, entsprach.136 Der durch das Druckverfahren entstandene »Prägerand« rahmt jeweils die Tafel, ähnlich wie bei künstlerischen Aquatinta-Arbeiten oder bei Kupferstichen – er »verleiht« den Darstellungen auf diese Weise »den Status von Kunstdrucken«.137 Mehrere Tafeln der Mappe zeigen Röntgenbilder von Fischen, etwa das Blatt Zwei Goldfische und ein Seefisch (Christiceps argentatus) (Abb. 6). Diese Tafel bildet drei Fische in dynamischer Anordnung ab, deren Körperachsen unterschiedliche Aus-
133 Ebd. 134 Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 74. 135 Ebd., S. 75. 136 Vgl. ebd., S. 75, 76. 137 Ebd., S. 76.
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Abb. 6: Joseph Maria Eder und Eduard Valenta, Zwei Goldfische und ein Seefisch (Christiceps argentatus), heliografische Bildtafel aus: Versuche über Photographie mittelst der Röntgen’schen Strahlen, Wien 1896 richtungen haben, sodass der Eindruck entsteht, dass sie übereinander hinweg schwimmen, ähnlich, wie es bei Fischen in einem Aquarium zu beobachten ist. Vera Dünkel vergleicht dieses Bild mit »Unterwasseraufnahmen von luminiszierenden [sic] Tiefseeorganismen […] die scheinbar blitzartig auftauchten, um im nächsten Moment wieder im Abgrund des Meeres zu verschwinden« und beschreibt ein Leuchten der Fischkörper »von Innen [sic] heraus«.138 Bei der Darstellung handelt es sich um ein Negativbild – sie steht im Kontrast zu zahlreichen Positivbildern innerhalb der Mappe. Eder und Valenta kommentieren jeweils die Blätter der Mappe, um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf anatomische Details zu lenken; die Kommentare dienen darüber hinaus auch einem
138 Ebd., S. 70.
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Abb. 7: Nick Veasey, Red Snapper (Lutjanus campechanus) fish, 2008 »Leistungsbeweis«139 für die angewandte Methode, die Autoren und ihre Institution. Veaseys Darstellung Red Snapper (Lutjanus campechanus) fish lässt sich mit dem Druck Zwei Goldfische und ein Seefisch (Christiceps argentatus) vergleichen (Abb. 7).140 Sie zeigt im unteren Bereich des Blattes einen Fisch in
139 Ebd., S. 80-81. 140 Vgl. Veasey: X-ray (wie Anm. 30), Abb. 162.
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Seitenansicht; im oberen Bereich, vom linken Bildrand überschnitten, ist die Schwanzflosse eines zweiten Fisches zu sehen, dessen Körperachse schräg nach oben verläuft. Wie bei Eder und Valenta entsteht der Eindruck von dynamischer Bewegung. Eine scheinbare Zufälligkeit des Bildausschnitts wird durch die Randüberschneidung suggeriert. Auch hier sind – verstärkt durch die Kolorierung – feinste Strukturen im Inneren der Fischkörper sehr genau dargestellt, sogar einzelne Zähne des (unteren) Fisches sind sichtbar. Die Genauigkeit verdankt sich der Anwendung einer modernen, feinstauflösenden Röntgentechnik und der digitalen Nachbearbeitung. Das Bild erscheint als Röntgenpositiv, das Veasey wirksam in Kontrast zur Negativdarstellung auf der gegenüberliegenden Seite im Buch setzt. Er verwendet damit ein Prinzip, das Eder und Valenta ebenfalls einsetzten. Wie in dem frühen Vorbild wechseln auch hier Positiv- und Negativbilder sowie der weiße und schwarze Untergrund einander ab. Im Gegensatz zur Aufnahme von Eder und Valenta handelt es sich aber um das digital bearbeitete Röntgenbild selbst, nicht um einen Druck. Veasey kommentiert das Bild, um – wie Eder und Valenta – auf anatomische Details aufmerksam zu machen und auch auf sein technisches Vorgehen: »Red Snapper (Lutjanus campechanus) fish. The clarity of bone and teeth detailing in the original x-ray gave us the freedom to use paler colours than anticipated.«141 Die Kolorierung des Röntgenbilds, wie Veasey sie hier vornimmt, hat in der Geschichte ein frühes Vorbild in den getuschten Röntgenbildern von Hans Virchow (1852-1940), der das Röntgenverfahren für seine Forschungen einsetzte.142 Die retuschierende Arbeit am Röntgenbild mit Aquarellfarbe sah Virchow als Mittel zur Herstellung von ›Objektivität‹, das der Autor nutzen sollte, um ein »für die Vermittlung« geeignetes Bild herzustellen, »indem es das Wichtige und Objektiv-Richtige durch die Bearbeitung im Vorfeld hervorgekehrt hat«.143 ›Objektivität‹ und Imagination liegen sowohl in dem frühen Druck als auch in Veaseys Röntgenbild nicht weit auseinander. Sollte die Darstellung von Eder und Valenta durch ihre ästhetischen Eigenschaften die Qualität von Röntgenbildern übertreffen, und lassen sich ihr durchaus Eigenschaften des Kunstdruckes zusprechen, so ist das künstlerische Röntgenbild Veaseys auch an der Sichtbarmachung anatomisch-morphologischer Details interessiert, wie Veasey bereits in
141 Ebd., S. 220. 142 Hans Virchow war der Sohn des Berliner Pathologen Rudolf Virchow. 143 Dünkel: Röntgenbild und Schattenbild (wie Anm. 2), S. 182; die von Virchow entwickelte Medienkritik am Röntgenbild »mündet in ein Verständnis technischer Bilder, das jedes noch so mechanisch erzeugte Bildprodukt als genuin gestaltet auffasst«, ebd., S. 183.
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der Einleitung seines Buches ankündigt. Sowohl für die Drucke Eders und Valentas als auch für das Werk der gegenwärtigen X-Ray-Art Veaseys lässt sich feststellen, dass die formgebenden Prozesse »ästhetische Praktiken«144 sind – klare Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft sind hier kaum zu ziehen. Gerade bei den Darstellungen von Naturobjekten liegen die frühen visuellen Vorbilder und die zeitgenössischen künstlerischen Darstellungen viel näher beieinander, als bei Alltagsgegenständen, weil sich die Lebewesen und Pflanzen im Gegensatz zur Gegenstandswelt nur wenig verändert haben.
Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gestaltung transparenter Naturobjekte in den besprochenen Werken der zeitgenössischen X-Ray-Art nicht allein auf (Röntgen-)Fotografien basiert, sondern auch Einflüsse aus der bildenden Kunst aufnimmt, die unterschiedliche Medien und Techniken hervorbrachte, um röntgenbildähnliche Visualisierungen zu erzeugen. Dabei erwies sich die Grenze zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Naturdarstellung im historischen Rückblick sowie in den Gegenwartskunstwerken Veaseys als unscharf. Für viele historische Vorbilder aus dem Bereich von Naturwissenschaften und Medizin sind ästhetische Veränderungen beziehungsweise Gestaltungseingriffe in die mittels technischer Verfahren entstandenen, nur auf den ersten Blick ›objektiven‹ Bilder nachweisbar, während Künstlerinnen und Künstler Inspirationen aus dem Bereich wissenschaftlicher bildgebender Verfahren aufnehmen und diese nutzen, um Mehrdeutigkeiten von Bildern zu erzeugen und Bildstrukturen zu generieren, die die Fantasie des Betrachters anregen. Vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften und Medizin lässt sich Veaseys experimentelles Vorgehen auf frühe Versuche mit der Röntgenstrahlung und radioaktiver Strahlung zurückführen sowie auf zu wissenschaftlichen Zwecken angefertigte Fotogramme. Einflüsse der bildenden Kunst bestehen vor allem aus künstlerischen (Röntgen-) Fotografien und Fotogrammen sowie aus Frottagen, wobei letztere vom Naturselbstdruck inspiriert sind. Grundsätzlich ist mit der Wahl des Röntgenbildes als Medium für eine künstlerische Darstellung auch heute noch ein bedingter Objektivitätsanspruch verbunden, der auf seinem technischen Herstellungsprozess sowie auf Zuschreibungen zur (Röntgen-)Fotografie seit dem 19. Jahrhundert gründet. Für das Röntgenbild gilt das in einem noch wesentlich höheren Maße als für die Fotografie,
144 Ebd., S. 194.
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deren Manipulation eine weit verbreitete Praxis ist. Die dem Röntgenbild zugeschriebene Evidenz ist in der X-Ray-Art Veaseys Teil des künstlerischen Kalküls und kann dazu beitragen, den Erfolg dieser Kunst zu erklären: Sie profitiert von einer Aura des Mediums,145 auch dann noch, wenn nachträgliche Veränderungen offensichtlich sind. Die künstlerischen Eingriffe liegen, wie am Beispiel Veaseys gezeigt wurde, auf unterschiedlichsten Ebenen: der Vorbereitung der Objekte, der digitalen Optimierung mit Bildbearbeitungsprogrammen einschließlich der farblichen Gestaltung nicht kolorierter Aufnahmen, der Auswahl und Anordnung in Serien sowie der Eingliederung der Naturdarstellung in das Gesamtkonzept der Buchpublikation. Indem sie Einflüsse aus verschiedenen Bereichen und Vorbildern zusammenführt, verbindet die X-Ray-Art ›objektive‹ und imaginäre Aspekte. So ist Natur zwar der Ausgangspunkt für das Segment »Nature« der Publikation Veaseys, erscheint aber zuletzt als ein komplexes Konstrukt, das heterogene Motive und Gestaltungsstrategien aus unterschiedlichen Medien synthetisiert. Ihre Aktualität erhält diese Kunst mit dem Anschluss an zeitgenössische Diskurse: Naturdarstellung im Röntgenbild wird zum Vehikel der Kritik an einem Überwachungsstaat im Sinne Orwells.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1-3 u. 5-7: Veasey, Nick: X-ray. See Through The World Around You, London 2008, Abb. 167, 130, 156, 125, 162 Abb. 4: Jenderko-Sichelschmidt, Ingrid (Hg.): Hommage à Schad. Schadographien 1962-1977, Ausst.-Kat. Schlossmuseum der Stadt Aschaffenburg, Köln 1994, S. 92, © Christian Schad Stiftung Aschaffenburg / VG BildKunst, Bonn 2018 Abb. 6: Dünkel, Vera: Röntgenbild und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Univ.-Diss., Berlin 2016, S. 69
145 Zum Begriff »mediale Aura« vgl. Beil, Ulrich Johannes: Mediale Auren. Walter Benjamin und Fotografien von Thomas Struth, Gregory Crewdson und Carlos Goldgrub, in: ders./Herberichs, Cornelia/Sandl, Marcus (Hg.): Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin, Zürich 2014, S. 413444, hier S. 439, 440.
III. Naturhistorische Präsentation und Vermittlung
›Architectonicidae Architectonica‹ – Architekt(ur)en und Naturwissen Über die Wirkmacht von Lehrsammlungen in Technischen Hochschulen zu Beginn der Moderne
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Staunend stellte man in Paris um 1900 fest: Das Tor zur Moderne war ein Einzeller, ein Strahlentierchen. Die Sensation war perfekt. Zumal das Kleinstlebewesen nicht nur aus den Tiefen des noch nahezu unerforschten Ozeans stammte, sondern sich ansonsten nur im Mikroskop zu erkennen gab. Nun konnte und wollte es jeder sehen – die Ausmaße waren mit 30 Metern Höhe und 20 Metern Breite nahezu gigantisch. Verantwortlich für diesen Coup war René Binet, der die Besucher der Pariser Weltausstellung durch die von ihm entworfene Porte Monumentale an der Place de la Concorde passieren ließ, für deren architektonische Formgebung die Skelettkapsel einer Radiolarie Pate gestanden hatte. Sinnreicher hätte die Debatte der Jahrhundertwende um die Begriffe beziehungsweise Konzepte ›Natur & Kunst‹ nicht in Szene gesetzt werden können. Binet war das Brillieren auf höchstem wissenschaftlichen wie technischen Niveau möglich, da er sich bereits während seiner Ausbildung zum Architekten und Maler an der École des Beaux-Arts in Paris intensiv dem Naturstudium gewidmet hatte.1 So suchte er frühzeitig nicht nur die Nähe zu (Natur-) Wissenschaftlern an der Sorbonne, nahm an kultur-philosophischen Diskussionen teil oder studierte aktuelle Forschungsreports, sondern erwarb eigens etwa ein Mikroskop, um seine Studien erkenntnisorientiert vertiefen zu können.
1
Vgl. Saulnier-Pernuit, Lydwine: René Binet, 1866-1911: un architecte de la Belle Epoche, Sens 2005.
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In diesem System des Wissenstransfers stand er mit verschiedenen Forschern in brieflichem Austausch, darunter auch Ernst Haeckel. Voller Hochachtung über dessen Report zur Challenger-Expedition schrieb er 1899:2 »Vor etwa 6 Jahren habe ich angefangen, in der Bibliothek des Pariser [naturhistorischen, Anm. d. Verf.] Museums die zahlreichen Bände über die Challenger-Reise zu studieren, und ich habe dank Ihrer Arbeiten eine große Menge mikroskopischer Dokumentationen sammeln können: Radiolarien, Bryozoen, Hydroiden, usw., [...] die ich mit größter Sorgfalt in künstlerischer Zielstellung untersucht habe: im Interesse der Architektur und des Ornaments. Derzeit bin ich mit der Realisierung des Monumentaleingangs der Ausstellung für das Jahr 1900 beschäftigt und alles, von der allgemeinen Komposition bis zu den kleinsten Details, ist von Ihren Studien inspiriert.«3
Dieser Brief wurde zum Bild. Es ist der Maler Henri Bellery-Desfontaines, der seinen Freund und Kollegen Binet am Arbeitstisch darstellt (Abb. 1), von dem ausgehend er den visualisierten Prozess von Quellenstudium, Inspiration und Neuschöpfung aufbaut. Geschickt verknüpft er dabei die Aspekte Malerei (Pinsel) und Architektur (Porte), das Naturstudium anhand unterschiedlicher Medien (Muscheln, Schnecken, Fossilien u. ä. sowie deren grafische Umsetzung) und die visionäre Kraft, aus den Inspirationsquellen etwas Neues entstehen zu lassen. Das Vorlagenblatt darf dabei als Referenz auf Haeckels Illustrationen gelten, da die im oberen Bilddrittel von Binet visionierte ›Nassellarium-Typ-Radiolarie‹ (Abb. 1, u. r.) aus dessen Challenger-Report (1887) stammt und als unmittelbare Vorlage für die im rechten Bildhintergrund dargestellte Porte Monumentale (Abb. 1, o. r.) gedient hat. Zudem verweist das Gemälde von 1904 auf eine weitere Arbeit von Binet – die nahezu parallel entstandenen Esquisses décoratives.4 Analog zu Erich
2
Die von Haeckel 1862 verfasste Monografie über Radiolarien wurde durch die Challenger-Reports von 1887 (3 Bände) aktualisiert und erheblich erweitert, vgl. Kockerbeck, Christoph: Ernst Haeckels Kunstformen der Natur und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1986.
3
Binet, René, zit. nach: Krauße, Erika: Haeckel: Promorphologie und ›evolutionistische‹ ästhetische Theorie. Konzept und Wirkung, in: Engels, Eve-Marie (Hg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 347394, hier S. 364.
4
Zwischen 1902 und 1904 in vier Teilen publiziert, vgl. Proctor, Robert: René Binet und die Esquisses décoratives, München 2007.
A RCHITEKT ( UR ) EN UND N ATURWISSEN
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Abb. 1: Das Tor zur Moderne (Henri Bellery-Desfontaines: René Binet, 1904, Cerep-Musées des Sens; René Binet: Porte Monumentale, Paris 1900); Ernst Haeckel: Nassellarium-Typ der Radiolarie, 1887; Collage
Haeckels Kunstformen der Natur legte Binet damit eine Art populärwissenschaftliches Musterbuch vor, modifizierte die Idee jedoch dahingehend, dass er dekorative, also bereits komponierte Möglichkeiten aufzeigte, wie man sich Haeckels Werk als Architekt oder Gestalter aneignen könnte.5 Gleichwohl der Erfolg der mit einem Vorwort von Gustave Geffroy versehenen Esquisses décoratives verhältnismäßig bescheiden ausfiel – sie waren relativ teuer, und der Vertrieb verlief unkoordiniert –, lässt sich hieran bestens aufzeigen, wie Künstler Haeckels Kunstformen der Natur und damit die Bildvorgaben der Wissenschaft rezipierten. So weisen die Haeckel-Illustrationen keinerlei tierische Weichteile oder Lebensräume auf, sondern konzentrieren sich in der Darstellung allein auf das Skelett, den Körper-Bau und dessen Symmetrie, nicht jedoch auf das Tier und dessen Lebensraum. Es ist Haeckels visuelle Vermittlung seiner Anschau-
5
Vgl. Breidbach, Olaf: Ernst Haeckel. Kunst Formen der Natur. Kunst Formen aus dem Meer, München 2012.
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ung, seines bereits durch den Jugendstil geprägten Blickes, die sich hier Bahn bricht. Radiolarien waren hierbei von besonderem Interesse, da sie in vielen tausend Arten vorkamen, denen jedoch eine physiologische Ähnlichkeit zugrunde liegt, sodass die kleinteiligen Entwicklungsstufen – von einfachen bis zu komplexeren Formen – besonders ersichtlich sind. Haeckel, der als bedeutendster Verfechter der Evolutionstheorie von Charles Darwin gilt, die er zu einer Abstammungstheorie ausbaute,6 vertrat die Ansicht, »die Natur funktioniere gemäß einer inneren Kraft, die sie zur Entwicklung immer komplizierterer Formen höherer Lebensformen dränge«7. Diese Entwicklungslinie, die zudem das Verständnis für die Verortung des Menschen in der Natur schärfen sollte, übte vor der kulturhistorischen Folie – Kunst als Nachahmung der Prozesse der Natur und nicht nur ihrer Formen zu verstehen –, eine enorme Faszination auf die Künstler und deren formschöpferische Arbeit aus. Binet, der Haeckels philosophische Weltanschauung teilte, wählte aus der Artenvielfalt der Radiolarien die komplexeste Form – den Nassellarium-Typ –, um das Tor der Moderne zu generieren. In Form einer gleichermaßen imposanten wie eleganten Eisenkonstruktion und mit tausenden von Glühlämpchen besetzt, steht das Portal hier exemplarisch für die Rezeption der durch Haeckel geprägten und illustrativ hochwertig aufbereiteten biologischen Forschungen. Natur zu betrachten, zu erleben und zu beherrschen war in den Rang einer kulturellen Praxis erhoben worden, nicht zuletzt seitdem das weitgefächerte Themenfeld Eingang in den Bildungskanon gefunden hatte. Haeckel selbst hatte während seines Medizinstudiums – in dem er sich weniger dem klinischen Teil der Ausbildung, sondern verstärkt den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern widmete – von der noch nicht erfolgten Ausdifferenzierung der Disziplin profitiert: So gehörten Zoologie und Botanik noch ganz selbstverständlich zur Ausbildung des Mediziners. Um ein Vielfaches multipliziert gab er sein Wissen nachfolgend an ein breitgefächertes Fach- und Laienpublikum weiter, das es fasziniert aufnahm: Biologie avancierte um 1900 zur Modewissenschaft.8
6
Vgl. u. a. Haeckel, Ernst: Die Deszendenztheorie als Fundament der organischen Morphologie (1866), in: Hoßfeld, Uwe (Hg.): absolute Ernst Haeckel, Freiburg 2010, S. 97-101.
7
Proctor: René Binet (wie Anm. 4), S. 9; vgl. Krauße: Haeckel (wie Anm. 3) mit weiterführender Literatur. Kort, Pamela/Hollein, Max (Hg.): Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, Frankfurt a. M. 2009.
8
Vgl. Kockerbeck, Christoph: Ernst Haeckels Kunstformen der Natur und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1986, S. V.
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G RÜNE A RCHITEKTUR Dass Ernst Haeckels Werk – insbesondere die Kunstformen der Natur – mit seinem schier endlosen Fundus an Formen, Farben, Konstruktionen und Strukturen enorm vielfältig rezipiert wurde und durch das Mittel der Abstraktion tiefgreifende Wirkungen auf Architekten/Künstler und ihr Schaffen ausgeübt hat, ist bereits aus zahlreichen Perspektiven beleuchtet worden.9 Analoges lässt sich für das fotografische Œuvre von Karl Blossfeldt notieren, der seine Pflanzenpräparate und Aufnahmen – die er Ende des 19. Jahrhunderts u. a. auf ausgedehnten Reisen im Mittelmeerraum gemacht hatte – durch Vergrößerungen, Abstraktionen von Details und mechanische Eingriffe modifizierte, um sie Ornamenten und anderen Kunstformen ›ähnlicher‹ zu machen. Es galt, seiner These, dass alle Kunst- und Architekturformen ihre Grundmuster in Naturformen hätten, bildlichen Ausdruck zu verleihen. Der Erfolg – insbesondere ab den späten 1920er Jahren – war immens: Seither gelten Blossfeldts Fotografien, denen eine skulpturale Präsenz eigen ist, als Scharnier zwischen Naturalismus und Avantgarde. An einer geschickt inszenierten Beweisführung eben dieser unter den Zeitgenossen positiv wie negativ diskutierten Sichtweise versuchte sich u. a. der Architekt Werner Lindner, indem er in sein Buch Bauten der Technik (1927) eine Art architekturvergleichende Sequenz aufnahm, die etwa den Schachtelhalm mit gebauten Architekturen in Beziehung setzte.10 Dass die Urformen der Kunst – so der Titel von Blossfeldts erstem Bildband (1928) – in der Natur zu finden seien, erörterte Robert Breuer in seinem Beitrag »Grüne Architektur«.11 Weitere Beispiele ließen sich anführen. Wichtiger ist indes, dass bereits die hier nur skizzierten Beispiele zeigen: Das Thema war im höchsten Maße virulent. Spürt man dem Thema ›Architekt(ur)en und Naturwissen um 1900‹ nach, stößt man folglich unweigerlich auf die beiden Protagonisten Haeckel und Blossfeldt, zumal sie ihre Materialien zweckgerichtet konzipierten und u. a. als Unterrichtsvorlagen einsetzten, bevor sie für ein größeres Publikum in Buchform aufbereitet wurden. Weniger vertraut ist jedoch, dass angehende Architekten über den gegebenen Verbund der Lehrsammlungen innerhalb Technischer Hochschulen unmittelbar auf den reichen Formenschatz der Botanik, Zoologie und Anatomie zurückgreifen konnten, um die Themen der Zeit – Kunst und Natur,
9
In diesem Kontext sei auf die zitierten Werke samt deren Bibliografien zum Thema verwiesen.
10 Vgl. Lindner, Werner: Bauten der Technik. Ihre Form und Wirkung. Werkanlagen, Berlin 1927, S. 120-121. 11 Vgl. Breuer, Robert: Grüne Architektur, in: Uhu, Heft 9, Juni 1926, S. 28-38.
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Mensch und Maschine, Kultur und Technik – verhandeln zu können. Die Sammlungen befanden sich zumeist in unmittelbarer Nähe, sodass fließende Übergänge (formal wie inhaltlich), Adaptionen (Sehen und Erkennen mittels Vergleich) und Neuschöpfungen (in der Architektur und/oder Kunst) möglich waren. Analogien zwischen den Naturkonstruktionen und der von ihnen zu schaffenden gebauten Umwelt konnten somit intensiv und unmittelbarer als bislang bekannt studiert werden.
S AMMLUNGS -R/E VOLUTION Um 1900 erlangten Lehrsammlungen als Mittel der Ausbildung und Forschung zunehmend Bedeutung – insbesondere an Technischen Hochschulen. Grundlegend dafür waren zwei nahezu parallel verlaufende bildungspolitische Entwicklungen. Um den Status einer Bildungsanstalt zu erreichen, hatten die Hochschulen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Anspruch verfolgt, den Studierenden technischer Fächer auch eine humanistische Bildung angedeihen zu lassen. Eigens dafür wurde die Allgemeine Abteilung gegründet, über die neben Staats- und Wirtschaftswissenschaften nun auch Literatur, Geschichte, Musik und Kunst in den Lehrplan angehender Techniker aufgenommen wurde.12 Dieser inhaltlichen Expansion folgte eine räumliche. So entstanden etwa zeitgleich zahlreiche neue, zum Teil imposante Hauptgebäude.13 Dazu vermerkte Hermann Eggert im renommierten Handbuch der Architektur, dass bei den als »Technische Hochschulen errichteten neueren Bauwerken den Sammlungsräumen besonderes Gewicht beigelegt wurden, nehmen sie doch häufig in ihren Grundflächen eine Größe in Anspruch, welche mit den für den Hör-, Konstruktions- und Zeichensäle aufzuwendenden Grundrißflächen nahezu gleichwertig sind«14. Hinzu kamen die Repräsentationsräume auf der Mittelachse der Gebäu-
12 Die Entwicklung vom Polytechnikum zur Technischen Hochschule / Universität ist gebündelt nachzulesen bei Manegold, Karl-Heinz: Geschichte der Technischen Hochschulen, in: Boehm, Laetitia/Schönbeck, Charlotte (Hg.): Technik und Bildung, Düsseldorf 1989, S. 204-234. 13 Vgl. Nägelke, Hans-Dieter: Hochschulbauten im Kaiserreich. Historische Architektur im Prozess bürgerlicher Konsensbildung, Kiel 2000. 14 Eggert, Hermann: Hochschulen im allgemeinen. Universitäten und Technische Hochschulen. Naturwissenschaftliche Institute (Handbuch der Architektur, hg. von Schmitt, Eduard), Bd. 4, 6. Halbband, Heft 2, a, Stuttgart 1905, S. 126.
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de. Hier gelangte nicht selten – analog zu den Universitäten – die Sammlung von Gipsabgüssen zur Aufstellung, da sie als hochgeschätztes wie allgemeingültiges Bildungsmittel galt, um nicht zuletzt die geistige Tradition der antiken Kultur als Grundfeste der sich im Etablierungsprozess befindlichen technischen Lehranstalten anschaulich werden zu lassen.15 Als prominentes Beispiel sei auf den Antikensaal des 1865 von Gottfried Semper erbauten eidgenössischen Polytechnikums in Zürich verwiesen. Damit war der Findungsprozess jedoch nicht abgeschlossen, sondern potenzierte sich weiter. An der Technischen Hochschule Berlin Charlottenburg beispielsweise fand man 1884 eine gleichermaßen innovative wie einzigartige Lösung. Sobald man das Vestibül betreten hatte, konnten die Besucher linker Hand das Gipsmuseum mit Güssen nach Antiken, ornamentalen und architektonischen Vorlagen sowie rechter Hand die Maschinen- und Modellsammlung in Augenschein nehmen – »gleichsam als Beispiel der Verbindung von Kultur und Technik«16. Zudem hatte man die Präsentationsfläche durch verglaste Arkadenbögen vom Eingangsbereich getrennt, was nicht unerheblich zur Nobilitierung der Objekte und dem Anschein einer musealen Inszenierung beitrug. Hier zeichnet sich ab, dass das Prinzip der Anschaulichkeit verstärkt Einzug in die didaktischen wie methodischen Lehrkonzepte gefunden hatte und man die Sammlungen nicht als Solitär betrachtete, sondern die Grenzen der jeweiligen Funktionsräume changierten. Lehrmittel und Lehrorte wurden fachübergreifend geteilt, der Hörsaal fungierte als Membran. Es gab demnach fließende Übergänge von Subjekt und Objekt, wie es in den Anfangsjahren der Technischen Hochschulen überall zu verzeichnen war. So integrierte man beispielsweise 1877 im neu errichteten Hauptgebäude der Technischen Hochschule Braunschweig ein »technisches Museum«, welches – bezogen auf Forschung und Repräsentation – höchstmögliche Transparenz gewähren sollte. Die Einblicknahme wurde in den »in fast ununterbrochener Folge die Flügelgänge« umlaufenden Sammlungsräumen durch weitgespannte Glasflächen zum Korridor ermöglicht, damit die Exponate »den Studierenden schon während des Vorbeigehens sichtbar werden«.17 Damit gewährleistete die Institution ferner, dass das Museum »auch einem der Hochschule nicht unmittelbar angehörenden Publikum zur Besichtigung, ohne
15 Vgl. Dlugaiczyk, Martina: ›Gips im Getriebe‹. Abguss-Sammlungen an Technischen Hochschulen, in: Schreiter, Charlotte (Hg.): Gipsabgüsse und antike Skulpturen. Präsentation und Kontext, Berlin 2012, S. 333-354. 16 Fricke, Manfred (Hg.): Die Sammlungen und Kunstdenkmäler der Technischen Universität Berlin, Berlin 1991, S. 21. 17 Eggert: Hochschulen im allgemeinen (wie Anm. 14), S. 126.
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Störung der eigentlichen Ziele der Hochschule […], zugänglich gemacht werden kann«18. Analoges lässt sich später in Aachen beobachten, wo man die Sammlung der Architekturfakultät »in den Rahmen eines kunsttechnischen Museums«19 brachte, da es oberste Prämisse war, mit der »Schaffung eines neuen Museumstypus, die besonderen Bedürfnisse der Architektur-Studierenden«20 zu bedienen. Dazu gehörte – ganz im Sinne der proklamierten Verbindung von Kunst, Handwerk und Industrie – neben den kunsthistorischen und wahrnehmungsästhetischen Aspekten etwa das Aufzeigen der verschiedenartigsten Herstellungsprozesse. Allerdings verzichtete man hier auf die Glasfronten, weil die Raumdisposition eine gänzlich andere war. In diesem Reigen – Etablierung der allgemeinen, humanistische Bildungsziele verfolgenden Abteilung, der Bau von neuen, repräsentativen Hauptgebäuden und die Expansion von auf Transparenz angelegten Sammlungsräumen – nahmen die Architekturfakultäten an Technischen Hochschulen eine besondere Stellung ein, da es im Zuge der angestrebten Lehrreform galt, im besonderen Maße die künstlerische Ausbildung angehender Architekten zu stärken. Es galt BauKünstler und nicht nur Bau-Beamte auszubilden. In diesem Kontext entstanden unter der Maßgabe der übergeordneten Strukturen neue Schau- und Lehrsammlungen, in denen die Prozesshaftigkeit von Wissenschaft und Kunst theoretisch wie praktisch vermittelt wurde. Um jedoch den Architekten in ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftler, Künstler, Techniker und Ingenieur gerecht werden zu können, wurde in den Architekturabteilungen ein Sammlungsbestand verhandelt, der wesentlich facettenreicher als in anderen Abteilungen aufgestellt war. Während die Vorlagensammlung (Entwürfe, Planzeichnungen, Fotografien, Drucke), Architekturmodelle (in Holz, Gips oder Kork), Gipsabgüsse (nach antiken bis klassizistischen Skulpturen wie Architekturen) und die Baustoffsammlung eher zum allgemeinen Repertoire gehörten, wurden die Bestände mancherorts um ein Vielfaches erweitert: So lassen sich Kopien mittelalterlicher Glasfenster, Spolien, Gemälde- und Vasensammlungen, Drucksachen, Skulpturen, archäologische Fundstücke, japanische Emailkunst bis hin zu Textilien und eben Muscheln, Pflanzen, Mineralien oder Schmetterlinge finden. Letztere wurden etwa an der Technischen Hochschule in Dresden anfangs als zu skizzierende Bewegungsmotive genutzt, bevor sie dann zum klassischen Sammlungsobjekt
18 Ebd. 19 O. A.: Ein neues Kunstinstitut, in: Echo der Gegenwart, 5. November 1908. 20 Schmid-Burgk, Max: Die Abteilung I für Architektur, in: Gast, Paul (Hg.): Die Technische Hochschule zu Aachen 18701920. Eine Gedenkschrift im Auftrage von Rektor und Senat, Aachen 1921, S. 175-212, hier S. 208.
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geraten konnten. Die wechselseitigen Bezüge von Artefakt und Naturform beziehungsweise der belebten und unbelebten Natur kommen hier zum Tragen. Zudem war es erklärtes Ziel, die Lehrsammlungen inhaltlich mehrschichtig – also gleichermaßen historisch, aktuell wie anwendungsbezogen – auszurichten.21 Dabei wurde, das gilt es zu betonen, die Wahl der Lehrmittel nicht unerheblich von persönlichen wie ortsgebundenen Interessenslagen getragen, da – analog zu Haeckels Medizinstudium – die Ausdifferenzierung der Disziplin und damit auch der Lehrsammlung noch nicht abgeschlossen war. Dennoch wurde bereits 1901, also kurz nach Binets Radiolarien-Einfahrt, die spezielle Ausrichtung der Aachener Lehrsammlung innerhalb der Architekturabteilung als Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Bildungseinrichtungen deklariert.22 Zeitlich parallel entstand unter der Regie des Architekten und Hochschullehrers Fritz Schumacher an der Technischen Hochschule Dresden eine neue Lehrsammlungsstruktur, welche nicht nur im Objekt-Bestand, sondern auch in den didaktischen und methodischen Lehr- und Lernkonzepten auf Vielfalt, Experimente und geistige wie körperliche Beweglichkeit setzte. Im historischen Rückblick appelliert Schumacher für die Neuerungen: »Was ich als Apparat für diesen Unterricht vorfand, spottet jeder Beschreibung. Es war ein Saal von oben bis unten behängt mit schmutzigen Gipsen, aber nicht etwa die üblichen klassischen Vorbilder, sondern Abgüsse der übelsten Ornamentik der sächsischen PseudoRenaissance vom Jahrhundertende. Diese gespenstige Kunsthölle saß gedrängt voll junger erwartungsvoller Menschen, die vom Erwachen der ›dekorativen Kunst‹ gehört hatten. […] Bei dem winzigen Fonds für Lehrmittel, der mir zur Verfügung stand, konnte ich leichter eine alte Welt verschwinden lassen, als eine neue aufbauen. Ich kündigte sie
21 Vgl. Dlugaiczyk, Martina: Architektur im Labor. Lehrsammlungen als Mittel der Wissensproduktion und –kommunikation, in: te Heesen, Anke/Vöhringer, Margarethe (Hg.): Wissenschaft im Museum – Ausstellung im Labor, Berlin 2014, S. 64-88. Vgl. Dlugaiczyk, Martina: Vom Stand- aufs Spielbein – Dauerpräsentationen und Wechselausstellungen von Architektur in Lehrsammlungen Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Ruhl, Carsten/Dähne, Chris (Hg.): Architektur ausstellen – Zur mobilen Anordnung des Immobilen, Berlin 2015, S. 148-163. 22 Sammlung und Museum tragen den Namen des Stifters Franz Reiff. Vgl. Dlugaiczyk, Martina: Das ›System Schmidt-Burgk‹, in: Dlugaiczyk, Martina/Markschies, Alexander (Hg.): Mustergültig. Gemäldekopien in neuem Licht. Das Reiff-Museum der RWTH Aachen, Berlin 2008, S. 74-85.
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dadurch an, daß ich Muscheln, Steine, Schmetterlinge, kunstvoll getrocknete Pflanzen und Stoffe auf der Bildfläche erschienen ließ.«23
Da Schumacher stets neue Blickachsen durch »plötzliche Improvisationen«24 ermöglichen wollte, ließ er etwa Schmetterlinge durch die Räume fliegen, die es in ihren Bewegungen und unterschiedlichen Positionen zu skizzieren galt. Ferner montierte er – ungewohnte Perspektiven suchend – Schmuckformen am oberen Wandabschluss, »als wenn man sie in wirklichen Kirchenräumen oder Palasthöfen hätte aufs Korn nehmen wollen«25. Von diesen schnellen Blick- und Materialwechseln ließ sich ein junger Mann inspirieren, der später u. a. für seinen Viertelstundenakt berühmt werden sollte: Ernst Ludwig Kirchner.26 Von 1901 bis 1905 absolvierte er in Dresden sein Architekturstudium und beendete es erfolgreich mit der Diplomarbeit »Entwurf einer Friedhofsanlage« – einer Bauaufgabe, die sich insbesondere Schumacher zu eigen gemacht hatte. Neben Entwurfsübungen und Architekturmodellen aus Gips vermitteln insbesondere die von Kirchner ausgeführten Vorlagenblätter mit Ornamententwürfen anschaulich, welche Spuren die sammlungsgestützte, intuitive Schumacher’sche Lehre in Kirchners Werkgenese hinterlassen hat.27
A RCHITEKTUR , Z OOLOGIE , B OTANIK , A NATOMIE IN R OTATION Schmetterlinge in Form von präparierten Faltern für die Unterweisung angehender Architekten bereitzustellen, lässt sich für weitere Technische Hochschulen aufzeigen. Während jedoch in Dresden Fritz Schumachers Engagement – Dingwelten aus der Natur als Lehrmittel zu nutzen – anfänglich eher einem Handapparat entsprach, konnte etwa in Braunschweig das gesamte Spektrum zoologi-
23 Schumacher, Fritz: Aus der Vorgeschichte der Brücke, in: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur, Nr. 9/1932, S. 7-11, hier S. 7. 24 Schumacher, Fritz: Stufen des Lebens. Erinnerungen eines Baumeisters, Stuttgart 1935, S. 221. 25 Ebd., S. 220. 26 Allgemein zum Viertelstundenakt vgl. Mühlenberend, Sandra: Vom Stillstand zum Leben. Die Herkunft des Viertelstundenaktes, in: Dalbajew, Birgit/Bischoff, Ulrich (Hg.): Die Brücke in Dresden 1905-1911, Köln 2001, S. 278-282. 27 Vgl. Beil, Ralf/Siegmann, Katharina (Hg.): Ernst Ludwig Kirchner als Architekt, München 2011.
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scher Forschung in den Blick genommen werden. Dem im doppelten Sinne Durchblick gewährenden ›technischen Museum‹ im Erdgeschoss der von Konstantin Uhde und Karl Körner erbauten zweigeschossigen Vierflügelanlage (1877) standen weitere, den jeweiligen Disziplinen zugeordnete Lehrsammlungen zur Seite.28 So finden sich die naturhistorischen Sammlungen – Zoologie, Mineralogie und Geologie – im Obergeschoss des nach Osten weisenden Vorderflügels. Überaus prominent bespielt dabei die zoologische Lehrsammlung die Räumlichkeiten des Mittelrisalits, während die im Raumgefüge unmittelbar dahinter verortete Aula in den Innenhof hinauskragt. Gleichwohl die Entscheidung für diese Raumstaffelung vornehmlich in der Lichtregie begründet liegen dürfte – durch die Tiefenstreckung der Flügel galt es insbesondere den Lehrzimmern, unabhängig welcher inhaltlichen und formalen Prägung, den bestmöglichen Lichteinfall zu ermöglichen – lässt sich hierüber der Stellenwert der Schausammlung um 1880 ableiten. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich Haeckels Forschungen bereits auf dem Höhepunkt, und die Naturwissenschaften nehmen stetig mehr ›Raum‹ im Bildungskanon ein, bevor sie um 1900 den Status einer Modewissenschaft erlangen. Auch die Technische Hochschule Braunschweig schreibt sich in diese Entwicklungslinie ein. Über die ursprüngliche Aufstellung haben sich keine Inventare oder bildlichen Quellen erhalten, allein anhand einer Mappe mit 18 Bildtafeln, welche anlässlich der Fertigstellung des Gebäudes publiziert wurde, lässt sich über den Längsschnitt das Raumgefüge konturieren (Abb. 2 u. l.). Während im unteren linken Register die Eingangssituation und rechter Hand die Bibliothek zu erkennen sind, lässt sich im oberen Stockwerk in gegenläufiger Leserichtung die Aula samt repräsentativen Gemälden und aufwendig verzierten floralen Wanddekorationen sowie Medaillons ausmachen, die flankiert wird von einem mit Glasschränken ausgestatteten Raum, auf denen in offenen Gefachen verschiedene Tierpräparate aufgestellt sind. Den Grundrissen ist zu entnehmen, dass die Aula einen unmittelbaren Zugang zur zoologischen Lehrsammlung besaß, um den Raum etwa bei feierlichen Anlässen nutzen zu können, wodurch sich u. a. ihr repräsentativer Charakter widerspiegelt. Aufgrund der Expansion im fachlichen Gefüge entstand in vielen Fällen bereits kurz nach Fertigstellung der neuen Hauptgebäude erheblicher Platzmangel, dem man durch neu zu errichtende Institutsgebäude begegnete – in Braunschweig jedoch erst nach 1900.
28 Vgl. Uhde, Konstantin/Körner, Karl: Neubau der Herzoglichen Technischen Hochschule in Braunschweig, Berlin o. J. (1877).
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Abb. 2: Technische Hochschule Braunschweig, 1877 (Hauptfassade; Längsschnitt von Ost nach West mit zoologischer Sammlung und Aula; Längsschnitt von Nord nach Süd mit Ateliersituation), Collage Bis dahin fanden die zoologischen Mikroskopier- und Präparationsübungen unmittelbar neben den Lehrsammlungen statt, die wiederum von etlichen Zeichensälen flankiert wurden, da der Zeichenunterricht in den technischen Fächern den Vorlesungsbetrieb dominierte. Während die Studierenden der Architektur etwa anhand von Gipsen (Abb. 2 u. r.) – mit diesem Bildausschnitt lässt sich erstmals eine sehr frühe (1877) Ateliersituation in einer Technischen Hochschule aufzeigen – lernten ihren Blick zu schulen, um dreidimensionale Vorlagen in die zweidimensionale Fläche zu übertragen, wurde die Möglichkeit disziplinübergreifend zu agieren genutzt: Es wurde seziert, präpariert, mikroskopiert, gezeichnet, gemalt, experimentiert, gebaut und vieles mehr, um stets neue Sichtachsen einnehmen zu können.29
29 Vgl. Dlugaiczyk: Architektur im Labor (wie Anm. 21).
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Abb. 3: Technische Hochschule Karlsruhe, Aulagebäude 1899 (Aula und Zoologie; Grundrisse 1. und 2. Geschoss), Collage An der Technischen Hochschule Karlsruhe lässt sich ein ähnliches System nachweisen, über das der Architekt Josef Durm 1899 notiert: »Der Bau dient in erster Linie der graphischen Abteilung sowie der Repräsentation der Anstalt, die bis heute eines Festraumes, einer Aula, entbehrte, daneben soll es den zoologischen Sammlungen ein Unterkommen gewähren.«30 (Abb. 3) Im gleichen Trakt war zudem die kunsthistorische Sammlung untergebracht. Ferner konnte dem Bereich der Zoologie die Abteilung der vergleichenden Anatomie beigeordnet sein oder – wie das Aachener Beispiel zeigen wird – als eigenständiger Ergänzungskurs für Architekten das Lehrangebot flankieren. Insgesamt lässt sich für die Technischen Hochschulen kein einheitliches Lehrsammlungsgefüge ausmachen, vielmehr orientiert sich das Angebot an den jeweiligen Gegebenheiten und Personalstrukturen. Die Idee allerdings, Diversität und das Experiment zu fördern – und sei es mittels fliegender Schmetterlinge –, um Improvisationen, neue Zusammenhänge und darüber hinaus den allseits geforderten
30 Durm, Josef: Der Aula- und Hörsaalbau der Technischen Hochschule in Karlsruhe, in: Zeitschrift für Bauwesen, XLIX, 1899, Sp. 203-208; Atlas, Tafel 21-24.
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Abb. 4: Bau-Körper (Fritz Kahn: Das Leben der Menschen; Robert Vischer: Leitfaden für den Unterricht der Anatomie …; Gemäldekopie nach Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp, TH Aachen), Collage baukünstlerischen Ansatz zu fördern, nahmen alle Technischen Hochschulen für sich in Anspruch. Natur und das Wissen über Natur spielten in diesem Kontext eine zunehmend wichtiger werdende Rolle – sei es für die Bereiche des Kunstgewerbes oder der Architektur. Dies gilt bekanntlich insbesondere für die Jugendstilarchitektur und -ornamentik. Eines der kennzeichnenden Merkmale des Stils ist der emphatische Naturbezug, der sich vor allem in einer linear-bewegten Formensprache äußert. Grundlegender waren jedoch die (wieder-)entdeckten Erkenntnisse über Strukturen und Ordnungsprinzipien der Naturformen – etwa die Tragfähigkeit eines Blattes, die Biegsamkeit eines Halmes oder die Oberflächenbeschaffenheit eines Blütenkelches, die für die Tektonik eines Gebäudes dienstbar gemacht werden konnten. Analog zur Entwicklung der zoologischen Sammlungen innerhalb von Technischen Hochschulen entstanden kurz vor der Jahrhundertwende zahlreiche botanische Institute, die, unabhängig vom botanischen Garten, Gewächshaus oder von Herbarien, systematische und morphologische Sammlungen mit zahlreichen Spiritus- und Trockenpräparaten, Wasserpflanzen, teratologischen, phytopatho-
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logischen, pharmakognotischen oder Holzsammlungen – um nur einige Bestandteile aus dem Karlsruher Bestand zu benennen – umfassen konnten.31 Botanische Lehrsammlung, Labor und/oder Mikroskopiersaal standen den ArchitekturEleven ebenfalls für eigene Studien zur Verfügung. Das Format der populärwissenschaftlichen Bücher, wie sie von Haeckel und Blossfeldt vorgelegt wurden, um die Neugierde der Massen für naturwissenschaftliche Themen zu bedienen, wird für den Bereich der Anatomie durch Fritz Kahn vertreten. In seiner fünfbändigen Abhandlung über das Das Leben des Menschen (1922-1931) (Abb. 4) finden sich komplexe Prinzipien in Natur und Technik in außergewöhnlich sprach- und bildgewaltigen Metaphern allgemeinverständlich darstellt. So hat der Autor die Analogien zwischen ›Architektur des menschlichen Körpers‹ und ›Architektur als menschlicher Körper‹ pointiert in Szene gesetzt, indem er etwa technische Stützkonstruktionen mit dem menschlichen Knochenbau in Beziehung setzt (Abb. 4 l.). Körper-Bau und Bau-Körper verschmelzen durch die unmittelbare Gegenüberstellung zu einer gedanklichen Einheit. In seiner Funktion als Arzt und Autor trieb Kahn in seinen Bildern auf die Spitze, was vor allem im späten 19. Jahrhundert mit seiner rasanten Technikentwicklung immer wieder staunend bemerkt worden war, nämlich dass zwischen den Bau- und Funktionsprinzipien des menschlichen Körpers und den technischen Erfindungen der Zeit erstaunliche Parallelen bestehen. So avancierte das reich illustrierte Werk vor der gesellschaftspolitischen Folie der technischen und kulturellen Entwicklung der Weimarer Republik zu einem Bestseller, in dem der ›Mensch als Industriepalast‹ und damit als ›leistungsfähigste Maschine der Welt‹ dargestellt wurde.32 Um Architekturen und das Wissen über Architektur nach innen wie außen produktiv präsentieren zu können, wurden anatomische Modelle bereits frühzeitig in den akademischen Lehrbetrieb von Architekturfakultäten integriert, weil an ihnen die Themen Raum, Körper und Bewegung bestens exemplifiziert werden konnten. Dafür wurden anatomische Lehrsammlungen angelegt, die vom Skelett (Konstruktion), über den Muskelmann (Muskelapparat) bis hin zur Skulptur (Oberflächenanatomie) reichten, um den Aufbau des Körpers von innen nach außen und in seinem Verhältnis von Dynamik und Statik nachzeichnen zu können. Kulminationspunkt aller Studien stellte das lebende Objekt dar, das
31 Vgl. Die Großherzogliche Technische Hochschule Karlsruhe. Festschrift zur Einweihung der Neubauten im Mai 1899, Stuttgart 1899, S. 76. 32 Vgl. Kahn, Fritz: Das Leben des Menschen. Eine volkstümliche Anatomie, Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen, 5 Bde., Stuttgart 1922-1931.
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Aktmodell, an dem es das Verständnis von innerer Struktur und äußerer Form zu exemplifizieren galt. Den dreidimensionalen Modellen wurden bisweilen auch Gemälde zur Seite gestellt, um das Wissen über Anatomie und deren Geschichte anschaulich werden zu lassen. Dazu gehörte insbesondere Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp (Abb. 4 u. r.), worüber die Modalitäten einer Anatomie im Allgemeinen und der Armsektion im Besonderen, aber auch die Möglichkeit der Überprüfung, des Vergleichs zwischen dem geschriebenen Wort, dem Objekt und der praxisorientierten Demonstration thematisiert werden konnte. Das Bild verhandelt somit das für die Kunstgeschichte zentrale Prinzip des Sehens und Erkennens mittels Vergleich. In diesen Aspekten dürfen die Gründe vermutet werden, weshalb Franz Reiff von dem Gemälde eine Kopie als nahezu programmatisches Lehr- und Leitbild für die Sammlung der Architekturfakultät anfertigen ließ.33 Doch der Blick ins Innere vollzog sich nicht allein durch Modelle, Schautafeln oder Traktatliteratur, sondern über die Bereitstellung von Präparaten. Es sind demnach nicht nur Gipse und Bildnisse als Surrogate für den menschlichen Körper herangezogen worden. Das heißt, den angehenden Architekten wurde an der Schnittstelle zum 20. Jahrhundert die ›eigenhändige‹ Überprüfung des akademischen Körperbildes – wie es die Anatomie des Dr. Tulp vorgibt – ermöglicht. Darüber legen beispielsweise die Jahresprogramme der Technischen Hochschulen Aachen beredtes Zeugnis ab. Während in der Regel in der Kategorie »Außerordentliche Vorträge und Übungen«34 eine Stunde in der Semesterwoche über Themen wie etwa »Elliptische Funktionen«, »Mathematische Theorie der Elastizität fester Körper«, »Gerichtliche Chemie«, »Technische Formenlehre für Ingenieure und Architekten«, aber beispielsweise auch über Bierbrauerei gelesen wurde, veranschlagte man bereits im Gründungsjahr 1870 der Technischen Hochschule Aachen für das Themengebiet der »Anthropologie, Gesundheitspflege und Gewerbe-Sanitätspolizei« immerhin 25 Abendvorträge von je zwei Stunden samt anschließendem Colloquium. Erläuternd ist der Ankündigung beigefügt: »Unser Jahrzehnt fordert die Emancipierung aller gebildeten Volksklassen zu dem naturwissenschaftlichen Einblick in die Anatomie, die Physik und den Chemismus unseres eigenen
33 Vgl. Dlugaiczyk/Markschies: Mustergültig (wie Anm. 22), S. 16-39. 34 Alle Zitate in diesem Absatz stammen aus dem Programm der königlichen rheinischwestfälischen Polytechnischen Schule zu Aachen, 1870/71, S. 34-36, http://www. archiv.rwth-aachen.de/wp-content/uploads/2014/05/VV1870-71.pdf [Stand: 11. August 2016].
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Körpers«. Dazu sei es – so heißt es weiter – in einem ersten Schritt notwendig, sich der »Geschichte des anatomischen Menschstudiums« zu vergegenwärtigen und zwar »von der Thieranatomie des Galenus, [über, Ergänzung d. Verf.] die zünftige Periode der mittelalterlichen Menschenanatomie bis zur Gegenwart«. Um den aktuellen, nicht zuletzt gesellschaftspolitischen Belangen gerecht zu werden, schlossen sich Ausführungen zur »Gesundheitspflege der letzten Jahre« an. Diesem vermutlich rein theoretischen Ein- und Überblick folgten die aufeinander aufbauenden Themenbereiche wie etwa die Zergliederung des menschlichen Körpers (Anatomie), die Funktion verschiedener Organe, Aspekte der allgemeinen Gesundheitspflege und Ausführungen über die Gewerbesanitätspolizei. Ziel der Unterweisung sei es, so ist es den kurzen Programm-Erläuterungen zu entnehmen, das Zusammenwirken von Medizinern und Technikern in allen Belangen des Lebens zu verbessern. Schlagworte wie Belüftung, Hygiene, Bewegung, Licht, Kanalisation und Raumdispositionen in Arbeiterwohnungen, Industrieanlagen bis hin zu Gefängnis- und Irrenanstalten – um nur einige Punkte zu benennen – sollten thematisiert und mit den Funktionen und positiven wie negativen Auswirkungen auf verschiedene Organe – wie etwa Leber, Niere, Gehirn – in Verbindung gebracht werden. Somit stand nicht weniger als der Mensch in seiner gebauten Umwelt zur Diskussion. Diesem grundlegenden Thema stellte man nicht nur im übertragenen Sinne viel Raum zur Verfügung, sondern gleich die gesamte Aula der Technischen Hochschule Aachen, da es eine öffentliche Veranstaltung war, die der »Emancipirung aller gebildeten Volksklassen«35 dienen sollte.36 Doch wie sah der Unterricht aus? Welche Vermittlungspraktiken kamen zum Einsatz? Welche Lehrmittel?
35 Die nachfolgenden Zitate stammen aus dem Programm der königlichen rheinischwestfälischen Polytechnischen Schule zu Aachen, 1870/71 (wie Anm. 34), S. 34-36. 36 Über die genaue Zusammensetzung des externen Publikums könnte eine Auswertung der Tagespresse Auskunft geben. Öffentliche Veranstaltungen im Reiff-Museum der Technischen Hochschule Aachen zogen in steter Wiederholung zahlreiche Interessierte an: »An jedem Sonntagvormittag versuchte ich [Max Schmid-Burgk, Anm. d. Verf.] durch öffentliche Erläuterungen das Interesse an der Kunst auch in weiten Kreisen zu beleben. Diese Führungen, an denen oft mehrere hundert Besucher teilnehmen, haben sich eingebürgert, da sie stets reiche Belehrung boten und allen Bewegungen auf dem Gebiet der Kunst nachgingen.« Schmid-Burgk, Max, zit. nach: Gast: Die Technische Hochschule zu Aachen (wie Anm. 20), S. 209.
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Neben der klassischen Form der Vorlesung mit Erläuterungen etwa von Traktatliteratur oder anatomischen Tafeln kam es zur »Demonstration am Gerippe, an einzelnen Knochen des Skelettes [sowie an, Ergänzung d. Verf.] Präparaten«, um das Themenspektrum »Skelett, Muskeln und Hautbedeckung; Eingeweide der Schädel-, Brust und der Bauchhöhle; Gefässe und Nerven« abdecken zu können. Ferner lässt sich der Ankündigung entnehmen, dass »durch chemische, physikalische und spektralanalytische Experimente […] das Verständnis der Vorträge wesentlich erleichtert« wurde. Aufgrund des Erfolges stellte man im nachfolgenden Studienjahr der anatomischen Vorlesung für die Techniker einen »Practisch-microskopische[n] Curs«37 zur Seite, in dem einmal wöchentlich das Gebiet der Gewebelehre und der Entwicklungsgeschichte gelehrt wurde. Letzteres – so weisen es die Quellen aus – an Hühnerembryonen. Bereits mit Beginn des Lehrbetriebes (1870) gab es demnach an der Technischen Hochschule Aachen eine anatomische, anthropologische Sammlung, die nicht nur von den Architekten für Studienzwecke genutzt werden konnte, sondern es ihnen auch ermöglichte – analog zu Haeckel und Binet – die Natur-Welt erkenntnisorientiert in den mikroskopischen Blick zu nehmen. Abbildungen oder Exponate der Sammlung haben sich leider nicht erhalten, während der Präparator durch eine spezielle Wendung innerhalb seiner Profession als Dr. med. Heinrich Oidtmann konturiert werden kann.38 Er war, so gibt es die Familienchronik vor, »Student der Chemie und später Arzt. Aus Liebhaberei unterhielt er schon als Student ein chemisches Laboratorium. Verschiedene Versuche, die er unter dem Mikroskop anstellte, wobei er Präparate verschieden einfärben musste, erweckten in ihm eine starke Vorliebe für bunte Gläser«39. Um dieser Passion frönen zu können, schuf er eine Manufaktur für Glasmalerei beziehungsweise Glasdruck in Linnich. Es darf vermutet werden, dass die anatomischen Glaspräparate in ihrer Qualität den botanischen und zoologischen Glasmodellen der Gebrüder Blaschka – die Haeckels Mustervorlagen nutzten – nur geringfügig nachstanden.40 Obwohl das Unternehmen nicht nur national, sondern vor allem international erfolgreich
37 Vgl. Programm der königlichen rheinisch-westfälischen Polytechnischen Schule zu Aachen, 1873/74, S. 105, http://www.archiv.rwth-aachen.de/wp-content/uploads/ 2012/11/Vorlesungsverzeichnis-Studienjahr-1873-74.pdf [Stand: 11. August 2016]. Alle Zitate in diesem Absatz stammen aus dem Programm 1873/74. 38 Programm der königlichen rheinisch-westfälischen Polytechnischen Schule zu Aachen, 1870/71 (wie Anm. 34), S. 35. 39 Ludwigs, Kurth H.: Chronik, in: Licht. Glas. Farbe. Arbeiten in Glas und Stein aus den Rheinischen Werkstätten Dr. Heinrich Oidtmann, Aachen 1982, S. 207-217. 40 Vgl. Rasper, Martin: Blaschka. Gläserne Geschöpfe des Meeres, München 2007.
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war und bis heute ist, blieb Oidtmann als Arzt weiterhin aktiv tätig und ließ beide Erfahrungs- und Wissensstränge in seine Lehrtätigkeit einfließen. Dabei entwickelte sich frühzeitig ein enger Kontakt zur Bauschule beziehungsweise der Architekturabteilung der TH, da er u. a. Kartons für großformatige Glasfenster beziehungsweise Glasteppiche benötigte. In diesem Rahmen dürfte Oidtmann unmittelbar mit Reiff in Verbindung getreten sein, der in der Aachener Architekturabteilung als Ordinarius für Figuren- und Landschaftszeichnen tätig war und die angehenden Architekten im »Zeichnen nach dem Flachen« (Vorlagenwerke), im »Zeichnen nach dem Runden« (Gipse) und im Zeichnen nach plastischen, anatomischen Präparaten unterwies, bevor sie sich der Darstellung der ganzen Figur nach der Natur widmen konnten.41 Dabei dürften die Präparate identisch mit denen aus der anatomischen Vortrags- und Versuchsreihe gewesen sein. Etwa zeitgleich veröffentlichte August Vischer – der an der TH Karlsruhe die gleiche Position innehatte wie Reiff in Aachen – einen Leitfaden für den Unterricht der Anatomie und Proportionslehre des menschlichen Körpers für Technische Hochschulen (Abb. 4 o. r).42
S ICHTACHSEN –
AROUND THE WORLD
Anhand dieser Beispiele lässt sich aufzeigen, dass anatomische Studien nicht nur anhand klassischer Modelle verhandelt wurden, sondern darüber hinaus die Architekten die Gelegenheit zur eigenständigen Überprüfung hatten: »An Technischen Hochschulen sollte das Wissen von den Kunstwerken zurücktreten gegenüber dem Sehen, Beobachten, Einfühlen. Grundlegend ist das Anschauungsmaterial […]. Der Studierende mag aus [einem, Ergänzung d. Verf.] Handbuch die
41 Zitate stammen aus dem Programm der königlichen rheinisch-westfälischen Polytechnischen Schule zu Aachen, 1878/79, S. 35, http://www.archiv.rwth-aachen.de/web/ ouploads/Vorlesungsverzeichnis%201878_1879.pdf [Stand: 11. August 2016]. 42 Vischer, August: Leitfaden für den Unterricht der Anatomie und Proportionslehre des menschlichen Körpers für Technische Hochschulen, Kunst-, Baugewerbe- und Kunstgewerbe-Schulen etc., Karlsruhe 1878. Vgl. Cathiau, Thomas Joseph: August Vischer, in: von Weech, Friedrich/Krieger, Albert (Hg.): Badische Biographien, V. Teil 18911901, Bd. I, Heidelberg 1906, S. 786-788.
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fehlenden Daten und Tatsachen durch eigenes Studium ergänzen. Er kann es, wenn er sehen gelernt hat.«43 Das neue Sehen war möglich, da sich durch die noch nicht erfolgte Ausdifferenzierung der Fächer die Sammlungen und deren Nutzer in steter Rotation befanden. Hieran zeichnet sich einmal mehr ab, dass man nicht nur neue, der Architektur dienende Lehrmittel in die Sammlung integrierte, sondern ferner disziplin- und spartenübergreifend einen neuen Umgang mit Unbekanntem und Bekanntem erprobte. Damit sollte sich das Tor zur Moderne öffnen – Bau-Künstler entstehen.44 Ernst Haeckels Forschungen weisen analoge Strukturen auf. So urteilte Wilhelm Bölsche45 1900 über die erste Lieferung der Kunstformen der Natur: »Der erste Anblick ist prachtvoll. […] Aber die Auswahl, die Anordnung ist unerhört. […] Tiere, Pflanzen aus allerlei Gruppen scheinbar regellos herausgegriffen, das ganze systematische Museum verkehrt.«46 Doch dem Grunde nach stand Haeckel mit dieser vermeintlichen Beliebigkeit Gottfried Sempers Idee des »Idealen Museums« (1852) überaus nahe, in dem die künstlerischen Artefakte und Naturformen in Beziehung gesetzt werden sollten zu den Dingwelten der gebauten Umwelt. Semper notierte dazu: »Ordnung und Deutlichkeit sind durch Sonderung und Gruppirung unschwer zu erreichen. Sehr schwierig aber ist es damit eine Anordnung zu verbinden, welche Vergleichungen ermöglicht, weil die Beziehung zwischen den vorhandenen Dingen zahllos und sehr verwickelt sind. Und doch ist es zweifellos, dass eine gute auf der Möglichkeit der Vergleichung beruhende Anordnung den Studirenden befähigt die Gegenstände in ihren wechselseitigen Beziehungen zu sehen, ihre verschiedenen Verwandtschaften und Unähnlichkei-
43 Erinnerungen von Max Schmid-Burgk (1860-1925), Ordinarius in der Architekturabteilung, in: Gast: Die Technische Hochschule zu Aachen (wie Anm. 20), S. 208. Zu seiner Biografie vgl. Dlugaiczyk: Mustergültig (wie Anm. 22), S. 74-85. 44 Der Architekt Hermann Muthesius vertrat 1912 die Meinung, dass das Studium an Technischen Hochschulen »mehr darauf angelegt war, spätere Räte vierter Klasse [sog. Baubeamte, Ergänzung d. Verf.] als Baukünstler erster Klasse zu erziehen«, weil »im heutigen Unterrichtsbetriebe die übliche bloße Aneignung der architektonischen Äußerlichkeiten […] fern von der Allgemeinkunst vor sich geht«, zit. nach: Dlugaiczyk/Markschies: Vom Stand- aufs Spielbein (wie Anm. 21), S. 151. 45 Vgl. Kockerbeck, Christoph: Ein Denker zwischen Darwin und Haeckel. Dem Publizisten, Redakteur, Romancier und Naturphilosophen Wilhelm Bölsche zum 70. Todestag, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 62 (9), 2009, S. 459-469. 46 Zit. nach: Kockerbeck: Ernst Haeckels Kunstformen (wie Anm. 2), S. 109.
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Abb. 5: Der Architekt als Weltenschöpfer (Jubiläums-Postkarte TH Hannover, 1906; Gott als Weltenschöpfer: Bible moralisée Cod. 2554 fol. IV), Collage ten zu beobachten und die Gesetze und Vorbedingungen herauszufinden, von denen alle diese gegenseitigen positiven und negativen Beziehungen abhängen.«47
Die Welt im Ganzen zu betrachten ist Grundgedanke jeder Weltausstellung,48 um Strömungen respektive dem Zeitgeist nachzuspüren, der sich um 1900 insbesondere an die Themen technischer Fortschritt und Naturbeherrschung bindet – wie es Binets Radiolarien-Einfallstor in die Welt der Moderne vorgibt. Dass sich die Architekten etwa der Technischen Hochschule Hannover kurz nach der Jahrhundertwende nicht mehr als Baubeamte, sondern als ›Weltenschöpfer‹ verstanden wissen wollten, die über die gleichermaßen heterogenen wie eng vernetzten Lehrsammlungen unmittelbarer als bislang bekannt auf ein differenziertes Wis-
47 Zit. nach: Leisching, Julius: Gottfried Semper und die Museen, in: Mitteilungen des Mährischen Gewerbe-Museums in Brünn, Jg. 21, Nr. 24, Dezember 1903, S. 186-192, hier S. 189. Semper hat das Manuskript über die Idee des »Idealen Museums« 1852 in englischer und 1889 in deutscher Sprache verfasst; Leisching zitiert aus dem deutschen Manuskript. 48 Vgl. te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 73104; vgl. Dlugaiczyk: Vom Stand- aufs Spielbein (wie Anm. 21), S. 148-163.
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sen aus und über Natur/Geschichte sowie Kultur/Technik zurückgreifen und darauf – schöpferisch, individuell und geistvoll – aufbauen konnten, vermittelt eindrucksvoll eine 1906 in Umlauf gebrachte Postkarte (Abb. 5) anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Technischen Hochschule Hannover, auf der der Architekt nicht nur die neuesten technischen und baulichen Errungenschaften stemmt, sondern selbstbewusst die Rolle des göttlichen Weltenschöpfers adaptiert.
Natur im Kasten Ästhetische und museale Antworten auf das Problem des naturgeschichtlichen Dioramas
U TA K ORNMEIER UND G EORG T OEPFER
Dioramen in naturgeschichtlichen Museen sind Installationen von Naturszenen, in denen Objektivität und Imagination – wissenschaftliche Erkenntnis von Wirklichkeit und künstlerische Gestaltung – miteinander verschränkt sind. Sie treiben ein illusionistisches Spiel mit dreidimensionalen Objekten im Vordergrund und Wandgemälden im Hintergrund, um einen realistischen Eindruck von einer vom Menschen unberührten Natur zu vermitteln. Das zentrale Merkmal von Dioramen besteht also darin, dass sie Imaginationen enthalten, um Objektivität darzustellen: »Sie inszenieren eine Illusion zur Veranschaulichung realer Fakten«, wie Karl Otto Meyer, der ehemalige Leiter des Staatlichen Museums für Naturkunde Oldenburg 1995 schreibt.1 Künstlerische Imagination steht im Dienst der Vermittlung objektiver naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Dioramen sind also stets beides – objektiv realistisch gemachte Natur und künstlerische Imagination; sie enthalten authentische Naturobjekte, die zugleich Kunstwerke sind.2 In diesem Doppelaspekt liegt ein ästhetisches Dilemma begründet, dessen beide Seiten wir hier beleuchten wollen.
1
Meyer, Karl Otto: Szenarien der Illusion. Panoramen und Dioramen, in: TenDenZen.
2
Vgl. Gall, Alexander/Trischler, Helmuth: Museumsdioramen: Geschichte, Varianten
Jahrbuch des Übersee-Museums 4, 1995, S. 43-58, hier S. 43. und Potenziale im Überblick, in: dies. (Hg.): Szenerien und Illusion. Geschichte, Varianten und Potenziale von Museumsdioramen, Göttingen 2016, S. 9-26, hier S. 9. Der Begriff des Kunstwerks beziehungsweise der Kunst steht in unserem Text in einem weiteren Sinne vor allem als Gegensatz zu Natur beziehungsweise Natürlichkeit.
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1. D AS V ERSPRECHEN D IORAMAS
DES NATURGESCHICHTLICHEN
Naturgeschichtliche Dioramen sind eine Illusion von Natur, die uns nicht täuschen, sondern unser Herz berühren und den Horizont des Wissens erweitern soll – »to tug at our hearts and open our minds«3, so formuliert es Stephen Christopher Quinn, der Diorama-Projektmanager am American Museum of Natural History. Bei vielen von uns funktioniert diese Illusion. Dies belegt etwa Durs Grünbeins Essay »Kindheit im Diorama« aus dem Jahr 1993. Darin berichtet der Dichter von seiner Begegnung mit Dioramen im Alter von sechs Jahren: »Paläste des kollektiven Träumens öffnen ihre Tore. […] Hinter einem der Vorhänge, mäuschenstill wie beim Versteckspiel, stand ich und hatte die Zeit gleich vergessen, denn vor mir lag Afrika, eine hitzeflimmernde Savannenlandschaft. Oder es kam vor, daß ich fröstelnd vorn an der Glasscheibe lehnte, und vor mir türmten sich Eisschollen vor einem blaugefrorenen Horizont. Trat dann mein Großvater hinzu, zeigte ich meist nur stumm ins Bambusdickicht auf den flach sich anschleichenden Tiger, oder ich warnte ihn mit einem Blick vor den Wildschweinen im Unterholz. […] Bei längerem Hinsehn stellten sich leichte Schwindelgefühle ein. Dieses wie hinter zurückgebogenen Zweigen heimlich Belauschte, dieses auf einer ewigen Lichtung Erstarrte – es versetzte mich in kleine Ekstasen und verfolgte mich bis in die Träume, lange bevor ich wußte, was eine Epiphanie ist. Heute scheint mir, daß in solchen Augenblicken meine ganze Kindheit Eingang ins Diorama fand.«4
Das ästhetische Erleben von Dioramen ist hier prägnant beschrieben: das Gebanntsein von der dargestellten Szene, die zum Eintauchen, zur Immersion in eine virtuelle Realität verführt.5 Grünbein spricht von einer »Augenweide«6. Verstärkt wird diese Rezeptionsweise, weil das Dargestellte zwar eine realistisch inszenierte, aber doch zeitlich stillgestellte Situation ist. Dem naturwissenschaft-
3
Quinn, Stephen Christopher: Windows on Nature. The Great Habitat Dioramas of the
4
Grünbein, Durs: Kindheit im Diorama (1993), in: ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle
American Museum of Natural History, New York 2006, S. 23. und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989-1995, Berlin 1996, S. 117-128, hier S. 117, 120, 122. 5
Zum Begriff der Immersion vgl. Grau, Oliver: Immersion & Emotion. Zwei bildwissenschaftliche Schlüsselbegriffe, in: ders./Keil, Andreas (Hg.): Mediale Emotion. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a. M. 2005, S. 70-106.
6
Grünbein: Kindheit (wie Anm. 4), S. 123.
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lich Interessierten ermöglicht das zeitliche Stillstellen einen detaillierten Einblick in ein möglicherweise hochdynamisches Geschehen (beispielsweise eines innerartlichen Kampfes oder eines Beuteerwerbs). Anders als eine vollständige Filmsequenz lädt der zeitliche Stillstand außerdem zum Konfabulieren ein, zum Weiterspinnen von möglichen Handlungsverläufen. Dioramen zielen also ebenso auf den Realitätssinn wie auf die Imagination. Sie haben Bezüge zu realen Welten wie zur Fantasie und sind von ihrem Herstellungsprozess bis zur Rezeption Synthesen von Naturwissenschaft und Kunst. Der realistische, objektive Aspekt der Dioramen folgt aus der Absicht, einen naturwissenschaftlich korrekten, verdichteten Eindruck einer Landschaft als natürlichen Lebensraum oder Habitat zu vermitteln. Als ausdrückliches Ziel formuliert dies 1921 Frederic Lucas, der damalige Direktor des American Museum of Natural History. Die Funktion der Habitatgruppen des Museums sei es, die Atmosphäre typischer Landesteile mit ihrer Tier- und Pflanzenwelt einzufangen und dem Betrachter vorzuführen.7 Als Hauptziel der Habitatdioramen gilt es dabei, eine ganze Landschaft unmittelbar physisch erlebbar zu machen. Im Zentrum der Dioramaerfahrung steht also ein holistisches Erlebnis im Sinne Alexander von Humboldts: die Vermittlung des Gesamteindrucks einer Landschaft.8 Der Fokus wird dabei vom einzelnen Tierobjekt abgezogen und auf die Atmosphäre des gesamten Settings gelenkt; die Begegnung mit individuellen Tieren oder Pflanzen steht nicht im Vordergrund. Weil das Miteinander von Tieren verschiedener Arten in einer »Lebensgemeinschaft« oder »Biozönose« (Karl Möbius) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders von deutschsprachigen Autoren zum Forschungsgegenstand erhoben wurde, ist in Bezug auf Habitatdio-
7
Vgl. Lucas, Frederic A.: The Story of Museum Groups, New York 1921, S. 26-27.
8
Im zweiten Band seines Kosmos (1847) schlug Humboldt tatsächlich die Einrichtung von Panoramabildern in europäischen Städten vor. Er plädierte dabei besonders für das Medium der »Rundgemälde«, weil in ihnen »der Beschauer, wie in einen magischen Kreis gebannt und aller störenden Realität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt. Sie lassen Erinnerungen zurück, die nach Jahren sich vor der Seele mit den wirklich gesehenen Naturscenen wundersam täuschend vermengen«, von Humboldt, Alexander: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 2, Stuttgart 1847, S. 93. Die Rundgemälde sollten dabei »wechselnd Landschaften aus verschiedenen geographischen Breiten und aus verschiedenen Höhezonen« darstellen (ebd., S. 94); vgl. Wonders, Karen: Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History, Uppsala 1993, S. 193-196, und Lubrich, Oliver: Vom Guckkasten zum Erlebnisraum. Alexander von Humboldt und die Medien des Reisens, in: Figurationen 2, 2007, S. 47-66, hier S. 60-61.
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ramen von der »deutschen ›biologischen Perspektive‹«9 die Rede (auch wenn Habitatdioramen im Rahmen von »biologischen Museen« zuerst in Schweden ausgestellt wurden)10. Habitatdioramen zielen auf die Herstellung der sinnlichen Illusion, sich in einer bestimmten Region und in Gesellschaft von bestimmten Tieren zu befinden. Sie sind »immersive Bilder«11, in denen die Umgebung der Betrachter durch ein Ausfüllen des Sehfeldes, die Abwesenheit von Beschriftungen und die scheinbare Fortsetzung des physischen Raumes, in dem sie sich befinden, ausgeblendet wird. Die Museumsbesucher sollen sich für einen Moment so fühlen, als hielten sie sich in der präsentierten Landschaft auf, etwa in der afrikanischen Savanne. Zu diesem Zweck kommt jedem Detail, wie dem verwendeten Gras oder der genauen Komposition und Konstellation der vorhandenen Tierarten, große Bedeutung zu. In einer Beschreibung aus den 1940er Jahren werden die Dioramen als großstädtische Oasen und Rückzugsräume in die Natur verstanden. Im Diorama könne sich der Betrachter selbstvergessen mit der Natur verbunden fühlen (»the visitor can lose himself in communion with nature«12). Erreicht wird dieses Ziel durch die formalen Eigenschaften von Dioramen, insbesondere die folgenden fünf: Illusionistisch: Durch die Kombination aus dreidimensionalen Objekten in Originalgröße und perspektivischen Bildern im Hintergrund entsteht der Eindruck eines weiten Raums, der selbst einen großen Naturausschnitt bildet. Authentisch: Die Verwendung von Oberflächenteilen ehemals lebender Tiere (Felle, Federkleid, Schuppenhaut etc.) ermöglicht es, diese naturalistisch bis ins Detail nachzubilden. Die Präparate aus Überresten von Lebewesen (»remnant models«13) macht die Objekte zu »Bildern ihrer selbst«14 oder indexikalischen
9
Rader, Karen A./Cain, Victoria E. M.: Life on Display. Revolutionizing U.S. Museums of Science and Natural History in the Twentieth Century, Chicago 2014, S. 54.
10 Vgl. Wonders: Habitat Dioramas (wie Anm. 8), S. 47-71. 11 Vgl. Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge, Mass. 2003. 12 Anthony, Harold: A grand tour of North America, in: Natural History 49, 1942, S. 188-193, hier S. 189. 13 Griesemer, James: Modelling in the museum. On the role of remnant models in the work of Joseph Grinnell, in: Biology and Philosophy 5, 1990, S. 3-36, hier S. 8. 14 Rheinberger, Hans-Jörg: Präparate – ›Bilder‹ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Glosse, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1.2, 2003, S. 9-19, hier S. 9.
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Modellen, die nicht nur in einer Ähnlichkeitsrelation, sondern auch einer kausalen Relation zu den von ihnen repräsentierten Lebewesen stehen. Szenisch: Dioramen enthalten Momentaufnahmen einer spezifischen Interaktion, z. B. Elterntiere im Umgang mit ihren Jungen, häufig auch aggressive Szenen wie Löwen bei der Jagd oder männliche Gorillas in Imponierhaltung. Kontextualisierend: Die Tierpräparate werden nicht für sich stehend, sondern im Bezug zu ihrer natürlichen Umwelt gezeigt; sie erscheinen eingebettet in ihre jeweilige Welt, die nach Beobachtungen und Skizzen vor Ort detailgetreu nachempfunden werden sollte. Idealisierend: Meist enthalten Dioramen ein idyllisches Naturbild von einem intakten Ökosystem mit gesunden Tieren in einer vom Menschen unberührten Natur. Tierpräparate erscheinen dabei »wie geboren, nicht gemacht«15. Aufgrund dieser formalen Merkmale sind Dioramen ein paradigmatischer Fall von naturalistischer Kunst. In ihnen verbinden sich die drei Illusionen des Räumlichen, Körperlichen und Stofflichen mit den drei Richtigkeiten des zeichnerischen Details, des Anatomischen und des Farblichen.16 Die formalen Merkmale machen Dioramen auch zu ›systemischen‹ Ordnungen, denn sie stellen Tiere nicht nur aus, sondern liefern ein Modell eines ganzen ökologischen Systems. Sie stehen damit neben anderen systemischen Formaten, insbesondere neben den an ›räumlichen‹ Kriterien des Vorkommens von Tierarten orientierten ›biogeografischen‹ Ausstellungen, wie den geografischen Gruppen im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, und den an ›zeitlichen‹ Kriterien der phylogenetischen Differenzierung orientierten ›taxonomischen‹ Ausstellungen. Die Ausstellungslogik nach taxonomischen Systemen ist seit dem 19. Jahrhundert in allen größeren Naturkundemuseen verbreitet, etwa indem die Präparate von Vertretern der großen Verwandtschaftsgruppen, der Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische, in getrennten Sälen ausgestellt werden. Seltener werden explizit phylogenetische Stammbäume gezeigt, wie beispielsweise im Phyletischen Museum in Jena. In diesen wird die zeitliche Grundlage der Ordnung durch die Sequenz der evolutionären Spaltungsereignisse deutlich.
15 Alberti, Samuel: Constructing nature behind glass, in: Museum&Society 2, 2008, S. 73-97, hier S. 79. 16 Vgl. Schmidt, Georg: Naturalismus und Realismus, in: Neske, Günther (Hg.): Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag, Pfullingen 1959, S. 264-275, hier S. 269.
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Die systemische Ausstellungslogik der Dioramen folgt nicht rein zeitlichen oder räumlichen Kriterien, sondern ›funktionalen‹. Dargestellt sind die Interaktionen und ökologischen Verbindungen von Tieren und Pflanzen eines Lebensraumes. Weil es dabei nicht um die isolierten Objekte, sondern ihre Aktivitäten, kausalen Einflüsse und insgesamt ihre Einbettung in einen ökologischen Kontext geht, enthalten die Dioramen zumindest Elemente von ›Kausalinszenierungen‹ (im Gegensatz zu reinen ›Objektinszenierungen‹).17 Das ökologisch-kontextualisierende Ausstellungsformat der Dioramen kommt bei Museumsbesuchern seit Langem gut an. Die Besucherforschung kann eine hohe Interaktionsintensität der Besucher mit Dioramen nachweisen. Eine Untersuchung am Naturkundemuseum Mailand belegt die signifikant stärkere Interaktion vor und mit den Dioramen als bei anderen Ausstellungsformaten.18 Zu den häufigsten Interaktionsformen gehört dabei das genaue Beobachten, Zeigen, Benennen, Nachlesen, Interpretieren und Kommentieren. Auch hinsichtlich der längeren Betrachtungsdauer unterscheiden sich Dioramen deutlich von anderen Ausstellungsformaten im Naturkundemuseum.19 Angesichts der intensiven Beschäftigung mit Dioramen verwundert es nicht, dass die lokale Bevölkerung sich in hohem Maße mit den Dioramen ihres Naturkundemuseums vor Ort identifiziert. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die massiven Bürgerproteste, die der Ankündigung des Abbaus der mehr als 60 Jahre alten Dioramen im Braunschweiger Naturhistorischen Museum folgten.20
17 Zu diesen Begriffen vgl. Plamper, Andrea: Von der Kulturlandschaft zur Wunschlandschaft. Die visuelle Konstruktion von Natur in Museen, Münster 1998, S. 185. 18 Vgl. Chiozzi, Giorgia/Andreotti, Lidia: Behavior vs. time. Understanding how visitors utilize the Milan Natural History Museum, in: Curator. The Museum Journal 44, 2001, S. 153-165. 19 Vgl. Loveland, Mark/Buckley, Barbara C./Quellmalz, Edys S.: Using technology to deepen and extend visitors’ interactions with dioramas, in: Tunnicliffe, Sue Dale/ Scheersoi, Annette (Hg.): Natural History Dioramas. History, Construction and Educational Role, Dordrecht 2015, S. 87-104. 20 Vgl. Jonscher, Norbert: Braunschweiger empört: Dioramen müssen bleiben!, in: Braunschweiger Zeitung, 20. November 2011; ders.: Dioramen-Debatte: »Wir müssen anvertraute Kulturgüter bewahren«, in: Braunschweiger Zeitung, 21. November 2011.
