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German Pages 192 Year 2003
Kunst und Demokratie Positionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Sonderheft des Jahrgangs 2003 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Herausgegeben von Ursula Franke und Josef Früchtl
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: - Archiv für Begriffsgeschichte - Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft - Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte - Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie - Hegel-Studien - Phänomenologische Forschungen Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter www.meiner.de.
Zuletzt erschienen als Sonderhefte der ZÄK: Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002)
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft · ISBN 3-7873-1667-1 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2003. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©
INHALT
Ursula Franke / Josef Früchtl : Einleitung .......................................................
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ästhetisch-politische positionen Christel Fricke : Kunst und Öffentlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 ..........................
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Pamela C. Scorzin : Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen. Betrachtungen über eine patriotische Ikone in der Medienlandschaft ..........
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Martin Jay : Soma-Ästhetik und Demokratie. Die politische Dimension der Körperkunst ................................................
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Rüdiger Zill : Reflexe und Reflexionen. Drei Stellungen des Gedankens zur Realität der Magie .............................................................
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Hermann Pfütze : Die Künste als Spielraum der Demokratie .........................
83
Jochen Gerz : Im Licht der Kultur. Ein Statement .........................................
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ästhetisch-ethische perspektiven Reinold Schmücker : Kunstkritik als demokratischer Prozeß ...........................
99
Bernd Kleimann : Elitismus und Betroffenheitskultur. Zur ethischen Valenz der Kunst ..................................................................
115
spezielle aspekte Klaus von Beyme : Die Künstler der Avantgarde und die Demokratie ............
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Marie-Luise Raters : Böse Menschen haben keine Lieder. Kann Musik zur Demokratie erziehen? ......................................................
141
Wolfhart Henckmann : Über die Grenzen der »Kunstverhältnisse« ..................
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EINLEITUNG
Vor einem voluminösen Begriffspaar wie Kunst und Demokratie scheint die zynische Reaktionsweise die nächstliegende. Denn sie läßt den Umfang der Begriffe kurzerhand auf ein Bonmot zusammenschrumpfen: Demokratie ist nichts als ein ursprünglich griechisches Theaterstück, das im Laufe der Zeit immer trivialer wurde. Demokratie ist demnach nichts weiter als eine Erfindung der Kunst, eine Bühnenveranstaltung, die dem Topos vom theatrum mundi untersteht und in dieser Tradition eher despektierlich, bestenfalls milde ironisch betrachtet wird. Hält man die Begriffe dagegen in einem ersten Zugriff auseinander, drängen sich zwei grundsätzliche Fragen auf: Ist Kunst auf Demokratie angewiesen? Und umgekehrt Demokratie auf Kunst? Zumindest die erste Frage scheint leicht zu beantworten. Denn es genügt ein historischer Rückblick, um ein Nein hinter die Frage zu setzen. An prominenter Stelle hat Friedrich Schiller dies eingestehen müssen. Denn im 10. Brief der Ästhetischen Erziehung des Menschen muß er »achtungswürdige Stimmen«, namentlich diejenige Jean-Jacques Rousseaus, zu Wort kommen lassen, die seinem eigenen Begründungsunternehmen, daß es nämlich die Schönheit sei, die den Menschen zur Freiheit führe, den empirischen Boden entzieht. »In der Tat«, so konzediert er, »muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wären.«1 Die zweite Frage scheint demgegenüber nicht so einfach zu beantworten. Ob Demokratie auf Kunst, auf eine, wie auch Schiller sagt, ›ästhetische Kultur‹ und im weiteren auf ästhetische Erfahrung angewiesen sei, hängt davon ab, was man einerseits unter Demokratie, andererseits unter ästhetischer Erfahrung und Kultur versteht. Demokratie ist, seit ihren griechischen Ursprüngen, Volksherrschaft. Zum Volk gehören in unseren Zeiten aber nicht nur die männlichen, freien, erwachsenen Bürger einer Polis, sondern alle erwachsenen Bürgerinnen und Bürger eines Staates. »Wir sind das Volk« ist seither der Ruf, der an diejenigen ergeht, die im Namen des Volkes zu herrschen vorgeben, und dieses Wir umfaßt tendenziell alle. Wiederum seit Rousseau sind demokratische Prinzipien grundsätzlich durch die Herrschaft von Freien und Gleichen über sich selbst bestimmt, durch eine Autonomie und Pluralismus implizierende Selbstorganisation der Gesellschaft, die idealtypisch nach der ›liberalen‹ und ›republikanischen‹ (bzw. heutzutage ›kommunitären‹) Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, 598 f. 1
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Variante unterschieden werden kann. Während sich das liberale Modell auf die rechtsstaatliche Normierung der Wirtschaftsgesellschaft konzentriert, um den ihre Eigeninteressen verfolgenden Bürgern die Freiheit von äußerem Zwang zu sichern, konzentriert sich das republikanische Modell, gegen den Staatsapparat gerichtet, auf die politische Meinungs- und Willensbildung, mithin auf die kommunikative Vereinigung der Bürgerinnen und Bürger, die allerdings von gemeinwohlorientierten Tugenden abhängig gemacht wird.2 Eine demokratische Kultur kann entsprechend als Habitualisierung dieser demokratischen Prinzipien definiert werden. Durch den Rückbezug auf Tugenden und kommunikativ bewirkte Vereinigungen steht dabei das republikanisch-kommunitäre Demokratieverständnis der Idee einer demokratischen Kultur näher. Denn beiden ist es um ein Netzwerk von Assoziationen, Institutionen und Öffentlichkeiten unterhalb der Ebene des Staates zu tun. Andererseits bleibt dieses Demokratieverständnis dieser Kulturidee doch insoweit auch fern, als sie nicht an so etwas wie einer kulturellen Substanz festhält. Ist die Demokratie, das heißt die Idee der kommunikativen Selbstorganisation, einmal zur Kultur geworden, das heißt zur individuell wie kollektiv geprägten Lebensform, lassen sich keine substantiellen Gemeinsamkeiten mehr auf Dauer stellen. Keine bestimmte Idee des ›guten Lebens‹, keine Wertorientierung ist dann vor Kritik sicher, nicht einmal die der Demokratie selber. »In diesem Sinne ist die moderne Demokratie wesentlich transgressiv und ohne festen Boden.«3 Zumindest Richard Rorty zögert nicht, der modernen Demokratie daher auch das Prädikat des Ästhetischen zu verleihen. Denn die ästhetische Sphäre ist für ihn (und nicht nur für ihn allein) diejenige, die dem Konzept einer metaphysischen oder transzendental gesicherten, jenseits kultureller Standards angesiedelten Wahrheit am fernsten steht. Man kann demnach die »nazistischen und marxistischen Feinde des Liberalismus« nicht dadurch widerlegen, »daß man sie gegen eine Wand aus Argumenten zurückdrängt«, denn es zeigt sich, »daß die Wand, gegen die er gedrängt wird, nur ein anderes Vokabular, eine weitere Art ist, Dinge zu beschreiben. Dann zeigt sich, daß die Wand nur eine gemalte Kulisse ist, wieder nur ein Menschenwerk, ein Bühnenbild für die Kultur. Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind«.4
Vgl. Jürgen Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen – Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, 277– 292. Aus der wechselseitigen Kritik des liberalen und republikanischen Modells entwickelt Habermas des weiteren als drittes das diskurstheoretische, prozeduralistische Modell einer ›deliberativen Politik‹. 3 Albrecht Wellmer: Bedingungen einer demokratischen Kultur – Zur Debatte zwischen ›Liberalen‹ und ›Kommunitaristen‹, in: ders.: Endspiele – Die unversöhnliche Moderne, Essays und Vorträge, Frankfurt/M. 1993, 61; vgl. auch 64 f. 4 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, 99. 2
Einleitung
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Freilich scheint Rortys Konzeption allzusehr auf die Verwischung von Unterschieden angelegt. Es bietet sich insofern an, das Prädikat des Ästhetischen im engeren Sinn für die Kultur zu beanspruchen.5 Das Ästhetische gilt dann lediglich als ein spezifisches Element der demokratischen Kultur, nicht mehr als mit ihr identisch. Eine demokratische Kultur lebt von der alltäglichen Realisierung demokratischer Prinzipien, zuoberst der Prinzipien von Autonomie und Pluralismus, und das impliziert: sie lebt von der kommunikativ bewirkten Assoziation der Akteure, denn Freiheit und Gleichheit sind mit Gewalt und äußerem Zwang nicht vereinbar. Die ästhetische als Element einer demokratischen Kultur zu konzipieren, bedeutet dann zunächst nicht mehr, als daß die holistisch verstandene (demokratische) Kultur die symbolisch verstandene (ästhetische) umfaßt. Die symbolisch-ästhetische darüber hinaus als spezifisches Element einer demokratischen Kultur zu konzipieren, erfordert des weiteren aber eine Begründung dafür, daß und, wenn ja, in welchem Maße eine auf kommunikativer Assoziation beruhende Lebensform der ästhetischen Sphäre bedarf, einer Sphäre, die darauf spezialisiert ist, ästhetische Erfahrungen (vor allem an Kunstwerken) zu ermöglichen. Und diesbezüglich kann man argumentieren, daß eine demokratische Kultur als kommunikative Assoziation eine Lebensform ist, mit der man sich darauf festlegt, sowohl untereinander als auch gegenüber anderen Lebensformen die Einstellung zu pflegen, sich irritieren und damit möglicherweise belehren zu lassen. Sie verpflichtet also zu intra- wie interkultureller Kommunikationsbereitschaft. Die Bereitschaft nun, sich mit anderen zu verständigen, sich von ihnen irritieren zu lassen und ihre Überzeugungen und Erfahrungen eventuell zu den eigenen zu machen, hängt, wie man weiter argumentieren kann, nicht einzig und allein, aber doch auch von der Fähigkeit ab, ästhetische Erfahrungen machen zu können. Und zu dem, was eine ästhetische Erfahrung auszeichnet, läßt sich gewiß Verschiedenes anführen, aber eines scheint zumindest unter Bedingungen der Moderne, also seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, unstrittig, nämlich daß sie auf Innovation, auf Neues oder, heideggerianisch gesprochen, auf ›Welterschließung‹ hin angelegt ist. In diesem relativierten und differenzierten Sinne also kann man behaupten, daß eine demokratische Kultur auf ästhetische Erfahrung angewiesen ist. Die ästhetische Erfahrung wäre dann gewiß keine hinreichende, wohl aber eine förderliche, vielleicht sogar eine notwendige Bedingung für eine demokratische Kultur. Dieses Bedingungsverhältnis ließe sich auch etwas anders formulieren. In den demokratisch verfaßten Gesellschaften unserer Gegenwart wird nämlich ein Konflikt virulent, der im Prinzip der Moderne, wie Hegel es herausstellt, der Subjektivität, schon angelegt ist. Einerseits verlangt demnach jede und jeder einzelne zunehmend 5 Vgl. Josef Früchtl: Demokratische und ästhetische Kultur – Folgen der Postmoderne, in: Thomas Schäfer / Udo Tietz / Rüdiger Zill (Hg.): Hinter den Spiegeln – Beiträge zur Philosophie Richard Rortys, Frankfurt/M. 2001, 280 ff.; ders.: Ästhetische und städtische Demokratisierung, in: Lebensraum Stadt, hg. von Ernst Helmstädter/Ruth-Elisabeth Mohrmann, Münster 1999, 129 ff.
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nach allseitiger Selbstbestimmung und darüber hinaus auch Selbstverwirklichung, andererseits ist diese Selbstverwirklichung durch die aller anderen beschränkt. Die Frage, wie sich Individualität und Allgemeinheit verbinden lassen, ist, erkenntnistheoretisch gesprochen, auch diejenige, wie Objektivität auf der Basis von Subjektivität begründet werden kann. Und es ist diese erkenntnis-, moral- und gesellschaftstheoretische Frage, die der Ästhetik als einer Disziplin der Philosophie von Anfang an, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, vertraut ist. In dieser Zeit etabliert sie sich als philosophische Kritik des Geschmacks, und es ist daher ganz treffend, mit Luc Ferry von der »Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie« zu sprechen.6 Ferry zeichnet in drei Schritten, von Platon über Kant zu Nietzsche, eine fortgesetzte Subjektivierung der Welt und damit einen fortgesetzten Weltverlust nach. Je mehr der Bereich des Ästhetischen zur bloßen Erlebnissphäre des Subjekts wird, desto mehr kommt es auch zu einem ästhetischen Objektivitätsverlust. Schön oder ästhetisch gelungen ist schließlich nur noch das, was ein beliebiges Subjekt als schön oder ästhetisch gelungen empfindet. Ferry läßt keinen Zweifel daran, daß Kant nicht nur historisch eine Mittlerposition einnimmt. Denn dieser hat in seiner Kritik der Urteilskraft für eine Beantwortung der grundlegenden erkenntnis-, moral- und gesellschaftstheoretischen Frage zumindest die Elemente bereitgestellt. Über den Geschmack läßt sich demnach streiten, weil es zwischen der bloß privaten und der allgemeinen, paradigmatisch der (natur-)wissenschaftlichen Gültigkeit eines Urteils noch eine dritte Gültigkeitsform gibt: die der Intersubjektivität, der unter gewissen normativen Bedingungen herbeigeführten Einigung zwischen Subjekten.Weil diese Einigung im Normalfall so schwer herzustellen ist, theoretisiert Kant die Sphäre der Intersubjektivität im Rahmen der Ästhetik bekanntlich auch unter dem Begriff des Gemeinsinns. Im ästhetischen Urteil soll sich demnach ein Sinn für das allen Gemeinsame zeigen, denn erst auf dieser Basis kann man argumentativ streiten.7 Aus einer kritischen gesellschaftstheoretischen Sicht kann man diese Zusammenhänge auch so darstellen, daß die Sphäre des Ästhetischen bei Kant und im ›bürgerlichen‹ Denken generell gerade deshalb so zentral ist, weil sie Gemeinschaft auf einem eher emotionalen Niveau herzustellen verspricht, während die durch Marktkonkurrenz und Klassenteilung gekennzeichnete Sozialordnung ansonsten nur auf dem abstrakt-rationalen Niveau einer Prinzipienmoral und des Rechts zusammengehalten werden kann. »Das ist«, wie Terry Eagleton zusammenfaßt, »eine erstaunlich optimistische und zugleich eine bitter pessimistische Aussage. Denn sie stellt einerseits fest: ›Wie wunderbar, daß sich menschliche Einheit gerade im Innersten des Subjekts und in dessen scheinbar unberechenbarsten und launen6 Luc Ferry: Der Mensch als Ästhet – Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie, Stuttgart/Weimar 1992, vgl. zum Folgenden bes. 5 ff., 11 ff., 34 ff. 7 Vgl. Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks – Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants »Kritik der Urteilskraft«, Hamburg 2000, bes. die Diskussion zwischen Jürgen Stolzenberg, Jens Kulenkampff und Christel Fricke.
Einleitung
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haftesten Reaktionen, nämlich im Geschmack auffinden läßt!‹ Und andererseits: ›Wie schrecklich prekär und unsicher muß die Solidarität unter den Menschen sein, wenn sie sich letzten Endes in nichts Verläßlicherem festmachen läßt als in den Phantastereien ästhetischer Urteile!‹«8 Auch Eagleton verficht also, ähnlich wie Ferry, die These, daß wir durch die Kategorie des Ästhetischen Aufschluß erhalten über nicht-ästhetische Themen, nämlich über die Moderne und ihre sozialen, politischen wie ethischen Probleme, soziologisch konkreter sogar über den Kampf des Bürgertums um politische Hegemonie. Es gibt noch weitere kunstphilosophische Positionen, die für die Relevanz der Kunst und der ästhetischen Erfahrung für die Demokratie plädieren. Zu ihnen gehört vor allem John Dewey, der die kommunikative und damit zivilisierende Kompetenz der ästhetischen Erfahrung herausstellt: »Zivilisation ist unzivil, weil menschliche Wesen in nicht-kommunizierende Sekten, Rassen, Nationen, Klassen und Gruppen geteilt werden.«9 Zu ihnen gehört auch Arthur C. Danto, der zwar nicht in Kunst überhaupt, aber in der »posthistorischen«, vom Pluralismus statt vom Hegelschen Fortschrittsgedanken getragenen Kunst des 20. Jahrhunderts ein Modell der Demokratie erblickt. Denn den Kunstbewegungen der 1960er Jahre ging es ihm zufolge auch um das »Niederreißen gesellschaftlicher Grenzen«. Nicht nur sollte die Trennlinie zwischen hoher und niedriger Kunst überwunden werden, sondern auch die zwischen den Geschlechtern und Klassen, »und zwar aus der Perspektive einer politischen Utopie, die ein ›Paradise Now‹ forderte, wie ein Stück des ›Living Theatre‹ es nannte.« »Warhols Ansicht, alles könne Kunst sein, stellte in gewisser Hinsicht ein Modell für die Hoffnung dar, jeder Mensch könne sein, was er nur wolle, sobald die die Kultur definierenden Grenzen überwunden seien.«10 Aber selbstverständlich hat sich kunstphilosophisch auch eine antidemokratische Position formiert. Einer ihrer berühmtesten Repräsentanten ist gewiß Thomas Mann. Ein Politiker, so lauten damals seine nicht zuletzt gegen seinen Bruder Heinrich gerichteten polemischen Klassifizierungen, ist ein »Manifestant und Tumultant, ein Menschenrechtler und Freiheitsgestikulant«. Sein Reich ist der französisch geprägte Westen Europas, wohingegen der Künstler seinem Innersten nach im Deutschen verwurzelt ist. Der Künstler trägt in den Betrachtungen eines Unpolitischen »dürerisch-faustische Wesenszüge«, zeigt eine »metaphysische Stimmung« und ein »Ethos von ›Kreuz, Tod und Gruft‹«.11 Dieser Künstler, der so drastisch und heute so klischeehaft deutsche Züge trägt, kann kein Politiker sein. Politik muß ihm und dem Deutschen überhaupt fremd sein. Thomas Mann frönt damit jenem typisch deutschen Gegensatz in der Kulturkritik, nach dem sich Kultur und Zivi8
Terry Eagleton: Ästhetik – Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994, 79; vgl. auch
1 u. 3 John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1988, 388. Arthur C. Danto: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, 15 u. 16 f. 11 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt/M. 1993, 399 u. 106; vgl. auch 39 f., 99, 240, 499. 9
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lisation, Bildung und Demokratie, Geistesaristokratie und individualistische Masse, schließlich sogar Deutschtum und Verwestlichung hierarchisch gegenüberstehen. Zu Recht, so kann man konzedieren, kritisiert er, daß der fundamentaldemokratische Gedanke die Gefahr einer Politisierung aller Bereiche des Lebens mit sich führt und die Demokratisierung von Kunst und Kultur in die Abschaffung ihrer Autonomie münden kann, so daß alles Geistige am Ende nur noch nach seiner Verwertbarkeit und Instrumentalisierbarkeit im Dienste des Staates oder des Volkes beurteilt wird. Kants Analytik des Ästhetischen hat, speziell mit ihrer Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, für diese Kritik den Grundstein gelegt. Aber sie speist sich offensichtlich auch aus jener bildungsbürgerlichen Attitüde des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich selbst in der Einbildung genießt, die Bildung erlaube es, sich von den Banalitäten der Welt abzuwenden und höhere oder tiefere Erklärungen für alles Profane zu finden. Statt das Politische primär politisch zu erklären, zelebriert diese Attitüde dann eine romantisch-spekulative Deutung, in der Treffendes und Überzogenes, Erhellendes und Abstruses eine klebrige Verbindung eingehen. Die ›Ästhetisierung der Politik‹, soweit wäre Thomas Mann mit Walter Benjamin wohl noch einmal rechtzugeben, darf nicht mit einer ›Politisierung der Ästhetik‹ gekontert werden. Beide lassen sich aber auch nicht durch eine bildungsbürgerliche und letztlich romantische Privilegierung der Ästhetik in die Schranken verweisen. Wer die Kunst, überhaupt die Kultur als Sphäre des Geistigen, zum Höchsten erklärt, dürfte weder einer modernen Gesellschaft noch einem modernen Vernunftbegriff gerecht werden. Doch auch aus einer ungleich nüchterneren Perspektive als derjenigen Thomas Manns läßt sich auf verschiedene markante Unterschiede zwischen den Bereichen der Kunst und der Demokratie hinweisen. So erfordert die moderne demokratisch organisierte Politik Überzeugungsarbeit mittels Argumentation, nicht nur mittels Rhetorik, und sie macht es nötig, prinzipiell Kompromisse einzugehen. Sie basiert ebenso auf der Herrschaft der Majorität wie der formalen Egalität. Kunst dagegen, so kann man nahezu einvernehmlich hören, beruht argumentativ wesentlich auf Evidenzerfahrungen, auf Sinnlichkeit und Sinnfülle. Sie verachtet den Kompromiß, das Mittlere wie das Mittelmaß, und setzt ganz auf Radikalität und Extremismus. Sie unterstellt sich nie der Mehrheit, sondern dringt geradezu feindselig und diktatorisch auf Alleinherrschaft. Zumindest hält sie sich, wenn Kant recht haben sollte, schwebend zwischen der Überzeugung des Einzelnen und der Allgemeinheit. Und schließlich setzt sie zumindest auf der Seite der Produktion nicht die Gleichheit, sondern ganz im Gegenteil die Ungleichheit der Subjekte voraus; ›Originalität‹, nicht ›Egalität‹ ist ihr permanent-revolutionärer Schlachtruf. Die Beiträge dieses Sammelbandes beziehen auf unterschiedliche, differenzierte und in der Regel indirekte Weise zu den hier einleitend vorgestellten grundsätzlichen Markierungen Position. Sie wurden, mit Ausnahme des Beitrags von Pamela C. Scorzin, verfaßt für den Kongreß »Kunst und Demokratie«, den die Deutsche
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Gesellschaft für Ästhetik im Sommer 2002 in Berlin veranstaltet hat. Das einschneidende Ereignis des 11. September 2001 hat dem Kongreßthema dabei eine unerwartete und herausfordernde Bedeutung verliehen. Daher stehen die Beiträge von Christel Fricke und Scorzin am Anfang. Die Beiträge, die eine ästhetisch-politische Position beziehen, reflektieren das prekäre Verhältnis von Kunst und Demokratie sowohl im zeitgenössischen Horizont der Ereignisse des 11. September 2001 als auch im Kontext der Globalisierung, deren mediale, durch Politik, Wirtschaft, aber auch durch Kunst geprägte Spur die Lebens- und Erlebniswelt der Menschen bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachhaltig verändert hat. Christel Fricke nimmt die aufs heftigste umstrittene Behauptung von Karlheinz Stockhausen, die einstürzenden Twin-Towers seien das größte Kunstwerk aller Zeiten, zum Anlaß, »Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion« über die Terrorattacken auszuloten. Sie argumentiert nicht moralisch, bezieht jedoch die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte und garantierte »Freiheit der Kunst« ein. Die einem demokratischen Kulturverständnis gemäße Kunstfreiheit wird anhand einschlägiger Beispiele aus der Gegenwartskunst erörtert. Demgegenüber schließt Fricke von vornherein aus, daß das »apokalyptische« Ereignis des Angriffs auf das World Trade Center überhaupt ein künstlerisches Potential gewinnen kann. Sie erhärtet ihre These argumentativ im Rahmen einer Gegenüberstellung, genauer der Konfrontation von Kunst und Wirklichkeit. Pamela C. Scorzin sucht die »buchstäblich ungeheuerliche« Wirksamkeit des »scheinbar nicht-künstlerischen« Fotos zu verstehen, das der Pressefotograf Thomas E. Franklin nach der Terrorattacke von der US-Flaggenhissung auf dem Ground Zero machte und das um die ganze Welt ging. Scorzin spannt ein material- und detailreiches Netz kunsthistorischer Verknüpfungen auf, in dem sie den Symbol- und Erinnerungswert des Fotos akzentuiert. In diesem facettenreichen Gewebe wird der Wandel vom »aktuellen profanen Nachrichtenbild zum alltäglichen rituellen Gebrauch als nationalem Sinnbild und zeitloser (patriotischer) Ikone« untersucht. Scorzin weist das Motiv des Bildes als ein Engramm, ein dem kollektiven Gedächtnis eingeschriebenes überzeitliches Bildzeichen aus. Rüdiger Zill bietet eine medientheoretische Erörterung über das Verschwinden der Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Dabei geht es Zill, der die Vernetzung ausdrücklich zu einem Stilmittel seiner Schreibart macht, weniger (wenngleich auch) um die Macht der (Film-)Bilder als um die Macht unserer künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Bilddiskurse. Literarische und visuelle Bilder und Bilddiskurse werden im Blick auf Woody Allens »The Purple Rose of Cairo« und im Licht (und Gegenlicht) des alten Pygmalion-Mythos oder der Karlsruher Ausstellung »Iconoclash« (2002) vorgeführt, bei der »das kunsthistorische Interesse an den magischen Praktiken traditioneller Bilder mit den Magie-Diskursen zusammengeführt wurde«. Zill beleuchtet auf diesem Hintergrund das Vokabular der politischen Debatten um die Demontage des Berliner Lenin-Denkmals in Berlin-
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Friedrichshain im Jahre 1991, stellt die Frage nach dem ontologischen Verständnis, das diese moderne »Bilderstürmerei« motiviert und markiert die Aufgabe einer kritischen Metaphorologie. Martin Jay wendet sich dem politischen Potential der Körperkunst zu. Er knüpft an die Ideen des amerikanischen Pragmatisten John Dewey an, der im 20. Jahrhundert das Potential der ästhetischen Erfahrung für seine »Vision von Demokratie« geltend machte und forderte, daß die Kunst »die elitäre Welt der Museen und Privatgalerien hinter sich lassen und Teil des Alltags der Massen« werden solle; die kantische Auffassung der ästhetischen Erfahrung als wesentlich kontemplativ würde so außer Kraft gesetzt. Die »Plausibilität« der Auffassung Deweys wird von Jay durch einen Rekurs auf die Soma-Ästhetik insbesondere der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts geltend gemacht. Jay geht es nicht um die künstlerische Qualität oder Nichtqualität der Körperkunst, die er im Blick auf irritierende, auch schockierende, Installationen und Bilder beschreibt. Er akzentuiert vielmehr die Intentionen der Künstler und Künstlerinnen, die ihre Körper als Mittel einsetzen, um Tabus zu brechen und durch performative und transgressive Aktionen, die aggressive Verletzung von Schamgrenzen, repressive Vorstellungen und Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere auch über die Beziehungen der Geschlechter, zu attakkieren. Jay führt differenzierte Argumente für seine These an, daß die Körperkunst, die sich »im permissiven Klima einer Enklaven-Öffentlichkeit« nähre, ein wesentliches Moment der demokratischen Kultur ausmacht und sie fördert. Hermann Pfütze fokussiert die Gefahren und Chancen einer demokratischen Kultur im Horizont der Endzeitprognosen und Katastrophenängste, die er als Folgen der sich gegenwärtig vollziehenden wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung auffaßt. Er skizziert im Blick auf das künstlerische Handeln das Profil eines Gegenentwurfs und macht die Lücke im System geltend – die Kunst als Spielraum der Demokratie. Am herausragenden Beispiel der Dichtung und des Selbstverständnisses der dänischen Schriftstellerin Inger Christensen wird vorgeführt, inwiefern sich der, durch künstlerisches Handeln stimulierte, »Schritt ins Freie und Ungewisse« als eminent politisch erweist. Er ist mit der tatsächlich »abwegigen« Erfahrung verbunden, daß das »Räderwerk« der gesellschaftlichen Zwänge in der Demokratie »kein blindes Schicksal, sondern selbst anfällig für Lücken und Spielräume ist«. Mit Jochen Gerz kommt im Kreise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Künstler zu Wort. Gerz, dessen künstlerische Arbeit eine Lücke im Räderwerk ›bespielt‹, betont in seinem Statement »Im Licht der Kultur« die Verschiedenheit von Demokratie und Kunst in der Moderne, aber auch das ihnen Gemeinsame – »beide sind nur denkbar als eine Aktivität, als Engagement«. Heute, in der Gegenwart, so Gerz, sind beide gleichermaßen präsent, das führe zur Gleichgültigkeit des Bürgers, des Wählers, des Publikums. Demokratie und Kunst drohen beide in der »Saturiertheit« zu verschwinden. Sie konstituieren als »unscheinbare Pixel der Kultur das globale Bewußtsein«. Dieser Zustand von Demokratie und Kunst im »Zeitalter der Bewußtseinsindustrie« interessiert den Künstler Gerz. In seinem Statement
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formuliert er die sich daraus für ihn ergebende Forderung einer ›Wiedergeburt‹, einer »Reinkarnation der Kunst aus Autor, Betrachter und Werk«. Im Licht dieser künstlerischen Position eines radikal erweiterten Autorenbegriffs, verbunden mit der Vision vom Bürger als einem politischen Menschen, ist seine künstlerische Arbeit zu sehen, die nicht zuletzt auch der Konzeption von Mahnmalen gilt (vgl. die Abbildungen S. 97 f.).12 Eine ästhetisch-ethische Perspektive verfolgen Reinold Schmücker und Bernd Kleimann, wenn sie die entscheidende Frage nach der Relevanz, nach dem »Wozu« der Kunst in demokratischen Gesellschaften aufwerfen. Eine Antwort, die überzeugend oder zumindest plausibel ist, liege ebensowenig auf der Hand wie sich auch die Relevanz des Ästhetischen für die demokratische Kultur nicht ohne weiteres ausmachen lasse. Die Relevanzfrage gehen die Autoren, die beide für eine Differenzierung des überkommenen Kunstbegriffs eintreten, unterschiedlich an. Reinold Schmücker unternimmt es, die Bewertung, die Kunstkritik als demokratischen Prozeß zu verstehen. Für die Bewertung von Kunst sei eine differenzierte Analyse und Berücksichtigung der Funktionen, die der Kunst beigemessen werden können (Erkenntnisfunktion, therapeutische Funktion, kunstästhetische Funktion etc.), ebenso unerläßlich wie die Erörterung der Frage nach der Differenz zwischen einem Kunstwerk und einem Alltagsgegenstand. Jedes allgemeine Werturteil über ein Kunstwerk – so Schmückers These – wird »immer auch diejenige Hierarchisierung von Kunstfunktionen widerspiegeln, die dem Urteilenden vor dem Hintergrund seines jeweiligen Welt- und Selbstverständnisses angemessen erscheint«. Darin bereits liege ein demokratisches Moment, weil das Nachdenken und der Streit über den Rang der Kunstfunktionen auch die Frage betreffe, wie »die Gesellschaft geordnet sein soll, in der wir leben«. Bernd Kleimann problematisiert die ethische Relevanz der Kunst heute sowohl im Blick auf die Kunstproduktion als auch auf die Kunstrezeption. Die Gegenüberstellung von »Betroffenheitskult« und »Elitismus« gibt die Folie für die Überlegungen ab, die er über das Verhältnis von Kunst und Demokratie anstellt. Prinzipiell allen zugänglich, stelle die Kunst einen »Katalysator der demokratischen Willensbildung« dar, ein »Medium unserer Selbstverständigung«. Kleimann diskutiert die Frage, ob wir für ein gelingendes Leben so etwas wie die Erfahrung von Kunst brauchen, im Rahmen seines nachdrücklichen Plädoyers für die Orientierungsfunktion, die der Kunst für das Handeln zukomme. Weitere Beiträge widmen sich speziellen Aspekten der ästhetisch-politischen wie auch der ästhetisch-ethischen Dimension der Kunst in ihrem Verhältnis zur Demokratie. Klaus von Beyme hat signifikante Aussagen zum politischen Selbstverständnis der Avantgarden des 20. Jahrhunderts zusammengetragen, die, führte man sie im Detail Vgl. Hermann Pfütze: Unsichtbar – versenkt – im Traum –Mahnmale und öffentliche Skulpturen von Jochen Gerz, in: Merkur H. 575 (1997), 128–137. 12
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weiter aus, ihre intellektuelle Sprengkraft wohl noch eindringlicher erweisen würden. Es entsteht ein schillerndes Bild der politischen oder auch gänzlich unpolitischen Einstellungen herausragender, wirkungsmächtiger Künstler der Avantgarden zwischen 1905 und 1935, also in den Jahren vor und zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts bis zum »Rechtsruck der Weimarer Republik« und der »beispiellosen Emigration der Avantgarde nach 1933«. Die vehement polemisch und eindrucksvoll ungeschützt geäußerten Meinungen der Künstler über Politik und Demokratie gehen z. B. auf die Erinnerungen des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg zurück, die von Beyme neben privaten Briefen,Tagebüchern oder Manifesten von Künstlern und Künstlergruppen, wie der Brücke oder dem Blauen Reiter, heranzieht und pointiert charakterisiert und kommentiert. Das gebrochene Verhältnis vieler Avantgarde-Künstler zur Demokratie wird ebenso offenkundig wie die »Attitüde des apolitischen Künstlers«, aber auch das Eintreten z. B. der Dadaisten für eine Neugestaltung der Gesellschaft. Marie-Luise Raters thematisiert und problematisiert die Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Erziehung zur Demokratie durch Musik. Raters erörtert die politische Relevanz ästhetischer Erziehung im Blick auf die »anspruchsvolle« Musik Arnold Schönbergs und der Schönbergschule und setzt sich kritisch mit der Auffassung von Thomas Mann auseinander, der in seinem Roman Doktor Faustus die Struktur der 12-Ton-Musik mit der Struktur demokratischer Gesellschaften verglich und diese Musik »nicht etwa als Mittel einer Erziehung zur Demokratie, sondern vielmehr als Mittel der Abschreckung von der Demokratie« ansah. Demgegenüber greift Raters zur Verteidigung ihrer These der Relevanz der Neuen Musik für die Erziehung zur Demokratie auf theoretisches Rüstzeug zurück, das, hierzulande weniger bekannt, von dem englischen Ästhetiker Bernard Bosanquet bereits vor mehr als hundert Jahren bereitgestellt worden ist. Raters stellt Bosanquets – fragmentarisch gebliebenes – Modell der »Erziehung durch anspruchsvolle Kunst« als Modell der »Erziehung zur Demokratie« zur Diskussion und problematisiert dabei die Frage, inwieweit die Rezeption oder auch die Ausübung von anspruchsvoller Musik geeignet ist, jene Fähigkeiten auszubilden, die »man als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert braucht«. Wolfhart Henckmann stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen den Begriff der Kunstverhältnisse, den seinerzeit der Direktor des Instituts für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Peter H. Feist, als ein »Paradigma kunstwissenschaftlicher Forschung« beschrieben hat. Die Frage nach den Grenzen der Kunstverhältnisse erörtert Henckmann als systematische Frage, die mit dem bis heute umstrittenen Problem der Autonomie der Kunst etwas zu tun habe. »Kunstverhältnisse« bezeichnen die Beziehungen zwischen Künstlern, Werken und Rezipienten innerhalb einer Gesellschaft, sie sind von anderen gesellschaftlichen Verhältnissen (ökonomischen, wissenschaftlichen, politischen usw.) abzugrenzen, mit denen sie jedoch auch vielfach verschränkt sind. Drei Aspekte werden hervorgehoben: Die Einordnung des Kunstprozesses in die Gesellschaft,
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der kommunikative Grundzug der Kunst und die von Walter Benjamin bereits geforderte »Demokratisierung der Kunstsphäre«. Das »Prinzip der Parteilichkeit« der Künste und der Literatur wird von hier aus in seiner die Kunstverhältnisse wesentlich prägenden und die Kulturpolitik in der sozialistischen Gesellschaft der DDR bestimmenden Tendenz kritisch beleuchtet. Die Herausgeber danken Patrick Klebe und Niels Barenhoff für ihre umsichtige und engagierte Unterstützung. Münster in Westfalen, im August 2003
Ursula Franke / Josef Früchtl
Kunst und Öffentlichkeit Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center am 11. September 2001 Von Christel Fricke
Philosophische Ästhetik, die sich u. a. mit den Fragen danach beschäftigt, was für den künstlerischen Status und die ästhetische Qualität eines Gegenstandes konstitutiv sei, ist ein undankbares Geschäft. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich anheischig macht, ästhetische Erfahrung kognitivistisch zu verstehen und intersubjektiv gültige Maßstäbe für den künstlerischen Status eines Gegenstandes und dessen ästhetische Qualität zu verteidigen. Zwar kann sie sich zu diesem Zweck auf so eminente Philosophen wie Kant und Hegel berufen, die der Ästhetik in ihren philosophischen Systemen einen prominenten Platz angewiesen haben. Jedoch kann sich die philosophische Ästhetik, und darin unterscheidet sich ihre Lage von der der Erkenntnistheorie oder der Moralphilosophie, nicht auf einen entsprechenden vortheoretischen Konsens in der öffentlichen Meinung berufen. Daß wir, wenn es um Wahrheit und deren irrtumsfreie Erkenntnis und wenn es um Moral und Recht und allgemein anerkannte und weitgehend befolgte Regeln absichtlichen Handelns geht, jeweils einen allgemeinen Konsens benötigen, steht außer Frage, denn dieser Konsens ist für das friedliche Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft unverzichtbar. Dies gilt ganz unabhängig von den kontroversen Antworten auf die Frage, ob der in einer Gesellschaft herrschende Konsens in Sachen Wahrheit, Moral und Recht mehr ist als eine kulturelle, historisch kontingente Errungenschaft. Wo es jedoch um Fragen der Kunst und der ästhetischen Qualität geht, hat sich kein vortheoretischer Konsens in der öffentlichen Meinung herausgebildet. Zwar tendiert jeder erst einmal dazu, seinen persönlichen Geschmack im allgemeinen und seinen Kunstgeschmack im besonderen auch für einen oder gar den guten Geschmack zu halten und entsprechend zu erwarten, daß andere seine ästhetischen Vorlieben teilen.1 Im ästhetischen Streitfall über den Kunststatus eines Gegenstandes und dessen ästhetische Qualität (für die oft auch noch das Mißverständnisse provozierende Etikett der Schönheit verwendet wird), beruft sich aber fast jeder 1 Von wem soll die Rede sein, wenn von niemand bestimmtem die Rede ist? Nur von männlichen oder nur von weiblichen Personen? Oder soll immer ausdrücklich von allen die Rede sein? Die traditionelle und unser stilistisches Empfinden für die deutsche Sprache prägende Lösung gilt nicht mehr als politisch korrekt. Ich versuche es mit einem Verfahren nach amerikanischem Vorbild, d.h. ich bediene mich abwechselnd aller drei Lösungen und nehme dabei gewisse stilistische Härten in Kauf.