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2. K RITIK
AM NATURGESCHICHTLICHEN
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Unzuträgliche Spektakularisierung. Um 1900 setzten die Naturkundemuseen in den USA und in Europa auf die volksbildende Kraft der Dioramen und zahlten erfahrenen Präparatoren und Szenenbildnern hohe Gehälter. Ende der 1920er Jahre veränderte sich die Stimmung jedoch.21 Unter dem Eindruck einer Tour durch die nordamerikanischen Museen schrieb der englische Journalist G. K. Chesterton 1931: Das Museum »[…] richtet sich an die Sklaven einer zu Disziplinierungszwecken vorgeschriebenen Selbstschulung. Es bietet alle Arten von nicht zusammen gehörigem intellektuellen Futter, mit dem sie sich bei einer einzigen unverdaulichen Mahlzeit vollstopfen sollen«22. Sicherlich der Hauptgang dieser Mahlzeit waren die spektakulären Habitatdioramen des American Museum of Natural History in New York, die als »Fenster zur Natur« inszeniert waren und durch ihre Anschaulichkeit, nicht durch wissenschaftliche oder pädagogische Aufbereitung dem Wissenshunger der Besucher entgegenwirken sollten. Chesterton sah in den modernen Museumsbesuchern einen Gegensatz zum früheren Museumspublikum, der viktorianischen Mittel- und Arbeiterklasse, das sich selbständig Kenntnis von der Welt aneignen wollte, also Selbstschulung im Sinne der eigenverantwortlichen Weiterbildung vornahm;23 seine Zeitgenossen seien lediglich sightseer, deren Gang ins Museum nicht aus Wissensdurst, sondern aus Lust am Spektakel und als Zeitvertreib erfolgte. Auch wenn Chestertons Kritik generell eine bestimmte konsumorientierte Seh-Haltung im Museum betraf, zeichnet sich auch darin ab, dass die naturkundlichen Museumsdioramen ab dem dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer mehr als kulturelles Fast Food angesehen wurden.
21 Vgl. Cain, Victoria: The Art of Authority. Exhibits, Exhibit-Makers, and the Contest for Scientific Status in the American Museum of Natural History, 1920-1940, in: Science in Context 24 (2), 2011, S. 215-238. 22 Chesterton, Gilbert Keith: On sightseeing, in: All is Grist. A Book of Essays, London 1931, S. 166; Übers. Uta Kornmeier. 23 Gelegenheit zum self-improvement bereitzustellen, war während des 19. Jahrhunderts eines der Hauptargumente für die Gründung von Museen. Die Idee der SelbstWeiterbildung wurde vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert, siehe z. B. Smiles, Samuel: Self-Help, London 1859.
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Schon Ende des 19. Jahrhunderts wird ihr theatralischer und unwissenschaftlicher Charakter bemängelt.24 Auf dem ersten Deutschen Museumstag 1903 in Mannheim äußerte der Direktor des Berliner Museums für Naturkunde, Karl Möbius, den Wunsch, »keine ästhetisch widerwärtigen Panoptikumsgruppen auszustellen«25. Er plädierte dafür, die Exponate gerade nicht im Kontext, sondern möglichst isoliert auszustellen, denn: »Nur die ausgestellten Objekte sollen die Augen der Besucher fesseln«; schon jede Farbe der Umgebung sei »verkehrt«.26 Wenige Jahre nach Chestertons Essay warnte der Kurator des Städtischen Museums im englischen Stockport bei Manchester, Reginald Wagstaffe, vor dem überwältigenden Realismus von Habitatdioramen nach amerikanischem Vorbild. In einem museologischen Fachjournal schrieb er 1938: »[...] wir sollten uns fragen, ob die Entwicklung des Dioramas nicht über das Ziel hinausgeschossen ist, ob nicht die ausgeprägte, oftmals grobe Einfachheit der vergangenen Generationen zu völlig übertrieben ausgearbeiteten Schöpfungen führte, die zwar eindrucksvoll realistisch, aber nicht in gleichem Maße bildungsförderlich sind.«27
Wagstaffe hielt die Dioramen für zu detailliert und naturalistisch und sah wie Karl Möbius das eigentliche Ausstellungsobjekt, das präparierte Tier, von der ausgeklügelten Staffage in den Hintergrund gedrängt. Im Gegensatz zum kindlichen Betrachter in Grünbeins Essay, für den der Schnappschuss-Realismus der Dioramen eine Anregung zum Phantasieren war, glaubte Wagstaffe, das Streben nach einer vollkommenen Wiedergabe der Natur befördere geistige Teilnahmsund Gedankenlosigkeit – »ultimately calculated to encourage mental apathy, leaving little or nothing for a speculative mind«28. Die Vorstellung, dass ein starker visueller Eindruck, wie er durch die illusionistische Wiedergabe eines seltenen
24 Vgl. Gall, Alexander: Auf dem langen Weg ins Museum. Dioramen als kommerzielle Spektakel und Medien der Wissensvermittlung im langen 19. Jahrhundert, in: Gall/ Trischler: Museumsdioramen (wie Anm. 2), S. 27-106, hier S. 88. 25 Möbius, Karl [Diskussionsbeitrag], in: Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (Hg.): Die Museen als Volksbildungsstätten. Ergebnisse der 12. Konferenz der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Berlin 1904, S. 131-133, hier S. 133. 26 Ebd., S. 131. 27 Wagstaffe, Reginald: Effective simplicity. The tray habitat group, in: Museums Journal 37, 1938, S. 537-540, hier S. 537; Übers. Uta Kornmeier. 28 Ebd., S. 538.
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Objekts, zum Beispiel ein wildes Tier, entsteht, beim Betrachter ein Staunen hervorruft und damit eine tiefere Erkenntnis verhindert, weil die Verwunderung zur Gewohnheit wird und die Seele dabei abstumpfe, ist ein in der philosophischen Diskussion wohlbekannter Topos. Diese Befürchtung deckt sich auch in etwa mit der Kritik an bestimmten Museumsinszenierungen, die in jüngerer Zeit mit dem Stichwort der ›Disneyfizierung‹ oder des ›Edutainment‹ belegt wurden:29 billige Effekte, die auf Unterhaltungsbedürfnisse der Besucher zielen und ihnen durch sensationelle Aufbereitung anspruchs- und widerspruchslose Inhalte verkaufen. Der Vorwurf an die Dioramen war also der einer unzuträglichen Spektakularisierung der Naturkunde. Unwissenschaftlichkeit. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dieses Phänomen in Deutschland, wie schon Karl Möbius auf dem Deutschen Museumstag demonstrierte, durch einen Vergleich mit dem Panoptikum beschrieben, also einer kommerziellen Wachsfigurenausstellung, die um 1900 vor allem für aufmerksamkeitsheischende und schlüpfrige Präsentationen bekannt war.30 1905 schrieb zum Beispiel der Dresdner Museumszoologe Benno Wandollack in der neu gegründeten Zeitschrift Museumskunde: »Wenn auch solche Tableaux [d. h. Dioramen, Anm. d. Verf.] das Laienpublikum sehr bestechen, so muß man sich dabei doch stets vor Augen halten, daß damit eigentlich der wissenschaftliche Boden, den ein wissenschaftliches Museum auch in der Schausammlung unter allen Umständen haben muß, verlassen wird und man in eine bedenkliche Nähe von Instituten gerät, die mit dem Namen Panoptikum belegt werden.«31
29 Schwarzer, Marjorie/Sutton, Mary Jo: The diorama dilemma. A literature review and analysis, 2009, S. 18, Website des Oakland Museum of California: http://museum ca.org/files/gallery-documentation/Diorama-Lit-Review_Schwarzer_Sutton.pdf [Stand: 15. Oktober 2016]; vgl. Gall: Auf dem langen Weg (wie Anm. 24), S. 93. 30 Zu Castans Panoptikum in Berlin und zu Gruppenbildern (Tableaux) im Panoptikum um 1900 siehe Kornmeier, Uta: Taken from Life. Madame Tussaud und die Geschichte des Wachsfigurenkabinetts vom 17. bis frühen 20. Jahrhundert, Diss., HumboldtUniversität zu Berlin, Berlin 2006, bes. S. 244-290. Zum Vergleich von Panoptikum und Diorama siehe auch Gall: Auf dem langen Weg (wie Anm. 24), S. 88-93. 31 Wandolleck, Benno: Rezension des Annual Report of the Director to the Board of Trustees for the Year 1903-4, Field Columbian Museum, in: Museumskunde 1, 1905, S. 235-236, bes. S. 236. Siehe allgemein zur Situation in deutschen Naturkundemuseen: Köstering, Susanne: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des Deutschen Kaiserreichs 1871-1914, Köln/Weimar/Wien 2003, bes. S. 223-274.
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Zwar betrieben die Museen großen Aufwand bei der Erstellung von Dioramen, doch wirkten diese Wandolleck zufolge als sensationsheischende und im Wesentlichen unwissenschaftliche Schaustücke. In den 1930er-Jahren wurde hieraus ein Konflikt zwischen den wissenschaftlichen Kuratoren und den Präparatoren, die im Allgemeinen eine künstlerisch-handwerkliche Berufsausbildung hatten, in dem es um Autorität und Deutungshoheit im Museum ging.32 Während die Wissenschaftler für die korrekten biologischen Details zuständig waren, wurden die kontextualisierenden Terrains von den Präparatoren und Kulissen-Künstlern geliefert. Zwar waren sie von der gleichen Leidenschaft für die Natur motiviert wie die Wissenschaftler und konnten oft auch langjährige Erfahrung in Feldforschung und Tierbeobachtung vorweisen, doch hatten sie zumeist keinen Universitätsabschluss. Auch war ihre Perspektive eine andere, denn sie wollten nicht zoologische Systematik betreiben und einzelne Arten unterscheiden, sondern ein Stück Natur in Szene setzen. So ging es bei dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit von Dioramen auch um die Frage nach der Aufgabe des Museums und um die Definition seiner wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wissenschaftler, die sich immer mehr als Zulieferer von Details für die Dioramen-Macher sahen, fühlten sich in ihrer wissenschaftlichen Position geschmälert und zu Verwaltern von Natur degradiert.33 Zudem argumentierten die Befürworter der Dioramen immer wieder mit hohen Besucherzahlen und einer großen Akzeptanz durch die Besucher. Damit sahen die Wissenschaftler nicht nur die Bild- und Medienformate der öffentlichen Vergnügungseinrichtungen wie das Panoptikum in ihre Museen Einzug halten, sondern auch deren kommerziellen Ziele. Wahrheit. Ein weiterer, wichtiger Kritikpunkt war schon um 1900 die Künstlichkeit der Dioramen, die doch vorspielten, wahre Natur zu sein. Gerade der mimetische Abbildungsstil, der eigentlich im Sinne eines unbestechlichen Objektivismus die wissenschaftliche Basis der Dioramen garantieren sollte, war schwer greif- und noch schwerer wirklich erreichbar. Wandolleck erinnerte 1905 daran, wenn er schrieb: »Abgesehen davon, daß eine eminente künstlerische Begabung dazu gehört, solche Tableaux einigermaßen der Wirklichkeit entsprechend anzufertigen, muß man sich vor
32 Vgl. Cain: The Art of Authority (wie Anm. 21). 33 Vgl. Nyhart, Lynn K.: Science, art, and authenticity in natural history displays, in: Chadarevian, Soraya de/Hopwood, Nick (Hg.): Models. The Third Dimension of Science, Stanford 2004, S. 307-335, bes. S. 311.
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Abb. 1: Masahiro Mori, The Uncanny Valley, 1970 Augen halten, daß man doch meist mit unechtem Material zu arbeiten gezwungen ist, daß man keine echten Felsen, kein echtes Wasser bringen kann, daß die getrockneten Pflanzen trotz bester Bemalung immer den Eindruck von Heu machen […]. Der geringste Lapsus macht die Sache lächerlich.«34
Wandolleck trifft damit einen Punkt, der für Simulakren wie Dioramen oder Wachsfigurenkabinette ganz zentral ist – dass nämlich diese illusionistischen Kopien der Wirklichkeit leicht eine unheimliche und monströse Wirkung entfalten können.35 Der Name dieses Phänomens, das erstmals in der Robotik aufgefallen ist, klingt selbst wie der Titel eines naturgeschichtlichen Dioramas: »uncanny valley« oder das unheimliche Tal.36 Im Jahr 1970 beschrieb der japanische Robotiker Masahiro Mori, der die emotionale Reaktion von Menschen auf androide Roboter erforschte, diesen paradox erscheinenden Effekt: Entgegen der intuitiven Annahme, die emotionale Akzeptanz einer künstlichen Figur durch einen menschlichen Betrachter müsse linear mit dem Grad ihres Realismus anstei-
34 Wandolleck: Rezension (wie Anm. 31), S. 236. 35 Dieser Punkt betrifft vor allem die Darstellung von Lebewesen. Er wird in den Kunstund Kulturwissenschaften selten diskutiert. Eine Ausnahme ist die von Steve Baker sogenannte »botched taxidermy« oder vermurkste Taxidermie in The Postmodern Animal, London 2000; vgl. auch Aloi, Giovanni: Botched Taxidermy. New Animal Bodies in Contemporary Art, PhD thesis, University of London 2015. 36 Mori, Masahiro: The uncanny valley (1970), Übers. MacDorman, K. F./Kageki, N., in: IEEE Robotics & Automation Magazine 19(2), 2012, S. 98-100, http://spectrum.ieee. org/automaton/robotics/humanoids/the-uncanny-valley [Stand: 15. Oktober 2016].
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gen, zeigt die Erfahrung, dass die anfangs zunehmende Akzeptanz an einem bestimmten Punkt einbricht. Erst ab einem bestimmten, sehr hohen Grad an Realismus steigt die Akzeptanz wieder an. Auf einer Kurve erscheint dieser Abschnitt als ein Tal der Unheimlichkeit (Abb. 1). So ist es tatsächlich der von Wandolleck beschworene geringste Lapsus, der ein Diorama ästhetisch diskreditiert, nicht etwa ein grober Fehler: Ein schlecht in ein Präparat eingesetztes Glasauge, das den Betrachter schief ansieht, macht eine Szene viel grundlegender unheimlich oder unwirklich, als ein allgemein geringerer Grad an Naturalismus oder ein faktischer Fehler wie ein nicht dazugehöriges Tier. Gerade der Überschuss an kleinen, aber authentischen oder perfekt nachgeahmten Details befördert zwar nach Roland Barthes die Entstehung eines »Wirklichkeitseffekts«37, kann aber umgekehrt mit der gleichen Wirkmacht alle illusionistischen Bemühungen zunichtemachen. Abgesehen von dieser notwendigen ›ästhetischen Wahrheit‹ fehlt dem Diorama aber auch eine wissenschaftliche ›Wahrheit‹, denn Dioramen präsentieren Momentaufnahmen aus einer singulären Perspektive, die alternative Interpretationsmöglichkeiten und -zusammenhänge ausblenden.38 Diese inhaltliche Determiniertheit macht die Dioramen häufig zu Ideologieträgern. Ideologieverdacht. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden Dioramen, die inzwischen ein halbes bis ganzes Jahrhundert alt waren, als »unbequeme Erinnerungen« an eine kolonialistische Wissenschafts- und Gesellschaftspraxis angesehen, die danach strebte, Leben einzufangen, zu ordnen und zu kontrollieren (»uncomfortable reminders of past scientific and colonial practices«39). So wurden sie zunehmend problematisch. Donna Haraway hat dies 1985 exemplarisch an den Habitatdioramen im American Museum of Natural History aufgezeigt.40 Anstelle eines Fensters in die Natur, so Haraway, stellten die Dioramen theatralische Bilder bereit, welche nicht die Naturordnung zeigten, sondern die gesellschaftlichen Annahmen ihrer Autoren reflektierten. Durch die naturalistische
37 Barthes, Roland: Der Wirklichkeitseffekt, in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a. M. 2006, S. 164-172, bes. S. 165. 38 Moser, Stephanie: The dilemma of didactic displays. Habitat dioramas, life-groups and reconstructions of the past, in: Merriman, Nick (Hg.): Making Early Histories in Museums, London 1999, S. 65-116, hier S. 109-112. 39 Patchett, Merle: Putting Animals on Display: Geographies of Taxidermy Practice, PhD thesis, University of Glasgow 2010, S. 12. 40 Vgl. Haraway, Donna: Teddy bear patriarchy. Taxidermy in the Garden of Eden, New York City, 1908-1936, in: dies.: Primate Visions, New York 1989, S. 26-58.
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Darstellungsweise und die scheinbare Identität der Darstellung mit dem Dargestellten – im Sinne der Präparate als »›Bilder‹ ihrer selbst«41 – konnten die Dioramen eine Wirkung entfalten, die nur schwer wieder abzustreifen war. Besonders die patriarchale Familienordnung, bei der das Weibchen bei der Brutpflege und das Männchen in Beschützer- und Versorgerpose gezeigt wurden, schien den Dioramen-Machern darstellungswürdig.42 Es ist auch nicht gleichgültig, ob sie »den Akzent auf Koexistenz oder Konflikt legen, ob Alltag oder Ausnahmezustand herrschen soll«43. So konnten sie auch saubere, geruchs- und störungsfreie Welten liefern, in denen die negativen Auswirkungen des Kolonialismus und der Ausbeutung der Natur nicht zu sehen waren.44 Museologisch gesehen hat sich das Diorama im 20. Jahrhundert von einem willkommenen Popularisierungs- und Emotionalisierungsinstrument für Naturkunde zu einem ästhetisch fragwürdigen und inhaltlich anachronistischen Medium entwickelt. Gerade die Eigenschaften, die es einerseits so attraktiv erscheinen lassen, Naturalismus im Stil und Narrativierung des Dargestellten in seinem Kontext, sind die Eigenschaften, die bald nicht mehr an ihm geschätzt wurden. Geändert hat sich dabei aber vor allem das Verständnis der Museen von der Natur.
3. E IN
MUSEALES
G EGENKONZEPT
Ein wesentliches Formelement der klassischen Dioramen ist die ganzheitliche Darstellung von Landschaftseinheiten, von Tieren und Pflanzen, die gemeinsam in einer Region vorkommen und ökologisch aufeinander bezogen sind. Die Präsentation folgt der Logik, dass Organismen nicht isoliert von ihrer jeweiligen Umwelt zu verstehen sind, wie es der Insektenforscher William Wheeler 1927 in
41 Rheinberger: Präparate (wie Anm. 14). 42 Vgl. Moser: The dilemma of didactic displays (wie Anm. 38). Vgl. auch Köstering: Natur zum Anschauen (wie Anm. 31), S. 275-280; Kohlstedt, Sally Gregory: Nature by Design. Masculinity and Animal Display in Nineteenth-Century America, in: Shteit, Ann B./Lightman, Bernard V. (Hg.): Figuring it out. Science, Gender, and Visual Culture, Hanover, New Hampshire 2006, S. 110-139. 43 Gall/Trischler: Museumsdioramen (wie Anm. 2), S. 18. 44 Star, Susan Leigh: Craft vs. commodity, mess vs. transcendence. How the right tool became the wrong one in the case of taxidermy and natural history, in: Clark, Adele E./Fujimura, Joan H. (Hg.): The Right Tools for the Job. At Work in Twentieth-Century Life Sciences, Princeton 1992, S. 257-286, bes. S. 281; Übers. Uta Kornmeier.
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Abb. 2: Die Biodiversitätswand im Berliner Museum für Naturkunde, 2007 einem Aufsatz zu Carl Akeleys Diorama-Konzept ein Jahr nach dessen Tod schrieb.45 Der Organismus bildet nur »die Hälfte seines Lebens«46, die andere ist seine Umwelt, so heißt es ein Jahr später bei dem Philosophen Helmuth Plessner. Von dem daraus folgenden Darstellungsprinzip, Organismen stets in ihrer jeweiligen Umwelt zu zeigen, rückt ein museales Gegenkonzept zum klassischen Diorama ab, das seit den 1990er-Jahren erscheint: das Format der Biodiversitätsinstallationen. Ein bekanntes Beispiel für dieses neue Format ist die »Biodiversitätswand« im Berliner Museum für Naturkunde (Abb. 2), eine etwa zwölf mal vier Meter große Vitrine, in der rund 3.000 Präparate von Tieren ausgestellt sind. Die Vitrine steht am Anfang der im Jahr 2007 eröffneten Dauerausstellung »Evolution in Aktion«. Sie enthält in einer »panoramatischen Vielfalt« ein »Bild der unendlichen Menge«,47 eine kaum überschaubare Vielzahl, eine große Serie neben- und übereinander, nicht aber hintereinander aufgestellter Präparate von Tieren. In dieser zweidimensionalen Anordnung gewinnt die Installation den Charakter eines Tableaus. Unterstrichen wird das Tableauartige der Vitrine durch eine Rasterung in rechteckige Felder, die sich aus den schwarzen Trägern der Glasscheiben ergibt. In der Vitrine sind Präparate von Tieren zusammengestellt, die in der Natur nicht zusammen vorkommen, und diese sind vollkommen
45 Vgl. Wheeler, William M.: Carl Akeley’s early work and environment, in: Natural History 2, 1927, S. 133-141, hier S. 141. 46 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 1975, S. 194. 47 Te Heesen, Anke: Das Bild der unendlichen Menge, in: Hennig, Jochen/Andraschke, Udo (Hg.): Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin, München 2010, S. 88-93, hier S. 90.
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dekontextualisiert von ihrer Umwelt, ohne ökologische Bezüge präsentiert. Verzichtet wird damit auf jegliche Form der Inszenierung von natürlichen Systemen, die als ideologieverdächtig gelten. Die Installation enthält lediglich die Nebenordnung von Tierkörpern in neutralen, arttypischen Körperhaltungen. Es geht um die deskriptive Dokumentation der Fülle, ohne explanative oder systemische Elemente – »Biodiversität – Des Lebens ganze Fülle« lautet die Überschrift der Erläuterungstafel. Die Installation steht damit weniger in der Humboldt’schen Tradition der ganzheitlichen Landschaftsdarstellung als vielmehr in einer auf vereinzelte Objekte gerichteten Naturalia-Tradition, einer deskriptiven Naturgeschichte, die nicht primär Erklärungen liefert und Verstehen befördert, sondern Staunen und Verwunderung über das einzelne Objekt bewirkt. Die angedeutete biologisch-taxonomische Ordnung tritt dabei zurück gegenüber ästhetischen, ethischen und emotionalen Dimensionen von Biodiversität: Die überwältigende Schönheit des einzelnen Tiers wird durch den Verzicht auf seinen biologischen oder ökologischen Kontext betont. Der Fokus liegt auf der ästhetischen Qualität der einzelnen Objekte, die sich in dieser Inszenierung in kostbare Preziosen verwandeln, wie sie in den frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern zu finden waren. Die ethische und emotionale Dimension kommt in der Vereinzelung der Tiere, etwa dem Verzicht auf Familiengruppen, zum Ausdruck: Das Leben jedes einzelnen Tiers ist durch den Menschen bedroht; wird ein Tier aus der Biodiversitätswand entfernt, bleibt eine Leerstelle zurück. Angesprochen sind damit Fragen des Naturschutzes und der Naturethik, der globalen Gerechtigkeit und der kolonialen Vergangenheit, aus der die exotischen Schätze des Museums teilweise stammen. Die Biodiversitätswand ist deshalb in erster Linie eine ästhetisch-ethische Installation. Ähnliche Installationen finden sich in vielen großen Naturkundemuseen, etwa dem American Museum of Natural History in New York oder dem Muséum d’histoire naturelle in Paris. Auch sie liefern eine gewisse Ordnung nach taxonomischen Gesichtspunkten, die Taxonomie ist aber nicht das wesentliche Kriterium der Anordnung. Als leitende formale Gesichtspunkte der Ausstellungsordnung von Biodiversitätsinstallationen können gelten: Parataktisch: Aufzählende, gleichberechtigte Nebenordnung der Exponate in neutralen (nicht aggressiven) Körperhaltungen Nichtsystemisch: Keine Darstellung von Interaktionen, biogeografischen Verhältnissen, Deszendenzbeziehungen oder funktional-ökologischen Bezügen, keine Kausal-, sondern reine Objektinszenierung
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Abb. 3: Frans Francken d. J., Kunstkammer- oder Präziosenwand, 1636, Kunsthistorisches Museum Wien Dekontextualisierend: Konzentration auf die Tierpräparate vor neutralem Hintergrund, Verzicht auf jegliche Elemente ihrer Umwelt und ökologische Rahmung Sinnlich überwältigend: Zurücktreten des Details und der biologischen Information gegenüber dem ästhetischen Gesamteindruck Multidimensional: Überlagerung mehrerer Ordnungssysteme nach Taxonomie, Lebensformen, Ästhetik Sakral inszeniert: Die wesentliche Botschaft, die mit der sakralen Inszenierung und spärlichen Beschriftung transportiert wird, bezieht sich auf die Bedrohung der biologischen Vielfalt durch den Menschen. Mit diesen formalen Merkmalen schließen die Biodiversitätsinstallationen an die Naturalienkabinette und Wunderkammern der Frühen Neuzeit an, bei denen ebenfalls der überwältigende visuelle Eindruck ein wesentlicher Faktor war. Kunsthistorische Bezüge können auch hergestellt werden zu den gemalten Galerien, etwa zur Darstellung einer Kunst- und Raritätenkammer durch Frans Francken den Jüngeren (1581-1642) von 1636, das mehrere an der Wand hängende Bilder und eine Vielzahl von wertvollen Einzelobjekten in Nebenordnung zeigt (Abb. 3).48 Ursula Härting hat das, was auf diesem Bild dargestellt ist, 1983
48 Wir danken Isabelle Schwarz für diesen Hinweis.
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als »Preziosenwand« bezeichnet.49 Eine Preziosenwand ist die Berliner Biodiversitätswand sicher auch: Das Naturkundemuseum zeigt, was es an Schätzen in seinen Räumlichkeiten versammelt, und es präsentiert diese auch als etwas biologisch und vor allem ethisch Wertvolles, dessen Bestand vom Menschen bedroht ist. Insofern dabei die ethischen Aspekte gegenüber den biologischen in den Vordergrund rücken, ist dies eher eine moralische als eine biologische Installation. Eine ethische Aufladung erfuhren die Naturalien auch in Franckens Darstellung der Preziosenwand. In der Mitte dieser Wand hängt ein Bild, auf dem die Szene von Christi Geburt zu sehen ist, das Auftreten des Göttlichen unter den Menschen. Die dieses Bild umgebenden Naturbilder und Naturgegenstände könnten damit ebenfalls als Erscheinungsformen des Göttlichen gedeutet werden, gemäß der frühneuzeitlichen Physikotheologie als Darstellung der Schönheit und Vielfalt der Naturdinge zur Exemplifizierung der Harmonie und Ordnung des Ganzen. Das Motiv der Wand, die parataktische Nebenordnung von Preziosen und ihre sakrale Aufladung sind Gemeinsamkeiten von Franckens Preziosenwand und der Berliner Biodiversitätswand. Gemeinsam ist ihnen auch der Charakter einer Metarepräsentation: Das vom Kunstsammler beziehungsweise vom Naturkundemuseum Gesammelte – Gemälde, Raritäten und Naturdinge – wird in neuem Arrangement präsentiert. Franckens Bild zeigt, wie ein Sammler seine Bilder und Naturalien ausstellt und damit auch sich selbst und seinen Reichtum zur Schau stellt. Im Falle der Berliner Biodiversitätswand besteht die Metarepräsentation darin, dass jedes Tierpräparat nicht nur für sich als einmal lebendiges und irgendwann gestorbenes Individuum steht, sondern gleichzeitig als Vertreter einer Art fungiert, einer vom Menschen in ihrer Existenz bedrohten Art, deren Ausstellung im Museum auf diese Bedrohung aufmerksam machen soll. Die parataktische Bildlogik der Biodiversitätswand verweist noch auf einen anderen ikonografischen Vorläufer: die »Streumusterbilder«50 des Flämischen Stilllebens. In ihnen, besonders deutlich in Bildern Jan van Kessels des Älteren (1626-1679), erscheinen Tiere sehr verschiedener Arten in reiner Nebenordnung
49 Härting, Ursula: Studien zur Kabinettbildmalerei des Frans Francken II., 1581-1642, Hildesheim 1983, S. 147; dies.: Frans Francken der Jüngere (1581-1642). Die Gemälde mit kritischem Œuvrekatalog, Freren 1989, S. 84. 50 Schütz, Karl: Naturstudien und Kunstkammerstücke, in: Nitze-Ertz, Christa/Kleinmann, Ute/Brakensiek, Stephan (Hg.): Sinn und Sinnlichkeit. Das flämische Stillleben (1550–1680), Ausst.-Kat. Kulturstiftung Ruhr Essen/Kunsthistorisches Museum Wien, Lingen 2002, S. 61-66, hier S. 66.
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und ohne Interaktion gleichberechtigt verteilt über die Bildfläche. Auch hier folgt die Darstellung einer Exemplar- oder Vereinzelungslogik (»specimen logic«51), in der die einzelnen Tiere dekontextualisiert ohne ihren Lebensraum vor neutralen Hintergrund gestellt werden. Ein wichtiger ikonografischer Referenzpunkt dieses Bildtyps wiederum sind die spätmittelalterlichen Stunden- und Gebetsbücher.52 Sie enthalten allerlei während der Wallfahrt gesammelte kleine Objekte: neben kulturellen Erinnerungsstücken an einzelne Orte auch Naturalien wie gepresste Blumen, Vogelfedern oder Insekten. Als Wallfahrts-Devotionalien wurden diese anfangs in die Gebetsbücher eingeklebt oder -genäht, später bevorzugt gemalt. Die Naturalien ermöglichten die Erinnerung an den persönlichen Weg zur heiligen Stätte und den konkreten Nachvollzug dieses Ereignisses. Begründet wurde mit dieser Praxis ein die Naturobjekte vereinzelnder Blick, eine Naturalia-Tradition, die methodisch deutlich unterschieden ist von erklärender, auf das Verständnis kausaler Prozesse gerichteter Naturwissenschaft. In den gegenwärtigen Biodiversitätsinstallationen erfährt nicht nur diese naturhistorische Tradition eine Renaissance, sondern auch die ethische Aufladung der Tierdarstellungen: In der Frühen Neuzeit war die Nebenordnung der biologischen Vielfalt bezogen auf den einen Gott, und es galt, seine Größe im Allerkleinsten zu exemplifizieren (maxima in minimis). Heute ist die Darstellung der Vielfalt ein Medium, um auf ihre Gefährdung durch den Menschen und unsere Verantwortung für die außermenschliche Natur hinzuweisen. In den Biodiversitätsinstallationen entspricht die Dekontextualisierung der Tierkörper der realen Zerstörung ihrer Umwelt. So wie die ausgestopften Tierkörper in der Installation ihrer natürlichen Umwelt beraubt sind, sind es die Tiere, für die sie stehen, auch in der Wirklichkeit. Umgekehrt ermöglicht die Dekontextualisierung der Tierkörper ihre Rekontextualisierung in die kulturelle Umwelt des Menschen – in der Frühen Neuzeit ebenso wie heute: In der Frühen Neuzeit verwiesen die aus ihrer Umwelt herausgelösten naturalistischen Tierdarstellungen auf die Größe Gottes, in den heutigen Biodiversitätsinstallationen werden sie zum Symbol der Bedrohung der Vielfalt durch den Menschen. Die Tierkörper werden zu Chiffren ihres eigenen menschenbedingten Untergangs, nicht nur als Individuen, sondern auch und vor allem – die Berliner Installation enthält von jeder Art nur ein Präparat – als Vertreter ihrer Arten.
51 Neri, Janice: The Insect and the Image. Visualizing Nature in Early Modern Europe, 1500–1700, Minneapolis 2011, S. XIII. 52 Vgl. DaCosta Kaufmann, Thomas: The Mastery of Nature. Aspects of Art, Science and Humanism in the Renaissance, Princeton 1993, S. 36-48.
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4. K ÜNSTLERISCHE R EAKTIONEN AUF NATURGESCHICHTLICHE D IORAMA
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DAS
So altmodisch oder problematisch das Diorama in der zeitgenössischen Museologie geworden sein mag, so aktuell ist es als Sujet und Bildformat in der zeitgenössischen Kunst. Besonders in der Fotografie hat sich in den letzten vier Jahrzehnten ein Trend zur Auseinandersetzung mit künstlichen Welten entwickelt, in dessen Zuge Museumsinszenierungen und besonders die naturkundlichen Dioramen als künstlerische Motive entdeckt wurden.53 Tatsächlich haben die beiden Bildmedien eine besondere Beziehung zueinander: Dioramen werden aufgrund ihrer mimetischen Darstellungsweise und ihres momenthaften, szenischen Charakters häufig mit der Fotografie verglichen. Der Literaturwissenschaftler Steven Connor zum Beispiel nennt das Ziel der Taxidermie, die ein unverzichtbarer Teil eines naturkundlichen Dioramas ist, eine »fotografische Skulptur eines Tieres«54 zu schaffen. Sowohl die Dioramen als auch die Fotografie sind Bildmedien, die aus einer kausalen Beziehung zu ihren Motiven entstehen und so indexikalische Bilder produzieren.55 Fotografien von Dioramen sind Bilder der zweiten Ableitung, denn sie sind zwei Mal aus der Natur ›geschossen‹: einmal vom Jäger, der die gezeigten Tiere tötete, dann noch einmal vom Fotografen. Durch diese doppelte Ableitung überlagern sich in ihnen mehrere Schichten von Repräsentation, die immer wieder die Medien des Naturerlebens thematisieren, das Museum, das Diorama und die präparierte Natur. Fotografen haben hierfür unterschiedliche künstlerische Positionen der Verdeutlichung des medialen Charakters ihrer Motive entwickelt, von denen drei kurz aufgezeigt werden sollen.
53 Wir möchten uns hier auf die Auseinandersetzung in der zeitgenössischen Fotografie beschränken, auch wenn es andere bemerkenswerte künstlerische Reaktionen auf das Diorama gibt, wie z. B. Mark Dions Diorama-Installationen, in denen vor allem der Eingriff des Menschen in die Natur inszeniert wird. 54 Connor, Steven: Such Stuff As Dreams Are Made On, 2009, S. 3, http://stevenconnor.com/stuff/stuff.pdf [Stand: 15. Oktober 2016]. Erweiterte Version des Aufsatzes: The Right Stuff, in: Modern Painters (March 2009), S. 58-63. 55 Vgl. Henning, Michelle: Skins of the Real. Taxidermy and Photography, in: Snaebjörnsdóttir, Bryndís/Wilson, Mark (Hg.): Nanoq: Flat-out and Bluesome. A Cultural Life of Polar Bears, London 2006, S. 136-147.
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Abb. 4: Hiroshi Sugimoto, Gorilla, 1994, aus der Serie Dioramas Hiroshi Sugimoto. Sugimoto (geb. 1948, Tokio) fotografiert Museumsdioramen, als hätte er tatsächliche Landschaften mit Lebewesen vor der Kamera, die er in ihrer natürlichen Umgebung antrifft. Jeder, der schon einmal versucht hat, eine solche Fotografie in einem Museum anzufertigen, weiß, dass es nicht reicht, die Umrahmung des Dioramas oder die Seiten der Vitrine sowie die pädagogischen Schildchen aus der Quadrierung des Bildes herauszuhalten. Es sind vor allem die Scheiben vor dem Diorama, die es bildlich auszuschalten gilt. Sugimoto und seine Assistenten haben dazu weitläufige Rahmenkonstruktionen gebaut, auf denen schwarze Tücher jegliches Streulicht schlucken. Alle Beteiligten, so berichtete 2012 die New York Times, trugen Karnevalskostüme von Ninja-Kämpfern – also schwarze Anzüge und Umhänge –, um auf den spiegelnden Scheiben unsichtbar zu bleiben. Dadurch, dass Sugimoto jeglichen Hinweis auf die mediale Beschaffenheit der fotografierten Gegenstände beseitigt, schafft er immersive Bilder, die nichts als die Natur zu zeigen scheinen (Abb. 4). Über seine Motivfindung sagte der japanisch-amerikanische Fotograf: »Als ich 1974 das erste Mal nach New York kam, war ich erstmal ein Tourist. Als ich schließlich das Natural History Museum besuchte, entdeckte ich eine kuriose Sache: Die ausgestopften Tiere vor ihren gemalten Hintergründen sahen völlig unecht aus. Wenn ich
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aber nur kurz hinschaute und dabei ein Auge zumachte, verschwand die Tiefenillusion und plötzlich sahen sie ganz echt aus. Ich hatte einen Weg gefunden, die Welt wie eine Kamera zu sehen. Egal wie unecht das Vorbild ist – wenn es erstmal fotografiert ist, ist es so gut wie echt!«56
Mit seinen Fotografien zielt er also auf eine Wiederbelebung der getöteten Tiere im Diorama, die durch die perfekt hergestellte Illusion der Natürlichkeit des Motivs entsteht. Was man jedoch erst bei längerem Betrachten bemerkt ist, dass die Bilder schwarz-weiß sind. Zwar versenkt der Fotograf die Betrachter scheinbar vollständig in die Szenerie, als wäre die ›vierte Wand‹ nicht vorhanden, doch entzieht er ihm ein anderes Mittel der realen Wirklichkeitserfahrung, indem er ihm die Farben der Gegenstände vorenthält. Subtil erinnert der Künstler damit daran, dass es sich bei seinen Bildern nicht um Wirklichkeit, sondern um Repräsentationen handelt. Sobald diese Irritation aufgetreten ist, fragen sich die Betrachter, auf welcher Ebene die Repräsentation erstmals auftritt: auf der Ebene der Fotografie oder auf der Ebene des Motivs. Damit ist auch die Immersion ins Bild gebrochen, und die Tiere sterben quasi erneut, diesmal direkt vor den Augen der Betrachter. Durch Immersion und Verlebendigung zur distanzierten Betrachtung ist also Hiroshi Sugimotos paradox scheinende künstlerische Strategie. Richard Barnes. Der New Yorker Architekturfotograf und Fotojournalist Richard Barnes verfährt anders. Er thematisiert die Medialität der Dioramen im Motiv selbst. In seiner Serie Animal Logic dokumentiert er seit zehn Jahren, wie die natürliche Welt in den Naturkundemuseen und vor allem in Dioramen gesammelt und inszeniert wird. Ihn interessieren dabei die surrealen Bilder, die entstehen, sobald der Mensch in die scheinbar unberührte Landschaft im wahrsten Sinne des Wortes eintritt: Hier werden die Tiere nicht mehr angelockt, gefangen oder geschossen wie in ihrer natürlichen Heimat; hier sind sie zu Haustieren geworden, deren Heim von Hausmeistern und Handwerkern gewartet wird: »Das erste Diorama fotografierte ich an der California Academy of Sciences in San Francisco. Es hat einfach ›klick‹ gemacht, als ich ein Diorama sah, das gerade renoviert wurde. Es hatte gebrannt, und dieses Diorama war durch Rauch beschädigt worden. Ich sah dieses bizarre Tableau mit in Plastiktüten gehüllten Tieren, und überall lagen Werkzeuge in der
56 Aussage des Künstlers auf seiner Website, http://www.sugimotohiroshi.com/diorama. html [Stand: 15. Oktober 2016]; Übers. Uta Kornmeier.
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Abb. 5: Richard Barnes, Man with Buffalo, 2007, aus der Serie Animal Logic angeblichen Savanne herum. Was ich aber am faszinierendsten fand, war ein Mann, der auf einem Gerüst lag und Wolken in den Himmel malte. Dieses Eindringen des lebenden Menschen in dieses statische Bild hat mich umgehauen. Es war, als wäre die unsichtbare Wand zwischen Zuschauer und Angeschautem, zwischen den Lebenden und den Toten plötzlich verschwunden, und anstatt dass die Tiere herauskamen, sind die Arbeiter hineingegangen und haben einfach die Bühne übernommen.«57
Barnes Fotografien bringen vor allem die paradoxe Künstlichkeit der Naturbilder im Diorama ans Licht: Es besteht kein Zweifel, dass der Mann mit seinem Staubsauger vor einem künstlichen Bison steht, und doch bewohnen beide die gleiche Bildwelt, in der dieselben Gesetze der naturalistischen Darstellungsweise gelten (Abb. 5).
57 Richard Barnes’ Animal Logic. A conversation with Elizabeth Avedon, 2011, http:// flakphoto.com/content/richard-barnes-animal-logic [Stand: 15. Oktober 2016]; Übers. Uta Kornmeier.
N ATUR IM K ASTEN . D AS NATURGESCHICHTLICHE D IORAMA
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Abb. 6: Diane Fox, The Slovak National Museum, 2008, Bratislava, aus der Serie UnNatural History Diane Fox. Während Sugimoto und Barnes das Verschwinden der vierten Wand zelebrieren, geht es der amerikanischen Fotografin und Designerin Diane Fox bei ihrer Beschäftigung mit den naturkundlichen Dioramen in der Serie UnNatural History gerade um die Sichtbarmachung der Trennung zwischen Objekt und Betrachter. In den Lichtreflexen auf der Vitrinenscheibe, die Sugimoto noch so sorgfältig zu vermeiden suchte, findet sie eine zusätzliche Bedeutungsschicht, die zuweilen die Narrative in den Dioramen noch weiterspinnt: Die Rehe, die hier wachsam aus dem Schaukasten lugen, haben offenbar allen Grund, aufmerksam zu sein, denn von links nähert sich ein Wolf aus einer gegenüberliegenden Vitrine (Abb. 6). Immer wieder verschmilzt Fox in ihren Fotos die transparenten Glasscheiben mit den in ihnen eingeschlossenen Tieren und den von ihnen ausgeschlossenen Betrachtern zu einem komplexen Bild. Hier wird die Medialität des Vitrinenexponats oder des Dioramas im wahrsten Sinne des Wortes reflektiert. Das normalerweise ungesehene Vitrinenglas, das hier zentral im Bild eingefangen ist, fungiert in diesen Fotografien wie eine Naht (suture) zwischen den Besuchern und den die Natur repräsentierenden Exponaten: Die Fotografie mit dem Titel Porcupine Family (Stacheltierfamilie) (Abb. 7) zeigt ein einzelnes, fast aufrecht auf einem Ast stehendes Stacheltier, das die unten rechts in der Scheibe reflektierte Besuchergruppe mit einer schüchternen Handbewegung einzuladen scheint, sich ihm anzuschließen. Die Familie des Stacheltiers, die in diesem Bild gerade nicht zu sehen ist, ergibt sich also aus dem Museumspräparat und der Gruppe menschlicher Zuschauer. Gerade weil das Objekt hinter Glas ist, kann es mit den Betrachtern im Bild sowie im Museum zusammentreffen.
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Abb. 7: Diane Fox, Porcupine Family, 2011, Natural History Museum of Los Angeles, aus der Serie UnNatural History Die Historikerin Karen Wonders sieht in Fotografien wie jenen von Sugimoto, Barnes und Fox einen »neuen Trend, die Künstlichkeit des Naturkundedioramas zu enttarnen«58. Die Art, wie die Fotografien in den Künstlerpublikationen beschrieben werden ([Barnes’s photographs are] »a haunting reminder that there is nothing natural in a natural history museum«59), sind für sie eine Trivialisierung der Kunstform des Dioramas, um Fotografie zur Hochkunst zu erheben. Dieses Urteil erscheint uns zu streng. In dem Maße, wie diese Fotografien die Medialität des Dioramas sichtbar machen, reflektieren sie auch über das Medium der Fo-
58 Wonders, Karen: The Habitat Diorama Phenomenon, in: Gall/Trischler: Museumsdioramen (wie Anm. 2), S. 286-318, hier S. 307; Übers. Uta Kornmeier. 59 Ebd., S. 307-308. Sie bezieht sich auf ein Zitat aus: Barnes, Richard/Rosen, Jonathan/Yelavich, Susan: Animal Logic, Princeton 2009.
N ATUR IM K ASTEN . D AS NATURGESCHICHTLICHE D IORAMA
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tografie selbst. Wie die Dioramen scheinen sie eine Wirklichkeit objektiv darzustellen, während sie jedoch tatsächlich eine von den ästhetischen Entscheidungen und weltanschaulichen Vorannahmen des Künstlers geformte Wirklichkeit zeigen. Die hier beschriebenen Fotografien führen drei sehr unterschiedliche künstlerische Positionen vor, mit den so problematisch gewordenen Ausstellungsstücken umzugehen. Allen gemein ist aber das Ziel, die Betrachter zu Immersion, Identifikation und kritischer Distanz zugleich anzuhalten, ohne die Faszination der Dioramen zu zerstören. Sie zeigen dadurch nicht das Motiv des Dioramas, sondern das Diorama als Motiv.
5. O BJEKTIVITÄT
UND I MAGINATION IM
NATURGESCHICHTLICHEN
D IORAMA
Das ästhetische Prinzip der Dioramen liegt darin, die Imagination der Betrachter in den Dienst der wissenschaftlichen Objektivität zu stellen. Techniken aus dem Bereich der Kunstproduktion und Szenografie werden eingesetzt, um die realistische Anmutung eines Landschaftsausschnitts zu erzeugen. Ziel von Dioramen ist es, Abbilder eines Zusammenhangs und damit Erzählungen zu erzeugen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Genau diese Eigenschaft wurde ihnen während des 20. Jahrhunderts zum Verhängnis, da sich das Verständnis der Biologie und ihrer Darstellung in Museen veränderte. Ein aktuelles museales Gegenkonzept zum Diorama ist die Biodiversitätsinstallation, die sich von der naturalistischen Abbildvorstellung gelöst hat. Es wird ein verdichtetes Bild einer unnatürlichen Fülle von Formen auf kleinstem Raum erzeugt. Dabei geht es nicht mehr um Naturnachbildung, sondern vielmehr um die Erzeugung eines Symbols, das für einen ganzen soziokulturellen Komplex von Natur als Teil der menschlichen Welt steht. Die zentrale Botschaft betrifft nicht nur die Schönheit von Naturformen in ihrer ganzen Vielfalt, sondern auch die Verantwortung, die wir für sie haben, die politisch-rechtliche Dimension für den Erhalt dieser Vielfalt. Weil kein Abbild mehr gezeigt wird, sondern ein Bild, ein antirealistisches Bild, ergibt sich eine Pluralisierung von Interpretationsmöglichkeiten. Die Installation löst sich von einer einzigen verbindlichen, wissenschaftlich autoritativen Narration, die bei den Dioramen in der Erzeugung eines wissenschaftlich fundierten Naturabbildes bestand. Die ästhetischen Reaktionen schließlich zielen auf die Kulturalisierung der Objektivität. Die Dioramen werden in ihrem Gemachtsein dargestellt, indem ihnen die Farbe entzogen wird, indem die Menschen gezeigt werden, die die
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Dioramen einrichten oder ›aufräumen‹, oder indem sie das Trennende der Glasscheibe zwischen Diorama und Betrachter betonen. Die ästhetischen Reaktionen sind also darauf gerichtet, die kulturellen Inszenierungstechniken von Natur ins Bild zu setzen. Sie beinhalten eine Reflexion der medialen Bedingungen von Naturbildern und damit eine Distanzierung von der bloßen Naturerfahrung, auf die die Dioramen zielten.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: http://spectrum.ieee.org/automaton/robotics/humanoids/the-uncanny-valley. Abb. 3: https://www.khm.at/de/object/912d2b1c7b/ Abb. 4: Hiroshi Sugimoto: Dioramas, Bologna/New York 2014, o. S. Abb. 5: http://www.richardbarnes.net/animal-logic/ Abb. 6: http://dianefoxphotography.com/photography/unnatural-history/blackand white/ Abb. 7: http://dianefoxphotography.com/photography/unnatural-history/color/
Pretty Sparkie! – (Re)Presenting an Animal Celebrity E BONY A NDREWS
The subject (and object) of this article is a taxidermied budgerigar called ›Sparkie‹ currently on display at the Great North Museum: Hancock, Newcastle, UK. Using Sparkie as a case study and focal point, this article explores some of the ways in which this particular natural science object has become invested with considerable social significance and as such, at different times, has captivated the public imagination. In highlighting the culturally constructed nature of taxonomic classifications such as ›natural‹ and ›social‹ history, I discuss some of the material and conceptual difficulties in framing natural science objects as objective in relation to the production of knowledge in the museum. In particular, I am interested in how classificatory practices have been articulated through the presentation and display of taxidermy specimens at various times, and how these different approaches have served to enliven or silence various object meanings and narratives. This article begins with an explanation of who Sparkie was, and why he was considered significant enough to be displayed in a public museum. To more clearly illustrate the subjectivity and craft element of the taxidermy process, a brief outline of his preservation follows. I then provide a critical assessment of the different display strategies used to present Sparkie over the years in reference to the influence and impact of the changing styles of museum displays and shifts in museum management. Overall, through an exploration of the making and representation of a museum ›celebrity‹, I aim to draw attention to the relationship between different approaches to the display and interpretation of supposedly objective taxidermy objects and the articulation of power and authority in the museum.
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T HE
MAKING OF A CELEBRITY
From 1954 to 1962 Sparkie the budgerigar was the pet of Mrs. Mattie Williams, a resident of Forest Hall near Newcastle in the North East of England.1 Having bought the bird from a local breeder, Mrs. Williams called her pet ›Sparkie‹ on account that she considered him to be a »bright spark«, and took on the patient task of training him to recite a variety of common words and phrases.2 Sparkie was very responsive to Mattie’s tutoring, learning first to repeat his own name ›Sparkie Williams‹, then to say the address at which the family lived, and later, a range of songs and nursery rhymes.3 Considering a typescript of Sparkie’s life (produced by Mattie Williams after his death), it is clear that Mattie felt a deep attachment to Sparkie: »I loved my little bird, and more than anything else, he loved me. [...] Sparkie had become much more than a companion to me. He had become part of my life.«4 To a degree, Mattie likened the bird to a kind of surrogate child stating that he helped »to fill the gap that having no children had made« in her and her husband’s home.5 Such was Sparkie’s talent for mimicry, that within a few years the budgerigar had gained significant media attention owing to its ability to recite such an extensive repertoire of words and phrases, all in a Geordie accent.6 In July 1958 the bird became nationally known after winning first place in the International Cage Word Contest hosted by the BBC.7 In September 1958 an album capturing the bird’s talents was released by the re-
1
See Great North Museum: Hancock Library, MS NEWHM:2010.H23 Correspondence between curator Tony Tynan and BBC researcher Malcolm Nisbet (14th February 1980), featured in: Dodds, Andrew: I, Sparkie, ed. by Thurston, Nick (York: Information as Material, 2013), p. 1.
2
See Natural History Society of Northumbria: ›Sparkie Williams the Amazing Talking Budgerigar (1954-1962)‹, Natural History Society of Northumbria, http://www. nhsn.ncl.ac.uk/resources/archive/naturalists-of-the-north-east/sparkie-the-budgerigar/ [accessed 20 July 2017].
3
See Great North Museum: Hancock Library, MS NEWHM:2006.H2553 abridged ver-
4
Ibid., p. 33.
5
Ibid., p. 26.
6
›Geordie‹ is the distinctive local dialect of Tyneside, especially around the city of
7
See Great North Museum: Hancock Library, MS NEWHM:2010.H23.
sion featured in: Dodds, Andrew: I, Sparkie (see note 1), pp. 25-39, p. 32.
Newcastle.
(R E )P RESENTING AN A NIMAL C ELEBRITY
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Fig. 1: Sparkie Williams alongside his awards cord label Parlophone, and in the same month, Sparkie featured in a radio show with Cliff Mitchelmore on the Tonight programme (Fig. 1).8 To hear recordings of the little green and yellow bird ›speak‹ is impressive but also at times strange; to the contemporary ear Sparkie’s performance can be considered uncanny and quite unsettling. Of course, while Sparkie was most definitely an incredible mimic, the idea that the bird could actually ›talk‹ or ›speak‹ at all is to anthropomorphise, applying human traits and values to the bird’s behaviours.9 I would encourage the reader to listen to a recording of Sparkie, both to contextualise the subject of this article and to convey the cultural significance of the preserved bird in the Great North Museum: Hancock today. Audio files recordings of Sparkie can be accessed from the archives of the Natural History
8 9
See ibid. For this reason, the use of the terms ›to talk‹ and ›to speak‹ are shown in speech marks throughout to acknowledge the problems inherent in this position. This is explored further in: Mullarkey, John: I am Sparkie: Regarding Animal Mime and Anthropomorphism, in: Dodds: I, Sparkie (see note 1), pp. 45-57.
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Fig. 2: Mattie Williams (left) and friend visiting Sparkie as he was displayed with coin-operated audio feature throughout the 1970s and 1980s Society of Northumbria, they are also easily accessed online via a YouTube search for ›Sparkie Williams‹ or through the Society’s website.10 Following his death on the 4th December 1962, Sparkie was sent to London to be prepared by the then famed taxidermy company Rowland Wards. Upon completion he was presented to the Hancock Museum by Mattie, where he was added to the natural science collections and put on public display (Fig. 2).11 Sparkie’s time in the limelight afforded his biological remains a heightened cultural value akin to celebrity. This, along with Mattie’s devotion to her beloved pet, resulted in the budgie being given a taxidermied afterlife.12 What’s more, Sparkie’s multifaceted cultural status; as a domesticated animal, as a ›talking‹ pet, and later as a taxidermied bird on display in a museum, had also secured him a place in (natural) history.
T HE ( RE ) MAKING
OF A CELEBRITY
By the time of Sparkie’s preparation Rowland Wards was one of the most highly regarded taxidermy establishments in the UK having gone from strength to
10 See https/www.nhsn.ncl.ac.uk/resources/hancock-museum-collection/sparkie-the-budgie/ [accessed 20 July 2017]. 11 See The Natural History Society of Northumbria: Natural History Society of Northumbria Annual Report, 69: 4 (2009), p. 185. 12 See Alberti, Samuel J. M. M. (ed.): The Afterlives of Animals: A Museum Menagerie (Charlottesville/London: University of Virginia Press, 2011).
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strength throughout the 19th and early 20th century.13 Commissioning Wards to prepare Sparkie would likely have been costly, and certainly more expensive than using a local taxidermist, but the choice to send him to Wards only further demonstrated Mattie’s devotion, as well as inferring Sparkie’s growing cultural significance.14 During the (re)making and preservation of Sparkie, his body would have been systematically deconstructed and materially altered before being rearranged to make him appear life like again.15 The first stage would have been to take measurements and references of his body shape, size and appearance, before completely removing his skin leaving the leg and wing bones attached, along with the skull (of which the beak is part). Using the original bird body for reference, an artificial body (or mannequin) would then have been modelled around a wire armature using a fibrous material such as wood-wool bound with twine. A pair of artificial glass eyes would then have been modelled into the skull with the assistance of clay or papier-mâché, and wires would have been inserted inside the wings and legs so that they could be posed into a naturalistic position at a later stage. Having been cleaned and maybe washed, the bird’s skin would then have been modelled and teased around the artificial body before being sewn up using a needle and thread. Sparkie was then posed on a polished wooden perch, after which a series of finishing touches including feather arranging, pining the feet in place and the painting of fleshy areas would have been completed.16 Having condensed the process of ›mounting up‹ a bird into one paragraph, one could be forgiven for thinking that taxidermy is a relatively simple task. However, those who have tried their hand at mounting up a specimen will likely know otherwise. Taxidermy is a painstaking and time consuming process. It is intricate, labour intensive, and requires considerable patience. Moreover, the spectre of decay is never far away in taxidermy practice. The process is ulti-
13 See Morris, Patrick A.: A History of Taxidermy: Art, Science and Bad Taste (Ascot: MPM Publishing, 2010). 14 See Marshall, Andrea: British Taxidermists: A Preliminary Catalogue and Gazetteer (Doncaster: The Friends of the Doncaster Museums, 2009). The publication provides a good idea of how many taxidermists were practicing in the UK in the early to mid20th century, and how many were located in and around the North East. 15 See the chapter ›The Development of Bird Taxidermy‹ in: Morris: A History of Taxidermy (see note 13), pp. 36-60. 16 It is important to note that not all taxidermied birds are produced in this way, indeed a wide variety of materials can be used, but this technique, adapted only slightly from that widely used throughout the 19th century is accurate for Sparkie. See ibid.
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mately a race against time to get a mount set and finished before decay has the opportunity to set in, and while the process itself is physically invasive, in a conventionally successful taxidermy mount, the violence of that process itself is always rendered invisible through various craft techniques.17 In other words, in taxidermy artifice is used to conceal artifice.18 While the same could also be said for the many types of models that feature in museums, other kinds of museum models (produced variously from wax, plaster, paper, resin, glass etc.) don’t necessarily include persevered biological material. Taxidermied animals, therefore, are a specific class of biological model in that they can contain animal skin, fur, feathers and bones. In recognition of the specificity of taxidermy compared with other natural history models, the History and Philosophy of Science academic James Griesemer has referred to taxidermy animals as »remnant models«, as opposed to »non-remnant models«.19 For some audiences it is the inclusion of animal remains that can make taxidermy unsettling for the contemporary sensibility, but it is also their inclusion that affords taxidermy authority as a medium of representation. Since, unlike non-remnant models, taxidermy is indexical; it is made from the animals that it also seeks to represent.20 While it could be argued that because Sparkie was known for his ability to ›speak‹ (over his appearance), and therefore a photograph of the bird presented alongside an audio recording may have sufficed to represent him in the museum, the unique material constituents of taxidermy lend a particularly heightened aura of authenticity to Sparkie despite the culturally constructed and subjective nature of all modes of representation in museums.21 Indeed, the limited use of non-remnant models and other modes of nature representation such as photographs and diagrams in museums when taxidermy equivalents are available (despite how expensive and challenging they can be to produce), is demonstrative of the ongoing relationship between notions of authenticity and authority in relation to the production of know-
17 See Hauser, Kitty: Coming Apart at the Seams, in: Make: The Magazine of Women's Art, 82 (1998), pp. 8-11. 18 See ibid. 19 Griesemer, James: Modelling in the Museum: On the Role of Remnant Models in the Work of Joseph Grinnell, in: Biology and Philosophy, 5 (1990), pp. 3-36, here p. 8. 20 See Hauser: Coming Apart (see note 17), p. 9. 21 See Benjamin, Walter: The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction, in: Arendt, Hannah (ed.): Illuminations: Walter Benjamin, trans. by Harry Zorn (London: Pimlico, 1999), pp. 211-244. [First publ. in Zeitschrift für Sozialforschung, 5: 1, Paris (1936)].
(R E )P RESENTING AN A NIMAL C ELEBRITY
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ledge in the museum.22 Moreover, for scientists and museum professionals, the elevated status of taxidermy over non-remnant models is bolstered by the possibility of DNA extraction and tissue sampling for research purposes. Equally organic and synthetic, taxidermy is a synergy of art and science, nature and culture.23 The locus of taxidermy’s perceived authenticity, as well as its authority as a medium of museum representation, in this instance through the display of Sparkie’s preserved remains, is therefore rooted in both its aesthetic and scientific values.
S PARKIE W ILLIAMS
IN CULTURAL CONTEXT
Budgerigars (Melopsittacus undulates) also known as parakeets or informally as ›budgies‹, are among some of the most widely domesticated bird species selected by humans to provide non-human companionship. Much like the trend for displaying preserved nature under glass in Victorian living rooms of the late 19th and early 20th centuries, the keeping of caged birds provided a means of bringing a small but vibrant piece of nature indoors. Bird cages take up little space, and being relatively inexpensive compared to other pets such as cats and dogs contributed to their popularity with working class communities typically residing in smaller homes.24 By the early 20th century, a socio-cultural tradition of keeping budgies had developed in North East towns and cities heavily shaped by the in-
22 See Griesemer: Modelling in the Museum (see note 19), pp. 3-36. See also: Phillips, David: Curators and Authenticity, in: id.: Exhibiting Authenticity (Manchester: Manchester University Press, 1997), pp. 197-218. 23 See Snow, C. P.: The Two Cultures and the Scientific Revolution: The Rede Lecture 1959 (London: Cambridge University Press, 1959). See also: Nyhart, Lynn K.: Science, Art, and Authenticity in Natural History Displays, in: de Chadarevian, Soraya/Hopwood, Nick: Models: The Third Dimension of Science (Redwood City, CA: Stanford University Press, 2004), pp. 307-335. 24 The domestication of animals is but one example of the complex relationships humans have with other species. The philosophical exploration and critical analysis of human relationships with non-human animals has contributed to the establishment of the field of Human-Animal Studies in recent decades. For example, see DeMello, Margo: Animals and Society: An introduction to Human-Animal Studies (New York: Columbia University Press, 2012).
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dustries of coal mining and ship building.25 Therefore, it could be argued that when Mattie acquired Sparkie in 1954, budgies had become firmly rooted in the cultural identity of working class communities in the North of England. Put plainly, budgies were widely perceived as ›common‹, in conservation status as well as the somewhat derogatory social implication of the word. The cultural values ascribed to different animal species through the history of art, literature, religion, science and philosophy (to name a few) have served to shape their meanings in a multiplicity of ways. For instance, as the image and anthropomorphised ›character‹ of the lion was appropriated to signify and moralise the supposed nobility, bravery and strength of Empire, so too have Anglocentric perspectives positioned domesticated pets such as Sparkie the budgie as signifiers for all that is trite and provincial.26 Moreover, the tendency of budgies to mimic sounds, including human speech, adds an element of novelty to their behaviours leading them to be regarded as entertaining, endearing and overtly sentimental. For Mattie, this was clearly an important part of Sparkie’s appeal as a non-human companion. Moreover, when reading extracts from her biography of Sparkie, it is clear that the budgie was nothing less than a person to Mattie in her imagination: »With his speech and expression being so perfect, it was no wonder that as time went on, I talked to and treated him as I would a child. Our close and loving companionship had passed the ›little bird‹ and ›person‹ stage, and had become ›person‹ to ›person‹. When Sparkie spoke, it was so like another person, that he just had to be answered, and what is more, he knew and understood these answers.«27
Could Sparkie really understand as a human could? There are many questions about Sparkie that we will never be able to answer, but it certainly is the case
25 It is widely known that canaries were used as early indicators of poisonous gas in the coal mining industry and that miners often kept canaries as pets. While different to budgies, it is possible that the culture of canary keeping helped galvanise an interest in small birds more generally among mining communities in the industrial period. Today, the keeping of different parakeet species remains relatively commonplace in the post-industrial cities of Newcastle, Gateshead, Sunderland and Durham in Northern England. 26 See Ritvo, Harriet: The Animal Estate: The English and Other Creatures in the Victorian Age (Cambridge, MA.: Harvard University Press, 1987). 27 Williams, Mattie in: Great North Museum: Hancock Library, MS NEWHM:2006. H2553, abridged in Dodds: I, Sparkie (see note 1), p. 35.
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that Sparkie was (and continues to be) anthropomorphised. Not materially, as some taxidermy animals are, but through the exploitation of his species’ natural tendency to mimic.28 Today the business of encouraging animals to perform is reviled and revered in equal measure depending on the context. For instance, while the menagerie and fairground culture of the 19th century is largely considered to be distasteful and part of a past episteme of human and non-human relations, as you read this article people all over the world are scrolling through Instagram and Facebook accounts solely dedicated to cat videos. In this regard, Sparkie’s YouTube videos and his Twitter account @SparkieWilliams (active between 2011-12 where tweets are composed in first person and occasionally phonetically reflect a Geordie accent) similarly constitute a small part of the contemporary episteme of how we engage and make meaning out of the natural world. To be considered a museum celebrity is a privileged status usually reserved for visually and physically imposing mega-fauna or charismatic species that are easily anthropomorphised (typically mammals), of which Sparkie is neither.29 Rather, in his taxidermied afterlife Sparkie exists simply as a small stuffed bird on a perch, but his elevated cultural status and larger than life ›personality‹ seem to somehow defy and transgress the physical size and scale of his preserved remains. Certainly, in the public imagination of seasoned Great North Museum: Hancock audiences, his significance, character and legacy continue to inspire.30 Again, this contrasts with taxidermy mounts at many other museums which have over the years come to be considered ›star‹ objects or museum ›mascots‹.31 Since, being both domestically bred and an example of a widely distributed species, Sparkie’s scientific value is rather unremarkable, although there is little doubt of his cultural significance to his custodians – the Natural History Society
28 See Mullarkey: I am Sparkie (see note 9), pp. 45-57. 29 For more on the effect of viewing mega-fauna see: Alberti, Samuel J. M. M.: Maharajah the Elephant’s Journey, in: id. (ed.): The Afterlives of Animals (see note 12), p. 38. See also: Poliquin, Rachel: Spectacle, in: id.: The Breathless Zoo: Taxidermy and the Cultures of Longing (Pennsylvania: The Pennsylvania State University Press, 2012), pp. 77-109. 30 The frequency of organised public visits, especially school groups who engage with Sparkie’s story, along with the opinions expressed by members of the Society suggest that this is certainly the case. 31 See Paddon, Hannah: Biological Objects and ›Mascotism‹: The Life and Times of Alfred the Gorilla, in: Alberti: The Afterlives of Animals (see note 12), pp. 134-150.
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of Northumbria.32 It is here, between these differing value judgments, that the tension between the role museum as an interface for the production of scientific knowledge and the celebration/commemoration of a mythologised individual comes in to focus.
(R E )P RESENTING
A CELEBRITY
Managerial tensions have been played out over the years through different approaches to Sparkie’s presentation in the Great North Museum: Hancock’s public galleries, a situation that continues at the time of writing. To understand the impact of this in relation to the production of knowledge in the Museum, and therefore the bird’s meaning at different points in time in the public imagination, a brief historical account of the factors driving these changes is required. Specifically, attention must first be afforded to two significant shifts to the previous Hancock Museum’s management structure; one that took place in the 1950s and another in the 2000s, both of which led to multiple stakeholders being invested in the Museum and its public role. The Great North Museum: Hancock is located in Newcastle, in the North East of England and opened to the public in 1884.33 Like many British provincial museums in their founding years its collections were initially amassed by a local Literary and Philosophical Society, but later they came under the custodianship of a local natural history society which is known today as the Natural History Society of Northumbria.34 Today the Society remains custodian to the Museum building and the collections it houses. However, in 1959 financial difficulties led the Society to lease the Museum and its collections to King’s College (which later became Newcastle University). In turn, in 1992 the University con-
32 See Natural History Society of Northumbria: Sparkie Williams (see note 2). 33 See Gill, E. Leonard: The Hancock Museum and its History (Newcastle upon Tyne: Natural History Society of Northumberland, Durham and Newcastle upon Tyne, 1908). For more on the early history of the Newcastle Museum and its establishment. See also: Goddard, Russell T.: History of the Natural History Society of Northumberland, Durham and Newcastle upon Tyne, 1829-1929 (Newcastle: Andrew Reid & Co., 1929). 34 See Alberti, Samuel J. M. M.: Placing Nature: Natural History Collections and their Owners in Nineteenth Century Provincial England, in: BJHS, 35 (2002), pp. 291-311, here p. 303.
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Fig. 3: Rebecca Holmes using headphones to listen to a recording of Sparkie in a contextual display (2006) tracted the management of the Museum (then called the Hancock Museum) 35 to the local authorities under a service level agreement. In short, although the Natural History Society of Northumbria retained ownership of the Museum and its collections, the 1959 agreement opened up its management to a number of other organisations with varied agendas.36 In the 1970s Sparkie was displayed in a stand-alone case within a permanent exhibition entitled ›The Magic of Birds‹ at the Hancock Museum. As part of this display, a coin-operated feature enabled visitors to pay a small fee, and in return, listen to a sound recording of Sparkie ›talking‹ (Fig. 2). In the 1990s, as part of a phased series of gallery upgrades and redevelopments, Sparkie was relocated in
35 Hickling, Grace: The Natural History Society of Northumbria: 1929-1979 (Newcastle: The Hancock Museum, 1980), p. 19. 36 A partnership was established between the Natural History Society of Northumbria, Newcastle University, the Society of Antiquities of Newcastle upon Tyne, Tyne & Wear Museums and Newcastle City Council. See Natural History Society of Northumbria: Natural History Society of Northumbria Annual Report, 65: 1 (2004), p. 5.
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the Museum. Once again, he occupied a stand-alone display case, but this time with a more colourful backdrop and contextual groundwork around the mount itself suggesting a heightened focus on the aesthetics of the bird’s presentation (Fig. 3). In this display, which remained until 2006, a recording of Sparkie could still be listened to, although this time through a pair of headphones and a push button function. Notably, this facility was free for visitors to use, unlike the earlier coin-operated display. Sparkie’s next display format, and that still in place in the Museum today, came about when the Hancock Museum was closed for major refurbishment in April 2006 having been supported by a capital redevelopment grant from the Heritage Lottery Fund. During the overhaul of the galleries Sparkie was redisplayed, and in May 2009 the entirely refurbished Museum reopened with the new name Great North Museum: Hancock reflecting the multiple stakeholders and partners now involved in the Museum and its management.37 Today Sparkie is presented to the public alongside a number of other taxidermy bird specimens in a display entitled the ›Bio-Wall‹ where the animals on display function primarily as species representatives (Fig. 4). To begin to unpick this significant shift in presentation – and therefore the meaning of Sparkie, attention must be paid to the particular contexts of the Museum’s redevelopment. While the previous galleries were redeveloped on a piecemeal basis when funds allowed – which afforded them their own discrete character and identity, the new galleries within the completely redeveloped Museum present a much more holistic and globalised view of nature and its biodiversity. While this move is reflective of developments in scientific thinking in recent years, the presentation of taxidermy specimens as animal representatives as opposed to unique individuals also aligns, to an extent, with the Great North Museum: Hancock’s overarching shift from the local to the global.38
37 See ibid. For further analysis on the renaming, especially in regard to the name (John) Hancock see also: Andrews, Ebony: Interpreting Nature: Shifts in the Presentation and Display of Taxidermy in Contemporary Museums in Northern England (unpublished doctoral thesis, University of Leeds, 2013), pp. 168-172, p. 181. 38 It is important to note that in addition to the more globalised ›Bio-Wall‹ there is also a regionally focused gallery entitled Natural Northumbria. The inclusion of both local and global wildlife is indicative of the different (and at times conflicting) agendas of the agents involved in the ownership and management of the Museum. In this specific case, the locally focused NHSN on the one hand, and the more globalised Newcastle University on the other.
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Fig. 4: Sparkie (centre bottom) featured in a thematic display alongside other taxidermied birds (2010) Specifically, the move reflects the strategic aims and objectives of Newcastle University, and more broadly, the agencies behind the promotion of Newcastle’s tourism which seek to affirm the city’s progressive position on the global stage – perhaps over upholding and retelling idiosyncratic cultural narratives of the region’s past.39 While social history narratives and their interpretation were especially popular in British museums in the 1970s and 1980s – partly in response to the gradual decline of industry and therefore a heightened desire for the material and visual articulation of regional identity, contemporary expectations of museums to provide for a diversity of audiences have, in some instances, resulted in fewer individualising narratives and more inclusive approaches to collections interpretation.40
39 For further analysis on this proposed shift see Andrews: Interpreting Nature (see note 37), pp. 172-182. 40 Hewison, Robert: The Heritage Industry: Britain in a Climate of Decline (London: Mansell, 1987).
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The objects presented in the ›Bio-Wall‹ display today, including Sparkie, are interpreted in two overarching ways, firstly through text panels and labels alongside the specimens, and secondly through a series of digital touch screen displays dotted throughout the gallery (Fig. 5). For the purpose of this discussion it is important to note that the interactive screens (through which visitors can navigate to explore the different species represented in the display in more detail) are not in the vicinity of Sparkie. Rather, the placement of the screens requires visitors to move through the gallery space in such a way that Sparkie is obscured or very much in the distance when using the display to listen to his infamous recording. The curatorial and design decision to spatially separate Sparkie from his sociocultural interpretation, yet still include the interpretation elsewhere in the gallery, suggests that a compromise has been made over how to make accessible the bird’s multiplicity of meanings. Perhaps, for example, it is an attempt to enable different meanings to coexist. Since, depending on a visitor’s position within the gallery, and which form of interpretation they choose to engage with, in its current display context Sparkie is both object and subject, individual and representative, Sparkie, budgie, and simply ›bird‹. Certainly, the design of the ›Bio-Wall‹ purposefully utilises extremes in size and scale to elicit emotive responses of awe and wonder from visitors. As Steve McLean, Project Manager of the Hancock Museum’s redevelopment described, the expansive nature panorama has a certain »wow factor«41. However, among the specimens and ever changing ambient light and soundscapes, it is a design approach in which smaller objects like Sparkie can be overlooked. Due to this layout, and owing to the nature of museum visiting and the linear, case-by-case approach in which visitors often move through museums spaces, it is very likely that some individuals will miss listening to Sparkie’s recording. Or, obversely, they may hear the recording, but overlook the bird, small as it is, presented alongside many other visually impressive exotic bird specimens (Fig. 4). Previous to the most recent scheme of presentation, Sparkie could be simultaneously observed in his display case while being listened to through the use of headphones. Using headphones had the effect of providing an individualised experience of hearing the bird ›talk‹ with the added benefit of drowning out any distracting sounds from the external world. In addition, it could be argued that one of the benefits of the one-on-one nature of wearing headphones is that it si-
41 Paddon, Hannah: ›An Investigation of the Key Factors and Processes that Underlie the Contemporary Display of Biological Collections in British Museums‹ (unpublished doctoral thesis, Bournemouth University, 2009).
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Fig. 5: One of a number of interactive digital displays used to interpret specimens featured in the ›Bio-Wall‹ display (detail). Shown here is the page interpreting Sparkie and his recordings tuated the visitor in the familiar position of being in one half of a conversation – albeit from the standpoint of just listening, rather than both listening and speaking back.42 Nevertheless, the 1990s display facilitated a visitor experience that was inherently individual. Moreover, it echoed the intimate and mediated contexts in which Mattie had contrived to engage and teach Sparkie when he was alive: »It seemed to me that, as he was only just starting to talk, he might be confused with the tones of different voices. I must therefore have to try and make him understand that what he had to learn came from one voice only – mine. If I could make him understand that, it would not matter how many people spoke to him, or what they said. But how could I
42 Of course, one of the drawbacks of the old display was that the headphones could only be worn by one visitor at a time, and in this sense, would have limited usage and perhaps excluded some visitors during busy periods.
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achieve my object? How could I make a little bird ›understand‹? I gave much thought to this problem, and finally decided that the best way would be for me to give him lessons at certain times of the day when we were alone together. This was to prove very successful indeed, and was the basis of the beginning of Sparkie’s serious training.«43
In the 1990s audiences were invited to engage with the Sparkie display in a way that was multi-sensory, and embodied in the way that it simulated the one-onone format in which Mattie had interacted with Sparkie in life. The display afforded little attention to the bird’s significance as a species representative but rather highlighted Sparkie’s socio-cultural meanings. In framing the taxidermied bird as an anthropomorphised individual, visitors were encouraged to relate to the bird in a very personalised way that, as much as possible, conveyed to audience the very particular relationship between Mattie and Sparkie. In addition, and more broadly, the display also simulated a scenario which positioned visitors in a novel relation to another non-human animal, one that transgressed the usual (if not banal) experiences of conventional human / ›pet‹ interactions. In recognition of how the removal of the previous, more individualising and personal interpretative approach altered how visitors engage with Sparkie in the contemporary Museum, in recent years an additional label has been inserted into the ›Bio-Wall‹ display case to more explicitly refer visitors to the digital and audio displays. This small but significant alternation demonstrates a tension in the final display strategy and its perceived (in)effectiveness at presenting Sparkie’s various social (as well as natural) history narratives. The overall effect of the current approach to Sparkie’s presentation and display is that his socio-cultural significance is spatially divorced from his material remains in the Museum. For those who don’t explore the gallery fully and correlate the taxidermied bird with the audio recording located elsewhere, Sparkie becomes much like the other preserved birds that surround him; a species representative stripped of individual meaning. A counterpoint to this perspective is, of course, that in the previous displays he was first and foremost ›Sparkie‹, and not necessarily perceived and understood by audiences as a species representative. With interpretation relating to Sparkie being dispersed and communicated through different technologies within the gallery, and the happenstance nature of visitor’s either encountering it or not, it could be argued that there is an ambiguity surrounding Sparkie’s intended meanings and significance in the contemporary Great North Museum: Hancock. Perhaps the Museum’s contemporary approach is a means of relinquishing
43 Great North Museum: Hancock Library, MS NEWHM:2006.H2553, in: Dodds: I, Sparkie (see note 1), p. 30.
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some curatorial authority over Sparkie’s meanings, whereby his material remains are offered up for public consideration, and audiences with an interest in Sparkie have to work a little harder in the gallery to find out more about him and his multiplicity of meanings. A counterargument to this, however, is that elsewhere fibreglass and resin models are seamlessly integrated into the ›Bio-Wall‹ display, as are a number of vivariums and aquariums containing live animals, and, throughout the ›Bio-Wall‹’s textual interpretation, the living animals, taxidermy models and non-remnant models are not materially differentiated from one another. Rather, they are all presented and interpreted equally as didactic species representatives.44 Therefore, it appears that alongside all of the animal representations featured in the ›Bio-Wall‹, including the live animals (which interestingly serve to represent themselves), Sparkie’s image becomes less ambiguous and more universalised; here he is Budgerigar (Melopsittacus undulates). A multiplicity of factors will have impacted upon and shaped the decision to display Sparkie in this way in the contemporary Great North Museum: Hancock, some of which will be practical for example, financial restrictions, considerations relating to visual and spatial continuation, but also to overall aesthetics and thematics. Whether intentional or not, the prioritisation of scientific narratives seems to have resulted in the reduction of social, historical and cultural narratives in the Museum, maybe so as not to dilute and distract from the gallery’s overarching theme of biodiversity. However, this poses a challenge in relation to the perceived significance of Sparkie; as a domestically bred and widely distributed parakeet, he is of relatively little scientific value according to the contemporary scientific paradigm. Indeed, in comparison to the vast array of natural science specimens on display, including visually imposing exotic species, Sparkie’s material remains are so unremarkable as to border on mediocre. This notion is further underscored by the bird still being presented on his original polished wooden perch, rather than on a more natural looking branch as a wild bird might be, and in effect, puts his relevance and perhaps even inclusion in the ›Bio-Wall‹ into question (Fig. 4). The contemporary approach to the presentation of Sparkie is but one of a number of changes that have been contested by the Natural History Society of Northumbria since the Great North Museum: Hancock reopened in 2009.45 Sparkie’s mode of display – specifically the perceived demotion of his socio-cultural significance (and an easily accessible audio facility which demonstrates that sig-
44 The material and conceptual problematics of which I have explored in more detail elsewhere: Andrews: Interpreting Nature (see note 37), pp. 163-182. 45 See ibid., pp. 179-182.
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nificance) has been a locus of managerial tension at the Museum in a climate where the Society, the University, and other partners seek to claim authority over the meaning of Sparkie’s taxidermied remains. As the history of Sparkie’s various forms of (re)presentation demonstrate, the politics of representing the cultural life and afterlife of an animal celebrity can be complex and contradictory. At different times in the history of the Great North Museum: Hancock the budgie has been afforded a voice, and others it has been silenced. In-deed, to this day tensions between Sparkie’s function to figure as an individual, a species representative, a product of nature, and/or a product of culture, remain unresolved.
C ONCLUSION It is hoped that this article contributes to the field of Museum Studies, in particular to discourses on the museological uses of taxidermy within the framework of interpreting (sometimes complementary but at other times competing) narratives of the material culture of science and social history. Through Sparkie’s story I have sought to highlight some of the roles and uses of taxidermy in the museum along with providing a critical reading of the suitability (and limitations) of this particular object to represent – in both individualising and globalising ways. Following the preceding delimitation of the present article, perhaps unsurprisingly my analysis of Sparkie – with his multiplicity of meanings, also gives rise to tangential but complimentary questions from other disciplinary positions. In particular, from an Animal Studies perspective, and in regard to future study, there is for me a residual tension in Sparkie’s story which remains underexplored. Specifically, that which concerns the nature of human and non-human animal relationships post-mortem. It has been established that Sparkie’s celebrity status in life, which influenced Mattie to have him preserved in death, was determined by the bird’s ability to mimic, and Mattie’s synthesis of that mimicry into a type of anthropomorphised ›persona‹. During his life, the media framed Sparkie as a cultural artefact, a process in which his owner, Mattie, was complicit, but it should be questioned: How did Mattie’s relationship and feelings towards Sparkie shift following his material preservation, if at all? For those who remember Sparkie in life, as well as museum visitors who have come to know of him in his taxidermied afterlife, there is little doubt that his story continues to
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fuel the public imagination.46 Furthermore, it could be argued that for some, his Geordie ›persona‹ provides a surrogate for the representation of notions of (North East) regional identity and belonging in the otherwise increasingly globalised, post-industrial era. That said, the continuing appeal and charm of his story is not restricted to the UK. For instance, in 2009 British composer Michael Nyman produced an opera in tribute to the bird featuring fellow artist Carsten Nicolai (Alva Noto). Entitled Sparkie: Cage and Beyond, the performance which was held at Haus der Berliner Festspiele, at the »MaerzMusik« festival, Berlin (2009), and featured actor Kika Markham as his owner Mattie.47 There still resides in the North East of England, and probably elsewhere, audiences who recall Sparkie from his life in the media. Further investigation into the responses of these audiences to the presentation and interpretation of Sparkie in the Museum (and beyond) today would provide a useful insight into the multiple and shifting value contexts of the bird (aesthetic, scientific, socio-historical, material culture/model etc.) in his transition from life to taxidermied afterlife. Finally, and to return briefly to Sparkie’s remains as contested site for the production of knowledge in the Museum today; the bird continues to be highly valued by the Natural History Society of Northumbria as part of the Museum’s history, but also as a cultural asset. However, the thorny issue of his mode of display remains a problem for the Society, specifically, how can the ›personality‹ (as opposed to animality?) of Sparkie in life be displayed and interpreted to the public following his death? Since the 2009 redevelopment the Society have been independently campaigning and fundraising for the redisplay of Sparkie, their general intention being to showcase him in a stand-alone display case that is separate to the ›Bio-Wall‹, with a more obvious facility to listen to his recordings. At the time of writing, funds accumulated from donations to the Society’s archive, along with copyright permission fees, go directly into the ›Sparkie Williams Archive Fund‹ for his intended redisplay. Sparkie’s possible future meanings in the public imagination are therefore dependant on the ambitions of the Society, and their collective view of how that significance can be resurrected through alternative display strategies. As a natural science object of significant socio-cultural (and notably not scientific) value, Sparkie’s current mode of display – and the Society’s ongoing desire to change it, reminds us not only of how stakeholder agendas shape the presentation and display of museum collections,
46 There are many newspaper clippings, articles and other ephemera in the archive of the Natural History Society of Northumbria reflecting Sparkie’s ongoing popularity with the (mostly regional) public and press. 47 Natural History Society of Northumbria: Sparkie Williams (see note 2).