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alsbald auf seinen persönlichen Geschmack und verzichtet darauf, zu einer intersubjektiv gültigen Entscheidung des Streitfalls zu gelangen. Im Gegenteil: Wenn sich Philosophinnen und Philosophen bemühen, intersubjektiv gültige Standards für den künstlerischen Status eines Gegenstandes und dessen ästhetische Qualität zu verteidigen, so stoßen sie in der öffentlichen Meinung oft auf Widerstand. Nicht nur verzichten die meisten im Streitfall darauf, ihren persönlichen Geschmack für intersubjektiv verbindlich zu halten; umgekehrt verbitten sie sich auch jede äußere Einmischung in Angelegenheiten ihres persönlichen Geschmacks. Letztlich hat der persönliche Geschmack seinen Ort in einer Privatsphäre, für deren individuelle Gestaltung niemand sich öffentlich rechtfertigen will. Daß die meisten Werke der zeitgenössischen Kunst dem subjektiven Geschmack vieler Menschen nicht entsprechen, motiviert diese nicht etwa dazu, die Maßstäbe ihres Geschmacks in Frage zu stellen, sondern dazu, diesen Werken die Anerkennung ihres künstlerischen Status zu verweigern. Neben den philosophischen Verfechterinnen intersubjektiv gültiger ästhetischer Maßstäbe sind es die Kunstschaffenden, die sich mit einer Verortung der ästhetischen Fragen nach der Kunst und ihrer ästhetischen Qualität in Privatsphären schwerlich abfinden können. Schließlich ist es ihr Anspruch, mit ihren Werken nicht nur den subjektiven Geschmack dieser oder jener Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen zu befriedigen, sondern künstlerischen Maßstäben zu genügen, deren Geltung unabhängig ist von jedwedem lediglich subjektiven Geschmack.2 Wer nun – sei es als Philosophin oder Kunstschaffende – den ästhetischen Formalismus ablehnt und die Auffassung vertritt, daß Kunstwerke wesentlich Zeichen seien und daß die ihnen angemessene Rezeption einen Akt ästhetischer Reflexion und Interpretation einschließe, muß vor dem Hintergrund der geschilderten, in der Öffentlichkeit vorherrschenden ästhetischen Vorurteile mit dem folgenden Problem rechnen: Die Kunstschaffenden können Rezipientinnen und Rezipienten ihrer Werke nur in der Öffentlichkeit finden. Sie fordern von der Öffentlichkeit eine Bereitschaft, ihre Werke als ästhetische Zeichen zu verstehen, ästhetisch über sie zu reflektieren. Diese Bereitschaft ist in einer Öffentlichkeit, die dazu tendiert, ästhetische Fragen in der Privatsphäre des subjektiven Geschmacks zu verorten, kaum vorhanden. Ohne diese Bereitschaft besteht jedoch die Gefahr, daß die Werke der Kunstschaffenden gar keine Gelegenheit finden, das ästhetische Zeichenpotential, das sie haben oder haben mögen, zu entfalten. So wie eine Äußerung, die von einer Sprecherin als Zeichen zum Zweck der Mitteilung einer Bedeutung gemacht wird, dabei aber nur auf taube Ohren stößt, in ihrem Zeichenpotential ungenutzt bleibt und keine 2 Die These, daß künstlerische Maßstäbe unabhängig seien von dem subjektiven Geschmack von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, impliziert nicht die Behauptung, diese Maßstäbe seien in ihrer Geltung universal und ahistorisch. Sie ist vielmehr kompatibel mit dem Verständnis dieser Maßstäbe als intersubjektiv gültiger kultureller Errungenschaften, die historischem Wandel unterliegen.
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Bedeutung entfaltet (sofern diese Äußerung ihre Bedeutung nicht allein schon daraus bezieht, daß sie als Vorkommnis eines Zeichentyps kodifiziert ist, dessen Interpretation ein entsprechender Zeichenkode bereitstellt), kann ein Kunstwerk sein ästhetisches Zeichenpotential nicht entfalten, wenn es in der Öffentlichkeit keine Rezipientinnen oder Rezipienten findet, die bereit sind, in einer ästhetischen Reflexion sein Zeichenpotential zu erkunden, es zu interpretieren und ihm so eine Bedeutung zukommen lassen. Das Problem der Kunstschaffenden erwächst also daraus, daß sie für die Vollendung ihrer Arbeit auf die Kooperation der Öffentlichkeit angewiesen sind. Sie dürfen um diese Kooperation aber nicht dadurch werben, daß sie sich den Maßstäben eines subjektiven Geschmacks anpassen. Das heißt, sie sind auf eine Kooperation von Leuten angewiesen, deren Geschmack sie mit ihren Werken verstören, die sie eher abschrecken als für sich gewinnen. Entsprechend schwer haben es die Vertreterinnen einer philosophischen, kognitivistischen Ästhetik, die den theoretischen Rahmen für die Kooperation zwischen den Kunstschaffenden und der Öffentlichkeit bereitstellen und in der Öffentlichkeit für die Bereitschaft werben, sich in der Auseinandersetzung mit den Werken von Kunstschaffenden nicht auf den je eigenen subjektiven Geschmack zu verlassen, sondern sich auf eine ästhetische Reflexion einzulassen und sich um ein angemessenes ästhetisches Verstehen des Werks zu bemühen. Prominentes Beispiel für einen Konflikt zwischen Kunstschaffenden und Öffentlichkeit sind die Äußerungen, die der Komponist Karlheinz Stockhausen über die Terrorattacken auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 gemacht hat. Im Rahmen eines Pressegesprächs zum Auftakt des Hamburger Musikfests 2001, das am 16. September, also nur wenige Tage nach diesen Terrorattakken, live im Radio übertragen wurde, sagte Stockhausen, diese Attacken seien »das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat«.3 Die Öffentlichkeit reagierte empört. Unter dem Druck dieser Empörung wurden alle vier im Rahmen des Hamburger Musikfests geplanten Konzerte mit Werken von Karlheinz Stockhausen abgesagt, die der Künstler selbst hatte dirigieren wollen. Stockhausen bedauerte seine Äußerungen ausdrücklich. Unverändert empört reagierte die Öffentlichkeit auf vergleichbare Ansichten, die der britische Künstler Damien Hirst am Vorabend des ersten Jahrestages dieser Ich zitiere die Passage des Pressegesprächs mit Karlheinz Stockhausen, in deren Kontext die umstrittene Äußerung gefallen ist: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. – Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten …« (Quelle im Internet über die Homepage von Karlheinz Stockhausen zugänglich: MusikTexte, 69 ff.) 3
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Terrorattacken in einem von der BBC live übertragenen Interview äußerte. Hirst sagte in diesem Interview wörtlich: »The thing about 9/11 is that it’s a kind of artwork in its own right.« Und er fügte erklärend hinzu: »It was wicked, but it was devised in this way for this kind of impact. It was devised visually.«4 Ebenso wie vor ihm Stockhausen beeilte sich auch Hirst angesichts der ihm entgegenschlagenden öffentlichen Empörung, sich für die Äußerung seiner ästhetischen Anerkennung für die Terrorattacken auf das World Trade Center zu entschuldigen. Wer nun, wie z. B. Max Goldt, mit den Äußerungen Stockhausens sympathisiert, dabei aber auch Verständnis hat für die öffentliche Empörung über diese Äußerungen, hält diese Entschuldigungen für unangebracht, rät aber gleichzeitig davon ab, die Öffentlichkeit mit derartigen Äußerungen zu überfordern.5 Schon Stockhausen, aber vor allem Hirst, dem die öffentliche Empörung über Stockhausens Äußerungen hätten bekannt sein können, hätten ihre Äußerungen besser unterlassen, sie konnten nicht mit Verständnis rechnen, ein Mißverständnis dagegen war unvermeidlich. Es ist gleichwohl nicht ausgeschlossen, daß beide Provokateure von einem ästhetischen Standpunkt, den einzunehmen der Öffentlichkeit schwer fällt, Recht haben könnten. Vor den Terrorattacken auf das World Trade Center hatten sich – im Gefolge u. a. von Jacques Derrida und Jean Baudrillard und unter den Stichwörtern der »écriture« (des Textcharakters alles Wirklichen)6 und der »virtuellen Realität«7 – viele von uns daran gewöhnt, den Unterschied zwischen Zeichen für Gegenstände und Ereignisse und wirklichen (und damit ohne äußere Zeichenvermittlung erlebbaren) Gegenständen und Ereignissen gering zu schätzen. Durch die Terrorattacken fühlten und fühlen wir uns nun existentiell bedroht und damit plötzlich wieder und im wahrsten Sinn des Wortes auf den Boden der Tatsachen gestellt – und dies, obwohl die meisten von uns von diesen Attacken nur aus den Medien erfuhren. Ein derartig bedrohlicher Schrecken konnte nur von Ereignissen ausgehen, die wirklich passiert waren. Im Schrecken angesichts der Terrorattacken schien sich die Wirklichkeit in ihrer Übermächtigkeit über bloße Zeichen zurückzumelden und keinen Raum für Interpretationen oder gar ästhetische Reflexionen über ihren möglichen Zeichencharakter zu lassen. Entsprechend schien Erstarrung in Schrekken die einzig angemessene Reaktion zu sein. Auch vor dem Hintergrund dieser Schreckensstarre konnte die Reaktion auf Stockhausens Äußerungen nur empörte Zurückweisung sein. Mutete uns Stockhausen doch zu, »unser Gehirn umzustellen«, statt in der Schreckensstarre zu verharren. Als Zumutung erschien dieses Ansinnen nicht zuletzt deshalb, weil es unterstellte, daß uns auch angesichts eines Siehe den Bericht in der Ausgabe von The Guardian vom 11. September 2002. Siehe die Kurzgeschichte von Max Goldt, die die Süddeutsche Zeitung in der Ausgabe vom 13./14. Juli 2002 unter dem Titel »11.09.01« auf S. VII der Wochenendbeilage veröffentlichte. 6 Siehe Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris 1967. 7 Siehe u. a. Jean Baudrillard: Les stratégies fatales, Paris 1983. 4 5
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derartig schrecklichen und bedrohlichen Geschehens noch ein gewisser Spielraum für ästhetische Erfahrungen verblieb. Auch nach einem Jahr fühlten wir uns noch nicht freier im Umgang mit diesen Terrorattacken; das zeigt die Empörung, mit der sich auch Hirst nach seinen Äußerungen über diese Terrorattacken konfrontiert sah. In diesem Konflikt zwischen Kunstschaffenden und der empörten Öffentlichkeit kann die philosophische Ästhetik nur den bescheidenen Versuch einer Vermittlung unternehmen. Sie kann zum einen analysieren, welche Mißverständnisse sich in diesem Konflikt offenbaren. Zum anderen kann sie versuchen zu erklären, was es heißt (und was es nicht heißt), über die Terrorattacken auf das World Trade Center ästhetisch zu reflektieren, um schließlich zu einer begründeten Einschätzung des ästhetischen Zeichenpotentials dieser Terrorattacken zu kommen, zu einer Antwort auf die Frage nach ihrem Status als Kunstwerke.
I. Mißverständnisse Wer seinem subjektiven Geschmack gemäß über den künstlerischen Status eines Gegenstandes und dessen ästhetische Qualität urteilt, urteilt letztlich nur darüber, ob ihm dieser Gegenstand persönlich gefällt. Die Maßstäbe des persönlichen Geschmacks verschiedener Individuen können erheblich voneinander abweichen. Für all diese Maßstäbe gilt jedoch weitgehend einhellig, daß sie von den Maßstäben moralischer und rechtlicher Billigung nicht deutlich unterschieden werden: Was immer es sein mag, was dieser oder jener Person gefällt, es kann nur dasjenige persönlich gefallen bzw. als schön empfunden und beurteilt werden, was moralisch und rechtlich in keiner Weise anstößig erscheint. In dieser Nichtunterscheidung zwischen dem Schönen und dem Guten lebt die antike Vorstellung eines einheitlichen Maßstabs für das Schöne und Gute fort, die in der deutschen Romantik eine nachhaltige Wiederbelebung erfahren hat. Wer nun aber nicht zwischen den Maßstäben für das Schöne und Gute trennt und Aussagen über den künstlerischen Status und die ästhetische Qualität eines Gegenstandes als Aussagen mißversteht, die auf der Anwendung eines einheitlichen Maßstabs für das Schöne und Gute beruhen, der wird unweigerlich unterstellen, daß Stockhausen oder Hirst, wenn sie die Terrorattacken auf das World Trade Center als Kunstwerke einschätzen, diese auch moralisch und rechtlich und politisch billigen. Angesichts dieser Unterstellung ist die öffentliche Empörung über diese Beurteilung geradezu zwingend. Es ist jedoch diese Unterstellung, die einer näheren Überprüfung nicht standhält. Zunächst aber ist zu bedenken, daß der grundgesetzliche Schutz der Kunst einer Nichtunterscheidung der Maßstäbe für ästhetische Qualität und moralische und rechtliche Güte Vorschub leistet. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert in seinem Artikel 5 mit der »Freiheit der Kunst« nicht nur die Freiheit der Kunstschaffenden, Werke jedweder Art zu produzieren, sondern auch
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den freien Zugang der Kunstschaffenden zur Öffentlichkeit ebenso wie umgekehrt den freien Zugang der Öffentlichkeit zum Kunstgeschehen. Mahrenholz spricht in seinem Kommentar zu Artikel 5 des Grundgesetzes denn auch von der »Freiheit von Kunst und Öffentlichkeit, einander zu begegnen.«8 Die durch das Grundgesetz garantierte Freiheit der Kunst reicht jedoch nur so weit, wie es dieses Gesetz zuläßt. Mahrenholz betont, daß die Beschränkung der Reichweite der Kunstfreiheit, da diese grundgesetzlich garantiert ist, »nur vom Grundgesetz selbst her zu bestimmen« sei. Stichwörter sind hier »Leib und Leben«, »Eigentum« und »persönliche Ehre«.9 Das bedeutet, daß sich die Kunst, die sich im Schutz des Grundgesetzes entfalten kann, die Grenzen respektieren muß, die dem Schutz von Leib und Leben, dem Eigentum und der persönlichen Ehre aller Menschen dienen. Bei der Begegnung von Kunst und Öffentlichkeit darf niemand an Leib und Leben, Eigentum oder persönlicher Ehre zu Schaden kommen. Jeder Gegenstand, jedes Ereignis und jede Aktion, die diese Grenzen verletzt, ist grundgesetzwidrig. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß jenseits des grundgesetzlich garantierten Freiraums für die Entfaltung künstlerischer Kreativität Gegenstände oder Ereignisse oder Aktionen vorkommen, die im Prozeß einer ästhetischen Reflexion über ihr ästhetisches Zeichenpotential künstlerische Qualität offenbaren und sich damit als Kunstwerke erweisen. Die ästhetischen Maßstäbe, denen derartige grundgesetzwidrige Kunstwerke genügen, decken sich offensichtlich nicht mit den Maßstäben für das, was gut und recht ist. Wenn Stockhausen und Hirst die Terrorattacken auf das World Trade Center als Kunstwerke beurteilen, so legen sie dabei offensichtlich ästhetische Maßstäbe zugrunde, die sich nicht an den Maßstäben für das Gute und Rechte und damit auch nicht an den Maßstäben eines subjektiven Geschmacks orientieren. Nach diesen unabhängigen und intersubjektiven ästhetischen Maßstäben beurteilen sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihre eigenen Werke. Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, daß sie dazu bereit sind, sich in ihrer künstlerischen Kreativität über die dieser Kreativität durch das Grundgesetz gesetzten Grenzen hinwegzusetzen. Mit ihrer künstlerischen Anerkennung grundgesetzwidriger Aktionen billigen sie diese nicht auch moralisch. Ihre ästhetischen Provokationen, so mißverständlich diese auch sein mochten, disqualifizieren sie in moralischer Hinsicht durchaus nicht. Denn das künstlerisch Gelungene und das grundgesetzlich Erlaubte sind nicht deckungsgleich; vieles, was erlaubt ist, entbehrt jeder künstlerischen Qualität, und manches, das nicht erlaubt ist, mag diese Qualität aufweisen; die Schnittmenge zwischen beiden ist jedoch nicht leer – andernfalls wäre der grundgesetzliche Schutz der Kunst gegenstandslos. Stockhausen und Hirst halten sich mit ihren eigenen Werken an die Grenzen dessen, was das Grundgesetz erlaubt – und stellen damit unter Beweis, daß das, was Ernst Gottfried Mahrenholz: Freiheit der Kunst, in: Ernst Benda, Werner Maihofer, HansJochen Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, ²1994, 1289–1338, hier: 1290. 9 Mahrenholz, a. a. O., 1309. 8
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das Grundgesetz erlaubt, und das, was dem persönlichen Geschmack derjenigen entspricht, die die Öffentlichkeit ausmachen, nicht deckungsgleich sind. Wenn sie ästhetische Anerkennung für Ereignisse äußern, die weit jenseits dieser Grenzen liegen, dann mag darin eine provokative Sehnsucht nach mehr kreativer Freiheit zum Ausdruck kommen, als ihnen das Grundgesetz gewährt. Aber eine Billigung dieser Grenzüberschreitung, und geschähe sie auch allein in künstlerischer Absicht, ist darin nicht zwangsläufig zu sehen, geschweige denn ein Aufruf zu terroristischen Aktionen unter dem Deckmantel der Kunst. Ein weiteres Mißverständnis bleibt anzusprechen: Können auch solche Ereignisse oder Aktionen den Status von Kunstwerken haben bzw. erlangen, die nicht in künstlerischer Absicht geschaffen wurden, die keine Werke von Kunstschaffenden sind? Dem in der Öffentlichkeit gängigen Begriff eines Kunstwerks zufolge (sofern überhaupt zu Recht von nur einem solchen Begriff gesprochen werden kann), ist der künstlerische Status und mit ihm ästhetische Qualität solchen Gegenständen vorbehalten, die Artefakte sind, und zwar künstlerische Artefakte, also Gegenstände, die von Künstlerinnen oder Künstlern in künstlerischer Absicht als Kunstwerke hergestellt worden sind. Auf der Grundlage dieses Begriffs eines Kunstwerks scheint es von vornherein ausgeschlossen zu sein, die Terrorattacken auf das World Trade Center als Kunstwerke zu betrachten – es sei denn, die Terroristen und ihre Hintermänner würden als Kunstschaffende angesehen, die die Terrorattacken in ausschließlich künstlerischer Absicht geplant und durchgeführt hätten. Diese Ansicht ist offensichtlich unplausibel. Aber ebenso unplausibel wäre es, Stockhausen oder Hirst diese Ansicht zu unterstellen. Denn auch solche Gegenstände, Ereignisse oder Aktionen können zu Gegenständen ästhetischer Reflexion gemacht werden und im Prozeß dieser Reflexion den Status von Kunstwerken erlangen, die nicht von Kunstschaffenden in künstlerischer Absicht hergestellt oder inszeniert wurden und die daher keine künstlerischen Artefakte sind. Der künstlerische Status eines Gegenstandes ist nicht ontologischen, sondern pragmatischen Ursprungs – eine Einsicht, die in der Tradition der bildenden Kunst zuerst von Marcel Duchamp in seinen Ready-mades umgesetzt worden ist und deren philosophische Grundlagen u. a. Arthur Danto analysiert hat.10 Ebenso wie kein Gegenstand seiner materialen Beschaffenheit oder phänomenalen Erscheinung nach ein Zeichen ist, sondern erst zum Zeichen wird, wenn er von Personen als Zeichen verwendet oder verstanden wird, ist kein Gegenstand als solcher ein Kunstwerk; ein Gegenstand wird erst zum Kunstwerk, wenn er von Personen als Kunstwerk verstanden wird. Statt zu fragen, ob ein bestimmter Gegenstand ein Kunstwerk sei oder nicht, sollten wir daher besser fragen, ob dieser Gegenstand im Prozeß einer ästhetischen Reflexion ästhetisches Zeichenpotential entfaltet und sich als Kunstwerk erweist oder nicht. Ob sich Siehe Arthur Danto: The Transfiguration of the Commonplace (Cambridge/Mass. 1981) und Art After the End of Art (Princeton/New Jersey 1997) sowie von der Autorin: Zeichenprozeß und ästhetische Erfahrung, München 2001. 10
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aber ein Gegenstand im Prozeß einer ästhetischen Reflexion als Kunstwerk und damit als Träger ästhetischer Qualität erweist oder nicht, das hängt zum einen von seinen phänomenalen Eigenschaften und zum anderen von der kulturellen Kompetenz und Phantasie der Subjekte dieser Reflexion ab. Keinesfalls jedoch ist die ästhetische Beurteilung eines Gegenstandes eine Frage des persönlichen Geschmacks. Daher sollte man die provokativen Äußerungen von Stockhausen und Hirst über die Terrorattacken auf das World Trade Center nicht als Äußerungen eines persönlichen (und besonders abartigen) Geschmacks mißverstehen.
II. Ästhetische Reflexionen über die Terrorattacken auf das World Trade Center Das von der breiten Öffentlichkeit als Zumutung empfundene Ansinnen, über Naturkatastrophen, Unglücke und Verbrechen ästhetisch zu reflektieren, ist nicht neu. In der Tradition ästhetischer Reflexion und Praxis ist dieses Ansinnen immer wieder an die Öffentlichkeit herangetragen worden. Im 18. Jahrhundert war es vor allem die Ästhetik des Erhabenen, die aufmerksam machte auf ästhetische Dimensionen der emotionalen Erfahrung übermächtiger und bedrohlicher Naturereignisse. Im 19. Jahrhundert berief sich Nietzsche in seiner Ästhetik des Dionysischen auf die bacchantischen Feiern, die in der Antike zu Ehren des Gottes Dionysos veranstaltet wurden und in deren Verlauf die Teilnehmenden im Rausch junge Opfertiere zerrissen und roh verzehrten. Angesichts von »Vergnügungen des Krieges« erleben wir, so Nietzsche, einen Zustand des Rausches, der kathartische, reinigende Wirkungen hervorrufen soll.11 Sigmund Freud hat den Opfertod Christi und die ihm zugeschriebene erlösende Wirkung im Rekurs auf diese Tradition gedeutet.12 Auch Ernst Jünger stellt sich mit seiner literarischen Ästhetisierung apokalyptischen Grauens in diese Tradition, wenn er z. B. in den Marmorklippen schreibt: »Die Menschenordnung gleicht dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß«13, oder wenn er dort den »Schauer« beschreibt, den seine Figuren fühlen, als sich in ihnen »die Lust zu leben und die Lust zu sterben« mystisch vereinigen,14 und er schließlich feststellt: »So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Untergangs auf«.15
Friedrich Nietzsche:Werke, hg. v. Hans Schlechta, München 1999, Bd. II, 99. Siehe Sigmund Freud: Unser Verhältnis zum Tode, in: ders.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe Bd. IX, Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt 1974, 33–60, hier 52. Siehe auch a. a. O., 436 u. 535. 13 Ernst Jünger: Auf den Mormorklippen, Stuttgart 1967, 56. 14 Ebd., 65. 15 Ebd., 126. 11 12
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Eine solche dionysische Ästhetisierung des Schreckens ist zynisch. Teil dieses Zynismus ist das Verständnis des Kunstwerks als Artefakt eines genialen und als solchen gottähnlichen Künstlers, der sich über alle moralischen und rechtlichen Einschränkungen seines Tuns erhaben dünkt. Sein Werk erscheint einem solchen Genie als ein Mikrokosmos, der in seinen Strukturen dem wirklichen Kosmos auch darin ähnlich ist, Terror, Krieg und Tod zu umfassen. Vertreter einer solchen Genieund Werkästhetik können sich nicht auf Kant oder Hegel berufen, obwohl diese die Auffassung vertreten, daß Kunstschaffende sich durch Genialität auszeichnen. Denn in genialen Werken, wie Kant und Hegel sie begreifen, manifestiert sich nichts anderes als die Schönheit des (von Gott erschaffenen und als solchen vor allem guten) Kosmos. Auf der Grundlage dieser nietzscheanischen Ästhetik kann die ästhetische Würdigung eines künstlerischen Artefakts von der moralisch-politischen Legitimation seiner Hersteller und deren Absichten nicht überzeugend getrennt werden. Auch im Hinblick auf den Zweck einer Reinigung – wovon auch immer – ist nicht jedes Mittel Recht, und die Kunst sollte sich davor hüten, sich in solcher Weise funktionalisieren zu lassen. Das provokative Ansinnen von Stockhausen und Hirst, die Terrorattacken auf das World Trade Center ästhetisch zu betrachten, läßt sich in der Tradition der dionysischen Ästhetik Nietzsches verstehen bzw. mißverstehen. Im Licht dieses Verständnisses wäre ihr Ansinnen zynisch und damit moralisch zu verurteilen. Dieses Verständnis ist jedoch nicht zwingend. Begreifen wir es als Ansinnen, in eine ästhetische Reflexion über diese Attacken einzutreten und sie als ästhetische Zeichen zu interpretieren, so erweist sich dieses Ansinnen als moralisch keineswegs anstößig. Wer sich auf eine solche Reflexion einläßt, muß sich aber nicht zwangsläufig der positiven Einschätzung des ästhetischen Zeichenpotentials dieser Attakken anschließen, die sowohl in Stockhausens als auch in Hirsts Kommentaren zum Ausdruck kamen. In der ästhetischen Reflexion über einen Gegenstand, in der das ästhetische Zeichenpotential dieses Gegenstandes erkundet wird, geht es nicht um die Erfahrung eines Rausches und eine durch den Rausch vermittelte kathartische Reinigung. Wer über einen Gegenstand ästhetisch reflektiert, versucht, diesen als freies, ästhetisches Zeichen, als Kunstwerk zu betrachten. Freie ästhetische Zeichen sind Zeichen eines Zeichensystems, das im Vollzug der entsprechenden ästhetischen Reflexion allererst entworfen wird; der Entwurf dieses Zeichensystems erfolgt in der Form einer Kontextualisierung des Gegenstandes, dessen ästhetisches Zeichenpotential erkundet werden soll. Von anderen Arten von Zeichen unterscheiden sich freie ästhetische Zeichen dadurch, daß sie ihre Bedeutung verkörpern und daß sie vielfältige Interpretationen zulassen, von denen jede das Zeichen in seiner Bedeutung als inkommensurabel erscheinen läßt.16 Zu dem Konzept eines freien ästhetischen Zeichens, das ich hier zugrunde lege, siehe von der Verfasserin Zeichenprozeß [Anm. 10]. 16
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Wo könnte eine ästhetische Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center ansetzen? Da es Karlheinz Stockhausen und Damien Hirst waren, die diesen Terrorattacken einen künstlerischen Status zuerkannt haben, liegt es nahe, diesen Ansatz in ihrem jeweiligen Werk zu suchen. Zuvor ist jedoch zu klären, was genau der Gegenstand dieser ästhetischen Reflexion ist. In der ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center geht es nicht allein um diese verbrecherischen Aktionen und ihre unmittelbaren destruktiven Konsequenzen, sondern auch um ihre bildliche Darstellung in den Übertragungen der verschiedenen Fernsehanstalten. Hirst hat die Vermutung geäußert, daß diese Attacken nicht nur auf die Destruktion des World Trade Center und die Ermordung der sich dort und im Umkreis befindenden Personen angelegt waren, sondern auch auf den visuellen Effekt der entsprechenden Fernsehübertragungen. Es geht hier allerdings nicht darum, über Teilaspekte der Planung dieser Terrorattacken zu spekulieren, sondern darum, auf diejenigen Aspekte der Attacken hinzuweisen, die für die Art der medialen Information über diese Attacken, für die entsprechenden Fernsehbilder und den durch diese ausgelösten weltweiten Schock konstitutiv waren. Für die Attacken auf das World Trade Center hatten die Terroristen zwei Flugzeuge gekapert. Diese wurden im Abstand von ca. 20 Minuten in die beiden Türme des World Trade Center gesteuert. Nach der Attacke auf den ersten Turm sendeten Fernsehanstalten schon nach wenigen Minuten live vom Unglücksort. Das führte dazu, daß die Attacke auf den zweiten Turm live im Fernsehen übertragen wurde und somit Millionen Menschen in aller Welt zu Augenzeugen dieser Attacke wurden. Als Augenzeugen fühlten sie sich den Terrorattacken hilflos ausgesetzt und spürten in voller Wucht ihre destruktive Kraft. Ausschlaggebend für die visuelle Kraft der Bilder von den Terrorattacken war auch, daß diese Attacken bei schönem Wetter und entsprechend klarer Sicht stattfanden. Auf derartiges Wetter waren die Terroristen angewiesen, denn sie flogen die gekaperten Flugzeuge auf Sicht, ohne Hilfe der elektronischen Steuerung. Keine Wolke und kein Dunsthauch verschleierte den Blick auf die brennenden und schließlich zusammenstürzenden Türme des World Trade Center, aus denen sich die in den Flammen gefangenen Verzweifelten in den Tod stürzten. Aus der Perspektive der Fernsehzuschauer mußten die Terrorattacken wie die perfekte Inszenierung einer Apokalypse wirken. Die Bilder erinnerten an Schreckensvisionen der Hölle und des jüngsten Gerichts, wie sie die Malerei seit dem Mittelalter hervorgebracht hat. Nicht allein die Terrorattacken, die Zerstörung des World Trade Centers und die Ermordung Tausender unschuldiger Menschen haben uns erschüttert; was sich vor allem in unser Gedächtnis eingegraben und entsprechende apokalyptische Assoziationen hervorgerufen hat, waren die weltweit übertragenen Bilder dieser Attacken im Fernsehen. Die emotionale Wucht, die von diesen Bildern ausging, beruhte jedoch auch auf der Gewißheit, daß diese Bilder Bilder von wirklichen Ereignissen waren, deren Auswirkungen sich niemand durch einen Knopfdruck oder Mausklick entziehen konnte.
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All diese Faktoren erschweren eine ästhetische Reflexion über die Terrorattakken und die entsprechenden Fernsehbilder. Über diese Attacken und deren Bilder ästhetisch zu reflektieren erfordert, sie als freie Zeichen zu verstehen, als Zeichen eines Zeichensystems, das nicht als Kode bereitliegt, sondern allererst konstituiert werden muß. Zu diesem Zweck müssen wir diese Attacken und deren Bilder in verschiedene Kontexte stellen. In der Konstruktion dieser Kontexte sind wir aber nicht so frei, wie es die ästhetische Reflexion eigentlich verlangt, weil die visuelle Kraft der Bilder uns zu Assoziationen von Ansichten der Apokalypse zwingt, die wir aus unserer Reflexion kaum ausblenden können. Hier fehlt die Erfahrung der Fremdheit eines Gegenstandes, der Unfähigkeit, ihn als Zeichen in bezug auf ein bekanntes Zeichensystem zu deuten, die zu einer ästhetischen Reflexion über diesen Gegenstand viel eher motiviert als die Erfahrung des Ausgeliefertseins an ein schreckliches Geschehen. Orientiert man sich in der ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center und die entsprechenden Fernsehbilder an dem kompositorischen Werk von Karlheinz Stockhausen, so bietet sich zum Zweck der Kontextualisierung (der Konstruktion eines entsprechenden Zeichensystems) dessen Opernzyklus Licht an. An dem Werk Licht arbeitet Stockhausen seit 1977, die Gesamtkomposition ist noch nicht ganz abgeschlossen. Es handelt sich dabei um einen Zyklus von insgesamt sieben Opern, entsprechend den sieben Tagen der Woche. Jede Oper ist einem Wochentag gewidmet. Die Komposition geht aus von drei Grundmelodien, von denen jede einer der drei Zentralfiguren gewidmet ist: der Urmutter Eva, dem Erzengel und Retter Michael sowie Luzifer, der Verkörperung des bösen Feindes. Die Montagsoper ist Eva gewidmet, ihre zentralen Motive sind Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Geburt. Die Dienstagsoper inszeniert den Konflikt zwischen Michael und Luzifer in Form eines Spiels, in dem es um den Kampf um Fortgang oder Ende der Zeit geht. In der Mittwochsoper erscheinen alle drei Zentralfiguren in einer Art kooperativer Auseinandersetzung. Die Donnerstagsoper ist Michael gewidmet, der Luzifer zwar nicht besiegen, dem Universum jedoch – unter Berufung auf Gott – eine positive Perspektive aufzeigen kann. Die Freitagsoper thematisiert die Versuchung Evas durch Luzifer und Michael. Die Samstagsoper ist Luzifer gewidmet, ihre Themen sind Abschied und Tod, aber auch der Übergang zum Licht. Die Sonntagsoper schließlich inszeniert die mystische Vereinigung von Eva und Michael, aus der das neue Leben hervorgeht, wie es die Montagsoper gestaltet. Die Rede von einem ›Opernzyklus‹ ist hier ganz wörtlich zu verstehen, denn das inszenierte kosmische Geschehen ist als Kreislauf von archetypischen Geschehnissen und Auseinandersetzungen zwischen Urkräften angelegt, die einander letztlich nicht ausschalten können.17 Siehe zum Konzept des Opernzyklus Licht insbesondere Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik 1977–1984, Bd. 6, Interpretation, ausgewählt und zusammengestellt durch Christoph von Blumröder, Köln 1989, 152 ff. 17
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In dem Pressegespräch am 16. September sagte Stockhausen selbst folgendes zu diesem Werk: »… da passiert also ein Weltzeitalter in einem Werk, das jetzt im Endeffekt dann 28 Stunden dauert …«.18 Und er verwies auf die Aktualität der in diesem Werk auftretenden Figuren mit den folgenden Worten: »Ich bete jeden Tag zu Michael, aber nicht zu Luzifer. Also das habe ich mir versagt. Aber der ist sehr präsent, also in New York zur Zeit. Doch.«19 Stockhausen vertritt die Auffassung, daß alles Musik sein kann, sofern es nur eine Struktur in einer raumzeitlichen Ordnung ist, die sich in einer Abfolge von Geräuschen und Phasen der Abwesenheit von Geräuschen oder Stille manifestiert. Er spricht von einer »Gleichberechtigung von Ton und Geräusch«20 sowie davon, daß »heutzutage … für einen Komponisten jeder Klang potentiell musikalisches Material [ist]«.21 Entsprechend kann er nicht nur japanische Teezeremonien als tänzerisch-musikalische Ereignisse, sondern auch schreckliche, erschütternde Ereignisse als »Konzerte« bzw. als Operninszenierungen verstehen, als eine Art musiktheatralisches Geschehen. In dieser Auffassung äußert sich die musikalische Variante der Position, die Marcel Duchamp schon 1913 mit seinen ersten Ready-mades für den Bereich der bildenden Kunst vertreten hat. Stockhausens Aufforderung, die Terrorattacken auf das World Trade Center als Kunstwerk zu betrachten, läßt sich als die Aufforderung verstehen, dieses wirkliche Ereignis als integralen Bestandteil seines Opernzyklus Licht zu sehen und zu hören – wenn er selbst eine solche Integration auch nicht ausdrücklich erwogen hat. Naheliegend ist die Integration dieses Ereignisses in die Luzifer gewidmete Samstagsoper, so daß die von Stockhausen theatralisch und musikalisch inszenierte Apokalypse in ihrer emotionalen Wirksamkeit durch ein wirkliches Ereignis mit apokalyptischen Dimensionen gesteigert, gleichzeitig aber auch mit der hoffnungsvollen Perspektive der Auferstehung verbunden wird. Soweit ich sehe, ist das ästhetische Potential, das die Terrorattacken im Zuge dieser Integration gewinnen, allerdings bescheiden. Apokalyptisch erscheinen diese Attacken in den entsprechenden Fernsehbildern auch unabhängig von einer ästhetischen Reflexion, die diese in den Kontext von Stockhausens Opernzyklus Licht stellt. Sie entfalten in diesem Kontext kein zusätzliches Zeichenpotential, erscheinen nicht als Zeichen, die in ihrer spezifischen Erscheinungsweise eine multiple und inkommensurable Bedeutung verkörpern. Ich zögere daher, mich Stockhausens Auffassung, diese Attacken seien ein großes Kunstwerk, anzuschließen.