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but more broadly of the permeability of disciplines, the culturally constructed nature of classificatory practices, and above all the importance of interpretation.
I MAGE C REDITS Fig. 1: © Great North Museum: Hancock Fig. 2-4: © Natural History Society of Northumbria, Great North Museum: Hancock Fig. 5: © Photograph by Ebony Andrews reproduced with kind permission from the Natural History Society of Northumbria, Great North Museum: Hancock
IV. Transformationen von Bildwissen
Wellen und Zellen Willi Baumeisters ästhetische Subversion aus dem Geiste der Naturgeschichte
F RIEDRICH W ELTZIEN
Der Terminus ›Naturgeschichte‹ ist ein vielschichtiger Begriff. Er meint einerseits die Erforschung der Natur, andererseits aber auch deren enzyklopädische Erfassung, wie sie im Referenzwerk aller Naturgeschichten, der Naturalis Historia des älteren Plinius, im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende in Rom entstanden, vorgegeben ist. Historia bezeichnet im Lateinischen nicht nur die Geschichte als res gestae sondern auch die Geschichtsschreibung. Darüber hinaus lässt historia sich mit Wissen oder Kenntnis im Allgemeinen übersetzen und meint zudem die Forschung oder Untersuchung im Sinne der Erweiterung von Wissen. Wenn im Folgenden nach Reflexen der Naturgeschichte in der bildenden Kunst gesucht wird, so bleibt diese vielfältige Bedeutungslage stets spürbar. Zum einen ist die menschliche Neugier, den Geheimnissen der Welt auch auf künstlerischen Wegen nachzugehen, angesprochen. Darüber hinaus beziehen sich diese Reflexe aber auch auf die Faszination, die von den großen naturwissenschaftlichen Enzyklopädien ausgeht. Die Bücher von Carl von Linné (17071778), Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1778), Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) oder Charles Darwin (1809-1882), um die wirkmächtigsten zu nennen, haben in dem Anspruch, alles was existiert in eine Systematik der drei Naturreiche (der Mineralien, der Fauna und der Flora) einzusortieren, selbst ein eigenes Universum eröffnet, das auf die Künste eine vielfältige Inspiration ausübte. Diese Inspiration geht von der verborgenen, aber intelligiblen Ordnung ebenso aus wie vielleicht noch stärker von den Illustrationen, Bildertafeln und Diagrammen, die hierin eine zentrale Rolle als visuelle Argumente spielen. Der fan-
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tastische Formenreichtum, den die Natur hervorbringt, und die Scharfsinnigkeit, mit der die Enzyklopädisten diese in Verwandtschaftsbeziehungen und Stammbäume, Karten und Tabellen einsortieren, sowie die bildlichen Repräsentationen und grafischen Visualisierungen dieser Ordnungen – all das bietet nahezu unerschöpfliche Seh-Reisen und Denkanstöße. Und obendrein stellt die Evolutionstheorie (als jüngste Blüte einer universellen histoire naturelle) mit der Feststellung, dass auch die Natur nicht ewig unverändert existiert, sondern eine eigene Entwicklungsgeschichte durchläuft, die künstlerische Schöpferkraft in einen Vergleich zur generativen Potenz der Reiche der Natur. Dieser Bedeutungsfächer der Naturgeschichte, der sich in den europäischen Avantgarden der Moderne spiegelt, ist bekannt und wird in den kunsthistorischen Récits immer wieder aufgerufen. Im Detail harren die genauen Bezüge in all ihrer Vielfalt aber noch der Rekonstruktion. Ein Mosaiksteinchen hierzu will der vorliegende Beitrag liefern. Die Referenzen, die Willi Baumeister (18891955) in seinem malerischen Œuvre auf das lexikalische Genre der Naturgeschichte erkennen lässt, sollen insbesondere auf ihren politischen und kreativitätstheoretischen Gehalt hin abgesucht werden. Ausgangshypothese ist dabei, dass einerseits formale ikonografische Übernahmen nachweisbar sind und andererseits sich damit auch eine künstlerische, ästhetische und letztlich auch kunstpolitische Positionierung verbinden lässt. Die Naturgeschichte spielt insofern nicht nur als Inspirationsquelle eine Rolle, sondern ist bedeutsam für die Selbstvergewisserung Baumeisters als Künstler wie auch in der Erzeugung und Bestärkung eines Wertesystems, das sich aus der klassischen Avantgarde speist, unter dem Druck des nationalsozialistischen Entartungsverdikts eine spezifische Form gewinnt und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einem globalen kunsttheoretischen Anspruch unterworfen wird.
N ACHKRIEGSABSTRAKTION Ein Topos in der Kunstgeschichte der Naturgeschichte beschreibt deren Bedeutung für die Entwicklung der Abstraktion, insbesondere deren Auftreten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den frühen 1950er Jahren. Im kulturpolitischen Kontext des sich aufbauenden Blocksystems zwischen Ost und West, das die antifaschistische Allianz von vor 1945 ablöste, behaupteten die Antipoden Kapitalismus versus Kommunismus und die sie repräsentierenden Supermächte USA und Sowjetunion auch eine künstlerische Bildsprache, eine spezifische Ästhetik. Die Nachkriegsabstraktion in einer Bandbreite vom Informel bis zum Abstrakten Expressionismus (vor allem in Westeuropa und den USA, aber auch
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in Japan und anderen Ländern hervorgetreten) wurde dabei als Gegenentwurf zum Modell des sozialistischen Realismus als Ausdruck von Freiheit und transkultureller Formensprache propagiert. Die Abstraktion repräsentiert den »europäische[n] Lebensentwurf, […] dessen ästhetischer Ausdruck die moderne Kunst und Architektur«1 sei: »An ihm beginnt die Weltkultur sichtbar zu werden.«2 Für diese sogenannte »Weltsprache der Abstraktion«3 wurde eine universelle Humanität in Anspruch genommen: Sie war angeblich für alle Menschen gleichermaßen verständlich, unabhängig von kulturellen Prägungen und Traditionen, und wurde auf diese Weise gewissermaßen naturalisiert.4 Für diese kulturpolitische Konstruktion wurde die Naturgeschichte in der Doppelbedeutung als Beglaubigungsinstitution und Argumentationslieferant gebraucht. Die politische Konnotation der Engführung von Naturgeschichte und Avantgarde lässt sich gut an einer Gruppe von Künstlern nachvollziehen, dem sogenannten Wuppertaler Arbeitskreis, die sich ab 1937 in Deutschland um den Stuttgarter Grafiker und Maler Willi Baumeister gesammelt hat. Die Frage ist, wie er und seine Mitstreiter unter dem nationalsozialistischen Bann der ›Entartung‹ stehend – was den Verlust aller öffentlichen Ämter (wie etwa seiner Frankfurter Hochschulprofessur), ein Berufs- und Ausstellungsverbot, ja sogar ein Verbot der Beschaffung von Malmitteln mit sich brachte – eine naturhistorisch informierte Version des ästhetischen Widerstands, einen zivilen künstlerischen Ungehorsam entwickelten. Dieser Gruppe gehörte auch Oskar Schlemmer (1888-1943) an, der 1933 ebenfalls seine Professur verloren hatte, nachdem das Bauhaus von den Nationalsozialisten geschlossen worden war. Als Dritter im Bunde zählte der Architekt Franz Krause (1897-1979) zum inneren Kreis. Hinzu kamen Oskars Bruder Carl Schlemmer (1883-1966) und verschiedene Künstler, die am Rande oder zeitweilig dem Arbeitskreis angehörten – wie etwa Karl Otto Götz (1914-2017), Georg Muche (1895-1987), Edwin Scharff (1887-1955) oder
1
Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954, S. 479.
2
Ebd.
3
Ebd. Für den deutschen Sprachraum hat Werner Haftmann diesen Begriff nachhaltig geprägt. Vgl. auch Poensgen, Georg/Zahn, Leopold: Abstrakte Kunst. Eine Weltsprache, Baden-Baden 1958.
4
Vgl. auch Weltzien, Friedrich: Zeuge der Zeugung. Biochemische Körperkonzeptionen und das abstrakte Bild als Lebewesen, in: Moskatova, Olga/Schönegg, Kathrin/Reiman, Sandra Beate (Hg.): Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeit der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013, S. 301-320.
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Alfred Lörcher (1875-1962).5 Zustande gekommen war diese unwahrscheinliche Konstellation auf Initiative des Chemikers und industriellen Farbenproduzenten Kurt Herberts (1901-1989). Er hatte im Jahr 1937 die Künstler über Vermittlung durch den Architekten Heinz Rasch kontaktiert und ihnen in seiner Fabrik in Wuppertal die Möglichkeit geboten, trotz Berufsverbots weiter arbeiten zu können. In diesem Werk wurden Speziallacke etwa für Eisenbahnen oder »z. B. Flugzeuge, deren Schutzanstriche zudem noch wechselnde Temperaturen und Erschütterungen auszuhalten haben«6, hergestellt. Insbesondere das Militär war darauf angewiesen, hochwertige Lacke für alle möglichen spezifischen Erfordernisse zu erhalten. So wurde die Produktionsstätte von Herberts als ›kriegswichtig‹ eingestuft und nicht weiter behelligt. Obendrein waren die Künstler zunächst vom Kriegsdienst befreit. Im Wuppertaler Werk wurden eine Forschungseinrichtung zur Malstoffkunde und ein Maltechnikum eingerichtet. Dazu stand ein Laboratorium zur Verfügung, es wurde eine Fachbibliothek erstellt und eine Sammlung von historischen und ethnologischen Artefakten zusammengetragen. Offiziell bestand der Werksauftrag darin, alte und neu entwickelte Materialien und Techniken zu erproben. Erklärtes Ziel war es, eine Sammlung sämtlicher grafischer Techniken von den frühesten neolithischen Zeugnissen bis zur Gegenwart unter Einbezug möglichst aller Hochkulturen zusammenzustellen und diese Techniken experimentell nachzuvollziehen.7 Publizierte Projekttitel aus dieser Zeit lauteten etwa: 10.000 Jahre Malerei (1938), Anfänge der Malerei. Die Fragen ihrer Maltechniken und das Rätsel ihrer Erhaltung (1941) oder Untersuchungen über die Anwendbarkeit historischer Malverfahren (1941).8 Es sei durch ihre Arbeit gelun-
5
Vgl. Herberts, Kurt (Hg.): Modulation und Patina. Ein Dokument aus dem Wuppertaler Arbeitskreis um Willi Baumeister, Oskar Schlemmer, Franz Krause 1937-1944, Stuttgart 1989, S. 216.
6
Herberts, Kurt: Dokumente zur Malstoffgeschichte, Wuppertal 1940, o. P.
7
»Die wichtigsten historischen Malverfahren habe ich anläßlich der Ausmalung eines Treppenhauses in meinen Laboratorien wieder herstellen lassen und damit ihre Gültigkeit auch für unsere Zeit bewiesen.« Ebd.
8
Herberts, Kurt: 10.000 Jahre Malerei und ihre Werkstoffe, Wuppertal 1938; ders.: Anfänge der Malerei. Die Fragen ihrer Maltechniken und das Rätsel ihrer Erhaltung, Wuppertal 1941; ders: Untersuchungen über die Anwendbarkeit historischer Malverfahren, Wuppertal 1941. Soweit mir die Publikationen zugänglich waren, ist eine weitgehende Doppelung der Bildbeispiele wie auch in den Textbeiträgen festzustellen. Oft wird bekanntes Wissen aus der Fachliteratur kompiliert. Insofern ist der wissenschaftliche Forschungscharakter in den schmalen Heften nicht durchgängig sichtbar.
Ä STHETISCHE S UBVERSION AUS DEM G EISTE DER N ATURGESCHICHTE | 277
gen, einige wissenschaftliche Rätsel zu lösen – etwa das der dauerhaften Haltbarkeit des Farbauftrags der Höhlenmalereien von Chauvet oder zur Technik der Wandmalereien in Pompeji.9 Dieser Aspekt ist nicht unbedeutend: Es ging in der Tat darum, die Malerei auf ihren Ursprung zurückzuführen. Das ist nicht nur im technischen Sinne gemeint (also zu begreifen, wie Malerei oder Lackiererei überhaupt auf materieller Basis funktionieren), sondern auch im anthropologischen Sinne: Was bedeutet die Herstellung eines Bildes für den Menschen, lassen sich durch diesen Rückgang zu den Ursprüngen harte Kriterien zur Beurteilung von Kunst finden? Im Retrospekt erklärt Herberts sein Maltechnikum in Wuppertal als eine Art Tarnfirma, in der er es den verfemten Künstlern ermöglichte, weiter Kunst herzustellen, sie mit Ateliers und Malmitteln auszustatten und ihnen so ein »Refugium«10 zu bieten. Allerdings erwartete er sich durchaus auch verwertbare Ergebnisse, so sollten etwa künstlerische Lackarbeiten als Werbegeschenke für die Kunden erstellt werden (zu denen ja nicht zuletzt die deutsche Militärmaschinerie zählte). Einen Farbauftrag zu entwickeln, der wie in Chauvet die nächsten Jahrtausende haften blieb, war sicherlich ganz im Sinne des ›Tausendjährigen Reiches‹. So wird etwa über die Herstellung architektonischer »Monumentalität«11 räsoniert, und es werden auch Gelegenheiten genutzt, die historische Verwendung von »Hakenkreuzen« in unterschiedlichen Kulturen zu belegen.12 Der Betrieb profitierte insofern von den Staatsaufträgen des Hitlerregimes. Gleichwohl ist die Philanthropie von Kurt Herberts nicht in Frage zu stellen, ohne Zweifel ging er bei der Beschäftigung der verfemten Künstler ein Risiko ein. Dabei war er von einem anthroposophischen und humanitären Gedankengut ge-
9
In Anfänge der Malerei vertritt Baumeister etwa die der damaligen Forschung widersprechende These, die eiszeitlichen Höhlenmaler hätten keine Bindemittel verwendet, Herberts: Anfänge der Malerei (wie Anm. 8). Vgl. auch Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 5), S. 20.
10 Herberts, Kurt: Erinnerungen und Reflexionen, in: ders.: Modulation und Patina (wie Anm. 5), S. 215-241, hier S. 216. So sieht es auch Rave, Paul Ortwin: Kunstdiktatur im Dritten Reich, Berlin 1947. Auf Seite 774 nennt er das Institut für Malstoffkunde eine »getarnte Abwehrstelle«. Wolfgang Kermer findet die Bezeichnung »Kapitel geistiger Résistance«, Kermer, Wolfgang: Der schöpferische Winkel. Willi Baumeisters pädagogische Tätigkeit, Stuttgart 1992, S. 31. Auch Baumeister selbst benutzt später den Begriff »Tarnung«, ebd., S. 165. 11 Herberts, Kurt: Vorwort zur Zweiten Auflage, April 1939, in: ders.: 10.000 Jahre Malerei (wie Anm. 8), S. 3. 12 Vgl. z. B. ebd., S. 14, S. 25.
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leitet, das sowohl sympathisch als auch ernst zu nehmen ist.13 Und nicht nur im Fall von Baumeister oder Götz hat er sich nachhaltig um die Kunst in Deutschland nach dem Krieg verdient gemacht.
M ODULATION
UND
P ATINA
Wie auch immer man die Situation im Maltechnikum bewerten mag, der Naturgeschichte kommt in dieser Konstellation auf vielfältige Weise eine entscheidende Funktion zu. Näheren Aufschluss darüber geben zwei Buchprojekte, die aus dieser Arbeit hervorgegangen sind. Zum einen ist dies Willi Baumeisters eigene Schrift Das Unbekannte in der Kunst.14 Das Manuskript war zu Neujahr 1943/44 fertiggestellt, gedruckt erschien es 1947. Das zweite Buchprojekt lief unter dem Autorennamen von Kurt Herberts, war aber de facto eine Gemeinschaftsarbeit aus dem Maltechnikum des Wuppertaler Arbeitskreises. Der Titel lautete Modulation und Patina, auch dieses Manuskript lag zu Kriegsende in Publikationsreife vor. Allerdings sollte es bis 1989 dauern, bis es tatsächlich veröffentlicht wurde.15 In beiden Schriften wird die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft denkbar eng gezogen. Ebenso stark wird der Zusammenhang zwischen Kunst und Natur gesehen. Dies geht bis an den Rand einer Identifizierung: Eigentlich – so ließe sich das überspitzt zusammenfassen – sind Kunstgeschichte und Naturgeschichte zwei Seiten ein und desselben Ablaufs. Die »eigengesetzlichen Kräfte der Stoffeswelt«16 entsprechen weitgehend den »Eigenkräften der künstlerischen Ausdrucksmittel«17. In Modulation und Patina wird dies besonders deutlich. Schon die Definition der titelgebenden Begriffe unterstreicht diese nahe Verwandtschaft: Mit Modulation wird die Fähigkeit benannt, durch eine Variation der Oberflächenbeschaf-
13 Vgl. etwa Herberts, Kurt: Brücken zum Unvergänglichen. Von der Erweckung des inneren Menschen, Düsseldorf 1961. Ders.: Offenbarungen in der Malerei des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1966. 14 Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947. Ergänzend finden sich weitere Schriften Baumeisters in Kermer: Der schöpferische Winkel (wie Anm. 10). 15 Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4). Die Edition verdankte sich auch der Forschungstätigkeit der Kunsthistorikerin Karin von Maur, damals stellvertretende Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart und ebendort Kuratorin für klassische Moderne. 16 Baumeister: Das Unbekannte (wie Anm. 14), S. 38. 17 Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4), S. 29.
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fenheit Struktur, Rhythmus, Differenz – also letztlich Sichtbarkeit im Sinne eines Bildes – herzustellen. Patina dagegen beschreibt einen Effekt, der auf natürliche Weise zustande kommt, aber letztlich ebenfalls zu einer modulierten Oberfläche führt: »Unter ›Patina‹ verstehen wir im allgemeinen Erscheinungen, die durch natürliche Einwirkungen auf künstlich geschaffenen Oberflächen hervorgerufen wurden. Aber auch die Veränderungen an natürlichen Oberflächen wie die sich zur Borke auswachsende Baumrinde, der verwitternde und sich bemoosende Felsen gehören zum Begriff der ›Patina‹.«18
Durch Alterungsprozesse, Verwitterung, Oxidation, Verbrennung, Austrocknung, Ruinierung und andere Vorgänge entstehen Oberflächen, die eben jene malerischen und pittoresken, bildwürdigen ästhetischen Zustände aufweisen, auf die der Urbegriff der Kunst hinführe. Hier sehen die Materialforscher des Wuppertaler Arbeitskreises den Geburtsort der Kunst und damit auch die Legitimierung ihrer antiklassizistisch abstrakten, gewissermaßen ›entarteten‹ Ästhetik. Aus der Beschäftigung mit den künstlerischen Strategien der Patinierung als einer naturgemäßen Form kreativer Produktivität entwickelt Willi Baumeister einen Kanon von Arbeitsformen, die während des Krieges auf kleinen Versuchstäfelchen in Wuppertal erprobt werden, bevor sie nach 1945 dann auf größere Formate übertragen zum Inbegriff der freien Kunst – der befreiten Kunst – werden.19 Die künstlerische Schöpferkraft, die Fähigkeit zur Kreativität wird hier nicht als eine genuin menschliche Kraft verstanden, sondern vielmehr als eine Kooperation des menschlichen Willens mit den Kräften der Natur. Sie basiert auf der Einsicht des Arbeitskreises, »dass wir die Formung der Modulation nicht völlig in der Hand haben, Methode und System stehen hier der Formkraft und dem Bildungstrieb der Stoffe gegenüber«20. Mit dieser Auffassung bauen die Wuppertaler auf einem Konzept auf, das zuvor schon eine ganze Reihe von Werken hervorgebracht hat, die auf der Grenze zwischen Naturgeschichte und Ästhetik siedeln.21
18 Ebd. 19 Vgl. hierzu auch Ackermann, Marion (Hg.): Laboratorium Lack. Baumeister, Schlemmer, Krause 1937-1944, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Stuttgart, Stuttgart 2007. 20 Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4), S. 29. 21 Das Unbekannte in der Kunst und Modulation und Patina sind voller ausdrücklicher und versteckter Hinweise auf Vorläufer und Referenzen. Einige davon habe ich schon an anderer Stelle untersucht: Weltzien, Friedrich: Die Lebendigkeit des Materials. Zur
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Zu diesen Vorgängern zählt der amerikanische Fotograf Wilson Bentley (18651931), der 1931 einen prachtvollen Band mit Fotografien von Schneekristallen herausbrachte, die nicht nur den Beweis für die unwiederholbare Vielfalt der Formen erbringen sollte, zu der die schöpferische Kraft der Natur fähig sei, sondern aus kreativitätstheoretischer Sicht auch die These des Wuppertaler Arbeitskreises stützen konnte, dass sich in den Naturkräften ästhetische Vorbilder für die stete Modulation von Formen finden lassen könnte. So übernehmen auch Baumeister und seine Mitstreiter Bilder von Eiskristallen in ihr Werk, wie etwa ein Beispiel mit der Beischrift »Modulation durch Kristallbildung: Eisblumen am Fenster« zu finden ist.22 Deutlich früher, in den Jahren von 1910 bis 1914, hat der Fotograf Heinrich Schenk auf 96 Tafeln mikroskopische Aufnahmen von Kristallen veröffentlicht, die er unter dem Titel Naturformen weniger aufgrund ihres wissenschaftlichen Erkenntniswertes, als vor allem der ästhetischen Qualität der Bilder wegen einem breiten Publikum zur Verfügung stellen wollte.23 Dieser Anspruch wird auch dadurch unterstrichen, dass er die Einleitung zu diesem Band von einem Künstler schreiben ließ, Karl Schmoll von Eisenwerth (1879-1948), der seit 1907 an der Architektonischen Fakultät der Technischen Hochschule in Stuttgart als Professor für »Ornamenten- und Figurenzeichnen, Aquarellieren und dekoratives Entwerfen« unterrichtete.24 In seinem Vorwort geht Schmoll von Eisenwerth auf den dekorativen Aspekt der Kristallstrukturen ein und empfiehlt die mikroskopischen Aufnahmen als Musterbilder für Archi-
Geschichte selbstorganisierender Flecken zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Ackermann: Laboratorium Lack (wie Anm. 19), S. 105-116. 22 Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4), S. 37. 23 In Baumeister: Das Unbekannte (wie Anm. 14) hat er mit Abb. 127 ein Bild mit dem Titel Oxalsäure, Mikrofoto eingefügt, das den Aufnahmen von Schenk (etwa im kreisrunden Format) auffällig ähnelt. Die von Baumeister angegebene Quelle (»Mikrofoto von Jul. Widmayer, aus ›Aussaat‹, Verlag Bürger, Lorch«) ließ sich bislang nicht verifizieren. Vgl. auch Derenthal, Ludger/Stahl, Christiane (Hg.): Mikrofotografie. Schönheit jenseits des Sichtbaren, Berlin 2010. 24 Schmoll von Eisenwerth war bis 1929 Rektor der TH Stuttgart und unterhielt dort trotz Anfeindungen durch die Nationalsozialisten weiter ein Atelier, also in unmittelbarer Umgebung des jungen Baumeister.
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tekten und Designer, um auf dieser Basis ornamentale Strukturen zu entwerfen.25 Bekannter als Bentley und Schenk war zu dieser Zeit der Berliner Fotograf Karl Blossfeldt (1865-1932), der 1928 mit seinen Urformen der Kunst Prominenz erlangte.26 Walter Benjamin etwa schrieb über ihn: »Aus jedem Kelche und jedem Blatte springen uns innere Bildnotwendigkeiten entgegen, die in allen Phasen und Stadien des Gezeugten als Metamorphosen das letzte Wort behalten. Das rührt an eine der tiefsten, unergründlichsten Formen des Schöpferischen, an die Variante, die immer vor andern die Form des Genius, der schöpferischen Kollektiva und der Natur war. Sie ist der fruchtbare, der dialektische Gegensatz zur Erfindung: das Natura non facit saltus der Alten. Das weibliche und vegetabilische Lebensprinzip selber möchte man mit einer kühnen Vermutung sie nennen dürfen.«27
Auch Blossfeldt, als Professor an der Kunstgewerbeschule Berlin (heute Universität der Künste) für das Lehrfach ›Modellieren nach Pflanzen‹ verantwortlich, fotografierte die Natur in Vergrößerung, vor allem Blätter, Knollen, Blüten, Knospen oder Triebe von Pflanzen, die er als Vorbilder für insbesondere architektonische Ornamentik eingesetzt sehen wollte. Der formenreiche Bildungstrieb der Flora erschien ihm als eine unversiegbare Quelle der Inspiration für alle gestaltenden Künste und damit die Kräfte der Natur als ebenjene »tiefsten, unergründlichsten Formen des Schöpferischen«, die auch Benjamin in den Fotografien nachvollziehen konnte. Der bedeutsamste unter diesen Wissenschaftler-Künstlern, auf den sich alle der genannten Autoren schon in ihrer Titelgebung wie auf einen Ahnherrn bezogen, war der Meeresbiologe Ernst Haeckel (1834-1919). Nach Charles Darwin selbst war Haeckel in seiner Zeit der prominenteste und wirkmächtigste Vertreter der Evolutionstheorie. Sein prachtvolles Tafelwerk Kunstformen der Natur,
25 Vgl. Stahl, Christiane: Vom Ornament zum Muster in der Mikrofotografie der Moderne, in: Tietenberg, Anette (Hg.): Muster im Transfer. Ein Modell transkultureller Verflechtung?, Wien/Köln/Weimar 2015, S. 135-150. 26 Blossfeldt, Karl: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder, hg. mit einer Einleitung von Karl Nierendorf, Berlin 1928. 27 Benjamin, Walter (1928): Über Blumen, in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a. M. 1971, S. 151-153, hier S. 153.
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zwischen 1899 und 1904 in mehreren Faszikeln erschienen,28 gab in zahlreichen, von Haeckel selbst gestalteten bildlichen Darstellungen die Lebensvielfalt der Weltmeere bis hin zu den mikroskopisch kleinen Kieselalgen wieder. Diese marine Naturgeschichte beeinflusste zahlreiche Künstler und Designer vom Jugendstil bis zum Expressionismus. Haeckel, der in seiner Jugend zunächst mit einer künstlerischen Laufbahn geliebäugelt hatte, zählt zu den wesentlichen Impulsgebern, dessen Sinn für die ästhetischen Qualitäten von wissenschaftlichen Illustrationen und Visualisierungen das große Interesse der Avantgarde an der Naturgeschichte maßgeblich trug. Dies gelang ihm nicht zuletzt dadurch, dass er gegen Ende seines Lebens im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mehrere populäre, reich bebilderte Bücher (etwa 1912 Kristallseelen und 1917 Die Natur als Künstlerin) herausbrachte, die eine massenhafte Verbreitung fanden und – zumindest in Deutschland – zum Allgemeingut des bürgerlichen Bildungskanons zu zählen sind.
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Auch Modulation und Patina zollt Haeckel Respekt und stellt an verschiedenen Stellen Bezüge her.29 Dieses literarische Genre der Naturgeschichte bietet eine Hintergrundfolie für die Experimente in Wuppertal. Die von Baumeisters, Schlemmers und Krauses Experimenten inspirierten Ideen fanden nach dem Ende des Weltkriegs Beachtung. Teilweise wurden ähnliche Techniken bereits zeitgleich parallel entwickelt, teilweise anschließend in unmittelbarem Rekurs weitergetrieben. Noch vor den Tachisten und informellen Künstlern erwiesen sich die Surrealisten – erst in Paris, später dann vor allem in New York – als ähnlich experimentierfreudig, indem sie vergleichbare technische Herangehensweisen hatten. So erfuhren die Mitarbeiter des Arbeitskreises zum Beispiel im Sommer 1941 aus einem alten, auf den Juni 1936 datierten Minotaure-Heft, dass die Surrealisten in Paris mit Décalcomanien experimentierten, um auf diese Weise Momente des Ungesuchten zu provozieren und quasinatürliche Formen zu gewinnen.30 Nach dem Krieg sind es unter anderem chemische Prozesse oder
28 Haeckel, Ernst: Kunstformen der Natur, Leipzig 1899-1904. 1924 erschien eine verkürzte Auflage in einem Band. Online einsehbar unter der URL: http://www.zum.de/ stueber/haeckel/kunstformen/natur.html [Stand: 27. Januar 2017]. 29 Ausdrücklich etwa in Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4) in der Unterschrift zu Tafel 13 auf S. 96. 30 Vgl. Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4), S. 20.
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Druckluftverblasungen, die die Zeitgenossen durch die Wuppertaler vorgebildet finden.31 Bei Baumeister selbst lässt sich eine ganze Bandbreite von Motiven und Techniken finden, die sich ganz unmittelbar dieser naturgeschichtlich inspirierten Forschungsarbeit verdanken.32 Im Falle seiner Arbeiten, die nach dem Ende seiner erzwungenen Inneren Emigration entstanden, kann noch eine andere Naturgeschichte, auf die in Modulation und Patina nicht hingewiesen wird, herangezogen werden, um zunächst rein formale Vorbilder zu finden. Die bereits genannten Beispiele aus der Literatur sind kunstwissenschaftlich bekannt und vergleichsweise gut erforscht. Bei dem Buch, das folgend zur Diskussion gestellt werden soll, handelt es sich um ein Werk des Autors Carl Gottfried Wilhelm Vollmer (1797-1864), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Dr. W. F. A. Zimmermann eine Reihe populärwissenschaftlicher Bestseller verfasste. Dessen Titel Die Wunder der Urwelt. Eine populaire Darstellung der Geschichte der Schöpfung und des Urzustandes unseres Weltkörpers, zuerst 1855 erschienen, erlebte laut Selbstauskunft innerhalb von neun Monaten drei Auflagen.33 Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Handbuch wissenschaftlich stets aktualisiert, in über 50 Auflagen greifbar gehalten sowie in mehrere Sprachen übersetzt. Es lässt sich behaupten, dass es sich in den
31 Vgl. Weltzien, Friedrich: Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Pflaumbaum, Christoph/Rocks, Carolin/Schmitt, Christian/Tetzlaff, Stefan (Hg.): Ästhetik des Zufalls. Ordnungen des Unvorhersehbaren in Literatur und Theorie, Heidelberg 2015, S. 59-76. 32 Auch bei Karl Otto Götz, der lose mit dem Wuppertaler Kreis verbunden war, kann man derartige Bezüge rekonstruieren. Bei dem Maler und Fotografen Edmund Kesting (1892-1970), der nur mittelbar mit den Wuppertalern in Zusammenhang zu bringen ist, trifft die Motivik der urtümlichen Formen auf eine technische Weiterentwicklung, insofern er seine beiden Bildtechniken der Fotografie und der Zeichnung in der sogenannten »chemischen Malerei« zusammenführt. Die Chemie als lebensbedingende Kraft wird hier genutzt, die Prozesse von Bildwerdung und Evolution miteinander kurzzuschließen. Vgl. Wedhorn, Katja: Licht und Schatten. Neue Gestaltungsweisen der Fotografie von 1920 bis 1960 und der Beitrag Edmund Kestings, Marburg 2012. 33 Zimmermann, W. F. A.: Die Wunder der Urwelt. Eine populaire Darstellung der Geschichte der Schöpfung und des Urzustandes unseres Weltkörpers, so wie der verschiedenen Entwickelungs-Perioden seiner Oberfläche, seiner Vegetation und seiner Bewohner bis auf die Jetztzeit. Nach den Resultaten der Forschung und Wissenschaft bearbeitet. Mit 192 in den Text eingedruckten Abbildungen und einem in Farben gedruckten lithographirten Titelbilde, Berlin 1855. Die zitierte Selbstauskunft: S. 4.
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ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Bereich um eine ausgesprochen weit verbreitete und allgemein zugängliche Naturgeschichte handelte. Seine Rezeption in der bildenden Kunst scheint dagegen ein kunstwissenschaftliches Desiderat darzustellen. Die Aufgabe für Baumeister bestand nun darin, Figurationen aus der Urzeit der Evolution zu finden, die eine Art Formvokabular bereitstellen. Aus diesem Repertoire ließe sich dann gewissermaßen eine Bildsprache im Rohzustand neu erstellen, die in Analogie zur Entwicklung der Naturformen mit Hilfe des Bildungstriebes nicht weniger als eine neue Kunst möglich machen sollte. Wenn man sich vor eine solche Herausforderung gestellt sieht, liegt es nicht fern, zu Zimmermanns Standardwerk zu greifen, um dort nach Ausgangsmaterial zu suchen. Künstlerisch ging es Baumeister immerhin darum, sozusagen vor den Sündenfall der nationalsozialistischen Vereinnahmung der klassischen Formen zurückzugehen, um einen Katalog visueller Elemente zu erstellen, der nicht nur eine »befreite«34 Bildsprache anzubieten hatte, sondern in gewisser Hinsicht bei Null starten wollte.35 Der Vergleich von Baumeisters Œuvre mit den Illustrationen aus Zimmermanns Naturgeschichte macht zumindest eine Reihe von Ähnlichkeiten augenfällig. Dies legt den Schluss nahe, dass Baumeisters Bilder eine Assoziationsgrundlage haben sollten, die von möglichst vielen Menschen nachvollzogen werden konnte. Insofern musste er weniger nach den wissenschaftlich aktuellsten Visualisierungen suchen, sondern nach den bekannten und populairen Motiven, um den Gedanken an den Beginn einer Schöpfung zu evozieren. Der Rückgriff auf Material, das die Generation Baumeisters womöglich in ihrer Schulzeit vermittelt bekommen hat, macht insofern Sinn, als die Verwendung von jüngeren Illuminationen der Urzeit sich womöglich nur einem wissenschaftlich gebildeten Publikum als solche erschlossen.36 Neben den formalen ikonogra-
34 1946 fand in Celle eine Ausstellung ehemals verfemter Künstler unter dem Titel »Befreite Kunst« statt. Vgl. Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik, Berlin 2008, S. 597. 35 Die Benennung der Kapitulation des »Dritten Reichs« im kulturhistorischen Sinne als »Stunde Null« zeichnet nach: Giles, Geoffrey J. (Hg.): Stunde Null. The End and the Beginning Fifty Years ago, German Historical Institute, Washington 1997. Online einsehbar unter URL: http://www.ghi-dc.org/fileadmin/user_upload/GHI_Washington/ PDFs/Occasional_Papers/Stunde_Null.pdf [Stand: 27. Januar 2017]. 36 So hatten etwa die Wissenschaftler Stanley Miller und Harold Clayton Urey im Jahr 1953 in einem aufsehenerregenden Experiment an der University of Chicago der Theorie der sogenannten ›Ursuppe‹ zu Nachdruck verholfen, indem sie nachwiesen, dass
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fischen Parallelen scheint darüber hinaus bei dem Dozenten für ›Gebrauchsgrafik und Typografie‹ und Werbegestalter Willi Baumeister auch das Layout sowie die spezifische Ästhetik der Drucktechnik eine Rolle zu spielen.
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Auf Seite 45 beispielsweise stellt W. F. A. Zimmermann die Entwicklung einfacher Pflanzen vor, deren Ursprünge er bei »Algen und Fucus oder Tangarten«37 sieht, die aus »viele[n] ganz feine[n] Fäden« bestehen: »Sobald sich mehrere solcher Pflanzen neben einander befinden, wie in der zweiten Figur […], so entsteht daraus eine Art Filz, ein halb durchsichtiger, gallertartiger Schlamm.«38 (Abb. 1) Hier merkt der Autor an, dass es sich bei der Abbildung um die »Copie einer Versteinerung« handele, also keine lebenden Algen wiedergegeben worden seien. In einem Öl- und Temperagemälde Baumeisters mit dem Titel Dijebel Draa aus dem Jahr 1951 finden sich ganz ähnliche fädige Strukturen, die in unterschiedlichen Stärken und in der Farbigkeit von Schwarz über Grau bis hin zu Ockertönen variierend, einen Filz über die Bildfläche legen (Abb. 2). Draa, das arabische Wort für ›Arm‹ ist zudem der Name eines meistenteils ausgetrockneten Flusses im nordafrikanischen Grenzgebiet zwischen Marokko und Algerien, in dessen Tal sich zahlreiche Petroglyphen und andere prähistorische Zeugnisse fanden. Mit dem zweiten Begriff des Bildtitels, Dijebel, das im Arabischen ›Berg‹ bedeutet, ist der kulturgeografische Zusammenhang deutlich gemacht.39 Der Bildtitel ruft insofern einen Raum auf, der einerseits Ort einer untergegangenen außereuropäischen vorzivilisatorischen Kulturstufe war, die künstlerische Spuren hinterließ, und andererseits mit Fundorten versteinerter Relikte assoziiert werden kann. In Baumeisters Gemälde sind vor allem in der rechten Bildhälfte flächige Strukturen zu sehen, die auf die im Buchtext angeführte spezifische Erscheinung einer halbtransparenten amorphen Form Bezug nehmen, zumal die Fäden innerhalb dieser durchscheinend gemalten Flächen erkennbar bleiben. Das Gemälde
sich aus den Bestandteilen der hypothetischen Uratmosphäre der Erde unter starker elektrischer Energiezufuhr spontan Aminosäuren bilden können. 37 Zimmermann: Wunder der Urwelt (wie Anm. 33), S. 45. 38 Ebd. 39 In Baumeister: Das Unbekannte (wie Anm. 14) finden sich auch mehrere Abbildungen nordafrikanischer Petroglyphen abgebildet, etwa Abb. 28 und 30.
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Abb. 1: Primitive fadenförmige Algen erzeugen in Massen einen schleimigen Filz des Lebens. Illustration aus W. F. A. Zimmermanns »Die Wunder der Urwelt« von 1855 kombiniert auf der Gegenstandsebene die mikro- und mesoskopische Erscheinung der Urform pflanzlichen Lebens, wobei sich aus den Verschlingungen der Urfäden zellartige Strukturen zu entwickeln scheinen. Deutlicher wird die formale Ähnlichkeit im Hinblick auf die ursprünglichsten Tiere, die Zimmermann in seiner Vorstellung von der Urzeit anführt. In einer eingerückten gerahmten Textabbildung auf Seite 46 sind zunächst ebenfalls fadenförmige sogenannte »Essigaale«40 zu sehen, daneben dann Exemplare aus »dem wunderbaren Geschlechte der Euglenia viridis«41, als deren Besonderheit der Autor hervorhebt, dass alle abgebildeten Formen von jedem Individuum im Laufe des Lebenszyklus angenommen werden, allerdings anders als in bekannten Metamorphosen nicht in einer vorbestimmten Reihenfolge (Abb. 3). Es handelt sich also offenbar um ein Tier, das seine äußere Form nach Belieben ändern kann. Es nimmt das Aussehen eines Wurmes oder einer Qualle an, im einen Zustand wirkt es wie ein Seestern, in anderen krümmt es sich zu embryonal wirkenden Formen oder bläst sich zu kugeligem Volumen auf. Insbesondere in Baumeisters Formfindungen rund um die Eidos-Serie, die in den späten 1930er Jahren in Wuppertal entsteht, orientiert er sich an dieser Kombination aus einerseits fadendünnen Lineamenten und andererseits amorphorganischen zellulären Gebilden, die in der kunsthistorischen Betrachtung stets
40 Zimmermann: Wunder der Urwelt (wie Anm. 33), S. 46. 41 Ebd.
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Abb. 2: Willi Baumeister nutzt diesen Teppich der Evolution als Motiv: Dijebel Draa, 1951 protozooische Assoziationen geweckt haben (Abb. 4).42 Derartige Strukturen tauchen bereits ab etwa 1930 in seinen Werken auf, sodass um diese Zeit womöglich seine erste Nutzung der Quelle zu suchen ist. Die Tatsache, dass Baumeister jenes Formenrepertoire bereits vor seiner Zeit der Inneren Emigration als verfemter Künstler entdeckt hat, macht deutlich, dass er den Aspekt der urtümlichen Bildsprache als eine Möglichkeit sah, dem kulturpolitischen Verdikt der ›Entartung‹ etwas entgegenzusetzen. Er greift einen Formkomplex auf, der ihm bereits zur Verfügung stand, und kombiniert ihn mit der modularisierenden Malweise aus der Phase des Wuppertaler Arbeitskreises. Die Technik erfüllt das Motiv mit den »Eigenkräften der künstlerischen Ausdrucksmittel«43 und erweckt es damit gewissermaßen zu einem ästhetischen Leben. Hier wird die Basis gelegt für eine neue Evolution, für eine alternative Naturgeschichte der Kunst.
42 Diese Formen wurden schon von den Zeitgenossen, ohne eine nähere ikonografische Herleitung für notwendig zu halten, als Einzeller, »Bakterien und Samenfäden« beschrieben, »amöbenhafte Figurationen«, »vegetative Urformen und organische Grundformen«, wie dies 1972 Paul Vogt in Zusammenfassung der vorangegangenen Lesarten darstellt, Vogt, Paul: Geschichte der deutschen Malerei im 20. Jahrhundert, Köln 1976, S. 310-312, S. 312. Den Begriff der Amöbe verwendet Baumeister auch selbst schon früh, etwa in Baumeister, Willi: Zimmer- und Wandgeister. Anmerkungen zum Inhalt meiner Bilder. Ein Fragment aus dem Nachlass des Künstlers und damit zusammenhängende Briefe, hg. von Heinz Spielmann, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 12, 1967, S. 121-168, S. 138. 43 Vgl. Herberts: Modulation und Patina (wie Anm. 4), S. 29.
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Abb. 3: »Die Wunder der Urwelt« zeigt, welche erstaunlichen Metamorphosen das Wesen Euglenia viridis in beliebiger Reihenfolge während seines Lebenszyklus durchläuft
Abb. 4: Für Willi Baumeister wird der amöbenhafte »Zellenleib« zu einem politisch aufgeladenen Bildelement dieser Zeit: Eidos V, 1939 »Angesichts der unsagbaren Leiden der Menschheit […], wenn der Satan über die Welt fegt, wenn die Stadt brennt und die Trümmer fliegen«44, ist die Möglichkeit eines solchen Neustarts gewiss eine tröstliche Vorstellung. In der Folge könnten weitere Motive – etwa Grafiken aus geologischen Zusammenhängen oder auch aus dem Bereich der höher entwickelten Pflanzen – in Baumeisters Œuvre mit Vorlagen aus Zimmermanns Urwelt identifiziert werden.
44 Baumeister: Das Unbekannte (wie Anm. 14), Einführung, o. P.
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Abb. 5: Über Layout und Drucktechnik erzeugen die wissenschaftlichen Illustrationen eine spezifische Ästhetik. Versteinerte Pflanzen in der Grauwacke aus Zimmermanns „Die Wunder der Urwelt“
Abb. 6: Der gelernte Grafiker Willi Baumeister orientiert sich an der Ästhetik der Illustration in Flächenorganisation, Komposition oder der Verwendung von Kartuschen: Gegenüberstellung, 1945
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Hinzu kommen aber auch noch weitere Vergleichbarkeiten. So scheinen für den Grafiker Baumeister auch die Buchseiten insgesamt (nicht nur die Illustrationen) inspirierend gewesen zu sein. Textblöcke werden mit teils eingerückten, teils freistehenden Illustrationen zusammengestellt. Die Illustrationen sind manchmal gerahmt, manches Mal werden innerhalb des Rahmens einzelne Bildelemente zusätzlich in eigenen Kartuschen hervorgehoben, an anderen Stellen stehen einzelne Motive unvermittelt nebeneinander und bieten in den Zwischenräumen viel Grund, auf dem die präsentierten Artefakte zur Geltung kommen (Abb. 5 u. 6). Freilich malt Baumeister niemals einfach ab oder übernimmt schlicht formale Ensembles. Aber die Anmutung der Klarheit und flächigen Ausbreitung eines Überblicks über wissenschaftliche Erkenntniswege lag ihm offenbar am Herzen. Die illustrative Rekonstruktion einer Urwelt interessiert ihn nicht, er versucht nicht, das Aussehen unseres Planeten zur Zeit der Entstehung des Lebens wiederzugeben. Sein Fokus liegt nicht auf der Naturgeschichte als einer res gestae, den tatsächlich stattgefundenen Begebenheiten. Sein Streben gilt vielmehr der Naturgeschichte als literarischer Gattung: Die Imagination, die Neugier, kurzum der Forschergeist, der in der Lage ist, in kreativer Art und Weise längst Vergangenes zu vergegenwärtigen, sowie die grafischen und visuellen Mittel, dies zu erreichen, sind der eigentliche Gegenstand seines bildnerischen Ausdrucksstrebens. Die brodelnde Produktivität des Lebens und die stete Aktivität des Bildungstriebs überlagern sich im malerischen Aufgriff der lexikalischen Visualisierung des Urtümlichen.
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Die Bedeutung von W. F. A. Zimmermann als Quelle auf der Suche nach Bildmotiven, die vor alle Konventionalisierung und klassische Kanonisierung zurückgeht, lässt sich auch mit einem Bildvergleich untermauern, der bei einem anderen deutschen Künstler vorgenommen werden kann. Ernst Wilhelm Nay (1902-1968) arbeitet gleichzeitig mit Baumeister in der Inneren Emigration, nach 1945 tritt er als Konkurrent um den Posten des wichtigsten modernen Malers Nachkriegsdeutschlands auf. Nay war in den 1930er Jahren ebenfalls in den Bann der ›Entartung‹ geraten und überlebte im Militärdienst in einem Kartenzeichnerstab in Frankreich.45 Hier gelingt es ihm sogar in Uniform, heimlich zu
45 Die Beziehung von Baumeister und Nay habe ich dargelegt in Weltzien, Friedrich: E. W. Nay. Figur und Körperbild, Berlin 2003, S. 283ff.
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Abb. 7: Ein frühes Hauptwerk Nays, das aus eigentümlichen, ornamenthaften Strukturen aufgebaut ist. Ernst Wilhelm Nay, Komposition mit vier Frauen, 1943
Abb. 8: Die »Kreidethierchen«, eine Illustration von versteinerten Kieselalgen aus »Die Wunder der Urwelt«, hilft, eine Bedeutungsebene von Nays Musterbildungen zu erschließen
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malen, und es entstehen Zeichnungen und Gemälde, die für seine Nachkriegsproduktion von großer Bedeutung sind. Als Hauptwerk dieser Phase kann Komposition mit vier Frauen aus dem Jahr 1943 gelten (Abb. 7). Mit etwas über einem Meter Breite zählt es zu den größten Formaten, die Nay unter den gegebenen Bedingungen fertigstellen konnte. Anders als Baumeister ist Nay in dieser Schaffensphase vor allem an der Darstellung des menschlichen Körpers interessiert. Er löst dazu die Kontur auf und zerlegt das Bild des Körpers in einzelne Körperteilzeichen, die im Gemälde in einen als organisch beschriebenen Zusammenhang gebracht werden, sodass sich im Wahrnehmungsprozess eine quasilebendige Ganzheit der Körper ergibt. Diese Körperteilzeichen markieren Gegenstände wie Münder und Augen, Bäuche und Brüste, Haare und Hände. Sie gewinnen ihre Plastizität und ihren Zusammenhang, indem sie auf einen ornamentalen Hintergrund gesetzt werden, der aus vielfältigen gerundeten oder schachbrettartigen Elementen besteht. Sowohl für die Körperteilzeichen wie auch für die ornamentalen Pflanzenformationen finden sich Vorbilder in einer Darstellung von versteinerten Kieselalgen aus Zimmermanns Naturgeschichte: den »Kreidethierchen« auf Seite 205 (Abb. 8). Mit zweihundertfacher Vergrößerung wird hier ein Bereich gezeigt, »etwa halb so viel, als ein gewöhnlicher Stecknadelkopf einnehmen würde«. »Man sieht darauf die wunderbarsten und zierlichsten Gestalten nebeneinandergelagert […], das Bildchen giebt sowohl Kiesel-, als auch Kalkpanzer.«46 Das Formenrepertoire dieser »Muscheln und Schnecken«47 findet sich mutatis mutandis auch in Nays Werken seiner Zeit als Angehöriger der deutschen Besatzungstruppen in Frankreich wieder. Besonders auffällig sind die beiden Spindelformen im Zentrum von Zimmermanns Illustration. Ein rhombenförmiges spitzwinkliges Parallelogramm ist hier mit einer hellen Kontur zu sehen, in dessen Mitte sich zwei konzentrische Kreise finden. Unmittelbar daneben liegt ein Oval, das wie eine Kaffeebohne längs gespalten wirkt. Im Zentrum dieses Spaltes vermeint man eine dunkle Perle sitzen zu sehen. Diese Spindelstrukturen mit dem zentralen Punktmotiv tauchen bei Nay an verschiedenen Stellen wieder auf. So verwendet er sie als Körperteilzeichen für Augen, Bäuche und weibliche Geschlechtsorgane. Walter Benjamins Engführung von Weiblichkeit mit dem vegetabilischen Lebensprinzip der produktiven Potenz der Natur scheint sich hier widerzuspiegeln. Auch die konzentrischen Kreise, die Nay als Markierung von Brüsten und Glutäen einsetzt, finden sich in der Rügener Kreide vorgebildet. Die Hintergrundornamentik vieler Werke des Künstlers dieser Zeit lässt sich
46 Alle Zitate: Zimmermann: Wunder der Urwelt (wie Anm. 33), S. 205. 47 Ebd.
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ebenfalls über die prähistorischen Kieselpanzer entschlüsseln. Schachbrettartige Raster, die sich bei Nay in einzelne winzige Quadrate aufzulösen scheinen, Ring- oder Scheibenformationen, die sich gegenseitig überlagern, und damit an feder- oder blattartige Motive erinnern, wie auch Wabenmuster und Strahlenkränze sind in Nays Œuvre der Frankreichzeit allenthalben zu identifizieren. Im Hinblick auf das Ölgemälde Komposition mit vier Frauen lässt sich eine weitere Beobachtung anstellen, um den Bezug zu Zimmermann deutlicher werden zu lassen. In der französischen Fassung der Urwelt ist die identische Illustration eingefügt,48 allerdings steht sie im Gegensatz zur deutschen Vorlage auf dem Kopf (Abb. 8). Die sich dadurch ergebenden Verschiebungen der kompositorischen Hauptlinien – allen voran die dominante sonnenartige Strahlung im oberen rechten Bildwinkel, aber auch die Winkel der Diagonalen – machen den Vergleich zu Nays Komposition zwingend.
T HIERISCHER C OMMUNISMUS Es ist aber nicht nur die formale Übernahme von Motiven und Formen aus dem Repertoire versteinerter Urwesen, die Zimmermann attraktiv als Vorlage gemacht haben dürfte. Nachdruck erhält diese These auch durch den begleitenden Text. Hier werden frühe Lebensformen wie die Kreidetierchen (und ganz expressis verbis Korallen und Staatsquallen) als Lebensgemeinschaften beschrieben, die als Republiken bezeichnet werden. In diesen sozialen Systemen existierten laut Zimmermann keine Hierarchien, sondern eine umfassende Gleichberechtigung zwischen allen Einzelwesen. Dies ginge soweit, heißt es hier, dass die Nahrung, die ein einzelnes Korallenwesen verzehrt, dem gesamten Staate zugutekäme. Und darüber hinaus seien sie als Gestalter der Welt unübertroffen: »[…] es ist wesentlich, etwas davon zu wissen, weil es zur Erklärung der die Erde umgestaltenden Thätigkeit dieser Thiere dient, eine paradox scheinende Behauptung und doch eine vollkommen wahre, denn diese kleinen Stecknadelköpfchen bilden ganze Gebirge.«49 Diese sozusagen demokratische Interpretation des Urlebens wird auch von anderen Autoren vertreten. Der französische Historiker Jules Michelet (17981874), als Autor von Naturgeschichten ein Kompilator wie Zimmermann, scheint Passagen in diesem Sinne, insbesondere für sein Hauptwerk La Mer
48 Zimmermann, W.-F.-A.: Le Monde Avant la Création de L’Homme ou le Berceau de L’Univers, Paris 1857, S. 207. 49 Zimmermann: Wunder der Urwelt (wie Anm. 33), S. 191.
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(1861), übernommen zu haben. Hier sieht er – wie sein Vorbild Jean-Baptiste Lamarck – in der Korallenkolonie die Errungenschaften der französischen Revolution in natürlicher Weise umgesetzt. Auch in La Mer werden die Korallen als republikanisches Modell gegen usurpatorische oder tyrannische Tendenzen ins Treffen geführt.50 Der aufgrund seines sozialen Engagements verbannte französische Autor Victor Hugo (1802-1885) hatte die Idee der demokratischen Verfasstheit unterseeischer Biotope in seinem 1866 veröffentlichten Roman Les Travailleurs de la Mer ebenfalls verarbeitet. In Frankreich scheint Michelet seine Popularität nicht eingebüßt zu haben, Roland Barthes beispielsweise zitiert ihn an unterschiedlichen Stellen,51 während Zimmermann nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland offenbar keine Rolle mehr spielt. Dabei wurde die demokratische Vereinnahmung der Urwelt, die bei Zimmermann eher in Nebensätzen verhandelt wird, schon bald Teil des öffentlichen Diskurses um die marinen Weichtiere und hielt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein.52 Der Meeresbiologe und Demokrat (sowie Rassist) Carl Vogt (1817-1895) hat diesen Zusammenhang 1866 vielleicht am radikalsten ausformuliert: »Aber der Korallen-Polyp ist nicht nur ein geselliges Thier, sondern auch Socialist und Communist in der verwegensten Bedeutung des Wortes; nur durch gemeinsame Arbeit vieler, engverbundener Thiere kann der werthvolle Korallenstock aufgebaut werden […] und diese gemeinsame Arbeit ist nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Einzelwesen allen Gewinnst seiner ernährenden Thätigkeit an die Allgemeinheit abgiebt. […] Aber – und das bemerke man wohl bei diesem thierischen Communismus – auch hier gilt das Gesetz, daß, wer zuerst kömmt, auch zuerst mahlt – daß, wer Etwas fängt, erst selbst verdaut und zu seinem Nutzen verwendet und nur den Ueberschuß den Anderen zukommen läßt. Ich weiß nicht, ob Schneider Weitling selig dieses Gesetz der Thierwelt auch bei seinen weltverbessernden Plänen hinlänglich berücksichtigte, möchte aber fast daran zweifeln.«53
50 Vgl. Gossman, Lionel: Michelet and Natural History. The Alibi of Nature, in: Proceedings of the American Philosophical Society 145, Nr. 3, 2001, S. 283-333. 51 Barthes widmet ihm schon früh eine monografische Arbeit. Barthes, Roland: Michelet par lui-même, Paris 1954. 52 Vgl. Weltzien, Friedrich: Mollusken-Ich. Phantasien der Tierwerdung als Metapher und Methode, in: Ullrich, Jessica/ders./Fuhlbrügge, Heike (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 145-162. 53 Vogt, Carl: Der Schmuck des Meeres, in: Die Gartenlaube, Heft 3 und 21, 1866, S. 40-42 u. S. 326-328, zit. nach: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Schmuck_des_ Meeres#Seite_040 [Stand: 27. Januar 2017]. Der »Schneider Weitling«, auf den hier angespielt wird, ist wohl der Frühsozialist Wilhelm Christian Weitling, der, wie Vogt
Ä STHETISCHE S UBVERSION AUS DEM G EISTE DER N ATURGESCHICHTE | 295
Auch und insbesondere die Lehren von Ernst Haeckel wurden in diesem Sinne fürderhin von sozialdemokratischen Theoretikern in Anspruch genommen.54 Diesen politischen Subtext ruft Baumeister erneut auf. Auch wenn in der Blocksituation nach dem Zweiten Weltkrieg die demokratische Ästhetik der Urwesen gegen den kommunistischen Osten in Stellung gebracht wird, kann sie während der Zeit des Nationalsozialismus als Potenzial des künstlerischen Widerstands dienen. Als Gegenentwurf zum darwinistischen Recht des Stärkeren der faschistischen Ideologie erlaubt es eine Versicherung gegen ein vermeintliches Naturrecht der Grausamkeit und des Egoismus. Unter dem Druck einer in höchstem Maße restriktiven und normativen Ästhetik im nationalsozialistischen Deutschland entwirft eine Reihe von Künstlern eine alternative Möglichkeit, Bilder herzustellen. Um den Zugriff der klassizistisch argumentierenden faschistischen Kunsthüter zu unterlaufen, führt man eine radikale Kritik durch: Es wird versucht, auf den Ursprung von Kreativität überhaupt zu rekurrieren. Die bei Zimmermann vorgeführten urzeitlichen Lebewesen lassen sich dann nicht nur als Prototypen eines gemeinschaftlich-demokratischen Sozialgefüges aufstellen, sondern eben auch als Gestalter der Welt. Sie sind ebenso gesellig wie kreativ. Wer sich auf diese Weise der Grundlagen allen künstlerischen Schaffens versichert, kann von einer Diskriminierung, wie sie die Mitglieder des Wuppertaler Arbeitskreises erlebt hatten, nicht mehr erschüttert werden. Die Naturgeschichte liefert dazu nicht nur ein vielfältiges und weitgehend amorphes Formenarsenal, einen Formenschatz, der jenseits der klassischen Ikonografie besteht. Dieses Vokabular kann zudem den Anspruch erheben ›wahr‹ zu sein, da es naturwissenschaftlich, evolutionsbiologisch und chemophysikalisch beglaubigt ist. Dieser urtümliche Formenschatz steht in Kurt Herberts Kreis für demokratische Werte von Freiheit und individueller Entwicklungsmöglichkeit ein – und damit gegen den diktatorischen und totalitären Anspruch der Nationalsozialisten. Zu dieser Konzeption einer ›freien‹ Kunst gehört auch der materialgerechte Umgang mit den Werkstoffen. Die Form entsteht nicht aus einer Unterdrückung des Stoffes, sondern der Stoff selbst bildet in seiner materiellen Eigendynamik die Form aus. Das Bild entsteht synonym zu einem Gewächs oder einem Lebewesen, es will eine organische Einheit sein und kein durch äußere, vorgegebene und unflexible Regeln bestimmtes, also totes Konstrukt. In der sogenannten Inneren Emigration erwächst aus einer Lektüre der Naturgeschichte eine politische
selbst auch ein Weggefährte von Karl Marx, bis 1855 die Zeitung Republik der Arbeiter herausgab und erst 1871 in New York verstarb (1866 also noch nicht »selig« war). 54 Vgl. Mehr, Christian: Kultur als Naturgeschichte. Opposition oder Komplementarität zur politischen Geschichtsschreibung 1850-1890?, Berlin 2010, insb. S. 131 ff.
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Bildsprache, die ganz buchstäblich einen Kampf um Leben und Tod austrägt. Nach dem Untergang der faschistischen totalitären Regime in Deutschland, Italien, Spanien und Japan wird aus dieser politischen Ästhetik das Konzept der »Weltsprache der Abstraktion«55 zurechtgebosselt, die ihren Ursprung in der Naturgeschichte kaum mehr preisgibt. Aber weder die Motivik noch die verwendeten Maltechniken wie auch die kreativitätstheoretischen Prämissen sind ohne die politische Aufladung der evolutionsbiologischen Diskurse in ihrer vollen Tiefe verständlich.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Zimmermann, W. F. A.: Die Wunder der Urwelt, Berlin 1855, S. 45. Foto: Autor Abb. 2: Abb. aus Heymer, Kay/Rennert, Susanne/Wismer, Beat (Hg.): Le grand geste! Informel und abstrakter Expressionismus 1946-1964, Ausst.-Kat. museum kunst palast Düsseldorf, Köln 2010, S. 58, Abb. 2, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Abb. 3: Zimmermann, W. F. A.: Die Wunder der Urwelt. Berlin 1855, S. 46. Foto: Autor Abb. 4: Abb. entnommen aus Prometheus Bildarchiv Kunstgeschichte, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Abb. 5: Zimmermann, W. F. A.: Die Wunder der Urwelt. Berlin 1855, S. 305. Foto: Autor Abb. 6: Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Abb. entnommen aus Prometheus Bildarchiv Kunstgeschichte, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Abb. 7: Privatsammlung. Abb. entnommen aus Weltzien, Friedrich: E. W. Nay. Figur und Körperbild, Berlin 2003, Farbtafel V, S. 393, © Elisabeth NayScheibler, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Abb. 8: Zimmermann, W. F. A.: Die Wunder der Urwelt. Berlin 1855, S. 205. Foto: Autor
55 Vgl. Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 479.
»Das phantasievollste Sehen ist struktur-orientiert.« Computational Design und die Tradition der Naturgeschichte
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N ATURALISIERUNG
DER DIGITALEN
F ORM
Architekturkritiker beschreiben die digitale Formerzeugung und ihre Ergebnisse oft mit bizarren Naturbildern. Da »wächst« das Computergebilde »ähnlich wie eine Pflanze oder ein Embryo […] auf der Festplatte und nimmt seine Form unabhängig von den bis dato üblichen Kriterien für Raumgestaltung an«.1 Die offensichtliche Unmöglichkeit, die computererzeugten Raumformen architektonisch zu deuten, beweisen auch die mitunter hilflosen Versuche ihrer historischen Einordnung. So gerät die digitale Architekturform gleichsam zu »einer Variante des Retrodesigns, allerdings in einer neuen Spielart, die noch vor die Historie zurückgreift, in die Blasen und Verschlingungen der organischen Biomasse«2. Es gehört zu den erfolgreichen Bekämpfungsstrategien von ArchitekturEssentialisten und Verfechtern einer überzeitlich lesbaren Tektonik, sämtliche Formen, die sich den tradierten Sehgewohnheiten widersetzen, zu ent-architektonisieren und zu ent-historisieren, um ihnen dann unverzüglich jede Legitimation abzusprechen. Dabei wird übersehen, dass die Architektur selbst den Schlüs-
1
Schöny, Roland: Die Architektur von Morgen, in: oe1.ORF.at, 18. Juli 2000, www. nextroom.at/article.php?id=5103 [Stand: 1. Oktober 2016].
2
Pieper, Jan: Baugeschichte und Architekturlehre. Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung, in: Bauwelt 40/41, 2005, S. 18.
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sel für die digitale Formverzerrung bereitstellt. So gibt es keine Verformung ohne einen Bezug auf die moderne Box und ihr gleichmäßiges Raster, keine Verschmelzung ohne Verweis auf die fragmentierten Formen der dekonstruktivistischen Architektur der 1980er Jahre. Für Peter Eisenman (geb. 1932), Greg Lynn (geb. 1964) und andere Protagonisten des computerbasierten Entwerfens sind die digital erzeugten Bauten und Projekte immer auch Transformationen der Architektur der Moderne, die nach wie vor als Basis und Prüfstein gilt. In diesem Prozess, zwischen Fortführung und Aufhebung der Moderne, operieren Architekten und Architekturtheoretiker bevorzugt mit Strategien der Naturalisierung, wobei es weniger um äußerliche Ähnlichkeiten als vielmehr um innere Korrespondenzen zwischen natürlicher und architektonischer Formentstehung geht. ›Naturalisierung‹ meint hier zweierlei: zum einen die Ausdehnung naturwissenschaftlicher Paradigmen und Methoden auf die Untersuchung architektonischer und digitaler Phänomene, zum anderen das Übergreifen naturwissenschaftlicher Erklärungsansprüche und Deutungshoheiten auf gestalterische Problembereiche.3 So hat sich in den 1990er Jahren vor allem der amerikanische Architekt und Autor Greg Lynn mit den durch das Medium des Computers veränderten Bedingungen und Möglichkeiten für die architektonische Formfindung befasst und seine dort gewonnenen Erkenntnisse vor dem Hintergrund einer biologisch verstandenen ›Morphologie‹ gespiegelt. Dabei gewannen jene Erklärungsansätze an Bedeutung, die sich gegen Optimierungsideen wandten und Gestaltvariationen anders als durch ihre Abweichung von der Norm definierten, wohingegen typologische Konzepte von ›Ideen‹ oder festen ›Bauplänen‹ der Natur bewusst ausgeblendet wurden. Dieser spezifischen Form der Aneignung morphologischer Modelle durch die zeitgenössische Architektur gilt der folgende Beitrag, wobei der Frage nachgegangen wird, wie sich die im digitalen Entwerfen zu beobachtende Naturalisierung auf die Konzeptionalisierung von Form und Formbildung auswirkt. In diesem Zuge werden Traditionen und Strategien der Gestalttheorie und der strukturellen Architektur der 1950er und 1960er Jahre freigelegt, die explizit Bezug auf die Naturgeschichte genommen haben und gegenwärtig den Einsatz und die Interpretation digitaler Formgebungsverfahren motivieren und prägen.
3
Vgl. Konersmann, Ralf/Köchy, Kristian/Westerkamp, Dirk: Editorial, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1, 2011, S. 5-6, hier S. 5.
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E MBRYOLOGICAL D ESIGN Um das vermeintlich wiedergewonnene Bündnis von Natur und Architektur zu veranschaulichen, griff Greg Lynn auf tradierte Modelle zur Darstellung naturkundlichen Wissens zurück. Gleichsam wie eine Wunderkammer, ein Naturalienkabinett oder eine Monsterkollektion inszenierte Greg Lynn 2003 die Ausstellung »Intricate Surface« im Österreichischen Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst in Wien.4 Der Architekt verwandelte den Galerieraum in ein Dunkelmuseum mit indirekt beleuchteten Terrarien und Aquarien, worin er seine computerbasierten Entwürfe zusammen mit lebenden Tieren und historischen Kunstgegenständen präsentierte. Überwölbt mit amorphen Plexiglashauben enthielten die Behältnisse abwechselnd digital gefertigte Formmodelle, lebende Frösche, Quallen und Schmetterlinge sowie Silbergefäße aus dem 18. Jahrhundert und Jugendstilgläser aus der Sammlung des Museums. Den Anstoß für Lynns morphologisches Kabinett gaben vor allem jene Architekturprojekte, in denen der Computer weniger zur effizienten Planzeichnung als zur experimentellen Gestaltwerdung eingesetzt wurde. Lynn gehörte zu den zentralen Wegbereitern der digitalen Formfindung und war zudem Sprachrohr für eine junge Generation von Computergestaltern, die einen neuen Naturalismus in Architektur und Design propagierten. Im Jahr 1999 erschien sein Buch Animate Form mit zahlreichen Projektbeispielen, die nicht nur Ergebnisse rechnerbasierter Modellierungs- und Animationstechniken waren, sondern auch auf die Ästhetik der Verlebendigung in Computeranimationen anspielten.5 Mit dem Begriff der animate form skizzierte Lynn ein biologistisch bestimmtes Konzept, wonach die architektonische wie die natürliche Gestalt ein offenes System in Wechselwirkung mit äußeren Kräften sei (»animation implies the evolution of a form and its shaping forces«6). Dieser Formbegriff, der in der Geschichte der organischen Architektur eine lange Tradition hat, erhielt mit der Instrumentalisierung des Computers zur Gestaltbildung eine neue Konkretheit. Mit den avancierten 3D-Modellierungs- und Animationsprogrammen standen den Architekten zu Beginn der 1990er Jahre Entwurfsmedien zu Verfügung, durch die sich dynamische Verformungen von Oberflächen und Figuren nachbilden ließen.
4
Vgl. die Ausstellung »Greg Lynn: Intricate Surface«, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst, Galerie, Wien 2003, http://80.64.136.66/ presse/presse_infos/rueckblick?set-ad=y&article_id=321 [Stand: 1. Oktober 2016].
5
Lynn, Greg: Animate Form, New York 1999.
6
Ebd., S. 9.
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Greg Lynn operierte vor allem mit Computerprogrammen aus Hollywoods Spezialeffekte-Industrie. Zur Formgewinnung verwendete er die Software Maya der kanadischen Firma Alias/Wavefront, mit der fotorealistische dreidimensionale Computeranimationen wie die Dinosaurier-Szenen in Jurassic Park (Regie: Steven Spielberg, 1993) umgesetzt worden waren.7 Häufig nutzte er die in Fantasyund Actionfilmen erfolgreich eingesetzte Animationstechnik des Morphings, durch die eine schrittweise und nahezu unmerkliche Verwandlung eines Objektes vollzogen werden kann. Das Programm Maya ermöglichte darüber hinaus eine modellhafte Darstellung dynamischer Effekte. Mit dem Programmmodul Dynamics lassen sich Bewegungen und Deformationen geometrischer Objekte nachbilden, die von Kräften wie ›Gravitation‹ oder ›Wind‹ beeinflusst werden.8 Die physikalischen Kräfte, die ein Objekt in Bewegung versetzen oder verformen, werden mit aufwendigen mathematischen Verfahren berechnet, wobei je nach gegebenen Variablen ein anderes Ergebnis entsteht. Vor dem Hintergrund solcher Modellierungs- und Animationstechniken ist der geometrische Körper nicht mehr nur diskret, sondern als verformbares Kontinuum vorhanden. Ähnlich definierte Lynn seinen Begriff der animate form: Innerhalb des Raums der Kraftfelder gibt es keine feststehenden Urformen, sondern dynamische Oberflächen und Figuren, die auf Krafteinfluss mit Verformung reagieren.9 Das so erzeugte Formmodell ist eine fortgesetzte Bewegung von einem Zustand in den nächsten. Jedes Krümmen, Schwellen, Ausbuchten oder Einkerben, an jedem Punkt, in jedem Moment, verändert unmittelbar die raumzeitlichen Verhältnisse des gesamten Modells. Jede Veränderung ist stets temporär. Einmal Gebildetes besteht nicht dauerhaft, sondern löst sich gleich wieder auf und verwandelt das Außen in ein Innen, das Oben in ein Unten, die Oberfläche in einen Körper. Charakteristisch für dieses Formbildungsverfahren ist, dass auf den laufenden Generierungsprozess nur geringfügig Einfluss genommen wird.10 Aktivität und Kreativität des Architekten fließen weniger in die Modellierung der Gestalt als in die Erfindung und Beschreibung der prozesssteuernden Faktoren, der
7
Vgl. Nair, Rajeev: History of Alias, 2010, http://www.digital-sculptors.com/cms/
8
Beispielhaft: Lynn, Greg: Computeranimation von fünf elastischen Kugelgebilden, in:
index.php/tutorials/alias-tutorials/43-history-of-alias.html [Stand: 1. Oktober 2016]. ders.: Animate Form (wie Anm. 5), CD-ROM, Ordner AFCD/Oslo/Movies/early.mov. 9
Grundlegend: Lynn: Animate Form (wie Anm. 5), S. 9-43.
10 Vgl. Trautz, Martin: Formfindung versus Formgebung, in: Bauwelt 21, 2004, S. 1215, hier S. 14.
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Abb. 1: Greg Lynn, Embryological House, ABS Eggs – Size B, 1999-2001. ABSKunststoff, Vakuum geformt formbestimmenden Funktionen und der zugrunde zu legenden Randbedingungen ein. So agiert der Architekt gleichsam wie ein Regisseur, der die Formen nicht mehr direkt entwirft, sondern die Bedingungen und Regeln vorgibt, nach denen Formen und Verhaltensmuster entstehen. Der Entwurf gerät dabei zu einer Entwurfsanordnung oder einem Experimentalsystem, in dem die gestalterische Aktivität sich entfalten kann.11 Als ein solches System lässt sich auch Lynns parameterbasiertes Modell eines prototypischen Einfamilienhauses mit dem sprechenden Titel Embryological House verstehen, an dessen Entwurf zukünftige Bewohner über digitale Interaktionen beteiligt werden sollten (Abb. 1). Der Begriff des Embryologischen verweist hierbei auf Lynns Bestreben, das Haus nicht als einzelnen festgelegten Baukörper, sondern als ein Ensemble oder eine Serie nicht-standardisierter Objekte zu betrachten.12 Seine Idee war es, von dem modernistischen Begriff einer Form, die auf Modulen oder einem Bausatz beruht, zu einem neuen zu gelangen, der auf potenziell unbegrenzten Variationen basiert, welche aus einer Grundform abgeleitet werden. Lynn suchte mit dem Konzept des Embryologischen Hauses
11 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 18-34. 12 Vgl. Shubert, Howard: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Greg Lynns Projekt »Das Embryologische Haus«, in: Amelunxen, Hubertus von/Appelt, Dieter/Weibel, Peter (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Berlin 2008, S. 361-363, hier S. 361.
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Abb. 2: Karl Ernst von Baers Embryonalentwicklung eines Huhns, Quer- und Längsschnitte, aus: Über Entwickelungsgeschichte der Thiere, 1828 eine spezifische Vorstellung von Natur auf den architektonischen Entwurf zu übertragen – eine Vorstellung, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der entstehenden Biologie und Embryologie etabliert hatte. Die Epoche um 1800 markiert jenen historischen Einschnitt, an dem sich die Wahrnehmung des Lebendigen grundlegend veränderte. Die Natur und ihre Hervorbringungen wurden nicht mehr im Rahmen einer starren und zeitlosen Ordnung betrachtet, sondern in der Perspektive ihres Werdens, ihrer kontinuierlichen Umgestaltung und Entwicklung. Wie die Wissenschaftshistorikerin Janina Wellmann in ihrer Studie Die Form des Werdens nachgewiesen hat, wurde die lebendige Welt, insbesondere die Vorstellung von Entwicklung, um 1800 neu in Begriffen von rhythmischen Mustern, rhythmischer Bewegung und rhythmischer Repräsentation konzeptualisiert und dargestellt (Abb. 2).13 Diese Vorstellung von Entwicklung liegt auch Lynns Entwurf des Embryologischen Hauses zugrunde, das sich in immer neuen Formvarianten entfaltet, je nachdem, wie die Parameter und Variablen des Systems definiert werden.
13 Vgl. Wellmann, Janina: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830, Göttingen 2010.
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M ONSTRÖSE K ÖRPER
UND ABWEICHENDE
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F ORMEN
In Anbetracht der neuen Computeranwendungen, die eine so mathematisch präzise wie dynamisch-bewegte Darstellung ermöglichen, forderte Greg Lynn eine Revision der formalen Systeme und kompositorischen Prinzipien einer Architektur, die bis dahin als rational verstanden und bezeichnet worden war. Seine Kritik galt vor allem dem statischen Verständnis von Geometrie, Symmetrie und Typus, das die Vorstellung feststehender Grund- und Urformen der Architektur bestimmt und zur Ausgrenzung abweichender Formen geführt hatte. Um die digital erzeugten Oberflächen und Figuren, die in der Simulation auf Krafteinfluss mit Verformung reagieren, nicht als Normverstöße zu werten, bedurfte es flexibler Maß-, Ordnungs- und Klassifikationsschemata, die Lynn in den Naturwissenschaften zu finden glaubte. Entgegen der traditionellen Architekturtheorie definierte Lynn den Begriff der Symmetrie als eine Ordnungskategorie von Verzweigungsstrukturen, wobei er sich erneut biologischer Theorien des 19. Jahrhunderts bediente.14 Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Symmetrie bildeten die theoretischen Ansätze des britischen Genetikers William Bateson (1861-1926), die Regelmäßigkeit natürlicher Formen zu erklären. Gegen die darwinistische Theorie der evolutionären Optimierung und zufälligen Mutation ging Bateson von der Diversität der Formen aus, die in ihrer diskontinuierlichen Variationsvielfalt einer eigenen Organisation unterliegen. So zeigte er in seinem (zu Beginn der 1990er Jahre wieder aufgelegten) Hauptwerk Materials for the Study of Variation von 1894, dass organische Mutationsformen einen höheren Grad an Symmetrie aufweisen als Normalformen. Zu seinen bekanntesten Bildbeispielen zählen die Darstellungen von bilateralsymmetrisch aufgebauten Fingermutationen, von denen Lynn zwei Illustrationen in seinem architekturtheoretischen Beitrag »The Renewed Novelty of Symmetry« von 1995 aufgenommen hat.15 Bateson hatte die Symmetrie der abnorm verdoppelten Finger mit einem Mangel an Informationen erklärt, wohingegen er die normale Asymmetrie der Finger mit der Aufnahme an zusätzlichen Informationen von benachbartem Gewebe und Organen erläuterte.
14 Vgl. Lynn, Greg (1995): The Renewed Novelty of Symmetry, in: ders.: Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 63-77. 15 Vgl. Bateson, William: Materials for the Study of Variation. Treated with Especial Regard to Discontinuity in the Origin of Species, Baltimore 1992 [Reprint der Ausg. v. 1894], S. 335, Abb. 93 u. S. 350, Abb. 101; Lynn: The Renewed Novelty (wie Anm. 14), S. 64-65.
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Abb. 3: Greg Lynn, Cardiff Bay Opera House, Cardiff/Wales, 1994, Grundriss Rang Im Unterschied zur geläufigen Vorstellung, wonach zusätzliche Informationen für den Zuwachs an Symmetrie und Homogenität sorgen, vermutete Bateson, dass die Abnahme an Asymmetrie Ergebnis eines Informationsverlustes sei: Wo Informationen verloren gehen oder mutieren, kehrt das Wachstum zur einfachen Symmetrie zurück – so lautete die Formel, die dann auch von Lynn auf die Architektur bezogen wurde. Aus Batesons Mutationsanalysen folgerte er, dass Symmetrie »kein zugrundeliegendes Prinzip der wesenhaften Ordnung des gesamten Organismus« sei, sondern »etwas Minderwertiges«,16 das »auf ein Fehlen der Interaktion mit stärkeren externen Kräften und Umgebungen zurückzuführen ist«17. Lynn benutzte die Ausführungen Batesons, um die normativ verstandene Vorstellung architektonischer Symmetrie als ideales, übergeordnetes und feststehendes Ordnungsprinzip zu unterlaufen. Gegen die traditionelle Auffassung der Architektur als harmonischer, natürlich proportionierter Organismus entwarf er Formgebilde, die auf ›abnorme‹ Weise vervielfältigt waren. Als eine ›Antiarchitektur‹ der Symmetriebrüche, die Batesons Theorie von der Diversität der Erscheinungen als fundamentale Welterkenntnis veranschaulichen sollte, empfahl
16 Lynn, Greg: Das erneuerte Neue der Symmetrie, in: Archplus 128, 1995, S. 48-54, hier S. 49. 17 Ebd., S. 50.
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Abb. 4: William Bateson, Zweiköpfige Wasserschildkröten, aus: Materials for the Study of Variation, 1894 Lynn sein 1994 entworfenes Opernhaus für Cardiff (Abb. 3). Ausgehend von der axialsymmetrischen Grundform einer Ellipse entwickelte er ein asymmetrisches Muster ovaler Figuren, die im Zuge der Anpassung an Standort und Raumprogramm vervielfältigt, in Teilsymmetrien angeordnet und schließlich deformiert wurden. Absichtsvoll schuf Lynn bildliche Analogien zwischen Batesons Mutationsdarstellungen und seiner imaginierten Architektur, die er explizit als »Monstrum«18 bezeichnete. Offensichtlich nahm er Anleihen bei den Zeichnungen zweiköpfiger Wasserschildkröten, die Bateson unter der Kapitelüberschrift »Double Monsters«19 versammelt hatte (Abb. 4). Mit der Mutationsmetaphorik wiederholte Lynn auf bildlicher Ebene seine sprachlich formulierte Kritik an der Idee der wohlgebildeten, unveränderlichen und nach stabilen Ordnungsmustern gefügten Architekturform. Sein Entwurf einer architektonischen Abnormität litt allerdings unter einer gedanklichen Unschärfe. Denn die biologische Mutation sollte Bateson zufolge auf einen Mangel an Information und Organisation hinweisen, während Lynn seine architektonische Mutation gerade als eine komplexe Struktur verstanden wissen wollte,
18 Lynn: The Renewed Novelty (wie Anm. 14), S. 65. 19 Bateson: Materials (wie Anm. 15), S. 559-566.
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deren Erscheinung aus dem wechselseitigen Wirkverhältnis mit äußeren Bedingungen und Kräften hervorgegangen sei. Lynn verwendete das Bild der Mutation also in plakativer Weise, um die Abweichung seiner Architektur von der geltenden Norm zu verdeutlichen. Ein weiterer Widerspruch zu Lynns Formvorstellung liegt in Batesons Konzept der diskontinuierlichen Variationen, die nach Ansicht des britischen Genetikers gegen Darwins graduelle Änderungen sprechen. Mit diesem Konzept formulierte Bateson quasi eine Antithese zum computergestützten Verfahren des Morphings, durch das eine Form übergangslos in eine andere wechseln kann. Aber auch zum Morphingverfahren erfuhren die Computergestalter wesentliche Anregungen von der Biologie des späten 19. Jahrhunderts.
F ORM
ALS
K OORDINATENTRANSFORMATION
Die zur Konvention geratene Vorstellung, wonach sich ein organischer Baukörper durch ideale Proportionen und symmetrische Ordnung auszeichne, wird (besonders amerikanischen) Architekturschaffenden bis heute vor allem über die Schriften dreier Autoren nahe gebracht: Vitruv (1. Jhd. v. Chr.), Rudolf Wittkower (1901-1971) und Colin Rowe (1920-1999).20 Ausgehend vom antiken Autor Vitruv, der ›Symmetrie‹ und ›Proportion‹ zu Voraussetzungen einer vernünftigen Formgebung erklärt hatte, ermittelten Wittkower und Rowe anhand von Villengrundrissen (nämlich des Renaissance-Architekten Palladio, 1508-1580, und seines modernen Nachfolgers Le Corbusier, 1887-1965) einen allgemeinen, symmetrischen Organisationstyp – das Neun-Feld-Raster.21 In jeder einzelnen Villa verfolgten sie die geometrische Konstruktion dieses Typs, die zu einem ständigen Bezugspunkt für eine Serie sich verändernder Anordnungen wurde. Anstelle dieser Idee einer reinen, absoluten Architektur, die auf einen idealen, historisch dauerhaften Organisationstypus festgelegt ist und jede Veränderung als Normverletzung interpretiert, verlangte Greg Lynn »eine alternative
20 Fensterbusch, Curt (Hg.): Vituruvii De architectura libri decem/Vitruv. Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1964, 3. Aufl. 1981; Wittkower, Rudolf: Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949, 5. Aufl. 1998; Rowe, Colin: The Mathematics of the Ideal Villa and Other Essays, Cambridge, Mass./London 1976. 21 Vgl. Wittkower: Architectural Principles (wie Anm. 20), S. 69, Abb. 57; Rowe: The Mathematics (wie Anm. 20), S. 5, Abb. 1.
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Abb. 5: D’Arcy W. Thompson, Rückenschilde verschiedener Krabben, aus: On Growth and Form, 1917/42 Mathematik der Form« und propagierte »einen Formalismus, der sich nicht auf ideale Villen oder andere fixe Typen reduzieren lässt«.22 Als Gegenstrategie empfahl er die buchstäbliche Deformation der unnachgiebigen Rasterstrukturen – eine Modellierungstechnik, die als ›generativ‹ bezeichnet werden kann. Denkanstöße für ein solches regelbasiertes Modellierungsverfahren, welches das beständige Abweichen vom Basistyp systematisiert und das Typische im Atypischen festhält, erhielt Lynn von Batesons unkonventionellem Zeitgenossen DArcy Wentworth Thompson (1860-1948). Der Mathematiker und Biologe hatte in seinem 1917 erstmals veröffentlichten Werk über biologische Morphologie, On Growth and Form, gezeigt, wie durch einfache geometrische Operationen die Formen verwandter, aber verschieden aussehender Arten passgenau ineinander überführt werden können. Dazu wurde der Umriss einer bestimmten Figur in ein rechtwinkliges Koordinatennetz eingetragen und deren Veränderung durch Umwandlung der Koordinaten und Verformung des Rasters dargestellt (Abb. 5). Auf diese Weise konnte das Rastersystem durch eine einzige, umfassende Transformation die anscheinend isoliert auftretenden, deutlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen vereinheitlichen.
22 Lynn, Greg, zit. nach: Bouman, Ole: Amor(f)al Architecture or Architectural Multiples in the Post-Humanist Age, in: Lynn: Folds (wie Anm. 14), S. 7-14, hier S. 11.
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Abb. 6: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, Statue of Liberty, New York, 1870-1886, Grundrisse verschiedener Ebenen, 1986 Um eine solche Transformationsmethode ging es auch Lynn in seiner Formtheorie. Seine Konzeption der animate form zielte auf die Durchsetzung eines regelbasierten Verfahrens geometrischer Vereinheitlichung, das die verschiedenen Architekturformen nicht länger auf statische, festgelegte Entwurfstypen, sondern auf dynamische, anpassungsfähige Designmodelle reduziert, welche auf unterschiedliche Bedingungen flexibel reagieren. Mit Blick auf Thompson versuchte Lynn eine alternative Organismus-Vorstellung in der Architektur zu etablieren. Er verwarf die traditionelle, anthroposophisch geprägte Theorie,
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die eine Analogie zwischen den Maßverhältnissen eines Bauwerkes und den Proportionen eines menschlichen Körpers beschreibt. Stattdessen skizzierte Lynn eine an die Biologie angelehnte Konzeption, wonach architektonische Formen als organisch erachtet werden können, wenn diese fähig sind, sich an veränderte Bedingungen der Umwelt anzupassen. Zu einem architektonischen Leitbild des anpassungsfähigen Körpers im Sinne Thompsons erhob Lynn die New Yorker Statue of Liberty, die 1886 nach den Plänen des französischen Bildhauers Frédéric Auguste Bartholdi (1834-1904) und des Ingenieurs Gustave Eiffel (1832-1923) errichtet worden war.23 In exemplarischer Weise verschränkt die Konstruktion der Statue Körper und Geometrie, Haut und Struktur, weshalb sie Lynn als Synthese der formalen Systeme von Wittkower, Rowe und Thompson interpretierte.24 Die Konstruktion setzt sich aus einem zentralen, seriell gefertigten Grundgerüst und einem daran angeschlossenen Geflecht individueller Fachwerkträger und Eisenbügel zusammen, das die äußere Hülle aus Kupferplatten trägt. Die Horizontalschnitte durch den Körper der Statue zeigen die Überlagerung von zwei geometrischen Systemen (Abb. 6). Das Proportionssystem eines Wittkower und Rowe trifft in diesen Bildern auf das Transformationssystem eines Thompson. Das innere, orthogonale Skelett verformt sich sukzessive zu den Rändern hin und passt sich an den Körperumriss an. Das Gerüst verlagert sich in die Oberfläche, die Haut wird zur Struktur. Nicht ein geometrisch determinierter, innerer Organisationstyp, sondern ein flexibles, äußeres Umrisssystem formiert die Erscheinung der Statue. Ein solches System dient weniger der Reduktion als der Entwicklung struktureller Komplexität. In dieser Hinsicht nahm die Statue die computererzeugten Architekturformen der 1990er Jahre vorweg, die als geometrisch gegliederte und kalkulierte Oberflächen eine unabhängige Struktur als tragendes Skelett überflüssig machten und stattdessen deren Funktion in die bewegte Hülle integrierten.25 Lynns Deutung der Statue als Modell der Verschränkung von Konstruktion und Körper, sozusagen von Wittkower und Thompson, zielte auf die strukturelle Zusammenführung von Architektur und Natur. Unter dem Oberbegriff der Struktur sollten strikte
23 Vgl. Hayden, Richard Seth/Despont, Thierry W.: Restoring the Statue of Liberty. Sculpture, Structure, Symbol, New York 1986. 24 Vgl. Lynn, Greg (1992): Multiplicitous and Inorganic Bodies, in: ders.: Folds (wie Anm. 14), S. 33-62, hier S. 48-52. 25 Vgl. Mozas, Javier: Wenn die Haut Struktur wird. Tragwerksentwurf des Guggenheim-Museums. Eine Großskulptur, in: Bauwelt 13, 1997, S. 690-693, hier S. 693.
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Unterscheidungen von rationaler und freier Form, technischer und natürlicher Konstruktion aufgehoben und das Hybride oder Mutierte betont werden.
E IGENSINNIGE M ATERIALIEN Die Möglichkeiten, Kraftfelder digital nachzubilden und dynamische Formen geometrisch zu bestimmen, führten in den 1990er Jahren zu einem Paradigmenwechsel in der Betrachtung des computerbasierten Entwerfens und eröffneten einen Zugang zu naturwissenschaftlichen Forschungen und Methoden, die sich mit Prozessen der Formbildung und Formveränderung in der Natur befassen. Greg Lynn plädierte dafür, den Akt der digitalen Formbildung nicht mehr nur als visuellen Prozess, sondern auch als stofflich-plastisches Geschehen zu begreifen.26 Gleichwohl behauptete sich das Materielle bei ihm stets in der Form des Digitalen. Materielle Eigenschaften eines Objektes wurden in geometrische Parameter eines digitalen Modells übersetzt, das auf Krafteinfluss mit Formveränderung reagiert. Lynn produzierte zwar auch anschaulich-taktile Modelle und Prototypen, aber die physische Materialisierung erfolgte immer erst nach der Erzeugung der Form. Hierzu wurde der fortlaufende Modellierungs- und Animationsprozess an einem bestimmten Zeitpunkt angehalten und die in dem Moment dargestellte Form in ihrer Bewegung ›eingefroren‹. Unter Zuhilfenahme von CNC-gesteuerten Fertigungsmaschinen erfuhr die stillgestellte Form schließlich eine physische Materialisierung. Gegen diese überkommene Trennung zwischen animierter und erstarrter, zwischen digitaler und stofflicher Form wandten sich in jüngster Vergangenheit zahlreiche Architekten und Designer mit computergenerierten Entwürfen, für deren Hervorbringung das Material von zentraler Bedeutung ist. Ihre Projekte beginnen mit dem Studium eines Werkstoffs, der nicht länger als passiver Träger einer Idee, sondern als operative Struktur im Austausch mit der Umwelt aufgefasst wird. Exemplarisch sichtbar gemacht wird ein solcher materialaktiver Formbildungsprozess in den Arbeiten der deutschen Architekten Michael Hensel (geb. 1965) und Achim Menges (geb. 1975).27 Konzipiert als »Materialsys-
26 Vgl. Lynn, Greg (1994): Differential Gravities, in: Lynn: Folds (wie Anm. 14), S. 95108. 27 Grundlegend: Hensel, Michael/Menges, Achim (Hg.): Morpho-Ecologies, London 2006.
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teme«28 entwickeln ihre Formen eine Präsenz und Aktivität, die sie mehr sein lassen als nur toter Stoff. Erreicht wird diese Wirkmächtigkeit durch eine Struktur aus gleichzeitig raumbildenden, kraftabtragenden sowie energieleitenden und -speichernden Elementen, welche aus den spezifischen Eigenschaften der zur Verwendung kommenden Materialien und Herstellungsprozesse hervorgehen.29 Grundlegender Unterschied zu bisherigen Ansätzen computerbasierter Gestaltung ist, dass Hensel und Menges ihre Formen auf zweifache Weise hervorbringen. Sie widmen sich zunächst der Entwicklung eines Strukturelements aus einem spezifischen Material, dessen Eigenschaften sie dann in einem parametrischen Computermodell nachbilden. Um der Aufwertung des Materials gegenüber der bisher als dominant bewerteten Form Ausdruck zu verleihen, setzen die Architekten vor allem biegsame, elastische und instabile Materialien wie Holzfurnier, Textilgewebe oder Kunststofffasern ein, die sich infolge der ihnen innewohnenden und auf sie ausgeübten Kräfte selbsttätig formen. Als Beispiel für ein eigentätiges Materialsystem führen sie einen einfachen Papierstreifen an, dessen Enden mit den Händen zusammengeführt werden, wodurch sich wie von selbst eine Schlaufe bildet.30 Die Vorstellung von der Selbstbildung der Form ist auch grundlegend für deren digitale geometrische Repräsentation. Das Computermodell definiert keine endgültige Form, sondern ein vorläufiges Schema von mathematischen Beziehungen, die mit Variablen und Konstanten beschrieben werden. Derartige Beziehungen sind zum einen geometrische Verhältnisse, zum anderen materielle Eigenschaften, die in Form von Kennwerten numerisch nachgebildet werden. Die in Kennwerten angegebenen Eigenschaften des Materials, wie Elastizität und Festigkeit, bestimmen das Verformungsverhalten des digitalen Modells. Neben Geometrie und Materialität ist auch der Herstellungsprozess integraler Bestandteil des Modells. Programmiert werden darüber hinaus die Art der Fügung der Elemente und ihre Fertigung mittels computergesteuerter Maschinen. Das generische Modell, in dem geometrische Verhältnisse, materielle Eigenschaften und produktionstechnische Prozesse eingeschrieben sind, bildet dann das Grundelement eines Verbundes. In dem Verbund sind die einzelnen Elemente interaktiv miteinander verknüpft, wodurch flexible Strukturen wechselseitiger Abhängigkeiten entstehen. Ein spezifischer Formentwurf wird erst dann erzeugt, wenn den Variablen Zahlenwerte zugewiesen werden.
28 Hensel, Michael/Menges, Achim: Performance als Forschungs- und Entwurfskonzept. Begriffe und Bezugssysteme, in: Archplus 188, 2008, S. 31-37, hier S. 31. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Hensel/Menges: Morpho-Ecologies (wie Anm. 27), S. 45.
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Abb. 7: Achim Menges und Steffen Reichert, HygroScope – Meteorosensitive Morphology, Centre Pompidou, Paris, 2012 Sobald das Element mit anderen Elementen in eine wechselseitige Beziehung tritt und bestimmte Anforderungen an Durchlässigkeit und Stabilität erfüllen soll, erhält es seine konkrete, individuelle Form. Die Gestaltvision der sich selbst erzeugenden Form wird vor allem in jenen Materialsystemen anschaulich, die auf wechselnde Umwelteinflüsse mit Formveränderungen reagieren. Zehn Jahre nach der Ausstellung von Greg Lynn in Wien entwickelte Achim Menges für die ständige Sammlung des Centre Pompidou in Paris eine naturkundlich anmutende Vitrinen-Installation (Abb. 7). Im Unterschied zu Lynns Ausstellung, in der Tiere und Pflanzen neben Kunstwerken und Bauentwürfen präsentiert wurden, suggeriert die Installation HygroScope – Meteorosensitive Morphology eine Aufhebung der Trennung von Natur und Architektur. In einer raumhohen Glasvitrine befindet sich ein floral wirkendes Hängeobjekt aus kreisförmig angeordneten Holzrippen und geschlitzten Holzfurnierflächen. Die das Objekt umgebende Vitrine dient in diesem Kontext weniger dem Schutz des Exponats als der Erzeugung einer spezifischen Umwelt. Während im Ausstellungsraum ein kontrolliertes gleichbleibendes Klima herrscht, werden in der Vitrine die Luftfeuchtewechsel von Paris simuliert. Sie bewirken eine Formveränderung des Objektes, welche durch die hygrosko-
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pischen Eigenschaften des verwendeten Holzes hervorgerufen wird. Bei hoher Luftfeuchtigkeit krümmen sich die Furnierelemente selbsttätig, wodurch sich die Struktur partiell öffnet. Nimmt die Feuchtigkeit ab, schließen sich die Flächen wieder.31 Solchen Arbeiten liegt ein Verständnis von Entwerfen zugrunde, das weniger formale Objekte als vielmehr stoffliche Überführungen und Umwandlungen ins Zentrum des Gestaltungs- und Erkenntnisinteresses rückt. Formbildung bedeutet hier die Beschreibung einer materiellen Schnittstelle, eines Durchgangsmediums zwischen innen und außen, einer ›Membran‹, die eine aktive Rolle bei der selektiven Übermittlung natürlicher Bewegungen wie Licht, Luft und Schall spielt. Die so gewonnenen Entwürfe sind somit keine Entitäten, die in eine feste und endgültige Form gegossen wurden, sondern Ansammlungen von in Bewegung befindlichen Materialien.32 Eine materialtheoretische Fundierung für ihre Idee sich selbst regulierender Materialsysteme erhielten Hensel und Menges durch ihre Auseinandersetzung mit der Bionik.33 Ihr Gestaltungsansatz ruht auf der Vorstellung, dass biologische Materialien durch die Differenzierung ihrer Struktur eine hohe Anpassungsund Leistungsfähigkeit gewinnen.34 In einem von Hensel und Menges geführten Interview definierte der englische Biologe Julian Vincent den Begriff des Materials als eine im Austausch mit der Umwelt geformte Struktur: »[…] ein Material [muss], um auf die Umwelt reagieren zu können, Struktur haben. […] Sie ist in großem Maße für die unterschiedlichen Eigenschaften von Materialien verantwortlich.«35 Wie Greg Lynn inszenieren Hensel und Menges die digitale Form als universale Struktur, wenn auch auf eine andere Weise. Sie streben nach einer Naturali-
31 Vgl. The Institute for Computational Design/University of Stuttgart: HygroScope – Centre Pompidou Paris, https://vimeo.com/55938597 [1. Oktober 2016]. 32 Vgl. Ingold, Timothy: Eine Ökologie der Materialien, in: Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin: Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich/Berlin 2014, S. 65-73, hier S. 72-73. 33 Die Bionik ist eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich in den 1950er Jahren zunächst in den USA, Großbritannien und Deutschland entwickelt hat. Das Kunstwort ›Bionik‹ setzt sich aus den Begriffen ›Biologie‹ und ›Technik‹ zusammen, womit deutlich werden soll, dass Konstruktions-, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien aus der Biologie abgeleitet und auf technische Anwendungen übertragen werden. 34 Vgl. Vincent, Julian: Grenzüberschreitungen Architektur – Biologie. Ein Gespräch mit Achim Menges/Michael Hensel, in: Archplus 188, 2008, S. 99-101, hier S. 101. 35 Ebd., S. 101.
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sierung und Verwissenschaftlichung der computerbasierten Architekturform, indem sie natürliche Materialien verwenden, eine quasi-natürliche Strukturbildung initiieren und naturgebundene Umwelten simulieren. Entgegen der Vorstellung von Material als etwas eigenhändig Modelliertes oder maschinell Geformtes, propagieren sie ein naturwissenschaftlich orientiertes Konzept, wonach das Material als etwas selbsttätig Bildendes verstanden wird. Sie betrachten die so erzeugte Form nicht als das Werk künstlerischer Imagination, sondern als das objektive Ergebnis wechselseitiger Wirkverhältnisse von Material, Struktur und Umwelt. Ihre Versuche der materiellen Synthese von physischer und digitaler Form zielen, ebenso wie Lynns Bestrebungen der geometrischen Vereinheitlichung, auf die ›Verewigung‹ und Enthistorisierung der Form. In ihrer Perspektive geraten gestalterische Formen zu Zeugnissen vermeintlich universeller Naturgesetze, die losgelöst sind von jedem kultur- und architekturhistorischen Kontext. Unterschiede zwischen vergangenen und gegenwärtigen, analogen und digitalen, lebenden und nicht-lebenden Formen werden so bewusst verschleiert. Ihre Materialsysteme werden wie überzeitliche, transhistorisch zu verstehende Formen präsentiert, die der Natur und Naturwissenschaft näher zu sein scheinen als der Architektur.
S TRUKTUR
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UND
W ISSENSCHAFT
Der Begriff der Struktur als Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft beruht auf einem Formbegriff, der vor allem in der Nachkriegsmoderne seine Prägung fand. In ihrer programmatischen Schrift »Morpho-Ecologies« weisen Hensel und Menges auf die Adaption von Wirkungsprinzipien der Natur durch die konstruktivistische Architektur der 1950er und 1960er Jahre hin.36 Was sie indes unerwähnt lassen, ist, dass es in den Nachkriegsjahrzehnten ein disziplinübergreifendes Interesse an abstrakten Strukturen gab, die als formal-bildliche Ansatzpunkte für die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft dienen sollten. Eine Schlüsselposition in dieser Debatte nahm das Werk des ungarischen Künstlers und Gestalttheoretikers György Kepes (1906-2001) ein, der 1967 das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am Massachusetts Institute of
36 Vgl. Hensel, Michael/Menges, Achim: Morpho-Ecologies. Towards an Inclusive Discourse on Heterogeneous Architecture, in: dies.: Morpho-Ecologies (wie Anm. 27), S. 16-61, hier S. 21-22 u. S. 29-30.
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Technology in Cambridge gegründet hatte.37 Sein einfaches, doch wirkmächtiges Credo lautete: »Das phantasievollste Sehen ist struktur-orientiert.«38 Kepes’ Interesse an der Struktur unter informations- und wahrnehmungstheoretischen Prämissen manifestierte sich sowohl in seinem künstlerischen Schaffen, als auch in seiner Lehrtätigkeit, seinen thematischen Ausstellungen und den hieraus hervorgegangenen Sammelbänden. Vor allem zwei der von ihm herausgegebenen sieben Bände der Schriftenreihe Vision + Value setzen sich mit Strukturen in verschiedenen Erscheinungsformen auseinander. Die Bände Structure in Art and in Science (1965) und Module, Proportion, Symmetry, Rhythm (1966) enthalten zahlreiche Strukturbeispiele unterschiedlicher Herkunft und Funktion, die durch eine suggestive Montage organisiert sind.39 Die visuelle Argumentation der Bildserien läuft darauf hinaus, strukturelle Übereinstimmungen von Kunst-, Natur- und Technikformen sichtbar zu machen. So gerät etwa ein regelmäßiges Sechseck zum verbindenden Element zwischen einer hoch vergrößerten Schneeflocke, einem mikroskopischen Viruskristall, einem Hokusai-Muster für Textilgewebe und einer Leichtbaukonstruktion des Architekten Buckminster Fuller (1805-1983).40 Die Bilder zeigen stets nur Ausschnitte von Strukturen, wodurch ihre Größen, Kontexte, Funktionen und Bedeutungen unbestimmt bleiben. Durch die äußerlichen Ähnlichkeiten wird dem
37 Kepes hatte in den 1930er Jahren mit László Moholy-Nagy zusammengearbeitet, erst in Berlin und London, später dann an dem von Moholy-Nagy geleiteten New Bauhaus in Chicago. 1945 übernahm er den Lehrstuhl für ›Visual Design‹ an der Architekturfakultät des MIT in Cambridge, das in den 1940er und 1950er Jahren zu den maßgeblichen Entwicklungszentren der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehörte. Im Kontext dieser technisch orientierten Hochschule widmete er sich programmatisch der Malerei, Fotografie und Lichtkunst und befasste sich theoretisch mit Formen der Visualisierung in Kunst und Wissenschaft, was schließlich zur Gründung des Center for Advanced Visual Studies (CAVS) führte. Vgl. Hayden Gallery u. a. (Hg.): Gyorgy Kepes. The MIT Years: 1945–1977. Paintings, Photographic Work, Environmental Pieces, Projects of the Center for Advanced Visual Studies, Ausst.-Kat. Cambridge, Mass., Hayden Gallery, Massachusetts Institute of Technology, 1978, Cambridge, Mass./London 1978. 38 Kepes, Gyorgy: Einleitung, in: ders. (Hg.): Struktur in Kunst und Wissenschaft, Brüssel 1967, S. IX-XV, hier S. XI. 39 Grundlegend: Wagner, Kirsten: Sternglaube und Formelwissen. Zur Entdeckung der Kunst in der Wissenschaft bei György Kepes, in: Kritische Berichte 3, 2010, S. 60-69. 40 Vgl. Kepes, Gyorgy (Hg.): Module, Proportion, Symmetry, Rhythm, New York 1966, S. 82-83.
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Abb. 8: György Kepes, Vergrößerte Kieselalge – Lichtplaneten von Otto Piene – Palazzo dello Sport von Pier Luigi Nervi, aus: Vision + Value, 1965/66 Betrachter ein innerer Zusammenhang der Formen suggeriert, der Kepes’ Idee einer disziplinübergreifenden Struktur legitimieren sollte. In der programmatischen Ausstellung »The New Landscape in Art and Science«, die Kepes bereits 1951 in der Hayden Gallery des MIT organisiert hatte, entwickelte er ein ähnliches Verfahren der Zusammenschau visueller Strukturen. Wissenschaftliche Darstellungen wurden als Tafelbilder frei in den Raum gehängt und in mehreren Schichten hintereinander angeordnet.41 Je nach Standpunkt des Betrachters überlappten sich die Bilder, wodurch sie in wechselnde Beziehungen zueinander gesetzt wurden. Mit dieser Präsentationsform, die ein vergleichendes Sehen aktivieren sollte, bediente sich Kepes spezifischer Bildpraktiken der Kunst, die den vermeintlich künstlerischen Status der wissenschaftlichen Bilder zusätzlich manifestierten. Über solche Montageverfahren rückte Kepes wissenschaftliche Bilder in einen neuen Bedeutungszusammenhang, der andere als die gewohnten Rezeptionsformen nahelegte. Indem er einerseits die wissenschaftliche Darstellung wie ein künstlerisches Bild behandelte, andererseits das ästhetische Objekt zu einem wissenschaftlichen Erzeugnis erklärte, entließ er beide Formen aus ihren funktionellen und epistemischen Zusammenhängen. Diese Kontextverschiebungen veranschaulichte er in gesteigerter Form, indem er visuell ähnliche Formen in Beziehung setzte, deren Hintergrund eingeschwärzt war. So bildeten gleichermaßen eine stark vergrößerte Kieselalge, die Lichtplaneten von Otto Piene (1928-2014) und die Decke des römischen Sportpalastes von Pier Luigi Nervi (1891-1979) hell erleuchtete Kreisfiguren, die im schwarzen Umraum zu schweben schienen (Abb. 8). Mit dem Begriff der Struktur propagierte Kepes nichts Geringeres als eine neue Synthese von ästhetischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis, womit er dem modernen »Aufsprengen des Wissens in viele autonome Diszipli-
41 Vgl. Kepes, Gyorgy (Hg.): The New Landscape in Art and Science, Chicago 1956, S. 101, Abb. 74.
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nen«42 begegnen wollte. In seinem Einleitungstext zum Band Structure in Art and in Science definierte er Struktur als »geschaffene Einheit von Teilen und Verbänden« und erkannte in ihr ein »Beispiel dynamischer Kohäsion, in dem Haupt- und Zeitwort – Form und formen – gleichzeitig vorhanden und austauschbar sind: ein Beispiel zusammenwirkender Kräfte, verstanden als eine einzige räumlich-zeitliche Ganzheit«.43 Ausgehend von dem aus der Chemie entlehnten Begriff der Kohäsion, der das Bindungsvermögen von Atomen und Molekülen innerhalb eines Stoffes bezeichnet, betrachtete Kepes die Struktur als einheitsstiftende Kraft, welche die künstlich errichteten Grenzen der Moderne zwischen einer subjektiven Kunst auf der einen Seite und einer an Objektivitätsidealen festhaltenden Wissenschaft auf der anderen Seite aufhebt. Durch die Zusammenführung von Form und formen betrieb er eine Neubestimmung des Strukturbegriffs: Er relativierte dessen gestaltorientierten Sinn und schlug einen prozessorientierten Strukturbegriff vor. Kepes’ Text ist von einem visionären Pathos getragen, verfolgt doch seine Argumentation die Absicht, eine in ihrer Komplexität nicht mehr zu erfassende, chaotische Welt durch Muster und Strukturen in eine anschauliche und damit beherrschbare Ordnung zu übersetzen. Kepes zufolge verkörpern Strukturen exemplarisch die angestrebte Harmonie der verschiedenen Wissenswelten und versinnbildlichen die Einheit der angenommenen Gegensätze zwischen Kunst, Technik und Natur. Durch die bildliche Zusammenführung von Kleinstgefügen und Großkonstruktionen werden Strukturen als Versuche dargestellt, in einem Mikrokosmos den Makrokosmos zu rekonstruieren. Als abstrakte, maßstabslose Erscheinungen erwecken sie die Illusion einer Versöhnung von ›großer‹ und ›kleiner Welt‹. Kepes’ Begriff der ausgleichenden Form liegt auch dem Gestaltungsansatz von Hensel und Menges zugrunde, wonach Strukturen »zwischen dem Mikromaßstab der molekularen Zusammensetzung des Materials und dem Makromaßstab der Beschaffenheit eines Bauwerks«44 vermitteln und gleichermaßen funktionale, statische und produktionstechnische Bedingungen erfüllen. Sie dienen als Versöhnungselemente zwischen Natur und Technik und zugleich als Schlüsselinstrumente, um der rational gesteuerten Gestaltfindung den Anschein eines naturhaften Formfindungsprozesses zu verleihen. Wie Kepes betrachten Hensel und Menges Strukturen als stofflich-materielle Formen, die sich allein in der Dynamik ihrer immanenten Prozesse erschöpfen und ohne Beziehung zur Ge-
42 Kepes: Einleitung (wie Anm. 38), S. IX. 43 Ebd., S. X. 44 Hensel, Michael/Menges, Achim: Form- und Materialwerdung. Das Konzept der Materialsysteme, in: Archplus 188, 2008, S. 18-23, hier S. 18.
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schichte ihrer Herkunft und ihres Gebrauchs auskommen. In ihrer Perspektive bilden Strukturen die Grundlage einer jeden Form in Natur und Architektur, die sich weniger durch eine Gestalt- als durch eine Prozessqualität auszeichnet. Im Austausch mit der Umwelt werden Strukturen zu Formbewegungen.
N ATÜRLICHE K ONSTRUKTIONEN Gestaltungsformen, die sich natürlichen Strukturen und Materialien annähern, um sich der in ihnen enthaltenen ›Intelligenz‹ bedienen zu können, wurden bereits in der konstruktivistischen Architektur der 1950er und 1960er Jahre intensiv thematisiert. Kepes schenkte vor allem den von der Natur inspirierten Leichttragwerken des deutschen Architekten Frei Otto (1925-2015) eine hohe Aufmerksamkeit, überführten diese doch seine Bildstrategie in eine Modellierungsstrategie. Die Analogiebildung zwischen natürlichen und architektonischen Strukturen in Ottos Entwürfen war auch für Hensel und Menges vorbildlich. Der von ihnen geprägte Begriff des Materialsystems ruht auf Ottos Konzept der »natürlichen Konstruktion«45. Otto ging es um eine intelligente, leichte und nachhaltige Form des Bauens, die ihre Gestaltungs- und Konstruktionsformen der Natur entlehnt, um deren Prinzipien auf bauliche Strukturen übertragen zu können. Otto hat sich Zeit seines Lebens mit gestaltbildenden Prozessen in der Natur befasst.46 Als Architekt hat er zahlreiche Konstruktionen unter Verwendung dieser Prozesse entwickelt und gebaut.47 Gemeint sind jene gestaltbildenden Prozesse, die unter vorgegebenen Randbedingungen und herrschenden Naturgesetzen zu sichtbaren Formen und Konstruktionen führen. Da sie ohne Zutun des Menschen ablaufen, werden sie auch Selbstbildungsprozesse genannt. Im Mittelpunkt standen für Otto vor allem physikalische Selbstbildungsprozesse. Technische Konstruktionen, bei deren
45 Otto, Frei: Natürliche Konstruktionen. Formen und Konstruktionen in Natur und Technik und Prozesse ihrer Entstehung, Stuttgart 1982. Im Jahr 1984 richtete Frei Otto den Sonderforschungsbereich 230 ›Natürliche Konstruktionen. Leichtbau in Architektur und Natur‹ am Institut für Leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart ein. 46 Vgl. Otto, Frei: Gestaltwerdung. Zur Formentstehung in Natur, Technik und Baukunst, Köln 1988. 47 Vgl. Barthel, Rainer: Naturform – Architekturform, in: Nerdinger, Winfried (Hg.): Frei Otto. Das Gesamtwerk. Leicht bauen, natürlich gestalten, Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München, Basel/Boston/Berlin 2005, S. 16-30, hier S. 17.
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Planung und Herstellung derartige Prozesse von selbst abliefen oder gezielt genutzt werden konnten, wurden von Otto als »natürlich«48 bezeichnet. Umgekehrt fasste er alle Objekte, auch die der Natur, als Konstruktionen auf: »Alle materiellen Objekte sind Konstruktionen.«49 Alle Objekte haben eine Form, sie sind gefügt aus Molekülen, kleineren und größeren Einheiten, sie alle unterliegen Kräften und Einwirkungen. Daher waren für Otto natürliche und technische Konstruktionen analoge Bildungen.50 Die Analogiebildung erfolgte stets über das technische Modell.51 Ottos Modelle wirkten in zwei Richtungen: Sie dienten nicht nur der Entwicklung technischer Konstruktionen, sondern auch dem Verständnis natürlicher Strukturen. Gemeinsam mit dem Biologen Johann-Gerhard Helmcke gründete der Architekt 1961 die Arbeitsgruppe ›Biologie und Bauen‹ an der Technischen Hochschule in Berlin. Über Helmcke lernte er die Formen mikroskopischer Lebewesen und die biologischen Erklärungsversuche ihres Entstehens kennen.52 In den Panzern von Diatomeen und den Skeletten von Radiolarien erkannten sie die Verwirklichung des Leichtbauprinzips in der Natur und die Bedeutung von Selbstbildungsvorgängen für die Formentstehung.53 In Modellen vollzogen sie die Selbstbildung der Diatomeen nach – von der Zusammenlagerung kugelförmiger Blasen bis zur Entstehung der gekammerten Schale aus Siliziumdioxid. Zur Modellbildung wurden Luftballons zwischen Platten dicht gepackt und die Zwischenräume mit Gips ausgegossen. Durch Entfernen der Ballons nach Erhärten des Gipses entstanden leichtgewichtige, poröse Gussstrukturen von großer Festigkeit (Abb. 9). Sie dienten Otto als Grundlage für die Entwicklung organisch anmutender Raumtragwerke mit biegesteifen Knoten, die sich an die stabilen Verbindungen der Diatomeen anlehnten. Das tiefe Verständnis einer natürlichen Konstruktion in Biologie und Architektur war für Helmcke und Otto nur möglich, wenn es gelang, ein Modell davon
48 Otto, Frei: Natürliche Konstruktionen, ein Thema für die Zukunft, in: Otto, Frei/ Rasch, Bodo: Gestalt finden. Auf dem Weg zu einer Baukunst des Minimalen, Ausst.Kat. Villa Stuck, München, Stuttgart 1995, S. 15-53, hier S. 15. 49 Ebd. 50 Kull, Ulrich: Frei Otto und die Biologie, in: Nerdinger: Frei Otto (wie Anm. 47), S. 44-54, hier S. 45-46. 51 Grundlegend: Otto, Frei (Hg.): IL 25, Experimente – Form Kraft Masse 5, Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart, Stuttgart 1990. 52 Vgl. Kull: Frei Otto (wie Anm. 50), S. 45-46. 53 Vgl. Otto, Frei (Hg.): IL 28, Diatomeen I. Schalen in Natur und Technik, Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart, Stuttgart 1985.
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Abb. 9: Michael Hensel, Achim Menges und Gabriel Sanchiz Garin, Poröse Gussstrukturen (nach Modellen von J.-G. Helmcke/Frei Otto), 2005/2006 zu erstellen.54 Ein solches Modell lieferte ihnen die Leichtbautechnik. Das war der Kern dessen, was Otto als den »umgekehrten Weg« bezeichnete: Das technische Modell und seine Anfertigung schaffen das Wissen zur Erklärung der biologischen wie der architektonischen Gestalt.55 Natur und Architektur erscheinen hier als Prozesse, die sich mit Hilfe von Modell- und Materialbildungen erklären lassen. Mit Ottos grundlegendem Perspektivwechsel von der reduzierten, reinen Form zum komplexen, materiellen System wird der moderne Versuch der Abwertung und Überwindung des Stofflichen aufgehoben. Dessen Rehabilitierung als einen Befreiungsschlag von der modernistischen Idee der allgemeingültigen und absoluten Form zu betrachten, wäre hingegen verfehlt. Denn die Suche nach einer universalen Sprache, die in die ästhetischen Formulierungen der Moderne als Abstraktion eingegangen ist, findet ihre Fortsetzung im Konzept der Selbstbildung der Form. Die Vorstellung der materiellen Form als ein sich selbst dirigierendes System lässt sich als Fortführung einer Traditionslinie verstehen, innerhalb derer Theoretiker, Architekten und Ingenieure nach einer Befreiung der
54 Ebd., S. 45. 55 Vgl. Polónyi, Stefan/Kawaguchi, Mamoru/Burkhardt, Berthold u. a. (Hg.): Der umgekehrte Weg. Frei Otto zum 65. Geburtstag, Köln 1990 (= arcus, Bd. 10).
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Architektur von ästhetischen Vorgaben strebten.56 Die Polemik der Avantgarde des 20. Jahrhunderts gegen vorherrschende Stile oder gestalterische Systeme in Kunst und Architektur war Teil eines Paradigmenwechsels von der vorherbestimmten, transzendenten zur selbstgenerierten, immanenten Form. So erfolgt die gegenwärtige Positionierung der computergebundenen Architekturform in Übereinstimmung mit dem eigengesetzlichen Natur- und Formbegriff der abstrakten Moderne. Wie Otto werten Hensel und Menges ihre Formen zu allumfassenden generativen Architektursystemen auf, die von historischen Vorbildern entbunden sind. Die konzeptionellen Wurzeln dieser Strategie liegen im abstrakten Dogma der Moderne und ihrer ultimativen Innovationsforderung.
D ER WISSENSCHAFTLICH - BILDNERISCHE E XPERIMENTATOR Wenn man Formen und Strukturen als Akteure im Entwurfsprozess versteht, wie dies von Otto nahegelegt wurde, stellt sich die Frage nach der formbildenden Instanz: Welche Rolle spielt der Architekt im Gestaltwerdungsprozess, insbesondere dann, wenn sich die Formen durch Krafteinwirkung selbsttätig bilden und organisieren? Es scheint, als ob der emphatische Formbegriff aus dem Geist der Wissenschaft und Technik mit der Forderung nach einem neuen Gestaltertyp verbunden ist. Nicht der Formschöpfer, der nach einem festen Plan aus vorhandenem Material etwas modelliert, prägt hier das Bild des Architekten. Vielmehr geht es um einen Gestalter, der nicht unmittelbar an der Erschaffung der Form beteiligt ist. Von ihm wird verlangt, dass er seine persönlichen Gestaltungsvorlieben unterdrückt und sich in den Dienst der Selbstorganisation formaler Systeme stellt. Der Künstler Robert Preusser (1919-1992), der in den 1960er Jahren am Center for Advanced Visual Studies am MIT tätig war, fand für diesen Gestaltertyp die Bezeichnung des »wissenschaftlich-bildnerischen Experimentators« (»scientific-visual experimentalist«57). Ein solches Gestalterbild sollte dreißig Jahre später in den Selbstbegründungen der Computerarchitekten wiederauftauchen. Die Formbildungsprozesse lediglich zu ›betreuen‹, war auch das Anliegen von Frei Otto. Gefragt nach seiner Rolle im Entwurf bemerkte er, dass er sich
56 Mertins, Detlef: Biokonstruktivismus, in: Spuybroek, Lars: NOX: Machining Architecture. Bauten und Projekte, München 2004, S. 360-369, hier S. 360. 57 Preusser, Robert: Visual Education for Science and Engineering Students, in: Kepes, Gyorgy (Hg.): Education of Vision, New York 1965, S. 208-219, hier S. 219.
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eher als »Zuschauer« oder »Geburtshelfer« seiner Objekte denn als »aktiver Konstrukteur« wahrnehme: »Ich versuche, die selbst ablaufenden Prozesse, die die Objekte machen, zu unterstützen. Bei diesem Vorgehen habe ich das Gefühl, ›die hast du gar nicht gemacht‹.«58 »Der Wille zur betonten Gestaltung«, stellte Otto bereits 1972 fest, »steht im Gegensatz zu der Suche nach der noch unbekannten, aber den Naturgesetzen unterliegenden Form.«59 Mit dieser Äußerung zur Negation der gestalterischen Subjektivität, die Voraussetzung von Innovation sei, rekurrierte er auf das Selbstverständnis der Bauhausgestalter. Die Zurückweisung des freien, individuellen Selbstausdrucks und die Betonung der Sachlichkeit waren vor allem Ergebnisse des 1923 einsetzenden Umschwungs des Bauhauses vom Handwerklich-Romantischen zum Konstruktiv-Ingenieurhaften. So schrieb Walter Gropius 1925 über die »neue Bau-Gesinnung«: »Ich-Überwindung muß der Gestaltung vorausgehen, damit das Produkt mehr als persönliche Geltung gewinnt.«60 Diesem nietzscheanischen Gedanken folgte auch Otto, dessen Konstruktionen auf die Veranschaulichung des Kraftflusses im Sinne einer überindividuellen Gestaltungssprache abzielten. Ein ähnliches Konzept der Selbstorganisation, in dem der Architekt zum menschlichen Entwurfsmedium wird, beschworen auch Greg Lynn, Michael Hensel und Achim Menges, und zwar in der Überzeugung, dass die digitalen Formerscheinungen durch ein ebenso plausibles Prinzip wie natürliche Strukturen zu begründen seien. Analog zu Otto beschrieben sie die digitale Form als eine Struktur, die aus den Parametern ihrer Einflussfaktoren resultiert. Der Architekt Patrik Schumacher (geb. 1961) erklärte daher Otto auch zum »einzig wahren Vorläufer des Parametrismus«: »Frei Ottos physische Modelle selbstorganisierter Formfindung sind deshalb so überzeugend, weil sie eine Vielzahl von Komponenten […] in ein simultan organisiertes Kräftefeld integrieren. Jede Veränderung des parametrischen Profils von einem der Elemente […] führt bei allen anderen Elementen des Systems zu regelhaften Reaktionen.«61
58 Otto, Frei: Die Entstehung der Formen. Im Gespräch mit Walter Siegfried, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur 45, 1985, S. 104-106, hier S. 106. 59 Otto, Frei (1972): Das Zeltdach. Subjektive Anmerkungen zum Olympiadach, in: Burkhardt, Berthold (Hg.): Frei Otto. Schriften und Reden, 1951–1983, Braunschweig/Wiesbaden 1984, S. 98-105, hier S. 101. 60 Gropius, Walter: Die neue Bau-Gesinnung, in: Innen-Dekoration 36, 1925, S. 134137, hier S. 137. 61 Schumacher, Patrik: Parametrismus. Der neue International Style, in: Archplus 195, 2009, S. 106-113, hier S. 111, Anm. 20, u. S. 112.
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R E -I NTHRONISIERUNG
DES
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A RCHITEKTEN
Auf den ersten Blick scheint es, als ob die traditionelle Rolle des Architekten als Demiurg, als Weltschöpfer und oberste Gestaltungsinstanz in diesen Konzepten architektonischer ›Geburtshelfertätigkeit‹ überwunden sei. In der Tat ist der Architekt in digitalen Arrangements weniger Form- als Prozessschöpfer, wobei sich letztere Rolle als weitaus wirkungsmächtiger erweist als zunächst angenommen. Denn der Architekt wird nicht nur zum Wissenschaftler erhoben, der die Prozesse des ›Lebens‹ an sich selbst erzeugenden Formen studiert, sondern auch zum Initiator und Steuerer dieser Prozesse. In dieser Funktion spielt er eine neue, allmächtige Rolle im Entwurfsprozess, weshalb heroische Bescheidenheit oder devote Technikgläubigkeit als mögliche Motive für seinen Rückzug als unmittelbarer Formgeber ausscheiden. Seine Absage an die aktive Gestaltung erlaubt ihm vielmehr, einen scheinbar lebendigen, eigenständigen und intelligenten Prozess aus gottähnlicher Schöpferperspektive zu planen, zu steuern und zu kontrollieren. Am Ende bleibt er die ordnende Kraft, nach deren Wirken die Formentwicklung abläuft. Dieses Bild des Architekten als oberster Lenker intelligenter Prozesse setzte zuletzt ein Forschungsprojekt am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge in Szene. Im Jahr 2013 entstand unter der Leitung der Architektin Neri Oxman der Silk-Pavillon (Abb. 10). Das Projekt ging der Frage nach, wie sich digitale und biologische Fabrikationsmethoden unmittelbar verschränken lassen. Zu diesem Zweck wurden Seidenraupen als natürliche Materialproduzenten im Fertigungsprozess eingesetzt. Zusammen mit Studierenden
Abb. 10: Neri Oxman, Silk Pavilion, MIT, Media Lab, Cambridge/Mass., 2013, Rendering und Fotografie
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untersuchte Oxman zunächst die Spinnmuster und die möglichen Einflussnahmen auf die Aktivitäten der Raupe. Als Stützkonstruktion für den kuppelförmigen Pavillon dienten achteckige Aluminiumrahmen, die von einem CNCRoboter mit einem groben Seidengitter bespannt wurden. Anschließend wurden 6.500 Seidenspinnerraupen auf das Gerüst verteilt und mit gezielt eingesetztem Licht und Wärme über die Struktur geleitet, die sie dann mit Seidengarn überspannten. Vordergründig könnte man annehmen, dass die Raupen den Architekten als Formschöpfer nun endgültig ersetzt hätten. Hinter der biointegrierten Materialisierung verbirgt sich jedoch weniger eine Schwächung als eine Stärkung seiner Position. Der Einsatz der Tiere als lebendige 3D-Drucker lässt sich nicht als Indiz für die Suspendierung von Autorschaft verstehen, sondern im Gegenteil als Beweis für die Herrschaftssicherung des Architekten, die auf die grundsätzliche Beherrschung und Beherrschbarkeit der lebenden Natur setzt. Unter diesem Blickwinkel wird der Architekt als wirksame, modellierende Instanz im computerbasierten Entwurf weniger in Frage gestellt als vielmehr bestätigt. In der Gestaltung komplexer lebender und nicht-lebender Systeme und Prozesse scheint jenes Bild des Architekten aufs Neue auf, das ihn als Ikone der Naturbeherrschung und Lenker des Kosmos in Szene setzt.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: © Embryological House fonds, Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal Abb. 2: von Baers, Karl Ernst: Über Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion, Königsberg 1828-37, Tafel II Abb. 3: Rappolt, Mark (Hg.): Greg Lynn FORM, New York 2008, S. 176, Abb. 01a Abb. 4: Bateson, William: Materials for the Study of Variation. Treated with Especial Regard to Discontinuity in the Origin of Species, Baltimore 1992 [Reprint der Ausg. v. 1894], S. 562, Abb. 207, III und IV Abb. 5: Thompson, DArcy Wentworth, Über Wachstum und Form, vorgestellt von Anita Albus nach der von John Tyler Bonner besorgten Ausgabe, Frankfurt a. M. 2006 [engl. 1917/42], S. 410, Abb. 142 Abb. 6: Hayden, Richard Seth/Despont, Thierry W.: Restoring the Statue of Liberty. Sculpture, Structure, Symbol, New York 1986, S. 40 und Tafel X Abb. 7: © Achim Menges
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Abb. 8: Kepes, Gyorgy (Hg.): Structure in Art and Science, New York 1965, S. 2 u. S. 102; ders. (Hg.): Module, Proportion, Symmetry, Rhythm, New York 1966, S. 99 Abb. 9: © Achim Menges Abb. 10: MIT Media Lab, Cambridge, Mass., © Jorge Duro-Royo u. Steven Keating, http://matter.media.mit.edu/environments/details/silk-pavillion#pret tyPho-to[]/31/ und http://matter.media.mit.edu/environments/details/silk-pavillion#prettyPhoto[]/2/ [Stand: 1. Oktober 2016]
Naturdarstellung in postkolonialen Zeiten O SCAR A RDILA L UNA
Am Ende des 20. Jahrhunderts begannen einige kolumbianische Künstlerinnen und Künstler, Ordnungsprinzipien, Methoden der Recherche und Typen wissenschaftlicher Abbildung der Naturgeschichte, allesamt der Kolonialzeit und dem 19. Jahrhundert entlehnt, in ihre künstlerische Praxis einzubeziehen. Ihr besonderes Interesse lag in der genauen Betrachtung und Untersuchung der formalen und inhaltlichen Beschaffenheit einer ›visuellen Vorstellung‹ von der Natur, die – wie im Fall Südamerikas – durch den ständigen Verkehr und Austausch von wissenschaftlichen Abbildungen (Radierungen, Zeichnungen, Grafiken u. a.) zwischen Europa und Südamerika entstanden war. Die Künstlerinnen und Künstler verwendeten insbesondere die wissenschaftlichen Ausarbeitungen von Südamerika bereisenden europäischen Gelehrten und Wissenschaftlern wie Alexander von Humboldt (1796-1859), Henry Price (18181863)1 oder Auguste Le Moyne (1800-1880)2. Im Zuge der Erforschung des süd-
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Englischer Reisender, Musiker und Künstler, der an der Comisión Corográfica de la República de la Nueva Granada (Chorographische Expedition der Republik Neugranadas) von 1850 bis 1859 als wissenschaftlicher Aquarellmaler teilnahm. Ziel dieser Expedition war es, eine chorographische Karte der verschiedenen Provinzen Kolumbiens zu entwerfen. Siehe das Faltblatt der Ausstellung Faltblatt 58. Acuarelas y dibujos de Henry Price para la Comisión Corográfica de la Nueva Granada, Biblioteca Luis Angel Arango, Bogotá 2007.
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Französischer Diplomat, der über seinen Aufenthalt in Kolumbien zwischen 1829 und 1839 als Autor, Künstler und Entomologe berichtete. Vgl. das Vorwort zur Publikation Le Moyne, Auguste: Viajes y estancias en América del Sur, la Nueva Granada, Santiago de Cuba, Jamaica y el Istmo de Panamá, Bogotá, Ministerio de Educación de Colombia, Bogotá 1945.
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amerikanischen Kontinents durch diese und andere Universalgelehrte entstanden wissenschaftliche Publikationen wie zum Beispiel Vues des Cordillères, et monuments des peuples indigènes de l´Amérique (1810-1813) von Alexander von Humboldt, die Abbildungen und Landkarten der Comisión Corográfica de la República de la Nueva Granada (Chorographische Expedition der Republik Neugranadas, 1850-1859), an der Henry Price teilnahm, oder die Viajes y estancias en América del Sur, la Nueva Granada, Santiago de Cuba, Jamaica y el Istmo de Panamá (1880/1945) von Auguste Le Moyne. Diese Publikationen erforderten eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern, da die in den Reisetagebüchern, Berichten und Beschreibungen erscheinenden Skizzen und Abbildungen, in Form von Radierungen, Kupferstichen und farbigen Lithografien, erst nach der Rückkehr in Europa von Künstlerinnen und Künstlern umgesetzt wurden.3 Die aus diesem Kontext hervorgegangenen Werke sind ein Aufeinandertreffen und Zusammenspiel von Objektivität und Imagination, entstanden aus wissenschaftlichen Fakten und deren künstlerischen Interpretationen. Heute wird diese Art der Abbildung sowohl in ihrem historischen Inhalt als auch in ihren formalen Aspekten von Künstlerinnen und Künstler aufgenommen und in Grafiken, Installationen, Skulpturen und Videoarbeiten neu interpretiert. Als ein Beispiel soll hier eine anonyme Radierung des 19. Jahrhunderts angeführt werden, die den Kampf von amerikanischen Ureinwohnern gegen ein Krokodil zeigt. Sie wurde vom kolumbianischen Künstler José Alejandro Restrepo (geb. 1959, Paris) aufgegriffen und verändert. Bei seiner Version von El cocodrilo de Humboldt no es el cocodrilo de Hegel (Das Krokodil von Humboldts ist nicht das Krokodil Hegels) aus dem Jahr 1997 hat der Künstler der Abbildung zwei historische Zitate, eines von Alexander von Humboldt und eines von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hinzugefügt und die Abbildung mit den Zitaten nachdrucken lassen (Offset).4 Das Zitat von Humboldts verzeichnet 25 Fuß
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Sie waren tätig als Zeichner bzw. Grafiker und Herausgeber oder leiteten eine Druckwerkstatt. Joseph Anton Koch (1768-1839) oder der französische Künstler Édouard Riou (1833-1900) bereiteten Illustrationen und Grafiken für Publikationen über Reisen in Kolumbien vor. 1860 gründete Édouard Charton (1807-1890) Le Tour du monde in Frankreich. In dieser Publikation wurden verschiedene Berichte und Abbildungen von europäischen Reisenden in Kolumbien veröffentlicht. Vgl. Acevedo Latorre, Eduardo (Hg.): Fabulous Colombia’s Geography, Bogotá 1984, S. 44.
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Restrepos Abbildung ist unter http://www.banrepcultural.org/blaavirtual/exhibiciones/ historia-natural-politica/jose-restrepo.html [Stand: 30. August 2017] abrufbar. Der Künstler und das Datum der originalen Radierung sind hier nicht genannt.
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lange, wilde Krokodile, während Hegel die amerikanischen Krokodile als äußerst klein und schwach beschreibt.5 Diese Arbeit Restrepos illustriert die heterogenen und teilweise weit auseinanderdriftenden exotisierten Vorstellungen von den Tropen, die aus der freien Interpretation unterschiedlicher Erfahrungen in Wissenschaft und Kunst resultierte. Die aktuelle Bedeutung der wissenschaftlichen Abbildungen der Tropen aus dem 19. Jahrhundert besteht für die zeitgenössischen kolumbianischen Künstlerinnen und Künstler vor allem darin, dass sie ihnen in ihrem bürgerkriegsgeschüttelten Land eine neue, kritische Darstellungsweise der herrschenden sozialen Problematiken ermöglichen. Nach Ansicht des Kunstkritikers José Ignacio Roca (geb. 1962, Barranquilla) wird die kolumbianische Gesellschaft seit vielen Jahren mit Reportagen und Dokumentationen zum Bürgerkrieg im eigenen Land konfrontiert, was zur Folge habe, dass die meisten mittlerweile weitgehend indifferent auf weitere Abbildungen zum Konflikt reagieren. Künstlerinnen und Künstler haben demgegenüber, durch Neuinterpretation, neue Assoziationen und neue Allegorien aus Bildern der Kolonialzeit, eine Tür zu einer ganz anderen Art der Sichtbarmachung der Konflikte und einer anderen Sozialkritik geöffnet.6 Die Abbildungen der Kolonialzeit stellen dabei ›Urbilder‹ oder auch ›Ur-Vorstellungen‹ der aktuellen Probleme um Naturressourcen dar. Über die Abbildungen kann es gelingen, ein wirtschaftliches und kulturelles Verhältnis zwischen Nordund Südländern aufzudecken, das in der kolonialen Zeit entstand und bis heute fortbesteht. Das Offenlegen der daraus resultierenden Beziehungen und ihre Weiterexistenz in der kolumbianischen Gesellschaft sowie auch auf globaler Ebene wird thematisiert und kritisch befragt.
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Der Kommentar von Hegel lautet: »Heute wie früher ist Amerika immer noch machtlos. Obwohl seine Löwen, Tiger und Krokodile ähnlich wie seine Homonyme von dem alten Kontinent aussehen, sind sie kleiner, schwacher und kaum gefährlich.« Im Gegensatz dazu sagte Alexander von Humboldt: »Ich würde freiwillig auf das europäische Rindfleisch verzichten, das Hegel in seiner Unwissenheit besser als das amerikanische Rindfleisch findet. Außerdem würde ich gerne neben den zarten und schwachen Krokodilen leben, die leider 25 Füße lang sind.« Beide Zitate wurden von Restrepo nachrecherchiert und verwendet. Übers. aus dem Spanischen: der Autor. Vgl. http://www.semana.com/cultura/articulo/la-musa-maestra/46825-3 [Stand: 30. August 2017].
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Vgl. Roca, José Ignacio: Flora Necrológica. Imágenes para una geografía política de las plantas, in: Columna de Arena 50, 2003, http://universes-in-universe.de/columna/ col50 [Stand: 30. August 2017].
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Der vorliegende Aufsatz Naturdarstellung in postkolonialen Zeiten bezieht sich vor allem auf eine künstlerische Strategie in der gegenwärtigen Kunst, die sich, ausgehend von Wissenschaftsbildern, mit dem Thema Objektivität und Imagination auseinandersetzt. Ein zentraler Aspekt besteht in der Deutung und Umdeutung von Naturdarstellungen, die heute nicht mehr nur naturwissenschaftlich betrachtet, sondern vor allem auch als kulturelle Konstrukte gelesen werden können. Es geht um eine künstlerisch-kritische Untersuchung gängiger Vorstellungen, nationaler Stereotypen, die bis heute die Sichtweise und das Denken des Kolonialismus perpetuieren. Anhand der Beispiele von den in Kolumbien lebenden Künstlern José Alejandro Restrepo und Alberto Baraya (geb. 1968, Bogotá) sowie der Texte des ebenfalls aus Kolumbien stammenden Kunstkritikers José Ignacio Roca wird diese Auseinandersetzung erläutert.7
K UNST , P OSTKOLONIALISMUS
UND
N ATURRESSOURCEN
Im Jahr 2001 veröffentlichte der kolumbianische Kunstkritiker José Ignacio Roca einen Text mit dem Titel Flora Necrológica: Imágenes para una geografía política de las plantas,8 übersetzt Todesflora: Abbildungen für eine politische Geografie der Pflanzen. Darin eröffnete Roca ein Forschungsgebiet, in dem er die Entwicklung von Naturdarstellungen in der kolumbianischen Kunstszene verfolgte und diese unter politischen, sozialen und ökonomischen Aspekten untersuchte, um auf dieser Grundlage eine alternative Kunstgeschichte Kolumbiens zu schreiben. Im Konkreten widmete Roca sich in seiner Untersuchung verschiedenen Arten von künstlerischen Darstellungen, die das komplexe Verhältnis zwischen Pflanzen (also Naturressourcen) und den die letzten fünfzig Jahre andauernden, bewaffneten Konflikten in Kolumbien thematisieren. In der Einleitung zu seinem Text schildert Roca die Geschichte der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen in Kolumbien von der Kolonialzeit bis heute. Den Schwerpunkt setzt er auf das Entstehen einer von ihm so bezeichne-
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Dieser Beitrag basiert auf Auszügen meiner Untersuchung Die Unmöglichkeit der Natur, die in Kolumbien im Jahr 2007 als ausgezeichnete Masterarbeit veröffentlicht wurde, vgl. Ardila Luna, Oscar Mauricio: La imposibilidad de la naturaleza. Arte y naturaleza en el arte colombiano contemporáneo 1991-2003, Universidad Nacional de Colombia, Facultad de Artes, Bogotá 2007. In dieser Publikation sind auch die künstlerischen Arbeiten von María Fernanda Cardoso, María Elvira Escallón und José Fernando Herrán behandelt.
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Vgl. Roca: Flora Necrológica (wie Anm. 6).
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ten »orden social naturalizado«9, also einer »naturalisierten Gesellschaftsordnung«, die an der Schnittstelle zwischen den wissenschaftlichen Forschungen in den Tropen und dem wirtschaftlichen Interesse an ihrer Nutzung in der Kolonialzeit entstand. Roca versucht darzulegen, dass die den südamerikanischen Kontinent vermessenden europäischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts nicht nur eine rein wissenschaftliche Ordnung der Tropen – also nach botanischen oder geografischen Kriterien – vornahmen, sondern zugleich eine Art von Gesellschaftsordnung entwickelten. Sie erleichterten mit ihren Arbeiten die mögliche Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und förderten mit diesem Ansatz zugleich eine Art von kolonialer Ausbeutung. Roca erinnert unter anderem an die Ausbeutung der Arbeitskraft und die sozialen Verwerfungen, Differenzierungen und den Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen, mit dem ökonomische Projekte wie der Kautschukgewinn im Amazonasgebiet Mitte des 19. Jahrhunderts oder der Bananenanbau in der Karibik zu Beginn des 20. Jahrhunderts einhergingen. Roca identifiziert in der kolumbianischen Kunstgeschichte nach 1970 verschiedene Arten der Pflanzendarstellung, die diese Spannungen thematisieren. Er entwirft dabei zwar kein strenges Klassifikationsschema zur Einordnung der Pflanzendarstellungen, trotzdem können drei Hauptgruppen unterschieden werden.10 1.) ›Pflanzen als Metapher des Todes‹: Diese Gruppe umfasst Abbildungen, die sich mit verschiedenen Ritualen des Todes und des Sterbens beschäftigen oder aber auf den Tod im Zusammenhang mit dem gewalttätigen Konflikt in Kolumbien Bezug nehmen. Als ein Beispiel sind die Abbildungen einer Art von ›endemischen Todesblumen‹ (1997) des kolumbianischen Künstlers Juan Manuel Echavarría (geb. 1947, Medellín) anzuführen, der aus den Knochen anonymer Opfer der Gewalt Blumen gestaltete. Die Knochen wurden auf einer planen Oberfläche in Form von bestimmten Blumenarten ausgelegt. Sie wurden anschließend fotografiert, und die einzelnen Abbildungen erhielten ihre Titel in Anlehnung an verschiedene Praktiken und Strukturen aus der Zeit der politischen Gewalt der 1950er Jahre in Kolumbien (z. B. Corte de Florero). Blumen wurden auch in den Installationen der Künstlerin María Fernanda Cardoso (geb. 1963, Bogotá) verwendet. Sie gestaltete Todes-Blumensträuße aus künstlichen Pflanzen, die an den Wänden der jeweiligen Ausstellungsräume aufgehängt wurden. Ihre Arbeit Vertikaler Garten (1992) weist auf die traditionel-
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Vgl. Lápiz Magazin 178. Dezember 2001, S. 58. Zum ersten Mal wurde der Artikel in diesem Magazin veröffentlicht.
10 Die drei Begriffe wurden nicht von Roca verwendet, sondern sind von mir als Zusammenfassung seines Artikels entwickelt.
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len Todesrituale auf kolumbianischen Friedhöfen hin und ist zugleich eine Metapher der beständigen Gefahr für Leib und Leben, dem die Bevölkerung Kolumbiens aufgrund des Konfliktes ausgesetzt ist. 2.) ›Illegale Pflanzen‹: Roca identifiziert Kunstwerke, die umstrittene Naturressourcen wie die Kokapflanze oder die Mohnknospe thematisieren, die als Rohstoffe für der Herstellung von illegalen Drogen Verwendung finden. Bei Nowadays (2001) nutzte der Künstler Miguel Ángel Rojas (geb. 1946, Bogotá) den bekannten Ausspruch des britischen Künstlers Richard Hamilton (19222011), Just what is it that makes today’s homes so different?, und dekorierte diesen, an eine Wand geschrieben, mit kleinen Kreisen von ca. 0,5 Millimeter Durchmesser aus Kokablättern. Er verweist mit dieser Arbeit auf die Vorstellung von der Drogenherstellung und dem Drogenhandel als einem probaten Mittel, zu Wohlstand und finanzieller Sicherheit zu gelangen. 3.) ›Dekonstruktion von kolonialen wissenschaftlichen Abbildungen‹: Die Naturdarstellungen werden dabei von Roca einer alternativen Lesart unterzogen, die Allegorien und Indizien sichtbar machen und/oder koloniale Naturdarstellungen dekonstruieren, was dann zu neuen Blickwinkeln und Assoziationen und schlussendlich zu neuen Ausrichtungen aktueller Sozialkritik führt. Dieser Art der Pflanzendarstellungen widmet sich insbesondere der vorliegende Text. Die drei oben aufgeführten Arten von Pflanzendarstellungen thematisieren aktuelle soziale Probleme Kolumbiens, die im Zusammenhang mit Naturressourcen stehen, und werden von Roca als Folgen eines noch immer existenten kolonialen wirtschaftlichen Systems enttarnt. Im Verlauf des Interpretationsprozesses der Darstellungen kommt es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Südamerikas, wobei insbesondere die Entwicklung eines globalen wirtschaftlichen Systems, gesehen aus der Perspektive der ehemals Kolonialisierten, einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Was bei dieser Art der Bildbetrachtung entsteht, ist ein innovatives Forschungsfeld, innerhalb dessen es die Kunst ermöglicht, Fragen nach unseren Vorstellungen von Nation – die vom Staat beförderte Idee eines Landes mit vielfältigen kulturelle Praxen und einer Diversität der Flora und Fauna seit den 1970er Jahren –11 sowie nach Naturressourcen (Biopolitik) und Wissenschaft unter kulturellen, politischen oder ökologischen Perspektiven zu stellen.
11 Gómez, Arias/Hernán, Diego: Relatos de nación y escuela: Colombia en los imaginarios de docentes en formación, Universidad Distrital Francisco José de Caldas, Bogotá 2017, S. 100, 156.
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D ER V ERKEHR
VON WISSENSCHAFTLICHEN
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A BBILDUNGEN
Einer der Künstler, den José Ignacio Roca innerhalb seiner Untersuchungen in den Blick nimmt, ist José Alejandro Restrepo. Roca weist auf das Interesse Restrepos an den verschiedenen Aspekten der Kolonialgeschichte hin, die bis heute die Eigendarstellung Kolumbiens und seiner Einwohner prägen. Seine Arbeit umfasst das Sichten und Sammeln von Archivmaterialien und deren Darstellung als offenes Archiv im Rahmen seiner Installationen und Ausstellungen. Mit dieser Arbeitsmethode gelingt es ihm, auf Widersprüche oder umstrittene Beschreibungen und Abbildungen der sogenannten Tropen sowie auf Berichte aus ihnen aufmerksam zu machen. Im Rahmen der hier beschriebenen Werkgruppe hebt Roca vor allem die Arbeit El paso del Quindío (Der Weg vom Quindío) aus dem Jahr 1992 hervor (Abb. 1).12 Die mehrteilige Arbeit besteht aus einer Videodokumentation, einer umfassenden Xylografie und der Inszenierung von historischem Archivmaterial, die gemeinsam in einer Installation präsentiert werden. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet eine Radierung von Joseph Anton Koch (1768-1839) aus dem Jahr 1810, in dem er sich mit dem sogenannten El paso del Quindío befasste. Der paso del Quindío ist ein Weg von circa hundert Kilometern Länge, der im hohen Andengebirge zwischen der Siedlung Salento und der Stadt Ibagué verläuft.
Abb. 1: Joseph Anton Koch, El paso del Quindío (Der Weg vom Quindios), 1810
12 Roca, José Ignacio: El Paisaje Interpretado, Bogotá 1999, S. 24.
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Er galt in der Kolonialzeit als der gefährlichste und schwierigste Weg des Nuevo Reino de Granada, des Neuen Königreiches von Granada. Aufgrund der dort herrschenden Wetterbedingungen mit oftmals sehr niedrigen Temperaturen, den Lawinengefahren sowie steilen und tiefen Abgründen, kamen viele Eroberer, Soldaten und gewöhnliche Reisende ums Leben. Die Radierung bildet eine Szene auf diesem Weg ab, bei der mehrere als Cargueros (Menschenträger) bezeichnete Männer und deren ›Passagiere‹ inmitten der typischen Andenlandschaft gezeigt werden.13 Die Cargueros waren kräftige Männer, die seit der Kolonialzeit freiwillig einen Transportdienst anboten. Auf ihren Rücken reisten die Entdecker, Gelehrten und Wissenschaftler aus Europa, aber auch Hispanoamerikaner, wenn die Topografie des Geländes das Reisen auf Maultieren oder Pferden unmöglich machte. Restrepo erarbeitete eine Art kritische Kunstgeschichte, um den Entstehungsprozess dieser Radierung zu erörtern. Er untersuchte zahlreiche aktuelle historiografische Arbeiten sowie Korrespondenzen, originale Publikationen und Abbildungen, die von den Reisenden der Kolonialzeit verfasst worden sind. Dieses historische Material, das zu seiner Entstehungszeit den Naturwissenschaften und später den Geisteswissenschaften zugeordnet wurde, erfuhr durch ihn seine Einführung in die Kunst. Es gelang Restrepo, den Entstehungsprozess der Abbildung als ein kulturelles Konstrukt sichtbar zu machen und den Blickpunkt auf die Verschränkung von wissenschaftlichen Inhalten und künstlerischer Darstellung zu lenken. Die zentrale Frage in Restrepos Untersuchung kreist darum, wie eine Vorstellung von den Tropen konstruiert werden konnte, und in welcher Weise diese das Ergebnis eines ständigen Überganges zwischen wissenschaftlichen Fakten (Objektivität) und künstlerischen Interpretationen (Imagination) in verschiedenen Zeiten ist. Restrepos Werk thematisiert und synchronisiert drei Interpretationsebenen um die Radierung El paso del Quindío. Der Betrachter wird teils mit sich widersprechenden Zitaten und Kommentaren, die die verschiedenen Vorstellungen der Reisenden und Künstler offenbaren, konfrontiert, und die ursprüngliche zeitgenössische Bewertung dieser Radierung als ein objektives wissenschaftliches Dokument erscheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft.14
13 Vgl. Granés, Carlos: La revancha de la imaginación: antropología de los procesos de creación. Mario Vargas Llosa y José Alejandro Restrepo, Madrid 2008, S. 119-159. 14 Die hier angeführten Kommentare von Alexander von Humboldt, Max von Thielmann und José Alejandro Restrepo präsentierte José Ignacio Roca im Ausstellungskatalog von El Paisaje Interpretado. Vgl. Roca: El Paisaje (wie Anm. 12), S. 24.
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Eine erste Interpretationsebene setzt an der Zusammenarbeit von Humboldts mit Joseph Anton Koch an: Koch war einer von vielen Künstlern des 19. Jahrhunderts, die sich mit der Publikation von Reiseberichten aus Südamerika befassten. Die Radierung El paso del Quindío wurde nach den Skizzen von Alexander von Humboldt angefertigt und in Paris zwischen 1810 und 1813 als Abbildung der Publikation Vues des Cordillères et monuments des peuples indigènes de l´Amerique veröffentlicht.15 Von Humboldt und Koch lernten sich nach von Humboldts Rückkehr aus Südamerika in Rom kennen. Für die Ausführung seiner Arbeit erhielt Koch von Humboldts Skizzen, die er unter Berücksichtigung der Kommentare und Berichte des Naturforschers grafisch interpretieren und dann auf Druckplatten übertragen sollte. Restrepo thematisiert den problematischen Übergang zwischen wissenschaftlicher Recherche beziehungsweise wissenschaftlichen Inhalten und künstlerischer Darstellung in einem Kommentar, den er dem Reisetagebuch von Humboldts von 1810 entnommen hat. Von Humboldt zeigt sich darin sehr unzufrieden mit der Darstellung Kochs. Seiner Meinung nach habe der Künstler eine zu freie und ungenaue Interpretation seiner Skizze hergestellt.16 Sie bilde eine »heroische Landschaft«17 ab, deren Gipfel und Berge mit der Siedlung Ibagué bekannten griechischen Landschaften nachgeformt sei. Die zweite Ebene der Interpretation liegt im Übergang von der Bearbeitung Kochs zur Beurteilung durch den deutschen Diplomaten und Politiker Max von Thielmann (1846-1929). In seinem Werk Vier Wege durch Amerika (1879) berichtet er über den »Süden von Kolumbien«. Dabei ist eine detaillierte Beschreibung der Quindío-Region zu finden, angefertigt zur Reise von Bogotá nach Quito. Wahrscheinlich wanderte von Thielmann selbst über den paso del Quindío.18 Hier stellt Restrepo der vorangegangenen Bemerkung von Humboldts einen Kommentar von Thielmanns gegenüber. Jahre nach der Fertigstellung und Veröffentlichung der Radierung schrieb dieser in seinem Reisewerk Vier Wege durch Amerika, dass die künstlerische Umsetzung des El paso del Quindío von Humboldts nur nach dessen Erinnerungen entstanden sei und nicht der realen Situation des Ortes entspreche. Vor allem unterstreicht von Thielmann, die abge-
15 Misch, Jürgen: Ciencia y Estética. Reflexiones en torno a la representación científica y representación artística de la naturaleza en la obra de Alexander von Humboldt, in: Cuesta Domingo, Mariano/Rebok, Sandra (Hg.): Alexander von Humboldt. Estancia en España y viaje americano, Madrid 2008, S. 279-297. 16 Restrepo erwähnt nicht, ob die Skizzen erhalten sind. 17 Misch: Ciencia y Estética (wie Anm. 15), S. 279. 18 Vgl. von Thielmann, Freiherr Max: Vier Wege durch Amerika, Leipzig 1879, S. 372.
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bildete Siedlung befinde sich an der falschen Stelle, vielmehr seien der Gipfel Tolima in der linken oberen Bildhälfte und die Siedlung Ibagué auf der linken Seite darunter in realitas von der Position des Zeichners aus zu sehen.19 In einem dritten Interpretationsschritt, von Max von Thielmann zu Restrepo selbst, fügte der Künstler wiederum seinen eigenen Kommentar hinzu, mit dem er der Anmerkung von Thielmanns widerspricht. Restrepo begab sich mehr als hundertfünfzig Jahre nach von Humboldt auf denselben Weg. Wie zu Kolonialzeiten und ebenso wie Alexander von Humboldt ließ er sich 1991, von einem Carguero auf dem Rücken getragen, den paso del Quindío entlang befördern. Im Laufe seiner mehrtägigen Reise entstanden eine Videodokumentation und ein Reisetagebuch. In Letzterem notierte er, dass nach seiner Beobachtung die Beschreibung Max von Thielmanns weit entfernt von der Realität sei.20 Die Vorstellung von den Tropen ist ein Resultat, das aus einer ständigen und beidseitigen Adaptation und Anpassung von wissenschaftlichen Fakten (Objektivität) und künstlerischer Interpretation (Imagination) entsteht. Indem er verschiedene Quellen zu ein und demselben Bild nebeneinander ausstellt und in Beziehung zueinander setzt, thematisiert Restrepo auf einer grundlegenden Ebene die Bedeutung der Begriffe Objektivität und Imagination. Sichtbar gemacht wird vor allem die Fragilität eines wissenschaftlichen Ideals wie Objektivität, die diesen Abbildungen lange Zeit zugesprochen wurde. Inwiefern hat Koch unter ästhetischen Gesichtspunkten die Skizze von Humboldts frei interpretiert, wie weit hat von Humboldt den Maßstab verändert, so dass Objekte und Orte nicht korrekt im Bild verortet wurden, und neue Elemente der Flora und Fauna eingefügt. Wie genau hat von Thielmann über den Ort berichtet und wie objektiv ist die Erfahrung Restrepos auf seiner Reise. Dies sind Fragen, mit denen neben der Objektivität auch die Bedeutung ästhetischer Kriterien bei der Erstellung wie auch der Rezeption der Radierung El paso del Quindío unterstrichen wird.21
19 Vgl. Granés, Carlos: La revancha de la imaginación: antropología de los procesos de creación. Mario Vargas Llosa y José Alejandro Restrepo, Madrid 2008, S. 119-159. 20 Roca, José: Miradas contemporáneas del paisaje, in: Roca: El Paisaje (wie Anm. 12), S. 24. 21 José Alejandro Restrepo hat seine Untersuchung bereits veröffentlicht. Darin werden weitere solcher Missverständnisse bzw. Ungenauigkeiten in den Fokus genommen. Außer dem El paso del Quindío werden auch die Radierung El cocodrilo de Humboldt no es el cocodrilo de Hegel und die Musa Paradisíaca, eine Arbeit zu einer botanischen Radierung, untersucht. Musa Paradisíca evoziert vielfältige Vorstellungen des Paradieses im Zusammenhang mit den Tropen. Vgl. Restrepo, José Alejandro: Musa
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Die Naturdarstellungen der Kolonialzeit als objektive Abbildungen werden von Restrepos Arbeit insgesamt dekonstruiert und erweisen sich einmal mehr als kulturelle Konstrukte und weniger als wissenschaftliches Anschauungsmaterial. Die Radierung des El paso del Quindío eröffnet den Blick auf einen historischen Diskurs, der durch angebliche wissenschaftliche Methodik lange Zeit seine Gültigkeit behielt.
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Seit dem Jahr 2000 läuft das Projekt Herbario de plantas artificiales (Herbarium künstlicher Pflanzen) des Künstlers Alberto Baraya (geb. 1968, Bogotá), in dem er sich vor allem mit der Übertragung und Implementierung von naturwissenschaftlichen Methoden in die künstlerische Praxis auseinandersetzt (Abb. 2). Dabei interpretiert er das Format eines Herbariums und die Methoden der Forschungsreise Real Expedición Botánica del Nuevo Reino de Granada (Königliche Botanische Expedition des Neuen Königreichs von Granada), die durch die heutigen Länder Kolumbien, Ecuador, Venezuela, Costa Rica und Panama führte, neu. In zwei Phasen fand die Real Expedición Botánica del Nuevo Reino de Granada (1783-1808 und 1818-1816) statt. Die spanischen Kolonialgebiete wurden von einer großen Zahl europäischer und hispanoamerikanischer Wissenschaftler bereist, unter ihnen der Priester José Celestino Mutis (1732-1808) und Francisco José de Caldas (1768-1816). Dabei entstand unter anderem eine Vielzahl an botanischen Abbildungen. Die Pflanzenwelt wurde in detaillierten und faszinierenden Zeichnungen und Aquarellen von verschiedenen Künstlern dargestellt. Das Format dieser Abbildungen erinnert an das Format eines Herbariums, da die Bilder eine Art Trompe l’œil von gepressten Pflanzenteilen zeigen. Mit der Veröffentlichung dieser Abbildungen wurden erstmalig in Spanien circa zwanzigtausend neue Pflanzenarten der Kolonien als Ergebnis einer systematischen und umfassenden Recherche präsentiert, deren natürliche Ressourcen ein großes Potenzial für die Wirtschaft, Landwirtschaft und Viehhaltung der Kolonialherren bedeuteten. Analog zu den Zielen der Real Expedición Botánica del Nuevo Reino de Granada ist das Ziel Barayas eine wissenschaftliche Erfassung der Pflanzenwelt, die das Sammeln, die Klassifizierung, die Archivierung und Analyse umfasst.
paradisiáca: apuntes para una investigación, una video-instalación, Santafé de Bogotá 1997.
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Abb. 2: Alberto Baraya, Herbario de plantas artificiales – Orquídea corta amarilla (Herbarium künstlicher Pflanzen – Kleine gelbe Orchidee), 2012. Auf der Abbildung ist zu lesen: Blumen-Typ Orchidee: Draht, Seide, Plastik, Polystyrol, Farbe, Papier
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Baraya allerdings sammelt weltweit künstliche Pflanzen aus Stoff oder Plastik, wobei bis heute ein riesiges Herbarium entstanden ist. Die künstliche Flora wird von Baraya selbst gesammelt, sie kann aber auch von anderen Interessierten gespendet werden. Wenn eine neue Pflanze vorliegt, wird sie systematisch erfasst, auf Karton befestigt, bestimmt und katalogisiert, Sammlungsort sowie Sammlungsdatum werden festgehalten. Ein parallel aufgebautes Archiv, das zahlreiche Dokumente und Fotografien umfasst, die unterschiedliche künstliche Pflanzen und ihre Verwendung als Ornamente und Dekor im Alltag zeigen, wird kontinuierlich erweitert. Archiviert sind beispielweise Fotografien von Blumen und Pflanzendekorationen in Innenräumen wie einem Restaurant oder auch einer Arztpraxis. Außerdem befindet sich im Archiv fotografisches Material, das die Pflanzen als ›grafische Muster‹ im Alltag (Tattoo-Vorlagen, bedruckter Stoff) dokumentiert. Baraya nimmt durch das Sammeln von mehr als zwanzigtausend Verwendungen von Pflanzen die Rolle eines zeitgenössischen ›Wissenschaftlers der visuellen Anthropologie‹ ein. Fragen nach unserer Beziehung zur künstlichen Flora rücken so in den Blick: nach unserem Bewusstsein für eine visuelle Simulation von Natur und nach den Priorisierungen jener Art von Natur, mit der wir uns umgeben, realen Pflanzen oder einer dem Anschein nach natürlichen Umwelt. Zudem schließt sich die Frage an, inwiefern ein grafisches Muster die Vorstellung von einem realen Bezug zu Pflanzen und zur Natur insgesamt abzubilden vermag.22 Baraya zeigt in seinen Ausstellungen das Herbarium und das Archiv, eingebettet in eine künstliche florale Umwelt, die in Form einer Rauminstallation an den Wänden botanische Abbildungen präsentiert. Ergänzend wird das Archivmaterial in Vitrinen ausgestellt oder aber in einem offenen Aktenschrank dargeboten, so dass die Besucher es selbst untersuchen können. Außerdem ist der Ausstellungsraum mit künstlichen Blumen, Blumensträußen und Pflanzen dekoriert. Die Wahrnehmungsebenen, Objekte der Installation, Elemente des Ausstellungsraumes, natürliche und künstliche Flora, sind bei dieser Form der Inszenierung für die Betrachter weniger eindeutig zu differenzieren.23 Bedeutsam war die Präsentation dieser Rauminstallation im Rahmen der 8. Berlin Biennale im Jahr 2014, als das Herbario de Plantas Artificiales im Ethnologischen Museum Dahlem präsentiert wurde, subtil eingefügt in die Vitrinen der lateinamerikanischen ethnologischen Sammlung. Auf ihrem Rundgang trafen die Besucher einer Ausstellung zu den Azteken oder den Maya plötzlich
22 Vgl. Ardila Luna, Oscar Mauricio: Anexo 2. Entrevista con Alberto Baraya, Mai 2006, in: Ardila Luna: La imposibilidad (wie Anm. 7), S. 163-171. 23 Vgl. ebd.