MusikTexte [Anm. 3], 69 ff. Ebd. 20 Vgl. Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik 1970 –1977, Bd. 4, Werk-Einführungen, Elektronische Musik, Weltmusik, Vorschläge und Standpunkte, Zum Werk Anderer, ausgewählt und zusammengestellt durch Christoph von Blumröder, Köln 1978, 392. 21 Ebd., 393. 18 19
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Was könnte sich Stockhausen davon versprechen, der Wirklichkeit dieser Terrorattacken Eingang in seine Kunst, in seinen Opernzyklus Licht zu verschaffen? Neben dem Motiv, seiner Kunst – gemäß ihrem kosmischen Anspruch und im Dienst des von ihm entwickelten Konzepts der »Raummusik« – zu gesteigerter emotionaler Wirksamkeit zu verhelfen, könnte die Hoffnung eine Rolle gespielt haben, jeder Aufführung von Teilen des Opernzyklus Licht, die (als Aufführung eines in einer Partitur festgehaltenen Musikstücks) ein wiederholbares Ereignis vom durch die Partitur festgelegten Typ ist, eine Aura der Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit zu verschaffen. Schließlich sind die Terrorattacken auf das World Trade Center gerade wegen ihrer Zerstörungsmacht unwiederholbare Ereignisse. Ähnlich wie der von Gott geschaffene Kosmos einmalig und einzigartig ist, nicht aber eines unter vielen Exemplaren eines Typs, gewinnt ein »Konzert«, das ein wirkliches, unwiederholbares Ereignis zum Bestandteil hat, eine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit und damit eine künstlerische Aura, wie sie die wiederholbare Aufführung eines Musikstücks als solche niemals erreichen kann. Wenn Stockhausen in seinen Schriften den kosmischen Charakter seines Opernzyklus’ Licht betont, wenn er sich in seiner Rolle des Komponisten und musikalischen »Meisters« als Herrscher über Leben und Tod stilisiert, der seiner Kunst alles und alle zu opfern bereit ist, Musizierende und Zuhörende gleichermaßen, dann provoziert er den Verdacht, sich und sein Werk in die Tradition der dionysischen Ästhetik Nietzsches zu stellen. Nicht von ungefähr ist Licht als eine Art kosmischer Schöpfung angelegt, dessen sieben Teile an die sieben Tage erinnern, in denen Gott die Welt erschaffen hat. Hinzu kommt, daß Stockhausen der messianischen Figur des Michael zum Teil autobiographische Züge verliehen hat.22 Im Licht von Nietzsches Ästhetik verstanden sind seine Äußerungen zu den Terrorattacken auf das World Trade Center jedoch zynisch und unakzeptabel. Der britische Künstler Damien Hirst ist einer breiteren Öffentlich vor allem durch seine Plexiglaskästen bekannt geworden, in denen ganze Tiere oder Teile von Tieren in Formaldehyd zu sehen sind. Ihr ästhetisches Zeichenpotential offenbaren diese Werke z. B. dann, wenn sie im Kontext von Sammlungen naturhistorischer Museen, von Kuriositätenkabinetten, medizinischen Labors und den Auslagen von Metzgerläden, aber auch von Werken des britischen Malers Francis Bacon oder des Wiener Aktionskünstlers Hermann Nitsch betrachtet werden. Insbesondere im Kontext des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch, das in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Wien für erhebliches Aufsehen und öffentliche Empörung sorgte, wird deutlich, in welcher Weise auch Hirst in seinen Formaldehydarbeiten Grenzen erkundet, indem er sie überschreitet und damit in Frage stellt. Siehe dazu auch Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik [Anm. 20], 508 u. 539, und Bd. 5, Komposition, ausgewählt und zusammengestellt durch Christoph von Blumröder, Köln 1989, 12 f. 22
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In Nitschs Orgien Mysterien Theater wurden z. B. auf offener Bühne echte Tiere gekreuzigt, geschlachtet und zerfleischt, ihre Innereien wurden herumgeworfen, unter anderem auf weitgehend nackte Körper der beteiligten Aktionisten; neben roter Farbe wurde echtes Blut verspritzt. Nitsch ist vor einer weiteren Radikalisierung seines Konzepts des Orgien Mysterien Theaters nicht zurückgeschreckt und hat künstlerische Rituale der Selbstverletzung inszeniert. Seine Aktionen riefen immer wieder die Polizei auf den Plan, er wurde verhaftet und wegen »öffentlichen Ärgernisses« und »Religionsstörung« verurteilt.23 Nitsch ging es darum, Wirklichkeit künstlerisch zu instrumentalisieren, um seiner Kunst zu gesteigerter Wirksamkeit zu verhelfen. Er betonte, daß er bei seinen Aktionen echte Tiere, echte Innereien und echtes Blut verwendete. Seine Strategie ging auf. Indem er jedoch in den Kontext eines inszenierten Geschehens, das als solches Zeichencharakter hatte und damit im Vergleich zu wirklichem Geschehen zu reduzierter Wirksamkeit verurteilt zu sein schien, wirkliche Gegenstände integrierte, konnte er nicht verhindern, daß diese wirklichen Gegenstände ihrerseits Zeichencharakter erhielten – ohne allerdings ihre starke emotionale Wirksamkeit einzubüßen, die sie nur als wirkliche Gegenstände ausüben konnten. Das Verfahren, die Grenze zwischen einem Zeichen für etwas Wirkliches und dem Wirklichen, das es bezeichnet, zu unterminieren, läuft letztlich darauf hinaus, auch dem Wirklichen Zeichencharakter zuzugestehen – wenn auch den Charakter eines Zeichens, das das, was es bezeichnet, exemplifiziert und sich daher ontologisch von diesem gar nicht unterscheidet. Hirst füllt seine Plexiglaskästen mit dem Material, mit dem auch Nitsch gearbeitet hatte, mit dem Fleisch und dem Blut von Tieren. Ihm geht es jedoch nicht um die Inszenierung eines orgiastischen Tötungsaktes. In den Plexiglaskästen, schwimmend in Formaldehyd, werden die Tiere (oder Teile derselben) in ihrem Fleisch und Blut musealisiert. An die Stelle des Tötungsaktes tritt die Inszenierung des toten Tieres als Exemplar einer Gattung und als ein Wesen, hinter dessen uns vertrauter Oberfläche sich ein ebenso komplexes wie unappetitliches Innenleben verbirgt. Hirst stellt dieses Innenleben schonungslos zur Schau; er seziert die Tiere nicht einfach, sondern schneidet sie für uns auf, um sie vor unseren Augen auszubreiten und anzurichten. Dabei verweist die Form, in der er die aufgeschnittenen Teile eines Tieres vor uns ausbreitet, immer zurück auf das ganze Tier, das auf diese Weise vor unseren Augen als Lebewesen präsent bleibt, statt sich in einer konturlosen Masse zu verlieren oder zu einer bloßen Eßware zu mutieren. Hirsts Inszenierungen toter Tiere verkörpern den vielfältigen und in sich widersprüchlichen Umgang, den wir in unserer Kultur mit Nutztieren pflegen: Es sind Lebewesen, die wir uns eigentlich zu respektieren verpflichtet fühlen, die die meisten von uns aber ohne Bedenken essen (wie z. B. Kühe und Schweine)24, die wir aber auch als Projektionsflächen Vgl. Hermann Nitsch: Orgien Mysterien Theater / Orgies Mysteries Theater, Darmstadt 1969, 17. Siehe z. B. Damien Hirst: Shut Up and Eat Your Fucking Dinner, 1997 und The Little Piggy Went to Market, This Little Piggy Stayed at Home, 1996. 23 24
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unserer Furcht (Haifische)25 oder unserer Rührung (Kälbchen und Lämmchen)26 verwenden. In jedem Fall fühlen wir uns durch Hirsts Zurschaustellung dieser Tiere und Tierteile provoziert: Wir müssen angesichts des inszenierten Todes eines Lebewesens ausharren, statt ihn zu verdrängen, wir müssen Innereien anschauen, die ohne die vertraute, schützende Hülle vor uns ausgebreitet werden, so daß wir statt Appetit Ekel empfinden, Ekel vor etwas, das, weil es konserviert und musealisiert ist, unserem Zugriff entzogen ist und das wir daher nicht einfach wegwerfen können. Betrachtet man nun die Bilder von den Terrorattacken auf das World Trade Center im Kontext von Hirsts Formaldeytarbeiten, so erscheinen die beiden Hochhaustürme als riesige Glaskästen, in denen Menschen gefangen und tödlich bedroht sind, als Schaukästen, in denen menschliches Leid, menschliche Angst und menschliches Elend vor der Weltöffentlichkeit zur Schau gestellt werden. Plötzlich dringt das verletzliche Innere dieser Gebäude nach außen, deren makellose Fassade uns ein vertrauter Anblick war und deren Zerstörung vor unseren Augen abläuft als ein Geschehen, das uns erschüttert, dem wir uns aber nicht entziehen können und das umgekehrt unserem Zugriff entzogen ist. Es ist jedoch zu fragen, inwiefern die Terrorattacken auf das World Trade Center und deren Übertragung im Fernsehen, wenn sie im Kontext von Hirsts Formaldehydarbeiten als Zeichen verstanden werden, tatsächlich ein ästhetisches Zeichenpotential entfalten, in bezug auf das ihnen der Status von Kunstwerken zuerkannt werden kann. Da wurden Gebäude zerstört, die als architektonische Kunstwerke galten und gemeinhin als Verkörperungen kapitalistischer Macht angesehen wurden. Ihre glitzernde Fassade erwies sich als brüchig, sie konnten die Menschen, die sich in ihnen aufhielten, nicht schützen, sondern nahmen sie gefangen und setzten sie so dem sicheren Tod aus. Aber ist dies nicht lediglich eine Ausbuchstabierung der Hinsichten, in denen uns die Zerstörung des World Trade Centers – ganz ohne jede Anstrengung einer ästhetischen Reflexion – als apokalyptisches Grauen erschien? Daß die Zerstörung gerade des World Trade Centers (ebenso wie die gleichzeitige Beschädigung des Pentagon in Washington) von erheblicher Symbolkraft war und ist und daß diese Symbolkraft für die Terroristen bei der Auswahl ihrer Ziele eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte, wird niemand bestreiten. Aber allein diese symbolische Kraft läßt diese Terrorattacken ebensowenig wie die Bilder von ihrer Fernsehübertragung schon zu Kunstwerken avancieren. Die naheliegendste Deutung dieser Terrorattacken als Zeichen bewegt sich unweigerlich in konventionellen Bahnen: Da wurde mit den beiden Türmen des New Yorker World Trade Centers das weltweit wohl bekannteste Symbol der kapitalistischen Welt- und Wertordnung zerstört; mit diesen Kathedralen des Geldes verloren die kapitalistische Weltgemeinde und ihr Gott des Geldes ihren festen Ort in der Welt; ihre scheinbare Macht wurde als Ohnmacht entlarvt. Die Zerstörung 25 26
Siehe Damien Hirst: The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living, 1991. Siehe z. B. Damien Hirst: Mother and Child. Divided, 1990 und Away from the Flock, 1994.
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erfolgte an einem Ort, der als Herz der kapitalistischen Welt angesehen wurde. Und es wurden Menschen ermordet, die als individuelle Personen zunächst gar nicht in Erscheinung traten, die nur als Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft ins Visier der Terroristen geraten waren. Vor dem Hintergrund dieser übermächtigen konventionellen Symbolik erscheint mir das ästhetische Zeichenpotential dieser Terrorattacken eher gering. Angesichts dessen, daß diese Attacken wesentlich Akte der verbrecherischen Destruktion waren und keine Dimension der Sinnstiftung erkennen ließen, dürfte dieses Resultat nicht weiter verwunderlich sein. Über die Terrorattacken ästhetisch reflektieren heißt nicht, sie politisch oder moralisch billigen. Ebensowenig bedeutet es, sie unter dem Deckmantel der Kunst zu legitimieren oder die Attentäter zu Künstlern zu stilisieren. Wo sich die Wirkung von Terrorattacken in Destruktion erschöpft, entsteht jedoch – soweit ich sehe – nichts, dem wir ästhetisches Potential zubilligen könnten. Die Terrorattacken auf das World Trade Center erscheinen mir nicht als Kunstwerke, ebensowenig wie die entsprechenden Fernsehbilder. Künstlerisches Potential gewinnen diese Bilder auch dann nicht, wenn ihnen ein gewisser ästhetischer Reiz zugestanden wird – wobei ein in diesem Sinn ästhetischer, visueller Reiz ein Effekt ist, der vornehmlich auf die formalen bzw. phänomenalen Eigenschaften der Reizursache zurückzuführen ist. Dieser Auffassung bin ich nicht, weil diese Attacken weder ästhetisch reizvoll, noch schön, noch gut sind, auch nicht deshalb, weil sie nicht in künstlerischer Absicht unternommen bzw. hergestellt wurden, und schließlich auch nicht, weil sie Verbrechen sind und als solche die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst nicht für sich reklamieren können – sondern, weil sie nichts anderes sind als Akte der Zerstörung, die in meinen Augen keinen Anknüpfungspunkt für irgendeine Sinnstiftung erkennen lassen, weil sie nicht zu mannigfaltigen und inkommensurablen Deutungen einladen. Entsprechendes gilt für die Fernsehbilder dieser Attacken, deren unbestreitbare visuelle Kraft mir nicht in dem für ein Kunstwerk konstitutiven Sinn ästhetisch zu sein scheint. Wenn Artikel 5 des Grundgesetzes den freien Zugang der Öffentlichkeit zum Kunstgeschehen schützt, schützt er dann nicht auch die Freiheit der ästhetischen Reflexion, beliebige Gegenstände, auch Terrorattacken und deren Bilder, zu ihrem Gegenstand zu machen? Diese Freiheit wird bedroht, wo die Öffentlichkeit Denk- bzw. Reflexionsverbote erläßt. Dagegen sollten wir uns wehren.27 Wir sollten Stockhausen und Hirst die Freiheit der ästhetischen Reflexion auch über die Terrorattacken auf das World Trade Center zugestehen; aber dieses Zugeständnis verpflichtet uns nicht, uns ihrer ästhetischen Bewertung dieser Attacken als Kunstwerke anzuschließen. Ernst Gottfried Mahrenholz zitiert die folgende Äußerung von Dubuffet am Anfang seiner »Einleitenden Bemerkungen« zur Freiheit der Kunst in seinem Siehe dazu auch die folgende Bemerkung von Mahrenholz: »Der Rezipient nimmt an der Grundrechtsträgerschaft der Kunstfreiheit teil.«; s. Mahrenholz: Freiheit der Kunst [Anm. 8], 1305. 27
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Grundgesetzkommentar: »Selbstverständlich ist die Kunst ihrem Wesen nach verwerflich und überflüssig! Und asozial, subversiv, gefährlich! und wenn sie das nicht ist, dann ist sie weiter nichts als Falschgeld, leere Hülle, Kartoffelsack …«28 Nichts anderes meinte wohl auch Stockhausen, wenn er sagte: »Aber was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts.«29 Um etwas zu sein, muß die Kunst immer wieder Grenzen überschreiten; die Grenzen, mit denen das Grundgesetz Leib und Leben, Eigentum und Ehre aller Menschen schützt, sind jedoch auch für die Kunstschaffenden tabu, obwohl auch jenseits dieser Grenzen so etwas wie Kunst entstehen kann.30
Mahrenholz, a. a. O., 1290. MusikTexte [Anm. 3], 69 ff. 30 Für Hinweise und anregende Diskussionen zum Thema dieses Aufsatzes danke ich Isabel Craig, Thierry de Duve, Reimer Kühn und Ursula Seibold-Bultmann. 28 29
Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen Betrachtungen über eine patriotische Ikone in der Medienlandschaft Von Pamela C. Scorzin
»Ich traue Worten nicht. Ich traue Bildern.« Gilles Peress (Magnum Fotograf)
Der New Yorker 11. September 2001 brachte eine Fülle von einprägsamen und wirksamen Medienbildern eines bislang ungeahnten Ausmaßes hervor. Die moderne Medien- und Informationsgesellschaft mußte mit einem Male als erzwungener Augenzeuge in Echtzeit miterleben, wie essentielle Botschaften und Nachrichten gerade nicht so sehr mehr mit Worten, sondern in unvergesslichen Bildern global und damit auch kulturübergreifend verbreitet werden. Umberto Ecos These, daß eine einzige Fotografie bereits einer langen Reihe von Worten entspräche, scheint sich auf diese Weise tatsächlich erfüllt zu haben. Und wie sehr mediale Bilder inzwischen unsere Wahrnehmung der realen Wirklichkeit beeinflussen, sie emotionalisieren, schematisieren und formalisieren, haben auch die zahlreichen Kommentare und spontanen Bekundungen erwiesen, die in der ersten flüchtigen Betrachtung der in internationalen Nachrichtensendern wie CNN live übertragenen Bilder des großen Terrorangriffs auf das New Yorker World Trade Center zunächst noch an die Ausstrahlung einer gewohnt spektakulären, infernalischen Hollywood-Produktion glaubten1 – mit einer populär-kommerziellen Ästhetik à la Independence Day (Regie: Roland Emmerich, USA, 1996) oder Armageddon (Regie: Jeremy Bruckheimer, USA, 1998). Insbesondere der Film Armageddon hatte bekanntlich dem Publikum nur wenige Jahre zuvor in sensationellen computeranimierten Bildern die WTC Zwillingstürme bereits apokalyptisch brennend vorgeführt. Der ›Einbruch des Realen‹ (Slavoj Zizek) in die medieninduzierte Welt glich Dieser Kurzschluß auf der primären Wahrnehmungsebene betrifft bezeichnenderweise eben nicht nur die formal-ästhetischen Modalitäten der oberflächlichen filmischen special effects, sondern gerade auch die zutiefst symbolisch gemeinte Bedeutung der jeweiligen Ereignisse, sowohl real als auch filmisch-fiktional, d. h. wie die Hollywood-Dramaturgen bedienten sich die islamistischen Attentäter offensichtlich gerade einer bereits medial weltweit bekannten spektakulären Zerstörungsformel ›American style‹ als visuellem Zeichen und symbolischem Ausdruck. Vgl. hierzu auch Klaus Theweleit: Der Knall – 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Frankfurt/M. 2002. 1
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dann Vielen einem völlig surrealen Déjà-vu-Erlebnis, das gerade auch vehement alle Sinne attackierte; sie durch Furcht, Angst, Schrecken und Staunen lähmte und dennoch zugleich eine schaurige Seh- und Angstlust wie Spannung bei den Zuschauern an den Bildschirmmedien aktivierte. Die Livebilder der in die beiden über 400 Meter hohen WTC Towers rasenden entführten zivilen Passagierjets, deren anschließendes infernohaftes Feuer-Fangen und letztlich langsames In-Sich-Kollabieren in grauem Schutt und Asche haben sich seit dem Tage als unendlich oft in der internationalen Bildgesellschaft der modernen Massenmedien zwanghaft wiederholte surreale Loops2 wohl für immer unauslöschbar in unser kollektives visuelles (Langzeit-)Gedächtnis eingebrannt, die fortan nun mit diesem traumatischen historischen Ereignis erinnert werden (müssen). In der zeitgenössischen Medienwelt gerät dabei inzwischen jedes historisches Ereignis zwangsläufig und automatisch nur noch zum reinen Bild, zur handel- und konsumierbaren visuellen Nachrichtenware wie auch zum kommerziellen Medienspektakel, das darüber hinaus als codiertes ›Image‹ überdauert und überdies, mnemotechnisch gesehen, dem Wort und der Schrift noch überlegen3 scheint. Unter der unglaublichen Vielzahl der außergewöhnlich hautnahen professionellen Medienberichterstattung und ebenso vielen zufälligen privaten Live-Dokumentationen haben sich neben diesen unvergesslichen bewegten und bewegenden Film- respektive Videosequenzen aber auch bereits einige statische Einzelfotografien visuell hinlänglich behaupten können, die das vermutlich von vornherein auf visuelle Sensation, filmische Dokumentation und symbolische Demonstration terroristisch angelegte Ereignis des 11. Septembers als szenisch eingefrorenes Einzelbild dokumentieren. Als höchst eindrückliche Zeitdokumente konnten sie in der ungeheuren Bildermenge der Massenmedien deshalb gerade besondere Aufmerksamkeit gewinnen, weil sie etwas mehr als alle anderen medialen (Er-)Zeugnisse, wie beispielsweise rein mündliche oder schriftliche Berichterstattungen, die Öffentlichkeit ansprachen, d. h. Emotionen, nachhaltige Konzentration und anhaltendes Interesse bei der Zuschauerschaft weckten. Vielleicht eignen sich gerade diese, ihrem Modus nach älteren, statischen fototechnischen Bilder immer noch besser als die neueren bewegten dazu, auch die alte Funktion eines Andachtsbildes zu übernehmen, das vorrangig zur Kontemplation und Erinnerung dient. Einige von diesen fotografischen Einzelbildern, insbesondere aber gerade SchwarzweißfotograVgl. hierzu auch Peter Weibel: Von Zero Tolerance zu Ground Zero. Zur Politik der Visibilität im panoptischen Zeitalter, in: Kunst nach Ground Zero, hg. von Heinz Peter Schwerfel, Köln 2002, 93: »Eine adäquate politische und humane Reaktion am 11. September wäre gewesen, die Bilder eben nicht hypnotisch zu wiederholen, um die Emotionen aufzuputschen, sondern im Gegenteil die Bilder als das Verworfene zu erkennen, das in die Realität zurückkehrte. Sich der Wiederholung zu entziehen und aus Scham die Bilder der einstürzenden Twin Towers nicht immer wieder zwanghaft zu zeigen wäre Medienpolitik gewesen, die sich nicht dem schamlosen Profitdenken beugt. So war zu sehen: Politik des Profits siegt über Menschen, und Politik existiert nur, solange sie dazu taugt, ein Bild zu sein.« 3 Vgl. Allan Paivio: Mental representations – A dual coding approach, New York 1986. 2
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fien in der traditionellen Ästhetik der klassischen Fotokunst, bekamen dabei bereits schnell auch den hehren Rang von Kunstwerken zuerkannt, wie beispielsweise die eindringlichen großen Schwarzweißaufnahmen New York City, September 11, 2001 von Touhami Ennadre auf der Documenta11 in Kassel belegten. Neben der dokumentarischen Aufzeichnung des historischen Geschehens konnten sie gleichzeitig auch die standardisierten ästhetischen wie formalen Ansprüche der konventionellen modernen Kunst respektive Fotografie erfüllen, d. h. mühelos einem bestimmten traditionellen Bildercode und konventionellem fotografischen Dispositiv gerecht werden. Sie konnten damit auch recht problemlos und ohne weitere Kritik in den Kontext und die Ordnung einer modernen Kunstausstellung eingeordnet werden. Auf eben solche Weise hat der bereits Ende 2001 bei powerHouse Books, New York erschienene Fotoband New York September 11 by Magnum Photographers inzwischen besonderes Interesse und entsprechende Resonanz beim allgemeinen Publikum gefunden. Von diesen Bildern mit dezidiert künstlerisch-ästhetischem und -dokumentarischem Anspruch abgesehen, erregte aber vielmehr gerade auch ein scheinbar nicht-künstlerisches farbiges Pressefoto aus der ungeheuren Vielzahl und Vielfalt der Medienbilder anhaltende Aufmerksamkeit. (Abb. 1, S. 41) Es lohnt sich, dieses einmal in den Mittelpunkt einer kunstwissenschaftlichen Betrachtung zu stellen, da es nämlich gerade dabei ist, zu einer neuen, aktualisierten Ikone für Amerika zu werden, während es als ursprünglich tagesaktuell bewegende Reportagefotografie seit dem historischen Ereignis von der US-amerikanischen wie der internationalen Presse immer noch ununterbrochen um den Globus geschickt wird und dabei bisher sowohl auf Titelseiten von Zeitungen als auch in TV-Berichterstattungen oder auf diversen Internetseiten zum 11. September immer wieder (ikonisch) auftaucht und somit präsent bleibt. Wir können damit einmal aktuell die allmählich schrankenlos werdende internationale Distribution und enorme Dissemination eines bestimmten Bildmotivs über unsere alten und neuen Medien beobachten, ganz so wie beispielsweise ursprünglich einstmals in der europäischen Reformzeit das Medium Holzschnitt und andere Druckgraphik4 für die Verbreitung von Nachrichten in dafür ganz bestimmten Bildtypen sorgten. Überdies dürfte die alte Formel ›Bild = Malerei‹ in der Moderne inzwischen als längst überholt gelten, und es dürfte somit auch berechtigt sein, sich einmal der kunst- und medienwissenschaftlichen Betrachtung eines säkularen fotografischen Reportagebildes zu widmen, das in gedruckter, televisuell elektronischer oder digitaler Version als signifikanter Bestandteil der kulturellen Medienlandschaft immer wieder in Erscheinung tritt, d. h. sich aus noch näher zu erörternden Gründen immer wieder von den maßgeblichen Institutionen neu verbreiten und vermarkten läßt. Seit dem ersten Jahrestag ziert dieses herausragende amerikanische Pressefoto zum 11. September zudem eine von George W. Bush der Öffentlichkeit feierlich Siehe hierzu Vom Holzschnitt zum Internet – Die Kunst und die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute, hg. von René Himer, Ostfildern-Ruit 1997. 4
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präsentierte US-Gedenkbriefmarke. Es ist damit bereits fester Bestandteil der sogenannten populären Americaniana und obligatorischen US-Devotionalien, was allemal ein gutes Anzeichen für diese Behauptung ist und nebenbei daran erinnern sollte, daß uns – respektive Kunsthistorikern – Bilder heute eben nicht nur an den privilegierten und valorisierten Orten der Kunst begegnen können, d. h. vorrangig in den international standardisierten modernen Museen und dem jüngstens generell in Verdacht stehenden, kunst-ideologisch aufgeladenen, sakralisierten ›White Cube‹ (Brian O’Doherty) der modernen Verkaufsgalerie. Das angesprochene Fotobild zum 11. September ist indessen ohne Frage rasch in den inoffiziellen nationalen Kanon der nationalen Bilder der USA eingegangen. Es wirkt dabei neben seiner Funktion als extrem populäres Zeichen eines neuen USSuperpatriotismus scheinbar auch als äußerst beliebte wie höchst effektive visuelle Gedächtnisstütze für die (welt)politisch Wenigerinformierten respektive Desinteressierteren unter den US-Amerikanern. Es erfüllt hiermit propädeutische, wenn nicht auch subtile pädagogische und epistemische Funktionen. Der angesprochene Wandel vom einmaligen Verbrauch als aktuellem profanen Nachrichtenbild zum alltäglichen rituellen Gebrauch als nationalem Sinnbild und zeitloser Ikone, die Wandlung vom simplen Kommunikationsmittel zur visuellen Ikone und zum markanten nationalen Symbol, das auch eine transzendente Funktion erfüllt, möchte jedoch erklärt und diskutiert werden. Was macht das Bild nun so repräsentativ, so relevant und bedeutsam für die Medien, so überaus wirksam für seine Betrachter? Warum also scheint gerade dieses und kein anderes Pressefoto unter der Vielzahl der Aufnahmen und Darstellungen bestens dazu geeignet, für die USA und ihre Parteigänger sowie kultur-ideologisch Gleichgesinnten und politischen Sympathisanten zu einem demonstrativ unipatriotischen, d. h. zu einem globalen, die Nationen übergreifenden Dokument der schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 zu avancieren? Diese Fragen leiten die folgenden Überlegungen. Sie sollen auch zeigen, wie manche Bilder in den zeitgenössischen Massenmedien als feste Engramme5 und bestimmte immer wiederkehrende Motive als symbolische Bildzeichen und ikonographische Zitate fungieren. Dabei wird deutlich, wie solche Bilder im Laufe der Zeiten verschiedene Aktualisierungen, Realisierungen bzw. Materialisierungen erfahren können, und somit auch verschiedene Reaktionen und Wirkungen in ihrer langen Tradierungsgeschichte provozieren, d. h. mehrere unterschiedliche, kontextabhängige Auslegungen, neue Sinnzuweisungen und inhaltliche Umwertungen erfahren. Wie die Bilder dabei jeweils besondere Emotionen und Stimmungen im Betrachter hervorrufen und viele Affekte entfachen und immer wieder aufs neue das Auge bestechen, versuchen die folgenden Ausführungen und Argumente in der gegebenen Kürze eines Essays an einem herausragenden Beispiel der Gegenwart zu belegen.
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Ernst H. Gombrich: Aby Warburg – Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1981, 326 f.
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I. Der Begriff des Engramms erhielt schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den kunsttheoretischen Reflexionen Aby Warburgs zum Symbol in der visuellen Kultur eine hervorgehobene Stellung und besondere kommunikative Bedeutung. Ernst H. Gombrich wies in seiner an Zitaten und Belegen überaus reichen WarburgBiographie bereits darauf hin, daß dieser sich wiederum auf Richard Semons 1908 erschienene Schrift Die Mneme als erhaltendes Princip im Wechsel des organischen Geschehens berufen konnte: »Semons Theorie besagt im wesentlichen dies: das Gedächtnis gehört nicht zum Bewußtsein, es ist vielmehr die einzige Eigenschaft, die lebende von toter Materie unterscheidet. Es ist die Fähigkeit, eine ganze Zeitlang auf ein Ereignis zu reagieren, d. h. eine Form der Energiespeicherung und -übertragung, die die physikalische Welt nicht kennt. Jedes Ereignis, das auf lebende Materie einwirkt, hinterläßt eine Spur, die Semon ›Engramm‹ nennt. Das in diesen ›Engrammen‹ bewahrte Energiepotential kann unter günstigen Voraussetzungen reaktiviert und entladen werden – wir sagen dann, der Organismus verhält sich auf eine bestimmte Weise, weil er sich an das vorangegangene Ereignis erinnert. Dies gilt sowohl für das Individuum als auch für die Gattung. Es war diese Vorstellung einer Gedächtnisenergie, die in ›Engrammen‹ bewahrt wird, aber nahezu physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die Warburg faszinierte, als er sich in seiner Jugend mit Theorien über das Wesen des Symbols und seine Rolle im sozialen Organismus beschäftigte.« Im folgenden möchte ich nun vor diesem theoretischen Hintergrund einige Beobachtungen und Reflexionen zu dem erwähnten außergewöhnlich originellen ›Schnappschuß‹ jener höchst ungewöhnlichen Fotoreportage des zeitgenössischen Bildjournalismus anstellen, die der amerikanische Record-Fotograf Thomas E. Franklin mit seiner handlichen Digitalkamera inmitten des gewaltigen Trümmerhaufens der beiden implodierten Twin Towers während des späten Nachmittages des 11. Septembers 2001 direkt am Ground Zero aufgenommen hat. Franklin erinnert diese distinkte Aufnahme nur zwei Tage später im Gespräch mit der amerikanischen Journalistin Jeannine Clegg zunächst als eine sehr schnelle, spontane und instinktive persönliche Reaktion auf etwas, das er mit seinen eigenen Augen plötzlich inmitten der schrecklichen Zerstörung nach dem überraschenden Angriff auf Amerika intuitiv wahrgenommen hat: Das Bild von drei staubbedeckten Feuerwehrmännern6, eine Trias moderner heroischer Gestalten, die unbeugsam im grauen Schutt und destruktiven Chaos der heillosen Verwüstung die leuchtenden Farben Rot, Weiß, Blau der US-Flagge auf dem verheerenden, immer noch schwelenden Trümmerberg der gefallenen Twin Towers in Lower Manhattan hißten.7 In den Augen aller 6 Die Namen der jungen Helden wurden in den USA schnell über die Medien bekannt; es sind zu sehen Dan McWilliams aus Long Island, George Johnson aus Rockaway Beach (beide von Ladder 157) und Billy Eisengrein aus Staten Island (Rescue 2). 7 Vgl. hierzu die kleine ›Heldenanekdote‹ von Jeannine Clegg, Staff Writer: Flag-raising was ›shot in the arm‹ (Friday, September 14, 2001) im Internet unter http://arlingtoncemetery.com/
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US-Amerikaner ist das Sternenbanner dabei zweifellos die Fahne der Freiheit und Unabhängigkeit8, ganz so wie die Trikolore für die französischen Revolutionäre schon lange eine ähnliche, zutiefst symbolische Funktion für ihre Nation besessen hat. Die Handlung der nationalen Flaggenhissung entspricht zudem einem weitläufig bekannten offiziellen Ritual, das hier vollends zur dramaturgischen Performanz gerät und dabei deutlich seine symbolische Zeichenhaftigkeit und besondere Charakteristik als stereotype Bildformel herausstellt. Die demonstrative US-Flaggenhissung auf Ground Zero, fotografisch dokumentiert in der statischen Einzelszene von Thomas Franklin, geriet nun nicht nur ebenso rasch zum eindrücklichen historischen Zeugnis und unipatriotischen Dokument der US-Nation, sondern darüber hinaus für die internationale Medienlandschaft zugleich auch zu einem bewegenden visionären Zeugnis allgemeinen Menschenschicksals. Denn nur realistische Bilder, die die Wirklichkeit nicht nur lediglich abbilden, als indexikalische Dokumente fotografisch aufzeichnen, bildlich zeigen und bewahren, sondern sie darüber hinaus auch ikonisch übertreffen, indem sie die abgelichtete Wirklichkeit gleichsam konzeptualisieren, schematisieren und formal überhöhen, erregen heute in den inflationären Bilderwelten der Massenmedien scheinbar noch einen derartig bedeutsamen, über die jeweilige Tagesaktualität hinaus reichenden Aufmerksamkeitsbonus und -fokus. Erreicht wird infolgedessen auch die notwendige Konzentration beim generell bilderzappenden, medial übersättigten Massenpublikum. Franklins Bild reiht sich daher als zeitgenössische Ereignis- und Dokumentarfotografie offenbar auch nahtlos in die Tradition der vielbeschworen, medial längst überholten alten Gattung der Historienmalerei der hehren Kunst ein, indem der zeitgenössische Bildreporter ein neues mediales Historienbild initiiert. Denn es geht auch hier wieder einmal vorrangig um die subtile Problematik der Geschichtserzählung respektive -schreibung und der Produktion von adäquaten Repräsentationen respektive überzeugenden Geschichtsbildern, und somit insgesamt gesehen um die symbolische Handlung des Bildermachens überhaupt. fireman-01.htm (last access 4/2003): »World Trade Center Building Seven was about to collapse on Tuesday. Firefighters from Engine 255 and Ladder 157 in Brooklyn had been digging in the rubble for survivors for six grueling hours, when they got the call to immediately evacuate. Firefighter Dan McWilliams from Ladder 157 headed out with the rest of his crew. It was then that the 35-year-old firefighter spotted a flag flying from a yacht docked behind the World Financial Center. He made his way to the boat, rolled the flag up around its pole to be sure it didn’t touch the ground, and carried the pole back to the evacuation area. As McWilliams passed his buddy and fellow 157 firefighter George Johnson, he slapped him on the shoulder. ›Gimme a hand, will ya, George?‹ ›I knew exactly what he was doing‹, Johnson, 36, said. Then Billy Eisengrein of Rescue 2, another Brooklyn fire company, and McWilliams’ childhood friend from Staten Island, jumped in, ›You need a hand?‹ The three firefighters quickly found a perfect shot – a single flagpole anchored in the rubble about 20 feet off the ground on West Street. They climbed a makeshift ramp so they could easily raise the flag in its new home. It was at that moment that Record photographer Thomas E. Franklin spotted the three from a distance.« 8 Siehe hierzu ferner James Bradley/ Ron Powers: Flags of Our Fathers, New York 2000.
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Der amerikanische Profifotograf als erster direkter Augenzeuge mit der digitalen Kamera in der Hand vor Ort berichtete nun weiterhin im nachhinein über diese Aufnahme seines Lebens, wie er sie selbst bereits pathetisch in einem Gespräch mit der US-Journalistin Jeannine Clegg bezeichnet hat9: »I would say I was 150 yards away when I saw the firefighters raising the flag. They were standing on a structure about 20 feet above the ground. This was a long-lens picture: There was about 100 yards between the foreground and background, and the long lens would capture the enormity of the rubble behind them. I made the picture standing underneath what may have been one of the elevated walkways, possibly the one that had connected the World Trade Plaza and the World Financial Center. As soon as I shot it, I realized the similarity to the famous image of Marines raising the flag at Iwo Jima. This was an important shot. It told of more than just death and destruction. It said something to me about the strength of the American people and of these firemen having to battle the unimaginable. It had drama, spirit, and courage in the face of disaster. I probably made about 10 frames. Throughout the day, I was afraid that something was wrong with my camera and that these once-in-a-lifetime pictures were ruined.« Daß Thomas E. Franklin diese Erkenntnis wie feste Überzeugung so überaus spontan und hellsichtig formulieren konnte, die bereits im Zusammenhang mit der Aufnahme offen die unipatriotische Dimension und therapeutische Hoffnung auf eigene nationale Unbesiegbarkeit und Stärke deutlich durchblicken läßt, lag vermutlich auch daran, daß der amerikanische Fotoreporter wohl mehr bewußt als unbewußt sehr schnell erkannt haben muß, daß es für den singulären heroischen Akt inmitten einer wahrlich traumatisierten Nation (das Trümmerfeld hier als Synekdoche für die attackierte Nation), den er mit seiner Digitalkamera als direkter Zuschauer und Zeuge doch recht arbiträr10 dokumentierte, durchaus schon bestimmte Vorbilder und motivische Vorlagen im kollektiven Archiv der Bildmedien des 20. Jahrhunderts gab. Der Fotograf ist hier einmal nicht der (vermeintlich) unbeteiligte außenstehende Beobachter und unparteiische Zeuge eines Geschehens, das verdient, als Bild in die bleibenden Archive unserer visuellen Gedächtnisse (Charles Baudelaire) einzugehen. Und die Fotografie ist daher auch nicht der vermeintlich neutrale Spiegel ohne Gedächtnis. Franklin und uns späteren Betrachtern, den vom desaströsen Unheil verschonten und unversehrten, ergo relativ distanzierten Zuschauern, erscheint das Foto deshalb so bedeutsam, herausragend und einprägsam, weil es offensichtlich mit bereits Bekanntem und Vertrautem partiell in Deckung gerät, bereits gesehene und in Erinnerung gebliebene Bild9 Thomas E. Franklin: Getting the photo of a lifetime. Thursday, September 13, 2001 im Internet unter http://www.arlingtoncemetery.com/fireman-01.htm (last access 4/2003). (Copyright © 2001 North Jersey Media Group Inc.) 10 Man kann dabei das Zufällige mit Siegfried Kracauer als charakteristischen Wesenszug der Kamera-Realität verstehen.
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muster plötzlich aus dem eigenen wie kollektiven visuellen und kommunikativen Gedächtnis hervorruft. Seine besondere Qualität manifestiert sich also zunächst einmal jenseits von Klassifikationen und ästhetischen Fragen im Potential seiner genuinen Struktur, in der Einprägsamkeit seines Bildschemas, seiner Literarizität und generellen Referentialisierbarkeit, d. h. in seinem subtilen (ikonographischen) Zitatcharakter. Und wohl auch aus der Tatsache heraus, daß es offensichtlich mehrere verschiedene Vergangenheiten inkludierend in sich amalgamiert, d. h. sich gerade durch den Rekurs auf bestimmte historische Vor-Bilder konstituiert und wiederum einprägt. Dabei wird sich nebenbei die der Fotografie bislang zugeschriebene Wesenseigenschaft eines ›So-ist-es-einmal-gewesen‹ als trügerischer bzw. leicht irreführender Ausgangspunkt der weiteren Bildbetrachtung erweisen. Viel wichtiger erscheint hier außerdem seine besondere Qualität als ›Assoziationsbild‹, das letztlich in einem rhizomartigen Bilderarchiv der Zeiten enormer Visualität steht. Wir alle kennen schließlich dieses ominöse Bildarchiv ohne festen Ort und Rahmen auch unter dem populärwissenschaftlichen Slogan: Bilder, die die Welt bewegten, oder Bilder, die Geschichte machten.11 Bilder also, die gerade weil sie besondere emotive Reaktionen und irritierende Wirkungen herausfordern, zahllose Affekte entfachen, sich deshalb auch mit einem bestimmten intersubjektiven Sinn und einer subjektiven emotionalen Bedeutung und privaten wie kollektiven Erinnerung verbinden lassen und damit generell interpretierbar werden. Franklin selbst war sozusagen im Wahnsinn der physischen Wirklichkeit halluzinatorisch auf eine moderne fotografische Pathosformel (sensu Aby Warburg) gestoßen, die mit Joe Rosenthals Pulitzer-Preis bekröntem Pressefoto The Raising of the Flag on Iwo Jima während des Pazifikkrieges im Zweiten Weltkrieg innerhalb des 20. Jahrhunderts seine letzte große Inkarnation erfahren hatte. (Abb. 2, S. 42) Franklins Kamera reagierte intuitiv auf ein externes optisches Wahrnehmungsbild, das einem bereits bekannten medialisierten und imaginativen Erinnerungsbild entsprach. Seine Arbeitsweise als gewöhnlicher Dokumentarfotograf oszillierte hier förmlich zwischen einer aktiven und explorativen Tätigkeit einerseits und einer rezeptiven und registrativen12 andererseits, wie sie auch für den künstlerisch-kreativen Bereich kennzeichnend ist. Das von ihm in der physischen Wirklichkeit wahrgenommene optische Eindrucksbild entsprach einer plötzlichen persönlichen Vision und paßte folglich somit nicht nur in den technisch-apparativen Rahmen seiner professionellen Digitalkamera, sondern gerade auch in ein mentales Frame des Betrachtergehirns, d. h. in ein darin physiologisch angelegtes Erinnerungsschemata. Der menschliche Körper ist demnach wirklich der wahre Träger und Ort der Bilder (Hans Belting). 11 Vgl. beispielsweise die ZDF-Fernsehdokumentation und das diese populärwissenschaftliche Serie begleitende Buch von Guido Knopp: Bilder, die Geschichte machten, München 1992. Siehe ferner Peter Stepan: Fotos, die die Welt bewegten – Das 20. Jahrhundert, München, London, New York 2000. 12 Vgl. Christian Doelker: Ein Bild ist mehr als ein Bild – Visuelle Kompetenz in der MultimediaGesellschaft, Stuttgart 1997, 39.
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Ein außergewöhnliches Ereignis in der Sichtbarkeit der Wirklichkeit stimulierte bzw. evozierte ein ähnliches endogenes, mentales Bild, das wiederum entscheidend zur visuellen Stimulanz für die aktuelle Produktion eines exogenen, materiellen Bildes gerät. Wiederum, frei nach Hans Belting13, gerät es somit unversehens in eine lange Geschichte von Bildtypen und wird in eine optisch-technische, in eine mediale Geschichte eingebunden respektive mnemotechnisch eingeschrieben. Kunsthistoriker werden hier nun auf der kriminologisch-akribischen Suche nach geeigneten typologischen Bildschemata vermutlich in einen regelrechten historischen Ikonographismus verfallen und dabei wohl selbstverständlich irgendwann auch einmal auf Rosenthals profane Aufnahme vom 23. Februar 1945 stoßen. Denn die Fotografie als visuelles Medium ist ebenso wie die traditionelle Malerei dazu fähig, aktuelle Ereignisse mit einem weiter zurückliegenden, bekannten Hintergrund zu verschränken, in ihrer Zeit wieder neu auszuformulieren und ästhetisch umzugestalten, so daß sich im Laufe der Zeiten doch leicht wiedererkennbare und in ihrer Anzahl recht überschaubare Motivtraditionen und -ketten entwickeln können. Man denke z. B. nur an Manets künstlerischen Umgang mit einem zeithistorischen Thema: der Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko als einem anschaulichen künstlerischen Rekurs auf Francisco de Goyas 3. Mai 1808 von 1814.14 Festzuhalten bliebe jedoch, daß sich die Gegenwart und Zeithistorie hier abermals augenfällig vor dem Hintergrund der Vergangenheits-Historie visualisiert wie materiell konkretisiert, indem der Fotograf sich lediglich souverän des Darstellungscodes einer bestimmten Konvention und Tradition bedient, während er selbst vermutlich annimmt und glaubt, nur lediglich etwas mit fototechnischem Knowhow und geübter Professionalität mechanisch aus der physikalischen Wirklichkeit aufzuzeichnen. Darstellung (der aktuellen physischen Wirklichkeit) und Vorstellung (aus der subjektiven wie kollektiven Erinnerung) verschmelzen zu einer weiteren neuen Bildvariation. Gleichwohl wird Erinnerung (bzw. das dafür stellvertretende mentale Bild) geistig reaktiviert und realisiert. Erinnerung existiert somit eigentlich immer nur als Gegenwart, die Vergangenheit repräsentiert. Franklins oben eigens angeführter Kommentar läßt unbestreitbar deutlich darauf schließen, daß er sich in diesem Fall der generativen Bild-Re-Produktion15 durchaus bewußt war. Durch Franklins fotografisches Bild scheint nämlich auch eigenartigerweise das Vor-Bild hindurch, das damit einen ganz besonderen, frappierenden ›Nachbildeffekt‹ aufweist. Es erhält als modernes Aufzeichnungsmedium insofern eine erstaunlich bezeichnende und vielschichtige ›mediale Durchsichtigkeit‹; d. h. eine in seiner Bedeutung gleich mehrfache mediale Transparenz. Diese erlaubt im weiteren den netzartigen 13 Vgl. Der zweite Blick – Bildgeschichte und Bildreflexion, hg. von Dietmar Kamper, Hans Belting, München 2000, 9 f.; Hans Belting: Bild-Anthropologie – Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, passim. 14 Vgl. hierzu Oskar Bätschmann: Edouard Manet – Der Tod des Maximilian, Frankfurt/M. 1993. 15 Vgl. hierzu Andreas Schelske: Die kulturelle Bedeutung von Bildern – Soziologische und semiotische Überlegungen zur visuellen Kommunikation, Wiesbaden 1997, passim.
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Aufbau einer ganzen Menge von vielschichtigen Referenzen, neuen kommunikativen Sinnbedeutungen und spannungsvollen Konnotationen. Vor allem aber steht Franklins komplexes ›Assoziationsbild‹ sodann zuallererst im intermedialen Dialog mit Rosenthals historisch vorangegangener prominenter Schwarzweißaufnahme. Sie gehört zu den weltweit meist reproduzierten Bildern des Zweiten Weltkrieges und war nach 1945 ebenfalls rasch zu einer singulären Ikone, zu einem populären Identifikationsbild des US-amerikanischen Patriotismus avanciert. Das legendäre Kriegsfoto des amerikanischen Associated Press-Fotografen, das sich etwas später jedoch als dramatische ›Nachstellung‹, als ein pathetisches szenisches ›Re-Enactment‹ einer beiläufigen obligatorischen US-Flaggenhissung nach einer entscheidenden Kriegshandlung der siegreichen US-Marines gegen die Japaner auf dem Mount Suribachi auf der Pazifikinsel Iwo Jima erwies, hat dabei bereits viel von einem im voraus inszenierten und arrangierten Bild-Tableau, so daß seine stringente Komposition aus sechs US-Marines, die mit entschlossen vereinten Kräften die riesige Star and Stripes hoch auf dem südpazifischen Berggipfel aufstemmen, bereits eher hohen Symbolwert und universelle Sinnbildfunktion als wahre, sprich historische Authentizität und fotografische Kontingenz in sich birgt.16 Ereignis und Inszenierung, Wahrheit und Fake werden hier einmal nahezu ununterscheidbar. William J. Mitchell hielt daher hierzu bereits einmal fest17, »Joe Rosenthal’s shot of four marines planting the flag at Iwo Jima has seemed implausible to many observers because it is so rhetorically charged that it looks as if it must have been posed – and indeed this turns out to have been the case. It is histrionics, not history.« Was sich hier medial als wahres Dokument und echte Darstellung von Geschichte tarnt, ist vielmehr pure Bild-Inszenierung, die nationalen Superpatriotismus zum Thema und Gegenstand hat. Sie erinnert zugleich, mit Jean-François Lyotard gesprochen, verdächtig daran, daß jede mit normativem Anspruch erzählte Geschichte immer auch dazu tendiert, historische Wirklichkeit, wenn es sie denn überhaupt gibt, zu verfälschen bzw. zu manipulieren. Bilder helfen augenfällig GeVgl. zum Kontext und zur Entstehungsgeschichte des legendären Fotos im Internet unter http://www.iwojima.com/raising (last access 4/2003). Als Flashback-Zitat im Film taucht gerade diese visuelle Ikone des 2. Weltkriegs bezeichnenderweise auch in der durch den Irak-Krieg (2003) für viele Kritiker wieder höchst aktuell gewordenen Hollywood-Satire Wag the Dog (R: Barry Levinson, USA 1997) auf. Im Film fingiert eine kleine Schar skrupelloser Medienberater und genial-cleverer Spin Doctors im Weißen Haus aus dem kreativen Stegreif heraus einen Krieg der USA gegen das unbekannte, weit entfernte Albanien. Sie inszeniert diesen wirksam für die Öffentlichkeit mit einer ausgeklügelten Medienkampagne, um lediglich kurz vor den unmittelbar anstehenden Präsidentschaftswahlen von einer aufgeflogenen skandalösen Sexaffäre des noch-amtierenden Präsidenten mit einer Schülerin ablenken zu können. Die Täuschung der US-Medienöffentlichkeit gelingt dabei hauptsächlich durch ihren eigenen Voyeurismus und ungezügelten Patriotismus, indem sie nun mit sensationellen und rührseligen Kriegsbildern beliefert wird, die dafür professionell im Filmstudio entworfen, gestellt und produziert werden. Vgl. auch Ulrich Tilgner: Der inszenierte Krieg, Berlin 2003. 17 William J. Mitchell: The Reconfigured Eye – Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, Mass., London 1992, 43. 16
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schichte strategisch zu konstruieren und dafür auch Traditionslinien zu erfinden oder neu zu etablieren. Aber gerade diese ›augenblickliche‹ Qualität als »staged scene« und »rhetorical re-enaction« führt hier zu einem bild-kompositorischen Arrangement, in dem sich die besondere Bedeutung und Wirkung der Aufnahme von Joe Rosenthal konstelliert. Das Foto ist für den aufmerksamen Betrachter viel zu gekünstelt, um wahrhaftig zu sein. Es vertritt hingegen eine dramatische Dokumentarfotografie. Der explizite künstlerische Ansatz besteht darin, daß Wirklichkeit mit aktuellen optischen Instrumenten und Methoden nicht lediglich widergespiegelt wird, sondern vielmehr eine Vision respektive Interpretation von ihr durch Bildgestaltung und Kompositionsauswahl visuell vergegenwärtigt wird; d. h. aber auch, daß immer nur eine bestimmte Art Repräsentation zugelassen wird. Rosenthals berühmte Kriegsfotografie besitzt so gesehen eine fabrizierte Evidenz, die vom Bildbetrachter auch eine entsprechend hohe visuelle Kompetenz fordert, um sie umfassend interpretieren zu können. In der damaligen Kriegsfotografie waren schließlich offiziell auch keine Opfer und Leiden gefragt, sondern die Darstellung von tapferen und unbesiegbaren Helden, d. h. nicht die fotografisch kontingente Reproduktion von Wirklichkeit, sondern ein künstliches, ja gar nahezu ästhetisiertes Artefakt dieser schrecklichen wirklichen Realität: Artifizielle Bilder, die vor allem Sympathie und Empathie für den weiteren Gang der militärischen Operationen wecken sollten – man könnte sie auch schlicht und pointiert als wirksame theatralische Propagandabilder bezeichnen – und dies schon in einer Vor-CNN-Ära. Und Propaganda ist bekanntlich gerade dann am wirksamsten, wenn sie als wahres Dokument und als visueller Beweis rezipiert wird, was der Fotografie schließlich bislang auch als genuiner Wesenszug und Merkmal anhaftete. Wie diese transportiert nämlich auch Rosenthals kompositiv manipulierte Aufnahme ganz bestimmte Werte und feste Überzeugungen durch die Art und Weise der ästhetischen Darstellung der besonderen Ausdrucks- und Handlungsgebärden im Bild, die erst nach und nach als inszenierte und symbolische Konstruktionen sichtbar werden. Schon die flüchtigen körperlichen Aktionen und Handlungen der US-Soldaten, sowohl ihre ursprünglich unreflektiert spontanen als auch die bereits strategisch reflektierten, dramaturgisch nachgespielten in der Wirklichkeit auf dem südpazifischen Berggipfel, lassen sich einem eigentlich bildformelhaften Ausdruckszweck zuordnen, der geradezu danach drängt, auch bildlich-materiell auf Dauer festgehalten zu werden. Folglich gilt dann auch für diese Körperhandlungen, Gebärden und Gesten hier John Michael Krois’ grundlegende Beobachtung18: »Vom lebendigen Leib ausgedrückt verflüchtigen sich Gebärden, aber in einem Bild dargestellt sind sie über lange Zeit kopierbar und somit eine John Michael Krois: Die Universalität der Pathosformeln – Der Leib als Symbolmedium, in: Quel Corps? – Eine Frage der Repräsentation, hg. von Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz, München 2002, 295. 18
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Formel. Durch diese Kopien können Gebärden über Jahrhunderte und große räumliche Entfernungen hinweg wirken.« Joe Rosenthals Aufnahme verrät nun von vornherein ein außerordentlich gestelltes und ästhetisch durchkomponiertes Arrangement, das als kohärentes ›Bild‹ wirkt und zugleich eine notwendige ›ikonische Differenz‹ (Gottfried Boehm, Axel Müller) zur Realität aufbaut. Es finden sich schließlich auch scheinbar weit entfernt liegende Assoziationen und Konnotationen einer christlich-religiösen Kreuzaufrichtung als geläufigem Symbol des Triumphes über den Tod und bekanntem Auferstehungs- und Siegeszeichen. Ground Zero als sprichwörtlicher Nullpunkt gerät somit zum entscheidenden Wendepunkt: Erniedrigung wandelt sich in Erhöhung, Schrecken in Überwindung. Das Foto markiert so die vorläufige Peripetie des singulären historischen Ereignisses und initiiert durch die spezifische Bildfabrikation auch seine Fiktionalisierung. Die Aufrichtung und Hissung der US-Flagge hat dabei eine essentielle Signalfunktion. In ihr hypostasiert sich gleichsam das Aufbauende, das Aufgerichtetsein und der neue Aufbruch der gesamten Nation in ein neues Zeitalter. Demonstriert wird damit symbolisch, wie aus Chaos, Trümmern und Tod fast heilsgeschichtlich wieder Ordnung entsteht und eine neue Zeit anbricht. Das fotografisch dokumentierte singuläre historische Ereignis wird damit in die Zeitlosigkeit eines modernen Andachtsbildes gerückt, das zudem wiederholbar wird. Für die westliche christliche Welt liegt zudem eine sekundäre Dekodierung und weitere Entschlüsselung bzw. intuitive Assoziierung der gesamten Bildstruktur und des gegebenen kompositionellen Organisationsmusters mit dem christlichen Motivzeichen einer Kreuzaufrichtung nahe, dem zutiefst latenten Symbol und manifesten Bildzeichen der christlichen Kultur.19 Diese assimilatorische Interpretation vermag nachdrücklich die Vermischung des Historisch-Politischen mit dem (Zivil-) Religiösen, wie es für die Vereinigten Staaten von Amerika als typisch gilt und für manche ›alte Europäer‹ befremdlich erscheint, zu decouvrieren und visuell hintergründig zu demonstrieren. Frappierend ist dabei nicht zuletzt die Manifestierung und Verstärkung des inhärenten demonstrativen Symbolgehalts, wenn man bedenkt, daß ja allein schon die Sichtbarkeit der Nationalflagge als populärem Symbol für die Nation genügend Zeichenfunktion in der Fotoaufnahme besitzt. II. Die Ästhetik und Rhetorik gerade dieses fotografischen Bildes aus den fernen Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges erwies sich deshalb als geradezu kongenial für eine Umsetzung in ein patriotisches Kriegerdenkmal für die US-Soldaten des Zweiten Weltkriegs, das wir heute auf dem berühmten amerikanischen Soldatenfriedhof Arlington bei Washington, D.C. auf einem sehr hohen schwarzen GranitsokVgl. zu diesem Gedankengang auch die Theorien und Überlegungen von Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 1974, Kap. V. 19
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kel als monumentale Bronze, 1945–54 von dem figurativen amerikanischen Bildhauer Felix de Weldon ausgeführt, betrachten können. Das zweidimensionale kleine apparative Bild war nun, wiederum durch einen offiziellen demonstrativen Auswahlund Willensakt, künstlerisch in eine dreidimensionale, aber umso dauerhaftere und überlebensgroße Gestaltform in die Wirklichkeit zurückgeführt worden. Die hier noch etwas stringenter zu einem gemeinsamen singulären heroischen Kraftakt gebündelte, formal streng zusammengefaßte, schwere, hoch auf steinernem Sockel angebrachte Bronzegruppe des ehernen Erinnerungsmals von de Weldon mißt etwa 10 Meter Höhe; die lange Fahnenstange insgesamt sogar imposante 18 Meter. (Abb. 3, S. 43) Dort, in jener demonstrativ heroischen Überdimensionalität, wiederholt sich auch die historische US-Flaggenhissung jeden Tag, symbolisch überhöht durch ein staatlich offizielles (und zivilreligiöses) Ehrenritual und eine täglich öffentliche, handlungsorientierte historische Erinnerungsübung für die gesamte US-Nation und die zahlreichen Touristen aus aller Welt. Die künstlerische Darstellung der Flaggenhissung fällt hier außerdem in besonderer Weise mit der realen Flaggenhissung in eins; die alltägliche Praxis entlarvt sich einmal mehr als zutiefst symbolische Handlung mit hohem nationalen Zeichencharakter, die sich durch wiederholte choreographische Einübung automatisch als rituelle Geste und bleibendes Bild fest ins kollektive Gedächtnis einschreibt. Figürliche Denkmäler und pathetische nationale Memorials dieser Art gewinnen üblicherweise allerdings nicht nur die ihnen ursprünglich zugedachte Andacht und intendierte offizielle Verehrung, sondern können im raschen Wechselspiel gesellschaftspolitischer Zustände wie auch eines recht launischen Zeitgeistes natürlich schnell Zielfläche von sinnlosem Vandalismus, offizieller Demontage bis hin zum gezielten intellektuellen Kommentar werden, beispielsweise in Form einer künstlerischen Parodie, hintergründigen Persiflage, karikierenden Satire oder eines beißenden künstlerischen Zitats. Der amerikanische Künstler Edward Kienholz (1927-1994) etwa hat auf der Höhe der erhitzten kontroversen Diskussionen um den amerikanischen Vietnamkrieg das damals längst bekannte Motiv dieses realistisch-pathetischen Kriegerdenkmals auf dem Arlington National Cemetery wiederum als Modell und direkte Vorlage für ein essentielles Kompartiment seines interaktiven Environments The Portable War Memorial (1968)20 im Ludwig Museum, Köln, aufgegriffen. (Abb. 4, S. 44 unten) Hier tritt auf künstlerischer Ebene die aus damals aktuellem zeitgeschichtlichen Anlaß motivierte Erinnerung an die jüngste historische (sprich glorreiche) Vergangenheit der US-Nation nun noch viel expliziter als essentiell künstlerische wie emotionale Inspirationsquelle visuell hervor. Die künstlerische Adaption und Aneignung dieses prominenten Bildmotivs dient hier jedoch offensichtlich nur noch der subversiven (Aus-)Formulierung eines reiSiehe hierzu ausführlich Hans-Werner Schmidt: Edward Kienholz – The Portable War Memorial – Moralischer Appell und politische Kritik, Frankfurt/M. 1988. 20
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nen Anti-Denkmals als modernem Kunstwerk. Die gesamte heroische Aktion wird in Kienholz’Werk (und Interpretation) durch einige wenige formale Veränderungen in der künstlerischen Wiederholung und erneuten fremden Ausführung ins völlig Absurde und Surreale gezogen, die Bedeutung des Pathos des gegebenen Gebärdenausdrucks im Motiv umgekehrt: Im wahrsten Sinne des Wortes gesichtslose und ›hohle‹ eherne Soldaten, denen jedwede ›humanen Züge‹ fehlen, hissen hier die in sinnreicher Pop Art-Manier nachgemalte prominente US-Flagge21 zum Zeichen eines patriotischen Sieges recht sinnlos und dadaistisch auf einem banalen Gartentisch. Er bildet den äußersten Vorposten einer US-amerikanischen Fast Food-Bar mit funktionstüchtigem stereotypen Coca-Cola-Automaten, während links daneben aus der imposant skurrilen Mülltonnen-Dame ununterbrochen Kate Smiths zeitlos patriotischer Schlager und geheime US-Nationalhymne God Bless America sprichwörtlich dahinblechert. Alles überwacht natürlich vom unvermeidlichen Uncle Sam dahinter, der als beliebte nationale Symbolfigur auf seinem berühmten Plakat aus dem 1. Weltkrieg nichtsdestotrotz unentwegt weiter zur militärischen Einberufung auffordert: I want you (for U.S. Army nearest recruiting station). In die wortwörtlich alltägliche amerikanische Garten- und Freizeitidylle bricht unvermutet mit brachialer und martialischer Gewalt die militärische Aggression. Der Krieg findet bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch noch nicht auf US-amerikanischem Boden statt. Man konnte also unberührt, teilnahmslos und weit genug von allen militärischen Greueln und Schrecken der Welt weiterhin seine kühlende Cola und schnellen Hot Dogs konsumieren. »Den Akt des ›Eroberns‹ führt Kienholz zudem als ebenso sinnvoll vor wie das ›Besetzen‹ eines Gartentisches. Trotz aller machtpolitischen und militärstrategischen Überlegungen bleibt der Akt der Okkupation ein somit gänzlich fragwürdiges Spiel.«22 Die Überlieferung und Umformung bzw. die Polysemie und erstaunliche Transformation des bildhaften Zeichens eines dahinterstehenden unipatriotischen Bildmotivs wird zugleich äußerst ironisch bis zynisch hypostasiert; es handelt sich, wie ausdrücklich im Werktitel von Ed Kienholz angegeben wird, um ein mobiles, jederzeit erneut einsetzbares, sich stets selbst aktualisierendes, mühelos in neue veränderte Kontexte und Zeiten generell transferierbares, tragbares universelles Ed Kienholz verwendet offensichtlich die künstlerische Darstellung der US-Flagge, um der politischen Straftat einer Flaggenschändung zu entgehen. Zugleich fühlt sich der Betrachter an weitere prominente Hauptwerke der Pop Art Ära erinnert; beispielsweise an Jasper Johns’ verschiedene Flaggenmotive, die auf perfide Weise die Frage Is it a flag or a painting? (Max Imdahl) provozieren. Vgl. ferner Sidra Stich: Made in U.S.A. – An Americanization in Modern Art, the ’50s & ’60s, Los Angeles, London 1987, 17 f.: »Among the American icons that achieved preeminence in postwar art was the American flag, the quintessential symbol of America’s national identity. […] The flag is a very special American image: the symbol of nationhood, of patriotic feelings and national values. […] During the chilliest periods of the Cold War, the flag was endowed with added weight, denoting American glory, national power or hyperbolic patriotic conviction, and civic pride.« 22 Schmidt: Edward Kienholz [Anm. 20], 35. 21
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Memorial – sarkastisch gesehen, für alle weiteren und kommenden Kriege dieser Nation: Es kann (nach Kienholz) ohne größeren Aufwand an jeden weiteren Ort befördert und dort wiederverwendet werden, an welches Ereignis auch immer dieses Kriegerdenkmal nun erinnern soll.23 In der folglich ebenso perfide metaphorisch zu verstehenden kontinuierlichen Translozierung des dahinterstehenden Bildgedankens bzw. -motivs, d. h. in seinen zeitgeschichtlich unterschiedlichen jeweiligen Realisationen, Materialisierungen, Stationen und Konkretisationen, sowie in seiner potentiellen Dissemination selbst in die mitunter verschiedensten Medien und Bereiche der High bis Low Culture, gewinnt es im unaufhörlichen Durchlauf vieler verschiedener zeitlicher Kontexte und materieller Träger aber überraschenderweise auch eine ungeheure formale bildmotivische Resistenz und Persistenz. Seine motivische Durchschlagskraft ist wohl damit zu erklären, daß es auch die besondere Qualität eines im doppelten Sinne gemeinten medialen ›Erinnerungsbildes‹ mit sich trägt. Sein ausgesprochener Realismus ist sowohl ein aktuell fotografisch vermitteltes Zeugnis als auch ein geistig übertragenes Engramm. Engramme sind Erinnerungen, die das Gedächtnis in selegierte symbolische Formeln umsetzt. Die selektive motivische Bildproduktion macht damit praktisch das Gleiche wie das menschliche Gehirn, denn »unsere Sinnessysteme wählen aus dem breiten Spektrum der Signale aus der Umwelt ganz wenige aus und dabei natürlich solche, die für das Überleben in einer komplexen Welt besonders dienlich sind. Aus diesem wenigen wird dann ein kohärentes Bild der Welt konstruiert, und unsere Primärwahrnehmung läßt uns glauben, dies sei alles, was da ist«, so der renommierte deutsche Hirnforscher Wolf Singer24. Das stereotype Bildzeichen erhält mit der Vielzahl und Vielfalt seiner visuellen Wiederholungen, leichten Umformungen und neuen Variationen darüber hinaus sogar eine derartige Prägnanz und Resistenz, daß es noch in stärkster Abbreviatur und Regression als symbolisches Bildzeichen Signifikanz erweist, somit rasche Wiedererkennung beim Betrachter findet und sich physiologisch als stabile Kognitionsstruktur in das menschliche (Langzeit-)Gedächtnis einschreiben konnte. Denn bewußtes und unbewußtes Erkennen ist stets an eine kognitive Gedächtnisleistung gekoppelt, d. h. Wahrnehmung und Gedächtnis sind offenkundig aufs engste miteinander verbunden. Das Gedächtnis hat dabei offenbar zudem die besondere Fähigkeit, blitzschnell zu assoziieren.25 Als weiteres Bildbeispiel möchte ich hier daher noch eine wichtige, aber zeitlich eher flüchtige filmische Bildsequenz im prominenten kurzen Showdown von Ebd. Vgl. Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, in: ders.: Der Beobachter im Gehirn – Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main 2002), 78 f. 25 Siehe etwa Siegfried J. Schmidt: Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven, in: Gedächtnis – Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, hg. von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt/M. 1991, 9–55. 23 24
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Jonathan Demmes The Silence of the Lambs (USA 1991) anführen. Die Einstellungssequenz zeigt nach der im dunklen Keller rasant und dramatisch verlaufenden tödlichen Schießerei zwischen der jungen FBI-Agentin in spe Clarice Starling und dem fieberhaft gesuchten psychopathischen Massenmörder und bestialischen Frauenhäuter ›Buffalo Bill‹ zweimal für den Bruchteil von nur Sekunden einen dunklen Stahlhelm und eine schräg aufgestellte US-Flagge, beides von einem schlagartig lichtdurchfluteten Fensterrahmen zum ominös stillebenhaften Bild gerahmt.26 Offensichtlich ein filmisches Bildzeichen dafür, daß am Ende, nach allen Morden und horrorhaften Kämpfen vorläufig das Gute wieder über das Böse gesiegt hat, daß Recht und Ordnung in der US-amerikanischen Zivilgesellschaft aufopferungsbereit, unbeugsam und mutig wieder hergestellt wurden – zumindest vordergründig und für den filmischen Moment. Eine zusätzliche Lesart im Sinne eines ›zynischen Kommentars‹27 ergibt sich durch die nachfolgende Einbeziehung des Filmendes (Dr. Hannibal Lecter: »I’m having a friend for dinner«) und den ständigen Wechsel der Perspektiven zwischen Täter und Opfer während des gesamten Films, die immer wieder die Identifikationsoptionen der Zuschauer (vor-)bestimmen. Diese Interpretationen erschließen sich allerdings erst durch den inter medialen Verweis und beruhen auf einem subtilen wahrnehmungstheoretischen Mechanismus, der mit eidetischen Bildern operiert. Derartiges Bildverstehen setzt nämlich eine hohe spezielle Wahrnehmungskompetenz und entsprechende kognitive Vergleichsmöglichkeiten beim Betrachter voraus. Die enorme Reduktion und Regression auf das bekannte signifikante Bildschema dieser bekannten extrem kurzen Filmsequenz entspricht nicht zuletzt aber auch der Reduzierung von Komplexität und Kürzung der Fassung von Inhalten während eines gewöhnlichen Wahrnehmungsvorgangs im Alltag. Das Erinnernde, Zitierende und aktiv zu Rekonstruierende in dieser kürzelhaften fotografischen bzw. filmischen Reproduktion wäre demnach im übertragenen Sinne mit dem eidetischen Erinnern bei den mentalen Bildern vergleichbar. Klaus Sachs-Hombach stellte deutlich heraus28, daß diese internen Bilder durchaus nicht als Bilder, wie wir sie in der materiellen Wirklichkeit wahrnehmen, im Gehirn zu finden sind; es wird vielmehr behauptet, daß bestimmte Formen der mentalen Repräsentation existieren, die analog zu den wahrgenommen materiellen Bildern funktionieren: »Es wird also lediglich eine partielle Strukturisomorphie zwischen mentaler bildhafter Repräsentation und Repräsentiertem angenommen.« Wahrnehmung kann nach Rudolf Arnheim aber auch als reine Erkenntnis beschrieben werden29: »Aktives Erforschen, Wählen, Erfassen des Wesent-
Siehe Filmstill in Filme der 90er, hg. von Jürgen Müller, Köln u. a. 2001, 15. Freundlicher Hinweis von Josef Früchtl. 28 Klaus Sachs-Hombach: Begriff und Funktion bildhafter Darstellungen, in: Bild / Medien /Wissen – Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter, hg. von Hans Dieter Huber, Bettina Lockemann, Michael Scheibel, München 2002, 17. 29 Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken – Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1977, 24. 26 27
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lichen, Vereinfachen, Abstrahieren, Analyse und Synthese, Ergänzen, Korrigieren, Vergleichen, Aufgaben lösen, Kombinieren, Unterscheiden, in Zusammenhang bringen.« Gesehenes weckt einwirkende Erinnerung, so Erinnertes generiert und formt äquivalente kohärente Bilder. Das Erinnerungs- und Vorstellungsbild kann so auch Bestandteil eines kollektiven Bildgedächtnisses sein, so wie es ein variabler Bestandteil im Wahrnehmungshaushalt eines kognitiven Systems ist. Als kollektives mentales Bild wiederum kann es aus gegebenem aktuellen Anlaß, beispielsweise durch die Wahrnehmung eines besonderen singulären Ereignisses in der physischen Wirklichkeit, plötzlich wieder aus dem visuellen Gedächtnis aktiviert, realisiert und assoziiert werden und, als weitere Reaktion darauf, eine externalisierte aktuelle Verkörperung in einem mitunter neuartigen Medium und fremden Kontext erfahren – es kann einen neuen zeitgebundenen Modus der Repräsentation einnehmen, wie der Kunstwissenschaftler Hans Belting das wohl nennen würde. Die optische Wahrnehmung und der aktuelle Sinneseindruck gehen demzufolge bisweilen mit erinnerten mentalen Bildern eine höchst wirksame Synthese ein, die ein beziehungsreich konstruiertes Produkt aus Gegenwart und Vergangenheit ist und im hier erörterten konkreten Fall im symbolischen Siegeszeichen auch noch die mögliche Zukunft antizipiert. Der fotografisch arretierte Moment provoziert bereits diese Vorstellung von historischer Endlosigkeit und kontextueller Überzeitlichkeit – das Foto als Repräsentant und Verkörperung ewigen Andenkens und der Andacht. Man kann diese internen Konstruktionen also durchaus mit den externen Produktionen des menschlichen Geistes analogisieren: Die Traduktion und Wandlung der Engramme beziehen sich allerdings mehr auf das jeweils spezifische Medium als auf die besondere Form und Struktur bzw. das relativ fixe Schema des Bildmotivs selbst. Übertragung, Wiederholung, Umformung, Umkehrung und Nachleben bestimmter Bildtypen entspricht im historischen Reich der visuellen Bildmedien somit, wiederum frei nach Hans Belting30, gleichsam dem Wandern von Nomaden, »die in den geschichtlichen Kulturen ihren Modus verändert und dabei die aktuellen Medien wie Stationen auf Zeit benutzt haben.«
III. Wie wirkt ein Bild, und was macht ein Bild wie die US-Flaggenhissung auf Ground Zero nun aber zu einer patriotischen Ikone in der modernen Medienlandschaft? Einerseits formal gesehen wohl die medienspezifische, bildgeschichtlich reflexive Inszenierung der aufgezeichneten physikalischen Wirklichkeit und andererseits inhaltlich vielleicht die bewußte Auswahl und Entscheidung, daß beide hier exemplarisch angesprochenen Pressefotos zwar ein für die US-Nation traumatisches historisches Ereignis bezeugen und mit aktuellem fotografischen Realismus und (Pseudo-)Ob30
Belting: Bild-Anthropologie [Anm. 13], 32.