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auf diese Vitrinen mit den Pflanzen des Herbariums sowie auf das dazugehörige Archivmaterial, deren Objekte keinen zeitlichen oder thematischen Bezug zum museologischen und ethnologischen Konzept hatten. Die Inszenierung des Herbariums umfasste botanische Abbildungen und Proben, die als ethnologische Exponate präsentiert wurden und in ihrem unvermittelten Nebeneinander eine Art von Widerspruch zwischen den Begrifflichkeiten und Charakterisierungen der Natur in Kunst und Wissenschaft, also zwischen Objektivität und Imagination zutage trugen. Baraya hinterfragte in seiner Arbeit die Funktion eines Museums zur Legitimierung von tradierten Diskursen und kulturellen Konstrukten. Er stellt in ihr die Tradition und Hegemonie von wissenschaftlichen Diskursen zur Disposition. Obwohl im Voraus klar ist, dass sich die Arbeit mit von Menschenhand geschaffenen und industriell hergestellten Pflanzen beschäftigt, erzeugen das Herbarium und die dekorierte Umgebung eine derart real erscheinende Täuschung, dass die Besucher versuchen, echte von falschen Pflanzen zu unterscheiden. Es geht allerdings tatsächlich um eine fiktive Natur, um eine vollkommen fremderschaffene Umwelt, da alle Pflanzen und die Dekoration aus Plastik bestehen. Im Ergebnis wird die Wissenschaft als objektive Erbringerin von Fakten relativiert, da es Baraya gelingt, die Darstellung einer Fiktion als Wahrheit zu präsentieren, also artifizielle Pflanzen als natürliche Pflanzen.24 Im Rahmen seines Projektes untersucht Baraya im Weiteren die Übertragung wissenschaftlicher Naturdarstellungen auf den kulturellen Bereich. Es geht ihm hierbei um die Umdeutung von Abbildungen, die ursprünglich in einem wissenschaftlichen Zusammenhang standen, mit der Zeit jedoch vor allem Sammlungs- und Dekorationsobjekte wurden.25 Baraya beleuchtet diesen Wandel in der Funktion von Abbildungen im 20. Jahrhundert in Kolumbien, bei dem sie in den Rang von repräsentativen Nationaldarstellungen Kolumbiens gelangten. Offizielle Einrichtungen des Staates verwendeten die Abbildungen der Real Expedición Botánica del Nuevo Reino de Granada, um der kolumbianischen Bevölkerung die vielfältige Flora des Landes vor Augen zu führen. So wurden in den 1970er Jahren viele Drucke dieser Abbildungen hergestellt und überall im Land ausgestellt.26 Sie fanden sowohl als pädagogisches Lehrmaterial als auch als Erinnerungsbilder Verwendung und erfuhren durch ihre massenhafte Verbreitung im öffentlichen wie im privaten Bereich eine starke Popularisierung.
24 Vgl. Cerón, Jaime: Representaciones culturales de Alberto Baraya, in: Alberto Baraya, Bogotá 2006, S. 2-8. 25 Vgl. Ardila Luna: Anexo 2 (wie Anm. 22), S. 163-171. 26 Vgl. ebd.
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Das Projekt Herbario de plantas artificiales macht die schwierige Grenzziehung zwischen Objektivität und Imagination sichtbar. Es zeigt einerseits, inwieweit unsere Vorstellung von Objektivität ein sprachliches und visuelles Konstrukt ist. Die erschwerte Unterscheidbarkeit zwischen den künstlichen und den natürlichen Pflanzen, die sich bei den Betrachtern einstellt, ist das Resultat einer Inszenierung und einer Verschleierung von fiktiven (imaginativen) Inhalten, die unseren Erfahrungen und Gewohnheiten von wissenschaftlichen Inhalten entsprechen. Andererseits stellt die Untersuchung einer Verbreitung von Abbildungen als kulturelles Nationalprojekt den Übergang zwischen Objektivität und Imagination heraus. Deutlich wird hierbei, dass sich für die botanischen Abbildungen abseits ihrer bekannten Lesart als wissenschaftliche Dokumente viele weitere Lesarten finden lassen, die ihrerseits in unterschiedlichen Kontexten zahlreiche Interpretationen zulassen.
S CHLUSSWORT Anhand der ausgewählten Beispiele aus der kolumbianischen Gegenwartskunst treten historische Dokumente und Abbildungen der Kolonialzeit als diskursive und kulturelle Konstruktionen zutage, die bis heute vielfältige Wirkung zeigen und Lateinamerika in seinen sozialen und kulturellen Aspekten geprägt haben. In diesem Zusammenhang beschreibt sich mit dem Adjektiv ›postkolonial‹ auch eine Haltung kulturellen Widerstandes, die sich in der Sichtbarmachung festgeschriebener, hegemonischer Diskurse in Wissenschaft und Geschichte ausdrückt. Der lange Zeit dominierende Diskurs wird jetzt dekonstruiert und zeigt sich plötzlich ambivalent. Der kulturelle Widerstand manifestiert sich auf zwei Ebenen. Bezogen auf eine kulturpolitische Ebene haben kolumbianische Künstlerinnen und Künstler durch Neuinterpretation kolonialer Darstellungen eine kritische Position entwickelt. Anstelle einer direkten Kritik an den ehemaligen Kolonialherren, beleuchten sie jedoch verschiedene Aspekte der Nationaldarstellung in Kolumbien. Das Infragestellen einer naturalisierten Gesellschaftsordnung, wie der Kunstkritiker José Ignacio Roca bezüglich der sozialen Trennungen seit der Kolonialzeit anmerkt, führt der Gesellschaft vor Augen, dass viele der heutigen sozialen Probleme aus einer kulturellen Tradition heraus entstanden sind. Auf einer anderen Ebene beschäftigen sich Künstlerinnen und Künstler mit ökonomischen wie biopolitischen Aspekten der Naturressourcen. So werden die aktuellen Beziehungen zwischen Nord- und Südländern in einen Bezug zu den längst global auftretenden Problemen des Umweltschutzes gesetzt. Zudem er-
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örtern sie Macht und Reichweite der Wissenschaften, deren als einwandfrei und objektiv geltende Methoden in Fächern wie der Taxonomie, der Ethnografie und der Botanik trotzdem partikulare Interessen und Hierarchien befördert haben, die noch bis in unsere Zeit hineinwirken.27 Die Präsentation von Geschichte als einer diskursiven Konstruktion von José Alejandro Restrepo oder der fließende Übergang von einem wissenschaftlichen in ein kulturelles Projekt bei Alberto Baraya sind Beispiele, die Widersprüche in historischen Inhalten beziehungsweise Vorstellungen offenlegen und die Trennlinie zwischen Natur und Kultur, Objektivität und Imagination auflösen. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert interpretieren diese Künstler verschiedene wissenschaftliche Inhalte. Allerdings wird Wissenschaft heute aus einer historischen Perspektive anders beurteilt. Wissenschaftliche Fakten werden durch die Sichtbarmachung eines andauernden Deutungs- und Umdeutungsprozesses relativiert, um ihren Einfluss als diskursive und kulturelle Konstrukte in der Gegenwart kritisch zu betrachten.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Ausst.-Kat. El Paisaje Interpretado, Banco de la República, Bogotá 1999, S. 24 Abb. 2: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
27 Vgl. Cerón, Jaime: Representaciones culturales de Alberto Baraya, in: Alberto Baraya, hg. von Unión de Bancos Suizos (UBS), Bogotá 2006, S. 2-8.
Die Geschichte der Natur und die Gegenwart der Kunst Zu Werken von Anicka Yi, Lu Yang und Camille Henrot
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Naturgeschichte ist ein problematischer Begriff – und das nicht erst, seit Wolf Lepenies vor vierzig Jahren ihr »Ende«1 beschrieben hat. Die klassische Naturgeschichte als Teil der philosophischen Naturbetrachtung und Praxis des isolierenden, klassifizierenden und gleichsam sistierenden Ordnens von Pflanzen, Tieren und Mineralien wich Lepenies’ vielzitiertem Buch zufolge im Ausgang der Aufklärung dem Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der Natur, von der zeitlichen Entwicklung ihrer Erscheinungsformen und von den dynamischen Prozessen, die nicht nur der Entstehung neuer Arten, sondern auch der Entwicklung des menschlichen Wissens zugrunde liegen. Stetig wachsende Wissensbestände, vor allem fossile Funde, legten die Annahme einer Veränderlichkeit der Arten nahe, die Transformationstheorie Jean-Baptiste de Lamarcks (1744-1829) und die Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882) stellten die Bedeutung der Umwelt für deren Entwicklung heraus. Die von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788) und Louis Daubenton (1716-1799) ab 1749 herausgegebene vielbändige illustrierte Naturgeschichte Histoire naturelle générale et particulière hatte die Fülle der Naturerschei-
1
Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften, München 1976.
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nungen auf erzählerisch-beschreibende Weise anschaulich gemacht.2 Ihre literarische Qualität brachte Buffon zwar hohe Anerkennung ein, jedoch auch den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, galt doch das binäre taxonomische System, das Carl von Linné (1707-1778) zur gleichen Zeit publizistisch durchzusetzen begann, als objektiveres und methodologisch avancierteres Verfahren der Naturdarstellung.3 Wenngleich Linnés rigide systematische Klassifikation der ›drei Naturreiche‹ der Variabilität der Arten und der Prozessualität des Lebens nicht gerecht wurde, sahen die Zeitgenossen ihn als Erneuerer der naturgeschichtlichen Praxis, die in eine Phase der Verwissenschaftlichung eingetreten war.4 Michel Foucault hat geschildert, wie sich der fragmentierende Blick der klassischen Naturgeschichte an der Epochenschwelle um 1800 als ungenügendes Instrument erwies, um die gewachsenen Wissensbestände und ihre Zusammenhänge in eine überschaubare Ordnung zu bringen.5 Im sich solcherart im Übergang zum 19. Jahrhundert vollziehenden epistemologischen Umbruch von der Klassifikation der ›Lebewesen‹ hin zur Erforschung des ›Lebens an sich‹ ist denn auch die Vorstellung von der Ablösung der Naturgeschichte durch die Biologie beziehungsweise von ihrer Auflösung in eine Reihe naturwissenschaftlicher Einzeldisziplinen (Zoologie, Botanik, Paläontologie, Mineralogie, mit folgender weiterer Differenzierung) aufgehoben. Naturgeschichte als Bezeichnung einer auch durch Laien und Amateure verfolgten Tätigkeit des Sammelns, Ordnens und Beschreibens von Naturbeständen ist somit in der Geschichte wiederholt verabschiedet worden und weist insofern einen deutlichen Vergangenheitsbezug auf. Ihre materiellen Zeugnisse füllen die Säle und Depots vor allem westeuropäischer und US-amerikanischer Naturkundemuseen, sie erzählen von vergangenen imperialistischen Fantasien unendlichen Wachstums und Fortschritts in politisch-ökonomischer wie wissenschaft-
2
Dt.: De Buffon, Georges-Louis Leclerc: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller, Hamburg/Leipzig 1750-1774.
3
Vgl. Lepenies, Wolf: Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert: Linné, Buffon,
4
Vgl. Müller-Wille, Staffan: Ein Anfang ohne Ende. Das Archiv der Naturgeschichte
Winckelmann, Georg Forster, Erasmus Darwin, München/Wien 1988, S. 149. und die Geburt der Biologie, in: van Dülmen, Richard/Rauschenbach, Sina/von Engelberg, Meinrad (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Wien/Köln/Weimar 2004, S. 587-605, hier S. 603-605. 5
Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 165-210 (Originalausgabe: 1966).
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lich-epistemologischer Hinsicht und sind im Kontext heutiger Naturforschung selbst museal geworden.6 Als historisches Wissensgefüge, als institutionelle und diskursive Praxis ist Naturgeschichte seit den 1990er Jahren ihrerseits zum Gegenstand einer kultur- und umweltanthropologisch orientierten Wissenschaftsgeschichte geworden.7 Dabei kann nicht übersehen werden, dass nicht nur die Naturgeschichte, sondern die Natur selbst ein vieldeutiges und historisch wandelbares Konzept ist – mehr noch, wenn dieses kultur- oder kunsttheoretisch perspektiviert wird. Achtzehn verschiedene Sinnebenen identifizierte etwa im Jahr 1927 der Historiker Arthur O. Lovejoy (1873-1962), denen die Begriffe »Natur / natürlich« im Kontext ästhetischer Diskurse von der Antike bis ins 18. Jahrhundert – und damit vor dem Reflexionshorizont ihrer normativen Funktion in eben diesen Diskursen – zugeordnet würden. Als Maßstab ästhetischen Handelns und künstlerisch zu imitierendes Vorbild, als System ›selbstverständlicher Wahrheiten‹ auch im Hinblick auf moralische Werturteile, als Immer-schon-Dagewesenes, kosmische Ordnung und schöpferische Instanz (natura naturans) figurierte die Natur Lovejoy zufolge als »ästhetische Norm« der abendländischen Kultur.8 Schon Cicero hatte eine erste, von der menschlichen Hand unberührte, von einer zweiten, durch Ackerbau und ähnliche Eingriffe gekennzeichneten Natur unterschieden; für deren ästhetische Überformung in Landschaftsgärten wurde schließlich die Formel von der ›dritten Natur‹ geprägt.9 Die ästhetische Normativität der Natur geriet als Konzept im 19. Jahrhundert immer mehr unter Druck. Wissensgeschichtlich verdrängten Experimente das Klassifizieren der Taxonomen. Die Methode der exakten Beobachtung, nunmehr fortgeführt in den modernen Laboren
6
Vgl. Secord, James A.: The Crisis of Nature, in: Jardine, Nicolas/ders. (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 447-459, hier S. 449: »Within the realm of scientific practice, the term ›natural history‹ is now itself something of a museum specimen«.
7
Vgl. Jardine, Nicolas/Secord, James A. (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996; und jüngst: Eine Naturgeschichte für das 21. Jahrhundert. Zu Ehren von HansJörg Rheinberger, hg. v. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Abteilung III, Berlin 2014.
8
Vgl. Lovejoy, Arthur O.: »Nature« as Aesthetic Norm, in: Modern Language Notes Vol. 42, No. 7, November 1927, S. 444-450, bes. S. 445-447.
9
Vgl. Whiston Spirn, Anne: The Autority of Nature: Conflict and Confusion in Landscape Architecture, in: Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Nature and Ideology. Natural Garden Design in the Twentieth Century, Washington, D. C. 1997, S. 249-261, hier S. 260.
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der Physiologen und Chemiker, geriet zum Vorbild für Literatur und bildende Kunst. Die genaue sprachliche und malerische Wiedergabe von Landschaften und Menschen in ihrer nicht nur ökologischen, sondern primär physisch-sozialen ›Umwelt‹ wurde zur Leitidee eines wissenschaftlich informierten ästhetischen Naturalismus.10 Die Naturwissenschaften interessierten sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr primär für das ›Wesen‹ der Natur, sondern für die Möglichkeiten ihrer industriellen Nutzbarmachung. Als einer der ersten hat Karl Marx die industriell-technisch geformte Umwelt als entfremdete Natur beschrieben; in der Folge spricht Georg Lukács von der »zweite[n] Natur der Menschengebilde« als »erstarrte[m], fremdgewordene[n], die Innerlichkeit nicht mehr erweckende[n] Sinneskomplex«.11 Energiekrisen, Umweltverschmutzungen und die zunehmenden Anzeichen eines Klimawandels haben in der jüngsten Vergangenheit schließlich den Naturbegriff zu einem im Verschwinden befindlichen historischen Konzept werden lassen, wie die Schlagworte »Krise der Natur«, »Neuerfindung der Natur« oder »Abschied von der Natur« nahelegen.12
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Künstlerinnen und Künstler reagierten auf diese Krisenhaftigkeit des Naturbegriffs, indem sie wiederum Praktiken und Darstellungsprinzipien aus den Naturwissenschaften übernahmen: Das Sammeln und Ordnen, Sezieren und Präparieren, Konservieren und Dokumentieren von (tatsächlichen oder fiktiven) Naturobjekten wurden in den 1990er Jahren beliebte künstlerische Verfahrensweisen, die auf aktuelle Forschungsdebatten der Ökologie, Gen- und Biotechnologie reagierten. Dabei stellten sie oftmals ironisch die Frage nach dem Verhältnis von
10 Vgl. Williams, Raymond: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, rev. ed., New York 1983, S. 216-219 (Stichwort »Naturalism«). 11 Vgl. Schiemann, Gregor: Einführung, in: ders. (Hg.): Was ist Natur? Klassische Texte zur Naturphilosophie, München 1996, S. 10-46, hier S. 37-38, sowie den Abschnitt zu Karl Marx, ebd., S. 181-195; Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 54, zit. nach: Adorno, Theodor W.: Die Idee der Naturgeschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Philosophische Frühschriften, hg. von Rolf Tiedemann, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 345-365, hier S. 356-357. 12 Vgl. Secord: The Crisis of Nature (wie Anm. 6); Cronon, William (Hg.): Uncommon Ground: Toward Reinventing Nature, New York 1995; Bohnke, Ben-Alexander: Abschied von der Natur. Die Zukunft des Lebens ist Technik, Düsseldorf 1997.
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Abb. 1: Anicka Yi, When Species Meet 1–3, Installationsansicht Jungle Stripe, Fridericianum Kassel, 2016 naturwissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis, von empirischem und implizitem Wissen.13 Das künstlerische Hinterfragen naturwissenschaftlicher Objektivitäts- und Autoritätsansprüche war seinerseits vorbereitet und flankiert von wissenschaftshistorischer und -soziologischer Kritik am anthropozentrischen Denken der westlichen Naturwissenschaften. So stellte die Wissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway dem positivistischen Ideal der Objektivität das Konzept des ›situierten Wissens‹ entgegen, das sich der ›Partialität‹, mithin der Bedingt- und Beschränktheit jedes wissenschaftlichen Ansatzes bewusst ist, und betonte das emanzipatorische Potenzial neuer Bio- und Kommunikationstechnologien.14 Die Akteur-NetzwerkTheorie (ANT), als deren prominentester Vertreter hierzulande Bruno Latour gelten darf, entwickelte ebenfalls seit den 1980er Jahren einen techniksoziologischen Ansatz, der menschliche Aktivität in Korrelation mit agierenden ›nicht-
13 Vgl. Witzgall, Susanne: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Nürnberg 2003. 14 Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./New York 1995 (Originalausgabe: 1991), darin vor allem der Aufsatz »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, S. 73-97.
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menschlichen‹ Entitäten versteht: mit Tieren, aber auch unbelebten materiellen Objekten.15 Die Vorstellung eines nicht-menschlichen Handlungspotenzials (agency) hat in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur kunstwissenschaftlich Folgen gezeitigt – dort vor allem in der Berücksichtigung der materialästhetischen und -semantischen Aspekte von Kunstwerken. Sie lässt sich zuallererst in der künstlerischen Praxis selbst als Hinwendung zu materialbasierten und prozessorientierten Arbeitsweisen beobachten, wobei im künstlerischen Streben nach der Auflösung strikter Dichotomien (Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, Form/Materie, Mensch/Maschine) eine implizite Parallelität zu theoretischen Praktiken und Diskursen angelegt scheint. Eher selten wird diese explizit gemacht, wie in Anicka Yis (geb. 1971, Seoul) Installationen When Species Meet 1–3 von 2016, die im Titel auf den gleichlautenden Essay Donna Haraways Bezug nehmen, der den Fokus auf Interaktionsprozesse in menschlichen/nicht-menschlichen Begegnungen richtete (Abb. 1).16 Mit Kunstfell überzogene Acrylrohre sind hier zu käfigartigen Räumen montiert. Im Inneren befestigte gläserne Rundkolben verweisen auf das Labor als wissensgeschichtlich exponierten Ort, dessen Anordnung und Aufbau nach Überzeugung der ANT das experimentell hergestellte Wissen immer schon grundlegend mit-gestaltet, während die fellbesetzten Gitterstrukturen auf die bei Haraway beschriebenen Resozialisierungsmaßnahmen in US-amerikanischen Gefängnissen erinnern, in denen straffällig gewordene Menschen mit Hunden in gegenseitiger Abhängigkeit zusammenleben. Der menschliche Erziehungserfolg beim Tier entscheidet dort über seine gesellschaftliche Rehabilitierung, während verhaltensauffälligen Hunden der Tod droht. In Yis tierlich konnotierten Zellen bleibt der Mensch auffällig abwesend, sein ordnender Zugriff auf die Natur wird als unzulänglich oder kontingent ins Bewusstsein gerufen: Die natürlichen Pendants der überlebensgroß aus rhizomähnlichen Strukturen emporragenden Pilzobjekte im Zentrum der Käfige entziehen sich der tradierten naturgeschichtlichen Klassifikation in drei Reiche. Wurden Pilze historisch den Pflanzen zugeordnet, so bilden sie heute ein eigenständiges Reich und werden mit tierlichen Organismen verglichen. Größtenteils unterirdisch wachsend, ist überdies erst ein Bruchteil der existierenden Pilzarten bislang beschrieben, die folglich eine dem wissenschaftlichen Zugriff noch weitgehend entzogene Lebensform darstellen. Als Teil einer Einzelausstellung Anicka Yis im Fridericianum Kassel formulierte
15 Vgl. einführend: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. 16 Haraway, Donna: When Species Meet, Minneapolis 2007 (Posthumanities, Vol. 3), S. 69-94.
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Abb. 2: Lu Yang, UterusMan, 2013 (video still) When Species Meet 1–3 somit natürliche und kategoriale Übergänge und Hybridformen, die in weiteren Exponaten wie künstlichen Bienenwaben sowie überund dreidimensionalen Pflanzenstudien aus Kunstblumen thematisiert wurden. Die Begleitpublikation enthielt einen Essay des brasilianischen Sozialanthropologen Eduardo Viveiros de Castro, der gegenüber der »anthropozentrische[n] Orthodoxie, die an der kosmologischen Sonderstellung des Menschen festhält [...]«, zugunsten des ontologisch und epistemologisch unbegrenzten »multinaturellen Perspektivismus« indigener Völker Südamerikas argumentiert: »In dieser Welt sind alle Wesen und Dinge potenzielle Subjekte.«17 Yis Bekräftigung einer nicht-eurozentrischen Naturgeschichte und ihre Akzentuierung der in der westlichen Ästhetik lange ausgeblendeten, nicht-visuellen (olfaktorischen, haptischen) Sinneswahrnehmungen unterscheiden dabei materialsprachlich nicht zwischen natürlichen und synthetischen Stoffen und Phänomenen. Ihre Werke tragen biotechnologischen Entwicklungen ebenso Rechnung, wie sie sich digitalisierter Produktions- und Darstellungsweisen bedienen. So wie bei Yi organische und nicht-organische Materialien unerwartete Verbindungen eingehen können, so setzen auch die digitalen Bilderzählungen der Gegenwartskunst oft unerwartete biologische Transformationsprozesse ins Bild.
17 Viveiros de Castro, Eduardo: Über den Begriff der Spezies in Geschichte und Anthropologie, in: Pfeffer, Susanne (Hg.): Anicka Yi. Jungle Stripe, Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung, Fridericianum, Kassel 2016, S. 14-20, hier S. 18.
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Der auf Tiere und Pflanzen gerichteten spekulativen biofiction Anicka Yis lässt sich der 3D-Animationsfilm UterusMan (2013) von Lu Yang (geb. 1984, Shanghai) zur Seite stellen, der seinerseits eine menschliche Körperfiktion ins Bild setzt (Abb. 2).18 Ausgehend vom realen Fall eines asexuellen japanischen Künstlers verfügt hier ein äußerlich geschlechtsloser, martialisch gekleideter AnimeCharakter über umfunktionierte weibliche Geschlechtsorgane, die ihm im Kampf gegen abstrakte äußere Mächte als Waffen und zur Energieversorgung dienen. Menstruationsblut wird zu Treibstoff, die Nabelschnur zur Peitsche, ein Neugeborenes schließlich zur entscheidenden, monströsen Waffe. Sollte der Cyborg UterusMan für die menschliche Spezies schlechthin stehen, so wurde deren Selbstzerstörungstrieb selten greller und offensichtlicher ins Bild gesetzt, richten sich seine Attacken doch sämtlich ins Leere, und das technoide Setting seiner Kämpfe ist ein überaus unwirtlicher futuristischer Ort. Anatomisches und embryologisches Wissen ist den Bildern im Modus von Computerspiel-Sequenzen eingeschrieben, ein treibender Techno-House-Beat erinnert an die Synergien der Anime-, Musik- und Video-Industrien; tatsächlich existiert Lu Yangs Arbeit auch als Computerspiel. Das naturgeschichtliche Wissen vom Körper, seit der Renaissance in unzähligen anatomischen Bildatlanten und medizinischen Handbüchern tradiert, wird in atemberaubender Geschwindigkeit visuell gesampelt und innerhalb der filmischen Narration nicht primär der gesundheitlichen ›Optimierung‹ des menschlichen Organismus zugeführt, sondern als biotechnologisches Waffenarsenal funktionalisiert. Einen ähnlich unromantischen Blick richtet die Künstlerin auf reale Tierkörper in der – wiederum an der popkulturellen Ästhetik von MTV-Clips orientierten – Videoarbeit Reanimation! Underwater Zombie Frog Ballet (2011). Sechs Minuten lang lässt sie darin sezierte Frösche in einem Aquarium über elektrische Impulse zu Technobeats ›tanzen‹. Wenngleich Luigi Galvanis berühmte, wenn auch widerlegte Experimente zur Tierelektrizität aus dem späten 18. Jahrhundert ostentativ Pate stehen, so ist die treibende Instanz der makabren Installation kein naturkundliches Interesse, sondern die Geste der Kontrolle, wie sie buchstäblich in der digitalen Quelle der Elektro-Impulse, dem von einem maskierten Laboranten bedienten MIDI-Controller neben dem Aquarium, verortet ist. Das technologische Equipment, dessen Steuerungsmechanismus nach dem sogenannten Mas-
18 UterusMan, 2013, 3D-Animation, HD-1080p-Video, Musik von Square Loud, 11:20 Min. Das Werk war zusammen mit einer Computerspielversion (UterusMan game, 2014) im Jahr 2014 Teil der Ausstellung »Inhuman« im Fridericianum, Kassel. Dieses und das im Folgenden besprochene Video Reanimation! Underwater Zombie Frog Ballet finden sich auf der Internetseite vimeo.com.
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ter-Slave-Prinzip funktioniert und somit als Modell für hierarchisch strukturierte Kommunikationsprozesse gelten kann, ruft potenziell weiter reichende Überlegungen über die technologische Formierung des menschlichen Informations- und Wissensaustauschs oder die digitale Steuerung von Meinungsbildungs- und Erkenntnisprozessen auf. Die Inszenierung toter Tierleiber im Aquarium rekurriert zugleich auf die unterhaltende Dimension naturwissenschaftlicher Experimentalkultur,19 über deren geschichtliche Spielarten, die Sektions- und VivisektionsSpektakel des 18. und 19. Jahrhunderts, Lu Yangs Videoarbeit jedoch hinausgeht: ohne vorgebliches Wissenschaftsinteresse, allein als ästhetische Formation (›Ballett‹) fungierend, sind diese Hinterlassenschaften medizinischer Tierversuche nur Mittel zum (künstlerischen) Zweck, die fragmentierten Froschkörper bloße Materialien eines technisierten Gestaltungsprozesses. Yangs schonungslose, überästhetisierte Inszenierung und der epistemologische Leerlauf des ›Experiments‹ bleiben dabei irritierend, bedienen sie doch offensichtlich das Klischee einer überholt geglaubten spektakulären Wissenschaftspopularisierung, ohne dabei die der Arbeit eingeschriebene Kritik an Körper-Macht-Verhältnissen und Subjekttheorien – mehr noch in der heutigen Populär- denn Wissenschaftskultur – deutlich auszuformulieren. Naturgeschichtliches Wissen tritt in Yangs Arbeiten – wie die toten Frösche – als verstörender Wiedergänger auf: als kaum überschaubare Menge historischer Tatsachen und experimenteller Erkenntnisse, deren Nutzen für die Gegenwart die Künstlerin als höchst ambivalent dargestellt. Der utilitaristische Triumph einer Nutzbarmachung der Natur und die Offenlegung all ihrer ›Geheimnisse‹ erweist sich als Pyrrhussieg, der Mensch als eine im Anthropozentrismus gefangene, ökologisch und moralisch fragwürdig handelnde Spezies.
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Einen ähnlich skeptischen, wenngleich empathischeren Blick auf die Natur und ihre Geschichtsschreibung wirft die Videoarbeit Grosse Fatigue (2013) von Camille Henrot (geb. 1978, Paris). Sie erzählt eine Naturgeschichte von kosmologischer Dimension: Audiovisuell geprägt durch die schnelle Abfolge und Überlagerung von gesprochenem Text, Hip Hop-Sound, bewegten und statischen Bildern, erzählt sie eine die Betrachter zunehmend überfordernde und in ihrer semantischen Vielstimmigkeit verwirrende Geschichte vom Ursprung des Uni-
19 Vgl. zum Thema Stafford, Barbara: Kunstvolle Wissenschaft: Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Amsterdam/Dresden 1998.
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Abb. 3: Camille Henrot, Grosse Fatigue, 2013 (video still) versums.20 Das sprachliche Grundgerüst bildet eine von Henrot und dem USamerikanischen Dichter Jacob Bromberg verfasst Versfolge, die von dem Spoken Word-Performer Akwetey Orraca-Tetteh in anfangs beschwörendem, schließlich erschöpftem Ton vorgetragen wird. Der Großteil des 13-minütigen Films zeigt keinen homogenen Screen, sondern die Videobildfläche präsentiert sich als Computer-Desktop, auf dem im Verlauf der Bilderzählung kleinere und größere digitale Fenster aufklappen, die teils inhaltliche, teils formale Korrespondenzen untereinander bilden, sich dabei aber nicht zur kohärenten Bilderzählung fügen. Das Eingangsmotiv des Desktops bildet eine Ansicht der Milchstraße. Per Mausklick öffnet sich darauf ein mit »Grosse Fatigue« betitelter Datenordner, woraufhin sich in wechselndem, zunehmend beschleunigtem Bild- und SprachRhythmus die Erzählung entfaltet: »Am Anfang war keine Erde, kein Wasser – nichts. Da war ein einzelner Berg genannt Nunne Chaha. Am Anfang war alles tot. Am Anfang war nichts; überhaupt nichts. Kein Licht, kein Leben, keine Bewegung kein Atem. Am Anfang war eine immense Einheit
20 Grosse Fatigue, 2013, Video, Farbe, Ton, Musik von Joakim, 13 Min.
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von Energie. Am Anfang war nichts als Schatten und nur Dunkelheit und Wasser und der große Gott Bumba. Am Anfang waren Quantenfluktuationen.«
21
Die vorgetragenen Ursprungserzählungen haben unterschiedliche kulturelle Quellen und widersprechen sich vielfach. Zu immer neuen Fenstern auf der Videoleinwand ertönt die zunehmend gehetzte Stimme des Performers, der nachund durcheinander Ursprungsmythologien der Sioux- und Navajo-Indianer, asiatischer Religionen und europäischer Geheimlehren sowie islamische, christliche und jüdische Schöpfungsmythen rekapituliert. Sie werden in schneller Folge visuell begleitet von Zeugnissen aus der Geschichte der Naturwissenschaften, ihrer Errungenschaften und ihrer immer weiteren Ausdifferenzierung in Spezialfelder: buntes, teils plakatives Zeitschriften- und Archivmaterial zur Entstehung des Universums, zur Evolution des Menschen, anthropologische und biologische Artefakte, aber auch einen mit Grafikutensilien bedeckten Schreibtisch, Notizbücher, found footage-Material, Lexikonartikel und Statistiken aus dem Internet und immer wieder modisch-exzentrisch lackierte greifende, blätternde, die Gegenstände platzierende Frauenhände, die die visuelle Verführungskraft vieler dieser Bilder noch unterstreichen (Abb. 3). Wiederkehrende Motive sind Innen-
Abb. 4: Camille Henrot, Grosse Fatigue, 2013 (video still)
21 Camille Henrot, Exzerpt aus Grosse Fatigue, zit. nach einer Werkerläuterung von Jonathan Chauveau, mit Dank an die Galerie Johann König, Berlin; Übers. d. Autorin.
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aufnahmen naturwissenschaftlicher Sammlungen von Vogel- und weiteren Tierpräparaten, die die Vorstellung von der Schönheit der Natur mit ihrer Vergänglichkeit verknüpfen (Abb. 4). Die Aufnahmen stammen aus den wissenschaftlichen Sammlungen der Smithsonian Institution in Washington D. C., die unter anderem ein naturgeschichtliches Museum, das National Museum of the American Indian, das Smithsonian Museum of American Art und das Smithsonian Air and Space Museum unter ihrem Dach vereinigt. Im Rahmen eines Stipendiums hatte die Künstlerin in diesem weltweit größten Museums- und Forschungskomplex recherchiert, und seine naturkundlichen Sammlungen können als einzige visuelle Konstanten des Films gelten: Immer wieder werden Schauschränke mit Präparaten aufgezogen, Depotschränke abgeschritten oder einsame Forscher in Ausübung ihrer Arbeit gezeigt. Die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Smithsonian Institution lässt sich dabei historisch als ein Kristallisationspunkt all jener expansiven naturwissenschaftlichen Bestrebungen beschreiben, die im Europa des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen.22 In der Frühzeit ihres Bestehens, in der Ära des Sezessionskriegs, diente die Institution der Emanzipation von den europäischen Großmächten und der Stiftung einer nationalen Identität. Ihre Bestände erwuchsen aus zahlreichen Eroberungszügen in den amerikanischen Westen, im Zuge derer die Erforschung von Flora und Fauna mit der Verdrängung und Auslöschung der indigenen Völker einherging. Die problematische Geschichte der Naturgeschichte im Kontext kolonialistischer Expansionspolitik wird in Grosse Fatigue durch die gleichberechtigte Vielstimmigkeit der Ursprungserzählungen, ihrerseits als Oral Histories tradiert, ins Gedächtnis gerufen. Religiös-mythische stehen gleichberechtigt neben wissenschaftlichen ›Glaubensinhalten‹, wobei ein sich immer wieder selbst in Frage stellendes wissenschaftliches Wissen mit der überzeitlichen Macht religiöser Überzeugungen in Konkurrenz tritt.23 Für den wissensgeschichtlichen Bedeutungszuwachs der naturkundlichen Forschung war zu Zeiten Carl von Linnés die Herausbildung eines länder- und kontinenteübergreifenden
22 Kohlstedt, Sally Gregory: Place and Museum Space: The Smithsonian Institution, National Identity, and the American West, 1846-1896, in: Livingstone, David N./ Withers, Charles W. J. (Hg.): Geographies of Nineteenth-Century Science, Chicago 2011, S. 399-437. 23 Ihr Interesse an dieser ›Glaubensfrage‹ zwischen Wissenschaft und Religion bekräftigt die Künstlerin in einem Videointerview zu Grosse Fatigue (Regie: Erwann Lameignère, Produktion: Collectif Combo / kamel mennour, 2013), vgl. https://vimeo.com/ 86174818 [Stand: 1. Dezember 2016].
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kommunikativen Netzwerks von herausragender Bedeutung.24 Im Zeitalter der digitalen Vernetzung stellt demgegenüber nicht mehr der Erwerb, sondern die Strukturierung des Wissens die Herausforderung dar. Die scheinbare Aussichtlosigkeit dieses Unterfangens wird in Grosse Fatigue audiovisuell vermittelt im gehetzten Stakkato des Performers und der offensichtlich unendlich verfügbaren Menge an Bildern aus Büchern, Zeitschriften und digitalen Quellen. Die tiefenräumliche Staffelung der digitalen Fenster erinnert insofern eher an die originär ›desorientierenden‹ Collagen des Konstruktivismus als an die computertechnologisch intendierte, bildlogische Vereinfachung der digitalen Benutzeroberfläche.25 Die durch diese Visualisierungstechnik angestrebte Methode des gegenüber komplexen Textinhalten einfacheren, weil intuitiven, bildlichen Wissenserwerbs wird angesichts der nicht mehr zu bewältigenden Fülle an (Bild-)Wissen ad absurdum geführt – nicht zuletzt, weil das komplexe »Bedingungsgefüge«26 des naturhistorischen Wissens beziehungsweise seiner Quellenkontexte hier abhandengekommen ist. Camille Henrots Grosse Fatigue erzählt Naturgeschichte als Glaubens-, Medien- und Technikgeschichte und handelt insofern von einer schweren, tiefen Erschöpfung (wie sich der Werktitel ins Deutsche übersetzen lässt) auf mehreren Ebenen. Dabei steht weniger die ökologische Erschöpfung der Erde aufgrund der Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Zentrum. Die kosmologische ErSchöpfung lässt sich vielmehr mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy aus sinngeschichtlicher Perspektive verstehen; für Nancy, auf den sich
24 Vgl. hierzu Müller-Wille, Staffan: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707-78), Berlin 1999; Bettina Dietz spricht vom »Beschaffungsnetzwerk«: Dietz, Bettina.: Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte, in: Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin 2009, S. 615-621, hier S. 620. 25 Vgl. Pratschke, Margarete: Interaktion mit Bildern. Digitale Bildgeschichte am Beispiel grafischer Benutzeroberflächen, in: Bredekamp, Horst/Schneider, Birgit/Dünkel, Vera (Hg.): Das Technische Bild, Berlin 2008, S. 68-81. 26 Altmann, Jan: Pazifische Impulse. Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation, in: Schneider: Kulturen des Wissens (wie Anm. 24), S. 523-532, hier S. 525. Altmann bezieht sich auf ein Argument von Martin Kemp, vgl. Kemp, Martin: »Implanted in our natures«: Humans, Plants, and the Stories of Art, in: Miller, David P./Reill, Peter H.: Visions of Empire: Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge 1996, S. 197-229, hier S. 197.
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Henrot in Interviews bezogen hat,27 führt die tiefgreifende Technisierung der Gegenwart zu einem Denken der »Welt« jenseits von »Natur, Kosmos und Universum«: »Die Welt der Technik, ja die technisierte Welt, das ist nicht die der Plünderung und Vergewaltigung ausgesetzte Natur. [...] Es ist die Welt werdende Welt, d.h. weder ›Natur‹, noch ›Universum‹, noch ›Erde‹. ›Natur‹, ›Universum‹, ›Erde‹ [...] sind die Namen von gegebenen Gesamtheiten oder Ganzheiten und von kontrollierten, gezähmten, angeeigneten Bedeutungen. Welt, das ist der Name einer Fügung (assemblage) oder eines ZusammenSeins (être-ensemble), die zu einer Kunst (art) gehören – einer techné – und deren Sinn identisch ist mit der Ausübung dieser Kunst [...]. So ist eine Welt immer eine ›Schöpfung‹ (création): eine techné ohne Prinzip noch Zweck noch Stoff außer ihr selbst. Und auf diese 28
Weise ist die Welt Sinn außerhalb des Wissens.«
Der Sinn einer solcherart technisierten Welt und ihre Repräsentierbarkeit entziehen sich dem menschlichen Verständnis; Naturgeschichte als Darstellungsform kommt hier gleichsam an ihr (neuerliches) Ende. Während ihre historischen Ordnungskategorien und Erkenntnisstrategien in den Installationen und Inszenierungen Anicka Yis und Lu Yangs zu fremdartigen, irritierenden Situationen und Erzählungen dekonstruiert werden, verweist der visuelle Reichtum und die Poetisierung der medialen Form in Grosse Fatigue auf einen anderen Zugang zur Geschichte der Natur und ihrer Darstellung. Das Bild der buntlackierten Frauenhände, die uns im Rhythmus der Tonspur tastend, greifend, blätternd und zei-
27 Vgl. Lauwaert, Maaike: Interview with Camille Henrot, 14. April 2014, http:// maaikelauwaert.com/articles/camille-henrot [Stand: 1. Dezember 2016]. Henrot bezieht sich dabei auf ein Zitat in dem Buch von Nancy, vgl. Nancy, Jean-Luc: The Creation of the World, or, Globalization, New York 2007, S. 65: »Our question thus becomes clearly the question of the impossible experience or the experience of the impossible: an experience removed from the conditions of possibility of a finite knowledge, and which is nevertheless an experience.« (Originalausgabe: La création du monde ou la mondialisation, Paris 2002, S. 80.) 28 Nancy, Jean-Luc: Le sens du monde, Paris 1993, S. 66, zit. nach der Übersetzung in Hörl, Erich: Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 3, 2: Medienphilosophie, 2010, S. 129-147, hier S. 140, online unter: http://www.ruhr-unibochum.de/ifm/_downloads/hoerl/ZMK%202-2010%20Hoerl.pdf [Stand: 4. September 2015]; die Kursivierung folgt dem Original. Nancys Buch liegt inzwischen in deutscher Übersetzung vor: Der Sinn der Welt, Zürich 2014.
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gend den Reichtum an Artefakten und Naturschöpfungen vor Augen führen, spricht auch das Bewusstsein an, dass die Kunst in all ihrer Subjektivität, Unwissenschaftlichkeit und Gegenwärtigkeit ein (neues) Angebot zur Bewältigung dieser problematisch gewordenen Welterfahrung darstellen kann.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: image courtesy of the artist, 47 Canal, New York, and Fridericianum, Kassel, Foto: Fabian Frinzel Abb. 2: single channel video, 11'20", courtesy the artist and Beijing Commune, Peking Abb. 3 u. 4: Video (color, sound), 13 min., Original music by Joakim, Voice by Akwetey Orraca-Tetteh, Text written in collaboration with Jacob Bromberg, Producer: kamel mennour, Paris/London; with the additional support of: Fonds de dotation Famille Moulin, Paris, Production: Silex Films, Silver Lion, 55th Venice Biennale, 2013, Project conducted as part of the Smithsonian Artist Research Fellowship Program, Washington, D. C., Special thanks to: the Smithsonian Archives of American Art, the Smithsonian National Museum of Natural History, and the Smithsonian National Air and Space Museum, © ADAGP Camille Henrot, Courtesy the artist, Silex Films and kamel mennour, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2018
V. Neuschöpfungen von Naturgeschichte
Transformationen und Neuschöpfungen von Natur im Werk Remedios Varos L INN B URCHERT
Ursprünge aktueller Umweltprobleme der Naturzerstörung und Klimaveränderung liegen nicht zuletzt in einem historisch gewachsenen, konflikthaften Verhältnis des Menschen zur Natur begründet.1 Im Werk der spanisch-mexikanischen Künstlerin Remedios Varo werden verschiedene prekäre Naturzugänge der Moderne bei gleichzeitigem Blick auf die Tradition dieser Zugänge sichtbar. Varo wurde 1908 in Katalonien geboren und absolvierte eine klassische Kunstausbildung an der Academia de San Fernando in Madrid. In der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs ging sie nach Paris und kam hier über Benjamin Péret mit dem Kreis der Surrealisten um André Breton in Kontakt. Im Zweiten Weltkrieg emigrierte sie nach Mexiko, wo sie 1963 nach zwei sehr produktiven künstlerischen Jahrzehnten verstarb. Varo ist in den Kreis von Künstlerinnen einzuordnen, die im Kontext des Surrealismus arbeiteten und sich in ihrem Werk häufig mit alternativen Geschlechterkonstruktionen auseinandersetzten.2 Auch formal nahmen Künstlerinnen wie sie Gegenpositionen zum männlich geprägten Surrealismus ein. Zumeist definierten sie sich nicht als Surrealistinnen und wollten auch nicht als solche verstanden werden. Varos Werk selbst ist in den vergangenen Jahren zwar Gegenstand einiger Monografien, Kataloge und Aufsätze gewesen, es fällt jedoch
1
Vgl. Oldemeyer, Ernst: Entwurf einer Typologie des menschlichen Verhältnisses zur Natur, in: ders./Großklaus, Götz (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983, S. 15-42, hier S. 15.
2
Vgl. Krieger, Verena: Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Hamburg 2006.
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auf, dass sie bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit erhalten hat als andere Künstlerinnen ihrer Zeit – man denke an Frida Kahlo (1907-1954) und Meret Oppenheim (1913-1985). Gründe hierfür liegen einige vor. Varo trat weder in ihrem Habitus noch in ihrem Werk als Avantgardistin auf. Ihr Werk zeichnet sich insbesondere durch das Zitat altmeisterlicher Stile und Motive aus – Malerei ist bei ihr ein akribisches Handwerk, alle Werke sind sorgfältig in Öltempera ausgeführt und leben von präzise ausgearbeiteten Details, nicht von avantgardistischen Experimenten und radikalen Positionierungen. Im Unterschied zu oben genannten Künstlerinnen trat sie kaum an die Öffentlichkeit und arbeitete eher im Stillen für sich oder zusammen mit ihren engen Vertrauten. Neben formalen Wiederaneignungen stellt Varo auch motivisch und inhaltlich eine Verbindung zu antiken, neuzeitlichen, aber auch modernen Themen her.3 Fragen nach Weiblichkeit und Geschlecht spielen bei ihr eine Rolle, allerdings weitaus weniger radikal als bei anderen Künstlerinnen. Zugleich kann sie mit ihrer Praktik des Zitats zu den frühen Postmodernen gezählt werden. Die inhaltlichen und formalen Zitate Varos erwecken nicht selten den Eindruck des Déjà-vus, jedoch nähern sie sich mitunter der Grenze zum Klischee und zum Kitsch. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Varos Werk wichtige Impulse für ein Verständnis der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts zu geben vermag: Varos Sujets, Lektüren und Interessen sind in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für ihre Zeit und bleiben bis heute relevant. In diesem Zusammenhang ist ihre Auseinandersetzung mit der Natur seit den 1950er Jahren aus dem mexikanischen Exil heraus hervorzuheben. Wie oben angedeutet, setzte sie sich in diesen Jahren dezidiert mit dem Verhältnis von Mensch und Natur, mit mythologischen, naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Zugängen zur Natur und verschiedenen Umgangsformen mit der Natur auseinander. Sie tat dies im historischen Vorfeld der Umweltbewegungen, so dass ihr Werk symptomatisch für mögliche Verschiebungen im Naturverständnis ihrer Zeit und zugleich eine grundlegende Reflexion der Geschichte der Mensch-Natur-Relationen ist. Ein Blick in die Lektüren Varos bestätigt ihre Faszination für Naturgeschichte und Naturphilosophie. Diese umfassten mystisch-philosophische Texte, Bücher über Alchemie und Kosmologie ebenso wie populärwissenschaftliche Pub-
3
Vgl. Burchert, Linn: Die Alchimie des Bildes: Surreale Transformationen bei Remedios Varo, Visual Past 2.1, 2015, S. 65-87, http//www.visualpast.de/archive/vp2015_ 0065.html [Stand: 27. Juni 2016].
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likationen des 20. Jahrhunderts.4 In ihrem Werk lassen sich ohne weitere Differenzierung vier verschiedene Naturzugänge beschreiben:5 •
•
•
•
mythologische Naturrepräsentationen, die in Korrespondenz zu antiken und neuzeitlichen Diskursen die Idee und die Herstellung einer harmonischen Ordnung der Natur im Kontrast zur chaotischen Ur-Natur verhandeln, in der Natur lebende und reisende Eremitinnen und Eremiten, Asketinnen und Asketen und Forscherinnen und Forscher, die das Ideal einer Rückkehr zur Natur und zum Ursprung verbildlichen, künstliche Lebewesen, Mensch-Tier-Hybride und Hybride aus technischen und organischen Elementen auf der Schnittstelle von Alchemie, Gentechnologie und Bionik sowie Studierstuben- und Laborbilder, die Aktivitäten von Forscherinnen und Forschern zeigen und dabei Formen wissenschaftlicher Modellbildung, kreative oder zerstörerische Implikationen der historischen und modernen Naturwissenschaften zur Darstellung bringen.
Im Kontext des Tagungsbandes zum Spannungsfeld von ›Objektivität‹ und ›Imagination‹ in künstlerischen Zugängen zur Natur wird die Hervorbringung und Neuschöpfung von Natur bei Varo in den Fokus gerückt. Im Zentrum des Artikels steht die Sichtbarmachung einer die gesamte abendländische Geschichte bis in die Moderne prägenden, widersprüchlichen Konstellation im Werk der Künstlerin: So wird in diesem erkenntlich, wie die bewundernde Zuwendung zur Natur
4
Die Bibliothek Varos selbst ist nicht systematisch zusammengetragen und befindet sich auch nicht gesammelt an einem Ort. Das Wissen über Varos Lektüren ist von Forscherinnen und Forschern dementsprechend aus den Aussagen von Familienmitgliedern und Vertrauten Varos zusammengetragen worden, siehe dazu: Haynes, Deborah J.: The Art of Remedios Varo: Issues of Gender Ambiguity and Religious Meaning, in: Woman’s Art Journal 16 (1) 1995, S. 26-32, hier S. 29; Kaplan, Janet: Remedios Varo. Unexpected Journeys, New York 1998, S. 16 u. S. 172; Engel, Peter: The Art of Remedios Varo. A Struggle between the Scientific and the Sacred, in: Technology Review of the Massachusetts Institute of Technology 10, 1986, S. 66-74, hier S. 66; Villarreal, Jaime Moreno (2008): La Llave literaria I. Urdir la trama de lo Maravilloso, in: Arcq, Tere/Engel, Peter/Villarreal, Jaime Moreno/Kaplan, Janet/ Bogzaran, Fariba/Lisci, Sandra/Gruen, Walter (Hg.): Cinco Llaves del Mundo Secreto de Remedios Varo, Mexiko Stadt 2008, S. 115-127, hier S. 118-120.
5
Diese habe ich im Rahmen meiner unveröffentlichten Masterarbeit identifiziert und ausformuliert.
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und zu ihren Kräften mit dem Postulat der Mangelhaftigkeit und Verbesserungsbedürftigkeit derselben amalgamiert. Aus dieser Konstellation ergeben sich in den Bildmotiven sowohl kreative als auch zerstörerische Umgangsweisen mit der Natur – und solche, die nicht mehr eindeutig in die eine oder andere Kategorie einzuordnen sind und mithin Wertungsmaßstäbe in Frage stellen. Eben diese Ambivalenz von Zerstörung und Neuschöpfung, Destruktion und Kreation gilt es zu beschreiben. Ihr ist die Rezeption antiker Natur- und Schöpfungsmythen zugrunde zu legen, um die Aktualisierung und Wandlung dieser Diskurse über die Renaissance bis in die Moderne des 20. Jahrhunderts, von der Alchemie bis zur Gentechnik, anhand wesentlicher Werkbeispiele aufzuzeigen. Zunächst jedoch wird der Begriff der Naturgeschichte thematisiert, um eine Grundlage für die Betrachtung und zugleich eine Abgrenzung zu den anderen Beiträgen der Publikation zu schaffen.
V ORÜBERLEGUNGEN
ZUR
N ATURGESCHICHTE
Die Geschichtlichkeit und Transformativität der Natur wird sich in der Betrachtung von Varos Werk als besonders zentral erweisen. Doch hat die Disziplin der Naturgeschichte traditionell mit einem historischen Verlauf und einer Veränderlichkeit der Natur nur wenig zu tun. In Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1796-1811) wird Naturgeschichte definiert als »das Verzeichniß und die Beschreibung der natürlichen oder zu den drey Naturreichen gehörigen Körper«6. Ausgehend von diesem Verständnis von Naturgeschichte problematisiert Ralf Konersmann in seinem Aufsatz »Max Ernst und die Idee der Naturgeschichte« (1994) »die Uneigentlichkeit […], mit der in dem Wort ›Naturgeschichte‹ der Ausdruck ›Geschichte‹ verwendet« wird, denn: »Die Naturgeschichte möchte das bleibende Wissen aller Zeiten verfügbar machen, indem sie es aufliest, rubriziert und nebeneinanderstellt. Ihr Ordnungsprinzip ist räumlich, ihr Darstellungsverfahren beschreibend, der Ort ihrer Bewährung ist die Empirie«.7 Die Naturgeschichte geht von den Objekten und ihrer Ordnung aus. Anders als in den Geschichtswissenschaften üblich wird keine zeitliche Ordnung hergestellt, keine Geschichte erzählt, keine
6
Eintrag verfügbar unter http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb000
7
Konersmann, Ralf: Max Ernst und die Idee der Naturgeschichte, in: Orchard, Karin/
09133_2_0_608 [Stand: 4. Oktober 2016]. Zimmermann, Jörg (Hg.): Die Erfindung der Natur, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Freiburg i. Breisgau 1994, S. 159-167, hier S. 163.
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Teleologie konstruiert. Konersmann weist darauf hin, dass die Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert zu einem Paradigmenwechsel geführt hat. Die Evolutionstheorie werde dementsprechend »keine Naturgeschichte mehr sein, sondern eine Geschichte der Natur«8. Nun tritt die Betrachtung der Prozessualität der Natur an die Stelle der Annahme einer ewig währenden statischen, kosmologischen Ordnung der Antike. Eben dieser Paradigmenwechsel wird auch im Folgenden eine Rolle spielen. Varo bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte nicht auf den traditionellen Begriff der Naturgeschichte als Ordnung von Objekten. Denn nicht die Erscheinungen, die Objekte an sich stehen im Vordergrund. Die Geschichtlichkeit der Natur selbst, ihre Veränderlichkeit – nicht nur im Detail, sondern im großen Ganzen – werden von Varo in den Blick genommen. Die theoretische wie praktische Konstruiertheit und Formbarkeit von Natur durch den Menschen, die Eingriffe in die Natur und die Folgen dieser Eingriffe sind für das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein und mit Blick auf die Zukunft wesentliche kulturelle Phänomene, Praktiken und Erkenntnisse, die einer kritischen, kulturwissenschaftlichen Betrachtung bedürfen und die in Varos Werk thematisiert werden. Bei Varo wird schließlich kein naturwissenschaftlicher Zugang zur Natur zu diskutieren sein, auch wenn dieser Impetus durchaus vorhanden ist. Denn im Vordergrund steht bei ihr die Auseinandersetzung mit Schöpfungen von Natur und Hervorbringungen einer ›anderen‹ oder ›zweiten Natur‹9 im Sinne einer veränderten, transformierten, nicht mehr ursprünglichen Natur. Dabei geht es hier nicht darum, dem Kunsthistoriker Hans Dickel in seiner Publikation Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst folgend, das Werk Varos selbst als Hervorbringung einer ›zweiten Natur‹ zu bestimmen, sondern die Thematisierung der Verwandlung der Natur durch verschiedene Praktiken auf einer bildinhaltlichen Ebene herauszuarbeiten. Dabei eröffnen sich Verbindungen von Kunstgeschichte und Naturgeschichte auf der Ebene von Mythen, wie sie im Weiteren behandelt werden. Eine Geschichte der Natur, wie sie oben ausgeführt worden ist, liefert zudem ganz zentrale Erklärungs- und Sinnzusammenhänge, die das Verhältnis von Mensch und Natur regeln oder die Harmonie und Zweckmäßigkeit der Natur postulieren können.
8
Ebd.
9
Zum Topos der Kunst als ›zweiter Natur‹ siehe Rath, Norbert: Kunst als ›zweite Natur‹. Einige Konsequenzen der Ablösung des Nachahmungsgedankens in der klassischen Ästhetik, in: Das Kunstwerk, Bd. 3, Paderborn 1983, S. 94-103, sowie Dickel, Hans: Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst, Berlin 2006.
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K ONSTRUKTIONEN
VON
N ATUR
IM
M YTHOS
Im 1955 entstandenen Ölgemälde El Flautista (Der Flötenspieler) (Abb. 1) erzeugt eine menschliche Gestalt durch ihr Flötenspiel eine oktogonale Architektur, eine Art Weltengebäude. Varos Darstellung rekurriert auf die pythagoreische Oktaven-Theorie, die von einer idealen, mathematisch-musikalischen Ordnung des Kosmos ausgeht. Als zu verwirklichende Konstruktion in feinen Strichen bereits auf der Bildfläche eingezeichnet, setzt sich das Gebäude aus fossilen Steinen zusammen. Die Flöte spielende Gestalt in der rechten Bildhälfte ist mit einer Felsenstruktur in ihrem Rücken eng verbunden. Die durch die Technik der Décalcomanie und eine Blastechnik erzeugten Strukturen sind den feinen, zeichnerisch konturierten Elementen entgegengesetzt. In einer stark vom Zufall bestimmten Technik entstehen so Strukturen, die mit dem Gezeichneten kontrastieren. Jedoch sei auch angemerkt, dass Varo – anders als unter den Künstlerinnen und Künstlern des Surrealismus üblich – die erwünschten Resultate des Abklatsch-Verfahrens kalkulierte, nur wenig tatsächlich dem Zufall überließ und die entstandenen Strukturen mit feinsten Pinseln nachbearbeitete.10 Dennoch funktionieren die Strukturen als visueller Gegensatz zu den linearen Elementen und klar umgrenzten Bereichen in ihren Werken. Varos Vorgehensweise unterscheidet sich deutlich von anderen surrealistischen Verfahren, beispielsweise der Frottage, wie sie Max Ernst (1891-1976) für seine Histoire Naturelle (1926) und andere Werke fruchtbar machte. Denn in der Frottage werden vorgefundene Strukturen, etwa Material pflanzlichen Ursprungs, abgepaust, anschließend mit anderen Strukturen kombiniert und einer schöpferischen Interpretation unterzogen.11 So wird bewusst ein struktureller und indexikalischer Bezug zur natürlichen Welt gesucht, der dann eine Transformation erfährt. Ernst selbst beschreibt, dass derjenige, der diese Durchreibetechnik anwende, selbst »Zuschauer« sei, der einem »visuellen Zwang« unterliege.12 Ausgehend von der Vorlage folgt der kreative, umformende, umdeutende Vorgang. Das Transformative findet sich bei Varo ebenfalls, gleichsam auf der Ebene der Umwandlung einer im Zufallsprozess entstandenen Struktur, allerdings ohne indexikalischen Bezug zur Natur.
10 Arcq, Tere: La llave esotérica. En busca de lo milagroso, in: Arcq et al.: Cinco (wie Anm. 4), S. 21-87, hier S. 45. 11 Vowinckel, Andreas: Histoire Naturelle – eine Unendliche Naturgeschichte. Versuch einer Annäherung an Max Ernst und Paul Klee, in: Orchard/Zimmermann: Die Erfindung der Natur (wie Anm. 7), S. 127-131, hier S. 127. 12 Ernst, Max, zit. nach: Konersmann: Max Ernst (wie Anm. 7), S. 160.
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Abb. 1: Remedios Varo, El Flautista (Der Flötenspieler), 1955 Zugleich ist die Transformation selbst Thema ihrer Bilder. Während Ernst Objekte einer möglichen oder auch unmöglichen Naturgeschichte entwirft, verhandelt Varo Schöpfungsmythen und somit die Genese der Natur. Handelt es sich bei Ernsts Naturgeschichte um eine Geschichte weitestgehend ohne Menschen, gibt es bei Varo stets Akteurinnen und Akteure, die – wenn auch nicht eindeutig menschlicher Gestalt – so doch anthropomorph sind. Amorphes und Figuratives trifft dabei in den Bildern Varos immer wieder aufeinander. Werner Hofmann beschreibt die in der Décalcomanie entstandenen amorphen Strukturen als eine Repräsentation der natura naturans, der schöpferischen Natur.13 Zudem lassen sie sich als Versuch einer Darstellung jener chaotischen Ur-Natur beschreiben, ein ursprünglicher Zustand, der als verloren gelten und dessen Darstellung sich folgerichtig in Widersprüchen verwickeln muss.
13 Hofmann, Werner: Phantasiestücke. Über das Phantastische in der Kunst, München 2010, hier S. 282.
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Abb. 2: Remedios Varo, Música Solar (Solare Musik), 1955 Die Ur-Natur als »prästrukturelle Natur«14 kann nur ex negativo beschrieben werden und muss bilderlos bleiben, so Gernot und Hartmut Böhme in ihrer Kulturgeschichte der Elemente.15 Das Ur-Natürliche gilt folgerichtig als das NichtDarstellbare schlechthin. Der Philosoph Paul Crowther beschreibt die UrNatur in seinem Artikel »Meaning in Abstract Art. From Ur-Nature to the Transperceptual« (2012) als etwas, das im Abstrakten zumindest angedeutet werden kann. Er verwendet im Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty den Begriff des Transperzeptuellen, um Phänomene zu beschreiben, die unserer alltäglichen Wahrnehmung für gewöhnlich nicht zugänglich sind.16 Der dem Menschen eigene Drang oder auch Zwang zur Strukturierung, Ordnung und Umformung von Natur in Genehmes und Gewohntes wird von Varo explizit ins Bild gesetzt. Die Verwandlung einer amorphen Ur-Natur in eine andere Natur zeigt sich beispielsweise in dem Gemälde Música Solar (Solare Mu-
14 Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft: Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 55. 15 Ebd., S. 38. 16 Crowther, Paul: Meaning in Abstract Art. From Ur-Nature to the Transperceptual, in: Crowther, Paul/Wünsche, Isabel (Hg.): Meanings of Abstract Art. Between Nature and Theory, New York/London 2012, S. 270-282, hier S. 271 u. S. 275.
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sik) von 1955 (Abb. 2). Hier wird kein mathematisch-geometrisches Modell wie in Der Flötenspieler vorgestellt, Natur wird vielmehr zu etwas Organischem, Belebtem. Die in einen monochromen Bildraum einfallenden Sonnenstrahlen werden wie Saiten eines Musikinstruments von einer Figur bespielt. Dadurch entsteht im Lichtkreis ein schönes, lebendiges Stück Blumenwiese. Nicht nur erblüht der mit dem Waldboden verwobene Mantel der Gestalt, auch werden die Vögel in der oberen Bildhälfte aus ihren Baumgefängnissen befreit. Neben Orpheus lässt sich auch Apoll als Gott »der Sonne und der Harmonie«, der auf »die Berufung der Musik« verweist, um »die lichtvolle Ordnung der Schöpfung überall aufklingen zu lassen und zu verwirklichen«, assoziieren.17 Ovid erzählt in seinen Metamorphosen, wie Orpheus auf einem Hügel durch sein Saitenspiel einen ganzen Wald entstehen ließ.18 Gemeinhin versinnbildlicht Orpheus die »Macht der Musik, im weiteren Sinne der Künste und der Kultur über die ungezähmte Natur«19. Erst eine musikalisch-schöpferische Handlung vermag es auch bei Varo, eine schöne, lebendige Natur aus dem ursprünglichen Chaos hervorzubringen, wie die zwei angeführten Werke beispielhaft vor Augen führen. Verschiedene programmatische Unterschiede sind zwischen Remedios Varo und Max Ernst in diesem Zusammenhang herauszustellen, ohne dass ein direkter und bewusster Bezug der Künstlerin zu Ernst überliefert wäre. Ob sich Varo mit Ernsts Histoire Naturelle eingehender auseinandersetzte, ist nicht bekannt. Sie war mit Ernst und seinem Werk jedoch wie mit dem der anderen Surrealisten, die sie Ende der 1930er Jahre in Paris traf, vertraut.20 Ernsts Histoire Naturelle bezeuge, so Konersmann, eine »Vielgestalt der pluriversalen Welt«; er nehme dabei Abstand vom Anspruch auf Vollständigkeit naturgeschichtlichen Wissens, wie es in der Neuzeit vorherrschte: »An die Stelle des Versuchs, eine gegebene und früher oder später in ihrer Gesamtheit einsehbare Natur zu bebildern, setzt Max Ernsts Histoire Naturelle das Konzept einer über das Bild erschlossenen und doch niemals ausgeschöpften, da mit unkalkulierbaren Vielfaltsvermengungen operierenden Imagination.«21 Es wird noch darauf zurückzukommen sein, dass auch bei Varo die Imagination und Schöpfung neuer Naturphänomene eine
17 Zipp, Friedrich: Vom Urklang zur Weltharmonie. Werden und Wirken der Idee der Sphärenmusik, Berlin 1985, S. 19. 18 Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen, hg. und übers. von Gerhard Fink, Zürich/München 1989, S. 238f. 19 Olbrich, Harald/Möbius, Helga: Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1990, S. 217. 20 Siehe hierzu auch Kaplan: Remedios Varo (wie Anm. 4), S. 57-58. 21 Konersmann: Max Ernst (wie Anm. 7), S. 164.
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Rolle spielt, wenn auch in anderer Weise. Festzuhalten bleibt, dass bei ihr die Herstellung einer Ordnung und die Formung einer schönen, harmonischen Natur im Vordergrund stehen. Bei Ernst ist es hingegen gerade nicht die idyllische Natur, die er darzustellen sucht: »Tatsächlich ist auf diesen Blättern [der Histoire Naturelle, Anm. d. Verf.] jede Idyllik, alles bloß Gefällige und jeder Gedanke an naiv geschaute Natur beiseite gelassen.«22 Während bei Varo der Einklang mit der Natur wesentlich ist, schürt Ernst gemäß Konersmann die »Krise« der Zeit, die im generellen Verlust von Bindungen und Bedeutungen insbesondere mit Bezug auf geschichtliche Zusammenhänge und das Verhältnis zur Natur besteht: »Die surrealistische Naturgeschichte, darin unterscheidet sie sich allerdings von dem renaissancespezifischen Vertrauen in die ›gute Natur‹, erschließt eine fossile Welt, deren Gegenständen das Zeichen der Vergänglichkeit aufgeprägt ist.«23 Dieser Darstellung folgend wäre im Naturzugang Varos bereits ein wesentlicher Unterschied zum im Surrealismus gängigen Naturverständnis zu verzeichnen. Der Rückbezug zur Renaissance und deren Antikenrezeption markiert diese Differenz. Sie lässt sich zumindest auch im Vergleich zu André Masson (18961987) und dessen Mythologie de la nature (1938) attestieren. Die Kunsthistorikerin Christa Lichtenstern schreibt zu diesem zeichnerischen Werk Massons: »In dieser ›unvollendeten Welt‹, die einem grausamen Werden unterstellt ist, werden die Natur und der in sie zurückverwandelte Mensch sich selbst überlassen. Die Natur erhält, unberührt von aller Moral und Ratio, ihren eigenen tragischen Mythos zurück«, Masson erzeuge eine »antirationalistische Gegenwelt«.24 Bei Varo verbinden die amorphen Bildflächen zwei Jahrzehnte nach Ernst und Masson zwar eine Ästhetik der Bedrohlichkeit und des Chaotischen mit einer gewissen Faszination. Bedrohung und Gefahr werden jedoch nur angedeutet und treten eher in den Hintergrund. Wird in Der Flötenspieler Produktion und Konstrukt eines Ordnungssystems, eines ideellen, abstrakten Modells aufgezeigt, steht in Solare Musik der Mythos um die Verlebendigung der Natur aus der noch lebund lichtlosen Masse im Vordergrund. Eben diese Motive – Modellierung, Schöpfung und Verlebendigung von Natur – ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk der Künstlerin.
22 Ebd. 23 Ebd., S. 165. 24 Lichtenstern, Christa: Im weiten Schatten von Nietzsche und Heraklit: André Massons Verwandlungsdarstellungen in der Mythologie de la nature und verwandten Zeichnungsalben der Jahre 1938-40, in: Orchard/Zimmermann: Die Erfindung der Natur (wie Anm. 7), S. 239-246, hier S. 239.
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D IE S CHÖPFUNG EINER IN DER A LCHEMIE
ZWEITEN
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N ATUR
Natürliche Prinzipien dienen seit jeher als Vor- und Sinnbild kreativ-schöpferischer und künstlerischer Praktiken. In der Kunst stellt die Umwandlung der Natur in eine ›zweite Natur‹ einen zentralen Topos dar. In dem 1957 entstandenen Gemälde Creación de las Aves (Schöpfung der Vögel) erzeugt ein Hybrid aus Eule und Mensch in einem alchemistisch-malerischen Prozess Vögel, die sich auf der Leinwand als lebendige Wesen vom Blatt erheben (Abb. 3). Die Darstellung zeigt, wie Farbstoffe, bestehend aus den drei Grundfarben Blau, Gelb und Rot, zu diesem Zwecke aus der Atmosphäre destilliert werden. Ein durch das Fenster einfallender Sternenstrahl oder allgemeiner ein kosmisches Licht wird durch ein Prisma gebrochen und verteilt sich in drei Strahlen auf die Malfläche. Die Eule als Attribut der Patronin für Kunst und Kunsthandwerk verweist auf ein selbstreflexives Moment des Künstlertums. Das Motiv der Belebung des Kunstwerks lässt sich bekanntlich auf eine lange Tradition zurückführen. Der
Abb. 3: Remedios Varo, Creación de las Aves (Schöpfung der Vögel), 1957
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Topos geht mit dem Mythos um den ›männlichen‹ Künstlergott einher, der seinem Werk »Atem und Leben einhaucht«25. Eine ähnliche Szene findet sich in Dosso Dossis (1480/90-1542) Giove pittore di farfalle, Mercurio e la Virtù (Zeus als Weltenmaler) (1530er Jahre). Unter der Hand des künstlerisch schöpferischen Gottes entstehen in dieser Szene Schmetterlinge. Die göttliche und gleichsam künstlerische Kontrolle über Natur, Zeit und Jahreszeiten wird darin ebenso statuiert wie jene über die Macht der Kunst, die Natur zu übertreffen.26 Wie Varos Eulengestalt greift auch Zeus mit den Farben des Regenbogens auf Kosmisches zurück.27 In der Alchemie dienen die Kräfte der Natur bekanntlich als Vorbild, dem es nachzueifern gilt. Mithilfe der Technik soll Naturgegebenes jedoch darüber hinaus noch übertroffen werden. Diesen alchemistischen Impetus der perfectio naturae im Sinne einer Vollendung natürlicher Prozesse hat auch die apollinische Orpheus-Gestalt in Solare Musik. Dort wird Natur mittels kosmischer, solarer Kräfte in einem künstlerischen Vorgang verlebendigt, in eine ästhetische Form überführt und auf diese Weise ›perfektioniert‹. Die antike Vorstellung eines Urstoffs, ähnlich der alchemistischen materia prima, erfuhr Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Theorie des Urknalls ein wissenschaftliches Revival. Der Astronom und Mathematiker Fred Hoyle, dessen Bücher Varo las,28 beschrieb 1950 in The Nature of the Universe (Die Natur des Universums, 1952) allgemeinverständlich die Urknall-Theorie. Nach ihr ist das Universum aus einem einzigen Urgas-Gemisch entstanden, das sich mit dem sogenannten Big Bang beschleunigte und zu Materie verdichtete. Analog dazu zieht Varos Künstlerfigur das Material für ihre Schöpfung aus dem Kosmos. In der im 19. Jahrhundert entstehenden Ökologie spielte die Annahme eines einzigen Urprinzips eine wesentliche Rolle, ähnlich wie es auch in Varos Schöpfungsbild im Rückgriff auf eine kosmische Energie gestaltet ist. Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel (1834-1919), der 1866 die Ökologie als wissenschaftliche Disziplin erstmals definierte, gründete seine wissenschaftlichen Überlegungen auf dem Monismus, der ein Urprinzip und eine Beseelung aller organischen wie anorganischen Dinge zugrunde legt.29
25 Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1995, S. 113. 26 Ebd., S. 40. 27 Ebd., S. 39-40. 28 Ebd., S. 78-80. 29 Zit. nach: Breidbach, Olaf/Weber, Heiko: Der Deutsche Monistenbund 1906 bis 1933, in: Lenz, Arnher E./Mueller, Volker (Hg.): Darwin, Haeckel und die Folgen. Monis-
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Die Alchemie spielte auch für andere Künstlerinnen im Umkreis des Surrealismus eine Rolle, insbesondere für Leonora Carrington (1917-2011), einer engen Freundin Varos.30 Auch Carrington setzte sich in ihrem mexikanischen Exil mit Schöpfungsmythen auseinander, allerdings sind diese weitaus weniger auf zentral- und südeuropäische Traditionen bezogen als bei Varo. Carrington zog zahlreiche Inspirationen aus dem Schamanismus der Maya,31 aber auch aus dem nordischen Keltentum.32 Die Wiederherstellung einer Einheit von dualen Prinzipien wie »Körper und Geist, Männliche[m] und Weibliche[m], Rationale[m] und Irrationale[m], Natur und Kunst« identifiziert Ursel Bruy als eine bestimmende Sehnsucht im Surrealismus: »Sie [die Künstlerinnen und Künstler des Surrealismus, Anm. d. Verf.] greifen dafür zurück auf alte Kulturen, in denen der Mensch noch Teil des natürlichen Prozesses war. So entsteht das Bild der Frau als Magierin und Seherin, die einen besonderen Zugang zur Natur hat.«33 Indem Varo ihrer Bildsprache musikalisch-alchemistische Motive zugrunde legte, gewinnen die Betrachter den Eindruck, dass sich die Handlungen und Darstellungen in ihren Werken im buchstäblichen ›Einklang‹ mit der Natur vollziehen. Der Eingriff in die Natur wird als sanfte und natürliche Praktik inszeniert, obwohl die Idee der Erzeugung von künstlichem Leben nicht erst, aber vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts kritisch diskutiert wurde.
D IE Ü BERWINDUNG
NATÜRLICHER
M ÄNGEL
Bereits in dem zwei Jahre vor Schöpfung der Vögel entstandenen Gemälde Creación con Rayos Astrales (Schöpfung mit Sternenstrahlen) widmet sich Remedios Varo dem Thema der Erschaffung von Leben (Abb. 4). In der dargestellten Szene wird, ebenfalls mithilfe kosmischer Strahlen, ein anthropomorphes Le-
mus in Vergangenheit und Gegenwart, Rübenberge 2006, S. 157-205, hier S. 149. Originalzitat aus: Ernst Haeckel: Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben, Leipzig 1917. 30 Vgl. Susan L. Aberth: Leonora Carrington. Surrealism, Alchemy and Art, Aldershot u. a. 2004. 31 Kunny, Clare: Leonora Carrington’s Mexican Vision, in: Art Institute of Chicago Museum Studies 22 (2), 1996, S. 66-179, S. 199-200, hier S. 176. 32 Bruy, Ursel: Die alchemistische Emanzipation – Transformationsstrategien bei Leonora Carrington, Leonor Fini und Dorothea Tanning, in: Krieger: Metamorphosen der Liebe (wie Anm. 2), S. 103-122, hier S. 111. 33 Ebd., S. 119.
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Abb. 4: Remedios Varo, Creación con Rayos Astrales (Schöpfung mit Sternenstrahlen), 1955 bewesen erzeugt. Anders als in Schöpfung der Vögel steht hier jedoch kein künstlerisch-malerischer Prozess im Vordergrund: Vielmehr zeigt das Bild einen Forscher, der mithilfe von Bücherwissen und möglicherweise magischen Formeln agiert. Strahlen fallen durch das kreisrunde, geöffnete Dach in das Laboratorium ein. Sie werden über ein System von im Raum verteilten Spiegeln gebrochen. Indem sie in der Bildmitte aufeinandertreffen, bringen sie einen künstlichen Menschen hervor. Auch hier ist der Alchemist – in diesem Fall eher in Gestalt des Wissenschaftlers, denn als Künstler – ein gottähnlicher Schöpfer, der sich die Gesetze der Natur zunutze macht.34 Die Szene verweist trotz ihrer neuzeitlichen Anmutung auf einen modernen Diskurs. Das Thema der Erzeugung von künstlichem Leben gelangte im Kontext der Entschlüsselung des menschlichen Genoms seit den 1950er Jahren sowohl in künstlerisch-literarischen als auch wissenschaftlichen Kreisen zur Blüte.35 Der Mensch der Moderne, so schreibt die Literatur- und Sprachwissenschaftlerin
34 Vgl. Szulakowska, Urszula: The Alchemy of Light: Geometry and Optics in Late Renaissance Alchemical Illustration, Leiden 2000, S. 46. 35 Vgl. Raml, Monika Margarethe: Der ›homo artificialis‹ als künstlerischer Schöpfer und künstlerisches Geschöpf: Gentechnologie in Literatur und Leben, Würzburg 2010, S. 59.
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Monika Raml, versuche als »Konstrukteur […] aus vorgegebenen Kreisläufen der Natur« auszuscheren. Die natürliche Logik werde dabei umgekehrt: »Nicht die Natur gestaltet den Menschen, sondern der Mensch macht sich selbst zum Schöpfer menschlichen Lebens, indem er Vorgaben der Natur durch technische Lösungen zu umgehen sucht.«36 Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel identifiziert den künstlichen Menschen treffend als Symptom eines »intellektuelle[n] Stolz[es]«, welcher »den Zeugungsakt durch einen geistigen und künstlerischen ersetzen möchte«.37 Varo bezieht sich in den behandelten Gemälden auf eben jenen jahrhundertealten Traum der Formung des Menschen ›nach eigenem Bilde‹ – man denke an den Ovid’schen Pygmalion oder Goethes Prometheus und den Homunculus. Zur Bibliothek Varos gehörte auch der Roman Brave New World (1932) von Aldous Huxley (1894-1963),38 in dem Menschen als serielle gentechnische Kunstprodukte unter der Kontrolle des Staates hergestellt werden.39 Nichts in den hier bislang vorgestellten Werken verweist jedoch auf die Dystopie Huxleys oder spricht für eine deutlich kritische Behandlung des Themas bei Varo. Vielmehr macht sie die Utopie der Künste und Wissenschaften sichtbar, Leben zu erzeugen, was im Folgenden näher erläutert werden soll. Wie andere Werke Varos entzieht sich Schöpfung mit Sternenstrahlen einer dem Bild inhärenten expliziten Bewertung des Dargestellten. Weder wird eine als utopisch markierte Szenerie vorgeführt, noch eine dystopische. Im Vordergrund steht der Schöpfungsprozess selbst und somit die ›Machbarkeit‹ als solche, die in ihren Darstellungen faszinieren und erschrecken kann. Figuren und Atmosphäre der Bilder erscheinen stets konzentriert, entrückt, mitunter melancholisch – aber nie schlagen sie ins gänzlich Dystopische um. Insbesondere diese ambivalente Offenheit macht ein fruchtbares Moment der Bilder aus, sofern sie sich nicht auf eine affirmative oder ablehnende Haltung zu den hier verhandelten Praktiken festlegen lassen. Sie stellen zunächst einmal bekannte Motive und Themen dar und stehen für eben jenen Widerspruch eines parallelen Strebens
36 Ebd., S. 32. 37 Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1970, S. 511. 38 Vgl. Engel, Peter: The Art of Remedios Varo. A Struggle between the Scientific and the Sacred, in: Technology Review of the Massachusetts Institute of Technology 10, 1986, S. 66-74, S. 15, und Zanetta, María Alejandra: La otra cara de la Vanguardia. Estudio comparativo de la obra artística de Maruja Mallo, Ángeles Santos y Remedios Varo, Lewiston/New York 2006, S. 157. 39 Vgl. Raml: Der ›homo artificialis‹ (wie Anm. 35), S. 63.
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nach Naturnähe in der Moderne und immer neuen Versuchen, Natur zu übertrumpfen, zu überwinden und nach eigenen Vorstellungen hervorzubringen. Die Natur, zu welcher der Mensch Nähe und ein einklängliches Verhältnis sucht, ist immer eine idealisierte Natur. Auch das zeigen die Werkbeispiele. Diese Natur wird vom Menschen nicht nur herbeigesehnt, sondern erfunden und erzeugt.
D ESTRUKTION STATT S CHÖPFUNG ? W ISSENSCHAFTSKRITIK BEI V ARO Tatsächlich lassen sich auch kritische Perspektiven hinsichtlich des Umgangs mit Natur in Remedios Varos Werk ausmachen. Offenkundige Kritik zeigt sich weniger in Werken, die künstlerische Schöpfungen thematisieren, als vielmehr in jenen, die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden auseinandersetzen. Sie entstanden vornehmlich Anfang der 1960er Jahre und damit in den letzten Schaffensjahren der Künstlerin. In dem Gemälde Fenómeno de Ingravidez (Wunder der Schwerelosigkeit) aus dem Jahr 1963 steht ein Physiker in seinem Arbeitszimmer (Abb. 5). Vor ihm schwebt ein Modell von Erde und Mond, das aus der Halterung am Boden gebrochen ist und sich verselbstständigt hat. Die Längsachse, an der Erd- und Mondkugel miteinander verbunden sind, befindet sich nicht mehr parallel zum Boden, die Erdkugel ist leicht verzerrt. Durch die Verschiebung gerät die gesamte geometrische Ordnung des Raumes durcheinander: Eine zweite Ebene entsteht, die sich parallel zum schwebenden Modell befindet. Der Wissenschaftler steht zwischen den Dimensionen und versucht möglicherweise, diese mit dem Fuß wieder in Deckung zu bringen. Das Modell fungiert hier nicht als Veranschaulichung einer gegebenen Ordnung, es verändert vielmehr selbst die Realität. Der Wissenschaftshistoriker Wolfgang Bock schreibt Modellen einen »medialen Eigensinn« zu, indem sie nicht der Welt gleichen, »sondern in zunehmendem Maße die Welt ihnen gleich« werde.40 Sie stellen dabei, so Bock, nicht nur eine »Versteinerung« dar, sondern »komprimieren, verfremden, fassen zusammen und zeigen etwas, das man ohne sie nicht sähe«.41 Das Gemälde Der Flötenspieler zeigt diese Verfremdung und Versteinerung geradezu buchstäblich im Motiv der Fossilien und der Modellierung von Natur zu einer architektonischen Struktur und Ordnung. Insofern ist
40 Bock, Wolfgang: Das Modell zwischen Denkbild und Werkzeug, in: ders./Gronert, Siegfried (Hg.): Das Modell als Denkbild, Weimar 2005, S. 12-24, hier S. 13. 41 Ebd., S. 15.