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jektivismus dokumentieren, dieses aber paradoxerweise nicht wirklich visuell zeigen, d. h. daß die Reaktion auf eine gewaltsame (Fremd-)Aktion, die als ungeheure Verletzung und viel zu großes Trauma erfahren wird, nun im Rahmen der Möglichkeiten eines Bildes implizit inszeniert und somit transformiert wird. Pearl Harbor,Vietnam, die Verluste,Toten und Verletzten sowie die ›surrealen‹ Luftattacken des 11. September 2001 treten als eigentliches Ursprungsereignis der Aktualisierungen des Bildmotivs hier visuell nicht explizit in Erscheinung, vielmehr dienen sie den Überlebenden als späteren Bildbetrachtern in mehrfacher Hinsicht zur schonenden immateriellen mentalen Erinnerung, die eine solidarische Identität stiftend, vor allem Hoffnung und Mut weckt, d. h. eine Kompensation des erhaltenen Verlustes verspricht und damit gemeinhin auch die Moral und Hoffnung stärkt. Die (bereits) historischen Aufzeichnungen des 11. September sind überdies vielleicht in ihrer Wirkung unserer Zeit noch viel zu nah und emotional zu stark, als daß sie bereits von den zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen überzeugend und originell zitiert werden könnten; vielmehr läßt sich derzeit aber im ›subkulturellen Raum‹ des weltweiten Internet bereits ein extrem sarkastischer, skurrilironischer, zynischer oder grotesk-humoristischer Umgang mit ihnen als eine Art psychologische Ventilfunktion ausmachen. So zum Beispiel in den fingierten Postkartenmotiven, die die von den beiden Flugzeugen gerade getroffenen New Yorker Twin Towers etwa mit der Aufschrift Where was Kingkong when we needed him? zeigen.31 Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht gerade, wie sehr damit eigentlich auch der Kern der Sache getroffen wird, d. h. angedeutet wird, wie sehr wir inzwischen eingeübt und gewohnt sind, die Wirklichkeit nur noch konditioniert und formalisiert in medialen Bildern, insbesondere gerade den fiktiven, phantasmagorischen, simulierten, ästhetisierten sowie insbesondere mit der kommerziellen Kameraoptik von scopophilen Hollywood-Inszenierungen wahrzunehmen. Werden bei der Betrachtung des Franklinschen Bildes vom 11. September 2001 also ganz bestimmte Kategorien und Bilder aus dem kollektiven visuellen Gedächtnis wieder aufgerufen, so werden im gleichen Zuge aber auch andere von ihrer mentalen wie materiellen ›Realisierung‹ völlig ausgeschlossen; jene nämlich, die etwa mit einem bestimmten kulturellen Tabu behaftet sind. Gemeint ist damit eine Art inoffizieller kultureller Produktionskodex der Medien, z. B. das Phänomen der NichtDarstellung von Tod. Die durchaus vielen veröffentlichten ›ästhetischen‹ Bilder der Ruine des World Trade Centers zeigen nämlich nur wenige ›Jumper‹, aber keine Leichenteile oder verstümmelte, blutige Opfer oder gräßlich entstellte Tote. So stellte auch Birgit Richard jüngst bereits nachdrücklich heraus, daß die Opfer der WTCAttacke bildlich im doppelten Sinne gesehen für immer die ›perished‹, die aus dem Alltag Verschwundenen, bleiben werden.32 Siehe im Internet unter http://oblsux.com. Birgit Richard: 9–11. World Trade Center Image Complex + ›shifting image‹, in: Kunstforum International, Bd. 164 (März–Mai 2003), 36–73, hier 44. 31 32
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Die Fotografie richtet sich ihrem Wesen und ihrer Funktion nach ohnehin immer als authentische Berichterstattung, Mitteilung und Nachricht an die Überlebenden und ›Dagebliebenen‹, an eine ihr bekannte oder unbekannte Nachwelt. Diese appellativen Bilder werden in Form materieller Konkretisationen leichter fester Bestandteil des sozialen wie kommunikativen Gedächtnisses. Sie wirken im Kommunikationsprozeß als soziale Zeichen und direkte Botschaften. Franklins Bildfotografie kann demnach als appellativ verstandener Ausdruck eines bestimmten aktuellen nationalen Gefühlszustandes aufgefaßt werden. Ein nationales Selbstbild, das explizit auch zum universalen Weltbild gerät. Denn die neue Hypermacht USA befindet sich – so oder so – nun kampfentschlossen im Kriegszustand: ›United we rise. And life, America, will go on‹ (George W. Bush). Ganz traditionell affizieren demgemäß diese appellativen Bilder die kommunizierende Gemeinschaft und dienen dabei gleichzeitig ganz konventionell zu ihrer Erbauung oder – je nach Perspektive – als Abschreckung und Drohung, denn die in den Engrammen und Symbolen gespeicherte Energie vergangener Erfahrungen kann, wie der Kulturhistoriker Aby Warburg in seinen kunsttheoretischen Reflexionen schon nachdrücklich behauptet hat, durchaus in unterschiedliche Ausdrucksmotive geleitet werden33: »Das Symbol oder ›Engramm‹ ist mit latenter Energie geladen, aber die Art der Entladung kann sowohl positiv als auch negativ sein […]«. In diesem Sinne konnte Warburg vom ›Engramm‹ sagen, seine Ladung sei ›neutral‹; erst in der Berührung mit dem ›selektiven Zeitwillen‹ werde es zu einer der Deutungen ›polarisiert‹, deren es potentiell fähig ist. Dies inkludiert auch unterschiedliche Interpretationen (s. o.) und mitunter erhebliche Bedeutungsinversionen, d. h. das plötzliche Umschlagen einer Bedeutung in ihr Gegenteil. Die konnotative Bedeutung und normative Aussage eines prinzipiell frei verfügbaren bildhaften Zeichens / ›Images‹ wie des medial verbreiteten Bildzeichens der US-Flaggenhissung durch offizielle Handlungsträger hängt somit stets vom jeweils spezifischen Kontext, in dem es zitiert und kommuniziert wird, ab. Zitierfähige ›Images‹ sind demnach stets unbestimmt mehrsinnig, kontingent und relativ kontextabhängig.34 Aus dem ursprünglichen historischen Kontext herausgelöst, flottiert eine Fotografie mit ihrem Inhalt relativ frei im indifferenten Raum der Unbestimmtheiten und relativen Unzugehörigkeiten. Ihr Bildgegenstand erhält erst wieder eine bestimmte oder allgemeinere, übergreifende Bedeutung durch den bewußten Akt einer intentionalen Zuordnung, indem das Bildmotiv beispielsweise einer ganz bestimmten Bildtradition zugeordnet und auch mit implizitem (Vor-) Wissen verankert werden kann. Das Sujet der US-Flaggenhissung fungiert hier zusammengefaßt nicht mehr als reine (kurzlebige), interpretierbare Bildnachricht, sondern als informationelles ZeiVgl. Gombrich: Aby Warburg [Anm. 5], 337. Vgl. hierzu Werner Hofmann: Wie deutsch ist die deutsche Kunst? – Eine Streitschrift, Leipzig 1999, 18. 33 34
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chen und subtile dauerhafte Botschaft. Es beschreibt symbolisch einen aktuellen inneren Seelenzustand, entspricht aber dabei gleichzeitig einem zeitgemäßen Appell, der die Elevation einer handlungsstarken sozialen wie politischen Gemeinschaft adressiert, die mitnichten schon den Glauben und das nationale Selbstvertrauen verloren hat, sondern vielmehr nun beruhigt, motiviert und siegesbewußt vorwärts in die Zukunft blickt. Erinnerung an das vergangene Ereignis generiert hier gleichzeitig die Antizipation von Zukünftigem oder Möglichem, die das singuläre traumatische Ereignis der Vergangenheit eigentümlich überdeckt, unsichtbar werden läßt und optisch ausblendet. Das Bild fungiert darin als eine Art therapeutische Beschwörungsformel, ›an unforgettable image of hope‹, wie die US-amerikanische Presse kurz und griffig passend kommentierte. Jedoch immer noch gemäß dem alten antiken Topos Mortui viventes obligant, an den das spezifische Darstellungsschema hier mit seinem besonderen historischen Kontext und zivilreligiösen Konnotationen gemahnt. Dahinter steckt insgesamt gesehen überdeutlich auch das Motiv und der Gedanke einer besonderen Mission und ethisch-moralischen Verpflichtung. Nach Kienholz’ Persiflage in den gesellschaftspolitisch turbulenten, extrem politisierten sechziger Jahren, unter den veränderten aktuellen historischen Umständen nach dem 11. September, erlebt das Bildmotiv eine instrumentalisierte Wiederkehr als nationales Symbol für einen neuen amerikanischen Superpatriotismus. Hiermit übernimmt die profane distinkte Pressefotografie von Thomas E. Franklin aber nicht nur automatisch bereits zukünftige genuine Modelleigenschaft für etwa noch zu stiftende realistische Denkmale, sondern auch die bedeutungsvolle Aufgabe der traditionellen Nachfolgeschaft der inzwischen längst medial überholten und altgewordenen Historienmalerei der hehren Kunst in der Moderne, was letztlich bedeutet: Sie beinhaltet sowohl die wahre Dokumentation und narrative Schilderung als auch die ästhetische wie heroische Überhöhung eines bedeutsamen singulären historischen Ereignisses für die gesamte Nation. Und dabei gilt stets auf bestimmte gewisse Weise immer noch der alte populäre Slogan: Memory generates history! Es wundert folglich nicht mehr, daß bereits kurz nach der ersten weltweiten Verbreitung dieses bedeutsamen Pressefotos zum 11. September, das inzwischen auch den offiziellen Bildtitel Flag-raising at Ground Zero erhalten hat, und nach allgemeinem Konsens so auffallend der berühmten Presseikone des Zweiten Weltkriegs formal wie inhaltlich ähnelt, sich im Internet eine US-amerikanische Bürgerinitiative gebildet hatte, die dieses aktuelle Fotobild ebenfalls nach dem Arlington Vorbild in ein bronzenes Ehrenmal für den 11. September 2001 in Ewigkeit gegossen sehen wollte.35 Die Petition dieser Internetgruppe beinhaltete dabei bezeichnenderweise ausdrücklich den folgenden Aufruf: ›use the famous picture of the flag raising to accurately depict the raising as it occurred‹ – die notorische Authentizität des inzwischen formelhaft gewordenen, quasi-religiösen Dokumentes für den wahren Vgl. die Seite im Internet unter http://www.petitiononline.com/flgraise/petition.html (last access 4/2003). 35
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Überlebenswillen, für die Moral und die ungebrochene Wehr- und Streitbarkeit der US-Nation darf hier nicht einmal von einer in den USA derzeit obligatorischen Political Correctness mehr gestört werden. Deren Verfechter hatten nämlich zunächst eine eindeutige Manipulation der Fotovorlage dahingehend gefordert, daß die darin fotografisch porträtierten Feuerwehrleute zukünftig auch mit verschiedenen Ethnien identifiziert werden sollten – ganz so nämlich, wie in Frederick E. Harts umstrittenem figürlichen Vietnam-Denkmal aus einer Bronzegruppe mit drei US-Infanteristen unterschiedlicher ethnischer Abstammungen (1984); die Bronzegruppe ergänzt das nach vielen heftigen und erbitterten Diskussionen über politisch korrektes und gerechtes Gedenken wie adäquates nationales Andenken inzwischen von der Kunstkritik durchweg gelobte und favorisierte bekannte abstrakte Vietnam Memorial von Maya Lin zwischen dem Washington- und Lincoln-Memorial auf der historischen Washington Mall36. Selbstredend bliebe auch ein Ehrenmal in einer zeitgemäßeren, modernen abstrakten Formensprache für diese US-Patrioten völlig indiskutabel und einmal mehr völlig ausgeschlossen – weil offensichtlich aufgrund eines fehlenden stabilen Kognitionsmusters nicht ausreichend sprachfähig und visuell zu weit von der vermeintlich ausdrucksstarken, pathosbehafteten Realität respektive dem musterhaften physischen Realismus der fotografischen Dokumentation des historischen Ereignisses entfernt. Denn ihm würde die leichter und schneller begreifbare, anschaulich schildernde und erzählende Dimension wie auch bildliche Primärfunktion gänzlich fehlen. Auch die Erinnerung verlangt schließlich in der modernen Mediengesellschaft immer mehr das schnell einprägsame und leicht verständliche Bild, nicht die langen Worte und reflexiven Abstraktionen. Die neuen schnellen Massenmedien liefern hierfür den Takt, denn seit der Medienrevolution des letzten Jahrhunderts gilt schließlich: »Information was arranged in brief, simple units, a single image, a thirty-second spot, a highly edited segment, a flash message. The brevity and simplicity of the images in turn allowed rapid cutting from topic to topic. […] Pictorial communication is thus reduced to the presentation and recognition of an easily identified cliché, logo, or token.«37 Solcherart einprägsame und szenisch eingefrorene Fotografien erweisen sich demnach auch geradezu als ideale Vorlagen für eisern erstarrte Denkmäler. Dies um so besser, wenn sie überdies noch genügend Metaphorizität und Zeichenhaftigkeit, visuelle Dichte und enorme Referenzialität besitzen. Wir dürfen also gespannt sein, in welchen neuen Formen und relevanten Variationen uns das angesprochene Bildmotiv weiterhin begegnen wird. Mit welchen neuen formalen Analogien und graduellen Ähnlichkeiten es wiederum auftauchen wird, die unsere flüchtige Wahrnehmung und kostbare Aufmerksamkeit in der Vgl. hierzu auch Charles L. Griswold: The Vietnam Veterans Memorial and the Washington Mall – Philosophical Thoughts on Political Iconography, in: Critical Inquiry, Vol. 12, No. 4 (Summer 1986), 688–719. 37 Stich: Made in U.S.A. [Anm. 21], 111 und 155. 36
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Unübersichtlichkeit der inflationären Bilderflut der globalen Massenmedien für ›Augen-Blicke‹ dann einzufangen vermögen sowie unsere Sinne zum konzentrierten und nachsinnenden Halt zwingen werden. Die jeweilige Varianz der stabilen Kognitionsmuster indes scheint den für die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung notwendigen Neuheitswert allein schon zu garantieren. Nicht zuletzt gewährleisten diese neuen Realisierungen und Aktualisierungen, daß ihr Vorbild bzw. die konnektiven Vorläufer des jeweiligen Bildmotivs langfristig im Bewußtsein respektive im kommunikativen Bildgedächtnis bleiben und damit auch (zukünftig) weitergetragen werden (können). »Herrschte auf unserem Nachbarplaneten keine Schwerelosigkeit«, spottete daher einmal Hans-Werner Schmidt38, »hätte man womöglich bei der ersten Mondlandung für die TV-Übertragung das Sternenbanner in Mount Suribachi-Manier in den Boden gerammt.« So ist aber nun bekanntlich nur beim Bild des Mannes auf dem Mond neben der wenig wehenden US-Flagge geblieben, ob nun von Stanley Kubrick in den MGM-Studios von Hollywood szenisch (vor-)inszeniert oder nicht.39 Wenn wir also gemäß Umberto Eco der langen Reihe von Worten einer einzigen Fotografie Gehör und Glauben schenken wollen, so müssen wir doch immer auch damit rechnen, daß sie mitunter lügen oder uns (bewußt) irreführen könnten. Trauen wir aber allein nur den (Medien-)Bildern mit ihren Stereotypen, so haben drei Kosmonauten der Amerikaner das Sternenbanner während des Millenniums bereits auf dem nach dem antiken Kriegsgott benannten Planeten Mars gehißt (Abb. 5, S. 44 oben) – Brian de Palmas Hollywooderfolg Mission to Mars (USA 2000) liefert uns jedenfalls bestätigend das wiederum erwartete, ikonographisch längst bekannte alte ›Bild‹ samt der ihm innewohnenden weitreichenden Botschaft dazu. In Bezug auf dieses aktuelle Regime des Visuellen bleibt somit Jean-François Lyotards Parole in Les Immatériaux40 zu bedenken, nämlich die offenkundige Bedeutung der Dinge nicht mehr länger wirklich für bare Münze zu nehmen, denn ihre Bilder betreiben manchmal auf eine recht perfide Art Mimesis. Schmidt: Edward Kienholz [Anm. 20], 80. Gerade aber die populäre Filmindustrie Hollywoods bedient sich weiterhin sehr gerne des pathetischen Iwo Jima-Motives als prägnanter Bildformel und -zeichen des Sieges und Triumphes; an dieser Stelle sei hier allein nur auf ein jüngstes Zitat hingewiesen: In dem TV-SF-Film James Cameron’s Dark Angel – Ein Volk von Monstern (USA 2002) hissen sogenannte Transgenos und Mutanten nach ihrem erfolgreichen ›Befreiungskampf‹ und Aufstand gegen ihre Schöpfer, die skrupellos gentechnisch experimentierende Menschheit, am Ende in bereits bekannter Manier die Fahne ihrer Freiheit und Selbstbestimmung über den Dächern der utopischen Terminal City. Hier markiert das Zitat des Bildzeichens im fiktionalen Rahmen überdeutlich den Aufbruch in ein neues Zeitalter, eine für die Zukunft entscheidende Zeitenwende. 39 Siehe hierzu auch den für jeden Verschwörungstheoretiker respektive -paranoiker höchst interessanten Fernsehdokumentationsfilm Die Akte Apollo – War die Mondlandung eine Lüge? von Willy Brunner und Gerhard Wisnewski, WDR 2002. 40 Ausstellungs-Katalog Centre Pompidou, Paris 1994. 38
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Epilog »Jedermann ist geneigt zu glauben, daß an Ort und Stelle aufgenommene Bilder nicht lügen können. Natürlich können sie lügen.« (Siegfried Kracauer: Schriften, hg. von Karsten Witte, Bd. III: Theorie des Films – Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1973, 220.)
Abb. 1: Thomas E. Franklin, Flag Raising at Ground Zero, 11. September 2001, Farbfotografie (aus: Focus – Das moderne Nachrichtenmagazin, Nr. 52, 21. Dezember 2001, Copyright 2001, The Record, Bergen County, NJ).
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Abb. 2: Joe Rosenthal, The Raising of the Flag on Iwo Jima, 1945, Schwarzweißfotografie.
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Abb. 3: Felix de Weldon, Iwo Jima Memorial, 1945-54, Ehrenmal, Washington D.C., Arlington National Cemetery.
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Abb. 5: Filmstill aus Mission to Mars (Regie: Brian de Palma, USA 2000). Abb. 4: Edward Kienholz: The Portable War Memorial, 1968, Environment aus verschiedenen Materialien und Objekten, Tonband und Coca-Cola-Automat, 285 x 950 x 240 cm, Köln, Museum Ludwig, Stiftung Ludwig.
Abbildungen 2, 3 und 4 aus: Hans-Werner Schmidt: Edward Kienholz – The Portable War Memorial – Moralischer Appell und politische Kritik, Frankfurt/M. 1988, vgl. S. 7, 32 u. Titelbild.
Soma-Ästhetik und Demokratie Die politische Dimension der Körperkunst Von Martin Jay
Wohl kein Philosoph des 20. Jahrhunderts stand der Rolle der ästhetischen Erfahrung beim Aufbau einer demokratischen Kultur so positiv gegenüber wie John Dewey, der überragende öffentlich wirksame Intellektuelle Amerikas während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Vision von Demokratie erforderte ein starkes Bekenntnis nicht nur zu einem ungehinderten freien Untersuchungsprozeß offenen Ausgangs, der dem der wissenschaftlichen Gemeinschaft nacheiferte, sondern auch zur Selbstverwirklichung, die aus der aktiven Beteiligung in der Öffentlichkeit resultierte. Das Modell dieser Selbstverwirklichung sah er am besten in der sinnlich vermittelten, organisch vollendeten, formalen Aktivität der ästhetischen Erfahrung ausgedrückt. Da die ästhetische Erfahrung als ihr Telos Vollendung, Geschlossenheit, Erfüllung und Inklusion aufwies, konnte sie als das Modell einer demokratischen Politik dienen, die über einen dünnen Prozeduralismus hinaus zu einer bedeutenderen Form des Lebens reichte. »Kunst ist eine Art der Voraussage«, schrieb Dewey, »wie sie nicht in Tabellen und Statistiken anzutreffen ist, und sie gibt Möglichkeiten menschlicher Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel und Vorschrift, Ermahnung und Verwaltung anzutreffen sind.«1 Folglich hat Robert Westbrook, einer seiner bedeutendsten Biographen der letzten Jahre, mit Bezug auf Deweys großes Werk von 1934 korrekt konstatiert: »Kunst als Erfahrung war für die radikalen politischen Ansichten, die Dewey in den dreißiger Jahren in Anspruch nahm, nicht nebensächlich. Tatsächlich war dieses Buch eines der stärksten Statements dieser Politik, denn es zeigte klar, daß sein Radikalismus nicht einer war, der sich einzig und allein auf das materielle Wohlbefinden des amerikanischen Volkes richtete, sondern auch auf die Versorgung mit vollendeter Erfahrung, die nur außerhalb der Zirkulation von Waren gefunden werden konnte.«2 Für Dewey konnte das ganze Potential der ästhetischen Erfahrung und ihres politischen Gegenübers nur realisiert werden, wenn drei fundamentale Veränderungen bewirkt würden. Erstens mußte die Kunst die elitäre Welt der Museen und Privatgalerien hinter sich lassen und Teil des Alltags der Massen werden. Das ästhetisch gelebte Leben würde die Kluft zwischen Mittel und Zweck überwinden und die Einbeziehung der Masse in die Freuden, die bis dahin nur wenigen vorbehalten John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1988, 402. Robert B. Westbrook: John Dewey and American Democracy, Ithaca 1991, 401 f. (Eigene Übersetzung). 1 2
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waren, unterstützen. Was Peter Bürger als die historische Mission der Avantgarde gesehen hat, im Gegensatz zu der der Modernisten, nämlich dem Leben die erlösende Kraft der Kunst einzuflößen, wurde folglich auch von Dewey geteilt.3 Zweitens mußte sich die ästhetische Erfahrung von der Kantischen Idee, daß das Ästhetische inhärent kontemplativ und für den Rezipienten gemacht war, entfernen. Die Behauptung in der Kritik der Urteilskraft, daß Interesselosigkeit das Kennzeichen des Ästhetischen sei, mußte aufgegeben und die Rechte auf Bedürfnis, Verlangen und Sehnen mußten als genauso inhärent in ästhetischer Erfahrung wie in der Erfahrung generell anerkannt werden. In dem Maße, in dem der Ausdruck ›ästhetisch‹ kontemplative Konnotationen hatte, bevorzugte Dewey stattdessen, von künstlerischer Erfahrung zu sprechen. Während der erste Ausdruck nämlich Wahrnehmung, Vergnügen und Werturteil andeutete und so in seiner Implikation relativ passiv war, suggerierte der letztere Produktion und Aktion, das Erschaffen, statt sich nur daran zu erfreuen oder zu verurteilen, was andere erschaffen hatten. Drittens involvierte ästhetische oder besser künstlerische Erfahrung den ganzen Körper und nicht nur den Geist und die Vorstellungskraft oder gar nur die Sinne als Rezeptoren von äußeren Stimuli. Dewey widerstand also der altehrwürdigen Hierarchie, die immer noch völlig gegensätzlich war zum zeitgenössischen Geschmack, welcher, so klagte er an, dahin tendiert »die ›schönen Künste‹ höher zu bewerten, die einen Stoff neu gestalten, wofern das Kunstwerk nicht flüchtig, sondern von Dauer und vermögend ist, sich an einen breiten Wirkungskreis zu wenden, der das Künftige mit einschließt, im Unterschied zur begrenzten Bestimmung des Gesanges, Tanzes und mündlichen Geschichten-Erzählens für ein unmittelbares Publikum. Doch sind letztlich alle wertenden Klassifizierungen, ob nun höher oder geringer, fehl am Platze und töricht. Jedes Medium hat seinen eigenen Wirkungsgrad und seinen eigenen Wert.«4 Für die Politik waren daher vielleicht die performativen Künste wichtiger als diejenigen, die sich der Kreation von permanenten Objekten für die Nachwelt verschrieben hatten; eine Einsicht, die Hannah Arendts bekannte Unterscheidung zwischen dem Menschen als homo faber und als politisch Handelndem in ihrem Werk Vita Activa oder vom tätigen Leben vorwegnahm. Obwohl Dewey nach seinem Tod 1952 für eine Generation in der Versenkung verschwunden war, erfuhren seine Theorien in den letzten zwei Jahrzehnten eine außergewöhnliche Renaissance. Einer der Gründe für das erneute Interesse ist eben diese Theorie der ästhetischen Erfahrung und ihre weiteren Implikationen.5 Aufbauend auf Deweys Argument, hat der zeitgenössische pragmatistische Philosoph Richard Shusterman ein ehrgeiziges Projekt vorgeschlagen, das er »somaesthetics« Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1975. Dewey: Kunst [Anm. 1], 265. 5 Vgl. zum Beispiel Philip W. Jackson: John Dewey and the Lessons of Art, New Haven 1998. Vielleicht die beste allgemeine Studie: Thomas M. Alexander: John Dewey’s Theory of Art, Experience and Nature, Albany, N.Y. l987. 3 4
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(Soma-Ästhetik) nennt.6 In der Hoffnung, den Unterschied zwischen den schönen Künsten und reiner Handwerkskunst auszulöschen und die Exklusivität der Kunst als eine autonome Institution zu unterminieren, lobt Shusterman Dewey für seine Bereitschaft, »die autokratische Aura transzendentaler Autorität der hohen Kunst gegen eine nüchternere und demokratischere Hoffnung auf ein verbessertes Leben und eine bereicherte Gemeinschaft des Verstehens zu tauschen«7. Auf der Suche nach einem aktuellen Beispiel realisierter Soma-Ästhetik traf Shusterman auf Rapund Hip-Hop-Musik als Verkörperungen einer demokratischen und inklusiven Praxis, die die puristischen Ansprüche auf ästhetische Autonomie zurückwies. Die Politik dieser Musik, die einen aggressiven Ausbruch von Empörung und Protest gegen soziale und rassistische Ungerechtigkeit darstellt, straft das Stereotyp der populären Kunst als inhärent konservativ und konformistisch Lügen. Was immer man von Shustermans Zelebrierung des Rap als einer erfolgreichen Realisierung des Deweyschen Ideals denken mag, sie wirft die Frage nach der Beziehung zwischen, allgemein definiert, zeitgenössischer künstlerischer Praxis und der Realisierung von Demokratie auf. Rap und Hip-Hop sind sicherlich populäre Phänomene, die eine Art von gegensätzlicher Politik in die kulturelle Industrie eingeführt haben. Manchmal allerdings haben sich diese politischen Ansichten auf eine unverfroren frauenfeindliche und homophobe Art und Weise ausgedrückt, die von Shusterman nicht genügend berücksichtigt wird, obwohl er ihre gefährliche Rhetorik der Gewalt eingesteht. Und in dem Maße, in dem diese Musik kommerziell erfolgreich war, hat sie vielleicht einiges von ihrem kritischen Impetus verloren. Es könnte daher nützlich sein, sich an anderer Stelle nach Beweisen für die Plausibilität von Deweys Ideen umzusehen. Wir müssen nicht wirklich weit schauen. Denn ein viel eindeutigerer Versuch, Soma-Ästhetik mit einer Kritik dieser Hindernisse für die demokratische Kultur zu kombinieren, wurde in den letzten 40 Jahren von Künstlern unternommen, die nicht von Shusterman behandelt werden, vielleicht wegen ihres immer noch esoterischen Appeals.8 Ich spreche von einer lockeren internationalen Gemeinschaft von Performance-Künstlern, die auf oft transgressive und provokative Weise mit ihren eigenen Körpern experimentiert haben. Mit den neuesten Veröffentlichungen von Tracy Warr und Amelia Jones’ großzügig mit Abbildungen ausgestatteten und graphisch illustrierten Überblicksartikeln des, wie sie es nennen, Artist’s Body, können wir vielleicht Vgl. Richard Shusterman: Practicing Philosophy: Pragmatism and the Philosophical Life, New York l997, 177. 7 Vgl. ders.: Pragmatist Aesthetics – Living Beauty, Rethinking Art, Cambridge, Mass. 1992, 21 (Eigene Übersetzung). 8 In einem kürzlich durchgeführten Interview, »Self-Styling after the ›End of Art‹« von Chantal Ponbrian und Olivier Asselin in: Parachute 105 (2002), 59, erwähnt Shusterman nebenbei mehrere der Körperkünstler, die unten besprochen werden. Aber er versteht sie als Beispiele für »self-fashioning« und körperliche Disziplin statt als Herausforderungen für normative Ideen des Selbst als eines aktiven Agenten und des Körpers als eines gestalteten ästhetischen Ganzen. 6
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zum ersten Mal das volle Ausmaß und die Vielfalt dieser immer noch dynamischen Bewegung sehen.9 Obwohl Futurismus, Dadaismus und Konstruktivismus in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts sowie Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« den performativen Impuls in gewisser Weise antizipieren, kann er sich erst voll entwickeln, nachdem die klassische Moderne in den sechziger Jahren verschwindet. Künstler in Europa, Asien und Amerika waren inspiriert vom »action painting«, das mit Jackson Pollock in Verbindung gebracht wurde. Dieses hatte die Aufmerksamkeit von der Leinwand abgelenkt, hin zu der dynamischen Geste des Auftragens der Farbe auf die Oberfläche, und orientierte sich an der im Vordergrund stehenden komplizierten, oft theatralisch entwickelten Identität des Künstlers, die von Marcel Duchamp vorangetrieben worden war. Sie fingen an, ihre Aufmerksamkeit ihren eigenen Körpern als Orten künstlerischen Ausdrucks zuzuwenden. Den Fetisch der klassischen Moderne, die formale Reinheit – welcher immer noch stillschweigend Deweys Ästhetik der Vollendung durchdrungen hatte10 – und die Verehrung von Kunstobjekten ablehnend, die als Verkörperung von Werten auf dem ökonomischen Markt sowie in der kanonischen Geschichte der Kunst dienten, wendeten sie sich ephemeren Aufführungen zu, die ortspezifisch waren, oft außerhalb der Galerie oder des Museums stattfanden und so entworfen waren, daß sie jenseits der Aufnahme ihres Auftritts auf Film, Video oder Fotografien keine permanenten Rückstände hinterließen. Sie waren gegenüber traditionellen Ideen von der Souveränität des Autors feindselig eingestellt, arbeiteten daher oft kollaborativ oder anonym und lehnten die heroische, normalerweise männliche Version des künstlerischen Genius ab, der immer noch so mächtig in modernistischen Bewegungen wie dem abstrakten Expressionismus vorherrschte. Nicht weniger mißtrauisch gegenüber konventionellen Ideen von Schönheit oder sinnlichem Vergnügen verachteten sie, wie Duchamp es getan hatte, rein retinale Malerei zugunsten einer Kunst, die auf Ideen, Theorien, linguistischer Reflexivität und Sozialkritik basierte und benutzten fortwährend ihre Körper als das Material, auf welchem diese konzeptuellen Projekte realisiert wurden. Oder präziser ausgedrückt, sie realisierten paradoxerweise die dematerialisierenden Ambitionen der Konzeptkunst durch das Medium der Körper, die als das verstanden wurden, was Bataille »Basis-Materialismus« (matérialisme bas) genannt hätte, der Körper als Ort der kreatürlichen Verwundbarkeit, sogar des NieTracy Warr / Amelia Jones: The Artist’s Body, London 2000. Es gab frühere Darstellungen, z. B. RoseLee Goldberg: Performance Art – From Futurism to the Present, London l988; Amelia Jones: Body Art/Performing the Subject, Minneapolis l998 und Amelia Jones / Andrew Stephenson (Hg.): Performing the Body/Performing the Text, London l999. 10 Deweys Freundschaft mit dem Sammler Albert Barnes, der ein resoluter antikontextualistischer Formalist war, scheinen seine eigenen Urteile über die Wichtigkeit der Form beeinflußt zu haben. Eine Erörterung von Barnes und Dewey, die dieses Thema ausführlich behandelt, ist zu finden bei Alan Ryan: John Dewey and the High Tide of American Liberalism, New York 1995, 252 ff. 9
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dergangs und Verfalls, statt der erhebenden Verschönerung. Dadurch intensivierten sie die anti-optische Theatralisierung der ästhetischen Erfahrung, das direkte Ansprechen des Körpers des Betrachters in Echtzeit, das formalistische Kritiker wie Michael Fried in der minimalistischen Kunst der sechziger Jahre energisch, wenn auch erfolglos verdammt haben.11 In den frühesten Phasen der Körperkunst gab es oft ein ekstatisches Gefühl der Erlösung von üblichen Zwängen, besonders sexuellen, welches das Zelebrieren polymorpher Perversität ausdrückte, das für die sechziger Jahre in ihrer utopiefreudigen Form charakteristisch war. Arbeiten wie Carolee Schneemans Meat Joy von 1964 (Abb. 1, S. 58) wollten den Körper von den Zwängen befreien, die ihm durch moralische, ästhetische und soziale Konventionen auferlegt wurden. Die Tatsache, daß die Künstlerin eine Frau war, die willentlich nackt in der Öffentlichkeit auftrat, stellte eine radikale neue Richtung dar, obwohl männliche Künstler schon nackte weibliche Modelle benutzt hatten, wie z. B. Yves Klein, dessen Modelle sich, bedeckt mit seinem Markenzeichen, blauer Farbe, auf einer Leinwand krümmten, um 1960 »anthropometrische« Bilder, wie er sie nannte, zu produzieren. Der italienische Künstler Piero Manzoni, dessen völlig weiße Leinwände, genannt »Achromes«, die Erschöpfung der Malerei zum Thema hatten, hatte den Prozess durch das völlige Eliminieren der Leinwände einen Schritt weiter geführt. 1961 stellte er seine »Living Sculpture« aus, in der nackte Modelle vom Künstler signiert wurden und ein Zertifikat der Authentizität erhielten, welches bescheinigte, daß sie fortan als echte Kunstwerke betrachtet werden sollten. Schneeman und die anderen weiblichen Performance-Künstler, die ihre unbekleideten Körper ausstellten, radikalisierten diese Gesten dadurch, daß sie den männlichen Künstlern die Kontrolle des ästhetischen Prozesses abrangen. Sie suchten explizit die Umkehrung der Sublimierung des nackten, lustinspirierenden Körpers zum erhöhten Akt, der seit Jahrhunderten ein Merkmal der westlichen Kunst und der Ideologie der ästhetischen Interesselosigkeit gewesen war. Duchamp folgend, drängten sie den Akt dazu, von seinem Sockel herabzusteigen und sich selbst, wie er es in Duchamps letzter Arbeit, seiner berüchtigten Installation Étant donnés (Given), getan hatte, als ein explizites Objekt eines voyeuristischen Blickes zu enthüllen. Oder vielmehr wollten sie die Objektivierung von Frauen durch diesen Blick herausfordern, dadurch, daß sie ihn an seine Grenzen brachten und die Kontrolle über die Bedingungen der Zurschaustellung und Erregung ergriffen. Nicht nur die Objektivierung der Körper der Frauen, sondern die Verdinglichung ihres Wesens wurde attackiert, als Körperkünstler den Zusammenbruch 11 Vgl. Michael Fried: Art and Objecthood (1967), in: Art and Objecthood: Essays and Reviews, Chicago l998. Dieser Essay wurde in vielen Darstellungen der Entstehung der Körperkunst sogar zu einer unvermeidbaren Zielscheibe, z. B. bei Jones: Body Art [Anm. 9], 112 f. ; dies.: Art History / Art Criticism: Performing Meaning, in: Jones / Stephenson: Performing the Body / Performing the Text [Anm. 9], 42 ff. und Christine Poggi: Following Acconci /Targeting Vision, in: Jones / Stephenson: Performing the Body / Performing the Text, 269.