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Abb. 5: Remedios Varo, Fenómeno de Ingravidez (Wunder der Schwerelosigkeit), 1963 das Werk Wunder der Schwerelosigkeit nicht als explizite Kritik zu lesen, sondern als Reflexion eines Prinzips der Wissenschaften, das produktiv wie auch negativ wirksam sein kann. In dem Gemälde Planta Insumisa (Ungehorsame Pflanze) von 1961 wird eben diese Form der Modellierung von Natur neugewendet und hypertrophiert sowie explizit kritisch beleuchtet (Abb. 6). Hier verwandelt ein androgyner Wissenschaftler Pflanzen in mathematische Formeln, indem ihnen Flüssigkeit entzogen wird und sie so zu Formeln vertrocknen. Naturverstehen impliziert demzufolge eine Verfremdung und Abtötung des zu ergründenden Gegenstandes der Natur. Die Pflanzen nehmen völlig bizarre Formen an. Wie bereits der Titel andeutet, entzieht sich nur eine Pflanze den wissenschaftlichen Ambitionen. Die einzige Formel, die sie ausbildet, lautet: »dos y dos son casi cuatro«, also: »zwei und zwei sind fast vier«. Hinsichtlich der dargestellten Wissenschaftspraktik liegt die Assoziation zu Francis Bacons (1909-1992) Verständnis der Natur als Sklavin nahe, die so lange auf die Folter gespannt werden müsse, bis sie ihre
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Abb. 6: Remedios Varo, Planta Insumisa (Ungehorsame Pflanze), 1961
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Geheimnisse preisgibt.42 In dem Gemälde Wunder der Schwerelosigkeit zeigt sich eine Angleichung der Wirklichkeit an das Modell, die bereits im Werk Ungehorsame Pflanze deutlich wird, indem hier die Natur in das Modell selbst umgewandelt wird. Ein mathematisches Verständnis von der Natur, so scheint es, verändert die Wahrnehmung so stark, dass Natur von der Wissenschaft als Ansammlung von Formeln begriffen, so behandelt und als solche neu hervorgebracht wird. Zugleich scheint sogar dem Wissenschaftler die Lebenskraft auszugehen. Während die Figuren bei Varo zumeist belebende Prozesse anstoßen oder zumindest an solchen teilhaben, wird hier eine gänzlich lebensfeindliche Szenerie dargestellt, die auch auf den Gegensatz zwischen einer rein theoretischen Durchdringung von Natur auf der einen und einer Teilhabe am Lebendigen der Natur auf der anderen Seite abhebt. Ein anderes Werk, das im Kontext einer Wissenschaftskritik näher zu betrachten ist, trägt den Titel Ciencia Inútil o El Alquimista (Sinnlose Wissenschaft oder Der Alchemist) und ist von 1955 (Abb. 7). Damit steht es in einem zeitlichen Zusammenhang mit der zuvor skizzierten Werkgruppe, in der Varo sich mit mythischen und künstlerischen Schöpfungen auseinandersetzte. Inhaltlich sticht das Gemälde Sinnlose Wissenschaft jedoch klar heraus. Der ursprüngliche Titel lautete Der Alchemist, sodass Varo – möglicherweise erst in den 1960er Jahren – über den Titel einen anderen Zugang anbot. Das Bild zeigt eine (vermutlich weibliche) Figur, die in ein Schachbrettmuster-Tuch gehüllt ist, welches sich gleichzeitig als Bodenbelag in ihrem offenen Laboratorium ausbreitet. Hinter der Figur befindet sich eine große Maschine, mit deren Hilfe Regenwasser aus der Atmosphäre aufgefangen und destilliert wird. Die Anzahl an Zahnrädern und anderen Vorrichtungen steht im Gegensatz zu der geringen Menge an aufgefangenem und gereinigtem Wasser sowie der zu erwartenden Komplexität des Vorgangs, der nur ein Auffangen, Erhitzen und Umfüllen erfordert. Das Gesicht der Figur hat eine merkwürdig graue Färbung, und ihre Tätigkeit beschränkt sich auf das Drehen einer Kurbel. Die Atmosphäre ist bedrückend und wirkt – ähnlich wie in Ungehorsame Pflanze – vergiftet: So ist der Hintergrund durch einen rotbräunlichen und teils schwarzen Nebel gestaltet. An der Horizontlinie zeigt sich ein heller Dampf. Das davor liegende Feld ist völlig karg. Nimmt man an, dass – wie es der Prozess des Destillierens von Wasser suggeriert – die Atmosphäre
42 Vgl. Merchant, Carolyn: Radical Ecology. The Search for a Livable World, London 1992, S. 46. Sie fasst Äußerungen Bacons aus den Schriften The Great Instauration (1620), The Masculine Birth of Time (1602/3) und De Dignitate et Augmentis Scientiarum (1623) zu diesem viel zitierten Passus zusammen.
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Abb. 7: Remedios Varo, Ciencia Inútil o El Alquimista (Sinnlose Wissenschaft oder Der Alchemist), 1955 unrein ist, so werden Umweltverschmutzung und Naturzerstörung als Bildthemen evident. Varos Auseinandersetzung mit der Verschmutzung der Erdatmosphäre ist in einem literarischen Brief nachweisbar, den sie 1959, wenige Jahre nach Entstehen des Werkes Sinnlose Wissenschaft oder Der Alchemist verfasste. Darin schreibt sie von einem missglückten Experiment, in dem eine Perle, die sie in einem alchemistischen Prozess hergestellt hätte und die verloren gegangen sei, nun die Erdatmosphäre zerstöre. Sarkastisch merkt sie an, dass ihren Berechnungen zufolge die Erde ihre Atmosphäre noch mindestens 62 Jahre behalte, sodass erst die folgende Generation betroffen sei.43 Damit ist nicht nur das Problem der Zerstörung der Erdatmosphäre, sondern auch die Verantwortung der Wissenschaften angesprochen. Natur kann nicht mehr als ewige Ordnung gelten, sie ist nicht nur veränderlich, sondern auch vergänglich. Dass der Mensch mitunter destruktiv in die Natur eingreift, reflektiert Varo in ihrem Werk durchaus. Wie abschließend aufgezeigt wird, bleibt jedoch auch dieses Bewusstsein in einer Ambivalenz der potenziellen Kreativität und Destruktivität jener menschlichen Eingriffe verhaftet, die sich nicht auflösen lässt.
43 Varo, Remedios, zit. in: Varo, Beatriz: Remedios Varo: en el centro del microcosmo, Mexiko/Madrid/Buenos Aires 1990, S. 229-233.
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E VOLUTION , M UTATION
UND
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A MBIVALENZ
Ein weiteres Beispiel aus der Werkphase der frühen 1960er Jahre, das Gemälde Descubrimiento de un Geólogo Mutante (Entdeckung eines mutierten Geologen) aus dem Jahr 1961, steht im Kontext einer der prägendsten Erfahrungen von Umweltzerstörung im 20. Jahrhundert, den Atombombenversuchen und dem Einsatz der Bombe in Japan (Abb. 8).44 Im Zentrum des Werkes steht auch hier ein Forscher, der durch seine außergewöhnliche Gestalt mit einem waschbärartigen Schwanz, Rückenpanzer und insektenförmigen Flügeln auffällt. Aus einiger Entfernung betrachtet er durch ein Fernrohr eine riesige Pflanze, in deren Blütenkelch sich ein Ei befindet. Die Blume steht vereinzelt in einer wüstenartigen Landschaft, hinterfangen von schroffen Felsen. Der Geologe selbst führt einen kleinen Wagen mit sich, der ein Behältnis mit dürren Pflänzlein trägt. An einer vom Behältnis nach oben ragenden Stange ist ein Wasserspeicher mit Hahn sowie darüber ein Fernrohr angebracht. In ihrem Kommentar zum Werk schreibt Remedios Varo, die Atombombe habe die Landschaft verwüstet und Geologe sowie Blume seien Mutationen.45 Varos Gemälde ordnet sich nicht nur in die nuklearen Vernichtungsfantasien, sondern auch in post-apokalyptische Narrationen ein, die die gesamte Kulturgeschichte prägen. Während im 20. Jahrhundert unter anderem Szenarien kursierten, die das absolute Ende entweder allen oder zumindest des menschlichen Lebens thematisierten, sind die meisten post-apokalyptischen Narrationen – ganz in der Tradition des biblischen Vorbildes – von der Hoffnung auf einen Neubeginn und ein anderes Leben bestimmt.46 So befasste sich auch der bereits angeführte Physiker Hoyle mit der Gefahr einer atomaren Katastrophe. Diese würde seiner Ansicht nach nicht die Zerstörung allen Lebens, sondern im gravierendsten Falle das Ende des menschlichen Lebens bedeuten.47 Die für den Diskurs typische Denkfigur birgt nicht selten auch andere utopische Hoffnungen in sich.
44 Vgl. Kaplan: Remedios Varo (wie Anm. 4), S. 174. 45 Varo, Remedios, zit. nach: Bolio, Edith Mendoza: ›A veces escribo como si trazase un boceto.‹ Los escritos de Remedios Varo, Madrid 2010, o. S. (Bildteil). 46 Vgl. Jurkat, Angela: Apokalypse – Endzeitstimmung in Kunst und Literatur des Expressionismus, Alfter 1993, S. 21, und Horn, Eva: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie, in: Sorg, Reto/Würffel, Stefan B. (Hg.): Utopien und Apokalypse in der Moderne, München 2010, S. 101-118, hier S. 101. 47 Hoyle, Fred: Die Natur des Universums, Oxford 1952, S. 56. »Wir können also schließen, daß selbst, wenn die Menschen töricht genug sind, sich gegenseitig zu zerstören, die Erde selber sicher ist«.
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Abb. 8: Remedios Varo, Descubrimiento de un Geólogo Mutante (Entdeckung eines mutierten Geologen), 1961
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So hat die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert am Beispiel der modernen Science Fiction-Literatur herausgearbeitet, dass die große Katastrophe vielfach als »Anlaß« diene, »die nunmehr leere Welt in Besitz zu nehmen und nach [eigenem, Anm. d. Verf.] Wunsch« zu modellieren.48 Sie erscheine so als »notwendiges Mittel […], um tabula rasa zu machen und neu […] zu beginnen«49. Laut der Literaturhistorikerin Marianne Kesting haben sich auch die Surrealisten die »apokalyptische Vernichtung« herbeigesehnt, die sie selbst überleben wollten, um anschließend »die Welt ihrer Vorstellungen« zu verwirklichen.50 In Varos Darstellung ist nicht alles Leben ausgestorben. Zwar erscheinen die vom Geologen mitgeführten Pflänzlein dürr und zierlich, jedoch erweckt zumindest eine große Pflanze auf dem Wüstenboden Hoffnung auf den Fortbestand des Lebens nach der Katastrophe. Unterstützt wird diese Annahme durch die Symbolik des Eies. Schließlich gilt das Ei als »Keim aller Schöpfung«51. Obwohl die Blume hier ein Zeichen für die Kontinuität der belebten Welt ist, wenn auch in vollkommen neuer Gestalt, bleibt ein beunruhigendes Moment bestehen. Die Aussage des Werks changiert zwischen Hoffnung und Zweifel. Diese steht im Kontrast zum oben besprochenen Werk Ungehorsame Pflanze, insofern der Umgang mit der Natur hier auf Beobachtung basiert und pfleglich ist. Während die Pflanzen im früheren Werk bewusst dem Tode preisgegeben werden, versucht der Wissenschaftler in Entdeckung eines mutierten Geologen, sie wieder aufzupäppeln. Das Motiv der Mutation weist auf die Entstehung einer ›zweiten Natur‹ hin, allerdings nicht unter der Kontrolle einer Schöpfergestalt wie in den zuvor besprochenen Werken, sondern durch eine vom Menschen herbeigeführte Katastrophe mit unvorhersehbaren Folgen. Da Mensch-Tier-Hybride bei Varo durchaus positiv konnotiert sind,52 kann die hier dargestellte Welt – analog zur These Kestings – im Modus einer soeben neu entstehenden Welt nach dem Vorbild des Surrealismus beziehungsweise den Visionen Varos gedeutet werden. Denn insbesondere in der Ei- und Blumensymbolik kulminiert die Utopie eines neuen Anfangs. Lehnert wirft in ihrer Auseinandersetzung ebenfalls das Problem auf,
48 Lehnert, Gertrud: Endzeitvisionen in der Science Fiction, in: Kaiser, Gerhard K. (Hg.): Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 297-312, hier S. 303. 49 Ebd. 50 Kesting, Marianne: Warten auf das Ende. Apokalypse und Endzeit in der Moderne, in: Kaiser, Gerhard K. (Hg.): Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 169-186, hier S. 174. Kesting arbeitet am Beispiel Paul Valérys (1871-1945). 51 Cooper, Jean C.: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Leipzig 1986, S. 41. 52 Vgl. Burchert: Die Alchimie des Bildes (wie Anm. 3), S. 75-76.
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Abb. 9: Remedios Varo, Naturaleza Muerta Resucitada (Belebtes Stillleben), 1963
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dass Zerstörung auf diese Weise mitunter als »notwendiges Mittel«53 für den Neubeginn erscheine. Genau in dieser Ambivalenz bewegen sich auch Varos Sujets: Zwar problematisieren die Werke Sinnlose Wissenschaft und Ungehorsame Pflanze die moderne Wissenschaftspraxis und die Naturzerstörung. Das Werk Entdeckung eines mutierten Geologen zeugt zugleich von der Erfüllung des Traumes von einer neuen Welt und neuem Leben, wie auch in den anderen Schöpfungsbildern Varos sichtbar wird. Bei aller Skepsis Varos scheint der Glaube an die Regenerationskraft der Natur stärker als die Angst vor der Zerstörung zu sein. Dies zeigt sich auch in Varos Gemälde Naturaleza Muerta Resucitada (Belebtes Stilleben) (1963), dem letzten Werk, das sie vor ihrem Tod fertigstellte (Abb. 9). Miteinander kollidierende Früchte kreisen in der Darstellung als Planetensystem über einem Tisch und um eine Kerze. Aus den aufbrechenden Fruchtkörpern fallen Samen, die auf dem Boden des Innenraumes Triebe und Wurzeln ausbilden. Eine Interpretation in Anlehnung an Hoyle bietet sich auch hier an.54 So heißt es bei Hoyle, dass die Zerstörung von Himmelskörpern kein absolutes Ende darstelle, sondern die Möglichkeit für die Entstehung von Neuem biete. Er begriff das gesamte Universum, Makro- wie Mikrokosmos, als Organismus, der sich ins Unendliche fortsetzt und jeglichen Materie- und Energieverlust kompensiert.55 Von der Hoffnung auf Transformation und Regeneration ist auch die post-nukleare Szene in Mutierter Geologe geprägt. Zerstörung würde der Argumentation Hoyles zufolge in einer Umformung der Natur münden, dies entspricht Varos fantastischsurrealen Kopfgeburten und könnte zugleich die Verwirklichung einer jahrhundertealten Kunstutopie bedeuten. Die Figur in dem Werk Entdeckung eines mutierten Geologen lässt sich nicht mehr als Mensch beschreiben, vielmehr ist ein Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier dargestellt. Die Trennung von Mensch und Tier, Kultur und Natur wird aufgehoben durch die künstlich erzeugte, partielle Selbstzerstörung des Menschen, der nur noch als Genmutation und als Teil eines zuvor Anderen und einer jetzt neuen Natur fortbesteht. Hier kommt die Einsicht zum Tragen, dass das menschliche Einwirken auf die Natur Folgen hat, die nicht nur die zukünftige Naturgeschichte nachhaltig beeinflussen können, sondern den Menschen zum Objekt von Veränderungen machen, die an seiner Existenz rühren. Diese Ein-
53 Lehnert: Endzeitvisionen in der Science Fiction (wie Anm. 48), S. 303. 54 Rivera, Magnolia: Trampantojos. El círculo en la obra de Remedios Varo, Mexiko Stadt 2005, S. 190-191. 55 Hoyle: Die Natur des Universums (wie Anm. 47), S. 127-128.
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sicht wäre der Bildlogik Varos zufolge nicht negativ zu deuten, schließlich verstand sie Natur als etwas Regeneratives und unendlich Transformierbares.
F AZIT Obwohl Remedios Varo in Werken der 1950er Jahre Bezug auf die antike Kosmologie und damit die Vorstellung einer unveränderlichen, ewigen Natur Bezug nimmt, erscheint Natur bei ihr doch stets als etwas, das einer kulturellen Strukturierung, (Um-)Formung und Behandlung unterliegt und in dauernden Erneuerungen und Variationen existiert. Entscheidend ist dabei der Fortbestand des Lebens in seinen unterschiedlichen Formen, die nicht bewertet werden. Mögliche kritische Impulse in Varos Werk bleiben ambivalent. Die Motive changieren zwischen der Sichtbarmachung von Zerstörung auf der einen und von Kreativität im Sinne einer Schöpfungskraft auf der anderen Seite, sie üben Kritik an den Wissenschaften und bringen zugleich eine Faszination für die Hervorbringung neuen Lebens auf Grundlage des Naturwissens zum Ausdruck. In den meisten Werken werden die Neuschöpfungen im Einklang mit der Natur gezeigt und in einer friedlichen, symbiotischen Verbindung mit der Natur sowie ihren Prinzipien inszeniert. Diese Logik höhlt die heutige Kritik an Formen der Gentechnologie und anderen Eingriffen in die Natur wie etwa im Geoengineering aus, insofern mit ihr der Glaube an eine ursprüngliche, schützenswerte Natur und Natürlichkeit seine Grundlage verliert. Das von Varo übergeordnete Ideal ist das des Lebens und der Lebendigkeit – ob diese künstlichen oder natürlichen Ursprungs ist, spielt dabei keine Rolle.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Öl und Perlmutt auf Holz, 77 x 95 cm, Mexiko, Privatbesitz Abb. 2: Öl auf Holz, 91 x 61 cm, Mexiko, Privatbesitz Abb. 3: Öl auf Holz, 54 x 64 cm, Mexiko, Privatbesitz Abb. 4: Öltempera auf Holz, 67,4 x 42, 6 cm, Privatbesitz unbekannt Abb. 5: Öl auf Leinwand, 75 x 50 cm, Mexiko, Privatbesitz Abb. 6: Öl auf Holz, 84 x 62 cm (oval), New York, Privatbesitz Abb. 7: Öl auf Holz, 105 x 53 cm, Mexiko, Privatbesitz Abb. 8: Öl auf Holz, 60,2 x 50, 6 cm, Galería Arvil, Mexiko Abb. 9: Öl auf Leinwand, 110 x 80 cm, Privatbesitz, Valencia Abb. 1-9: Gruen, Walter et al.: Catalogue Raisonné, Mexiko, 3. Auflage, 2002
Zwitterwesen Unterwasserfilm Die mediale Durchmessung eines Naturraums in frühen Filmen von Jacques-Yves Cousteau und Hans Hass
I SABELLE S CHWARZ
Dieser Beitrag untersucht die ersten Beispiele von Unterwasserfilmen der 1940er und 1950er Jahre als ihrer Eigenart nach hybride Erscheinungsformen, die sich in einem Feld von Filmgenres verorten lassen, in deren Traditionen stehend sie Wissenschaft und Kunst auf komplexe Weise miteinander verbinden. Der Vorstoß in ein unbekanntes Territorium auf der Grundlage technischer Innovationen birgt naturgeschichtlich relevante Neuentdeckungen, die immer auch die Naturwissenschaften insgesamt, durch Beobachtung, Dokumentation und Erforschung, vorangebracht haben. Im Fokus stehen die mediale Umsetzung der Filme sowie Grenzen, Brückenschläge oder Interferenzen zwischen sachorientierter Beobachtung und dokumentarischer Aufzeichnung einerseits und fiktiven Narrationen auf den Ebenen von Bild (Motive und Perspektiven), Ton (Musik, Atmosphäre und Kommentar) und Struktur (Rahmenhandlung, Kapitel und Spannungsbögen) andererseits. Hier sind Filme ausgewählt, die (vorwiegend) im offenen Meer, in freier Wildbahn, und nicht in einer künstlichen Unterwasserwelt, also im Aquarium gedreht wurden. Ausgewählt wurden paradigmatisch die ersten Arbeiten von zwei Filmemachern, die dem Unterwasserfilm insbesondere auch durch die Neuund Weiterentwicklung technischen Geräts und die Möglichkeiten eines größeren, freieren Bewegungsradius den Weg bereiteten und seine Anfänge bestimmten: Der österreichische Filmemacher und Taucher Hans Hass (19192013) nahm 1939 erste Experimente mit der Filmkamera in der Karibik vor Bonaire vor, die allerdings fehlschlugen. 1939/40 entstand das Material für den
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(Kurz-)Film Pirsch unter Wasser vor Curaçao (und im Nachgang an der Küste von Dalmatien), 1951 erschien sein »Expeditionsfilm«1 Abenteuer im Roten Meer.2 Bei Jacques-Yves Cousteau (1910-1997)3 handelt es sich um den sicherlich bekanntesten Meeresforscher und Unterwasserfilmer, dessen preisgekrönter Unterwasserfilm Le Monde du Silence 1956 in die Kinos kam.4 Bei den Filmen
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Hans Hass im Vorspann zum Film. Vgl. Waz, Gerlinde: Heia Safari! Träume von einer verlorenen Welt. Expeditions-, Kolonial- und ethnographische Filme, in: Zimmermann, Peter (Hg.) im Auftrag des Hauses des Dokumentarfilms: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd. 2: Weimarer Republik 1918-1933, hg. von Kreimeier, Klaus/Ehmann, Antje/Goergen, Jeanpaul, Stuttgart 2005, S. 187-203. Zum Begriff, seiner Einordnung und der Verwendung bei Hass folgen im Rahmen des Beitrags noch weitere Erläuterungen.
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Ich danke dem Hans Hass Institut und Archiv und insbesondere seinem Leiter Michael Jung für die freundliche Genehmigung des Abdrucks von Filmstills. Aufschlussreich für die ersten Filmversuche und für ein Verständnis von der Pionierleistung Hans Hass, dem Filmen beim freien Schwimmen ohne Stativ und Taucherausrüstung, ist ein Vergleich bei Jung, Michael: Hans Hass – Erster in allen Meeren. Aus der Pionierzeit des Forschungs- und Sporttauchens, Berlin 2016, S. 37. Jung beschreibt diese Versuche als »Eroberung des dreidimensionalen Raumes« unter der Wasseroberfläche, vgl. ebd., S. 47. Für gute Aufnahmen unter Wasser war die Entwicklung eines Kameragehäuses (Rolleimarin) maßgeblich. Auch zur Verbesserung der Taucherausrüstung trug Hass wesentlich bei, vgl. ebd., u. a. S. 40, 50. Er modifizierte die sogenannte ›Dräger-Gegenlunge‹, mit der sich ein Taucher freier unter Wasser bewegen konnte (im Einsatz bei Hass erstmals 1942). Die Schattenseite war der Einsatz des Geräts auch im militärischen Bereich. Alfred Wurzian, der in dem Film Pirsch unter Wasser mitwirkte, brachte im Zweiten Weltkrieg seine Kenntnisse als Ausbilder von Tauchern bei der Wehrmacht ein.
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Auch Cousteau wirkte an der Verbesserung der Taucherausrüstung mit. Gemeinsam mit Georges Commeinhes und dem Ingenieur Émile Gagnan entwickelte er auf der Grundlage seiner Erfahrungen 1942 die ›Aqualunge‹, ein Presslufttauchgerät, das in seiner Bauart bis heute nahezu unverändert geblieben ist. Cousteau hatte 1942 einen ersten Unterwasserfilm gedreht, Par dix-huit mètres de fond mit Philippe Tailliez, Frédéric Dumas und Léon Vêche (Premiere war im Jahr 1943). Für die gleichnamige Publikation mit Abbildungen von den Tauchgängen vgl. Cousteau, Jacques-Yves: Par dix-huit mètres de fond, Paris 1946.
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Die Cousteau Society, Paris, konnte die Bildrechte für die Abbildung von Filmstills für diesen Beitrag leider nicht freigeben, da diese nach Auskunft ausschließlich für Aktivitäten der Gesellschaft verwendet werden (www.cousteau.org). Zu verweisen ist
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von Cousteau und Hass scheint es sich in erster Linie um frühe Beispiele einer Naturfilmdokumentation zu handeln, eine Bezeichnung, die jedoch Inszenierung und Narration, ein sich abzeichnendes Mensch-Tier-Verhältnis und die Besonderheiten der Aufzeichnung des Meeresraums nicht ausreichend wiederspiegelt. Es ist anzumerken, dass die Filmtypologie in dieser zeitlichen Phase, die nur wenige Beispiele umfasst, nicht ausdifferenziert war. Beide Filmemacher tauchten zudem mit einem wissenschaftlichen Impetus, den sie im Film, aber auch in ihren Publikationen immer wieder betonen. Es bleibt im Folgenden zu untersuchen, inwieweit und mit welchen, dem Wissenschaftsfilm entlehnten Elementen sie diesem Anspruch gerecht werden. Cousteaus und Hass Arbeiten lassen sich als populärwissenschaftliche Filme beschreiben, womit sie mit ihrem Thema in die Tradition eines weiteren Pioniers des Unterwasserfilms rücken, des französischen Naturforschers, Filmemachers und Schauspielers Jean Painlevé (19021989). Von ihm stammen erste Unterwasseraufnahmen aus den frühen 1930er Jahren, es sind die ersten, die für einen Film gedreht wurden (L’Hippocampe ou »Cheval Marin«, 1934, mit Aufnahmen auch aus der Bucht von Arcachon)5. »In vielen seiner [gem. ist Jean Painlevé, Anm. d. Verf.] Texte zeigt sich sein Interesse an Filmtypologien (zum Beispiel populärer Film, reiner Forschungsfilm, Bildungsfilm, Spezialfilm), sein Anliegen an der Gründung von Institutionen für Lehrfilme und wissenschaftliche Dokumentarfilme und die Ethik eines solchen Filmemachers. Und wenn man über die Bedeutung von Painlevé nachdenkt, so ist man angesichts seines Pioniergeistes eher geneigt, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken […]. Man denke bei-
u. a. auf die französische Originalfassung des Films auf DVD von 2010, TF1 Vidéo (inkl. Dokumentation). 5
Vgl. Berg, Brigitte: Contradictory Forces: Jean Painlevé, 1902-1989, in: Bellows, Masaki/McDougall, Marina, mit dies. (Hg.): Science is Fiction. The Films of Jean Painlevé, Cambridge, Mass./London/San Francisco 2000, Übers. ins Englische: Jeanine Herman, S. 3-47, hier v. a. S. 23-27. Bereits in seinen ersten Filmen hatte sich Painlevé mit Meereslebewesen auseinandergesetzt. Der Beschäftigung mit Seepferdchen voraus gingen die Filme La Pieuvre (The Octopus) (1928), L’Oursin (The Sea Urchin) (1928), Le Bernard-L’Ermite (The Hermit Crab) (1929), Hyas et sténorinques (Hyas and Stenorhynchus) (1929), um nur einige der bekannteren Werke zu nennen. 1935 gründete Painlevé zusammen mit dem französischen Marineoffizier und Erfinder Yves Le Prieur die erste Tauchervereinigung: »For Painlevé, Le Prieur’s new diving apparatus seemed to offer an entrance into a kind of utopia of underwater living. Indeed, he dreamed of one day creating a studio – complete with film equipment, scientific apparatus, and technicians – entirely underwater.« Ebd., S. 29.
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spielsweise an die Unterwasserfilme von Jacques Cousteau, für dessen ersten Film Painlevé das Filmmaterial besorgte; an Painlevés Beteiligung an der Entwicklung von Unterwasserkameras und Tauchausrüstungen oder an die erste Live-Sendung, 1948 in Paris und London, bei der Painlevé ein Mikroskop an die Fernsehkameras anschloss. Das Thema dieser beiden Vorführungen war die Vielfalt an Organismen in einem einzigen Tropfen Wasser.«6
Die Pionierleistung Painlevés, »bedeutendste Persönlichkeit der Avantgarde auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Films«7, kann in diesem Kontext und gegenüber den beiden hier im Zentrum stehenden Filmemachern nicht hoch genug eingeschätzt werden, ist sein Œuvre doch ein Meilenstein des Genres,8 das auf den Film und die bildende Kunst bis heute, auch durch die wissenschaftliche Aufarbeitung durch das unabhängige Archiv Les Documents Cinématographiques, Paris, Einfluss genommen hat: »Although Painlevé worked side by side with scientists, he made a distinction between the research films created for the science community and films that popularized science for the public. It is in this latter category that Painlevé is most celebrated. Yet, as a pioneer
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Burt, Jonathan: Das Leben im Meer in Kunst und Wissenschaft. Jean Painlevés L’HIPPOCAMPE, OU »CHEVAL MARIN«, in: Nessel, Sabine/Pauleit, Winfried/ Rüffert, Christine/Schmid, Karl-Heinz/Tews, Alfred (Hg.): Der Film und das Tier. Klassifizierungen, Cinephilien, Philosophien, Berlin 2012, S. 46-60, hier S. 46.
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Sadoul, Georges: Geschichte der Filmkunst, Frankfurt a. M. 1982, S. 286.
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Painlevé gelang ein Meilenstein auch auf technischer Ebene, wird ihm doch die Erfindung der ersten Unterwasserfilmkamera zugeschrieben, die er bei der eigenen Arbeit einsetzte. Auch andere Filmemacher behaupten die Entwicklung bedeutsamer und den Radius erweiternder submariner Filmtechnik ebenfalls für sich, darunter Hans Hass und Jaques-Yves Cousteau. Die Geschichte der Unterwasserfotografie hingegen kann hier nicht Gegenstand sein. Allerdings sind für diesen Bereich der Engländer William Thompson (1822-1879) mit der weltweit ersten Unterwasserfotografie 1856 und der Franzose Louis Boutan (1859-1934) zu nennen. Des Weiteren ist auch Roy Waldo Miner (1875-1955) zu erwähnen, Meeresbiologe am New York City’s American Museum of Natural History, der für seine Fotoaufnahmen unter Wasser mit einem Taucherhelm aus Messing arbeitete. Zum Verfahren der Unterwasseraufzeichnung, wie Hans Hass es in New York bei Miner kennenlernte, vgl. z. B. Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), S. 40. Über seine Forschungen, etwa vor den Bahamas, Andros Island, publizierte Miner u. a. in der Juni-Ausgabe des National Geographic von 1934. Vgl. auch Miner, Roy Waldo: Field book of seashore life, New York 1950.
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of science cinema, particularly underwater filmmaking, Painlevé with his idiosyncratic sensibility, did not reach mass audiences like the better-known Frenchman Jacques Cousteau.«9
Die Arbeiten von Painlevé lassen sich als ein wissenschaftlich-künstlerisches Zwiegespräch auf verschiedenen Ebenen beschreiben; angesiedelt in diesem komplexen Spannungsfeld schlagen sie in ihrer formalen Ästhetik und ihrem motivischen Sublimierungswert Brücken zwischen einander (scheinbar) per se entgegengesetzten Filmtypen,10 verbinden Heterogenes, Objektivität und Imagination, und sind vermutlich gerade in diesem Aspekt für die Kunst besonders fruchtbar. Bis heute werden seine Filme (vor allem) im künstlerischen Kontext rezipiert und diskutiert.11 Painlevé stand mit surrealistischen Kreisen in Verbindung, auf die seine Arbeit durchaus Einfluss nahm. Bereits auf den Premieren lösten seine Filme eine Diskussion über die Definition des Wissenschaftsfilms und die Bedeutung des Films für wissenschaftliche Zwecke insgesamt aus.12 Die Leiterin von Les Documents Cinématographiques, Brigitte Berg, zitiert den Schriftsteller und Dichter Ivan Goll, mit dem Painlevé neben anderen die einzige Ausgabe der Zeitschrift Surréalisme herausgab, um die Auflösung von Grenzen im Denken begreifbar werden zu lassen: »Everything the artist creates originates in Nature.«13 Allerdings umfasst sein Werk keine Filme, in denen beispielhaft das Vordringen in den unbekannten Naturraum inszeniert wird, wie bei Cousteau und Hass, vielmehr holen sie das Unbekannte in die Sphäre des Menschen und unterziehen es hier einer Analyse. Wenn das Durchbrechen der Meeresoberfläche zur Erschließung der Unterwasserwelt explizit gezeigt wird, dann vorrangig im flachen Gefilde, bei niedrigem Wasserstand, beispielsweise in dem Film Les amours de la pieuvre von 1967 (entstanden in Zusammenarbeit mit Geneviève Hamon).
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McDougall, Marina: Introduction: Hybrid Roots, in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. XIV-XVIII, hier S. XVII.
10 Zu den Schriften und Vorträgen von Jean Painlevé vgl. u. a. die Bibliografie in Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5). 11 Für eine Beschäftigung der französischen Avantgarde mit dem Dokumentarfilm vgl. u. a. Sadoul: Geschichte der Filmkunst (wie Anm. 7). 12 Zur Skepsis von Wissenschaftskreisen gegenüber dem Filmmedium und den Filmen Painlevés vgl. u. a. Jean Painlevé reveals the invisible. Hélène Hazéra and Dominique Leglu [Interview in Libération, 1968], in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. 171-179, hier S. 172. 13 Ivan Goll, zit. nach: Berg: Contradictory Forces (wie Anm. 5), hier S. 12.
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Küstenlinie: Einschlüsse und Abgrenzungen Zu den Pionieren der Unterwasserfilmgeschichte zählt auch John Ernest Williamson (1881-1966) mit der Filmserie Thirty Leagues under the Sea von 1914,14 genannt Williamson Expeditionary Picture, die nicht nur dem Titel nach ihre Inspiration in den Science Fiction-Erzählungen von Jule Vernes fand, aber auch mit den späteren Filmen Wonders of the Sea von 1922 und With Williamson Beneath the Sea von 1932.15 Die Aufnahmen wurden mithilfe der sogenannten Photosphere gemacht, einer Kammer mit gläsernen Fenstern am Ende einer faltbaren Röhre, die mit einem Schiff verbunden war, von wo aus Williamson das Filmen unter Wasser gelang. Die Filme befassen sich, indem sie den Aktivitäten des Unternehmers und Abenteurers folgen, mit seiner Erforschung einer Welt unter Wasser. Daneben entstanden Filme und Unterwasserfilm-Footage für Spielfilme, die ›J. E.‹ gemeinsam mit seinem Bruder George M. Williamson für Studios wie Universal, Goldwyn und MGM zum Teil mit verschiedenen Regisseuren drehte. Diese folgten keinem wissenschaftlichen Anspruch, sondern sind dem Unterhaltungsgenre zuzurechnen. Die Library of Congress, die das Filmerbe Williamsons bewahrt, unterzog die Überreste einer aufwendigen Restaurierung; eine Sichtung für diesen Artikel war nicht möglich. Der Filmhistoriker und Archivar Brian Taves betont den nicht nur historischen, sondern auch wissenschaftlichen Wert der Filme und des verbliebenen Materials und hebt die Bedeutung der Fahrten und Tauchgänge in der Photosphere sowie die dokumentarische Arbeit des Ehepaars Williamson hervor. Er schließt seinen kursorischen Artikel zum Thema mit einem paradigmatischen Hinweis auf die Pionierzeit des Tauchens zu Film-
14 »The documentary showed how the photosphere functioned and the manner in which the Bahamas depended on the life in the sea. Thirty Leagues under the Sea was climaxed by J.E.’s fight with a shark, which he killed with a knife while remaining within the camera’s range. Although the film is now apparently lost, the Library [Library of Congress, Washington D. C., Anm. d. Verf.] has over forty stills submitted for copyright deposit.« Taves, Brian: With Williamson Beneath the Sea, in: Journal of Film Preservation, Volume XXV, No. 52, April 1996, http://jv.gilead.org.il/taves/ withwill.html [Stand: 23. Juli 2017]. 15 »In 1922, Williamson took over all aspects of his next film, writing, directing, producing, and even portraying himself. The result was Wonders of the Sea, a combination fiction and non-fiction film about Williamson’s search, using the photosphere, for a sea monster in the West Indies. The movie included actual footage shot that same year of Alexander Graham Bell descending in the photosphere on a visit just months before his death.« Ebd.
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zwecken, für die Williamson zweifellos steht: »With Williamson beneath the Sea is emblematic of a period in filmmaking, long past, when pioneers were partscientist, part-showman, and part-promoter on endeavors that involved as much adventure as technology. They managed to convey to wide audiences their enthusiasm for the distant, exotic, and little known regions of the world.«16 In der Tat besitzt diese Beschreibung der Unterwasser-Filmpioniere auch ihre Gültigkeit für Cousteau und Hass. Eine Untersuchung des Filmmaterials Williamsons in der Zusammenschau mit den hier ausgewählten Beispielen unter der vorgeschlagenen Perspektive ergäbe sicherlich ein erweitertes Bild der vom Unterwasserfilmgenre hervorgebrachten ›Zwitterwesen‹. Vor dem Hintergrund von Williamsons Arbeit und Persönlichkeit wird deutlich, welchen Enthusiasmus die Filmemacher für ihr Forschungsfeld mitbrachten und wie weitreichend ihr Arbeitsfeld im Rahmen der Projekte war. Auch diese Aspekte können einer Expedition eine inhaltliche Richtung geben und formalästhetische Entscheidungen beeinflussen.17 Indem die Auswahl auf erste Unterwasserfilme fällt, die in freier Wildbahn spielen, entfallen die insbesondere während der 1910er Jahre entstandenen populären, aquatischen Kurzfilme für eine Untersuchung. Diese Filme bezeichnet der Kunst- und Filmwissenschaftler Christian Hadorn als »Ursprung des Unterwasserfilms«18. Auch eine berückend dramatische Produktion wie Fantasia Sotto-
16 Vgl. ebd. 17 Weitere frühe Unterwasserproduktionen auf der Grundlage von Tauchgängen sind Wunder der Tierwelt im Wasser von 1931 (Regie: Felix Lampe, Kamera: Bernhard Juppe, Werner Krien, Kurt Stanke und Jünemann, Universum-Film AB, Ufa, Berlin) und Meerestiere in der Adria von 1933/34 (Regie: Ulrich K. T. Schulz, Kamera: Kurt Stanke, Wilhelm Mahla, Universum-Film AG, Ufa, Berlin, Kulturabteilung). U. a. von Ulrich K. T. Schulz entstand in den 1920er Jahren eine Reihe von Naturfilmen zu Meerestieren, die allerdings nicht im offenen Meer gedreht wurden, vgl. auch Stutterheim, Kerstin: Gezüchtet und geopfert. Der Tier- und Naturfilm, in: Zimmermann: Geschichte des dokumentarischen Films (wie Anm. 1), S. 173-186, hier S. 183-185. 18 Hadorn, Christian: Der Schock des Wirklichen. Wissenschaftsfilm und Pariser Avantgarde, Marburg 2015, S. 56. Hadorn, dessen Untersuchung der französischen Filmgeschichte gilt, fasst weitere Wurzeln des aquatischen Films in aller Kürze zusammen. Diese Filmgruppe der 1910er Jahre wurde in Paris vor allem von den Studios Pathé, Éclair und Gaumont gezielt für einen Kinomarkt produziert, der im Bereich des populären biologischen Films aufblühte. Vgl. zu einem »Ursprung des dokumentarischen Films« und seiner frühen Geschichte auch Sadoul: Geschichte der Filmkunst (wie Anm. 7), S. 281-296.
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marina (uraufgeführt 1940 in Rom) des italienischen Regisseurs Roberto Rossellini (1906-1977) findet hier keine Berücksichtigung: Es gibt eine fiktive Handlung, die Tiere werden geradezu zu Darstellern einer Erzählung, vor allem stammen die Aufnahmen nicht aus der freien Natur, sondern wurden 1938 vor einem heimischen Aquarium bei Rom abgedreht.19 Christian Hadorn gibt zusammenfassend eine Einordnung der frühen aquatischen Filme mit besonderem Fokus auf Momente einer Dramaturgie und Narration des Spielfilms im Rahmen eines (primär oder vorgeblich) naturwissenschaftlichen Vorgehens: »Wenn man die Überlegungen zur Anthropomorphisierung und dramatischen Terribilisierung dieser Filme noch ein wenig weiterspinnt, wird an dieser filmhistorischen Stelle klar, dass die Grenzen zur fiktionalen Narration hier offen sind, dass dokumentarische Natur-Dramen Steigbügel für fiktionale Kino-Dramen sein können, die dann im Falle von Roberto Rossellinis inszeniertem Dokumentarfilm FANTASIA SOTTOMARINA (1939) mit der Hochzeit eines Fisches oder im Falle der abendfüllenden Dokufiktionen der
19 Dieser Film lässt sich eher in den Kontext früher fiktionaler Tiergeschichten stellen, die mit lebenden Tieren inszeniert und gedreht wurden, z. B. Die Biene Maya und ihre Abenteuer. Die Literaturadaption von Wolfram Junghans, die in Zusammenarbeit mit dem Autor entstand und deren Umsetzung mehrere Jahre in Anspruch nahm, wurde 1926 uraufgeführt. Für alle Rollen wurden Tiere eingesetzt. Unter den Verfilmungen des Romans von Waldemar Bonsel gilt sie damit als ein Höhepunkt, ein »dokumentarischer Kassenschlager zum Sujet Honigbiene in sechs Akten und mit dramatisierenden Zwischentiteln«. Straub, Prisca: Erstaufführung von Biene Maya in Berlin. Das Kalenderblatt, in: Radio Bayern 2, 8. April 2013, http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalender-blatt/ 0804-biene-maja-erst-aufführung-stummfilm-100.html [Stand: 30. Dezember 2017]. Diesen Film hat Gerlinde Waz, Deutsche Kinemathek, Berlin, in einem Vortrag untersucht: »Die berühmteste Biene der Welt: klein, frech und schlau. Biene Maya – eine filmhistorische Betrachtung«, Symposium »Go Wild. Natur- und Tierfilm im Fokus – Symposium und Screening«, Hochschule Hannover, Fakultät III – Medien, Information und Design, 7. und 8. Dezember 2017. Waz arbeitet heraus, dass sowohl das Buch als auch der eng ans Buch angelehnte Film auf biologischen Erkenntnissen basieren und damit ethologische Fakten – eingebettet in eine narrative Handlung – präsentieren. Ein anderer Film, der in diesem Zusammenhang von Interesse sein kann, ist Mungo, der Schlangentöter von Wolfram Junghans und Ulrich K. T. Schulz aus dem Jahr 1927, gedreht im Biologie-Studio der Ufa, Babelsberg. Weitere Filmproduktionen mit einer der Ethologie übergeordneten SpielfilmHandlung ließen sich in diesem Zusammenhang aufführen.
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1950er Jahre von Hans Hass, Jacques-Yves Cousteau und Folco Quilici mit dem glücklichen Ausgang eines submarinen Tauchabenteuers enden können.«20
An der frühen Peripherie der hier aufgeführten Filme findet sich ein Dokumentarfilm über griechische Schwammtaucher vor Florida aus dem Jahr 1932. Die Unterwasseraufnahmen der schwer arbeitenden und sich gegen die Strömung stemmenden Taucher gehen entsprechenden Szenen im ausgewählten Film Cousteaus voraus. Als Sprecher der Produktion fungierte der US-amerikanische Schriftsteller und ›Forschungsreisende‹ Lowell Thomas (1892-1981). Er übernahm diese Rolle auch für einen weiteren Dokumentarfilm, Killers of the Sea von 1937, der unter der Regie von Raymond Friedgen (1893-1966) entstand. Hier geht es nicht um das Meer als biologischen beziehungsweise zoologischen Erfahrungsraum, denn die Unterwasseraufnahmen bilden nur ein Filmkapitel unter anderen. Auszuschließen sind ebenso Filme, die zwar im offenen Meer gedrehte Szenen enthalten, jedoch ausschließlich fiktiven Charakter haben. Ein solcher Spielfilm mit für die betreffende Zeit spektakulären Unterwasseraufnahmen ist die spätere US-amerikanische CinemaScope-Produktion, Beneath the 12-Mile Reef (Das Höllenriff), die unter der Regie von Robert D. Webb (19031990) im Jahr 1953 entstand. Sie steht für die enge Verzahnung des Abenteuerfilms mit dem Unterwasserfilm. Allerdings geht es hier nicht primär um die Erschließung eines neuen Raums, auch sind die unter Wasser gedrehten Szenen ausschließlich in dramaturgischer Hinsicht von Bedeutung für eine wenig komplexe Handlung über Wasser. Im Zusammenhang mit diesem Film steht die USamerikanische Fernsehserie Sea Hunt (1958-1961) mit dem Schauspieler Lloyd Bridges in der Hauptrolle. Sowohl Beneath the 12-Mile Reef als auch Sea Hunt sind Produktionen aus dem Unterhaltungssektor. Wenn sie auch aufwendig gedrehte Unterwasserszenen zeigen, dann doch ohne wissenschaftlichen Anspruch oder naturkundlichen Erkenntnisgewinn, so dass sich in ihnen unter der hier angelegten Perspektive kein Spannungsfeld heterogener Kriterien ergibt. Über eine narrativ angelegte Inszenierung hinaus, die in den bereits genannten Filmen sichtbar wird, sind im Folgenden Kriterien zu untersuchen, die die Definitionsgrenzen eines Genres öffnen. Es schließt sich die Frage an, mit welchen Mitteln Geschichten erzählt werden, wenn es eigentlich um eine Dokumentation geht, und welches Bild von der Unterwasserwelt insgesamt vermittelt wird. Zudem muss mit Blick auf die Popularität der ausgewählten Filme eine andere Bewertungsebene eingeführt werden, da es sich um Filme – in zwei Fällen in Spiel-
20 Hadorn: Der Schock des Wirklichen (wie Anm. 18), S. 55.
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filmlänge – handelt, die von einem bislang unbekannten Lebensraum erzählen und das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes in ein neues Thema eintauchen lassen. Es ist allerdings nicht Ziel dieses Artikels, die Rezeptionsgeschichte der Filme von Seiten der Kunst zu untersuchen. Speziell in den frühen Filmen der Unterwasserfilmpioniere, in denen das Meer einen neuen, eben jenen weit entfernten, exotischen und wenig bekannten Erfahrungsraum bot und die noch nicht weit entwickelte Technik für das Filmen (und für eine fundierte Forschung) unter Wasser einen Raum für Experimente, Neuentdeckungen und Zufälle lieferte, finden Wissenschaft und Kunst auf besondere Weise zusammen. Der Wissenschaftsforscher und Soziologe Dirk Verdicchio deutet dies mit Blick auf das Medium als solches und unter Bezugnahme auf eine Verbindung von Kunst und Natur einmal mehr an: »Filme sind aufgrund ihrer medialen Eigenschaften für die Herstellung von hyperkonnektiven und affektiven semantischen Formen offenbar besonders geeignet. Sie sind per Definition immer schon polysem und verfügen über ein großes und erprobtes Repertoire spektakulärer inszenatorischer Mittel.«21 Der Biologe und Philosoph Cord Riechelmann schärft, ohne sich direkt auf die Unterwasserfilmer zu beziehen, den Blick für die Bedeutung, die das Medium Film für die in ihm festgehaltene wechselhafte Beziehung des Menschen zum Tier zwischen Nähe und Distanz hat: »Indem der Mensch auf das Tier schaut, beginnt er den Abstand des Menschen zum Tier zu ermessen. Der Film markiert in dem Prozess der ungeheuren Geschichte der menschlichen Bildschöpfungen vom Tier eine Art Neuanfang nicht nur im technischen Sinn.«22 Mit konkretem Bezug auf das Meer als Ort, an dem diese Beziehung sich entfalten kann, beschreibt der Autor Jonathan Burt ein sich auf Interaktion (Bewegung) und ›Verwandtschaft‹ begründendes Verhältnis zwischen Mensch und Tier: »Der Film ist vor allem das Ineinandergreifen von Gemeinschaften zweier unterschiedlicher Arten, was wiederum diverse, wesentliche Konsequenzen für beide hat. Am direktesten beeinflussen die Interaktionen an diesem Begegnungsort [ganz explizit hier das Meer, Anm. d. Verf.] Verhalten und Bewegung […]. Ich verwende den Begriff ›Gemeinschaft‹, denn der Prozess ist eng verbunden mit einer intensiven Beschäftigung (häufig bei Tierfilmen anzutreffen) mit Verwandtschaften im weitesten Sinne, sowohl zwischen als auch innerhalb von Arten. Sie bindet alle Wesen in ein Netz von Verbindungen, Familienbezie-
21 Verdicchio, Dirk: Das Publikum des Lebens. Zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms, Bielefeld 2010 (Masse und Medium 8), S. 60. 22 Riechelmann, Cord: Im Auge des Tieres. Eine kurze Geschichte des Tierfilms, in: Jungle World, Nr. 18, 5. Mai 2011, o. S.
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hungen, Elternschaft und, in diesem Falle, die vom Meer bestimmten Lebensrhythmen ein.«23
Burt ergänzt, dass sich die sogenannten Gemeinschaften nicht ohne Hierarchien darstellten und eine Begegnung zwischen den Arten nicht von beiden Seiten gleichberechtigt gestaltet werde. Vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen kursorischen Abgrenzung lässt sich ableiten, dass divergierende Bereiche, Wissenschaft und Kunst, im Medium des Films nicht nur auf besondere Weise zusammenfinden, sondern mehr noch ihre eigenen Regeln kreieren und in ihrer Visualität besondere Definitionsgrenzen setzen.24 Den Filmen ist in diesem Zusammenspiel von Dokumentation und Spielfilm, Beobachtung und Narration, Nicht-Fiktionalem und Fiktionalem, Objektivität und Imagination etwas ›Unfassbares‹ zu eigen, das anhand beispielhafter Momente der ausgewählten Filme dargelegt und diskutiert werden soll. Diese Untersuchung setzt ihren Schwerpunkt mit den drei Filmen aus den 1940er und 1950er Jahren auf Beispiele eines noch relativ jungen filmischen Bereichs. Zu dieser Zeit prägten, wie oben dargelegt, auch die technischen Bedingungen eine Ästhetik, und das Gezeigte und Erzählte erwies sich als offen für hybride Lesarten (impliziter und expliziter Natur).25 Einerseits ist zu untersuchen, ob sich die ausgewählten Filme überhaupt als Beispiele eines eigenen Genres oder als singuläre Grenzgänger einer frühen Filmtypologie beschreiben lassen. Neu sind sicherlich nicht die Berührungspunkte von Unterwasserfilmen mit der bildenden Kunst, da bereits die Filme von Jean Painlevé nachweislich Einfluss auf diese nahmen, insbesondere auf die Arbeit der Surrealisten. Näheres zu diesen Verbindungen beschreibt u. a. der Filmwissenschaftler George Sadoul:
23 Burt: Das Leben im Meer (wie Anm. 6), S. 47. 24 Vgl. auch Dulac, Germaine (1925): Das Wesen des Films: Die visuelle Idee, in: Diederichs, Helmut H. (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt a. M. 2004, S. 234-241. 25 Ausführlich dazu Hadorn: Der Schock des Wirklichen (wie Anm. 18). Wichtig für eine Eingrenzung des Themas ist zu bemerken, dass es sich beim Filmmaterial vorwiegend um Aufnahmen aus dem natürlichen Lebensraum der Tiere handelt. Es geht nicht um die bloße Dokumentation eines Wachstumsprozesses oder eines Bewegungsvorgangs. Vielmehr sind diese Filmbilder Teil der Handlung und in ein Narrativ eingebunden. Aufgrund einer Kontextualisierung und einer inhaltlichen oder atmosphärischen Aufladung lassen sich diese Aufnahmen insgesamt nicht mehr auf der reinen Sachebene zu verorten, sondern sind in einem Zwischenbereich angesiedelt.
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»Dieser ehemalige Arzt [Painlevé hatte in Paris Medizin studiert, Anm. d. Verf.] verstand es, die Photographie von Mikroben und kleinsten Lebewesen zu echter Kunst zu erheben; die künstlerische Qualität seiner Filme nahm ihnen nichts von ihrem lehrhaften und wissenschaftlichen Wert. Sein vielseitig reiches Schaffen begann in den Jahren 1926-27 mit einer Serie von Kurzfilmen: ›La Pieuvre‹ (Der Tintenfisch), ›Les Oursins‹ (Die Seeigel), ›L’Oeuf d’Epinoche‹ (Das Ei des Stichlings). Er entdeckte mit Hilfe der Vergrößerung und des Lichts eine fremde romantische Welt, die den abstrakten Gemälden eines Kandinsky ähnelt. In späteren Filmen schuf er Unterwassergemälde von fesselnder Poesie und ›popularisierte‹ dann die Wissenschaft durch phantasievolle Trickaufnahmen.«26
Painlevés Arbeiten, nicht eindeutig einer Kategorie zugehörig, bleiben eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte des Films. Nicht umsonst widmete Painlevé seinen wohl bekanntesten Film (L’Hippocampe, ou »Cheval Marin«) mit dem Seepferdchen paradigmatisch einem besonderen Geschöpf in Bezug auf eine Zuordnung von Funktionen, hier von Geschlechterfunktionen. Für die dokumentarisch ausgerichteten, von einem naturkundlichen Interesse geleiteten Filme von Cousteau und Hass bleibt vor dem Hintergrund dieser Traditionslinie zu fragen, ob diese sich auch im künstlerischen Kontext ansiedeln lassen und welche künstlerischen Mittel und Strategien sich in ihnen spiegeln.27 Im Weiteren lässt sich für die Filme konkreter nach dem Sichtbaren und Augenfälligen fragen: Was wird gezeigt und wie lassen sich ›hybride‹ Momente im Rahmen der Narration und en detail (beispielhaft) beschreiben? Es sind Momente gemeint, in denen eine außergewöhnliche Ästhetik die Wahrnehmung bestimmt, Übergänge zur Kunst greifbar werden oder Wissenschaftlichkeit und Imagination eine besondere Legierung miteinander bilden. Es geht um eine Bildsublimierung in verschiedenerlei Hinsicht,28 um Kameraperspektiven, die Auswahl von Szenen und deren Zusammenstellung, die Entscheidung für Natur- und Studioaufnahmen, eine natürliche oder gestellte Mise-en-scène, die Beleuchtung, den Umgang mit Schwarz-Weiß beziehungsweise Farbe sowie um die Tonspur, die ihr eigenes auditives ›Bild‹ vom Meer und seiner Erforschung vermittelt. Es gilt, in den Aufzeichnungen der Filmemacher die Korrelation zwischen Bereichen, wie sie der Künstler und Autor Paul Z. Rotterdam erfasst hat, offenzulegen: »Ich bin
26 Sadoul: Geschichte der Filmkunst (wie Anm. 7), S. 286. 27 Wie in der Definition von Gotthard Wolf: »Der wissenschaftliche Film ist ein Film für die Wissenschaft, d. h. für die Forschung und die wissenschaftliche Lehre.« Wolf, Gotthard: Der wissenschaftliche Film in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 5. 28 Vgl. Burt: Das Leben im Meer (wie Anm. 6), hier insb. S. 53-57.
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überzeugt, dass die Wissenschaft in viele Bezirke der Realität eindringen kann, von Mikrostrukturen bis zu den Ereignissen im Universum. Kunst jedoch wird immer über den Objekten schweben und eine Ahnung vermitteln von den innersten Bereichen der menschlichen Existenz.«29 Das gilt insbesondere auch für (populär-)wissenschaftliche Dokumentarfilme, da sie qua definitionem Verhalten aufzeichnen beziehungsweise aufbereitete Informationen wiedergeben: Der Dokumentarfilm fußt hierbei auf dem Beobachten als einer ursprünglich wissenschaftlichen Methode der Ethologie. Dabei scheute die Ethologie, ihrer Wissenschaftsgeschichte folgend, nicht das vom Verhalten des Menschen aus gedachte Erklären des Beobachteten, wie der Filmwissenschaftler Oliver Gaycken in seiner Untersuchung des Bunyuelschen Films deutlich macht: »Ein weiterer Unterschied zwischen der Verhaltensforschung und anderen wissenschaftlichen Disziplinen liegt darin, dass die Ethologie es sich nicht a priori verbietet, anthropomorph zu denken. […] So ist der Rückgriff auf Anthropomorphismen als heuristische Strategie, das Verständnis tierischer Verhaltensweisen mithilfe der Einfühlung, auch einer der Gründe, warum die offizielle akademische Welt sich lange nicht zur Ethologie bekehren wollte.«30
Die Filme, vor allem in ihrer Beschreibung als Dokufiktionen bei Hadorn, sind prädestiniert, die Aufnahmen von Naturobjekten und -phänomenen für den Zuschauer offenzulegen und über die Beschreibung dieser Phänomene hinaus als reflektorisches Medium einer Innenschau zu fungieren, nicht nur in naturkundlicher Funktion, sondern auch ästhetisch in ihrer eigenen Handschrift.
D IE M EERESOBERFLÄCHE ALS G RENZE O BJEKTIVITÄT UND I MAGINATION
ZWISCHEN
Die Begründung für einen Fokus auf den Lebensraum Meer im Rahmen einer Untersuchung von Beispielen aus der Frühzeit eines Filmgenres, das sich mit Natur befasst, auch unter der Perspektive einer Herausforderung, unter denen ein medial noch nicht durchleuchteter Raum ganz neu mit Bildern einzunehmen war,
29 Rotterdam, Paul Z.: Wilde Vegetation. Von Kunst zu Natur, München 2014, S. 24. 30 Gaycken, Oliver: Das Privatleben des Scorpion Languedocien: Ethologie und L’Age d’or (1930), 14. Januar.2005, abrufbar unter: http://www.montage-av.de/pdf/142_20 05_Oliver-Gaycken-Das-Privatleben-des-Scorpion-Languedocien.pdf (S. 44-51, hier S. 46) [Stand: Dezember 2017].
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wird im Folgenden umrissen. Die Welt unter Wasser ist kein Naturraum wie jeder andere, der zum Gegenstand von Filmaufnahmen geworden ist – jede Umwelt hat in ihrer Aufzeichnung die Filmemacher vor neue Herausforderungen gestellt; mit jedem Film ist die Erfahrung mit zu filmenden Naturphänomenen gewachsen. Aber mehr noch als der an Land lebenden Flora und Fauna haftet der Lebenswelt unter Wasser ein Moment der Sublimierung an: »Bis heute ist das Meer mit seinen unergründlichen Dimensionen eine Projektionsfläche für Träume und Vorstellungen von einer geheimnisvollen Welt geblieben. Davon zeugen nicht nur Sagen, Dichtungen und utopische Romane, sondern auch zahllose abenteuerliche Erzählungen von Seeleuten und Fischern […]. Immer wieder regen die Ozeane die Phantasie der Zuhörer an.«31
Es geht um die Beschreibung verschiedener Aspekte, mit der sich die Bedeutung des Bildes vom Meer für seine Darstellung im Film näher umreißen lässt. Das Meer ist ein Motiv, das immer schon seinen Subtext mitgeliefert und unweigerlich das Land als Gegenbild mit eingeschlossen hat; der passionierte Taucher Jean Painlevé etwa schrieb von »secret waters«32 und unterstrich die besondere Verbindung eines Forschenden zum Meer: »The job has its joys for those who love the sea. (For those, that is, who love the sea to the exclusion of all else.).«33 Von jeher ist das Meer eine reiche Inspirationsquelle für Gegenbilder gewesen, die hier auch als ein Komplementär zu den menschlichen Lebenszusammenhängen zu verstehen sind. Dies umso mehr im 19. Jahrhundert, als mit dem Einzug von Aquarien in die Wohnzimmer des Bürgertums auch die Faszination für Randgebiete des Unbekannten stieg, wie Jonathan Burt deutlich macht: Das Meer als unberührte Natur barg in dieser Zeit en miniature die Vorstellung von einer Vielfalt des Lebens durch den Einblick in ein – vom Menschen aus gedachtes – absolutes Anderssein.34 Als Denkbild für die mediale Durchmessung des Meeresraums lässt sich für die ersten Filme das eines Hortus conclusus heranziehen. In dieser Darstellungsform des Marienbildnisses folgten die floralen, malerischen Beigaben einer besonderen Kodierung. Ebenso wie der Naturraum eines ›geschlossenen Gartens‹,
31 Teutloff, Gabriele: Sternstunden des Tierfilms, Steinfurt 2000, S. 50. 32 Painlevé, Jean: The Seahorse, in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. XIII. 33 Painlevé, Jean (1935): Feet in the Water, zit. nach: McDougall: Introduction (Anm. 9), S. XV. 34 Vgl. Burt: Das Leben im Meer (wie Anm. 6), hier S. 49-51.
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»Vorbild für die Kreuzgänge der Klöster, in denen im Mittelalter das Studium der Pflanzen ihren Anfang nahm«35, öffnet sich das Meer als naturkundlich zu erschließender Lebensraum der Wissenschaft. Der auf besondere Weise geordneten Form des Marienbildnisses steht jedoch die ungezähmte Natur des Meeres gegenüber, deren mediale Bilder keiner überlieferten Anlage zu gehorchen hatten, wie sie für den Hortus conclusus vorgegeben waren. Für eine Übersetzung in Bilder bot das Meer in der Frühzeit des Tauchens Raum für Imagination, gleich den unbekannten Flecken auf einer mittelalterlichen Landkarte. Das Meer ist in dieser Zeit beides, ein abgeschlossener Raum, der zunächst undurchdringlich zu sein und seiner eigenen Kodierung zu folgen scheint, und zugleich ein Ort, der dem Studium und der Erkenntnisbildung aufgeschlossen werden kann. Ein weiteres Bild für das Meer als Spiegel des Menschen und seiner Denkweise liegt in der Darstellung des Durchbrechens seiner Oberfläche. Es findet sich zahlreich in den Filmen, zum Beispiel in Einstellungen von auftauchen oder springenden Delfinen und Walen, von einer rauen See und aufgetürmten Wellen, von Schiffskielen, die das Wasser durchpflügen, und von Tauchern. Die Meeresoberfläche, die wie ein Spiegel zwischen zwei Lebensräumen fungiert, ist Ort der Begegnung zwischen Mensch und Tier und steht oftmals für den Aufbruch des Menschen in die neue, unbekannte Welt. Weniger als ein Topos der bildenden Kunst findet sich das Durchbrechen der Meeresoberfläche als literarisches Bild u. a. in den Romanen von Herman Melville (1819-1891), Moby Dick (1851), und Jule Verne (1828-1905), Vingt mille lieues sous les mers (1869-70, erstmals verfilmt 1907 von Georges Méliès).36 Während es bei Melville verkürzt gesagt für eine Selbstreflexion des Menschen steht, geht es bei Verne um eine Gegenüberstellung von Natur und Technik und eine Auseinandersetzung mit dem technischen Fortschritt. Dies entspricht der Funktion des Bildes in den Filmen, in denen unter Verwendung eines oft militärischen Vokabulars die Errungenschaften der Technik und die daraus resultierende Überlegenheit des Menschen gegenüber den submarinen Lebensformen unterstrichen werden.37
35 Impelluso, Lucia: Die Natur und ihre Symbole. Pflanzen, Tiere und Fabelwesen, Berlin 2005 (Bildlexikon der Kunst, Bd. 7, hg. von Stefano Zuffi), S. 12. 36 Grundlegend: Stauffer, Isabelle/Arburg, Hans-Georg von/Brumer, Philipp et. al. (Hg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich u. a. 2008. 37 Zum Objektstatus des Tieres in weiteren Filmbildern vgl. Kreimeier, Klaus: Mechanik, Waffen und Haudegen überall. Expeditionsfilme: Das bewaffnete Auge des Ethnographen, in: Bock, Hans-Michael/Jacobsen, Wolfgang/Schöning, Jörg (Hg.): Trivia-
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Unter der Frage, was die ausgewählten Filme in ein Fahrwasser künstlerischer Traditionen oder Praktiken führen kann, ist ein hier beschriebenes Zusammengehen von Gegensatzpaaren wie Objektivität und Imagination,38 naturkundlich orientierter Darstellung und Fiktion mit zu untersuchen, zum Beispiel anhand von Szenen, in denen dokumentarische Bilder oder Bilder naturkundlicher Phänomene durch eine bestimmte Kameraführung oder -einstellung bis zur Abstraktion verfremdet werden oder die musikalische Untermalung den Einstellungen eine besondere Konnotation verleiht.39
D ER U NTERWASSERFILM SEINER D EFINITION
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Die Genres, in denen sich der frühe Unterwasserfilm unter wissenschaftlicher oder mindestens populärwissenschaftlicher Perspektive verorten lässt, werden in der gebotenen Kürze in wesentlichen Kriterien vorgestellt, um zwischen ihnen eine Folie von Objektivität aufzuspannen, vor der die ausgewählten Filme als Erscheinungen eines für ihre Zeit neuen Genres einen klareren Umriss gewinnen. Als Grundlage einer Verortung des frühen Unterwasserfilms wird in diesem Abschnitt mit der Zusammenführung von Definitionen verschiedener Filmgenres ein Geflecht erarbeitet, das tragfähig in Bezug auf die besondere Charakteristik der Beispiele und ihrer als heterogen zu bezeichnenden filmischen Form sein kann.40
le Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland, 1919-1939, München 1997, S. 47-62. 38 Vgl. Daston, Lorrain/Galison, Peter: Objectivity, Cambridge, Mass./London 2007. 39 Vgl. Schäfer, Mike S.: Wissenscahft in den Medien. Die Medialisierung naturwissenschaftlicher Themen, Wiesbaden 2007. Die Vorstellung von der Meeresoberfläche als Grenze zwischen Objektivität und Imagination in der bildenden Kunst ist hier nur angerissen und kann Gegenstand weiterer Reflexionen werden. 40 Für eine Behandlung zu den verschiedenen Genres, ihrer Entstehung und ihrer (zeithistorischen) Reflexion vgl. u. a. Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 6; Verdicchio: Das Publikum des Lebens (wie Anm. 21); Hadorn: Der Schock des Wirklichen (wie Anm. 18), Hadorn zeichnet eine historische Entwicklung der Definition nach, vor allem für Frankreich und unter besonderem Bezug auf Jean Painlevé, da dieser selbst Definitionen entwickelte und Verortungen diskutierte; Zimmermann: Geschichte des dokumentarischen Films (wie Anm. 1); Metz, Walter: The Avant-garde
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Für die 1920er und 1930er Jahre fasst die Kunsthistorikerin Marina McDougall die Entwicklung des Wissenschaftsfilms wie folgt zusammen: »In retrospect, what might seem to be hybrid properties today – the inventive mix of approaches, styles, and sensibilities in the work of Painlevé and his contemporaries – was perhaps only natural alchemy in the 1920s and 1930s. In this era, even the classifications of fiction and documentary had yet to become entrenched in fixed and rigid categories. Since then, as filmmaking has proliferated, film genres and subgenres have developed, narrowed, and mutated into more predictable forms and film watching experiences.«41
Die frühe Phase des Wissenschaftsfilms war von einer generellen Skepsis und von Vorurteilen gegenüber dem Medium Film von Seiten der Wissenschaft geprägt. Ein Potenzial zur Übermittlung von Fakten und zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn wurde ihm aberkannt. Es ging nicht vorrangig darum, konkrete Kriterien und Grenzen zu formulieren, die technischen Bedingungen steckten bereits einen Aufnahme- und Funktionsrahmen ab. »In den Anfangsjahren mangelte es an allem«, wie die Autorin Gabriele Teutloff speziell zur deutschen Entwicklung des biologischen Kulturfilms Ende der 1910er und Anfang der 1920er Jahre anmerkt: »An lichtempfindlichem Filmmaterial, leistungsfähigen Tele- und Makroobjektiven, Ton-, Zeitraffer- und Zeitlupeneinrichtungen. Die Kulturfilmer mussten unentwegt tüfteln, basteln und vervollkommnen, um die Geheimnisse der Natur für die Zuschauer ins Bild zu setzen.« 42 Es ging darum, technische Mängel auszugleichen, das bislang unmöglich Sichtbare oder scheinbar Unsichtbare für den Zuschauer wahrnehmbar zu machen. Gotthard Wolf, Mitbegründer des wissenschaftlichen Filmprojektes Encyclopaedia cinematographica, legte mit seiner Arbeit am Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) und seinen Publikationen eine wesentliche Grundlage für eine Definition: Er untersuchte den Wissenschaftsfilm als eine eigene (wissenschaftliche) Methode unter Beleuchtung zahlreicher Beispiele aus den einzelnen Fachgebieten der Naturwissenschaften und versuchte eine auch historische Einordnung innerhalb eines enzyklopädischen Komplexes.43 Wolf beklagte für
Among the Animals, edu.net; King, Margaret J.: The Audience in the Wilderness, in: Journal of Popular Film and Television 24, 2, 1996, S. 60-68. 41 McDougall: Introduction (wie Anm. 9), S. XVI. 42 Teutloff: Sternstunden des Tierfilms (wie Anm. 31), S. 22-23. Vgl. Stutterheim: Gezüchtet und geopfert (wie Anm. 17), hier S. 181. 43 Vgl. Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27); ders.: Der wissenschaftliche Dokumentationsfilm und die Encyclopaedia cinematographica, München 1967; ders.
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die 1950er Jahre die Vorbehalte aus Wissenschaftskreisen gegenüber dem Medium Film, der dem Unterhaltungsbereich zugeordnet wurde und damit als unseriös galt: »Er [der wissenschaftliche Film, Anm. d. Verf.] wurde von den Vertretern der exakten Wissenschaften als Methode nicht akzeptiert. In der Tat: Wissenschaft hat mit Ratio zu tun. Der Film, auch der wissenschaftliche Film, hat oft eine emotional wirksame Komponente, die manchmal stören kann. – Ihm haften auch noch Merkmale an, die aus jenem illusionierenden Herkunftsbereich stammen, die zahlreiche, auch wohlmeinende Wissenschaftler irritieren mußten. – Wir zogen die Konsequenz. Der wissenschaftliche Film mußte zu einer wissenschaftlichen Methode weiterentwickelt werden. Es setzte daraufhin eine bei uns bis dahin nicht gekannte Bemühung um den sogenannten Wirklichkeitsgehalt ein; auch die unbewußten Täuschungsmöglichkeiten wurden in die Untersuchungen mit einbezogen.«44
Die Reaktion auf die Ablehnung gegenüber dem Medium war ein Rückzug auf eine Versachlichung und eine streng wissenschaftliche Methodik unter kritischer Reflexion subjektiver ›Fehler und Fehldarstellungen‹.45 Der Wissenschaftsfilm, der mit seinem Fokus auf Anschauung, Vermittlung und Bildung ganz im Feld der Wissenschaftskommunikation steht, formiert im aufzuspannenden Geflecht einen ersten Ankerpunkt: »Unter Wissenschaftsfilm versteht man Filme, die im Dienst der Wissenschaft und Forschung stehen. Schon die Reihenfotografie (Marey, Muybridge) diente der Aufzeichnung normalerweise unsichtbarer Bewegungsphasen – ein Interesse, das auch die Arbeiten des französischen Pathologen und Physiologen Regnault dominierte, der zwischen 1895 und 1900 erste Wissenschaftsfilme gedreht hat. Daneben finden sich schon früh Aufzeichnungen der Arbeit berühmter Wissenschaftler (wie Sauerbruchs) oder Instruktionsfilme, die in
Neuere Ergebnisse wissenschaftlicher Filmarbeit, Göttingen 1968. Aber auch Rieck, Joachim: Technik der wissenschaftlichen Kinematographie, München 1968. Zu den neueren Methoden vgl. z. B. das folgende Standardwerk: Kandorfer, Pierre: Lehrbuch der Filmgestaltung. Theoretisch-technische Grundlagen der Filmkunde, Gau-Heppenheim 2003. 44 Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 7. 45 Ein Filmpionier wie Jean Painlevé siedelte seine Filme zwar ostentativ im Wissenschaftsbereich an, argumentierte jedoch vielmehr von einer populärwissenschaftlichen Seite aus. Er sprach sich für eine Gleichbehandlung und eine vorurteilsfreie Betrachtungsweise des populärwissenschaftlichen Films aus.
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Vorlesungen eingesetzt wurden. Forschung, Dokumentation, Unterstützung der Lehre und Popularisierung des Wissens sind die wichtigsten Funktionen des Wissenschaftsfilms.«46
Nur am Rand ist hier die Aufzeichnung von Bewegung als Zeugnis von Leben und Entwicklung erwähnt. Insbesondere für die Biologie als Wissenschaft vom Lebendigen, deren Objekte sich kontinuierlich verändern und eines Tages absterben, stellt die Aufzeichnung von ephemeren Bewegungsabläufen, die eine genaue Beobachtung und Analyse ermöglicht, ein wesentliches Kriterium für den Wissenschaftsfilm dar. Der Medienwissenschaftler Gunnar Schmidt widmet sich beispielsweise in einem Essay der Geschwindigkeitsdarstellung und -abbildung und ihrem Erkenntnisgewinn.47 Er benennt die notwendigen und hinreichenden Unterscheidungsmerkmale von wissenschaftlichen Bildern gegenüber Darstellungen aus anderen Kontexten. So muss dieses Bild »einem definierten und begrifflich gefassten Gegenstand gewidmet sein«, »eine präzise kommunikative Funktion erfüllen« und »eine ausgewiesene Stellung innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses einnehmen – z. B. als Illustration, als Beleg, als Erkenntnishilfe«.48 Darüber hinaus betont Schmidt als »strukturierende«49 Voraussetzung die Herstellung, Verwendung und Publikation des Bildes im wissenschaftlichen Milieu. Seiner Definition zufolge ist die Wissenschaftlichkeit, nicht jedoch der wissenschaftliche Anspruch eines Films a priori in Frage zu stellen, ein Anspruch, den auch Cousteau und Hass immer wieder betont haben. Der wissenschaftliche Film »hilft der Forschung, unbekannte Bewegungsvorgänge zum ersten Mal zu fixieren, sichtbar und damit leichter erforschbar zu machen, und er hilft [...] Bewegungszusammenhänge durch Anschauung leichter
46 Wulff, Hans Jürgen (2012): Wissenschaftsfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, http://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=389 [Stand: 16. Juni 2017]. 47 Schmidt untersucht anhand der Hochgeschwindigkeitsfotografie ein horizontal angelegtes Spannungsverhältnis zwischen Bildform und (daruntergelagerter) Diskursform. Auch er legt in seiner Untersuchung eine Definition für das wissenschaftliche Bild vor, vgl. Schmidt, Gunnar: Splashes & Flashes. Über High-Speed-Visualisierungen und Wissensformen, in: Inge Hinterwaldtner, Inge/Buschhaus, Markus (Hg.): The Picture's Image. Wissenschaftliche Visualisierungen als Komposit, Paderborn 2006, S. 180-195. Auch online abrufbar unter: http://www.medienaesthetik.de/medien/highspeed.html [Stand: 1. Januar 2017]. 48 Ebd., S. 181. 49 Ebd.
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zu verstehen und leichter im Gedächtnis zu behalten«50. Die Vordenker und Impulsgeber von Bewegungsstudien stellen Eadweard J. Muybridge (1830-1904) und Étienne-Jule Marey (1830-1904) dar.51 Ihre Bildprojekte spielen bis heute im Kunstkontext eine eigene Rolle, ihre Publikationen, die Passagen zum Wissenschaftsfilm bilden, sind als »Ikonen der Kunst-, Technik- und Naturgeschichte«52 bezeichnet worden. Über die qualitative Wiedergabe von Bewegung im biologischen Wissenschaftsfilm und auch im künstlerischen Film schrieb der Schriftsteller und Filmtheoretiker Hermann Häfker (1873-1939) ausführlich in seinem grundlegenden Artikel »Die Schönheit der natürlichen Bewegung« (1913).53 Für Häfker begründet sich diese Schönheit u. a. auf folgenden Aspekten: der Programmauswahl, also dem (thematischen) Kontext, in dem ein Film präsentiert wird, der Konzentration beziehungsweise Öffnung des Blicks auf »das Gewöhnliche, das Typische, die Regelmäßigkeit, das mit aller Welt sich Gleichbleibende, Intime«54 und »dem Spiele des Lichtes auf und in« den Dingen und ihrem Zusammenwirken;55 Häfker schreibt von dem unmittelbaren Ausdruck des sich ruhig Bewegenden,56 das natürliche Abläufe und Prozesse aufzuschlüsseln imstande sei. Aus all diesen Aufzeichnungsmomenten soll Bewegung und ihre Schönheit, das ganze »Drama«57 und eine »Atmosphäre«58, für den Betrach-
50 Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 5. Zur Bewegung im Film als medienästhetisches Charakteristikum und ›Meßinstrument‹ bzw. Maßstab von Wissenschaftlichkeit und Ästhetik vgl. auch Schmidt, Gunnar: Visualisierungen des Ereignisses. Medienästhetische Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand, Bielefeld 2008. 51 Zu Muybridge und Marey und ihrer Arbeit, angesiedelt »in einem Schnittfeld von bildender Kunst, Naturwissenschaften, technischer Innovation und Bewegungsphilosophie«, vgl. Pauleit, Winfried: Encyclopaedia Cinematographica. Tiere im wissenschaftlichen Film und ihr Reenactment in der bildenden Kunst, in: Nessel et al.: Der Film und das Tier (wie Anm. 6), S. 11-26, hier v. a. S. 11-13 (Zitat S. 11). 52 Ebd., S. 12. 53 Vgl. Haefker, Hermann (1930): Die Schönheit der natürlichen Bewegung, in: Diederichs: Geschichte der Filmtheorie (wie Anm. 24), S. 91-101 [Erstveröffentlichung als Kap. in: ders.: Kino und Kunst, Mönchengladbach 1913 (Lichtbühnen-Bibliothek; 2)]. In Diederichs Publikation ist Haefkers Beitrag dem Kapitel »Naturfilm und Kunst« zugeordnet. 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd., S. 94. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 95.
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ter wahrnehmbar werden. Von hier zieht der Autor einen Vergleich zu malerischen Ausführungen und frühen fotografischen Aufzeichnungen. Weitere Aspekte in Naturaufnahmen im Medium des Films, in denen sich eine Schönheit zeige, liegen Häfker zufolge in der Dauer der Darstellung, der Rahmung, dem Ausschnitt, der Vollständigkeit der Bewegungseinheit und der Komposition.59 Diese sind in den Unterwasserfilmen als Marker auf der wissenschaftlichen und dokumentarischen (Sach-)Ebene zu untersuchen, Stellen, auf denen sich Filmbilder und Tonverläufe zu anderen Ebenen öffnen und Raum für Imagination lassen. Denn zunächst einmal basiert der Wissenschaftsfilm auf Distanz zum Gegenstand und Sachlichkeit, dies gilt auch für den Punkt der Aufzeichnung von Bewegung. Suggestive Wirkungen sind ebenso zu vermeiden wie Ungenauigkeiten, die zu analytischen Fehlschlüssen führen können. Nicht zuletzt für Jean Painlevé als Paten des Unterwasserfilmgenres gilt, dass er mit den Aufnahmen der Bewegung von Tieren durch eine Mise-en-scène, durch Kameraperspektive, Dauer, Kontextualisierung beziehungsweise Schnitt, musikalische Untermalung etc. eine bestimmte Wirkung zu erzielen versuchte und eine metaphorische Ebene eröffnete, um dem Zuschauer einen Spiegel anzubieten.60 Mit den Bewegungen der Tiere im Fokus des Films wird den Lebewesen eine Bedeutung als Mitwesen zugewiesen und ihren Eigenarten Respekt gezollt. Nicht nur Painlevé, auch Cousteau und Hass beschäftigten sich intensiv mit den technischen Aufnahmemöglichkeiten unter Wasser und ihren Resultaten, erprobten sie und wirkten vor allem vor dem Hintergrund ihrer praktischen Erfahrung an der Weiterentwicklung und Verbesserung von Unterwasser-Aufnahmetechniken
58 Ebd., S. 96. 59 Vgl. ebd., S. 98-100. 60 »Painlevé’s films feature a fabulous litany of jerking, thrusting, jittering, twittering, flopping, flapping, floating, swishing, limping, wiggling, jiggling, pulsing, and convulsing organisms and organs the flowing ease made possible underwater gives many of these movements a balletlike grace, and they appeal to the delight we take in watching movements of all kinds – a facility evident in infants as well as in those elderly people one sees in older urban neighborhoods leaning out of tenement windows to watch the hustle and bustle below.« Rugoff, Ralph: Fluid Mechanics, in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. 49-57, hier S. 51. Zur Aufzeichnung der Lebendigkeit von Tieren im Film vgl. auch Burt, Jonathan: Morbidity and Vitalism: Derrida, Bergson, Deleuze and Animal Film Imagery, in: Configurations 14, 2006, S. 179.