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von Geschlechtergrenzen vorhersahen, der später von Queer-Theoretikerinnen wie Judith Butler befürwortet wurde. 1970 führte der New Yorker Künstler Vito Acconci ein Stück auf, Conversations, in dem er an seinen Brustwarzen zog, um eine weibliche Brust hervorzubringen, sein Körperhaar abbrannte und seinen Penis zwischen seinen Beinen versteckte, um seine Männlichkeit zu unterminieren. Die berauschende Fähigkeit, jenseits gegebener Geschlechter-Kategorien zu leben, seit langem ein Merkmal der Selbstgestaltung von Drag Queens, war von Duchamp in seinem gefeierten Selbstbild als Rrose Sélavy aufgeführt worden und wurde eine Generation später von Andy Warhols »Forged Image« imitiert. 1974 fotografierte sich Lynda Benglis selbst nackt mit einem riesigen Gummipenis, der aus ihrem Körper herausragte, für eine Anzeige einer Galerie, die sie in die Kunstzeitschrift Artforum setzte, und machte so den Imperativ, zu entscheiden, ob sie eine männliche oder eine weibliche Künstlerin war, lächerlich (Abb. 2, S. 58). Fast von Anfang an allerdings legte die Körperkunst eine dunklere, unruhigere Seite an den Tag, die weiter ging als das reine Infragestellen konventioneller Geschlechter-Kategorien. Sie entfernte sich immer weiter von der erbaulichen Vision der integrierten, vollendeten künstlerischen Erfahrung, die von Dewey verteidigt wurde und immer noch Shustermans Soma-Ästhetik durchdringt. Nehmen wir zum Beispiel die Flugbahn, die von Pollocks hyper-maskulinen Aktionsbildern mit ihrer unvermeidbaren Heraufbeschwörung von Ejakulations-Raserei zu der Fluxus-Künstlerin Shigeko Kubota und ihrem »Vagina Painting« (Abb. 3, S. 59 unten) aus dem Jahr 1965 führte, in dem sie einen Pinsel benutzte, der an ihrer Unterhose befestigt war, um rote, menstruationsartige Farbe auf eine Leinwand zu schmieren; bis zu Rachel Lachowiczs »Red Not Blue« von 1992, in dem Männer, nicht Yves Kleins Frauen, statt seines signaturartigen Blaus, die Farbe Rot, nämlich die Farbe von Menstruationsblut, über Farbe auf ihren Körpern und Lippenstift, der an ihren Penissen festgemacht war, auf eine Leinwand applizierten; und letztendlich zu Keith Boadwees »Untitled (Purple Squirt)« von 1995, in dem der Künstler es irgendwie bewerkstelligte, lila Farbe aus seinem Anus auszustoßen, während er auf dem Rükken lag, in einer Geste, die Homoerotik und Anal-Erotizismus mit exkrementärer Aggression vermischte (Abb. 4, S. 59 oben). Statt des heroischen Ausdrucks des männlichen kreativen Körpers, dessen geniale Taten Spuren seiner Gegenwart auf Leinwänden hinterließen, die vertikal an Museumswände gehängt werden sollten, waren die Ergebnisse entschieden horizontal in ihrer Implikation, völlig gegensätzlich zu der erhebenden Sublimierung des rohen Körpers und explizit feindlich gegenüber konventionellen Standards der Fremdbestimmung. Wer diese »Performances« oder ihre Videoaufzeichnungen sah, wurde in die Welt des informe und der Basis-Materialität, die von Georges Bataille zelebriert wurde, geworfen, nicht in das Reich der Kunst als Kultivierung der Sinne und Erhebung der Sensibilität. Zur selben Zeit, als die Geschlechtsannahmen und der formalistische Purismus der klassischen Moderne von Künstlern wie Schneeman, Kubota, Lachowicz und Boadwee herausgefordert wurden, inszenierte die Gruppe, die sich selbst »Actio-
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nists in Austria« nannte, noch transgressivere Aufführungen mit stark aufgeladenen politischen und religiösen Implikationen, geleitet von Hermann Nitsch (Abb. 5, S. 60), Günter Brus, Rudolph Schwarzkogler und Otto Mühl.12 Hier war der dominante emotionale Effekt weniger Lust als Ekel, und Fleisch nicht ein Quell der Freude, sondern der Qual. Gegen Nietzsche war diese Kunst ganz dionysisch und nicht apollinisch, etwas ganz anderes als der glitzernde Ornamentalismus und kostbare Elitismus des Wiener fin-de-siècle, deren früherer Ruhm zu dieser Zeit durch das Kunst-Establishment in der österreichischen Hauptstadt wiederhergestellt wurde. Unvermeidbar provozierte sie die heftigen Reaktionen, die sie so dringend suchte, vom Staat einerseits und von einer verwirrten und unruhigen Öffentlichkeit andererseits, die sich um die gefährliche Identifikation mit den regressiven und nihilistischen Impulsen sorgte, die sie zum Vorschein brachten. Wie auch immer man die stark ritualisierten Spektakel von Opfer und Erlösung interpretiert, die von den Wiener Aktionisten aufgeführt wurden, mit ihren Echos auf das Pathos der deutschen Expressionisten und der brutalen Umkehrung von allem, was der traditionellen Vorstellung von Kultur heilig ist, deuteten sie starke Trends in der Körperkunst der nächsten zwei Jahrzehnte an, in denen masochistische Selbstverstümmelung, ein Verlust von Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers des Künstlers und eine Verwirrung von Zuschauer und Teilnehmer mit grimmiger Genialität verfolgt wurden. Was jedoch vielleicht in der späteren Arbeit fehlte, war der Versuch, eine ekstatische Gemeinschaft zu kreieren, ein gemeinsames Festival eher als ein distanziertes Spektakel. Ein utopisches Ziel, das ein Opfer des Sich-Wendens gegen erlösende Politik und gegen-kulturelle Solidarität nach den sechziger Jahren war. Was übrig blieb, war die Betonung des schmerzenden Körpers, um Elaine Scarrys berühmte Phrase zu benutzen, nicht der Körper in ekstatischem Vergnügen. Obwohl es gefährlich ist, eine so heterogene Reihe von Arbeiten zu generalisieren, schienen die Körperkünstler der Achtziger und Neunziger lieber das Trauma in den Vordergrund rücken zu wollen und es sogar, im physischen wie auch im psychischen Sinn, in vollen Zügen zu genießen, als zu versuchen, es zu unterdrükken oder zu verarbeiten. Selbstmißbrauch fand sich in seiner ganzen Ausprägung, im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne, von Vito Acconcis Seedbed von 1971, in dem er unter einer Rampe in der Sonnabend Galerie in New York masturbierte, bis zu der Jugoslawin Marina Abramovic mit Rhythm O von 1974 (Abb. 6, S. 61), in dem sie Folterinstrumente für ihr Publikum bereitstellte und darum bat, diese an ihr zu gebrauchen. In einer Aufführung namens »Event for Stretched Skin« piercte der australische Künstler Stelarc 1976 seinen eigenen Rücken mit Metallhaken und hängte sich selbst über verschiedenen Orten auf, wie zum Beispiel einer Straße in 12 Für eine Analyse siehe Philip Ursprung: ›Catholic Tastes‹: Hurting and Healing the Body in Viennese Actionism in the l960’s, in: Jones / Stephenson (Hg.), Performing the Body / Performing the Text [Anm. 9].
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New York oder einer Galerie in Tokio (Abb. 7, S. 61). In Arbeiten wie ihrer LiveVideo-Operations-Performance von 1993, genannt Omnipresence, zeigte die französische Künstlerin Orlan Schönheitschirurgen, die ihr Gesicht zerschnitten und es nach traditionellen westlichen Idealen weiblicher Schönheit abänderten. Indem sie zeigte, wie abnehmbar und formbar das Gesicht in unserer zunehmend posthumanen Welt der Prothesen und der Cyberisierung tatsächlich sein kann, führte sie einerseits konventionelle Schönheitsstandards ad absurdum und zwang andererseits den entsetzten Betrachter, ihre selbst zugefügten Schmerzen zu teilen. Ob die Intention war, Gewalt an Frauen zu betonen, die Übel der politischen Folter, das Elend der Geisteskranken oder das Wüten von Aids, diese Arbeiten sollten ihre Zuschauer schockieren und aus der anästhetischen Selbstgefälligkeit, in die sie gefallen waren, aufrütteln. Die Ästhetik gegen die Anästhesie zu mobilisieren, stellte die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks wieder her, den Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert geprägt hatte, als er versuchte, die Aufmerksamkeit der Philosophie auf den Körper und die Sinne zu lenken. Aber nun war es nicht der sublimierte Körper, der schöne Körper, der anmutige und proportionale Körper, sondern vielmehr der elende Körper, der Körper der BasisMaterialität, der Körper, der von der Technologie heimgesucht ist, von Krankheiten schwer gezeichnet und unfähig, seine normalen Grenzen aufrechtzuerhalten. Ob die Resultate als »große Kunst« oder überhaupt als »Kunst« im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden können oder nicht, ist nicht das Thema, das hier behandelt werden soll. Es gibt offensichtliche Qualitätsunterschiede, Unterschiede in Originalität und Wirksamkeit unter den vielen Exemplaren der Körperkunst, die sich im Laufe der letzten vierzig Jahre angesammelt haben. Es ist außerdem klar, daß es, so wie bei allen Projekten von intendierter radikaler Transgression, auch hier Widersprüche gibt, die die Intentionen der Künstler widerlegen. Wie ich an anderer Stelle versucht habe darzulegen, in Verbindung mit der Integration der Abjektion in den neunziger Jahren, kann der Impuls, die Institutionalisierung von Kunst zu unterminieren und Desublimation als einen Selbstzweck zu privilegieren, zu einer schlechten Absicht werden, wenn er zu einer gewollten Kreation abjekter Objekte führt, die in eben jenen Museen ausgestellt werden, die sie eigentlich unterwandern sollen.13 Die meisten Körperkünstler widerstanden der Versuchung und hinterließen nichts anderes als fotografische Dokumente ihrer ephemeren Events, aber auch diese haben ihren Weg in die kanonische Umarmung der alles verschlingenden Kunstmaschinerie gefunden. Es ist außerdem nicht immer sicher, ob die Bereitschaft, Tabus herauszufordern, inhärent befreiend ist oder nicht oder einfach eine Art des Ausagierens, die immer radikalere Manifestationen verlangt und so die Logik der unaufhörlichen Innovation und Suche nach Mitteln, die gelangweilten Massen in Erstaunen zu versetzen, verdoppelt, die so sehr ein Motor der kapitaliMartin Jay: »Abjection Overruled«, in: ders.: Cultural Semantics: Keywords of Our Time, Amherst, Mass. l998. 13
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stischen Produktion von Verlangen ist. Herbert Marcuse mag eine Inspiration für die Körperkunst der sechziger Jahre gewesen sein, aber es ist wichtig, sich an seine Warnung vor dem, was er »repressive Entsublimierung« nannte, zu erinnern, in der offensichtliche Befreiung ihr Gegenteil produzierte. Klar ist jedenfalls die Tatsache, daß wir uns weit entfernt haben von Deweys sonniger Vision einer Kunst, die attraktive »Möglichkeiten menschlicher Beziehungen« präsentiert und eine utopische Form des realisierten Lebens in der Zukunft ausmalt. Sogar die von Shusterman gerühmte Hip-Hop-Musik als ein Beispiel für befreiende Soma-Ästhetik scheint nichtssagend im Vergleich; Rappen und Samplen sind schließlich doch ziemlich zahm, wenn sie einer Selbstverstümmelung einer Orlan, eines Chris Burden oder Bob Flanagan entgegengesetzt werden. Aber es mag nichtsdestotrotz vertretbar sein, daß uns die Körperkunst der vergangenen Generation, trotz ihres Verbleibens außerhalb des Mainstream, etwas Nützliches über demokratische Kultur zu sagen hat oder wenigstens über ihre Herausforderungen. Ohne übertriebene Behauptungen über ihre Wichtigkeit aufstellen zu wollen, möchte ich wenigstens einige mögliche Wege vorschlagen, in denen sie auf diese Art und Weise verstanden werden kann. Die Körperkunst tut dies offensichtlich dadurch, daß sie den langjährigen Trend fortsetzt und vertieft, das Thema auszuweiten, das zur ästhetische Aneignung bereitliegt. Indem sie die verbleibenden hierarchischen Reste ästhetischen Wertes umstürzt und eine organische Idee des integrierten Kunstwerks ablehnt, arbeitet sie auch gegen jeden übrig gebliebenen Glauben an die Körperpolitik als eine organische Metapher von natürlich legitimierter Über- und Unterordnung. Durch Fragen nach Geschlecht und sexueller Identität hat die Körperkunst uns auf aggressive Art und Weise gezwungen, uns Problemen auf einer viszeralen Ebene zu stellen, die die fortgeschrittensten Denker auf diesen Gebieten nur theoretisch aufwerfen konnten. Darüber hinaus ist das, was Arthur Danto die »Verklärung des Gewöhnlichen« nannte, nun zu solchen Dimensionen menschlicher Erfahrung ausgeweitet worden, die unterhalb aller vorheriger Schwellen der Respektabilität und Angemessenheit lagen, außer in den fiebrigen Vorstellungen der »dunklen Schriftsteller« der Aufklärung, wie Sade oder ihre Nachkommen im 20. Jahrhundert, etwa Bataille.14 Aber statt eine problematische ›Ästhetisierung‹ dessen, was moralisch oder politisch konfrontiert werden sollte, zu produzieren, die Gefahr, vor der Walter Benjamin im Falle eines faschistischen Spektakels warnte, weigert sich diese Kunst im Dienste formalen Vergnügens, das Scheußliche zu verschönern oder das Ungenießbare zu versüßen. Stattdessen zwingt sie, mit empfindlichem Magen unerschrocken zuzusehen, um zu realisieren, daß die Kunst nicht alles, was sie berührt, verwanVgl. Arthur Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1984. Für ähnliche Analysen vgl. Murray Krieger: Arts on the Level: The Fall of the Elite Object, Knoxville, Tenn. l981; George J. Leonard: Into the Light of Things: The Art of the Commonplace from Wordsworth to John Cage, Chicago l994. 14
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deln oder sublimieren muß, sondern vielmehr Wege finden kann, ihre rohe Kraft und verstörende Dringlichkeit zu bewahren. Dieses ist eine Kunst, die resolut der kontemplativen Haltung der Interesselosigkeit, gepaart mit Ästhetisierung, in ihrer weitesten Entfernung von moralischen und politischen Problemen widersteht, eine Ästhetisierung, die paradoxerweise die anästhetische Funktion haben kann, uns für den echten Schmerz der Außenwelt gefühllos zu machen. In einem weniger offensichtlichen Sinne hat die transgressive Körperkunst der letzten drei Jahrzehnte auch wichtige Fragen über die Grenzen und Zusammensetzung des öffentlichen Bereiches aufgeworfen, welcher als Ort demokratischer Willensbildung gesehen wird. Entgegen der Annahme, daß es einen einzigen öffentlichen Bereich gibt, in dem Bürger zusammenkommen und über die wichtigen Themen des Tages streiten, eine moderne, vergrößerte Version der athenischen Agora, zeigt sie uns, wie bruchstückhaft und pluralistisch öffentliche Bereiche in zeitgenössischen Demokratien sind. Denn es kann keinen Zweifel geben, daß dies Kunst von einer und für eine Minderheit ist, eine Kunst, die nicht einmal vortäuschen kann, der Masse zu gefallen. Anders als die Rap- und Hip-Hop-Musiker, die bei Shusterman gefeiert werden, ist dies eine Körperkunst ohne offensichtliche Wurzeln in der Pop-Kultur und mit nur geringer Fähigkeit, sich auf dem kommerziellen Markt einen Namen zu machen. Obwohl die dubiosen Verwicklungen des Brooklyn Museum of Art und seiner berüchtigten »Sensation«-Ausstellung mit seinem Geschäftssponsor gezeigt haben, daß Körperkunst nicht völlig sicher ist vor den Verlockungen des Marktes, war sie alles in allem jedoch meistens in der Lage, den Versuchungen der kommerziellen Kooptierung zu widerstehen.15 Wenn die Körperkunst sich mit der breiteren öffentlichen Sphäre überschneidet, so wie sie es tat, als die New Yorker Ausstellung für ihre angeblichen blasphemischen Implikationen unter Beschuß der Giuliani-Administration geriet, war es exakt ihre Herausforderung an die herrschenden Annahmen über Anstand, künstlerischen Wert und die Rolle des staatlichen Sponsorentums für kontroverse Kunst, die den demokratisierenden Effekt hatte. Das heißt, durch Einführung von Ideen und künstlerischen Praktiken, die nur in dem permissiven Klima einer Enklaven-Öffentlichkeit genährt werden konnten, einer Öffentlichkeit, die unter der Radar-Leinwand der Massenmedien existierte, konnte diese Kunst neue Themen in die breitere Öffentlichkeit bringen, die dann damit beginnen konnte, ihre Implikationen in Ordnung zu bringen. Demokratie, könnte man sagen, funktioniert am besten, wenn solchen Enklaven relative Autonomie erlaubt wird und wenn sie als Laboratorien für unorthodoxe und sogar anstößige Ideen und Praktiken dienen dürfen, welche dann die allgemeine Öffentlichkeit beleben, empören und provozieren können, deren Pietäten von Zeit zu Zeit herausgefordert werden müssen. Eine Ausnahme ist vielleicht die kürzliche Selbstvermarktung von Orlan, die entschieden hat, daß ihre Kunst nicht »Körperkunst« sondern »I’art charnel« ist. Vgl. ihre Internetseite http: //www.cicv.fr/creation_artistique/online/orlan/review4/revue4.html. 15
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Obwohl die breitere Öffentlichkeit das, was sie als anstößig empfindet, leicht abtut als maßloses und exhibitionistisches Ausagieren und es nicht als etwas betrachtet, das es wert wäre, den ehrenden Titel Kunst zu tragen, und dies im Laufe der Zeit oft auch getan hat, kann eine Art Lernprozeß stattfinden, in dem wenigstens einige der Provokationen generellere Betrachtungen zu kulturellen und politischen Themen hervorrufen, die von den Beleidigern aufgeworfen wurden. Es gibt auch eine starke Verbindung zwischen Körperkunst, tatsächlich jeder Art von Performance-Art, und dem Fördern einer demokratischen Kultur. Das heißt, eben diese Geste des Widerstehens der Verdinglichung von Kunstobjekten und das Bestehen der Körperkunst auf Vergänglichkeit und Ortsspezifizität erinnert uns daran, daß Demokratie selbst ein Prozeß ist und kein Zustand und dabei ein ständiges, immer wieder unvollendetes Projekt. Um Kants berühmte Beschreibung der Aufklärung zu paraphrasieren: Wir leben nicht in einem demokratischen Zeitalter, aber in einem Zeitalten der Demokratisierung. Im Gegensatz zu Deweys Betonung der vollendeten Eigenschaft von Kunstwerken, ist es genau die offene, unvollendete Eigenschaft der Körperkunst, ihr Weigern, feste Überbleibsel zurückzulassen, die der demokratischen Kultur am meisten dient. Wenn, wie Habermas bekanntermaßen erörtert hat, das Ziel perfekter Übereinstimmung ein ideales Telos intersubjektiver Kommunikation ist, welches nur asymptotisch realisiert wird, dann realisiert die Performativität der Körperkunst, ihr Bestehen auf der Tatsache, daß sogar der Körper einen Prozeß und nicht ein unveränderliches Objekt in der Welt darstellt, kraftvoll den Weg, auf dem Demokratie immer vor uns liegt und niemals völlig erreicht ist. Eine ähnliche Konklusion folgt aus der Komplexität, die von der Körperkunst in die altehrwürdige Frage der Repräsentation eingeführt wurde, die natürlich ein politisches wie auch ein ästhetisches Rätsel darstellt. Durch den Gebrauch des künstlerischen Körpers als eines Ortes ästhetischen Experimentierens, wobei oft reale Risiken auf sich genommen werden, wird die Unterscheidung zwischen Präsenz und Repräsentation stillschweigend in Frage gestellt. Obwohl zeitweise das, was real schien, nicht real war, schnitt das Messer ein anderes Mal wirklich Fleisch, und das Blut war echt. Einige Körperkünstler ließen sich wirklich in den Arm schießen, schliefen tatsächlich mit Leichen und nagelten ihre Vorhaut auf Bretter. Das Ergebnis war, das Privileg und die Selbständigkeit des repräsentierten Images über die aktuelle Aktivität zu unterminieren und so gegen die extraordinäre Kraft zu arbeiten, die Bilder in der mediengesättigten Massendemokratie der modernen Welt haben. Statt eine positive Repräsentation der souveränen Menschen zu bieten, reflektiert diese Kunst die Einsicht von politischen Theoretikern der letzten Jahre, wie Claude Lefort und Jean-Luc Nancy, daß es im Zentrum des politischen Reiches eine Abwesenheit, eine Leere, einen Mangel gibt, der nur auf eigene Gefahr gefüllt wird. Indem sie Sublimierung, Metaphorisierung und Repräsentation widerstanden hat, hilft uns die Körperkunst, den Versuch zu vermeiden, eine mythische Ver-
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körperung ›der Menschen‹ zu konstruieren, eine Verkörperung, die nur wie ein Simulacrum und irreführend sein kann, weil sie die unvermeidbaren Unterschiede, sogar Konflikte, die ihr immer gegenüberliegen, überdeckt. Dies erinnert uns daran, daß das demos in Demokratie nur eine fiktionale oder kontrafaktische Idee ist, einem ontologisch realen Objekt in der Welt niemals vollkommen gleichwertig. Man kann dieses Argument auch anbringen, indem man bemerkt, daß das Trauma in der Körperkunst in den Vordergrund gerückt wird, indem sie sich weigert, die Gewalt, die so sehr ein Merkmal des schrecklichen 20. Jahrhunderts war, mit Zuckerguß zu überziehen. Wenn Trauma, wie Cathy Caruth behauptet hat, eine Art von Erfahrung involviert, die nicht als Behauptung auftritt, in der die Wunde nicht heilt, sondern unter der Narbe weiter schwärt, dann drückt die tief beunruhigte, aufgewühlte Kunst, die wir diskutiert haben, das Verspätetsein eines traumatischen Ereignisses aus, oder das Verspätetsein von Ereignissen, die bisher noch nicht assimiliert oder miteinander vereinbart sind.16 In dieser Gestalt bringt sie solche Momente von grundlegender Gewalt an die Oberfläche, die sogar die demokratischste politische Ordnung nur schwer voll anerkennen kann. Viel von der Körperkunst, die hier besprochen wurde, kann daher, pace Dewey, Kunst als nicht behauptete Erfahrung genannt werden, in der die temporale Fragmentierung von Verspätung und Wiederholung Hand in Hand geht mit dem Zerfall der räumlichen Integrität und der Durchlässigkeit von Grenzen. Eine andere Möglichkeit, Körperkunst potenziell im Gespann mit demokratischen Impulsen zu sehen, liegt in ihrem expliziten Widerstand gegenüber der Disziplinierung und der Normalisierung des widerstandslosen Körpers, den Foucault uns allen so bewußt gemacht hat. Diese Hoffnung wurde kürzlich in Michael Hardts und Antonio Negris provokativem neuen Buch Empire zum Ausdruck gebracht, das explizit Körperkünstler wie Stelarc als Modelle einer neuen »posthumanen« Neugestaltung des Körpers zitiert.17 Obwohl sie ihre problematische Kolonialisierung durch die Massenkultur im Dienste des status quo anerkennen, schaffen Hardt und Negri es auch, ihr ein positives Potential zuzuweisen: »Die heutigen körperlichen Mutationen«, schreiben sie, »konstituieren einen anthropologischen Exodus und repräsentieren ein außerordentlich wichtiges, aber immer noch doppeldeutiges Element der Konfiguration des Republikanismus ›gegen‹ imperiale Zivilisation.«18 Was man auch über Hardt und Negris vorläufige Mobilisierung transgressiver Soma-Ästhetik für positive Zwecke denken mag – Stelarcs Performances können vielleicht am besten als Beispiele asketischer Selbstdisziplin gesehen werden statt als Ausdruck körperlicher Verletzbarkeit –, es bringt uns fast wieder ganz zum Anfang 16
Vgl. Cathy Caruth: Unclaimed Experience – Trauma, Narrative, and Experience, Baltimore
l996. Michael Hardt / Antonio Negri: Empire, Cambridge, Mass. 2000, 448 (Deutsch Frankfurt / New York, 2002). 18 Ebd., 215. 17
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zurück, zu John Deweys Kunst als Erfahrung. Aber dieser Umweg hat sicherlich die Annahmen, die zugrunde lagen, verkompliziert. Deweys Ästhetik fehlte, wie oft bemerkt wurde, jeder Sinn für das Erhabene.19 Sie war inspiriert von einem Verlangen, die Welt mehr und mehr für sinnliche Beschlagnahmung und ästhetische Beherrschung, mehr und mehr für ein Heim eines Lebens von Schönheit und Bedeutung verfügbar zu machen; und daher fehlte ihr eine Anerkennung der Grenzen der Repräsentation, die von dem Erhabenen präsentiert wurde. Obwohl es natürlich in einer Politik, die gänzlich auf der Erfahrung von erhabenem Horror und Ehrfurcht basiert, offensichtliche Gefahren gibt, könnte es der Fall sein, daß eine bestimmte Demut, wenn es um unsere Macht geht, die Welt im Bild der Schönheit neu zu gestalten, eine wertvolle Dimension demokratischer Politik ist; eine Demut, die weiß, daß sie fortwährend die uneingeschränkte Realisierung ihres Zieles nicht erreicht. Und während Fragen aufgeworfen werden über die Kompatibilität zwischen dem Diskurs der Menschenrechte, der jetzt so sehr ein Teil demokratischer Kultur ist, ein Diskurs, der eine seiner Grundlagen in der Unverletzbarkeit des menschlichen Körpers hat, und einer Kunst, die so darauf abzuzielen scheint, ihre Antithese zu demonstrieren, gibt es ausreichend Garantie, in weiten Teilen – obgleich nicht in allen – dieser Werke, sie eher als Protest zu verstehen, denn als das Feiern des Schmerzes zu lesen, den sie so kraftvoll evoziert. Und vielleicht dient sie dadurch als eine negative Einsetzung eines substanzielleren Begriffs von demokratischer Kultur, dem Dewey seinen dünnen prozeduralistischen Zwillingsbruder kontrastiert hat. Kurz gesagt, trotz all seiner Aggression gegen jenen sensus communis, der den Mainstream bildet, trotz all seiner Bereitschaft, mit der Gewalt und Irritation zu flirten, die scheinbar die Antithese der demokratische Politik wäre, die Körperkunst, die in den Enklaven der Avantgarde-Kultur in den letzten 40 Jahren so hartnäckig aufgeführt wurde, könnte es eine Version der Soma-Ästhetik sein, die die Demokratie schließlich doch etwas zu lehren hat. Übersetzt von Kristina Dröge
Vgl. David Fott: John Dewey – America’s Philosopher of Democracy, New York, Oxford u. a. 1998, 118. 19
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Abb. 1: Carolee Schneemann, Meat Joy (1964)
Abb. 2 : Lynda Benglis, Untitled (detail) (1974)
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Abb. 4: Keith Boadwee, Untitled (Purple Squirt) (1995)
Abb. 3: Shigeko Kubota, Vagina Painting (1965)
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Abb. 5: Hermann Nitsch, 80th Action: Orgies-Mysteries Theatre (1984)
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61 Abb. 6: Marina Abramovic, Rhythm O (1974)
Abb. 7: Stelarc, Event for Stretched Skin (1976)
Reflexe und Reflexionen Drei Stellungen des Gedankens zur Realität der Magie Von Rüdiger Zill
Narziß saß an der Quelle und verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild. Aber er mißverstand, was er sah.Weder betrachtete er es als Spiegelung noch als sich selbst.1 Diese Einsicht kostete ihn schließlich viele Mühen. Arthur C. Danto interpretierte diesen von Ovid überlieferten Mythos augenzwinkernd als Reflexion einer welthistorischen Tat, als Erkenntnis, daß es Bilder gibt und daß Bilder nach anderen Gesetzen funktionieren als die alltägliche Wirklichkeit. Narziß’ (Selbst-)Erkenntnis markiert einen Wechsel der ontologischen Interpretationsbasis.2 Wir sind es gewohnt, bestimmte Ausschnitte unserer Welt nach je unterschiedlichen Erwartungen, Normen und Gesetzen zu interpretieren, kurz: ihr unterschiedliche Ontologien zu unterstellen. Gleichzeitig beschreiben wir diese Weltausschnitte mit unterschiedlichen Metaphern; man kann mit Richard Rorty sagen: mit unterschiedlichen Vokabularen.3 Der folgende Text steht im Zusammenhang eines größeren Projekts, das unter dem Titel Der Konvent der Bilder – Eine Reise durch die Welt in zwei Dimensionen die Vernetzung von Bilddiskursen zum Thema hat. Vgl. Rüdiger Zill: Die Höhlenbilder des Homo typographicus – Zur philosophisch überhöhten Feindschaft von Bild und Wort am Beispiel des Medienkritikers Neil Postman, in: Philosophie in der schulischen Praxis – Workshop zur Didaktik der Philosophie, hg. von Frank Witzleben unter Mitarbeit von Iwan d’Aprile, Frankfurt/M. u. a. 1999, 57–66, und ders.: Zwischen den Medien, oder: Über Bilder sprechen – Vortrag auf dem konstituierenden Workshop der Felix-Burda-Lectures, Fessenbach / Offenburg, 15.11.2001, veröffentlicht auf der website der Felix-Burda-Lectures: www.iconic-turn.de. 2 »Es wäre an dieser Stelle dem Narkissos möglich gewesen zu glauben, daß es zwei Arten von Jünglingen gibt; jene, die im Wasser leben, und jene, die wie er an der Luft leben. Aufgrund eines solchen Glaubens hätte er eine komplexe Anthropologie für Wassermenschen hervorbringen und bei anhaltender Beobachtung entdecken können, daß sie Formen und Verhaltensweisen besitzen, die zu den unseren ein seltsames Gegenstück bilden, auch wenn sie merkwürdig anisotrop und körperlich unverletzbar sind: Speere, die durch Wasserjünglinge geworfen werden, lassen kein Blut fließen. Und für Narkissos sind sie in einer bis zum Wahnsinn aufreizenden Weise nicht zu umarmen. Auf welche Weise Narkissos auch immer auf den Gedanken einer Widerspiegelung gekommen sein mag, er reduzierte die Anthropologie, Physiologie und Hydrologie drastisch und mit geringen Unkosten auf Optik. Nach seiner Auffassung sind Widerspiegelungs-Jünglinge keine Jünglinge, sondern nur Abbilder von Jünglingen, und Narkissos hat spontan das Prädikat ›Widerspiegelungs-‹ entdeckt, das, wenn es Substantiven vorangestellt wird, nicht die Folgerungen ergibt, die normalerweise Substantiven vorangestellte Prädikate haben – fette Jünglinge sind Jünglinge, schlanke Jünglinge sind Jünglinge, aber Widerspiegelungs-Jünglinge sind keine Jünglinge.« Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 1991, 38. 3 Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, Kap. 1. Rorty benutzt hier den Begriff Vokabular (vocabulary / vocabularies) im übertragenen Sinne eines speziellen Begriffssystems eigener Färbung, einer besonderen Art der Weltbeschreibung (synonym auch mit Sprachspiel). Ich verwende diesen Begriff im folgenden in Rortys Bedeutung. 1
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Wenn wir einen Ausschnitt unserer Welt mit Hilfe metaphorischer Wendungen beschreiben, dann sind es selten wissenschaftliche Theorien, die wir über diese Wirklichkeit blenden, sondern meist kulturhistorisch gewachsene Vorstellungswelten, die nicht selten tief in unserer Tradition verwurzelt sind. Wenn wir es seit Jahrhunderten und bis heute immer wieder lieben, den Menschen als des Menschen Wolf zu bezeichnen, dann ist unerheblich, was Zoologen inzwischen über das Sozialverhalten jenes Rudeltieres herausgefunden haben mögen. Vielmehr verwandeln wir uns, wenn wir diesen Satz mühelos zu verstehen meinen, immer wieder in Rotkäppchen, das am Bett seiner Großmutter steht und sich über deren gewaltige Zähne wundert.4 Wenn wirklich nicht nur ist, was physisch wirkt, sondern auch das, von dem wir glauben, das es wirklich ist und das dann deshalb wirkt, weil wir nach diesem Glauben handeln, dann sind wir der Schnittpunkt unterschiedlicher Diskurse und damit gleichzeitig auch der imaginäre Raum, in dem unterschiedliche Ontologien koexistieren. Das Bild ist dafür ein gutes Beispiel. Es umgibt uns in unzähligen Exemplaren, in verschiedenen Formen, im Gewand divergierender Medien: Zeichnungen, Drucke, Photographien, Filme, Computeranimationen. Wir nehmen sie wahr, mit mehr oder weniger Aufmerksamkeit; und sie wirken auf uns: durch ihre physischsinnliche Präsenz, durch ihre codierten Signale, durch ihre Inhalte, die wir so oder so interpretieren müssen. Wie all das Wirkende zusammenwirkt, wie es sich in uns reflektiert, wie wir es in uns reflektieren, davon wissen wir erstmal noch relativ wenig. Dennoch glauben wir relativ viel davon zu wissen. Medientheorien, die nicht immer, aber immer noch häufig, die Überwältigung des Menschen durch das Bild beklagen, sind in letzter Zeit zahlreich entstanden. Und die eine oder andere ihrer Metamorphosen findet sich jeden Tag in der öffentlichen Reflexion reproduziert. Gerade wenn wir über das Bild als Bild sprechen, ist die Gefahr groß, Klischees zu reproduzieren: Die intellektuelle Reflexion wird zum ideologischen Reflex. Zwischen der konkreten Wirkung von Bildern und unserem Diskurs über das Bild als Bild gibt es natürlich auch eine Reihe von unterschiedlichen Vokabularen, um über bestimmte Bilder zu sprechen. All diese Reflex- und Reflexionsebenen liegen in uns neben- und übereinander, manchmal widersprechen sie sich dabei, ohne daß sie sich in unserem konkreten Handeln ausschließen würden. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel.5 Ein besonders voraussetzungsreiches metaphorisches Bedeutungsfeld, mit dem sowohl Bilder als auch das Bild beschrieben werden, ist das der Magie. Denn die Kennzeichnung des Bildes als ein magisches Medium reflektiert selbst wieder darauf, daß das Bild ontologische Regelverstöße repräsentiert und thematisiert. 4 Vgl. Max Black: Die Metapher, in: Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, 70 ff. 5 So soll der Bildkritiker Günther Anders so konsequent gewesen sein, an den Wänden seiner Wohnung keine Bilder zu dulden – mit einer Ausnahme: der Photographie seines Vaters.
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Wie aber ein Magie-bezogenes Vokabular bei der Charakterisierung des Bildes eingesetzt wird, kann stark variieren – je nachdem, in welchem Kontext es steht. Im folgenden sollen Beispiele aus drei Kontexten näher analysiert werden. Grob gesprochen kann man sie als den ästhetischen, den medientheoretischen und den politischen beschreiben. In diesen Diskursen zeigen sich – wenn man so will – drei Stellungen des Gedankens zur Ontologie des Bildes. In allen drei Beispielen wird das Magie-bezogene Vokabular verschieden eingesetzt.6
I. Lernen, real zu werden. Woody Allens »The Purple Rose of Cairo« und die Legende vom Künstler Viele Filme von Woody Allen sind eigentlich Reflexionen über ontologische Regelverstöße. In keinem aber wird das deutlicher als in The Purple Rose of Cairo, der doch auf den ersten Blick zu beginnen scheint wie ein allbekannter ideologischer Reflex. Mia Farrow spielt in diesem Film die kleine Serviererin Cecilia, die sich im New Jersey der dreißiger Jahre, zur Zeit der großen Depression also, mühsam durchzuschlagen versucht. Ihr privates Leben ist klar und flächig-einfach dargestellt wie in einem Glasfenster, durch das die politische Situation der Zeit kaum gebrochen hindurchscheint. Ihr Mann, ein arbeitsloser Müßiggänger, mißachtet sie und wird auch schon mal handgreiflich; ihr Chef, der unablässig nörgelnde Besitzer eines Schnellrestaurants, beschimpft und schikaniert sie – und als ihm das alles nicht mehr genügt, wird sie von ihm gefeuert. Und so findet sie ihren einzigen Trost abends im Kino. Wenn Fred Astaire und Ginger Rogers leichtfüßig über den Zelluloid-Tanzboden schweben; wenn idealisierte Helden auch nach den ärgsten Strapazen gut gelaunt, untadelig adrett und unverletzt, bild-schön eben, in den dunklen Zuschauerraum lächeln, dann vergißt Cecilia ihre Alltagssorgen. Und Abend für Abend versenkt sie sich in dieselbe Traumwelt, so lange bis das Programm wechselt. Es sind Träume – Tagträume, aber doch solche, die sich besonders einstellen, wenn der Tag zu Ende ist – oder dieses Ende doch zumindest simuliert wird, indem das Licht des Tages ausgeschlossen wird7: Träume, die im dunklen Kinosaal erscheinen, 6 Konstruktion des Textes: Einem geläufigen medientheoretischen Vorurteil zufolge ist Schrift ein eindimensionales Medium, das Bild hingegen ein zweidimensionales. Doch bloß weil Texte aus Schrift bestehen, einem Zeichensystem, das entlang einer Linie und in eine Richtung entschlüsselt werden will, sind sie noch lange nicht eindimensional. »Text« kommt bekanntlich von »Textur«, »Gewebe«. Texte enthalten nicht nur in ihrem Gemeinten eine Unzahl von mitzudenkenden Verweisen, Bezügen, Verflechtungen. Sie sind auch materiell häufig in verschiedenen Ebenen konstruiert. Um dem in diesem Aufsatz wenigstens ein Stück weit gerecht zu werden, stellen die Fußnoten (sofern sie nicht lediglich reinen Nachweisen dienen) Abzweige dar, die selbst untereinander vernetzt sind und die auch wieder in den Haupttext einmünden können. Als Hinweis für den Leser habe ich sie daher nicht nur mit korrespondierenden Überschriften versehen, sondern auch mit Verweisen auf die inhaltlich anschließenden Fußnoten. 7 Doppelprojektion: Denn Cecilia wartet ja, um ins Kino zu gehen, nicht bis nach Sonnen-
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auf der Schwelle zur Nacht: Abendträume. Cecilia ist vom Prinzip Hoffnung erfüllt. »Es besser haben zu wollen, das schläft nicht ein.«8 Aber während sie mit Ernst Bloch ins Kino gegangen ist, sitzen wir vor unserem Film gleich neben Horkheimer und Adorno. Denn Allen zeigt uns zunächst nur die Kulturindustrie. Das Rohmaterial für die Träume der Kellnerin wird ihr selbst nur als Fertigmahlzeit serviert: Träume von Reichtum, Schönheit und unbeschwertem Leben, von Liebe, Abenteuer, Exotismus, wie sie aus den Schablonen der kalifornischen Illusionsmaschinerie entstanden sind. Hollywood als Traumfabrik, in der jene Beruhigungen produziert werden, die man nach der körperlich realen Fabrikarbeit so dringend benötigt. Der Film zeigt sein eigenes Klischee; und wäre da nicht mehr, wir müßten es uns nicht noch einmal ansehen. Doch dann geschieht das Unerwartete, ja das Unmögliche. Bloch dreht sich um und zwinkert uns von der Leinwand herab zu. Cecilias Tagtraum verwandelt sich in Realität – und damit erreicht der Tagtraum, den wir, die Zuschauer von Allens Film, träumen, eine neue Stufe. Die Filmfigur Tom Baxter, aus dem Rollenfach jugendlicher Held, wird es eines Tages leid, immer denselben Text abzuspulen. Als Cecilia gerade zum fünften Mal zusieht, wie der Forscher mit dem Tropenhelm sich in das New Yorker Nachtleben stürzen will, schaut er zurück. Die Blickrichtung kehrt sich um. Die klare Trennung von Film und Wirklichkeit, Bild und Leben kollabiert. Was nur den realen Menschen zuzukommen scheint, sich über die unsichtbare Grenze so verschiedener Welten hinwegzusetzen und sich in die Realität des Films hinein zu imaginieren, nimmt nun die fiktive Gestalt für sich in Anspruch. Sie überschreitet die Grenze, will frei sein. So wie Cecilia von Tom beeindruckt ist, so ist er beeindruckt von ihr und ihrer Bewunderung. »Sie müssen diesen Film wirklich lieben; Sie sehen ihn zum fünften Mal.« Mit diesen Worten springt er von der Leinwand, nimmt Cecilia bei der Hand und flieht mit ihr. Er will ein wirkliches Wesen werden, alles von Cecilia über die Realität lernen. Cecilia und Tom sind die Spiegelbilder ihrer Wünsche. Später im Film wird eine Nebenfigur verzweifelt aufstöhnen: »Die wirklichen Menschen wollen, daß ihr Leben ‘ne Fiktion ist, und die erfundenen, daß ihr Leben Realität wird.« Für den einen ist Freiheit: abweichen zu können von der Monotonie des Alltags, einzutreten in die imaginierte Welt des Films. Für den anderen ist Freiheit: gerade aus dieser Welt heraustreten zu können, weil sie selbst nur aus Monotonie besteht: der Monotonie des Scripts.
untergang; das hat sie als Arbeitslose nicht mehr nötig. Das diffuse, irritierend vielfältige, aber doch triste Licht des Tages wird bewußt ausgeschlossen und ersetzt durch das gleißende, künstlich fokussierte Licht des Filmprojektors, das sich auf der Leinwand mit jener anderen Projektion, der Projektion ihrer Tagträume, trifft und an den Figuren des Films jenen Glanz erzeugt, den sie als magisch empfindet. 8 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1985, 86.
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Tom Baxter tut, was allenfalls sein Darsteller Gil Shepherd tun könnte, und das auch nur, wenn er Schauspieler im Theater wäre: Er leugnet die ästhetische Distanz zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die im Theater durch die imaginäre ontologische Schranke zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum markiert wird. Was sich auf der Bühne abspielt, geschieht gleichsam in Anführungszeichen. Gil Shepherd, der Schauspieler stellt eine Figur namens Tom Baxter dar, und alles, was er sagt und tut, sagt und tut er als jener Tom Baxter. Er selbst als reale Person, als Gil Shepherd, kann – und wird in aller Regel – anderer Meinung sein als das Produkt seiner Darstellungskunst.9 Die Distanz ist aber genau genommen eine doppelte, denn sie ist die von Bild und Wirklichkeit einerseits, von Fiktion und Realität andererseits. Die Leistung eines guten Schauspielers des traditionellen Theaters aber ist es, uns diese Differenz zwischen Darsteller und Dargestelltem vergessen zu lassen, im Darsteller nur noch den Dargestellten zu sehen.10 Ontologische Zweideutigkeiten 1 – Film, Theater, Fernsehen: Aber selbst wenn ein Schauspieler auf dem Theater plötzlich von der Bühne spränge, würden wir ihm doch nicht glauben, daß wir nun vor dem Rollencharakter, vor Tom stünden. Wir würden ihn immer als Gil, den Schauspieler, ansprechen. Der Sprung von der Bühne ist für uns ein Sprung über eine ontologische Schranke. Erst ein neueres Medium bringt diese klare Trennung in Verwirrung: das Fernsehen. Denn im Fernsehen, zumindest bei Direktübertragungen, die das Medium heute zwar nicht mehr – wie noch in seinen Anfangstagen – konstituieren, aber als mögliche immer noch zu seinen wichtigsten Charakteristika zählen, erreicht uns das Fernsehbild einer Person gleichzeitig mit ihrem wirklichen Agieren, es ist ein Bild im Modus des Jetzt – wie das, was wir im Theater sehen –, aber doch nicht in dem des wirklichen Hier. Günther Anders hat daher von der ontologischen Zweideutigkeit dieses Mediums gesprochen und von ihren Erscheinungen als Phantomen. (Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980, 131.) [Anschluß Anm. 13.] 10 Sibyl Vane 1 – Das Verschwinden der Person in den Rollen: Dorian Gray, die Titelfigur aus Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray (1891) tappt genau in diese Falle. Auch Wildes Roman thematisiert eine magische Interaktion zwischen bildlicher und nicht-bildlicher Realität. Die Verfehlungen, die er im Laufe seines Lebens begeht, hinterlassen keine Spuren an seiner realen Person, zeichnen sich aber in sein Porträt ein. Was in Allens The Purple Rose of Cairo zusammenfällt, die Wechselwirkung von Darstellung und Dargestelltem einerseits und das Problem des inspirierten Künstlers andererseits, spaltet sich in Das Bildnis des Dorian Gray zwangsläufig in zwei Aspekte. Denn der interaktive Aspekt bezieht sich in diesem Fall auf ein Porträt. Das Bild ist hier das Bild einer realen Person und nicht die durch einen Schauspieler vermittelte Fiktion. In der Geschichte des Gemäldes wird die (prekäre) Distanz von Bild und Wirklichkeit thematisiert. Die Problematik des Schauspielers (und damit die von Fiktion und Realität) entfaltet sich in einem Seitenstrang der Erzählung. Dorian Gray gerät eines Tages zufällig in ein heruntergekommenes Theater, an dem neben einer Handvoll Schmierenkomödianten auch ein junges Mädchen auftritt, das ihn mit ihrer Kunst gleich gefangen nimmt. Sibyl Vane spielt die Julia; aber nicht nur in dieser Rolle überwältigt sie Dorian: »Ich habe sie in jedem Zeitalter und in jedem Kostüm gesehen«, sagt er von ihr. »Gewöhnliche Frauen regen nie unsere Phantasie an. Sie bleiben auf ihr Jahrhundert beschränkt. Kein Zauberglanz kann sie jemals verwandeln. Man kennt ihre Seele ebenso schnell wie ihre Hüte. Man begegnet ihnen jederzeit. […] Aber eine Schauspielerin! Wie anders ist doch eine Schauspielerin.« (Übers. von Siegfried Schmitz, München 1981, 59.) Dorian verliebt sich zwar nicht in Julia, so wie sich Cecilia in Tom verliebt, aber er verliebt sich auch nicht in Sibyl Vane – so wie Cecilia später ihre Zuneigung von der Rolle Tom auf 9
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In der Tat ist Gil Shepherd, der reale Schauspieler in Woody Allens Film, nicht nur verwirrt über die Nachricht, eines seiner Tom-Baxter-Abbilder habe sich selbständig gemacht. Zwar irritiert ihn einerseits die physische Unmöglichkeit des Vorfalls, die Maximen seines – und auch unseres – normalen, naturwissenschaftlichen Weltverständnisses verbieten einem bloßen Abbild, ein eigenes Leben zu führen. Andererseits nimmt seine Eitelkeit das Geschehen als Bestätigung seiner Leistung. Ist Tom Baxters Eigenmächtigkeit nicht Beweis für das Können des Schauspielers Gil Shepherd? Ganz so als hätte dieser seiner Figur Leben eingehaucht: Der göttliche Shepherd, weniger Hirte als Demiurg, hat den letzten Schritt vollzogen in jenem Transformationsprozeß der modernen Welt, der damit begann, sich Gott als Künstler vorzustellen, und damit endete, den Künstler selbst zum göttlichen Schöpfer zu verklären.11 Er reiht sich zunächst ein in jene lange Beispielreihe der Legenden vom Künstler,12 eine Reihe die bei Parrhasios und Zeuxis beginnt, deren Malkunst so groß gewesen sein soll, daß ihre illusionistische Kraft den Betrachter täuschen konnte. Das von ihnen Dargestellte wurde für Realität gehalten. Aber das ist noch nicht alles, denn der entsprungene Tom ist ja nicht nur perfekte Täuschung, sondern Fleisch gewordene Fiktion. Gil Shepherd interpretiert seinen Schöpfungsakt im Modus des Realität gewordenen ontologischen Gottesbeweises. Die Vollkommenheit seiner Leistung zeigt sich darin, daß ihr auch noch das letzte Attribut dieser Vollkommenheit zukommt: die Existenz. Kant kam nicht bis Hollywood.13 deren Darsteller Gil Shepherd übertragen wird. Dorian verliebt sich in Julia und Rosalinde und Imogen, in die Möglichkeit all der Rollen, die von Sibyl Vane realisiert werden. »Ich habe doch recht daran getan, nicht wahr, Basil, meine Liebe aus der Poesie zu holen und meine Frau in Shakespeares Dramen zu suchen? Lippen, die Shakespeare sprechen gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Ich habe Rosalindes Arme um mich gespürt und Julias Mund geküßt.« (85) Sibyl kann diese Rollen aber nur deshalb so überzeugend verkörpern, weil sie selbst in ihnen existiert, weil sie selbst kein Leben – oder zumindest kein eigenständiges emotionales Leben – außerhalb dieser Rollen führt. [Anschluß Anm. 16.] 11 Vgl. Rüdiger Zill: Produktion / Poiesis, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a., Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2003. 12 Vgl. Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler – Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt/ M. 1980. 13 Ontologische Zweideutigkeiten 2 – das Reale als Phantom, das Phantom als Reales. Interpretiert man Toms Realwerden aus einer anderen Perspektive, mag diese Transsubstantiation weniger seinem Darsteller zuzuschreiben sein als vielmehr seiner Betrachterin. Dann wäre Allens Film die Umschreibung für eine Situation, die laut Günther Anders erst durch das Fernsehen verallgemeinert wird. Weil dort alles Reale als Phantom auftritt, erweisen sich die Phantome als das Reale. »Dann geschieht es nämlich dialektischerweise, daß die als ›fiction‹ gemeinten Vorgänge (da sie eben durch die gleiche Technik, die wirkliche Vorgänge phantomhaft macht, vermittelt werden) so wirken, als wären sie wirklich. So wie, wo das Leben als Traum gilt, Träume als Leben gelten, so wirkt nun, da jede Realität als Phantom auftritt, jedes Phantom real.« (Anders: Antiquiertheit [Anm. 9], 143.) Oder man legt den Akzent auf die Technik, dann ist sie für Toms Verwandlung verantwortlich. [Anschluß Abschnitt II: Die Legende vom Medium.] Schon beim Rundfunk gab es dafür Präzedenzfälle; der bekannteste ist Orson Welles’ Hörspiel Krieg der Welten, das seine Zuhörer für eine echte Reportage nahmen. Die Seifenopern des Fernsehens haben dieses Prin-
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Der kreative Akt bedient sich aber vorreligiöser, nämlich magischer Mittel, indem einige Kräfte des Originals auf das Abbild übergehen. Und genau das wird Cecilia ihm in einer Szene bestätigen. Für sie ist Shepherd einer der größten Schauspieler; sie hat alle seine Filme gesehen. Warum? »Ja, wie soll ich das beschreiben?«, sagt sie. »Sie haben einen magischen Glanz.«14 Ist auch der Schauspieler zunächst eher geschmeichelt, so sind die Produzenten des Films dagegen in höchstem Maße beunruhigt. Denn der Tom Baxter, der sich irgendwo in New York selbständig gemacht hat, ist ja nicht einmal eine Kopie; er ist nur die Kopie einer Kopie, vor allem: Er ist nur eine Kopie der Kopie. Anders als ein Gemälde Gil Shepherds – und sei es auch ein Gemälde von ihm als Tom Baxter – sind Fotos und Filme keine Unikate, sie sind selbst wieder nur die Abzüge einer Mutterkopie, die irgendwo in den Tresoren Hollywoods lagern mag. Gottes Produzenten sehen weiter als der Schöpfer. Denn wenn ein einzelnes dieser Phantome sich selbständig macht, warum dann nicht alle? Wenn eines Tages hundert, zweihundert, tausende Toms durch die Vorstädte Amerikas laufen würden, wer ist dann verantwortlich für das, was sie tun, wenn sie Frauen vergewaltigen, Kinder entführen, unschuldige Passanten ermorden – Frankensteins Kinder, Amok laufend in den Straßen von San Francisco? Der Autor, der ihnen ihre Eigenschaften zugeschrieben, oder der Schauspieler, der sie ihnen eingeschrieben hat? Die Antiquiertheit des Urhebers mag vom Tod des Autors nicht weit entfernt sein, beide haben ihre Grenzen aber vor den Schranken des Gerichts, denn die juristischen Folgen sind unausdenkbar; es gilt einen Präzedenzfall zu verhindern.15 zip übernommen, obwohl doch an ihrem fiktionalen Charakter kein Zweifel gelassen wird. Dennoch fühlen sich die Zuschauer bei der Betrachtung der Unterhaltungsserien, als seien sie Teil der Fernsehfamilien. Tom Baxter scheint Anders’ Medienkritik nur beim Wort zu nehmen und buchstäblich auszuführen, was die Theorie unterstellt: Ein Phantom wird real. [Anschluß Anm. 15.] 14 Es ist fast beunruhigend, wie gut auch unsere Realität mit unserer Fiktion korrespondiert: Mia Farrow, die Darstellerin der Cecilia, heißt eigentlich Maria de Lourdes Villiers Farrow und ist streng katholisch erzogen worden. Maria, die Lourdes, den Wallfahrtsort mit den wundertätigen Bildern, im Namen hat und die als Kind so gern Nonne geworden wäre, muß die Transsubstantiation der Bilder aufs äußerste gegenwärtig sein, sie leiht Cecilia jene Gelassenheit, mit der diese den Übertritt der Filmfigur Tom Baxter in die wirkliche Welt akzeptiert. Vgl. Mia Farrow: Dauer hat, was vergeht, Bergisch-Gladbach 1996. 15 Ontologische Zweideutigkeiten 3 – Realität durch Reproduktionen produziert: »Das Einmalige ist nicht.« Diesen Satz hält Günther Anders für das erste Axiom unserer modernen Wirtschaftsontologie. Wir akzeptieren nur, was in großer Zahl industriell nach Schablonen gestanzt wird – auch bei der Wahrnehmung, deshalb gilt uns nicht das einmalige Erlebnis, sondern das reproduzierte – am besten dutzendfach –, wie es uns in den Sehenswürdigkeiten begegnet, die ihre Existenz nur dadurch erweisen, daß sie immer wieder photographiert werden. So wird »das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder« (Anders, Antiquiertheit, a. a. O., 179). [Anschluß Anm. 30.] »Realität wird durch Reproduktion produziert; erst im Plural, erst als Serie, ist ›Sein‹.« (Ebd., 180.) Danach ist Toms Realitätssprung auch medientheoretisch legitimiert. Er bestätigt nur, was seiner Seinsform von Anders unterstellt wird. [Anschluß Anm. 18.]
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Das sieht schließlich auch Gil Shepherd ein, und so kommt es dann zum Showdown zwischen ihm und Tom, zwischen dem Original und seinem ontologisch privilegierten Abbild. Der Schöpfer verwandelt sich nun doch in den Hirten, der er laut Geburtsregister ist, und versucht seinen entlaufenen Schützling in gehegtes Gelände zurückzuholen. Der Mensch versucht das Phantom zu überreden, es solle in seine angestammte Welt, den Film, zurückkehren, schließlich sei es nicht real! Tom aber will keineswegs zurück. »Ich kann lernen, real zu werden«, meint er, ganz der Schüler Anselms. »Das ist nichts Besonderes. Das fällt mir nicht schwer. Real zu sein, kommt mir ganz natürlich vor.« Gil allerdings macht nun doch eine kantische Wendung und beharrt darauf, real zu sein, könne man nicht lernen, ebenso wenig, wie ein Zwerg zu sein. Man ist es oder man ist es nicht. Gils Argumentation rückt nicht ab von seiner modernen, realistischen Zwei-Welten-Theorie. Ein Bild ist ein Bild, und ein wirkliches Wesen ist ein wirkliches Wesen. Sein Verhalten aber widerspricht dieser Theorie längst. Um Tom überreden zu können, muß sich Gil an die Regeln der realen Welt halten, damit erkennt er aber Tom auch ein Stück weit als Teil dieser realen Welt an. So ist auch sein Scheitern schon vorprogrammiert. Tom läßt sich denn auch nicht überzeugen. Er liebt Cecilia. Also versucht Gil, sie zu überreden, Tom zurückzuschicken. Aber auch Cecilia liebt ihren Tom, schließlich ist er perfekt. Sein einziger Makel: Er ist nicht recht real. Nun beschließt Gil Shepherd, Tom mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Wenn die Realität der Fiktion nicht beikommt, dann muß sie sich an die Realität halten: Er macht Cecilia glauben, er liebe sie, er, ein reales Wesen. Der Liebhaber des Realen ist aber nur eine weitere seiner Rollen. Hat er mit Hilfe der Technik ursprünglich Tom von sich abgespalten, so erzeugt er nun ein weiteres Phantom, aber eines, das denselben materiellen Körper mit ihm teilt, denselben Namen und scheinbar dieselbe Identität.16 16 Sibyl Vane 2 – Befreiung der Person aus den Rollen: Sibyl Vane kann ihre Rollen nur deshalb so überzeugend verkörpern, weil sie selbst in ihnen existiert, weil sie selbst kein Leben – oder zumindest kein eigenständiges emotionales Leben – außerhalb dieser Rollen führt. In dem Moment aber, in dem Dorian ihre seine Liebe gesteht, verliert sie ihre Kunst. Denn sie glaubt sich als Person geliebt, wo er nur die Schauspielerin meint. (Während Cecilia übrigens glaubt, die Person Gil zu meinen, der aber nur als Schauspieler seiner selbst vor ihr steht, und den sie wohl – hierin ganz wie Dorian – auch nur in seinen Rollen – der Rolle des Tom und der Rolle des Gil – liebt.) In diesem Mißverständnis entdeckt sie sich aber erst als Person und verliert damit ihr Können. »›Dorian, Dorian‹, rief sie, ›bevor ich dich kannte, war Theaterspielen das einzig Wirkliche in meinem Leben. Nur auf der Bühne lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und am nächsten Portia. Beatrices Freude war meine Freude, und Cordelias Schmerzen waren die meinen. Ich glaubte an alles. Die gewöhnlichen Menschen, die zusammen mit mir spielten, kamen mir wie Götter vor. Die gemalten Kulissen waren meine Welt.‹« Und als sei sie eine gelehrige Schülerin Platons, fährt sie fort: »Ich kannte nur Schatten und meinte, sie wären wirklich.« Die Verwandlung kommt in Form eines wirklichen Wesens: »Dann kamst du – o mein schöner Geliebter! –, und du befreitest meine Seele aus dem Gefängnis« (94). Sibyls Befreiung ist für Dorian aber Entzauberung. An der Person Sibyl Vane hat er kein Interesse, und er läßt sie das ohne Beschönigung wissen. Seine Abkehr kann sie nun aber nur so
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Auch diese neue Rolle versteht Gil meisterhaft zu spielen. Cecilia hält dann auch Irreales: die Rolle, für Reales: die echte Liebe. Shepherd hat Erfolg, weil er – anders als bei Tom – der immanenten Logik der gerade beanspruchten ontologischen Ebene gehorcht: Er schlägt die Rolle mit einer anderen Rolle, und zwar indem die neue Rolle die alte überbietet, wie in einem Salto rückwärts stellt er das »Echte« als das »Unechte« dar: Er behauptet, Cecilia zu lieben, weil sie selbst so ungekünstelt, so wirklich sei, und übernimmt damit ein Stück weit die Sehnsucht seines entlaufenen Produkts. Aber Cecilia ist nicht nur realer als die Rollen, die Gil spielt, sie ist vor allem auch realer als all die Schauspieler, mit denen er sonst immer verkehrt. So will er sie jedenfalls Glauben machen. Als sie ihm ihre Bewunderung gesteht, von seinem magischen Glanz schwärmt, jubelt er begeistert: »Das von einem wirklichen Menschen zu hören, das ist – das ist nicht so ein Filmschnepfengewäsch, die mit den irren Fetzen, die einem die Ohren mit heißer Luft vollblasen.« Shepherd denunziert damit seine Kollegen selbst als halbe Schattenwesen, Menschen minderer Realität; so als hätten diese Schauspieler im Laufe ihrer vielen Auftritte zuviel Leben an ihre Figuren abgestrahlt – oder als seien sie Druckplatten, die sich nach und nach abnützen.17 Aber Gil spielt auch diese Rolle erfolgreich; Cecilia entscheidet sich für ihn, und Tom kehrt in seinen Film zurück.18 Als der Projektor abgeschaltet ist, verschwindet nicht nur Tom, auch Gil reist ab. Zurück bleibt Cecilia – enttäuscht zwar, aber nur von dem Einzelfall, nicht von der Ontologie: Ihre Hoffnung gilt dem nächsten Film, jetzt wahrscheinlich um so mehr. interpretieren, daß er seinerseits die ontologischen Ebenen vertauscht, so wie sie es gerade für sich getan hat, wenn auch in der entgegengesetzten Richtung; wie sie vom Theater zum Leben übergetreten ist, kann sie Dorians Zurückweisung nur als irreal verstehen: »›Das ist doch nicht dein Ernst, Dorian?‹ murmelte sie. ›Du spielst Theater.‹« (95) Aber dieser Realitätssprung ist Dorian fremd. Und Wilde dient diese Szene dazu, den viel wichtigeren ontologischen Bruch einzuführen: Nachdem Sibyl sich verzweifelt das Leben genommen hat, zeigt sich Dorians moralische Deformation zum ersten Mal in der visuellen Verunstaltung – seiner abgebildeten Person. [Anschluß Anm. 21.] 17 Filmschnepfengewäsch: Auch wenn Gil Cecilia seine Liebe nur vorgaukelt, er tut das mit Worten, die – wie in einem Subtext – sagen, was er wirklich meint. Denn er selbst ist als Schauspieler ja nur einer von den Kollegen, denen er das »Filmschnepfengewäsch« nachsagt. Und so denunziert er sich selbst. Wenn Gil sagt: »Ich liebe dich wirklich!« ist das ebenfalls Filmschnepfengewäsch und meint genau das Gegenteil. Ehrlich hingegen ist der falsche Tom. Nur das Abbild der Abbilder ist der Idee getreu. 18 Ontologische Zweideutigkeiten 4 – Rivalität zwischen Phantom und Realität: Aber an ihrem Ende kehrt sich die Geschichte gegen den Medientheoretiker. Auch Anders berichtet vom Kampf des Realen gegen das Imaginäre. In der Zeitung hat er den Fall einer Londonerin gefunden, die sich so sehr in den Star einer Seifenoper verliebt hat, daß ihr realer Mann bei ihr während der Sendung keine Beachtung fand. Er opponierte dagegen – erfolglos, so lange bis er dem realen Schauspieler seines imaginären Rivalen eine Morddrohung schickte (Anders, Antiquiertheit [Anm. 9], 148 ff.). Cecilia weiß sich letztlich doch – anders als jene Londonerin – für den realen und gegen das Phantom zu entscheiden. Allerdings erweist sich der reale auch nur als eine andere Art Phantom. Als wollte der Medienkritiker doch das letzte Wort behalten. Nicht nur werden die Zuschauer – laut Anders – zu Reproduktionen der Reproduktionen, die sie betrachten. Auch
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The Purple Rose of Cairo steht in einem Beziehungsgeflecht, nicht nur von Bildern, sondern auch von Worten. Der Film lebt einmal mehr auch von literaturhistorisch geadelten Motiven, am deutlichsten erscheint hier sicher das alte Pygmalion-Motiv wieder auf – wenn auch mit vertauschten Geschlechtern. Der Bildhauer Pygmalion – der zum ersten Mal von Ovid im ersten Jahrzehnt nach Christi Geburt überliefert wurde – ist ein Mann von hohen Ansprüchen. Da keine lebende Frau vor seinen Augen Gnade finden kann, schnitzt er sich eines Tages seine Idealfrau aus Elfenbein. Und sie ist ihm so gut gelungen, dass er sich in sie verliebt. »Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe, wolle sich regen, wenn die Scham es nicht ihr verböte. So verbarg sein Können die Kunst. Pygmalion staunt und faßt in der Tiefe der Brust die Glut für das Bild eines Leibes. Oftmals berührt er sein Werk mit der Hand und versucht, ob es Fleisch, ob Elfenbein sei, und versichert auch dann, kein Elfenbein sei es, gibt ihm Küsse, vermeint sie erwidert, spricht an und umfängt es, glaubt, seine Finger drückten dem Fleisch ihres Leibes sich ein und fürchtet, es mache der Druck das berührte Glied sich verfärben.«19
Die Göttin Venus erkennt die Stärke von Pygmalions Verlangen und erweckt die Statue zum Leben. Cecilia hingegen braucht für den Akt der Belebung keine vermittelnde Instanz. Sie belebt die Kunstfigur allein mit der Intensität ihres Verlangens, bezeichnenderweise durch reine Quantität: Sie sieht sich diesen Film immer wieder an und beeindruckt damit das Wesen, dessen Existenz ja selbst in Vervielfältigung besteht. Ovids Geschichte hat allerdings ein klares Happy End. Pygmalion heiratet seine zum Leben erweckte Geliebte und führt eine glückliche Ehe. Das ist aber zu dem ontologischen auch noch eine Art diskursiver Regelverstoß. Golem oder Frankenstein – belebte Bilder sind gewöhnlich Träger von Unheil: Das Goldene Kalb muß zerschlagen werden, deshalb sind Geschichten von solchen belebten Bildern in der Regel Warnungen vor der Hybris des Tagtraums, Prophezeiungen des Unheils.20 Der Bruch ontologischer Regeln scheint mit der strikten Unterwerfung unter moralisch-diskursive Regeln geheilt werden zu müssen.21 Der Zusammenbruch die Schauspieler müssen – wollen sie Erfolg haben – zu Abbildungen ihrer Abbildungen werden (ebd., 204 ff.). 19 Publius Ovidus Naso: Metamorphosen, übers. von Erich Rösch, München 1952, Buch X, Verse 250 –258. 20 Und so versuchen dann auch schon die ersten christlichen Kommentatoren wie Clemens von Alexandrien oder Arnobius den Pygmalion-Mythos selbst zu deuten, vgl. Mythos Pygmalion. Texte von Ovid bis John Updike, hg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin, Leipzig 2003. 21 Sibyl Vane 3 – Die invertierte Galathea: Und das hat selbst noch bei Oscar Wilde seinen Widerschein. Denn was ist Sibyl Vane anderes als eine invertierte Galathea? Wie Pygmalion die Statue durch sein intensives Begehren belebt, führt genau diese obzessive Liebe in Dorian Grays
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der Distanz zwischen den beiden ontologischen Ebenen Fiktion und Realität muß für Tod und Verderben stehen, etwa in dem klassischen Fall, den Prosper Mérimée 1837 in seiner Erzählung Die Venus von Ille schildert. Die Transsubstantiation der Statue gelingt dort nur teilweise, das Standbild setzt sich zwar in Bewegung, bleibt jedoch steinern und erdrückt so im Liebesakt das von ihr Begehrte.22 Oder auch in Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray, in dem die Repräsentation den moralischen Verfall des von ihr Repräsentierten dokumentiert. Am Ende ersticht sich Dorian Gray, weil er das Bild, das ihm sein verfehltes Leben vor Augen führt, zerstören will. Während sein Messer die Leinwand zerschlitzt, bricht er selbst tot zusammen. Hier zeigt sich der magische Hintergrund noch deutlicher. Wie der Voodoo-Priester Nadeln in das Abbild eines Menschen sticht, um damit einen Schaden an Leib und Leben des Abgebildeten zu verursachen, so ersticht sich Dorian Gray selbst in seinem Abbild.