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(und Tauchausrüstung) innovativ mit – Grundvoraussetzung für eine optimale Darstellung von Bewegung.61 Die Versachlichung filmischer Aufnahmen kann durch ein Zusammenspiel von Ton (Musik und Sprache), Schnitt und inhaltlicher Gliederung (etwa nach Lebensabschnitten und Zyklen aus dem Leben eines Tieres) mitgetragen werden. Neben den Mitteln zur Umsetzung des Sujets in Bilder und einer erzählerischen Maske (z. B. einem inhaltlichen Leitfaden oder einer Rahmenhandlung) verleihen sie Filmen ihre besondere Charakteristik. Wissenschaft und Unterhaltung, Analyse und Zerstreuung werden von Gotthard Wolf eingangs als Grundlagen auch des Wissenschaftsfilmgenres einander gegenübergestellt: »Es war eine merkwürdige Entstehungsgeschichte [des Films im Allgemeinen, Erg. d. Verf.]. Ein Elternteil des Films stammte aus der Wissenschaft, der andere, das kann nicht
61 Beispielsweise war Hans Hass intensiv mit dem Problem der Fixierung der Kamera befasst. Er betonte die Bedeutung des freien Tauchens mit der Kamera, unbehindert von Atmungsschlauch oder Stativ, für eine Klarheit und Unmittelbarkeit der Bilder. Wasserdichte Foto- wie Filmkameras stellten den Taucher, der Einstellungen vornehmen musste, vor Herausforderungen: »Während beim Fotografieren die kurzen Verschlussgeschwindigkeiten es erlaubten, die Kamera auch während der Aufnahme zu bewegen, muss man sie bei Filmaufnahmen vollkommen ruhig halten oder darf zumindest einem Motiv nur sehr langsam und gleichmäßig folgen. Schwankt man mit der Kamera, dann schwankt später bei der Vorführung auch das Bild auf der Leinwand, wodurch der Zuschauer schneller ermüdet und in seinem Auffassungsvermögen sehr beeinträchtig wird. Doch nicht nur die Kamera muss bei Filmaufnahmen ruhig gehalten werden, sondern es ist ebenso wichtig, dass auch die Bewegungen der Motive selbst nicht zu schnell erfolgen, weil sonst der Zuschauer dem Zusammenhang nicht mehr folgen kann. Diese Überlegungen schienen zunächst das freischwimmende Filmen unter Wasser auszuschließen, weil man, durch Wellen und Dünung umhergeworfen, kaum die Kamera genügend ruhig halten kann. Bei Aufnahmen unter Wasser muss aber auf ruhige und lange Szenen besonderer Wert gelegt werden, denn fast alles, was sie dem Zuschauer zeigen, ist ihm vollkommen neu und unbekannt, und er kann es deshalb nur verstehen, wenn man ihm genügend Zeit zur Betrachtung lässt. Gerade deshalb hatte Hans Hass besondere Hoffnung auf den Taucherhelm gesetzt, der es ihm gestatten sollte, längere Zeit am Meeresboden zu verweilen und dort in Ruhe zu arbeiten.« Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), S. 37. Nach erfolglosen Versuchen mit einem Stativ auf dem Meeresboden entwickelte Hass im Folgenden die Methode des freien Schwimmens ohne Taucherhelm, die er auch im Film Pirsch unter Wasser anwendete, vgl. ebd. S. 38.
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verschwiegen werden, aus dem Milieu des Jahrmarkt-Amüsements. Der seriöse Elternteil hatte sich die Aufgabe gestellt, eine Methode zu entwickeln, die es gestattete, Bewegungsvorgänge in Einzelbildern aufzunehmen und diese zu analysieren; der andere Partner wollte die Besucher der Jahrmärkte illusionieren: schnell hintereinander bewegte Einzelbilder sollten den Eindruck eines ›lebenden‹ Bildes vermitteln.«62
Entscheidend wird damit die Qualität einer Darstellung von Bewegung als ein Kriterium des Wissenschaftsfilms: Die »bildgemäße Fixierung«63 fungiert implizit als Gradmesser für Wissenschaftlichkeit, indem sie die Flüchtigkeit eines natürlichen Phänomens aufhebt und seinen genauen Ablauf für die Forschung aufschlüsselt und sichtbar macht. Der wissenschaftliche Film ist nach dieser Definition von Wolf anti-ephemer.64 Jede Form der Aufbereitung des Filmmaterials (Ton, Schnitt, Zeitraffer etc.) trägt dazu bei, den Grad der Wissenschaftlichkeit auszuweiten, indem er das naturkundlich zu erschließende Objekt oder Phänomen ent- oder beschleunigt und für den Zuschauer nachvollziehbar macht. Daraus kann sich eine mediale, spezifisch filmsprachliche Dynamik entwickeln, die eine eigene, auch im künstlerischen Bereich angesiedelte Ästhetik generiert. Es ist zu prüfen, ob die Umsetzung von Kriterien, die grundsätzlich zu einer wissenschaftlichen Lesart führen sollen, in ihrer Überzeichnung (beispielsweise im Zeitraffer, durch Makroaufnahmen oder im Kommentar etc.)65 im künstlerischen
62 Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 5. 63 Ebd. 64 Hier ist der Verweis auf die Frühzeit des Wissenschaftsfilms, beispielsweise auf Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge anzubringen. Ihre visuellen Analysen der Bewegung von Tieren und Menschen auf der Grundlage einer Zerlegung in Einzelbilder werden bis heute selbstverständlich im Kunstkontext rezipiert. »Die Wahrnehmung von Schnelligkeit ist nun allerdings gekoppelt an eine Problematik, denn mit ihr […] konstituieren sich Phänomene der Unübersichtlichkeit, Undurchdringlichkeit und Unklarheit. Vor diesem Hintergrund wird die Erfindung der Fotografie deutbar als notwendige Reaktion: Entstanden in direkter Nachhut der ersten industriellen Revolution, ist sie selbst eine Geschwindigkeitsmaschine – die jedoch aufgestellt wird, nicht um an der Mobilisierung teilzuhaben, sondern um Ruhe in die Ströme des Vergehens und Kommens zu bringen. Mit ihr betreibt man die visuelle Sektion an der Zeit, fixiert und macht sichtbar, was in den Schlieren der Zeit unterzugehen droht.« Schmidt: Splashes & Flashes (wie Anm. 47), S. 180. 65 Vgl. Hadorn: Der Schock des Wirklichen (wie Anm. 18), S. 20, insg. ist zu verweisen auf das Kapitel »Was ist der wissenschaftliche Film«, ebd., S. 19-22. Vgl. auf anderer
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Bereich andocken. Zu wissenschaftlichen Zwecken entstandene Zeitraffer- und Zeitdehneraufnahmen können so eine surrealistische Anmutung erhalten, etwa bei Jean Painlevé.66 Kriterien, die Objektivität und Imagination a priori voneinander trennen, entwickeln in ihrer Visualität im Medium Unterwasserfilm für Momente offenbar einen Gleichklang. Kursorisch können neben einer Zeitraffung und Zeitdehnung sowie einer bildgemäßen Fixierung im Folgenden mikroskopische Bilder,67 Möglichkeiten der Abbildung anderer Strahlen als nur die des sichtbaren Lichts (z. B. Röntgen) und die Entscheidung für Farb- und Tonfilm als einzelne Elemente einer methodischen Herangehensweise aufgeführt werden, um Wissenschaftlichkeit zu erreichen. Jean Painlevé setzte sie gezielt ein, doch finden sie sich nur punktuell in den frühen Filmen von Cousteau und Hass. Auch filmdramaturgische Mittel, wie sie Gotthard Wolf speziell für den didaktisch aufbereiteten Hochschulunterrichtsfilm seiner Zeit zusammenfasst, sind nur zurückhaltend von beiden Filmemachern eingesetzt worden: »[…] die Totalaufnahme, die Halbnah-, Nah- und Großaufnahme, Schwenkaufnahme, Blenden, Einstellungswechsel, […] Zeichen- oder Modell-Trickaufnahmen.«68
Seite u. a. Wees, William C.: Light Moving in Time: Studies in the Visual Aesthetics of Avant-Garde Film, Berkeley, Cal. 1992. 66 Augenfällig erscheint dies insbesondere bei rein auf Sachlichkeit ausgerichteten fotografischen Abbildungen, die sich unter anderen Vorzeichen, in künstlerischem Kontext, auch konzeptuell wiederfinden lassen, z. B. Darstellungen wie die »Phototrophische Bewegungen beim Zymbelkraut«, ebd., S. 36 (Abb. S. 37) (vgl. Abb. 5 a u. b in diesem Beitrag), und Zeitrafferaufnahmen bei Painlevé. Scheinbar unvermittelt, aber doch absichtsvoll durchkreuzen poetische, vorwissenschaftliche Betrachtungsperspektiven die wissenschaftlichen Erläuterungen und wechseln sich bewegte, spielerische Sequenzen mit anatomischen Standbildern in dem Film L’Hippocampe (1934) ab. Die andere filmische Ebene weist alle Indizien des Wissenschaftsfilms auf und führt einen Abstraktionsgrad vor Augen, mit dem der Zuschauer den distanzierten Standpunkt des Forschers einnimmt. Die Wirkung eines Nebeneinanders von Perspektiven zeigt sich vor allem in Szenen des Geburtsvorgangs, die von Aufnahmen unterbrochen sind, in denen der Leib des Männchens aufgetrennt und die Eier mit einer Pinzette aus der Bauchhöhle gelöst werden. 67 Vgl. u. a. Beilenhoff, Wolfgang/Wulf, Hans Jürgen: Mikrofotografie, in: Lexikon der Filmbegriffe, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, http://filmlexikon.uni-kiel.de/ index.php?action=lexikon&tag=det&id=7079 [Stand: 16. Juni 2017]. 68 Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 7.
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An dieser Stelle ist auf die hier relevanten Subgenres des Wissenschaftsfilms einzugehen, auf den Dokumentarfilm und den Naturfilm.69 Der Dokumentarfilm lässt sich auf ein Konzept seit Mitte der 1920er Jahre zurückführen als eine »Filmform, die ausdrücklich auf der Nichtfiktionalität des Vorfilmischen besteht«70, die jedoch eine Inszenierung nicht kategorisch ausschließt, obgleich das ›wirkliche Leben‹ zum Inhalt wird.71 In diesem Genre geht es um Menschen, »die als sie selbst vor die Kamera treten (documentary value). Der Dokumentarfilmer ist Zeuge von Handlungen, Ereignissen oder Phänomenen der Zeitgeschichte, die er mittels Film erschließt, verdeutlicht, analysiert oder rekonstruiert«72. Cousteau und Hass nehmen beide Funktionen ein, vor wie auch hinter der Kamera. Des Weiteren spielt im Dokumentarfilm die ungefilterte Beobachtung eine entscheidende Rolle für eine diesem Genre zugeschriebene ›Objektivität‹.73 Eine thematische Untergruppe des Dokumentarfilms ist der Unterwasserfilm, der seine Wurzeln auch im Tierfilm und im Abenteuerfilm hat.74 Letzterer ist mit
69 Sie sind auch in Bezug auf kulturelle Unterschiede zu hierarchisieren. Unter wechselseitiger Bezugnahme auf und im Anschluss an Einzelwerke in der Geschichte der Genres fand beispielsweise der Forschungsfilm seinen Weg in die Lehre, vgl. Wolf: Der wissenschaftliche Film (wie Anm. 27), S. 6. 70 Wulff, Hans Jürgen/von Keitz, Ursula (2016): Dokumentarfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index. php?action=lexikon&tag=det&id=127 [Stand: 16. Juni 2017]. Der Begriff des ›Dokumentarfilms‹ geht auf Robert Flahertys (1884-1851) Tahiti-Film Moana (1926) zurück, für den der Kritiker und Filmer John Grierson (1898-1972) die Bezeichnung erstmals 1926 verwendete. 71 Painlevé zitiert die 1947 herausgegebene Definition der World Union of Documentary Filmmakers als unerreicht: »Documentary: any film that documents real phenomena or their honest and justified reconstruction in order to consciously increase human knowledge through rational or emotional means and to expose problems and offer solutions from an economic, social, or cultural points of view.« In: Painlevé, Jean: The Castration of the Documentary [Les Cahiers du cinéma, 1953], in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. 148-156, hier S. 149. 72 Wulff/von Keitz: Dokumentarfilm (wie Anm. 70). Vgl. auch Sadoul: Geschichte der Filmkunst (wie Anm. 7), S. 288. 73 Vgl. ebd., S. 289. 74 Horak, Jan-Christopher (2012): Unterwasserfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action= lexikon&tag=det&id=376 [Stand: 16. Juni 2017]. Beispielhaft stehen dafür die o. g. Williamson Expeditionary Pictures, aber auch eine US-amerikanische Produktion wie
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seinem Rekurs auf die Erfahrungen der Kolonialzeit, einer Hierarchisierung der Figuren und seiner Dramatik einem sogenannten ›Expeditionsfilm‹ nicht fern, zumindest nicht in der Definition, wie Cousteau oder Hass ein solches Genre verstanden haben könnten. Aus dem Film Pirsch unter Wasser von Hans Hass lassen sich beispielhaft Kriterien ableiten, ohne dass der Filmemacher diese schriftlich fixiert hätte: Nach seinem Verständnis ist es ein Film mit einer Rahmenhandlung und einer naturkundlichen Ausrichtung, entstanden mit der Motivation, neues Terrain zu erkunden. Die Handlung läuft auf ein – vielleicht fiktives – Reiseziel zu (bei Hass ist dies die Jagd nach einem Manta, bei Cousteau die Suche nach einem Schiffswrack) und bietet Identifikationsfiguren an (hier vor allem die Taucher – mit Taucherin Lotte Baierl, 1928-2015 – als den Helden). Die Erschließung der Unterwasserwelt geht mit der Sammlung von ›Trophäen‹ einher. Die mediale Durchmessung des Lebensraums Meer in Filmbildern durch die entsprechende Technik wird mit der inhaltlichen Ebene, der Expeditionsfahrt und den Tauchgängen, verwoben. Eine Filmform, wie sie sich in den Beispielen zeigt, ist inhaltlich und visuell anthropozentrisch und folgt dem Expeditionsverlauf in einer linearen Narration. Die Erzählung ist demnach wortwörtlichen ›nach vorn gerichtet‹ und führt letztendlich immer zum Menschen zurück. Filmemacher und Expeditionsleiter sind ein und dieselbe Person. Bis in die 1960er Jahre hinein ist diese Doppelrolle im Film durchweg von Männern besetzt worden; erst mit den Primatenforscherinnen Dian Fossey (19321985) und Jane Goodall (geb. 1934), die zwar keine Filmemacherinnen waren, jedoch als Forscherinnen beziehungsweise mit ihrer Forschung im Zentrum von (populären) Dokumentar- bzw. Spielfilmen standen, hat sich dieses scheinbare Selbstverständnis aufzulösen begonnen. Mit Blick auf die Übergänge der untersuchten Beispiele zum Expeditionsfilm schließt sich eine Frage an, die hier nur
Beneath the 12-Mile Reef (Das Höllenriff) von 1953 (Regie: Robert D. Webb), die als eine der ersten CinemaScope-Produktionen überhaupt Oscar-nominiert für ihre Unterwasseraufnahmen war (Kamera: Edward Cronjager). Der Abenteuerfilm entsteht vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrungen und führt Provenienzen auf, die auch in den Unterwasserfilm von Hass und Cousteau hineinwirken: »Stoff- und motivgeschichtlich weist der Abenteuerfilm auf die populäre Literatur des 19. Jahrhunderts zurück. Er dramatisiert die Erfahrung des Kolonialismus, die Eroberung und Vereinigung der ganzen Welt durch die europäischen Kulturen. Er ist dabei verbunden mit einer dauernden Erfahrung des Fremden.« Wulff, Hans Jürgen (2012): Abenteuerfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, http:// filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=488 [Stand: 20. Juli 2017].
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am Rande gestreift werden kann: Wie sehr ist ein literarisches Genre, aber auch ein naturkundliches Beschreibungsinventar den Filmen von Cousteau und Hass nahe. Gemeint sind beispielsweise über topografische Berichte hinausgehende literarische Reiseberichte oder naturkundliche Publikationen von Forschungsreisenden, die wissenschaftliche Feldforschung enthalten. Die Filmwissenschaftlerin Gerlinde Waz schlüsselt die Zusammenhänge zwischen dem abendfüllenden Expeditionsfilm und einem mit Ende des Ersten Weltkriegs zu befriedigenden Kolonialdenken auf. Für diesen Filmtypus ist eine Themenbreite und eine Funktionsüberlagerung von Filmemacher und Jäger oder Tierfänger (mit dem Ziel, Expeditionen re-/finanzieren zu können) charakteristisch. Wesentlich – neben einem Exotismus, der in Bildern und im Kommentar seine Entsprechung findet – ist dem Expeditionsfilm zudem ein Aspekt, der auch die Produktionen der frühen Unterwasserfilmer kennzeichnet: die Sensation der Erstmaligkeit. Waz ergänzt dazu: »Im Expeditionsfilm ist der Mythos des Unberührten auf Landschaften, Tiere, Ereignisse und Gegenstände erweiterbar.«75 Die historische Dimension dieses polemisch bis propagandistisch gefärbten Filmtyps in seiner Zeit sowie während und nach dem Zweiten Weltkrieg macht eine unreflektierte Anwendung seiner Begrifflichkeit auf die Arbeiten der beiden hier behandelten Filmemacher mehr als problematisch. Im Naturfilm geht es um die Aufzeichnung einer »naturwüchsigen Natur« und um eine Auseinandersetzung »vor allem mit Tieren in ihren ursprünglichen Umgebungen in freier Wildbahn«76, maßgebliche Kriterien für die Auswahl von Filmen Cousteaus und Hass. Die Autorin und Filmemacherin Kerstin Stutterheim macht die enge Bindung des Genres an die wissenschaftliche Faktenlage deutlich, wie sie als Forderung nach Sachlichkeit in den 1920er Jahren formuliert worden ist; sie fasst diese als »beweisführenden wissenschaftlichen
75 Waz: Heia Safari (wie Anm. 1), S. 193. 76 Schlichter, Ansgar (2012): Naturfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8089 [Stand: 16. Juni 2017]. Vgl. auch Berg, Jan/Hoffmann, Kay (Hg.): Natur und ihre filmische Auflösung, Marburg 1994; Chris, Cynthia: Watching Wildlife, Minneapolis 2006. Als wesentliche Quelle des Tierfilms, und damit auch des Unterwasserfilms, ist der biologische Kulturfilm mit seinem Höhepunkt in den 1920er Jahren von Bedeutung. Dieses populärwissenschaftliche Genre wurde bis Anfang der 1930er Jahre in Schwarz-Weiß abgedreht und entstand zum Zweck der Belehrung, aber ohne forschenden oder explorativen Anspruch (vgl. u. a. den berühmten Film Mungo, der Schlangentöter, 1927). Vgl. u. a. Teutloff: Sternstunden des Tierfilms (wie Anm. 31), S. 20-29.
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Zweck«77 zusammen. Als zentral benennt Stutterheim hierfür die Natürlichkeit der gefilmten Handlung und Situation, die die Möglichkeit ihrer Inszenierung zwar nicht ausschließe, eine artgerechte Haltung in der künstlichen Umgebung jedoch als notwendig vorgebe. Die technischen Bedingungen und Möglichkeiten, so die Autorin, hätten einen wesentlichen formalästhetischen Einfluss auf den Natur- und damit auch auf seine Untergruppe, den Tierfilm gehabt: »Der Tierfilm gerade der frühen 20er Jahre war geprägt vom Einsatz neuester Filmtechnik. Vergrößerungen waren von enormer Bedeutung, Zeitlupe und Zeitraffer wurden ein ebenso unverzichtbares Mittel, um Vorgänge aufzuzeichnen, die der Mensch sonst nicht hätte wahrnehmen können.«78 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestand ein großes Verlangen danach, Natur zu erleben und sich in seine Prozesse einzulesen. Die Naturfilmer traten an mit der Maßgabe, »Bereiche des Lebens sichtbar werden zu lassen, die dem normalen Auge verborgen bleiben«79. So war der Film im Rahmen dieses Genres auch ein Medium der (Massen-)Bildung, er sollte nicht nur unterhalten, sondern informieren. Ein dem Naturfilm zugrunde liegendes Verhältnis von Mensch und Tier, oben bereits angerissen, ist diesem Genre als implizites Thema unweigerlich eingeschrieben.
D IE U NTIEFEN DES FRÜHEN U NTERWASSERFILMS ZWISCHEN W ISSENSCHAFT , U NTERHALTUNG UND K UNST : Z U AUSGEWÄHLTEN S TELLEN IN DEN F ILMEN VON J ACQUES -Y VES C OUSTEAU
UND
H ANS H ASS
Zusammenfassend ist für die drei Filme zu fragen, unter welcher Perspektive sich dem Lebensraum Meer genähert und mit welchen Mitteln er filmisch an die Oberfläche geholt wird. Wie werden Tiere beobachtet und dargestellt, für was stehen sie und welchen Stellenwert haben sie? Welche Kriterien rücken die Filme in den Bereich des Wissenschaftsfilms und wo werden Grenzen zu einem freieren, vielleicht künstlerischen Umgang mit einer Visualisierung des Unbekannten überquert.
77 Stutterheim: Gezüchtet und geopfert (wie Anm. 17), S. 175. 78 Ebd., S. 181. 79 Ebd., S. 183.
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Hans Hass, Pirsch unter Wasser, Deutschland 1942, und Abenteuer im Roten Meer, Österreich 1951 Als Student kam Hans Hass vom Fotografieren zum Filmen. Gegenstand seines Interesses und seines Forscherdrangs war das Meer, die »riesige Fläche der Ozeane, die zwei Drittel der Erdoberfläche ausmacht und nahezu unerforschtes Neuland darstellte«80: »Zunächst hatte ich mit der Harpune gejagt und nach immer größeren Fischen Ausschau gehalten. Dann war ich Jäger mit der Kamera geworden und hatte nach möglichst schönen Motiven gesucht. Jetzt begannen mich die Lebewesen selbst zu interessieren, und ich wurde mir mit Bedauern meiner geringen Kenntnisse bewusst. Wie musste mancher Forscher mich um diese Gelegenheit beneiden, die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung beobachten zu können, und wie wenig Nutzen konnte ich selber noch daraus ziehen! Mir fehlte das Wissen um die naturwissenschaftlichen Probleme. Ich konnte nicht mehr tun, als die Augen möglichst offen zu halten, um später vielleicht einmal aus diesen Beobachtungen Nutzen schöpfen zu können. So öffnete ich also die Augen und wurde mir bewusst, wie blind ich war. Denn nicht mit den Augen sieht der Mensch, sondern mit seinem Geist, mit den grauen Zellen seiner Gehirnrinde.«81
Hans Hass Anliegen war es, dem Zuschauer die Welt unter Wasser nahezubringen und ihn für diesen Lebensraum zu begeistern, aber auch das Material für neue Erkenntnisse vorzulegen. Sein autodidaktisch erworbenes Wissen stellte er an der Friedrich-Wilhelm-Universität (Humboldt-Universität) in Berlin auf eine
80 Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), S. 12. Hass schildert die Eroberung eines unbekannten und noch unerforschten Terrains wie folgt: »Die übrige Welt ist so gründlich erforscht, dass jungen Entdeckern wenig übrig geblieben ist. Die Wüsten ewigen Eises, die Zonen höllischer Hitze, die schroffsten Bergriesen, die dunkelsten Urwälder, überall hat der Mensch seinen Weg ertrotzt, überall sind seine Spuren. Nur das Meer blieb unberührt, wie vor tausend Jahren. Unter seinen endlosen Wogen leben zahllose Tiere, in Gestalt und Größe unbekannt, herrscht der romantische Zauber einer Unterwelt.« Hans Hass, aus: ders.: Der deutsche Unterwasserjäger Hans Hass erzählt von seinen Erfahrungen, in: Die Post 13, 1939, S. 68-69, zit. nach: Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), S. 24. 81 Hass, Hans: Drei Jäger am Meeresgrund, Zürich 1947, S. 230-231, zit. nach: Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), S. 35.
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wissenschaftliche Grundlage.82 Entscheidend war dafür die Weiterentwicklung des technischen Equipments, vom Schiffslabor bis zur Taucherausrüstung für Schwimmtaucher.83 Die Selbstinszenierung nimmt in Hass Filmen einen nicht unwesentlichen Raum ein. Bei der Rezeption eines Films wie Pirsch unter Wasser (Kamera des Nachdrehs für Zwischenschnitte: Karl Kurzmayer; Regie nach Übernahme des Filmmaterials: Rudolf Schaad; hg. von der Ufa, Berlin)84 muss auch der Rummel berücksichtigt werden, der um die Person von Hass nach Rückkehr aus der Karibik – via den USA, Hawai, Japan und Russland – in Wien gemacht wurde. Der Student der Zoologie hielt zahlreiche Vorträge und wurde gemeinsam mit seinen Freunden für weitere Unter- und Überwasseraufnahmen nach Dubrovnik geschickt. Das klare Wasser dort war geeignet für Gegenaufnahmen der (filmenden) Taucher zur Ergänzung des vorhandenen Filmmaterials. Darüber hinaus wurde in einem Aquarium in den Berliner Ufa-Studios nachgedreht. Der in Schwarz-Weiß mit einer 16-mm-Kamera Movikon K16 von Zeiss Ikon in einem selbstgebauten, wasserdichten Gehäuse gedrehte Film stellt den Aufnahmen aus der Karibik Szenen voran, die in einem Freibad in Wien gedreht wurden. Die drei ›Forschungsreisenden‹ werden eingeführt, neben Hass sind dies Jörg Böhler (1917-2005) und Alfred Wurzian (1916-1985): »Drei Studenten aus Wien zogen in ihren Sommerferien aus, die Geheimnisse des tropischen Meeresgrundes zu erforschen. Es war der erste Versuch von Hans Hass, mit einer Schmalfilmkamera freischwimmend Aufnahmen unter Wasser zu machen.« Am Beckenrand des Schwimmbads berichten sie zwei jungen Frauen, die sich erwartungsgemäß beeindruckt zeigen, von ihrer Reise und ihren Tauchexpeditionen in der Karibik. Erläuterungen zur Ausrüstung – Taucherbrille, Harpune, Schwimmflossen, Unterwasserkamera – und zu den Umständen der Filmaufnahmen fol-
82 Vgl. ebd., S. 45. Hass studierte Zoologie u. a. bei Richard Hesse (1886-1944), er erwarb 1944 den Doktor in Naturwissenschaften über Bryozoen anhand von Material, das er von seiner Expedition zurückgebracht hatte. 83 Vgl. ebd., S. 43-52, insb. S. 47. Er entwickelte das Sauerstoff-Kreislaufgerät zusammen mit der Firma Draeger 1941. »Was wir brauchten war in erster Linie ein Atemgerät, das einen Menschen mit künstlichen Schwimmflossen von der Oberfläche unabhängig und damit zum ›Fisch‹ macht. Und das ganze auf einem geeigneten Schiff – eine schwimmende Forschungsstation für die Eroberung der weiten, faszinierenden, unbekannten Meere!« Hass, Hans: Aufbruch in eine neue Welt, Königswinter 2016, S. 13. 84 Der Regisseur Rudolf Schaad wirkte während des Nationalsozialismus an diversen Propagandafilmen mit.
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gen. Die einführenden Szenen zeigen ein vielleicht unfreiwillig komisches, auf jeden Fall unterhaltsames Moment, wenn die Jagd auf Fische demonstriert wird, indem der ›Backfisch‹ im Schwimmbecken zur Beute des Harpunen bewehrten Tauchers wird. Die Umgebung unter Wasser ringsum versinkt in dieser Aufnahme unter dramatischer Musik in Schwärze, die junge Frau wird durch die Taucherbrille, die Schwimmflossen, die langen, aufgelösten Haare und ihre Bewegungen zur Fischgestalt. Nach diesem Intro folgen die Aufnahmen aus der Karibik. Bilder des Meeresbodens und von Tauchern (00:05:20) kommentiert Hans Hass als Sprecher wie folgt: »In diese geheimnisvolle Welt sind wir eingedrungen. Selbst wollten wir ihren Gefahren begegnen. Selbst ihre sagenumwobene Schönheit schauen. Es ist ein wunderbares Märchenland. Überall blitzt es Rot und Grün und Blau […] überall ist tausendfaches Leben.« Greifbar ist vor allem aus heutiger Perspektive die Spannung, die zwischen dem Respekt und der Bewunderung für die Welt unter Wasser bei Hass zum Ausdruck kommt und den Jagdszenen (z. B. 00:06:13) im gleichen Naturraum. In Gegenüberstellung der Anfangssequenzen von Pirsch unter Wasser und Le Monde du Silence von Jacques-Yves Cousteau scheint sich in der Kameraperspektive eine jeweils eigene Denkrichtung widerzuspiegeln. Die Kamera ist in Hass Film auf Jörg Böhler gerichtet, der mit Taucherbrille vom Boot ins Wasser steigt und seinen Blick zunächst beobachtend unter Wasser richtet. Die dann folgende Einstellung ahmt weder die Richtung des von der Meeresoberfläche zum Meeresboden hinabschwimmenden Tauchers nach, noch zeigt sie ihn auf dem Tauchgang im Bild. Sie begegnet dem Lebensraum unter Wasser unvermittelt auf ›Augenhöhe‹, die Kamera ist wie aus der Blickrichtung des Tauchers vorwiegend waagerecht nach vorn gerichtet, um dieses tausendfache Leben aufzuzeichnen. Als Sprecher nennt Hass die Namen der Lebewesen, die unter Wasser aufzufinden sind, etwa die »zierliche Hirschhornkoralle«. Weiterführende Erklärungen liefert er nicht, verwendet jedoch ein beschreibendes Vokabular, das die Idee einer Märchenwelt, eingeführt mit der ›Verwandlung‹ der jungen Frau in eine Fischgestalt oder Wassernixe, fortführt. Geraten ausschließlich Fische in den Fokus, so wird mit deren Bewegungen auch die Kameraführung lebendiger. Zu beobachten sind die kleinen und großen Bewohner eines karibischen Riffs in Schwärmen, Gruppen, Paaren und als Einzelgänger verschiedenster Arten zum Teil erstaunlich nah und unter guten Lichtbedingungen. Nachdem dieses Biotop in ruhigen, dicht aufeinanderfolgenden Bildern unter Erläuterungen von Hans Hass vorgestellt worden ist, schwimmen zwei mit Harpunen ausgerüstete Taucher in die Tiefe, um Jagd auf die Tiere zu machen (00:09:12-20). Gegenbild ist das Vordringen des Menschen mit der
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Abb. 1: Hans Hass mit Kamera (00:11:04), Filmstill aus: Pirsch unter Wasser, 1941, Regie: Hans Hass Kamera zum Zweck der fotografischen Dokumentation in ruhigen Einstellungen (00:09:23), um »mit der Kamera einige Fische zu erbeuten«85. Hass unterstreicht die erschwerten Bedingungen der Aufzeichnung unter Wasser und hebt die Betung einer in den Händen des frei schwimmenden Tauchers geführten Kamera hervor.86 An verschiedenen Stellen ist der Taucher mit der Fotokamera in (nahezu) direkter Konfrontation mit der Filmkamera zu sehen (00:10:53, 00:11:04 und 00:14:29) (Abb. 1), einmal schwimmt er mit einer Harpune ausgestattet auf die Kamera zu (Abb. 2). Dieses nicht nur in Pirsch unter Wasser wiederkehrende Motiv ist Teil der Selbstinszenierung des Filmemachers. Die sich in ihrer formalen Ähnlichkeit überlagernden Bilder des Forschers/Kameramanns und des Har-
85 Zur Verwendung eines Vokabulars aus dem Zusammenhang der Jagd für das Fotografieren und Filmen von Tieren vgl. u. a. Teutloff: Sternstunden des Tierfilms (wie Anm. 31); Engel, Jens Ivo: Tierdokumentarfilm und Naturschutz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Kommentar, in: Möhring, Maren/Perinelli, Massimo/ Stieglitz, Olaf (Hg.): Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, Köln/ Weimar/Wien 2009 (Kölner Historische Abhandlungen; Bd. 47), S. 127-139. Die Gleichsetzung beider Bereiche ist auch in der Kunst thematisiert worden. 86 Mit dieser Kamera sollte es laut Hans Hass erstmals möglich sein, »Charakter, Temperament und Intelligenz« der Lebewesen zu ergründen. Dies unterstreichen die Aufnahmen der Taucher beim scheinbaren Fotografieren und Filmen, aber auch Harpunieren der Tiere, die mithilfe von Rückprojektionen in einem Aquarium in den Filmstudios in Babelsberg als Zwischenschnitte nachgedreht wurden (u. a. ca. 00:05:44, 00:10:56, 00:11:08 und 00:12:13).
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Abb. 2: Hans Hass mit Harpune und Kamera (00:14:31), Filmstill aus: Pirsch unter Wasser, 1941, Regie: Hans Hass puniers stehen für das in ihrer Zeit geläufige Bild einer Gleichsetzung von Kameraauge und Gewehrlauf.87 Hass verwendet das gleiche Bildmotiv, um dem Zuschauer, der mit einer auf ihn gerichteten Kamera Teil der Szene ist, die neuen technischen Möglichkeiten vor Augen zu führen. Dieses Motiv verortet sich in der Frühzeit des Tierfilms und hat seine Wurzeln in einem hierarchischen Sprachgebrauch. Dass Hass es in seinem Film reaktiviert, ist keineswegs verwunderlich, da er vom Jagen mit der Harpune zur Beobachtung von Tieren und von ihrer Dokumentation in Fotografien und im Film schließlich zum Naturschutz gelangte.88 Die aus diesem Motiv als Gegenschnitt resultierenden Aufnahmen werden mit folgendem Kommentar unterlegt: »Fische sind uns Menschen in ihrem Wesen eigentlich erstaunlich ähnlich.« Zur Beweisführung wird auf einen Hornfisch (Hornhecht) verwiesen: »Dieser Hornfisch zum Beispiel ist ein richtiger Philosoph. Er liebt die Einsamkeit, meidet die Gesellschaft anderer Fische und liegt stets verträumt zwischen den Korallen, als weilte er mit seinen Gedanken in einer ganz anderen Welt.« Im Anschluss an Nahaufnahmen des
87 Vgl. die ersten Unterwasser-Fotografien von Williamson und Butan, deren Darstellungen von fotografierenden Tauchern als Motiv auch bei Hass und Cousteau zu finden sind. Vgl. u. a. Hedinger, Vincent: Töten und Abbilden. Zum medialen Dispositiv der Safari, in: Möhring et al.: Tiere im Film (wie Anm. 85), S. 81-95. 88 Vgl. Engel: Tierdokumentarfilm (wie Anm. 86); Hass Begeisterung für das Meer und sein Interesse an naturwissenschaftlichen Zusammenhänge erwuchsen aus der Freude an der Tauchjagd, die er an der französischen Riviera erlernt hatte, vgl. Jung: Hans Hass (wie Anm. 2), u. a. S. 13. Zum Verhältnis von Jagd und Aufnahme vgl. auch Burt, Jonathan: animals in film, London 2002, S. 99-103.
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Hornfisches zeigt Hass, wie der mit einer Kamera ausgerüstete Taucher zum Beobachter des Lebens unter Wasser wird. Ein im Riff aufgespürter Zackenbarsch wiederum regt die Taucher zur Jagd an. Der Film endet mit der dramatischen Begegnung der Menschen mit einem Hammerhai (00:14:49). Im Abspann schließt sich der Kreis von Bildern und Kommentaren, die eine Engführung zwischen Mensch und Tier in Hass Film vermitteln. Der als märchenhafte Erzählung eingeführte Kurzfilm findet zu einem paradigmatischen Schlussbild, das in folgenden Worten zusammengefasst wird: »So lebten wir denn acht Monate lang selbst wie Fische im Reich der Fische, erforschten auf diese Weise eine neue, fremde Welt und hatten auch manch aufregendes Abenteuer.« Gezeigt werden die drei Taucher, die gegenläufig zu dem im Hintergrund eingeblendeten Schwarm Fische wiederholt und unbehindert von Atemgerät oder Filmgehäuse durch das Bild schwimmen. In der visuellen Kapriole, die hier geschlagen wird, ist eine für Hass charakteristische Filmhandschrift bereits angelegt.89 Das im Film mit Bedacht aufgebaute Bild des forschenden Tauchers beziehungsweise tauchenden Forschers wird im Abspann unvermittelt aufgegeben. Die Bildebenen, Fischschwarm und Mensch, schieben sich sichtbar übereinander, mit der Gleichsetzung von Mensch und Fisch ist die Distanz zum Gegenstand der Forschung aufgehoben. Unter der Betrachtung einer Interferenz ungleich-gleicher Wesen lässt sich die Schlussszene bei Hass mit jener des Films L’Hippocampe von Jean Painlevé aus dem Jahr 1934 in einen Vergleich setzen. Für Painlevé schließt sich der erzählerische Kreis, wenn das Seepferdchen, dessen Gestalt eingangs als pferdeähnlich beschrieben wird (Hippocampus bedeutet Pferderaupe), in der Schlusssequenz in einen neuen Kontext gestellt wird: Die ephemeren Schattenrisse der im Wasser schwimmenden Seepferdchen sind von Szenen hinterfangen, in denen Rennpferde, angefeuert von Menschentrauben, um den Sieg kämpfen. Die Überlagerung von Bildern der Seepferdchen in ihrer stillen Unterwasserwelt mit einer demgegenüber laut und spektakulär anmutenden Darstellung des Rennens schafft einen Zusammenhang zwischen Seepferdchen und Pferd und letztendlich zwischen diesen und dem Menschen. Die Aggressivität der unterlegten Szenerie löst ein diametrales Gefühl für die Zerbrech-
89 In dem Film Abenteuer im Roten Meer kontrastiert Hass beispielsweise eine dramatische Unterwasserszene mit einer Einstellung von der geradezu beschaulichen Welt über Wasser: Während die Taucher mit Harpune und Kamera Jagd auf einen Walhai und auf Mantas machen, legt der auf dem Boot zurückgebliebene Begleiter der Expedition Mahmoud betulich die Füße nach oben (01:16:05). Auch die weiter unten beschriebene ›Tanzszene‹ von Taucher und Fischen zeigt, dass Hass sich bei aller Dramatik auch skurrile und humorvolle Momente zum Zweck der Unterhaltung erlaubte.
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lichkeit der kleinsten Lebewesen in dieser Kette aus und für die unterschwellig sich bemerkbar machende Zerbrechlichkeit der Natur in der Domestizierung insgesamt. Painlevé zelebriert gleichermaßen Fremdheit und Nähe von Mensch und Tier, indem er die Tiere im gesamten Film (emotional) nah an die Zuschauer heranholt, beispielsweise mit der Betonung der Vaterschaft und mit Bildern von Jungtieren in ihrer ›Kinderstube‹. Im Gegensatz dazu hat er keine Skrupel, sie in aller Sachlichkeit nach wissenschaftlicher Methodik zu sektieren und ihre Körper im Längsschnitt zu präsentieren. Hans Hass hingegen setzt sich als Mensch – ganz ohne narrative Umwege oder eine Ebene der Sublimierung – mit den Fischen gleich. Die primäre Motivation beider Filmemacher ist allerdings vergleichbar: Unbekannte Arten sollen erforscht, ihre Lebenszyklen und ihr Verhalten beziehungsweise mindestens ihr Dasein und ihr Anderssein gegenüber dem Menschen dokumentiert werden. Hass, so zeigt sich auch in seinen Texten, bleibt der Forschungsreisende und Entdecker, der sich auf die fremde Unterwasserwelt und neue Erfahrungen einlässt.90 Immer wieder scheint der Wunsch auf, ganz zu dieser fremden Welt zu gehören. Darin liegt bereits ein grundlegendes Moment, in dem eine wissenschaftliche Distanz zum Gegenstand und eine objektive Position aufgegeben wird. Den Film Abenteuer im Roten Meer aus dem Jahr 1951 bezeichnet Hans Hass im Vorspann als »Expeditionsfilm« und ergänzt: »Drehbuchautor war der Zufall, Regisseur war die Wirklichkeit.« Bezeichnenderweise stellt Hass auch in diesem Film das Hinabgleiten der Taucher in die Tiefe nicht an den Anfang. Wie bereits in dem Kurzfilm Pirsch unter Wasser inszeniert sich Hass in seiner zweiten Produktion als »Fisch unter Fischen«91. Zugleich hebt er den wissenschaftlichen Anspruch seiner Arbeit hervor und präsentiert sich schon zu Beginn des Filmes als Forscher, der die Lebensformen unter Wasser fotografisch festhält. Die Harpune, die in zahlreichen Szenen von Pirsch unter Wasser zur Taucherausrüstung gehörte, ist zumindest in diesem einführenden Filmkapitel dem Abstandmesser gewichen (00:07:07-12). Die Rahmenhandlung ist an der von Port Sudan am Roten Meer ausgehenden Reise und den Tauchgängen orientiert. Der Film geht darüber hinaus einer Vielzahl von Themen nach, spielt unter Wasser, an Land, aber auch an Bord des Expeditionsschiffs. Ein Leitfaden ist die Suche nach einem »Seeungeheuer«, das
90 Vgl. u. a. Hass, Hans/Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Wie Haie wirklich sind, München 1986, S. 12-14. 91 Hass, Hans: In unberührte Tiefen. Die Bezwingung der tropischen Meere, Wien/München/Zürich 1971, S. 30.
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Abb. 3: ›Tanz der Taucher‹ (01:08:21), Filmstill aus: Abenteuer im Roten Meer, 1951, Regie: Hans Hass sich als Walhai und als Manta herausstellt und dessen Entdeckung zu dramatischen Szenen führt. Der Film ist wie ein Spielfilm aufgebaut, die Darsteller ›spielen‹ sich selbst. Als Dokumentar- beziehungsweise Naturfilm nimmt Abenteuer im Roten Meer den Lebensraum Meer in den Fokus und enthält zahlreiche Ansätze und Motive aus wissenschaftlichen Zusammenhängen. Der Film bietet tatsächlich auf beiden Ebenen Raum für Imagination, es sind allerdings vor allem Momente einer Versachlichung beziehungsweise wissenschaftliche Kriterien, die in ihrer Überspitzung oder eingebunden in den Rahmen der Narration über die Grenzen einer reinen Dokumentation oder eines reinen Naturfilms hinausverweisen. Aufgrund der Fülle möglicher Szenen für die Untersuchung einer Engführung von naturkundlichen Aspekten und einer erweiterten, vielleicht künstlerischen Bildästhetik im Film Abenteuer im Roten Meer werden hier beispielhaft nur zwei mögliche Perspektiven in den Blick genommen: Erstens sind dies Szenen, in denen sich Bilder von Mensch und Tier oder von ihren Lebensräumen überlagern. Zweitens wird auf die Bewegung der Kamera näher eingegangen, die in einigen Szenen eine ungewöhnliche Dynamik entwickelt: Sie zielt in die Schräge nach oben oder unten, geht naturgegebenen Richtungsverläufen nach und eröffnet dem Zuschauer eine Panoramaansicht. Es wird nach Belegen für eine Kameraführung gesucht, die sich als autozentriert bezeichnen lässt, indem sie dem Medium scheinbar ein ›Eigenleben‹ verleiht. Eine erste Einstellung, die die ruhige Meeresoberfläche mit der Silhouette der verlassenen Küstenstadt Suakin (Sawakin) im Hintergrund zeigt, lässt sich für den ersten Aspekt heranziehen (00:08:49): Das unter der Oberfläche liegende natürliche Riff wird vom Sprecher und in Bildern in einen Vergleich mit der vom Menschen erschaffenen Stadtarchitektur gesetzt.
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In einer weiteren Szene geht das Schiff von Hass und seiner Mannschaft bei diesem Riff vor Anker (ab ca. 00:12:06). Bemerkenswert ist die Perspektive, aus der die Ankunft des Schiffs, das Hinabsinken des Ankers und der Ausstieg der Taucher gefilmt ist, denn es ist jene der Meeresbewohner. Die Menschen werden als ›fremde Eindringlinge‹ bezeichnet (ca. 00:15:00), die Bilder zeigen jedoch etwas anderes: Taucher, die sich frei bewegen und kein oben und unten zu kennen scheinen. Sie nehmen den Meeresraum um das Korallenriff ein als wären sie dort heimisch. Szenen über und unter Wasser wechseln einander ab und stehen nicht nur in einem erzählerischen Zusammenhang, sondern in einer Zeichenfunktion zueinander. So stellt Hass beispielsweise die in bunte Saris gekleideten Frauen einer Dorfszene den Bewohnern eines Riffs gleich und vermittelt den Zuschauern des Schwarz-Weiß-Films eine Vorstellung vom Farbenreichtum des Riffs. Er findet damit einmal mehr eine am Menschen orientierte Metapher für die Unterwasserwelt (00:38:00).92 In einem kurzen Intermezzo werden im Wechsel von Schuss und Gegenschuss zwei Taucher parallel zu zwei Delfinen gezeigt (ab 00:45:50). Nur ein Filmkapitel zuvor hatte Hass das synchrone Schwimmen von zwei Fischen, auch unterschiedlicher Arten, in den Fokus genommen und es als Liebe (00:43:54) oder, beispielsweise bei Anemone und Clownfisch, als Freundschaft (00:44:44) interpretiert. In Bezug auf Bilder einer Gleichsetzung von Mensch und Tier ist ein Filmkapitel hervorzuheben, in dem es um ein von Hass unter Wasser durchgeführtes Experiment geht (ca. 01:02:00). Über einen in das Korallenriff gelegten Lautsprecher wird Musik eingespielt, u. a. ein Walzer von Johann Strauss. In großer Zahl werden die Fische, so scheint es, von der Musik angezogen, sie ziehen wenig später ihre Kreise um den Fotografen und die Quelle des Schalls, dann »tanzen sie in einem gespenstischen Walzer«. Hass zeigt auch die ›tanzenden‹ Taucher, als könnten sie sich ebenso wenig der Musik entziehen: Sie kreisen selbstvergessen im Wasser und vollführen Hebefiguren, einen Kopfstand und Saltos (01:08:21) (Abb. 3). Am Ende des Films kommt es zur Begegnung mit einem Walhai und Mantas (Teufelsrochen). Bild- und Tonebene verbinden sich während des Harpunenangriffs auf den Manta zu einer dramatischen Szene. Die Tiere, die mit langsamen Flossenbewegungen nahe der Meeresoberfläche schweben, erhalten im Gegenlicht gefilmt eine negative Konnotation (01:17:28), indem sie zur schwarzen
92 Vgl. den Kommentar im Film Pirsch unter Wasser und die Filmszenen, die der Betrachtung des Riffs in Cousteaus Film Le Monde de Silence gewidmet sind.
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Abb. 4 a-d: Aufnahmen von einer Panorama-Kamerafahrt (00:11:48-58), Filmstills aus: Abenteuer im Roten Meer, 1951, Regie: Hans Hass Silhouette mit Teufelshörnern werden.93 Die hier vorgenommene Zeichnung der Tiere erinnert an den 1939 gedrehten Film Le Vampire von Jean Painlevé. Er handelt von Desmondus rotondus, der sich vom Blut anderer Tiere ernährenden Vampierfledermaus. Painlevés Film ist in seiner Bildsprache und seinem Kommentar eine Allegorie auf den Nationalsozialismus, übertragen auf die Tierwelt. Tiere werden hier in einer wirkmächtigen Erzählung und eingebettet in wechselnde Szenen aus Spielfilmen und Bildern der Natur mit menschlichen Attributen besetzt und im Gegensatz zu ihrer Darstellung in seinen anderen Filmen in ein negatives Licht gerückt.94 Ein Gegenbild zum Manta findet sich in dieser Szene in einem unter gleichen Lichtverhältnissen aufgezeichneten Taucher, der nicht nur in seinen Konturen, sondern auch in seiner Binnenzeichnung gut zu erkennen ist. Mensch und Tier sind hier Kategorien von Gut und Böse zugeordnet. Die Gegenüberstellung von Taucher und Manta endet in jener desillusionierenden Harpunenjagd; der Erzählstrom gerät an sein Ende, insbesondere wenn Hass nochmals unterstreicht, dass das Meer der Jagdgrund seiner Tauchergruppe sei. Hans Hass hatte bereits in seinem Kurzfilm eine fantastische Gleichsetzung und geradezu naturgemäße Überlagerung von Mensch und Tier in Bild und Kommentar angelegt – parallel zu seinen Bemühungen, die Kameralinse zum Zweck der wissenschaftlichen Auswertung des Filmmaterials möglichst offen zu
93 Zum gleichen Bild vgl. Hass, Hans: Manta. Teufel im Roten Meer, Berlin 1952. 94 Vgl. Schwarz, Isabelle: Von Wundern, Zaubereien und Horror. Tiere im Film des Jean Painlevé, in: dies. (Hg.): Weiße Federn, schwarzes Fell. Tiere in Darstellungen des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hannover 2012, S. 11-17, hier S. 15.
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halten. Die auf dieser hybriden Folie hergestellten Bezüge zwischen beiden Lebenswelten und ihren Bewohnern, die von der Meeresoberfläche getrennt werden, ergeben, auf der Grundlage einer scheinbaren Wissenschaftlichkeit, surreal anmutende Bilder und Konstellationen. Beispielhaft für den zweiten Aspekt, dem ›Eigenleben‹ der Kamera, lassen sich folgende Szenen betrachten: Nach Schnitt und Gegenschnitt zwischen der verlassenen Hafenstadt Suakin und dem Riff zeigt die Kamera eine Panoramafahrt unter Wasser.95 Der Film vermittelt die dafür notwendige Bewegung des vertikal schwimmenden Tauchers, der sich im Wasser mit mehrfach neu aufgenommenem Schwung um die eigene Achse dreht (00:11:48-00:11:58) (Abb. 4 a-d): Die Kamerafahrt wird immer dort langsamer, wo sie das Leben im Riff aufnehmen kann, und überspringt Bereiche, die durch Vorsprünge und Pflanzenwelt verschattet sind. Sie setzt jedoch auch den Zuschauer mit dem Taucher in eins.96 In dieser Szene richtet sich die Aufmerksamkeit einmal mehr auf die Rolle des Filmenden, der auch im übertragenen Sinn im unsichtbaren Zentrum wie ein Kugellager steht.
95 Hans Hass schreibt den Grund für den Auszug der Bewohner aus der Stadt und ihren Verfall dem Riff zu, das die Zufahrt zum Hafen beeinträchtigt haben soll. Tatsächlich verlor die Stadt jedoch mit dem 1904 gegründeten Port Sudan an Bedeutung und wurde in den 1950er Jahren nahezu gänzlich aufgegeben, vgl. den Eintrag unter »Sawakin«, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Sawakin [Stand: 17. Februar 2018]. 96 Zum Panorama als historische Bildform und Vorläufer der Kinematografie vgl. Huhtamo, Erkki: Illusions in Motion. Media Achaeology of the Moving. Panorama and Related Spectacles, Cambridge, Mass./London 2013; Sehnsucht: Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1993; Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a. M. 1980.
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Auf der Suche nach den »Meeresteufeln« entdeckt und erkundet Hass eine unter Wasser gelegene Höhle, die er als »unterseeischen Dom« beschreibt (ca. 00:46:53). Zunächst folgt die Kamera dem Taucher in die dunklen Felskammern, dann nimmt der Zuschauer die Position des Tauchers selbst ein, der die Kamera hält, und erblickt wie mit dessen Augen die unbekannte Unterwasserarchitektur: Richtungswechsel deuten die Erkundungen des Tauchers an, während Plankton ins Sichtfeld gerät. Der Taucher und Filmemacher teilt das Beobachtete unmittelbar mit dem Zuschauer. Die Action Cams und die mit ihnen entstandenen Filme von Laien- und Profisportlern, abrufbar vor allem auf Videokanälen im Internet, sind hier vorweggenommen. Die besondere Kameraführung, durch die sich Wahrnehmungsebenen verschieben, lässt das Medium selbst und den Filmemacher ins Bewusstsein treten. Durch sie wird sowohl eine Nähe zwischen Mensch und Tier suggeriert als auch eine Distanz zum Leben im Meer ersichtlich. Die Zuschauer werden an den hier exemplarisch beschriebenen Stellen auf das Medium Film als eine zwar transparente, d. h. Beobachtung und Erkenntnisse ermöglichende, aber letztendlich doch trennende Oberfläche zur Unterwasserwelt zurückverwiesen. Jaques-Yves Cousteau/Louis Malle, Le Monde Du Silence (Die schweigende Welt), Frankreich 1956 Jaques-Yves Cousteau drehte für diesen Film gemeinsam mit dem Cineasten sowie späteren Regisseur und Drehbuchautor Louis Malle (1932-1995), der in den 1950er Jahren die Nouvelle Vague (Fahrstuhl zum Schafott, 1957) mitbegründete, seinerzeit als Cousteaus Kameramann und Assistent arbeitete und für diesen Film mit Regie führte. Die Aufnahmen entstanden während einer zweijährigen Reise mit dem Forschungsschiff Calypso und seiner zwölfköpfigen Mannschaft im Mittelmeer, im Roten Meer, im Indischen Ozean und im Persischen Golf. Die Handlung folgt der Fahrt der Calypso: Ausgehend von einem inhaltlich mäandernden, aber immer wieder auf die Menschen an Bord zurückkommenden Erzählstrang gliedert sich der Film in nur lose miteinander verbundene Kapitel. Diese sind den Land- und Tauchgängen, aber auch den Witterungsbedingungen und der technischen Ausrüstung, im Einzelnen der Vielfalt des Lebens in natürlichen und künstlichen Riffen, einzelnen Arten, darunter Delfine, Wale und Haie, und der Dynamitfischerei gewidmet. Belegbar wissenschaftliche Beobachtungen der submarinen Natur finden nicht statt.97 Der
97 Die Zeit, die der Beobachtung von Objekten und Vorgängen in der Natur gewidmet ist, stellt einen wesentlichen Faktor für die wissenschaftliche Erforschung durch das
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Mensch – dies gilt auch für den Kapitän und den Dokumentarfilmer Cousteau – tritt nicht ausschließlich auf »als Zeuge von Handlungen, Ereignissen oder Phänomenen der Zeitgeschichte, die er mittels Film erschließt, verdeutlicht, analysiert oder rekonstruiert«98. Vielmehr ist die Handlung oft von Aktionismus geleitet und vermittelt die Annahme, dass es angesichts des unerforschten und unbekannten Lebensraums die Aufgabe des Menschen sei, diesen mit Sinn zu füllen. Beispielhaft steht hierfür das Filmkapitel über einen Zackenbarsch, dessen Verhalten in seiner natürlichen Umgebung nicht Gegenstand beschreibender und analysierender Beobachtung ist, sondern der angefüttert und eingesperrt wird. In der Geschichte des Dokumentarfilms, vor allem in der Richtung des Cinéma Verité, ist diskutiert worden, ob ein Geschehen stimuliert werden dürfe.99 In Le Monde du Silence wird die Natur aus anthropozentrischer Perspektive betrachtet, indem der Mensch die naturkundlichen Objekte und Phänomene nicht nur beobachtet, sondern in den Lebensraum Meer eingreift und diesen nach menschlichen
Medium Film dar; vgl. Stutterheim: Gezüchtet und geopfert (wie Anm. 17), u. a. S. 184. 98
Wulff/von Keitz: Dokumentarfilm (wie Anm. 70).
99
»In den 1960er Jahren entbrannten mehrere Dokumentarfilm-Debatten, in denen es um die Methoden des Dokumentarfilms ging, um die Zulässigkeit des Eingriffs, um die Rolle von Subjektivität und politischem Interesse, das (symbolische) Machtverhältnis zwischen Dokumentarfilmer und Gefilmten (vereinfacht ausgedrückt begleitete das Direct Cinema soziale Prozesse, während das Cinéma Vérité sie stimulierte).« Ebd. Vgl. auch »Cinema Verite: Definitions and Background«, https://mitpress. mit.edu/sites/default/files/titles/content/978_02626_30580_sch_0001.pdf [Stand: 23. Februar 2017]. Die im Wasser frei handhabbare Kamera und die begrenzten Möglichkeiten der Beleuchtung und Inszenierung durch künstliche Lichtquellen rücken die frühen Filme in eine Nähe dieser Richtung des Dokumentarfilms. Es stellt sich vor dem Hintergrund einer solchen Verbindung die Frage nach dem Grad der Wahrheit und damit auch nach Objektivität. Außerdem gilt es zu untersuchen, inwieweit Wahrheit und Objektivität in einem Verhältnis zu der Distanz stehen, die der Filmemacher zu seinem Filmgegenstand einnimmt. Auch die Bedeutung des Filmemachers, der in Aktion tritt, ist für die frühen Unterwasserfilmer, die selbst herausragende Taucher waren, mit der Kamera experimentierten und sich in beiden Funktionen in Szene setzten, herauszustreichen. Daran knüpft Jean Painlevé im zehnten und letzten seiner Grundsätze zum Dokumentarfilmmachen an: »You will not be content with ›close enough‹ unless you want to fail spectacularly.« Painlevé, Jean: The Ten Commandments [from the programm notes for »Poets of the Documentary«, 1948], in: Bellows/McDougall: Science is Fiction (wie Anm. 5), S. 158-159, hier S. 159.
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Maßstäben bemisst und erklärt. Szenen zeigen ein fehlendes Umweltbewusstsein und einen respektlosen Umgang mit der Natur, sie stehen im Gegensatz zu einem frühen Arten- und Umweltschutz, wie er sich bereits im Tierfilm der 1910er Jahre äußert, zum Beispiel in Produktionen von Hermann Hähnle (1879-1965). Der Titel Le Monde du Silence – ein Lebensraum, der alles andere als still und mitnichten als eigene Welt für sich zu betrachten ist, sondern als Bestandteil eines komplexen Ökosystems – deutet auf einen besonderen Standpunkt hin, von dem aus die Welt unter der Meeresoberfläche erkundet wird. Die menschlichen Sinne werden zur Bemessungsgrundlage, es besteht wenig Empathie oder Verständnis für das Anderssein. Belegt wird dies zum Beispiel in einer zum Film entstandenen Dokumentation, in der Cousteau zu den mit Magnesiumfackeln in die Tiefe hinabschwimmenden Tauchern, der Anfangssequenz von Le Monde du Silence, erklärt, in eine vom Menschen unbewohnte Welt habe dieser erst das Wissen hinabzutragen: »Pour la première fois depuis la création du monde, nous avons apporté a lumière de la connaissance au fond de la mer.«100 Demgegenüber basieren die Aufzeichnungen einer Dokumentation grundlegend auf der Zeugenschaft des Filmemachers: Er schafft einen Zugang zu Handlungen, Ereignissen und Phänomenen, er beobachtet und befragt seinen Gegenstand. Das Autorenteam um die Kunsthistorikerin Jessica Ullrich beschreibt das Gestalten einer Beziehung zwischen Mensch und Tier, das auch in der Kunst aufgegriffen und reflektiert worden ist: »Die Welt wird nicht nur von Tieren bewohnt. Tiere nehmen mit Menschen Kontakt auf und Menschen mit Tieren. Hieraus ergeben sich Kommunikationsprozesse zwischen den Spezies, tiefe Freundschaften, symbiotische Gemeinschaften, leidenschaftliche Liebesbeziehungen, wissenschaftliche Annäherungen, grausame Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse, körperliche Hybridisierungen – alles Formen der Kontaktnahme, wie wir sie auch mit Menschen pflegen. Das Zusammentreffen der Spezies hat dabei immer auch schon einen gestalterischen Aspekt, der von Anbeginn an konstitutiv für die künstlerische Ausdrucksweise der Menschen war.«101
100 Jacques-Yves Cousteau, in: »Tiefer, Weiter, Länger«, Bonusmaterial, in: Jaques Cousteau. Seine großen Kinofilme. Edition, DVD 1: Die Schweigende Welt, München 2008. 101 Ullrich, Jessica/Weltzien, Friedrich/Fuhlbrügge, Heike: Das Selbst des Tieres und die Identität des Menschen. Vorwort, in: dies. (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 9-13, hier S. 11.
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Die Begegnung zwischen Mensch und Tier im Film Cousteaus ist a priori von der bereits beschriebenen Haltung des Menschen geprägt, sie bestimmt die Ausgestaltung der Beziehung auf inhaltlicher und formalästhetischer Ebene. Eine für das Zusammengehen von Kunst und Wissenschaft wesentliche Szene des Films ist die Begegnung der Calypso mit einer Schule Delfine in tropischen Gewässern (00:13:18 bis 00:16:40). Sie erhält neben wenigen Informationen zur Natur der Säugetiere folgende Einführung (00:14:14, der Sprecher ist Cousteau selbst): »C’est jour de fête chez les dauphins. Ils sont venus par centaines.« Eine Trompetenfanfare kündigt die Delfine an, deren zum Teil synchrone Sprünge von Trommelwirbeln im Crescendo untermalt sind, so dass sich Bild- und Tonebene laufend zu einem Gesamtbild fügen. Das musikalische Stakkato unterstreicht die bemerkenswerte Geschwindigkeit, die Delfine im Schwimmen erreichen können. In fünf Kameraperspektiven werden die Tiere gezeigt, einzeln und in Gruppen unter- und oberhalb des Wassers. Sie umfassen auch eine das Kapitel abschließende Panoramaaufnahme der sich vom Schiff entfernenden Tiere, vom Mastkorb aus gefilmt. Cousteau und Malle nehmen im Gegenschnitt die Besatzung bei der Betrachtung des Naturschauspiels in den Fokus (00:14:08 und 00:15:37). Die Kameraperspektiven erklären sich aus eben diesen Standorten der Besatzung auf dem Schiff: von der Reling, von einem Beobachtungsposten im Heck unter Wasser und vom Mast aus. Die ebenso poetische wie stringent durchkomponierte Szene steht zwischen zwei Kapiteln, die sich mit technischen Fragen beschäftigen, Druckausgleich und Echolot, und damit um den Aktionsradius des Menschen kreisen. Sie weist eine Analogie zu einer Szene in dem 1972 entstandenen populärwissenschaftlichen Natur-/Dokumentarfilm Acéra ou le bal des sorcières von Jean Painlevé auf. Der in Zusammenarbeit mit Geneviève Hamon gedrehte Film ist einer kleinen Weichtierart im Lebensraum Meer gewidmet. Kernstück des Films, eingerahmt von beeindruckenden Nahaufnahmen aus dem Lebenszyklus der Mollusken, ist der ›Tanz‹ der Tiere, scheinbar im Takt zur dramatischen Musik des französischen Filmmusikkomponisten Pierre Jansen. Die Kamera fängt das Auf und Ab der Tiere ein, die sich in blau-gelbem Licht vor dem schwarzen Hintergrund des Wassers wie auf einer Bühne bewegen. Andere Tiere am Boden muten wie Zuschauer an, die entweder ihre Köpfe mit Interesse zu heben oder abgewandt und unberührt vom Geschehen zu bleiben scheinen. Die geheimnisvolle Anstrengung der Mollusken erklärt ein Sprecher damit, dass der ›gemeinsame Tanz‹ ebenso wie jede sinnliche Wahrnehmung – das ›Tasten, Schmecken und Riechen‹ – der Partnerfindung diene.102 Das von Painlevé aufge-
102 Vgl. Schwarz: Von Wundern (wie Anm. 94), S. 16. Ebenso wie für die analoge Szene in dem Film Le Monde du Silence gilt, dass der Blick des Zuschauers bei Pain-
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zeichnete Steigen und Fallen der Tierkörper im Wasser wurde von Seiten der Kunstkritik als Reminiszenz an den sensationellen Serpentinentanz einer Loïe Fuller (1862-1928) oder als Bild für den aufgeladenen Partnertanz zum Sound der Zeit in den Szene-Nachtclubs gedeutet und damit als eine humorvollgroteske, sinnesfreudige Allegorie auf den Menschen.103 In dem Kapitel zu den Delfinen bei Cousteau wird allerdings keine Bühne für die Tiere im Film eröffnet – Painlevé arbeitet dafür mit einer frontalen Ansicht und dem Einsatz von Licht. Cousteau erschafft demgegenüber – auch mit der Panoramaansicht und den verschiedenen Standorten der Kamera – eine Arena. Der Mensch, der diese Standorte markiert, wird zum Zuschauer, während sich Painlevé als Filmemacher in der entsprechenden Szene seines Films hinter die ›zuschauenden‹ Tiere und damit auf eine Position der reinen Beobachtung zurückzieht, obwohl er für die Inszenierung verantwortlich zeichnet. Die dramatischen Fanfaren und Trommelwirbel, die die Sprünge der Delfine begleiten, ruft die Idee eines Spielmannszuges oder eines Zirkus wach, von einstudierten Bewegungsabläufen und Dressur. Die Musik legt einen interpretatorischen Rahmen um die beeindruckenden Bilder der großen Delfinschule. Insgesamt ergibt sich aus der Komposition von Bild und Ton sowie Schnitt und Gegenschnitt ein hierarchisches Verhältnis zwischen Mensch und Tier.104 Im Weiteren werden kursorisch verschiedene Stellen des Films betrachtet, in denen sich Strukturen und Aspekte des Wissenschaftsfilms in einen künstlerischen Kontext stellen lassen.105 Dazu zählt die Verwendung von Aufnahmen einer au-
levé unmittelbar nach den geradezu betörenden ›Tanzszenen‹ wieder an Sachlichkeit gewinnt. Wenn dort von der Technik des Tauchens und der Seefahrt berichtet wird, sind es bei Painlevé Distanz schaffende Aufnahmen von oben auf die durch Schlamm gleitenden Mollusken. 103 Vgl. Rugoff: Fluid Mechanics (wie Anm. 60), S. 18. Hier rückt die Frage in den Vordergrund, wie sehr Arten, deren Gestalt von jener des Menschen vollkommen abweicht, zum Reflexionsmoment werden können; vgl. dazu auch Weltzien, Friedrich: Mollusken-Ich. Tierwerden als Metapher und Methode, in: Ullrich/ Weltzien/Fuhlbrügge: Ich, das Tier (wie Anm. 101), S. 145-162, v. a. S. 161. 104 In diesem Kontext ist auf eine weitere Szene hinzuweisen, die den Clownfisch als Bewohner des Riffs vorstellt (00:21:20-26). Der begleitende Kommentar und das eingespielte Kinderlied geben der Wahrnehmung von Verhalten und Gestalt dieser Art eine unmittelbare Richtung vor. 105 Die spektakulären Szenen, mit denen der Film seinerzeit Furore machte, die Fahrt mit dem Unterwasser-Roboter durch ein Riff, die Begegnung mit Walen und das
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tomatischen Unterwasserkamera in einem Kapitel, in dem über die Funktion des Echolots Auskunft gegeben wird, dessen Aufzeichnungen Cousteau Rätsel aufgeben (ca. 00:18:40/50). Die Kamera wird als ergänzendes Messinstrument in rund 300 Metern Tiefe eingesetzt. Cousteau und ein Mitarbeiter, die rauchend am Tisch der Offiziersmesse sitzen, sichten anschließend einen Stapel Fotografien und werten die Aufnahmen aus. Eine Auswahl von drei Schwarz-WeißAufnahmen wird exemplarisch eingeblendet. Diese Aufnahmen, auf denen sich vor schwarzem Hintergrund Plankton und größere Lebewesen als weiße Partikel abzeichnen, erinnern an einen Sternenhimmel, dies legt auch der Sprecher nahe (00:18:16 bis 00:19:22). Das schließlich als unbrauchbar verworfene Bildmaterial hat bei Cousteau einzig eine dramaturgische Funktion: Es unterstreicht die Bedeutung des Menschen, den kein Instrument ersetzen könne. Gegenüber den statischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen erscheinen die Filmbilder der ›Schattenzone‹ am Fuße eines Korallenriffs in rund 30 Metern Tiefe, die im folgenden Kapitel auf einem Tauchgang erkundet wird, farbenprächtig und lebendig: Ein frei schwimmender Taucher zeichnet die gut ausgeleuchtete Unterwasserflora und -fauna mit einer Kamera auf. Die Kamerafahrt entlang des Riffs in die Tiefe, musikalisch von Streichern unterlegt, feiert die Errungenschaften der Unterwasser-Filmtechnik (ca. 00:19:30 bis 00:20:10). Wiedergegeben im Medium des Films, in überzeichneter Farbgebung und mit einem Fokus auf leuchtenden Korallen erinnern die Aufnahmen an die in der Technik der Décalcomanie entstandenen Gemälde von Max Ernst (1891-1976).106 Dekontextualisierte Naturdetails und Abschnitte des Riffs, einzelne Korallen und andere Lebewesen gewinnen in diesem Kapitel des Films, u. a. durch den besonderen Lichteinfall, einen Grad der Abstraktion, der sie auch in die Nähe expressionistischer Darstellungsweisen führt (beispielsweise 00:19:54, 00:20:03, 00:20:27). Allerdings erhalten die Bilder durch den Kommentar zugleich eine negative Konnotation: »Le paysage semble jailli d’un cauchemar.« (00:19:59).
Tauchen mit Haien, werden hier ausgespart. Sie zeigen vorrangig den Menschen und sein technisches Gerät, mit dem er den neuen, unbekannten Raum einnimmt. In diesen Szenen wird die Natur nicht zum Gegenstand einer naturkundlichen Beobachtung und Dokumentation. 106 Zur Décalcomanie vgl. Keßler, Annerose: Zufall als ›Methode des Lebendigen‹. Décalcomanie, Farbspur und Naturerfindung bei Max Ernst und Gerhard Richter, in: Pflaumbaum, Christoph/Rocks, Carolin/Schmitt, Christian/Teztlaff, Stefan (Hg.): Ästhetik des Zufalls. Ordnungen des Unvorhersehbaren in Literatur und Moderne, Heidelberg 2015, S. 309-326.
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Ungeachtet der Faszination, die die so gezeichnete Unterwasserwelt ausstrahlt und die in den Szenen von Cousteau und Malle eine filmische Hommage erhält, wird dieser Lebensraum bewusst beschädigt, vorgeblich im Dienst der Wissenschaft. Mit sachlicher Distanz fängt die Kamera zum Beispiel ein, wie gefangene Exemplare verschiedenster Arten qualvoll an Deck der Calypso verenden. Der Filmwissenschaftler Vinzent Hedinger hat sich mit der Gleichsetzung eines Erkenntnisgewinns über das Andere – gemeint ist der Versuch, Ähnlichkeiten zum Vorschein zu bringen – und dessen Zerstörung auseinandergesetzt, konkret mit dem Zusammenhang zwischen der Produktion von Filmbildern der Natur und ihrer Destruktion. Hedinger bringt diese Kausalität auf folgende Formel: »In auffälliger Häufigkeit geht die Herstellung von Tierbildern einher mit der Produktion von Tierleichen […].«107 Diese Formel ist auch auf Cousteaus Film anwendbar und wird in einer weiteren Szene zu einem sicherlich ungewollt surrealen Bild, wenn die durch Dynamitfischerei verletzten und getöteten Fische aus den Keschern der Taucher am Strand entladen werden. Eindrucksvoll wird hier vor allem das leidvolle Sterben eines Kugelfisches dokumentiert, der noch am Angelhaken hängt (ca. 00:24:04). Was das Stillleben als »Lust am Paradoxen«108 mittels des Trompe-l’Œil auf den Höhepunkt eines Genres gebracht hatte, zelebrieren Cousteau und Malle mit der formalen Überspitzung eines StilllebenMotivs im bewegten Bild. Es ist ein Bild, das die hier dargestellte Lebendigkeit in den letzten Atemzügen der Fische dokumentiert und beweisführt, das jedoch in der gleichen Einstellung ein Ende dieses Lebens in Kauf nimmt. Eine ganze Reihe von Tier- und Jagdstillleben lässt sich mit dem so bei Cousteau entstehenden Bild assoziieren, etwa die Stillleben mit Fischen eines Malers wie Chaim Soutine (1893-1943), die die Erfahrungen eines gewaltvollen Sterbens und einer Naturzerstörung transzendieren. Diese Engführung gilt insbesondere für eine Nahaufnahme von den Fischköpfen, mit der das Sterben vor der Kamera für den Zuschauer besonders greifbar wird. Auch Werke des flämischen Malers Jan van Kessel I (1626-1679)109 stehen diesen Szenen nahe. Während die Tiere und Ob-
107 Hedinger: Töten und Abbilden (wie Anm. 87), hier S. 82. 108 Wagner, Monika: Vom Nachleben des Stilllebens im bewegten Bild, in: Gockel, Bettina (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000, unter Mitarbeit von Julia Häcki und Miriam Volmert, Berlin 2011 (Zurich Studies in the History of Art, Special Issue), S. 245-263, hier S. 245. 109 Beispielsweise das Gemälde Stillleben mit Fischen und Meeresgetier in einer Küstenlandschaft, 1961, Öl auf Kupfer, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, erworben 1992 durch eine Stiftung von Jürgen Schneider, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e. V.
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jekte in den Gemälden in ihrem innerbildlichen Gefüge auf den Reichtum und die Vergänglichkeit des Lebens verweisen, stehen die Fische im filmischen Geschehen in ihrem Todeskampf für sich selbst und für das, was dem Menschen in der Natur unverständlich bleibt. In der Retrospektive werden die sterbenden Fische außerdem zu einem Bild für den eingangs bereits angedeuteten gedankenlosen Umgang des Menschen mit der Natur. Die Visualisierung einer Bewegung in den Tod hinein lässt sich im Rahmen der Analogie dieser Szene zum Tierstillleben als Symbol für Vanitas deuten, als Bild für das Verstreichen der Jetzt- und Filmzeit. In diesem Punkt übersteigert der Film das dem Stillleben eigene Paradox des Lebensreichtums, das sich im Motiv eines Früchtestilllebens beispielsweise in einer in der Farbgebung angelegten, beginnenden Fäulnis ausdrückt. Das Potenzial der traditionellen Gattung des Stilllebens, so die Kunsthistorikerin Monika Wagner in ihrer Untersuchung zum Stillleben in der Darstellung bewegter Bilder, »ist jedoch gewissermaßen gerettet und in das Medium selbst überführt. Denn in der Übersetzung des Stilllebens in die Temporalität der technischen Medien wird der fortschreitende Zerfall, die Auflösung in Formlosigkeit zum Thema. Vielleicht liegt darin gerade die heute mögliche Form einer Vanitas-Obsession«110 . Diese Schlussfolgerung lässt sich auch für die hier betrachtete Szene ziehen. Dem Sterben des Fisches steht der Mensch gegenüber, der in den Filmen Cousteaus insgesamt zu einem sich zum Leben hin bewegenden Akteur und zugleich zur überlegenen Art stilisiert wird. Komplementiert wird diese Szene an anderer Stelle, wenn ein Mitglied der Mannschaft auf dem Schiffsdeck inmitten von Gläsern sitzend Fische konserviert, ein Bild, das eine Form der Wissenschaftlichkeit nahelegt und dem Töten der Lebewesen eine Funktion zuweist (00:24:40). Ein Moment anderer Art ergibt sich in einer Szene, die die Erkundung eines Wracks zeigt, mit dem Anschlagen der Schiffsglocke durch den Taucher, bei dem unvermittelt ein Glockenton zu hören ist. Dem nicht genug nennt eine Frauenstimme den Namen des Schiffs, nachdem dieser auf der von Muscheln und Korallen freigekratzten Glocke lesbar geworden ist (00:37:43): »Wistlegorne, Glasgow«. Auch in den folgenden Szenen finden sich Einstellungen, die den Film aufgrund eines freien Umgangs mit der Kamera und mit Bildern dem Genre des dokumentarischen (Unterwasser-)Films oder populären Wissenschaftsfilms entrücken: Es geht beim Wracktauchen weder um die Vermittlung von Informationen über die Bewohner dieses künstlichen Riffs im Speziellen noch um die Erweite-
110 Wagner: Vom Nachleben des Stilllebens (wie Anm. 108), S. 261.
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rung naturkundlichen Wissens im Allgemeinen.111 Mehr Wert wird auf die mit der Kamera eingefangenen Motive gelegt, die ihre eigenen Vorstellungen beim Zuschauer evozieren: Beispielsweise tauchen zwei mit Muscheln und Korallen überwachsene Motorräder frontal aus der Dunkelheit auf und gaukeln mit Scheinwerfern, die wie Augen erscheinen, prähistorische Wesen vor (ca. 00:39:11). Farbprächtige Korallen werden in den Fokus der Kamera genommen und ihrem natürlichen Kontext enthoben, sodass sie an die bizarren Landschaften der bereits genannten Bildwelten von Max Ernst erinnern (00:41:00). Oder es geht um natürliche Formationen, die im Medium Film in abstrakte Muster überführt werden:112 Ein Fischschwarm etwa wird von unten gegen die Wasseroberfläche gefilmt (00:40:05), die Tierkörper geraten zu einer bloßen Matrix von Hell und Dunkel. In einer anderen Aufnahme werden die aus Luken und Bruchstellen des Wracks aufsteigenden Luftblasen der Taucher, die den Blick zur Wasseroberfläche lenken, zu abstrakten Formen (00:43:38). Die hier beschriebenen Muster werden weniger in ihrer Beziehung zum ursprünglichen Motiv wahrgenommen, als dass sie in erster Linie eigenständige Bezugssysteme bilden.113 Hervorgehoben wird in der Gegenüberstellung der Filme mit parallelen
111 Die Unwissenschaftlichkeit wendet sich in der hier erfolgten Überspitzung in etwas Metaphorisches. Details werden eingeblendet (00:39:52), ein Schuh und die Schiffsschraube, die beide in ihrer Unbeweglichkeit und ihrem Nicht-Gebrauch jeder Idee von Bewegung entgegenlaufen. Nicht in den Mittelpunkt gerückt – und für einen wissenschaftlichen Film (dieser Zeit) entscheidend – sind Szenen, die der Funktion des wissenschaftlichen Films entsprechen, indem sie Bewegungsabläufe abbilden und aufschlüsseln (vgl. Abb. 5 a). 112 Das gleiche Phänomen entsteht bei Aufnahmen, die über Wasser auf dem Schiff entstanden. Hier wird das Heck zu einem rein linearen Muster und einer abstrakten Zeichnung von Licht und Schatten (00:44:24). Abstraktionen einzelner Bilder kristallisieren sich insbesondere dort heraus, wo die Schatten harte Kanten bilden, etwa ein sich auf der Schiffswand abzeichnender Rettungsring (00:44:52). 113 Assoziationen zur zeitgenössischen Kunst finden sich exemplarisch in den Szenen der Erkundung eines Wracks. Die hier eingefügte Gesamtschau von Einzelbildern zahlreicher, formal vergleichbarer Details des gesunkenen Schiffs (u. a. 00:39:04, 00:39:07) lassen an das Künstlerbuch Photogrids von Sol LeWitt aus dem Jahr 1977 denken, das hier mit einzeln aufgenommenen Strukturausschnitten im medialen Raster geradezu vorweggenommen scheint. Vgl. Sol LeWitt: Photogrids, Paul David Press: Rizzoli, New York 1977. Dazu Krauss, Roslind E.: The LeWitt Matrix [Nachdruck aus: Iles, Chrissie (Hg.): Sol LeWitt, Structures 1962-1993, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, Oxford, 1993, S. 25-33.], in: Gross, Béatrice (Hg.): Sol
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Experimenten auch der Abstraktionsgrad der Bilder und filmischen Mustern bei Cousteau.114 Bemerkenswert an diesem Kapitel über das Wracktauchen ist außerdem, wie die Tiere mit der Kamera eingefangen werden und ihre Darstellung inszeniert ist.115 Besondere Momente entstehend in Einstellungen, in denen Taucher und Fisch miteinander gleichgesetzt werden (u. a. 00:39:20-23): Der Film zeigt sie – im Verfahren von Schnitt und Gegenschnitt – in synchronen Bewegungen (00:39:21-23). Vor dem Hintergrund einer Hierarchisierung von Mensch und Tier im Film insgesamt ist die hier angelegte Gleichführung hervorzuheben. Ein Kapitel ist dem Lebenszyklus einer Schildkrötenart gewidmet und erzählt von der Paarung, dem Landgang der Weibchen, dem Laichen und dem Verschließen dieser Löcher im Sand (ab 01:05:06). Die tränenden Augen einer Schildkröte bei ihrem Rückzug ins Meer werden vom Sprecher mit folgenden Worten kommentiert: »[…] c’est le vent qui l’a fait pleurer. Mais moins qu’en penser que c’est la douleur.« Wissenschaftlicher Ansatz und Vorstellungskraft stehen hier ungefiltert nebeneinander. Im abschließenden Kapitel des Films wird die beeindruckende Artenvielfalt eines Riffs, untermalt von Musik, dokumentiert, die Aufnahmen sind aneinandergereiht, ohne einem erzählerischen Spannungsbogen zu folgen. Der Film lässt
LeWitt, Ausst.-Kat. M-Museum Leuven/Centre Pompidou Metz, Zürich 2012, S. 5061, hier insb. S. 50-51. 114 Nicht weit entfernt sind den Bildern Cousteaus Arbeiten des US-amerikanischen Filmemachers Robert Breer (1926-2011). Sie unterstreichen in einer zunächst oberflächlich-visuellen Vergleichbarkeit – von beispielsweise dem Film Recreation I aus den Jahren 1956/57 – und mit Bezügen u. a. zu den Combine Paintings von Robert Rauschenberg das collageartige der hier dargestellten Szene aus Le Monde du Silence. Für die Arbeit von Robert Breer und seine historische Verortung vgl. u. a. Schmidt, Julia: MERZ ohne Kino? Kino nach MERZ? Positionen des Experimentellen im Film, ein Spannungsfeld zweier Avantgarden: Kurt Schwitters, Marcel Broodthaers, Robert Breer und David Perry, in: Hensel, Thomas/Krüger, Klaus/Michalsky, Tanja (Hg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006, S. 27-54. 115 Zum Beispiel 00:38:56. An verschiedenen Stellen tendiert die Fotografie des Films in Bezug auf die Perspektive, den Kamerastandort, den Einsatz von Licht und Schatten und ein Vexierspiel von Auf- und Ansichten zu einer über Versachlichung hinausgehenden Abstraktion. Hinzuweisen ist z. B. auf eine Aufnahme vom Deck, die Cousteau und den von seiner Gestalt ausgehenden langen Schatten von oben zeigt (00:31:38).
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an dieser Stelle die Reisebeschreibungen und literarischen Topografieschilderungen des 19. Jahrhunderts als Inspirationsquellen und Vorläufer des frühen nicht-fiktionalen Films aufscheinen.116 Erst gegen Ende des Kapitels, wenn sich das Maul eines Zackenbarsches öffnet (01:12:54), werden die Aufnahmen mit dramatischer Musik unterlegt und erneut in den Rahmen einer Erzählung gestellt: Die Bewohner des Riffs scheinen vor der drohenden Gefahr des angreifenden Fisches Schutz zu suchen oder zum Gegenangriff überzugehen. Der dokumentarische Fokus öffnet sich zugunsten einer fiktionalen Narration.117 Anhand der ausgewählten Szenen erweist sich Le Monde du Silence als ein Meilenstein der Unterwasser-Dokumentation und des Naturfilms, der zahlreiche ›hybride‹ Momente umfasst, mit denen Denkräume erweitert und Definitionsgrenzen eines Genres geöffnet werden.
R ESÜMEE Jacques-Yves Cousteau und Hans Hass sind als Taucher und Filmemacher Pioniere und inszenieren sich als solche im Film. Als Ergebnisse ihrer Pionierleistungen lassen sich die Filme als Grenzgänger zwischen den Genres, als ›Zwitterwesen‹, beschreiben. Einerseits wird Wissenschaftlichkeit in Szene gesetzt, indem die Arbeitsfelder an Bord der Forschungsschiffe vorgestellt werden und der wissenschaftliche Ansatz mit geläufigen Motiven belegt wird, zum Beispiel dem bereits oben erwähnte Konservieren der Meerestiere zur wissenschaftlichen Bestimmung (Le Monde du Silence), dem Sammeln und Auswerten von Forschungs- und Dokumentationsmaterial (Le Monde du Silence, Abenteuer im Roten Meer) und dem wiederkehrenden Bild vom beobachtenden und aufzeichnenden Taucher (insbesondere in Pirsch unter Wasser, Abenteuer im Roten Meer).118 Die hier dargestellte Wissenschaftlichkeit legitimiert scheinbar auch
116 Wulff/von Keitz: Dokumentarfilm (wie Anm. 70). 117 Eine zunächst ganz um die Fische kreisende Erzählung wird im Weiteren eine neue Richtung gegeben, indem die Taucher den Fisch anfüttern und ihm einen Namen geben. 118 Ein Beispiel für ein historisch gewachsenes Motiv wissenschaftlichen Arbeitens ist das Konservieren von Tierkörpern mit der Darstellung des Wissenschaftlers inmitten von Gläsern wie etwa bei Daniel Chodowiecki: Titelkupfer zu Blumenbachs Naturgeschichte, 1787, Akademie der bildenden Künste, Wien. Für eine Abb. vgl. LangeBerndt, Petra: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst, 1850-2000, München 2009, S. 194. Ich danke Annerose Keßler sehr für den Hinweis. Vgl. die Kompilati-
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ökologisch problematisches Verhalten oder kritische Aktionen. Andererseits aktivieren die Filmemacher in gleichem Maße die Vorstellungskraft der Zuschauer, wenn sie den unbekannten Naturraum medial erfassen und visualisieren. Erkennbar wird vor allem für Hans Hass das Anliegen, das »Schwimmtauchen als neue Methode der Meeresforschung«119 zu etablieren, mittels der sich die naturkundlichen Objekte auf bis dahin unerreichte Weise filmisch erfassen ließen. Indem sie die Bedeutung eines neuen Aufzeichnungsmodus zum Zweck der objektiven Beobachtung und Erschließung von Lebensvorgängen unterstreichen und für ihre Arbeit hervorheben, setzen sich die Filmemacher in die Tradition des Wissenschaftsfilms, dessen wesentliches Kriterium die Aufzeichnung von Bewegung darstellt. Inhaltlich geht es in den Filmen, die von meeresbiologischen Expeditionen handeln, sehr grundlegend um eine Idee der Bewegung, um eine Ex-Pedition, deren Dokumentation sich im literarischen Genre der Reisebeschreibung mit ansiedeln lässt. Diese Bewegung ist nicht ausschließlich eine gerichtete, die Kameraperspektive spiegelt nur zum Teil ein (Herrschafts-) Verhältnis wieder. Die Kamera ahmt oftmals auch die Bewegungen des Tauchers nach und nimmt seine Position ein, sie wird zum Gegenüber des Tauchers, der sie in die Mise-en-scène einbezieht. Damit erkundet sie, immer orientiert am menschlichen Maß und im Rahmen der menschlichen Bewegungsmöglichkeiten, selbst das neue Terrain. Es schließt sich die Frage an, wie aus dieser subjektiven Kameraführung, dem lebendigen Bild, ein wissenschaftliches werden kann: Gemeint ist letztendlich ein Bild, das unter einer wissenschaftlichen Fragestellung und mit Methodik ausgelesen und auf dessen Grundlage ein neuer Erkenntniswert generiert werden kann.120 Die rund eine Dekade nach den ersten Filmen Cousteaus und Hass entstandene Publikation Der wissenschaftliche Film in der Bundesrepublik Deutschland (1975) von Gotthard Wolf, der eine Enzyklopädie von Wissen-
on von Fotografien unter dem Titel »Ein Tag an Bord«, die die Arbeitsplätze der Wissenschaftler an Bord zeigt, in Hass: Aufbruch in eine neue Welt (wie Anm. 83), S. 26-27. 119 Hass, Hans: Schwimmtauchen als neue Methode der Meeresforschung, in: Biologiezentrum Linz/Austria, https://www.zobodat.at/pdf/DENISIA_0016_0005-00-08.pdf [Stand: Juni 2017]. 120 Auf anderer Ebene ist Friedrich Weltzien bereits der Frage nach einer Übersetzung von »real life zu still life« nachgegangen; vgl. Weltzien, Friedrich: Stillgestelltes Leben. Die Übersetzung von Natur ins Bild, in: Gockel: Vom Objekt zum Bild (wie Anm. 109), S. 189-213.
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Abb. 5 a (links) u. b (rechts): Enzyklopädie-Film »Ecballium elaterium (Curcubitaceae) – Ausschleudern der Samen«. Anhand dieses botanischen Wissenschaftsfilms wird vorgeführt, wie planvoll der Aufbau für Zeitraffer- und Zeitdehneraufnahmen ist und welche Möglichkeiten der Sichtbarmachung (auch von Bewegung) diese als wesentliche Methoden des wissenschaftlichen Films bieten schaftsfilmen verschiedenster naturwissenschaftlicher Fachgebiete aufbaute, zeigt anhand von Schwarz-Weiß-Stills aus Bewegungsphasen von Pflanzen und Tieren einzelner Filme der Enzyklopädie beispielhaft den Beitrag von Filmbildern zum Verständnis von Vorgängen des Lebens. Ermöglicht wird so die Analyse ihres genauen Ablaufs in Einzelbildern, durch Mikro- und Makroaufnahmen, durch Zeitraffungs- und Zeitdehneraufnahmen und durch eine weitgehend reduzierte, versachlichte Umgebung, die den Fokus auf das zu untersuchende Phänomen richtet. Die genannten Mittel sollen dazu beitragen, Prozesse erkenn-
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bar darzustellen und zu analysieren (Abb. 5 a u. b). Obwohl es für Cousteau und Hass vor allem auch um die Erschließung von Bildern eines unerforschten Lebensraums und die Vermittlung von Wissen ging, näherten sie sich ihrem Gegenstand nicht über die erforderlichen, oben aufgeführten Methoden des reinen Wissenschaftsfilms. Die so entstehende Leer- und damit Lehrstelle übernahmen die Filmemacher selbst, indem sie im Film als Vermittler für den Zuschauer fungieren: in der Rolle des Tauchers ebenso wie in jener des Kommentators. Allerdings ging es ihnen nicht ausschließlich um Erkenntnisgewinn, die Filmszenen haben auch unterhaltenden Charakter, indem sie die Naturdokumentation um dramatische Aktionselemente anreichern. Noch einmal ist auf die besondere Bedeutung des Mediums Film für den Vorgang der Beobachtung unter Wasser zurückzukommen, da es gleichermaßen
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bei Hass wie bei Cousteau mit Aufnahmen von filmenden und fotografierenden Tauchern, die zum Teil die aufzeichnende Kamera in den Fokus nehmen, in Szene gesetzt wird. Mit seiner relativen Beweglichkeit und seiner Lesart als Wissenschaftlichkeit schaffendes Medium gewinnt die Filmkamera an Bedeutung für die Rezeption der Bilder. Dirk Verdicchio beschreibt diesen Aspekt als »Denken des Mediums« und führt dazu aus: »Wenn man das technische Medium als produktive Apparatur denkt, verliert es den Charakter eines Kommunikationskanals, der als neutraler, transparenter Vermittler fungiert. Vielmehr schaltet sich das Medium als Drittes – als Bote, Übersetzer, Hermes – in die Kommunikation ein.«121 Verdicchio kommt zu dem Schluss: »Der Film vollzieht also keine Wiederholung des wissenschaftlichen Wissens im Sinne einer identischen Verdoppelung oder Spiegelung, sondern muss als erneute oder verschobene Konfiguration von Wissen aufgefasst werden.«122 Die Lebendigkeit des Naturraums, die sich in Bewegung ausdrückt, ist eine von der Kamera nachvollzogene oder nachgeahmte Erfahrung von Bewegung. Der Zuschauer wird zum Taucher mit all seinen medialen Begrenzungen – der Verlangsamungen und Einschränkung seiner Beweglichkeit, der Unschärfen und der eingeschränkten Sicht – und neuen Möglichkeiten der Wahrnehmung unter Wasser, wie sie oben bereits dargelegt worden sind; die Kamera eröffnet dem Zuschauer einen nachvollziehbaren Bewegungsradius im unbekannten Naturraum. Den wissenschaftlich ausgerichteten Filmbildern stehen Momente im Film gegenüber, die über eine grundlegende Ebene des Dokumentarischen und über einen erzählerischen roten Faden hinaus auf visueller Ebene zu Abstraktionen führen, die das Abgebildete in einen neuen Kontext stellen und zu Reflexionen über das mediale Bild anregen. Damit rücken diese Momente in die Nähe des künstlerischen Bildes und in eine Analogie zu einzelnen Werken und Konzepten. Nicht eklektizistisch finden diese Bildmomente von Objektivität und Imagination zusammen, vielmehr erscheinen sie als Bild-Reflexe oder mediale und künstlerische Marker innerhalb einzelner Szenen, wie anhand der Beispiele gezeigt werden konnte. Anders als bei Painlevé, der oftmals eine (künstlerische) Idee in einem wissenschaftlichen Kontext orchestriert, überwiegt bei Cousteau und Hass das Unterhaltende; besondere Momente, die sich von dieser Ebene abheben, bleiben ungeordnet und vage, ohne in ein den Filmen zugrunde liegendes, wissenschaftliches oder künstlerisches Konzept eingebettet zu sein. Obgleich innovativ für ihre Zeit stehen Filmtechnik und Taucherausrüstung in ihrer Limitierung von Wahrnehmung, Aufzeichnung und Wiedergabe in ei-
121 Verdicchio: Das Publikum des Lebens (wie Anm. 22), S. 64. 122 Ebd., S. 66.
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nem deutlichen Gegensatz zur herausfordernden Weite des neu zu erschließenden Raumes unter Wasser. Cousteau und Hass spiegeln in ihren Filmen diese Weite, indem sie den Ausschnitt der Kamera nur selten verengen oder die Handlung auf nur eine einzige Tierart oder ein einzelnes Biotop beschränken. Auch spielen ihre Filme nicht ausschließlich in der Welt unter Wasser. Die Erzählung nimmt ihren Ausgangspunkt über Wasser (in einem Schwimmbad in Wien beziehungsweise im ›Basislager‹ von Hass und seiner Mannschaft) oder direkt unter der Meeresoberfläche mit dem Start eines Tauchgangs in die schweigende Welt, die Handlung kehrt immer wieder an die Oberfläche zurück. Die Filmemacher betonen den Radius ihrer Forschungsreisen durch die verschiedenen Meere; die Exotik von Flora und Fauna sowie der Pioniergeist rücken die Unternehmungen in die Nähe historischer naturwissenschaftlicher Expeditionen. Darüber hinaus wird die Weiträumigkeit von der Indifferenz der verschiedenen Genres unterstrichen, aus denen die Filme sich speisen: Grundlegend finden sich ihn ihnen Verflechtungen zwischen (populärem) Wissenschaftsfilm und Unterhaltungsfilm. Aspekte des Dokumentar- und Naturfilms, die auf eine Versachlichung abzielen, verbinden sich mit dramatischen und Action-Elementen des Abenteuerfilms. Indem sich in den Filmen die Gegensätze Objektivität und Imagination überlagern, Aspekte einer Wissenschaftlichkeit überzeichnet werden oder abstrakte Bilder an Eigenständigkeit gegenüber der Handlung gewinnen, verdichtet sich ein Konnex zu künstlerischen Momenten. Auf der Grundlage dieser filmischen Matrix lassen sich Sachlichkeit, Objektivität und wissenschaftliche Distanz ebenso wie Subjektivität und Vorstellungskraft immer nur einzelnen Einstellungen oder Filmbildern zuordnen. In der Gesamtheit des Films erscheinen sie jedoch in fließendem Übergang oder sie überlagern einander. Das Spektrum der filmgenerischen Anleihen belegt den Versuch der Filmemacher, eine mediale Sprache für die Erfassung des unbekannten Naturraums zu finden. Eine Visualisierung des hier schier unbegrenzt zur Verfügung stehenden Stoffs scheint nur durch eine Adaption der heterogenen Vielfalt der (filmischen und literarischen) Genres möglich zu sein. Die Filme schlagen zahlreiche Kapitel auf, die durch den Menschen, der als sinnstiftender Forscher inszeniert wird, miteinander verbunden werden, nicht jedoch durch biologische oder ökologische Sachverhalte, beispielsweise die Artenvielfalt eines Biotops (wie seinerzeit für den biologischen Film und heute für den Naturfilm geläufig). Aufgrund der Mitarbeit von Louis Malle an Cousteaus Film erscheint es vor dem sich hier abzeichnenden generischen Spektrum nicht ganz abwegig, den Blick auf die Arbeiten der Nouvelle Vague zu richten, zu denen es heißt: »Doch die Realität wird nicht widergespiegelt, sondern observiert, eben erforscht, zitiert, filmisch konstruiert. Der Autor/Regisseur wählt aus, inszeniert, montiert und reflektiert sein Tun; und die
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Reflexion über die Kombination der Bilder und Töne wird zum integralen Bestandteil des Films, zum Modus seiner Wahrnehmung, der dem Zuschauer seinerseits Reflexion abverlangt.«123 Die Indifferenz der Filmsprache, aber auch die Vielfalt der Themen machen die Filme sicherlich unterhaltsam, führen jedoch dazu, dass dem Zuschauer das Meer als fremder Lebensraum, als das ›Andere‹, seltsam fern bleibt. Ganz im Gegensatz dazu richtet Painlevé in seinen Filmen den Fokus auf nur ein Thema – oftmals nur eine einzelne Art – und erschließt im Kleinen geradezu einen ganzen Kosmos dieser Lebensart, indem er die Gleichartigkeit betont, Anknüpfungspunkte vor Augen führt und emotional wie visuell eine Nähe zum Gegenüber suggeriert. Bemerkenswert ist, dass vor allem Cousteau das Meer zum Schauplatz einer Inszenierung des Menschen und seiner technischen Errungenschaften werden lässt. Es scheint, dass Cousteau in seinem frühen Film diesem neuen Raum per se wenig Attraktion für den Zuschauer zuschreibt. Narrativ aufgeladenen Szenen und Kapiteln steht ein singuläres Filmkapitel gegenüber, das dem Lebenszyklus einer Schildkrötenart gewidmet ist, weitestgehend ohne den Menschen mit einzubeziehen. Dieses Kapitel stellt sich innerhalb des gesamten Films als sachlich dar. Auch Hass setzt zum Beispiel in einem der visuell und vielleicht auch naturkundlich spektakulärsten Filmkapitel, der Begegnung mit Walhai und Mantas, eine Jagd mit Kamera und Harpune in Szene, um die Spannung weiter zu steigern. Nicht zuletzt ergibt sich auf der Grundlage dieses Geflechts eine jeweils eigene Ästhetik, die bei Hass von den für Filme der 1950er Jahre typischen Geschlechterklischees und gesellschaftlichen Stereotype, aber auch von (Selbst-) Ironie geprägt ist (nur ein Beispiel ist der ›Unterwassertanz‹ zur Musik). Während Cousteau seiner filmischen Arbeit als Leitgedanken voranstellt, dass das Wissen des Menschen in die schweigende Welt hinabzutragen sei, versucht ein junger, vor allem autodidaktisch vorgebildeter Hass, seine Unkenntnis mit der Aufzeichnung möglichst viele Bilder von der Welt unter Wasser zu kompensieren und diese für die Wissenschaft an die Oberfläche zu holen. Zumindest in seinem ersten Film richtet er den Blick noch nicht mit wissenschaftlicher Fundiertheit auf seinen Gegenstand. Der Unterwasserfilm stand Ende der 1940er Jahre und während der folgenden Dekade noch am Anfang, ebenso die Erforschung des Lebenraums Meer. Es galt, in dieser Vielzahl von Themen und möglicher narrativer Stränge Strukturen
123 Kiefer, Bernd: Verstrickungen. Jean-Luc Godard, in: Grob, Norbert/ders./Klein, Thomas/Stiglegger, Martin (Hg.): Nouvelle Vague, Mainz 2006, S. 84-103, hier S. 86. Vgl. auch Southern, Nathan C./Weissgerber, Jacques (Hg.): The Films of Louis Malle: A Critical Analysis, Jefferson NC 2005.
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zu schaffen: Diese sind anthropozentrisch angelegt, verweisen also auf den Menschen vor und hinter der Kamera zurück. Das Maß für eine Durchmessung des unbekannten Raums und Spiegel seiner Reflexion ist für beide Filmemacher der Mensch. Jacques-Yves Cousteau und Hans Hass legten die Grundlage für eine Ausdifferenzierung von visuellen Möglichkeiten einer Aufzeichnung unter Wasser, frei mit der Kamera schwimmend. Insbesondere der essayistische Charakter ihrer Filme stellt für heutige Naturfilme verschiedene Ansätze der filmischen Erschließung und Vermittlung eines Naturraums dar. Die Filme bereiteten zugleich einem künstlerischen Moment im Naturfilm den Weg, den Filme wie beispielsweise Microcosmos – Le peuple de lherbe von Claude Nuridsany und Marie Pérennou aus dem Jahr 1996 weiterentwickelten. Es bleibt für die Analyse der hier behandelten frühen Unterwasserfilme zu unterstreichen, dass das Medium diese als ›drittes Auge‹, als mitdenkendes Medium geprägt und die Darstellung des unbekannten Naturraums narrativ wie ästhetisch entscheidend mit beeinflusst hat.
A BBILDUNGSNACHWEISE Für alle Filmstills aus den Filmen von Hans Hass: © Hans Hass Archiv HIST Abb. 5 a u. b: aus: Wolf, Gotthard: Der wissenschaftliche Film in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn/Bad-Godesberg 1975, S. 38 u. S. 39.
»The Great Passenger Pigeon Comeback«1 Die rekonstruierte Wandertaube als lebendiges Bild
A NNA L ENA S EISER
Vor etwas über 100 Jahren, am 1. September 1914, starb Martha, die letzte Wandertaube, im Zoo von Cincinnati, Ohio. Nach ihrem Tod wurde ihr Körper von der Cincinnati Ice Company in einem 300 Pfund schweren Eisblock eingefroren und an die Smithsonian Institution überführt, wo die Taube präpariert und ausgestellt wurde und bis heute betrachtet werden kann.2 Noch knapp 50 Jahre zuvor waren Wandertauben eine der größten Vogelpopulationen Nordamerikas gewesen. Der Nistplatz eines einzigen WandertaubenSchwarms soll über 40 Quadratmeilen umfasst haben. Wenn die millionenstarken Schwärme über eine Stadt hinwegflogen, war alles von einem ohrenbetäubenden Lärm überschallt, und die Sonne blieb tagelang verdunkelt.3 In zahlreichen Erzählungen und Berichten werden immer wieder diese Bilder beschrieben, um der Nachwelt die Dimension der Fülle und entsprechend auch die der anschließenden Reduktion der Wandertauben vor Augen zu führen. Für die durch Einwanderung stetig anwachsende Bevölkerung Ende des 19. Jahrhunderts waren die Tiere eine schnelle und einfache Beute – es genügte, mit geschlossenen
1
Dies ist der offizielle Titel des Sub-Projekts von Revive & Restore, das sich mit der ›Wiederbelebung‹ der Wandertaube beschäftigt. Vgl. http://reviverestore.org/projects/ the-great-passenger-pigeon-comeback/ [Stand: August 2016].
2
Vgl. Rich, Nathaniel: The Mammoth Cometh, in: The New York Times Magazine (online), 27. Februar 2014, http://www.nytimes.com/2014/03/02/magazine/the-mam moth-cometh.html?_r=1 [Stand: 3. August 2016].
3
Siehe beispielsweise Audubon, John James: Ornithological biography, or, an account of the habits of the birds of the United States of America, Edinburgh 1835, S. 319-327.
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Augen in den Himmel zu schießen, um ein Dutzend Tiere zu treffen.4 Mit zunehmend verbesserten Jagd- und Transporttechniken – insbesondere der Eisenbahn – wurden die Wandertauben als Nahrungs- und Federquelle auch zu einem lukrativen ökonomischen Faktor. Bereits zwischen 1900 und 1902 gab es keine wild lebenden Wandertauben mehr. Nach heutigem Untersuchungsstand ist bekannt, dass Wandertauben bereits im Pleistozän existierten und sich selbst Eiszeiten erfolgreich anpassen konnten.5 In den Vereinigten Staaten ist die Wandertaube daher eine der Tierarten, für deren Verschwinden der Mensch mit seiner Technik-gestützten Expansion offenkundig die Verantwortung trägt. Das Bewusstsein über die rasante und nicht aufzuhaltende Minimierung der als unzählig wahrgenommenen Vögel wird als Schock in der US-amerikanischen Bevölkerung beschrieben.6 Bis 1900 galt die Wandertaube als eine repräsentative Leitart, als »iconic species«7 für den nordamerikanischen Raum. Mit ihrem Aussterben wurde sie hingegen zur Ikone eines als destruktiv gekennzeichneten Verhältnisses von Mensch und Natur und der Erkenntnis über die Endgültigkeit und Endlichkeit eines als unerschöpflich erachteten (natürlichen) Überflusses. Marthas präparierter Körper und die Präparate anderer Wandertauben in naturkundlichen Sammlungen sind nun nicht mehr nur Stellvertreter einer Art, sondern deren Überreste, die es der Nachwelt erlauben, sich trotz ihrer Abwesenheit ein Bild der vergangenen Präsenz zu machen. Gleichermaßen symbolisieren die ›einbalsamierten‹ Körper der Wandertauben aber auch die absolute und bis dato irreversible Abwesenheit ihrer Referenten und nicht zuletzt auch den Grund für ihr Ableben. Doch das soll sich nun ändern.
4 5
Vgl. ebd. Vgl. Chandler, Robert M.: A Second Pleistocene Passenger Pigeon from California, in: The Condor 84, 1982, S. 242, https://sora.unm.edu/sites/default/files/journals/con dor/v08n02/p0242-p0242.pdf [Stand: 28. August 2016].
6
Vgl. Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2). Durch diese Erkenntnis wurde das
7
Vgl. Times Beach Nature Preserve: Iconic Species: Passenger Pigeon, Ectopistes
amerikanische Bison von einem vergleichbaren Schicksal verschont. migratorius, http://www.friendsoftimesbeachnp.org/passenger-pigeon.html [Stand: 5. August 2016].
D IE REKONSTRUIERTE W ANDERTAUBE ALS LEBENDIGES B ILD
B ILD
UND
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T OD
Am Anfang dieses Aufsatzes steht der Tod (Abb. 1): die Erfahrung des Todes, wie es der Verlust der Wandertaube für die nordamerikanische Bevölkerung war, ebenso wie der Tod als unumgängliches Schicksal, das alle Lebewesen vereint. Die Bannung des »Schreckens des Todes« ist Antrieb und »Ursinn« des Bildermachens seit den frühsten Anfängen der Menschheitsgeschichte, wie Hans Belting in seiner Bild-Anthropologie darlegt: »Im Bildermachen wurde man aktiv, um der Todeserfahrung nicht länger passiv ausgeliefert zu bleiben.«8 Aus dieser Perspektive ist die Bildproduktion schon immer der Versuch aktiver Einflussnahme gegenüber der Naturgewalt, dem Tod und der Evolution. Als »Gefäße der Verkörperung«9 ersetzen Bilder den verlorenen Körper mittels eines symbolischen und vor allem unsterblichen Bild-Körpers. Das Bild wird zur Re-Präsentation des Toten, die sich in einer vielschichtigen Spannung zwischen Abwesenheit und Anwesenheit des Dargestellten konstituiert.10 Denn jedes Bild ist zweiseitig: Erst im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung und den virtuellen Vorstellungsbildern (images) seiner Betrachter entfaltet das materielle Bild (picture) seine Wirkung.11
Abb. 1: »Martha«, ca. 1956
8
Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München
9
Ebd., S. 143.
2001, S. 145. 10 Vgl. ebd., S. 145-147. 11 Vgl. ebd., S. 54.
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Die repräsentative Darstellung oszilliert, mit den Worten des italienischen Historikers Carlo Ginzburg, »zwischen vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit, zwischen Tod und zeremonieller Wiedergeburt«12. Das natürliche Bild des Todes ist der Leichnam; ein starres Bild, »das dem lebenden Körper nur noch ähnelt«13. Doch dieses Bild zerfällt mit der Zeit. In den nachträglich produzierten Abbildern hingegen kann der Mensch das Bild des Toten selbst formen und bestimmen. Eine eigene künstlerische Tradition hat sich vor diesem Hintergrund der imitatio naturae – der lebensechten Nachahmung der Natur verschrieben. Das Leben beziehungsweise die Natur so realistisch wie möglich im Bild festzuhalten, kann als ein grundlegendes menschliches Verlangen angesehen werden. Aus der Religion und dem Reigen der klassischen bildenden Künste heraus, hat sich diese »Wunschstruktur«14, wie ich die Bannung des Todes und die Bewahrung des Lebens im Bild nach Hartmut Winkler bezeichnen möchte, mittlerweile in viele andere Bereiche und Medien ausgedehnt. Bereits die frühe Tierpräparation und die Inszenierung der Präparate in Habitat-Dioramen hatte eine möglichst lebensechte und naturgetreue Repräsentation als primäres Ziel.15 Ebenso war in der Fotografie und im frühen Film gerade die Darstellung des Lebendigen eine besondere Herausforderung für die Technik, deren Erfolg sich zumeist in der Reaktion und Wahrnehmung der Betrachter äußerte, vor allem wenn diesen eine eindeutige Zuordnung zwischen dem Objektiven und dem eigentlich künstlich Inszenierten der Darstellung nicht mehr gelingen wollte. In den letzten 50 Jahren hat sich das Streben nach einer perfekten und verbesserten Nachahmung des Lebens neben computergenerierten und -animierten Bildern zunehmend in den Bereich der Naturwissenschaften, insbesondere in die sogenannten Life Sciences übertragen und damit noch an Aktualität gewonnen.
12 Ginzburg, Carlo: Repräsentation. Das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in: ders.: Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, S. 97-119, hier S. 97. 13 Belting: Bild-Anthropologie (wie Anm. 8), S. 145; Belting bezieht sich hier auf den französischen Literaturkritiker, Philosophen und Schriftsteller Maurice Blanchot (1907-2003). 14 Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg 1997, S. 12-17, hier S. 17. Nach Hartmut Winkler bestimmen Wunschstrukturen beziehungsweise »Wunschkonstellation[en]« die Dynamik der Medienentwicklung und lassen sich als »implizite Utopien« beschreiben. 15 Siehe hierzu beispielsweise Lange-Berndt, Petra: Von der Gestaltung untoter Körper, in: Geimer, Peter (Hg.): Untot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, Berlin 2014, S. 83-104.
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»Der Gedanke, die lebende Kopie eines Lebewesens herzustellen, eine ›Nachahmung des Lebens‹, war spätestens seit Aristoteles ein Ziel der Kunst, der Ästhetik und der Bildtechnologie. Doch der Klon ist eine buchstäbliche Umsetzung dieses Ziels, die Verwirklichung eines bislang Imaginären.«16
Mit dem Verfahren des Klonens hat sich das angestrebte Ideal der naturgetreuen Nachahmung des Lebens faktisch und materiell eingelöst und damit einen Paradigmenwechsel angestoßen. Für den amerikanischen Bildtheoretiker William J. T. Mitchell (geb. 1942) löst der Klon die Grenze zwischen metaphorischer und konkreter Gleichsetzung auf, da die Art der Herstellung eines natürlichen Wesens der von digitalen Bildern und ihren medialen Bedingungen entspricht. Beide werden nicht mehr von der Oberfläche, sondern vom Inneren ausgehend, von ihrem eigenen Aufbauplan her reproduziert.17 Seitdem ist der Klon zum »Hyperikon« schlechthin, zu einem »Bild der Bildproduktion, eine[r] Figur für das Kopieren, Duplizieren, Imitieren und alle anderen Formen der Produktion von Abbildern« geworden.18 Parallel dazu äußert sich in der nahezu unkontrollierbaren Reproduzierbarkeit von Bildern im Digitalen für Mitchell eine virenhafte Form scheinbarer Lebendigkeit, für die er den Begriff des »Biobildes« oder »biodigitalen« Bildes prägte.19 Was geschieht nun aber, wenn nicht ›nur‹ lebendige Wesen beziehungsweise DNA kopiert, sondern auch vergangene Präsenzen wie die ausgestorbene Wandertaube zum Objekt lebendiger Nachahmung werden? Wenn das »NachBild« eines Körpers (die ihn repräsentierenden Bilder und Spuren) also nicht mehr einen Endpunkt darstellt, sondern zum Ausgangspunkt und »Vor-Bild«20 einer lebendigen Rekonstruktion des Vergangenen und der Kreation eines neuen Körpers wird? Im Folgenden möchte ich dem Verhältnis von Tod, Bild und ›lebensechter‹ Naturnachahmung am Beispiel eines aktuellen Forschungsbereichs der ›Synthetischen Biologie‹ nachgehen, der sich der Wiederbelebung, oder auch Wiederherstellung ausgestorbener Tiere durch spezifische gentechnische Verfah-
16 Mitchell, William J. T.: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, Frankfurt a. M. 2011, S. 48. 17 Vgl. ebd., S. 38-39. 18 Ebd., S. 63. 19 Ebd., S. 110. 20 Macho, Thomas: Vorbilder, München 2011, S. 13-14. Macho unterscheidet »Nachbilder«, die auf Vergangenes verweisen, dieses repräsentieren und/oder der Erinnerung dienen, und »Vorbilder«, d. h. Entwürfe, Modelle, Ideale und Prognosen, die Zukünftiges sichtbar machen sollen.
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ren widmet. Dabei greife ich mir die US-amerikanische Organisation Revive & Restore heraus, die sich unter dem Stichwort De-Extinction zum Ziel gesetzt hat, die 1914 durch den Menschen ausgerottete Wandertaube zu re-animieren und erneut ins Ökosystem einzugliedern.
R EVIVE & R ESTORE Revive & Restore wurde 2012 durch den Biologen, Entrepreneur und ehemaligen Herausgeber des Whole Earth Catalogs (1968-1984) Stewart Brand initiiert. Neben der aktiven Forschung an »genetic rescue of endangered and extinct species« versteht sich Revive & Restore als Drehkreuz zur Vernetzung und Förderung diverser Projekte, die an der Schnittstelle von Artenschutz und Molekularbiologie angesiedelt sind.21 Die Organisation ist eingebettet in die 1996 ebenfalls von Brand mitbegründete gemeinnützige Long Now Foundation. Auf der Basis von DNA-Überresten, die über 40 Wandertauben-Präparaten verschiedener naturkundlicher Museen entnommen wurden, plant Revive & Restore, die spezifische DNA der Wandertauben-Spezies zu rekonstruieren. Dazu soll in einem ersten Schritt ein Vergleich mit der intakten DNA der nahe verwandten Schuppenhalstaube die Erfassung der Spezifika des WandertaubenGenoms ermöglichen. Für diesen Vergleich werden die DNA-Proben beider Vögel sequenziert, d. h. am Computer lesbar gemacht. Daran anschließend plant der Genetic Engineering-Pionier und Harvard-Professor George Church (geb. 1954), der mit der DNA-Rekonstruktion der Wandertaube befasst ist, die vorhandene DNA der Schuppenhalstaube mittels eines als Reverse Engineering bekannten Verfahrens derart umzubauen, dass sie dem möglichen originalen Bauplan der Wandertauben, einem DNA-Urbild, entspricht. Indem die so gewonnene DNA in Geschlechtszellen von Schuppenhalstauben implantiert wird (germ line interspecies cloning), soll die vor 100 Jahren ausgestorbene Spezies erneut zum Leben erweckt werden (to revive). An die Klonierung schließen weitere Kreuzungsverfahren an, mit denen eine sich selbst reproduzierende Tauben-Gruppe gewonnen und in ihrem ehemaligen Ökosystem (beziehungsweise einem diesem ähnlichen Ökosystem) ausgewildert werden soll (to restore).22
21 Siehe Revive & Restore: What we do, http://reviverestore.org/what-we-do/ [Stand: 5. Januar 2017]. 22 Aktuell ist davon auszugehen, dass eine erste Generation neuer Tauben im Jahr 2022 schlüpfen wird, die erste Auswilderung ist für 2032 prognostiziert. Siehe The Great
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Dieses durchaus kontrovers diskutierte Vorhaben soll hier nicht ethisch bewertet, sondern aus bildtheoretischer, wissenschaftsgeschichtlicher und medienphilosophischer Sicht befragt und untersucht werden. So stellt sich primär die Frage, welchen Status die Taube und andere Tierarten, die man ebenfalls versucht, nach ähnlichen Verfahren wieder zum Leben zu erwecken,23 hätten beziehungsweise wie sie grundsätzlich eingeordnet werden könnten. Der Annahme folgend, dass die neuen ›Wandertauben‹ eine Vielzahl von Charakteristiken in sich vereinen, die, in der Theorie, Bildern zugesprochen werden, möchte ich sie als ›lebendige Bilder‹ untersuchen. Als solche entsprechen die rekonstruierten Tauben einer Konkretisierung der Metapher eines ›Lebens der Bilder‹, die sich aus dem ursprünglichen Bezug des Bildermachens mit dem Totenkult speist. In einer Art Gedankenexperiment werde ich die einzelnen Verfahrensschritte zur Wiederbelebung der Wandertaube im Abgleich mit vorangegangenen Bildtechnologien betrachten. Zum einen verdeutlicht diese Lesart die Idee einer Bildhaftigkeit der neuen ›Wandertauben‹, zum anderen die zunehmende Durchdringung von Kybernetik, Bildtechnologie und Biologie, wie sie sich schon in den Thesen W. J. T. Mitchells zum Klon und zum biodigitalen Bild äußert.24 Im besonderen Fall der De-Extinction stellen sich die Fragen, inwieweit das Unterfangen der ›Wiederbelebung‹ der Wandertauben eine neue Ausformung alter Wunschstrukturen ist und wo die Besonderheiten dieser Art der Vergegenwärtigung des Vergangenen liegen? Welche Vorstellung von Leben begegnet uns hier, wenn aus der metaphorisch-imaginären Wiederbelebung plötzlich ein konkretes Leben wird? Und nicht zuletzt: Welches Verhältnis von Bildgenese und Naturwissenschaft entsteht in dieser Verbindung allerneuester Technologien mit virtuellen Vorstellungsbildern? Die Betrachtung des vielteiligen Prozesses einer möglichen ›Wiederbelebung‹ basiert zum einen auf den Informationen der Revive & Restore-Website, zum anderen auf der 2012 von George Church und dem Wissenschaftsjournalist Ed Regis veröffentlichten Publikation mit dem vielsagenden Titel Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves.25
Passenger Pigeon Comeback: De-Extinction Roadmap, http://reviverestore.org/passenger-pigeon-de-extinction-roadmap/ [Stand: 28. August 2016]. 23 Zu den prominentesten Beispielen gehören u. a. das Wollhaarmammut, der iberische Pyrenäensteinbock, der tasmanische Tiger und der Auerochse. 24 Vgl. Mitchell: Das Klonen und der Terror (wie Anm. 16), S. 147-148. 25 Church, George/Regis, Ed: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2012.
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V OM N ACHBILD
ZUM
V ORBILD
»Die Vergangenheit ist unwiederholbar, zugleich bleiben aber Bilder und Spuren von ihr zurück. Neben solchen Formen des Nachlebens können Darstellungen des Vergangenen aber auch nachträgliche Rekonstruktionen sein, d. h. Formen der Sichtbarmachung, die selbst nicht alt sind, sondern, aus der jeweiligen Sicht einer Gegenwart heraus, Vergangenes nachstellen, simulieren oder anschaulich machen. Beide Formen der Vergegenwärtigung – Nachleben und Rekonstruktion – ermöglichen es einer Kultur, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit in Beziehung zu setzen. Zugleich bleibt diese Aneignung der Vergangenheit aber zwangsläufig unvollständig und von den Möglichkeiten und Motiven der jeweiligen Gegenwart bestimmt.«26
Auch wenn der Projekttitel Revive & Restore nunmehr verspricht, dass dank der neuen Technologien ein Zugang und eine absolute Wiederherstellbarkeit des Vergangenen möglich ist, wird die rekonstruierte ›Wandertaube‹, ähnlich wie im Zitat von Peter Geimer und Michael Hagner beschrieben, ebenso wenig ein Bild der Vergangenheit verlustfrei in die Gegenwart übersetzen können. Bereits die für ihre ›Wiederherstellung‹ genutzten Quellen und Referenzen zeigen im Grunde die Nicht-Identität beziehungsweise Bildhaftigkeit der neuen ›Wandertauben‹ an: Nach aktuellem Stand konnten rund 960 Millionen der insgesamt 1,2 Milliarden Basenpaare der Wandertauben-DNA identifiziert werden, doch ist und bleibt der Genotyp dieser Spezies unwiederbringlich verloren.27 Schon geringe Abweichungen bedeuten im Bereich der Molekulargenetik unvorhersehbar veränderte Ergebnisse.28 Die Unüberbrückbarkeit der genetischen Lücke macht ein nachträgliches, spekulatives Einwirken des Menschen unabdingbar. Auch jene Quellen, über die versucht wird, Wissen zum exakten Erscheinungsbild und vor allem Verhalten der Wandertauben zu generieren, sind bereits überformte (Bild-)Objekte: Die als materieller wie visueller Ausgangspunkt dienenden Tierpräparate erfüllen ebenso wenig wie die historischen Beschreibungen und Illustrationen der Vögel das Kriterium wissenschaftlicher Objektivität: »Our understanding of the passenger pigeon’s behavior derives entirely from historical accounts. While many of these, including John James Audubon’s chapter on the pigeon in ›Ornithological Biography,‹ are vividly written,
26 Geimer, Peter/Hagner, Michael (Hg.): Nachleben und Rekonstruktion. Vergangenheit im Bild, München 2012, Klappentext. 27 Siehe The Great Passenger Pigeon Comeback: De-Extinction Roadmap (wie Anm. 22. 28 Zum Vergleich: die geschätzten DNA-Differenzen zwischen Schuppenhals- und Wandertaube betragen nur ca. 3 Prozent.
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few are scientific in nature.«29 Die Rekonstruktion der Wandertaube entspricht in dieser Hinsicht der Herstellung eines Bildes aus Bildern. Die eigentlichen Referenzen der Vergangenheit sind allesamt nur noch bruchstückhafte und bereits durch den Menschen geformte Nachbilder. Die reellen Wandertauben und insbesondere der ihnen zugrunde liegende, vollständige DNA-Code bleiben vergangen und nehmen den Status von Ideal- oder Urbildern an, die unerreichbar sind. In einer Verkehrung der bisherigen Anfertigung von Totenbildern wird nun nicht mehr nur der tote Körper in einem Bild festgehalten; überlieferte Bilder und Reste der toten Lebensform dienen vielmehr als neuer Maßstab für die Produktion eines lebenden (Ersatz-)Körpers, der darüber hinaus an seiner Bildqualität bemessen wird. Auch auf virtueller Ebene basiert das Projekt auf einer Verkehrung von Nachbild und Vorbild: Die Wandertaube ist das erste Tier, das über die neuen Methoden »wiederhergestellt« werden soll und fungiert als sogenanntes »Flagship« von Revive & Restore.30 Dabei sind Tauben eine besondere Herausforderung für die geplanten Verfahren, da die Kultivierung ihrer Zellen in vitro, d. h. außerhalb des Körpers, bislang noch nie gelungen ist. Zu Beginn meiner Recherchen wurde kein spezifischer Grund für die Wahl der Wandertaube angegeben, umso mehr verstärkte sich der Eindruck, dass ihre – insbesondere für USAmerikaner – emotionale und symbolträchtige Geschichte, sozusagen die den Wandertauben inhärente ikonische Qualität, als Argument für sich zu gelten scheint. Tatsächlich ist der Projektinitiator Stewart Brand (geb. 1938) berühmt dafür, nicht nur modellhafte Projekte zu fördern, sondern auch Ikonen zu kreieren. Studierter Biologe und Umweltaktivist der ersten Stunde, ist sein Hauptanliegen, ein zukünftiges Umdenken und Handeln in der Gesellschaft zu generieren.31 Bekanntheit gewann er nicht zuletzt 1966, als er noch zu Studienzeiten mit verschiedenen Aktionen in Stanford und Harvard und am MIT versuchte, die NASA dazu zu bewegen, ein Bild der Erde aus dem Weltraum zu veröffentli-
29 Ed Green, Bio-Engineer im paläogenetischen Labor der mit Revive & Restore kooperierenden University of California, Santa Cruz, zit. nach: Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2). 30 The Great Passenger Pigeon Comeback, http://reviverestore.org/projects/the-greatpassenger-pigeon-comeback/ [Stand: 3. März 2016]. 31 Davon zeugen auch die anderen Projekte der Long Now Foundation, die insbesondere einer neuen Betrachtung der Zeit (»long now«) und damit auch des menschlichen Handlungsspielraums (»large here«) gewidmet sind. Eine Übersicht der Projekte findet sich unter http://longnow.org/projects/ [Stand: Januar 2017].
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chen.32 Noch heute ist die wenig später erschienene Fotografie der Blue Marble weltbekannt. Und sie beeinflusste nachhaltig die Begründung einer breitflächigen Ökologie-Bewegung. »Such icons«, so Brand, »reframe the way people think.«33 Die ›wiederbelebten‹ Wandertauben wären eine nicht minder einflussreiche Ikone. Jedoch weniger in ihrer Funktion als Nachbild, als ein lebendiges Denkmal für den destruktiven Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt, denn als ein Zeichen und Vorbild für die schier unbegrenzten Möglichkeiten, die den Menschen mit den neuen Technologien zur Verfügung stehen, um begangene Fehler umfänglich zu korrigieren und damit Leben und Tod nach eigener Regie entwerfen und steuern zu können. Dies scheint nicht zuletzt auch insofern relevant, als die synthetische Biologie ebenso viele enthusiastische, wie skeptische und ablehnende Positionen hervorbringt.
D IE M ODULIERUNG
DER
O BERFLÄCHE
Mit der von Revive & Restore geplanten Rekonstruktion der Wandertaube sollen lebendige »Verkörperungen eines Toten«34 geschaffen und in das Ökosystem eingegliedert werden. Mit diesem Substitutionsauftrag entsprechen die ›neuen Tiere‹ exakt dem von Hans Belting beschriebenen »Ursinn«35 des Bildermachens. Gerade im dezidierten Wieder-Anwesend-Machen eines absolut Abwesenden zeigt sich die Bildhaftigkeit und damit der Unterschied zu anderen genetisch modifizierten Organismen oder Hybriden. Diese können ebenfalls als lebendige Produkte menschlicher Kreation, als ›lebendige Artefakte‹ kategorisiert werden. Während ein solcher Eingriff in die Natur jedoch mit Forschungsvorhaben von besonderer medizinischer und gesellschaftlicher Bedeutung begründet werden muss, kann dem Great Passenger Pigeon Comeback-Projekt keine derartig konkrete Bedeutung zugesprochen werden. Zwar wird für die (Re-)Kreation der Wandertaube der Erhalt der Biodiversität angeführt, doch gibt es keine ausreichende Begründung dafür, warum im Speziellen die Wandertaube von höherer ökologischer Relevanz ist als andere Tiere, die unter Umständen sogar einfa-
32 Brands damaliger Claim lautete: »Why haven't we seen a photograph of the whole Earth yet?«, Brand, Stewart: »Whole earth« origin …, http://sb.longnow.org/SB_ home-page/WholeEarth_buton.html [Stand: 28. August 2016]. 33 Vgl. Brand, Stewart: The Clock and Library Projects, http://longnow.org/about/ [Stand: 5. August 2016]. 34 Belting: Bild-Anthropologie (wie Anm. 8), S. 143. 35 Ebd., S. 145.
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cher ›wiederzubeleben‹ wären. Als ikonisches Tier jedoch kommt der Wandertaube in der Tat eine Sonderstellung zu, und die Ausrichtung an dieser ganz bestimmten, vergangenen Erscheinung scheint ein primäres Motiv des Projekts zu sein: »The goal is that the hybrid genome produces a bird that not only carries the genetic legacy of an extinct species, but looks and behaves like extinct passenger pigeons.«36 Die zentrale Rolle der Erscheinung der Vögel, wie sie sich beispielsweise in der Selbstdarstellung des Projekts äußert, kann als ein weiteres Bildcharakteristikum der neuen Tauben gelesen werden, durch das sie sich deutlich von ›normalen‹ gentechnisch veränderten Organismen abheben. Die DNA dient der Hervorbringung eines den Wandertauben möglichst ähnlichen Phänotyps. Nicht zuletzt gewinnt die gewünschte oberflächliche Ähnlichkeit der neuen Tauben gerade aufgrund der Unbestimmtheit der DNA an Relevanz: Während sie in ihrer Ästhetik als Abbild und Repräsentant der ausgerotteten Art überzeugen muss, gibt ihr Äußeres für die Projektleiter zugleich ein wertvolles Feedback über das Gelingen oder das Misslingen der Nachahmung des ›Programms Wandertaube‹. Doch die Bilder verbergen, was sie eigentlich darstellen sollen.37 Die Wiederherstellung im Bild eröffnet keinen Zugang zur vergangenen Zeit, sondern besiegelt die eigentliche Unwiederbringlichkeit ihres Referenten, indem sie den Platz der vergangenen Präsenz annimmt.
R EVERSE E NGINEERING Da eine vollständige synthetische Erzeugung der vergleichsweise komplexen Tauben-DNA zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht realisierbar ist, soll die ›Wiederherstellung‹ der Wandertaube auf der Basis eines Umbaus beziehungsweise ›Rückbaus‹ vorhandener Genome erfolgen: Die lückenlos vorliegende DNA der Schuppenhalstaube wird als Grundgerüst genutzt, das, verkürzt gesagt, so lange konvertiert wird, bis es dem Computer-Entwurf der Wandertauben-DNA entspricht. Dieses als Reverse Engineering bekannte Verfahren wird aus dem tech-
36 The Great Passenger Pigeon Comeback: De-Extinction in Detail. The Goal, http://reviverestore.org/passenger-pigeon-de-extinction-projectphases/#1442614730469-449f1 df3-634b [Stand: 3. August 2016]. 37 Vgl. Belting, Hans: Echte Bilder und falsche Körper – Irrtümer über die Zukunft des Menschen, in: Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): ICONIC TURN. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 350-364, hier S. 355.
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nisch-maschinellen Bereich auf das Organische übertragen.38 Nachdem dieser Umbau in silico erfolgt ist, besteht der nächste und nicht weniger herausfordernde Teilschritt in der Überführung des digitalen Entwurfs in vivo, in lebendige Materie. Die dazu benötigten genetischen Umschreibungen der Schuppenhalstauben-DNA bewegen sich etwa im fünfstelligen Bereich, was eine manuelle, d. h. sukzessive Manipulation aus Zeit- und Kostengründen ausschließt. George Church und sein Team haben zu diesem Zweck zwei Technologien entwickelt, die die zentralen Schritte des Genome Editings simultan und automatisiert ausführen sollen: Mit dem Multiplex Automated Genome Engineering (MAGE)39 wird die Schuppenhalstauben-DNA in mehrere gleich große Stränge aufgetrennt und entsprechend dem Vorbild des Wandertauben-DNA-Templates aus dem Computer molekular verändert. Dabei werden über das in MAGE integrierte CRSIPR/Cas 9-System Teile der Schuppenhalstauben-DNA entfernt und durch synthetisch hergestellte ›neue DNA‹ ersetzt.40 Die zweite Technologie wiederum, Conjugative Assembly Genome Engineering (CAGE), dient der Rekombination und Zusammenfügung der veränderten Einzelteile:41 »After MAGE works its magic, scientists will have in their petri dishes living passenger-pigeon cells, or at least what they will call passenger-pigeon cells.«42 Der vierte und letzte Übersetzungsschritt der In silico-DNA zum lebendigen Wesen besteht im germ line interspecies cloning. Mit diesem mittlerweile standardisierten Klonierungsverfahren der Molekulargenetik wird die neue, vermeintliche Wandertauben-DNA in Geschlechtszellen von männlichen und weiblichen Schuppenhalstauben eingebracht. Die so entstehenden Chimären hätten
38 Reverse Engineering bezeichnet klassischerweise die Rekonstruktion eines Bauplans durch die analytische Zerlegung eines bereits finalen Produkts mit dem Ziel, dessen Konstruktion und Mechanismus nachzuvollziehen. Vgl. Wikipedia-Artikel zu Reverse Engineering, http://de.wikipedia.org/wiki/Reverse_Engineering [Stand: 10. September 2014]. 39 »In the context of molecular genetics, multiplexing refers to the process of inserting serveral small pieces of synthetic DNA into a genome at multiple sites, simultaneously.« Vgl. Church/Regis: Regenesis (wie Anm. 25), S. 76. 40 Vgl. ebd., S. 142-143. Für diesen Zweck gibt es mittlerweile synthetische Nukleotide, die als Grundstruktur für neue DNA nutzbar und heute zu einem moderaten Preis zu haben sind, wie George Church innerhalb seiner Ausführungen zur Machbarkeit stets betont. Vgl. ebd., S. 34. 41 Vgl. ebd., S. 78-82. 42 Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2).
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Abb. 2: »Gradiations of success«, The Great Passenger Pigeon Comeback: DeExtinction defined das Aussehen einer Schuppenhalstaube und – im Idealfall – Geschlechtszellen mit der neu-gewonnen ›Wandertauben‹-DNA.43 Durch die Kreuzung verschiedener dieser chimären Tauben kann dann eine ›reine‹ Taube entstehen, deren Genotyp und Phänotyp vollständig auf der neu kreierten DNA basiert. Erst wenn eines Tages eine reproduzierte ›Wandertaube‹, ein 1:1-Abbild geschlüpft sein wird, kann letztendlich überprüft werden, ob der Ausgangspunkt, nämlich das Computer-Modell der DNA, tatsächlich funktional ist beziehungsweise inwieweit dieses weiter angepasst und verbessert werden muss.44 Auf der Website des Projekts werden die voraussichtlich notwendigen Weiterbearbeitungen der DNA unter dem Titel »Gradiations of success« antizipiert (Abb. 2).
(R E -)C REATING POSSIBLE S CHNEIDEN UND K LEBEN
WORLDS :
Die automatisierten Verfahren MAGE und CAGE führen den zentralen Teil der Übersetzung des digitalen DNA-Entwurfs in Materie aus, ein Prozess des Aufspaltens, Modifizierens und Wieder-Zusammenfügens. Es handelt sich, simpel ausgedrückt, um Technologien des Schneidens und Klebens lebendiger Materie: zum einen in Bezug auf das Genom als Ganzes, das in einzelne DNA-Stränge unterteilt und wieder neu zusammengefügt wird, zum anderen bezüglich der konkreten Modifikationen dieser Stränge durch gezielte Kombinationen natürlicher und synthetischer DNA. Auch das dazu genutzte CRISPR/Cas 9-Verfahren basiert auf einer vergleichbaren Technik: »It’s like very precise scissors that al-
43 Vgl. Church/Regis: Regenesis (wie Anm. 25), S. 78-82. 44 Vgl. Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2).
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low you to cut and splice with unprecedented accuracy and ease of use.«45 Der Umgang und die Bearbeitung der DNA in silico, aber eben auch in den automatisierten Maschinen (MAGE/CAGE) erinnert dadurch stark an das filmische Verfahren der Montage. Schneiden und Kleben bilden hier ebenso die grundlegende Geste wie beim (analogen) Film, der sich für Vilém Flusser gerade durch die Differenzierung zu der von der Kamera eingefangenen »objektiven Wirklichkeit«46 definiert. Flusser streitet dabei nicht ab, dass Perspektive, Standpunkt und Bildausschnitt relevant sind, sondern erklärt die Nachrangigkeit der Filmaufnahmen gegenüber der Montage durch den Übergang der aus der Geste des Fotografierens abgeleiteten Aufnahmemodalitäten in den Dienst des Films.47 Für das Reverse Engineering der Wandertaube ist das Rohmaterial ebenso wenig irrelevant, doch besteht auch hier die eigentliche Besonderheit in der richtigen Kombination einzelner Stränge der Schuppenhalstauben-DNA mit synthetisch nachgebauter DNA. Vielleicht ließe sich nunmehr sagen, dass auch die Geste des Schneidens und Klebens in einen anderen Dienst, nämlich den des Genome Engineerings übergegangen ist. Der Bio-Engineer arbeitet wie der Filmemacher, synchronisch betrachtet, an einem Sachverhalt, der sich, diachronisch betrachtet, als Prozess zeigt.48 Im Falle eines Genoms entspricht dieser Prozess der Evolution und der Epigenese eines Lebewesens, welche der Manipulation durch den Genome Editor unterliegen.49 Flusser beschreibt den Filmemacher als gottgleich, und sogar, hinsichtlich seiner Möglichkeiten der Manipulation von Zeitlichkeit, als ›übergöttlich‹ in Bezug auf die Kreation von Geschichte: »[...] er kann, was Gott nicht kann, den Ablauf des Prozesses selbst in Zeitrichtungen außerhalb der strahlenförmigen Linearität umlenken.«50 Dem steht der Bio-Engineer in nichts nach. Er kann »das in der Vergangenheit Zusammengezählte neu zählen und dabei natürlich möglicherweise neu ordnen«51, wie beispielsweise durch einen Ein-
45 Interview mit George Church in Gabriela Quirós Video-Dokumentation Reawakening extinct species, in: QUEST Northern California, 22. April 2014, http://science. kqed.org/quest/video/reawakening-extinct-species/ [Stand: Mai 2014]. 46 Souriau, Etienne: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie, in: montage AV – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Stars (1) [6/2/1997], S. 140-157, hier S. 157. 47 Vgl. Flusser, Vilém: Die Geste des Filmens, in: ders. (1994): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1994, S. 119-124, hier S. 121-122. 48 Vgl. ebd., S. 122. 49 Auch die Bezeichnung Genome Editing zeigt diese Parallele gut auf. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 123.
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griff in den Genpool von Tieren, um diesen gezielt für Forschungszwecke zu verändern. »Aber er kann auch noch nicht dagewesene Phänomene auf noch nicht dagewesene Art kombinieren und dann ablaufen lassen. Das heißt nicht nur Gewesenes oder möglich Gewesenes erzählen, sondern möglich Gewesenes jetzt ablaufen lassen: die Zukunft vorwegnehmen, nicht als Utopie oder ScienceFiction, sondern als gegenwärtiges Geschehen.«52 Diese Beschreibung Flussers könnte geradezu auf das Long Now Foundation-Projekt des ›Wieder-AuflebenLassens‹ der Wandertaube gerichtet gewesen sein.
D IE D IGITALISIERUNG
DES
O RGANISCHEN »There is in science, and perhaps even more so in history, some sanction for the belief that a living thing might be taken in hand and so molded and modified that at best it would retain scarcely anything of its inherent form and disposition; that the thread of life might be preserved unimpaired while shape and mental superstructure were so extinsively recast as even to justify our regarding the result as a new variety of being.«53 H. G. WELLS
Die scheinbar beliebige Bearbeitung der einzelnen Nukleotide mittels der Technologien des Genetic Engineerings entspricht inzwischen den punktgenauen Modulierungs- und Programmierungsmethoden digitaler oder digitalisierter Bilder.54 Die Digitalisierung der DNA von Wander- und Schuppenhalstaube ist die erste und notwendige Bedingung für das gesamte ›Revival‹-Projekt. Erst mit der Sequenzierung der DNA im Computer wird die gezielte Umprogrammierung und Ausrichtung der Bildelemente, d. h. der einzelnen DNA-Stränge der Schuppenhalstaube, ermöglicht. In silico kann das DNA-Abbild so lange geformt und gestaltet werden, bis es der gewünschten Erscheinung, in diesem Fall der eines
52 Ebd., S. 122-123. 53 Wells, H. G.: The Limits of individual plasiticity, in: Philmus, Robert M./Hughes, David Y. (Hg.): H.G. Wells: early writings in science and science fiction, Berkely/Los Angeles/London 1975, S. 36-39, hier S. 36. 54 Nukleotide sind die kleinsten Bauteile von DNA und RNA.
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möglichen Wandertauben-Bauplans, gleicht. Nicht nur das daraus resultierende DNA-Modell wird dabei zum Vorbild für die materielle Umsetzung derselben, sondern auch die dem Modell zugrunde liegende Produktionslogik der digitalen Computertechnologie. Die Analogie und Durchdringung von Organischem und Kybernetischem hat sich über das letzte Jahrhundert ihren Weg ins Konkrete gebahnt: Während schon der österreichische Systemtheoretiker und Biologe Ludwig von Bertalanffy das Lebendige als reine Frage der Organisation von Materie betrachtete,55 trugen Norbert Wiener und Arturo Rosenblueth mit der von ihnen begründeten Kybernetik Ende der 1940er Jahre maßgeblich dazu bei, dass computergesteuerte Maschinen und lebendige Organismen hinsichtlich ihrer Berechenbarkeit und Regelungsmechanismen analog gesetzt wurden.56 Die bereits hiermit eingeläutete veränderte Betrachtung des Lebendigen zog wenig später einen veränderten Umgang mit dem Organischen nach sich: Während in der Molekulargenetik die Modifikation von DNA unzählige ›lebendige Artefakte‹ in Form von hybriden und transgenen Organismen hervorgebracht hat, werden in der Artificial Life-Forschung organische Prozesse in informationstheoretischen Systemen nahezu perfekt simuliert und von den Forschern als lebendige Systeme erachtet.57 Da die Artificial Life-Forschung irdisches Leben »nur mehr als eine unter vielen Erscheinungsformen des Lebens betrachtet und nach übergeordneten Organisationsgesetzten des Lebens sucht«, bezeichnet die Wissenschaftshistorikerin Ingeborg Reichle sie bereits als eine »Biologie des Möglichen«.58 Im noch jungen Forschungsfeld der Synthetischen Biologie, das für die Wiederherstellung der Wandertaube beispielhaft zur Anwendung kommt, erhält diese Bezeichnung eine neue Dimension, da die beiden Pole der »Technisierung des Lebendigen« und der »Verlebendigung von Technik« hier letztendlich fusionieren.59 Die Tatsache, dass DNA nunmehr geschrieben, editiert und kopiert und die Vorlage eines In silico-Modells aus dem Computer heraus in Materie übersetzt
55 Vgl. von Bertalanffy, Ludwig: Das biologische Weltbild. Die Stellung des Lebens in Natur und Wissenschaft, Bd. 1, Bern 1949. 56 Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine ist der deutsche Titel von Wieners und Rosenblueths Gründungsschrift aus dem Jahr 1948. Wiener selbst bezeichnete die Kybernetik als »a new way of looking at life«. Wiener, Norbert, zit. nach: Bennahum, David S.: Machines to Govern, http://www.th-e-n-e-t.com/html/_film/pers/_pers_wiener.htm [Stand: 28. August 2016]. 57 Vgl. Reichle, Ingeborg: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience, Wien/New York 2005, S. 3. 58 Ebd., S. 133. 59 Ebd., S. 3.
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und in das Real Life übertragen werden kann, bringt eine bis dato bestehende Grenze zu Fall. Vergleichbar der Durchdringung des analogen (Film-)Bildes und der analogen Referenz, wird nun das Organische vom digitalen Code »unterwandert, intermedial erweitert, unsicher und fragwürdig gemacht und neu analysiert, indem [es] in diskrete Einheiten umgewandelt wurde«60.
Z URÜCK
IN DIE
Z UKUNFT
Die Synthetische Biologie und das Bio Engineering scheinen eine lange und oft herbeigesehnte undo-Funktion in der Realwelt zu etablieren, mit der nicht nur die Naturgewalt, sondern auch die vom Menschen begangenen Fehler, die ›Kulturgewalt‹ des Todes nachträglich reguliert werden kann. Die neuen Tauben werden, sollte es soweit sein, tatsächlich ein aus dem Rahmen gelöstes Bild sein, dessen Lebendigkeit zum ersten Mal keine Metapher und keine Simulation mehr ist. Damit konkretisiert sich etwas bislang Imaginäres – die uneingelöste Wunschstruktur, den Tod und die Zeit im ›Rahmen‹ des Bildes zähmen und das Leben und die Realität nach den eigenen Vorstellungen modulieren und kontrollieren zu können. Die rekonstruierten ›Wandertauben‹ werden eine neue, hybride Lebensform und eine dementsprechend neue Bildform sein. Anstelle einer »Körperflucht«61 in Bildern kehren die Bilder und die sie hervorbringenden Technologien nun in den Körper zurück. Die neuen Tauben werden höchstwahrscheinlich aussehen und sich ähnlich verhalten, wie die zum Urbild mutierte, ausgestorbene Wandertaube, und sollen als lebende Nachbilder den Platz der vergangenen Präsenz (ihre ökologische Nische) stellvertretend einnehmen. Im Sinne Gilles Deleuzes sind sie »objektive Illusionen«62: In ihnen verschränken sich auf ununterscheidbare Weise bewahrte Reste der Vergangenheit, die synthetisch nachgebaut werden und im Verbund mit gegenwärtiger Materie (der Schuppenhalstaube) einen neuen, zukünftigen Körper bilden. Diese besondere, materialisierte Form einer Gleichzeitigkeit von Aktualität und Virtualität wird auch durch die Rhetorik von Revive & Restore weiter bestärkt, indem stets die Begriffe ›Revive‹/›Revival‹ (Wiederbelebung), ›Comeback‹ (Rückkehr) und sogar ›Resurrection‹ (Wiederauferstehung) bemüht
60 Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2009, S. 208. 61 Belting: Bild-Anthropologie (wie Anm. 8), S. 144. 62 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 96.
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und damit ikonische Mythen kreiert werden.63 Und doch entscheidet sich die Frage einer gelungenen Re-Präsentation erst mit dem Moment der Wahrnehmung der Tiere, wenn sich in Korrelation mit den inneren Bildern des Betrachters das »Ritual der Nachbildung«64 vervollständigt: »Denn Bilder sind immer nur das, was wir mit ihnen machen oder an ihnen wahrnehmen.«65 Indizieren die Wandertauben aktuell noch den Tod und dessen menschliche Ursache, würden sie, einmal wiederbelebt, exemplarisch als Ikone für eine neue Form des (Über-)Lebens stehen. Sie wären ein Demonstrationsobjekt der potenziellen Möglichkeiten, die dem Menschen durch die neuen Biotechnologien zur Veränderung seiner Umwelt zur Verfügung stehen. Im Rückgriff auf Marshall McLuhan bemerkt der Long Now Foundation-Mitbegründer Danny Hillis (geb. 1956): »[E]ach new technology, when first introduced, recreates the familiar technology it will supersede. […] Using the tool to recreate old things is a much more comfortable way to get engaged with the power of the tool.«66 Die Synthetische Biologie steht noch am Anfang und hat das Potenzial, ganz wie die digitale Bildtechnologie, innerlich (auf Basis des DNA-Codes) wie auch äußerlich (in der Erscheinung), völlig neuartige Wesen zu produzieren, die dann möglicherweise auch für einen bestimmten Zweck oder spezifische Aufgaben ›programmiert‹ werden können.67 Die Anwendung der Synthetischen Biologie im Bereich der De-Extinction ist, in Hillis’ Worten »the most conservative, earliest application of this technology«68. Es ist die perfekte Fusion aus Naturwissenschaft und Bildtechnologie. Die analytisch und experimentell gewonnenen Erkenntnisse der Lebenswissenschaften werden zukünftig vermehrt in die synthetische Genese neuer Lebensformen übertragen werden. Das Bio-Logische ist nicht mehr nur übersetzbar in die Logik des Computers, sondern nunmehr vollkommen durch-
63 Siehe beispielsweise The Great Passenger Pigeon Comeback, http://reviverestore.org/ projects/the-great-passenger-pigeon-comeback/ und Brand, Steward: 2015 Year End Report, http://reviverestore.org/2015-year-end-report/ oder Revival Criteria, http:// reviverestore.org/candidates/revival-criteria/ [alle Stand: Januar 2017]. 64 Macho: Vorbilder (wie Anm. 20), S. 59. 65 Belting: Echte Bilder und falsche Körper (wie Anm. 37), S. 355. 66 Hillis, Danny, zit. nach: Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2). 67 Wie Church einleitend in seinem Buch erwähnt, sind biologische Organismen der
Universalmaschine Computer auch insofern gleich, als dass sie mit den richtigen Änderungen ihrer genetischen Programmierung dazu gebracht werden könnten, »practically any imaginable artifact« zu produzieren. Church/Regis: Regenesis (wie Anm. 25), S. 4. 68 Hillis, Danny, zit. nach: Rich: The Mammoth Cometh (wie Anm. 2).
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drungen von der Logik des Digitalen. In einer »nie dagewesenen Geste« würde »möglich Gewesenes« vor unseren Augen nicht nur (ab)laufen, sondern auch vorüberfliegen.69 Diese Bewegung ist am Beispiel der Wandertaube und der ›Wanderung‹ und Wandlung ihrer DNA gut nachvollziehbar. Am Ende dieses Aufsatzes steht das Leben. Doch ist es nicht das vergangene Leben und auch nicht das gegenwärtige. Es ist eine neue, zukünftige Lebensform.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: Kein Fotograf angegeben, Washington D. C., Smithsonian Institution Archives, Bild #SIA2010-0612 Abb. 2: http://reviverestore.org/passenger-pigeon-de-extinction/ [Stand: 10. August 2016]
69 Flusser: Die Geste des Filmens (wie Anm. 47), S. 123.
Autorinnen und Autoren
Ebony Andrews, PhD, richtete im Anschluss an ihre Tätigkeit als Präparatorin für die zoologische Abteilung der National Museums Scotland, Edinburgh, ihren wissenschaftlichen Fokus auf die Präsentation von Sammlungen und ihre Interpretation. Mit dem Schwerpunkt der museologischen Deutungen von Vorstellungen von Natur und Umwelt nahm sie das Studienfach Museum Studies (MA) auf und schloss mit einer Dissertation in diesem Fach an der University of Leeds ab. Mit einem Bachelor in Fine Art der Northumbria University ist ihre Arbeit interdisziplinär ausgerichtet. In ihrer künstlerischen Arbeit erforscht sie Narrationen eines Verhältnisses zwischen Mensch und Natur und befragt Konzepte und Ideen in der Geschichte von Museen und musealen Sammlungen. Derzeit arbeitet sie an den Calderdale Museums, UK. Für weitere Informationen siehe: www.ebonyandrews.co.uk Oscar Ardila Luna, M.A., geb. 1977 in Kolumbien, ist Kunsthistoriker und freiberuflicher Kurator. 2007 M.A. in Kunstgeschichte an der Universidad Nacional de Colombia, Bogotá. 2010 M. F. A. am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin. Seine Masterarbeit zum Verhältnis von Kunst und Natur in der kolumbianischen Kunst zwischen 1991 und 2003 wurde 2007 ausgezeichnet und von der Universidad Nacional de Colombia unter dem Titel La imposibilidad de la naturaleza. Arte y naturaleza en el arte colombiano contemporáneo. 1991-2003 publiziert. 2012 wurde sein Forschungsprojekt Campos de memoria/Erinnerungsfelder vom Kulturamt Bogotá als »Kuratorisches Projekt für die internationale Verbreitung kolumbianischer Kunst« ausgezeichnet. 2015 erhielt er das Forschungsstipendium des kolumbianischen Kulturministeriums. Linn Burchert, Dr. des., ist seit April 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Von Oktober 2014 an war sie Doktorandin und wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für
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Kunstgeschichte des Seminars für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuvor studierte sie Kulturwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik sowie Vergleichende Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam. Anfang 2018 schloss sie ihr Dissertationsprojekt zum Thema Das Bild als Lebensraum. Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Moderne 1910-1960 ab. Forschungsschwerpunkte sind Beziehungen zwischen Kunst-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, insbesondere Medizin, Heilkunden und Ökologie sowie Naturkonzepte und Naturzugänge in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Publikationen erfolgten u. a. zu natürlicher Rhythmik in der künstlerischen Produktion und in Konzepten der Bildwirkung. Hubertus Butin studierte Kunstgeschichte in Bonn und Zürich. Von 1996 bis 1998 arbeitete er als kunsthistorischer Assistent im Atelier Gerhard Richters in Köln und anschließend als Gastkurator für verschiedene internationale Museen. Seit 1991 hat er zahlreiche Aufsätze und Bücher zur zeitgenössischen Kunst und Kunsttheorie publiziert. 2014 gab er das neue Werkverzeichnis der Editionen Gerhard Richters heraus. Im selben Jahr erschien auch sein aktualisiertes und erweitertes Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Aktuell arbeitet er im Auftrag des Suhrkamp Verlags an einem Buch über Kunstfälschungen. Hubertus Butin lebt heute als freier Publizist und Kurator in Berlin. Martina Dlugaiczyk, Dr. phil., Studium der Kunstwissenschaft, Mittleren und Neueren Geschichte sowie Politologie; 1994 Magister mit einer Arbeit über Peter Paul Rubens. 1996-1998 Graduiertenförderung des Landes Hessens. 1999 Zentrale Forschungsförderung. Promotion 2001 an der Universität Kassel mit einer Dissertation über die politische Ikonografie des Waffenstillstandes von 1609 zwischen den Südlichen und Nördlichen Niederlanden (Betreuer: Prof. Dr. Berthold Hinz und Prof. Dr. Heide Wunder). 2001-2006 freie Mitarbeit in Museen in Hildesheim (Dom-Museum), Kassel (Schloss Wilhelmshöhe), Paderborn (Diözesanmuseum) und im Bereich der Printmedien (Kulturmagazin). Lehrtätigkeiten an den Universitäten Aachen, Kassel und Düsseldorf. 2003-2006 Vertretung der wiss. Assistenz am Institut für Kunstgeschichte der RWTH Aachen. 2007-2012 ebenda wiss. Assistentin sowie Kuratorin a. Z. des universitätseigenen Reiff-Museums; zudem seit 2009-2012 Postdoc-Stipendiatin der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. 2012-2016 wiss. Mitarbeiterin im Trierer ERC Advanced Grant-Projekt artifex; ebenda im FB Kunstgeschichte Lehrbeauftrage von 2013-2015. Freie Kuratorin seit 2013 (u. a. Mitarbeit im Gasometer Oberhausen). Seit 2017 wiss. Mitarbeiterin im BGV Bistum Münster, Abt. Bauwesen, Gruppe Kunst, Münster.
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Carolin Höfler, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der Technischen Hochschule Köln. 2003-2013 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Mediales Entwerfen der TU Braunschweig (ab 2009 Akademische Rätin). Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literatur und Theaterwissenschaft (Magister) sowie Studium der Architektur (TU Diplom) in Köln, Wien und Berlin. 2011 Promotion bei Horst Bredekamp an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Arbeit Form und Zeit. Computerbasiertes Entwerfen in der Architektur. Forschungsschwerpunkte: Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design; Raum-ZeitModelle; digitale Form; Materialsysteme; ephemerer Urbanismus. Zuletzt erschienen: Carolin Höfler: Body Voyage. Rekonstruktionen aus Schnittserien, in: Ammon, Sabine/Hinterwaldner, Inge (Hg.): Bildlichkeit im Zeitalter der Modellierung. Operative Artefakte in Entwurfsprozessen der Architektur und des Ingenieurwesens, München 2017 (eikones), S. 219-254. Annerose Keßler, M. A., ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät III der Hochschule Hannover, Abteilung Design und Medien, wo sie an einer Dissertation über Zufall in der Kunst arbeitet. Nach der Ausbildung zur staatl. gepr. Erzieherin und der Arbeit im Elementarbereich mit Weiterbildung zur Kunsttherapeutin in Münster studierte sie Kunstgeschichte, evangelische Theologie und Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Université Paris Sorbonne (Paris IV). 2011 Magister mit Auszeichnung an der CAU Kiel mit einer Arbeit zum französischen Paragone im 18. Jahrhundert. 2011-2013 wiss. Volontariat am Sprengel Museum Hannover, dort 2013 Kuratorin der Ausstellung »Purer Zufall. Unvorhersehbares von Marcel Duchamp bis Gerhard Richter«. Forschungsschwerpunkte: Paragone und Medienkonkurrenz, Künstlerwissen, Kreativitätstheorien. Uta Kornmeier, Dr. phil., forscht in einem DFG-Forschungsprojekt zur Geschichte der kunsthistorischen Radiographie am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, wo sie zuvor das VW-Forschungsprojekt Kulturelle Implikationen der plastischen Chirurgie des Schädels koordinierte. In dem Projekt bearbeitete sie auch den Band SchädelBasisWissen 2. Zur Wissensgeschichte eines Knochens (Berlin 2017). Nach ihrer Promotion in Kunstgeschichte über Madame Tussaud und die Geschichte des europäischen Wachsfigurenkabinetts (2003) war sie an verschiedenen Museen und Forschungsinstituten in Deutschland und Großbritannien tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Medizingeschichte, Geschichte bildgebender Verfahren und Museums- bzw. Ausstellungsgeschichte.
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Verena Kuni, Prof. Dr., ist Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaftlerin und Professorin für Visuelle Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In Forschung, Lehre, Projekten und Publikationen beschäftigt sie sich mit Transfers zwischen materialen und medialen Kulturen, Medien der Imagination, Technologien der Transformation, Do It Yourself und Critical Making, Spielzeug und/ als Werkzeug, Visueller Epistemologie, Informationsdesign und (Kon)Figurationen des Wissens, Urbanen Biotop(i)en und TechnoNaturKulturen, Alternate Realities und Anderen Zeiten. Ihr Interesse gilt dabei nicht zuletzt Potenzialen und Problemen disziplinärer, inter- und transdisziplinärer Zugänge, Methoden und Werkzeuge, Theorien und Praktiken. Aktuell befasst sie sich u. a. mit dem Bild- und Imaginationsraum von Zonen der Verwilderung, der Repräsentation und Kommunikation von (Bio-)Diversität sowie künstlerischen und experimentellen Zugängen zu DIY-Science. Mehr unter www.kuniver.se. Anne Marno, Dr. phil., ist Kunsthistorikerin, Medizinhistorikerin und approbierte Ärztin. Studien der Humanmedizin, Kunstgeschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften. Von 2005 bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Die Konstruktion einer moralischen Autorität der Natur in der Naturheilkunde« am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-HeineUniversität (HHU) in Düsseldorf. Seit 2014 Lehrbeauftragte am Institut für Kunstgeschichte. Interdisziplinäre kunst- und medizinhistorische Promotion (Dr. phil.) über Otto Dix’ Radierzyklus Der Krieg (1924) am Institut für Kunstgeschichte der HHU. Seit 2016 Promotionsstudium (Dr. med.) im Fachbereich Medizinische Psychologie, Neuropsychologie und Gender Studies der Universität in Köln. Kassandra Nakas, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Psychologie in München, Wien und Berlin, Promotion an der Freien Universität Berlin. Nach einer Gastprofessur an der Universität der Künste Berlin unterrichtet sie derzeit an der Leuphana Universität Lüneburg und an der TU Braunschweig. Jüngere Publikationen: Verflüssigungen. Ästhetische und semantische Dimensionen eines Topos, München 2015 (Hg.); Scenes of the Obscene. The Non-Representable in Art and Visual Culture, Middle Ages to Today, Weimar 2014 (hg. mit Jessica Ullrich). Annette Richter, Dr. rer. nat., Annette Richter ist promovierte Diplom-Geologin und im Hauptfach auf fossile Reptilien spezialisiert. Sie ist am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover Oberkustodin und Fachbereichsleiterin der Naturkunde mit interdisziplinären Aktivitäten auch in der Landesgalerie. Da sich
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Wirbeltierpaläontologen bis zum heutigen Tage mit exakten Schwarz-WeißZeichnungen von Fossilfunden, aber auch mit farbigen Rekonstruktionen ausgestorbener Tiere auseinandersetzen müssen, stellt dies bis zum heutigen Tage einen ihrer Schwerpunkte dar. Am Niedersächsischen Landesmuseum leitete sie mehr als eine Dekade lang einen sehr gefragten wissenschaftlichen Zeichenkurs. Derzeit widmet sie sich über die Geowissenschaften hinaus intensiv der Geschichte der zoologischen und der botanischen Illustration sowie theoretischen Fragen der Vereinbarkeit von Akkuratesse und Ästhetik. Isabelle Schwarz, Dr., Studium u. a. der Kunstpädagogik und Erziehungswissenschaften sowie der Geschichte und Romanistik (Magister) an der Universität Bremen und der Universidad de Sevilla. 2006 PhD in Art History an der International University Bremen (heute Jacobs University) mit dem Thema Archive für Künstlerpublikationen der 1960er bis 1980er Jahre (Köln 2008). 2006-2008 wiss. Volontariat am Sprengel Museum Hannover, seit 2008 Kunsthistorikerin und Kuratorin am Sprengel Museum Hannover. Gründungsmitglied des Forschungsverbunds für Künstlerpublikationen (www.kuenstlerpublikationen.de). 2012-2017 Redakteurin der Monografienreihe Kunst der Gegenwart aus Niedersachsen (Hg. Stiftung Niedersachsen). Anna Lena Seiser, M. A., ist seit 2015 im kuratorischen Team der Kunsthalle Düsseldorf tätig. Sie studierte Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar und der UFMG in Belo Horizonte, Brasilien, sowie Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. Im Rahmen ihrer Masterarbeit untersuchte sie am Beispiel der ›Wiederbelebung‹ ausgestorbener Tiere innerhalb der Life Sciences die Repräsentationen und Rekonstruktionen von Tieren an der Grenze von bildnerischer Tätigkeit und naturwissenschaftlicher Forschung. Von 2011 bis 2015 war sie Mitarbeiterin in der Künstlerförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes; 2013/14 Teil des Kuratorenteams der Ausstellung »HUMANIMAL – Mythos und Realität«, einer Kooperation des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin und des Museums für Naturkunde Berlin. Christiane Stahl, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte und der Theater- und Filmwissenschaft in Paris und Berlin. Ab 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Historischen Museum Berlin, der Bundeskunsthalle Bonn und der Galerie Karsten Greve in Köln, Mailand und Paris. Seit 2002 Leiterin der Alfred Ehrhardt Stiftung Köln, 2005 Promotion über Alfred Ehrhardts fotografisches Frühwerk. Seitdem Vorträge und Publikationen zur zeitgenössischen Foto-
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grafie. 2006-2014 Mitglied des geschäftsführenden Vorstands, 2008-2014 stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh). 2010 Umzug der Alfred Ehrhardt Stiftung nach Berlin, seitdem Mitglied im Beirat des Europäischen Monats der Fotografie. Gastdozentin an der Neuen Schule für Fotografie Berlin. Georg Toepfer, Prof. Dr. phil, Dipl. Biol. ist Leiter des Forschungsschwerpunkts ›Lebenswissen‹ am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Im Wintersemester 2016/17 vertrat er die Professur für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Jena. Er erhielt ein Diplom in Biologie (in Würzburg) und wurde danach in Philosophie promoviert (in Hamburg) und habilitierte sich auch in diesem Fach (in Bamberg). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere die kulturellen Bezüge und die begrifflichen Grenzen des biologischen Wissens. Wichtigste Publikation: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (3 Bde., 2011). Friedrich Weltzien, Prof. Dr. phil., ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, seit 2013 Professor für Kreativität und Wahrnehmungspsychologie an der Fakultät III der Hochschule Hannover, Abteilung Design und Medien. Die Habilitation erfolgte 2011 mit einer Arbeit zu Fleckentheorien des 19. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin, 2003 Promotion an der Universität zu Köln zum Körperbild in der Malerei der 1940er Jahre. Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst- und Designtheorie vom 18. bis ins 21. Jahrhundert im Grenzbereich zwischen Kunst-, Medien- und Wissenschaftsgeschichte. Dazu zählen Themen wie Animalität und Ästhetik, Medientheorie der Mode, Comicgeschichte oder experimentellen Bildpraktiken. Ein methodischer Fokus ist auf die Produktionsästhetik gerichtet. Weitere Informationen: www.theoriestudierende.de
Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)
»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de