II. Emanation des vergangenen Realen – Die Photographen und die Legende vom Medium Magische Praktiken haben den Gebrauch von Bildern jahrtausendelang begleitet, von Altamira und Lascaux bis zu den Bilderstürmen der frühen Neuzeit. Seit einiger Zeit haben genau diese Praktiken – vor allem aber ihre Negation, der Bildersturm – eine lebhafte wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden23, die sich nun auch in Ausstellungen zu diesem Thema niederschlägt, zuletzt etwa in der Berner Ausstellung Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille 24 oder in Iconoclash. Jenseits der Bilderkriege in Religion,Wissenschaft und Kunst.25 Bei Iconoclash wurde das kunsthistorische Interesse an den magischen Praktiken traditioneller Bilder zusammengeführt mit den Magie-Diskursen, die an technisch generierten Bildern ansetzen, denn die Fall erst zum Verlust der darstellerischen Lebendigkeit bei Sibyl Vane und schließlich auch zum Verlust ihres wirklichen Lebens. 22 Die Venus von Ille – Verfehlte Transsubstantiation: Aus der wohlgesonnenen Helferin Pygmalions ist eine ebenso eigennützige wie eifersüchtige Rivalin geworden. Vielleicht zeigt sich darin auch eine Entmächtigung. Die antike Göttin, die bei Ovid noch eine selbständige Realität war, hat nun nur noch eine Existenz in Artefakten. Den magischen Akt der Belebung nimmt sie nicht an einem Dritten vor, sie muß ihn vielmehr an sich selbst vollziehen – und scheitert dabei doch, denn die Bronze verwandelt sich nicht in lebendiges Fleisch. Die Erweckung, der doch keine Transsubstantiation gelingt, bleibt so auf halbem Weg stecken und führt ins Unheil. 23 Vgl. u. a. Hans Belting: Bild und Kult – Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Horst Bredekamp: Kunst als Medium sozialer Konflikte – Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt/M. 1975; Martin Warnke (Hg.): Die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt/M. 1988. 24 November 2000 – April 2001. 25 Karlsruhe 4. Mai – 1. September 2002. Vgl. den Katalogband: Iconoclash, hg. von Bruno Latour und Peter Weibel, Cambridge, Mass. u. a., o. J. (2002).
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Aufladung des Bildes mit magischen Praktiken, seine Beschreibung mit einem Vokabular aus dem Feld der Magie, erhält historisch zu dem Zeitpunkt eine weitere Dimension, an dem die Medien des Bildes technisiert werden. Schon sehr früh in der Geschichte des Mediums Film – im Jahr 1907 – gibt es dafür eine reizvolle selbstreflexive Illustration. Von den Gebrüdern Pathé ist ein Kurzfilm erhalten, der den Titel Das wunderbare Stammbuch trägt.26 Darin wird einem gutsituierten Herrn, offensichtlich einem Adeligen, ein Buch gebracht, dessen Inhalt rein aus Bildern besteht, wohl Abbildungen seiner Ahnen. Der Mann, der den Band präsentiert, reißt nun nach und nach alle Seiten aus dem Buch, knüllt sie zusammen und wirft sie vor sich auf den Boden. Dadurch verwandeln sich die Repräsentationen in lebendige Menschen. Am Ende dieser Vorführung stehen nun all diese Ahnen vor dem staunenden Adeligen, doch als er sie umarmen will, lösen sie sich wieder in Luft auf, allerdings nicht völlig, denn ihre Kleider bleiben zurück. Hier wendet sich der Film noch nicht auf sich selbst zurück, sondern auf seine eigenen Ahnen: Er zeigt die Transsubstantiation noch in einem ihm vorausgehenden Medium – der Buchillustration – und stellt sich so in eine Tradition, die er selbst mit veränderten Mitteln und neuer Relevanz fortführt. Denn erst bei den photographisch erzeugten Bildern erhält der Magie-Diskurs wirklich eine neue Bedeutungsdimension. Und so hat denn auch der Umstand, daß sich Photographien selbst zu generieren scheinen – sie entstehen durch das Licht, das von den Dingen reflektiert wird –, sehr früh schon zur Reaktivierung eines Vokabulars geführt, das Überirdisches zu Hilfe holt. Die Praktiken, mit denen die Brüder Pathé oder Woody Allen spielen, werden also in den Theorien, die diese Medien thematisieren, wenn nicht auf den Begriff gebracht, so doch mindestens in dem entsprechenden Vokabular gespiegelt. Vor allem in der Photographietheorie begegnet uns dies Vokabular heute regelmäßig. Susan Sontag etwa stellt ihre grundsätzlichen Reflexionen über die Photographie in den großen Rahmen des philosophiegeschichtlichen Bilderstreits. Die Bemühungen von Platon – dem Philosophen des Höhlengleichnisses und damit einem Filmtheoretiker avant la lettre – bis hin zu Ludwig Feuerbach – einem Zeitgenossen der ersten Photographen – interpretiert sie als Plädoyer für eine bildfreie Erfassung des Realen. Doch dieser Kampf basiere noch auf einem naiven Realismus, dem mit dem neuen Medium ein stärkerer Gegner erwachsen sei. Die Entstehungsprozesse unterschiedlicher Bildmedien vergleichend, schreibt sie: »Unser unleugbares Gefühl, daß der Prozeß des Fotografierens etwas Magisches hat, kommt nicht von ungefähr. Niemand hat angesichts eines Bildes von der Staffelei das Gefühl, dieses Bild sei von der gleichen Substanz wie sein Gegenstand. Es stellt etwas dar oder verweist auf etwas. Eine Fotografie aber ist nicht nur ›wie‹ ihr Gegenstand, Vgl. einige Stills und den kurzen Kommentar in: Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Ausstellungskatalog, Kunsthalle Wien 24. Mai – 25. August 2002, Wien 2002, 64 f. 26
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eine Huldigung an den Gegenstand. Sie ist Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstands; und sie ist ein wirksames Mittel, ihn in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen.«27 Die Photographie sei Erweiterung des Gegenstandes, weil sie eine »Spur« von ihm sei, »etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske«, »nie weniger als die Aufzeichnung einer Emanation«.28 Und ganz entsprechend – wenn auch unter anderen Vorzeichen – heißt es in Roland Barthes’ Die helle Kammer: »Die Realisten, zu denen ich gehöre […] betrachten eine Photographie keineswegs als eine ›Kopie‹ des Wirklichen – sondern als eine Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst.«29 Kein Zufall, daß Susan Sontag und Roland Barthes für diese materielle Spur, die entsteht, weil Lichtwellen von Gegenständen reflektiert werden, den Begriff »Emanation« verwenden. Von seinem lateinischen Wortursprung her meint er zunächst nur soviel wie »Ausfluß« oder »Ausstrahlung«. Aber schon in der neoplatonischen oder gnostischen Philosophie bezeichnet er das Hervorgehen aller Dinge aus dem göttlichen Einen. Eine privilegierte Gruppe wundertätiger Bilder des Mittelalters, wie das berühmte Schweißtuch der heiligen Veronika, legitimierten ihre besondere Macht, ihre einzigartige Heilkraft, dadurch, daß sie nicht gemalt, sondern durch direkten Abdruck von Gesicht und Körper Christi entstanden sein sollen – eine Emanation also ganz besonderer Art, eine, deren Verwandtschaft mit der Photographie deutlich zu Tage zu treten scheint. Und so wird uns auch hier mit der Wortwahl suggeriert, der Photographie eigne ein ähnliches Wirklichkeitsverhältnis. Während das bei Sontag durchaus kritisch gemeint ist, versteht Barthes »Emanation« im positiven Sinn. Für bestimmte Photos gelte, daß sie jenseits ihrer kulturell bedingten Codierung (die der Semiologe Barthes ihnen natürlich zugesteht) immer noch eine besondere Bürgschaft abgeben, die Bürgschaft des Es-ist-so-gewesen. Diese Menschen, die wir jetzt dort sehen auf dem Photo, haben wirklich einmal gelebt, haben etwas gefühlt, begehrt, erstrebt. Diese Photos beglaubigen eine vergangene Existenz. Und wenn es Tom Baxter gar nicht schwer erscheint, real zu werden, beleiht er gewissermaßen eine immanente Möglichkeit des Mediums, dem er entsprungen ist.30 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/M. 1980, 148. Ebd., 147. 29 Roland Barthes: Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, 99. 30 Vom Es-ist-so-gewesen zum Es-wird-gewesen-sein – eine leichte Verschiebung des Blicks taucht die Szenerie in ein ganz anderes Licht: Und letztlich steht in Tom Baxter Barthes’ Es-ist-so-gewesen im Widerstreit mit Anders’ Einmal-ist-keinmal. Auch Anders macht übrigens für seine These von der Photographie als unentbehrlichem Reproduktionsmittel der Wirklichkeit Anleihen bei der Magie: So nennt er die Touristen, die mit ihren Photoapparaten die gesehene Realität reproduzieren, Magier, »die es noch nicht einmal nötig haben, ihre Gegenstände zu berühren«, um sie »aufzunehmen«, d. h. auch »bei sich« aufzunehmen und damit die Gegenstände zu »haben«, in den Besitz zu nehmen. (Anders, Antiquiertheit [Anm. 9], 180 f.): »Wer aber auf diese Weise reist, für den ist die Gegenwart zum Mittel für das ›es wird gewesen sein‹ degradiert« (a. a. O., 183). 27 28
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Aber das Magie-Vokabular beschränkt sich nicht allein auf die technische Erneuerung des Schweißtuchs der Heiligen Veronika in Form der Photographie. Es erscheint auch wieder in der allgemeinen Medientheorie. Wenn sich Vilém Flusser dieser Begrifflichkeit bedient, legt er den Schwerpunkt auf das besondere Kausalitätsverständnis der Magie, ihre besondere Art, Welt zu organisieren. Er sieht das Bild als Widersacher der Schrift. Deshalb beginnt für Flusser der ur sprüngliche Kampf gegen das Magische nicht erst mit dem Plädoyer der Philosophen für das Reale, sondern früher: »Die Texte wurden im zweiten Jahrtausend v. Chr. erfunden, um die Bilder zu ent-magisieren, wenn sich ihre Erfinder dessen auch nicht bewußt gewesen sein mögen; die Fotografie wurde, als erstes technisches Bild, im 19. Jahrhundert erfunden, um die Texte wieder magisch zu laden, wenn sich auch ihre Erfinder dessen nicht bewußt gewesen sein mögen. Die Erfindung der Fotografie ist ein ebenso entscheidendes historisches Ereignis, wie es die Erfindung der Schrift war. Mit der Schrift beginnt die Geschichte im engeren Sinn, und zwar als Kampf gegen Idolatrie. Mit der Fotografie beginnt die ›Nachgeschichte‹, und zwar als Kampf gegen Textolatrie.«31 Bei einem anderen Medientheoretiker geht die Argumentation direkt in den politischen Diskurs über. So heißt es bei Paul Virilio: »Wenn irische oder baskische Untergrundkämpfer, Action directe oder Rote Brigaden durch Folter, Attentate und Mord die Öffentlichkeit zu mobilisieren versuchen und die Medien mit Photos ihrer Sühneopfer füttern, dann treten die psychotropen Ursprünge des Krieges zutage; der Akt des inneren Krieges regrediert zur Magie, zum faszinierenden Schauspiel der Opferung, der Agonie, das zu den alten Religionen und Stammesritualen gehörte.«32 An dieser Stelle geschieht eine interessante Vermischung. Was Virilio hier schon 1986 in Krieg und Kino diagnostiziert hat, ist der Einsatz des Bildes als Mittel, als Waffe, so wie er in den Attentaten vom 11. September seinen konsequenten Höhepunkt erreicht hat. Virilio behauptet aber nicht nur, daß der von den Terroristen gewünschte Effekt nicht ohne das Medium des technischen Bildes zu erzielen gewesen wäre, sondern auch, daß wir darin gleichzeitig einer Regression unterliegen würden.33 Vilém Flusser : Für eine Philosophie der Fotografie, 4. überarb. Auflage, Göttingen 1989, 16. Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt/M. 1986, 9. 33 »Regressiv« ist ein beliebtes Attribut für Bilder. So leitet einer der rigorosesten modernen Photographiekritiker, der Pädagoge Neil Postman, seine Bemerkungen zu diesem Medium mit der Feststellung ein, die Idee des Bildes sei »so alt wie die Höhlenbilder von Altamira«. (Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/M. 1985, 83) Daher zitiert er dann auch zustimmend die Wendung von Reginald Damerall, Bilder seien »in kognitiver Hinsicht regressiv«. (Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/ M. 1983, 87), um seine Befürchtung zu untermauern, unsere öffentliche Diskurskultur, vor allem auch die politische, werde zerstört, weil nach dem Zeitalter des Buchdrucks und der Erörterung (dem 19. Jh.) nun das Zeitalter des Fernsehens und des Showbusiness angebrochen sei. 31 32
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Der politische Diskurs wird also nicht in erster Linie deshalb zerstört, weil hier jemand Gewalt einsetzt und sich für seine Ziele einer Reihe von hocheffizienten modernen Mitteln, u. a. auch des Fernsehbildes, bedient; der Diskurs wird zerstört – so insinuiert Virilio –, weil er sich atavistischer Mittel bedient, solcher Mittel, die stammesgeschichtliche Ebenen wieder freilegen, die eigentlich durch den – man möchte fast sagen: zivilisatorischen – Prozeß überholt sein sollten, oder besser: von dem wir im hybriden Wahn glaubten, sie überwunden zu haben. All das schreibt Virilio natürlich nicht ausdrücklich; er unterschiebt es dem Leser vielmehr durch eine geschickte Rhetorik, die Bilder mit Magie verknüpft und beides als Regression versteht.
III. Lernen, realistisch zu werden – der steinerne Lenin ohne Legende »Magie« wird in einem scheinbar aufgeklärten Zeitalter vor allem ein Kampfbegriff, und ebenso die damit verbundene Terminologie. Denn sie ist mit einem ganzen Hof an Assoziationen umgeben: blinde Unvernunft und ungezügelter Wahn, roher Vandalismus und barbarische Zerstörung kultureller Werte. Das klingt schon bei Susan Sontag an, das zeigt sich deutlich bei Virilio. Das scheint aber auch in politischen Debatten immer wieder auf. Besonders gut war das an den Presseberichten, die die Demontage des Lenindenkmals in Berlin-Friedrichshain im Jahr 1991 begleiteten, zu beobachten. Dabei ist der Kontext, in dem sich diese Debatte abspielte, nicht uninteressant. Als die Sowjetunion in ihre einzelnen Republiken zerfiel, die alte Nomenklatura von den neuen Regenten aus ihren Ämtern gejagt wurde, erhob sich auch hier und da der Volkszorn und räumte mit den Zeichen der untergehenden Zeit auf: Den Leninstatuen und den Standbildern des Tscheka-Gründers Felix Dserschinskij wurden Stahlseile um den Hals geschlungen, woran man sie von ihren Sockeln zerrte – eine symbolische Strangulation der Personen und eine reale Zerstörung des Steins, die den historischen Bilderstürmen noch in gewisser Weise ähnelte. Ganz anders in Deutschland. In der DDR trat die Revolution weniger emotionsgeladen auf. Lenin blieb zunächst auf seinem Sockel. Noch im Oktober 1990 hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Denkmäler des Sozialismus: »Unbeachtet wie ehedem verstellen sie noch heute die schönsten Bauplätze. Kein Bildersturm hat sie hinweggefegt, waren die Ehrenmale doch schon vergessen, als sie errichtet wurden. Sie traf kein Haß, weil sie für etwas stehen, dem das Volk ohne inneren Anteil huldigte. Der Kult um die Abgötter der Ideologie war Gewohnheit, leidige Pflicht, der man eher geistesabwesend genügte. Und selbst wer Feuereifer an den Tag legte, wollte das ja, wie er nun eilfertig erklärte, rein aus pragmatischen Erwägungen getan haben.«34 34
Thomas Rietzschel in: FAZ, 29.10.1990.
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Erst nach der Vereinigung ging man daran, diese Zeichen der alten Zeit zu beseitigen, allerdings nicht im Überschwang des Volkszorns, sondern präzise und sachgerecht, gesetzlich geregelt, im staatlichen Auftrag. Spötter fanden das übrigens sehr deutsch – ein Ausdruck des hiesigen Nationalcharakters. In Strausberg wurden fünf Meter Lenin an eine West-Berliner Galerie verkauft. Merseburg lagerte zwölf Meter derselben Art erstmal in einen Hangar ein, um später zu entscheiden, was damit geschehen soll. Die Dresdner waren ratlos: Der Abriß wurde ihnen zu teuer. Auch der Abriß der bombastischen neunzehn Meter in Friedrichshain kostete Berlin eine große Summe. Das war es der Stadt, vor allem in Gestalt ihres Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz Volker Hassemer, aber wert. Zu diesem Zeitpunkt regten sich die Emotionen nun doch, aber anders als erwartet. Es fanden sich nicht wenige, die sich nicht über das Denkmal, sondern über seinen Abriß empörten. Die einen hielten das schlicht für Geldverschwendung; die anderen sahen darin nur einen erneuten Anschlag der selbstherrlichen Wessis, die den Ossis noch ein weiteres Stück ihrer Identität rauben wollten. Eine dritte Gruppe protestierte aus Gründen der Stadtbildpflege; schließlich war der Lenin des sowjetischen Staatskünstlers Nikolai Tomski nach der Wende mit auf die Denkmalliste gesetzt worden. Man müsse die Symbole von gestern erhalten, meinten viele, um sich an die Vergangenheit zu erinnern und sich kritisch mit ihr auseinandersetzen zu können. Bündnis 90/Grüne und das »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen« versahen die Statue mit einer Schärpe, die den Slogan »Keine Gewalt« trug, und nannten Hassemers Abrißabsichten »blinde Zerstörungswut« und »eine primitive Bilderstürmerei«. Aber der Senator setzte sich durch. Das Standbild wurde behördlicherseits von der Denkmalliste gestrichen und dann, mit Verzögerung zwar und mit größeren Kosten und Mühen als erwartet, aber letztendlich doch erfolgreich, abgerissen. Der Platz ist heute leer und heißt nicht einmal mehr Leninplatz, sondern Platz der Vereinten Nationen. Interessanter aber als die Gründe für oder gegen die Demontage ist der rhetorische Aufwand, den die gegnerischen Parteien betrieben haben, die Emotionen, die man mobilisieren wollte. Welche Absichten die einzelnen Kombattanten auch immer verfolgten, sie bedienten sich durchweg eines magischen Vokabulars. So schrieb zum Beispiel das »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen« dem damaligen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen in einem offenen Brief: »Wir empfehlen: die Zeremonie einer Massenveranstaltung, bei der Lenin öffentlich bespuckt, geschlagen, mit Steinen und deutschen Brandflaschen beworfen werden kann. Sie selbst könnten den Startschuß geben, in dem sie Lenin von einem Hebekran aus einen echten Pfälzer Saumagen ins Gesicht schleudern.«35 Der ironische Gestus, mit dem Diepgen hier ein kindisches und irrationales Verhalten unterstellt wird, verwendet magische und religiöse Begriffe. Aber auch 35
taz, 4.10.1991.
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die Befürworter des Abrisses bedienten sich desselben psychologischen Musters. So schrieb Matthias Matussek zum Beispiel im Spiegel: »Lourdes ist in diesen letzten 24 Stunden mitten in Berlin. Fürbitten und Votivtafeln hängen am Zaun der Andachtsstätte, erloschene Kerzen, Blumengebinde. So wurden in den vergangenen Jahren ermordete Bürgerrechtler geehrt von Warschau bis Moskau. Märtyrer des Widerstands. Doch hier, in Berlin, blüht der Kult mit verdrehten Vorzeichen. Denn hinter dem Zaun steht Lenin im Regen, sechs Stockwerke hoch, eingegittert bis zum Kinn, die Hand ans Revers gestemmt, den Blick herrisch über die Wohnsilos schweifend. ›Lenin bleibe bei uns‹, steht am Zaun. Ein Monument der alten Diktatur wird geschätzt. […] Mit Logik hat das alles nichts mehr zu tun. Eher mit Stammesritualen. Dieses Lenin-Monument, das wohl größte in Deutschland, gilt gar nicht mehr Lenin – es ist der Totempfahl der untergegangenen DDR.«36 Lourdes, Votivtafeln, Andachtsstätte, Stammesrituale, Totempfahl: »Mit Logik hat das alles nichts mehr zu tun.« Die Gegner der Demontage werden als kognitiv und sozial regredierte Eiferer dargestellt. Aber auch Dieter E. Zimmer von der Zeit, der eigentlich für den Erhalt des Monuments plädierte, fielen ähnliche Vokabeln ein. Den echten revolutionären Bildersturm – wie er zu dieser Zeit anders als in Berlin etwa in Polen oder der Sowjetunion vorkam – nennt er »eine Art symbolischen Voodoo-Mord an den Machthabern, die sich diese überlebensgroßen Bilder selbst gesetzt haben«. Weiter schreibt er in der Zeit über Sinn und Zweck solcher Repräsentativkolosse: »Es steht eigenartig um Denkmale. Sie geben vor, Straßen und Plätze künstlerisch zu verzieren, aber je auftrumpfender sie es tun, um so miserabler sind sie in der Regel als Kunst. Sie werden in didaktischer Absicht errichtet, weil ihre Aufsteller meinen, der Geist des Abgebildeten werde von den Statuen ausstrahlen und von den Passanten Besitz ergreifen. Aber es ist der reine Aberglaube. Indoktrinierende Kraft ist den Denkmalen nicht eigen.«37 Und André Beck von der taz verglich die Demontage Lenins mit der Entweihung von Heiligen. Die Götzen einfach nur vom Sockel zu holen, sei zu einfach. Aber trotz des aufklärerischen Gestus glaubt doch niemand wirklich, irgend jemand könne von der Präsenz Lenins in seiner marmornen Statue überzeugt sein. Niemand bemüht die Legende des Künstlers, niemand wirklich die des Mediums. Die Anrufung der Magie geschieht im Gestus rhetorischer Verleumdung. Die Bezeichnung der Standbilder als Götzen und Heiligenbilder folgt zwar auch dem bekannten Argumentationsmuster, das den Marxismus-Leninismus als Religionsersatz versteht, aber sie meinen noch mehr. Sie sind in erster Linie Polemiken, die versuchen, den Gegner mit Vorwürfen zu diskreditieren, die eigentlich längst nicht mehr treffen. Die rhetorische Beschwörung magischer und totemistischer Praktiken wird zur Metapher besonders irrationalen Verhaltens, eine Figur, die ihre Wirksamkeit gerade deshalb entfalten 36 37
Matthias Matussek in: Der Spiegel, 46/1991, 341. Dieter E. Zimmer in: Die Zeit, 18.10.1991.
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kann, weil ihre Ablehnung allgemein unterstellt wird. Die Magie des Bildes ist hier an ihrem Tiefpunkt. Sie führt lediglich noch ein Nachleben als karikatureskes Mittel politischer Denunziation.38
IV. Zwischen den Diskursen Tom Baxter, Roland Barthes und der steinerne Lenin – zu allen drei Diskursen ist die echte Bildmagie natürlich Vorgeschichte. Was die prähistorischen Maler von Lascaux geglaubt haben mögen, was Ikonodulen und Ikonoklasten im spätantiken Bilderstreit, was selbst noch die reformatorischen Bilderstürmer von Basel und Münster – davon ist hier gar nicht die Rede gewesen. Alle drei Diskurse ruhen historisch auf diesen Vorstellungen auf, teilen sie aber nicht mehr. Sie beziehen jedoch ihr metaphorisches Bedeutungspotential daher – wenn auch indirekt. Sie teilen sie nicht mehr, weil unsere Welt nicht mehr die der spätantiken Ikonoklasten ist. Wo wir heute noch auf echte Bilderstürme treffen wie etwa bei den Zerstörungen der Buddha-Figuren von Bamian durch die Taliban sind wir in der Regel nur noch befremdet. Dabei ist es den meisten heutigen Interpreten höchst unklar, warum in der Spätantike, während der Reformation oder vor wenigen Jahren in Afghanistan Bildwerke zerstört wurden. Glaubten die Bilderstürmer wirklich an eine Interaktion von Bild und Dargestelltem, wollten also im Bild das Abgebildete treffen; wollten sie diesen Glauben im Gegenteil desavouieren, indem sie zeigten, daß durch die Zerstörung von Bildern der Sache nicht wirklich geschadet wird; hatte die Demolierung nur symbolischen Charakter?39 Für die politische Rhetorik, wie sie sich im Streit um die Lenin-Statuen zeigt, ist der Bilderglaube von Byzanz so unbedeutend wie das Sozialverhalten der Wölfe für die Wolfsmetaphorik. Auch vom Bildersturm haben wir eine Rotkäppchen-Version: Sie ist eine grobe Aufklärungsgeschichte. Anders gesagt: Wenn wir zum Beispiel das gleiche Vokabular benutzen wie die Spätantike oder die Reformation, bedeutet es dennoch nicht das Gleiche, weil sich die kulturellen Implikationssysteme verändert haben. Gleichwohl sind die 38 All das verweist vor allem auf ein ganz bestimmtes Bildverständnis. Und das unterscheidet die Debatte um den Lenin von Friedrichshain grundsätzlich von Streitigkeiten um andere Staatssymbole, z. B. den um Straßennamen. Den »Leninplatz« in »Platz der Vereinten Nationen« umzubenennen, hat nicht halb soviel Staub aufgewirbelt, und kaum auch hätte man solch eine Auseinandersetzung mit Voodoo-Argumenten führen können. 39 Gerade die unterschiedliche Bedeutung von Bilderstürmen im Hinblick nicht nur auf ihren sozialen Hintergrund, sondern auch auf das ontologische Verständnis, das sie motiviert, bleibt noch genauer zu untersuchen. »Eine grobe Klassifizierung ikonoklastischer Gesten«, wie er es selbst nennt, versucht Bruno Latour in der Einführung zum Iconoclash-Katalog, die auch auf deutsch vorliegt, vgl. Bruno Latour: Iconoclash – Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin 2002, 46 ff.
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Assoziationskomplexe natürlich keine völlig anderen. Über vielfältige Transformationsstufen vermittelt, hat das alte Vokabular im neuen seine Spuren hinterlassen. Und da liegt der Unterschied zur Wolfsmetaphorik. Anders als bei der Soziologie der Wölfe sind die Bilderkämpfe ja selbst immer von Diskursen begleitet worden, die – wenn auch inzwischen verändert – in unsere mit eingegangen sind. Daß wir immer wieder – und sei es nur in Schwundstufen – magische (und religiöse) Vokabulare benutzen, zeigt welche Beharrungskraft unsere traditionellen kulturellen Assoziationssysteme haben. Das ist vielleicht weniger bedeutsam in tagespolitischen Polemiken, wie denen um die Leninstatue, als vielmehr in den medientheoretischen Diskursen, die neue Wirklichkeiten begrifflich zu erfassen versuchen. Der Vergleich zwischen diesen beiden Diskursen zeigt immerhin, wie stark auch im wissenschaftlichen Diskurs die denunziatorische Absicht, die im politischen deutlich zu Tage tritt, wirken kann, besonders deutlich bei Susan Sontag und Paul Virilio, wenn auch Flussers und Barthes’ Umgang mit dem Vokabular darüber hinausweist. Wir sind an solchen Stellen immer geneigt, den Gebrauch der Termini säkularisationstheoretisch zu interpretieren. Dieses Verständnis folgt dem Modell der Erbsünde. Die Begriffe und die Metaphorik, die wir von der Tradition übernehmen, scheinen eine gescheiterte Emanzipation anzuzeigen, einen Fortbestand der alten Denkmuster contre cœur. Das hieße aber, das Beharrende an diesen Diskursen auf Kosten des sich Verändernden zu stark zu betonen. Es ist gerade das Charakteristische an Metaphern, daß die kulturellen Implikationssysteme, die mit ihnen aktiviert werden, flexibel sein können, sich mit der Zeit verändern. Die Aufgabe einer kritischen Metaphorologie ist also eine doppelte: Zum einen muß sie versuchen, unsere überlieferten Vokabulare für uns transparent werden zu lassen, damit uns unsere metaphorischen »Vorurteile«, die unsere Weltsicht nun einmal strukturieren, bewußt werden, Reflexe reflexiv in Frage gestellt werden, und zwar sowohl was ihre historische Herkunft als auch ihre habituelle Gegenwart angeht. Zum anderen kann die kritische Metaphorologie dabei helfen, die Dynamik in diesen metaphorischen Implikationssystemen aufzuzeigen und sie aus sich selbst heraus weiter zu entwickeln, auch zwischen parallelen Diskurswelten zu vermitteln – wie etwa zwischen den ästhetischen und den politischen. Richard Rorty hat die metaphorische Neubeschreibung der Welt als entscheidenden Veränderungsschritt von Gesellschaften bezeichnet.40 Sei es, daß neue Metaphern an die Stelle der alten treten; sei es auch, daß sich der Assoziationsspielraum der überkommenen verändert. Diese Neubeschreibungen werden zunächst von einzelnen unternommen: von den strong poets. Vermutlich ist das eine Überschätzung vermeintlicher Genies.41 Dennoch steckt in den Gedankenspielen Woody Vgl. Rorty: Kontingenz [Anm. 3], 21 ff. Vgl. Rüdiger Zill: »Nicht Sätze, sondern Bilder« – Versuch einen Neo-Pragmatisten beim Wort zu nehmen, in: Hinter den Spiegeln. Zur Philosophie Richard Rortys, hg. von Thomas Schäfer, Udo Tietz, Rüdiger Zill, Frankfurt/M. 2001, 114 ff. 40 41
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Allens oder Oscar Wildes ein Potential, das – medientheoretisch reflektiert – uns gedankliche Werkzeuge an die Hand geben mag, um zu erforschen, welche ontologisch differenten Welten sich in uns überschneiden. Das reflexive Potential der Literatur und der Bilder muß also in bewußte Reflexion übersetzt werden.
Die Künste als Spielraum der Demokratie Von Hermann Pfütze
I. Es geht um die alte Frage, was wir aus unserem Leben machen – die sich freilich seit Kants philosophischer Begründung der Menschenrechte zur Antinomie von Kausalität und Freiheit ausgewachsen hat. Zwar muß sich der Verstand an die Kausalitätsgesetze halten, aber der Imperativ der Gewissens- und Handlungsfreiheit darf nicht an derselben Kette liegen. Es geht, mit einem Wort Heiner Müllers aus dem Frühjahr 1990, nicht um freie Wahlen, sondern um freies Gewissen als Imperativ der Demokratie. In einer Besprechung von Goethes Götz von Berlichingen, dieses Prachtexemplars der Handlungs- und Gewissensfreiheit, schrieb Jakob Michael Reinhold Lenz 1778: »Wir werden geboren […] es entsteht eine Lücke in der Republik, wo wir hineinpassen. […] Wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder […], bis wir […] abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rad Platz machen müssen. – Das ist unsere Biographie – als eine kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Weltläufte nennen, besser oder schlimmer hineinpaßt. Kein Wunder daß die Philosophen so philosophieren, wenn die Menschen so leben. Aber heißt das gelebt? Ha, er muß in was Bessern stecken, der Reiz des Lebens: (Nämlich), […] daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei […] (und) nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln, guter Gott! Platz zu handeln […] Seligkeit, Göttergefühl das!«1 Das ist Lenz’ Antinomie zwischen Leben in der Lücke und dem, was daraus zu machen ist. Lenz hatte als junger Mann bei Kant Vorlesungen gehört und mochte wissen von dessen langjähriger Arbeit an der Kritik der reinen Vernunft, zu der auch gehört, keine ›Erschleichungsfehler‹ zu begehen, also die eigene Abstumpfung nicht auf Weltläufte und widrige Umstände zu schieben. Nüchterner und zeitgemäß hat Hannah Arendt in Vita activa Ende der 50er Jahre diese Antinomie als humane Daseinsgarantie formuliert: »Jeder Mensch steht an einer Stelle, an der noch nie ein anderer vor ihm stand«, und die anderen Menschen »sind bereit, die Welt mit ihm zu teilen«, in Erwartung seines »Sprechens und Handelns«. Denn »Menschsein offenbart sich überhaupt nur im Plural« und nicht in arbeitsteiligem Funktionieren2. Lenz unterscheidet zwischen Handeln und der Zitiert aus dem Programmheft des Theaters der Freien Volksbühne Berlin zu: Der Hofmeister von Bertolt Brecht nach Jakob Michael Reinhold Lenz. Berlin, November 1988. 2 Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa, München/Zürich 1981, Kap. 5: »Das Handeln«, bes. § 24, hier 211 ff. 1
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Freiheit zu handeln, zwischen dem Arbeitsplatz, den ich einnehme und wieder freimache, und dem Lebensplatz, den ich schaffe, der vorher nicht da war und der andere nicht verdrängt, sondern einlädt, der die Welt erweitert und nicht beengt – in Arendts Unterscheidung von Handeln und Herstellen entspricht ›Handeln‹ der Lenzschen Freiheit zu handeln, ›Herstellen‹ indes dem Lenzschen Handeln. Die Freiheit zu handeln muß die Freiheit aller, auch der Unfreien, bedenken. Sie verlangt und erzeugt mithin vielfache Verbindungen mit der ganzen Welt – ist wahrhaft globalisierend –, während das meiste Tun und Lassen an seine Teilwelt gebunden ist: beschränkt auf den Zweck und die Lücke, in die es paßt. In der Freiheit zu handeln ist also immer für alle Platz, und ihre einzige Bedingung ist das moderne Menschenrecht, sich für sein Dasein und die ›Lücke in der Republik‹, die es öffnet, nicht rechtfertigen zu müssen, und in dem Bewußtsein, auf Erden willkommen zu sein wie alle anderen auch. Der ›Platz zu handeln‹, also Freiheit, folgt daraus freilich nicht automatisch, sondern muß geschaffen werden, und wer als Rädchen im Betrieb sein Leben verbringt, bleibt eben ›Lückenbüßer‹. Die Lücke, in die wir geboren werden, freizuhalten und zu verhindern, daß sie sich um uns schließt wie Teig oder Eis – das ist die Kunst, und darauf kommt es an in der Republik. Die Republik ist geräumig, aber hält Plätze nicht frei, sondern neigt in Raum und Zeit zu Lückenlosigkeit: kein unbekannter Ort in ihren Grenzen, kein Tag ohne Datum, kein Subjekt ohne Seinsnachweis. Daher die Beunruhigung über jemanden wie Lenz, der nirgends hineinpassen wollte, dessen Leben eingezwängt war zwischen härtesten Abhängigkeiten und dessen Werk bis heute Lücken schlägt und Spielräume öffnet im Betrieb der Republik. ›Republik‹ ist indes nicht gleichzusetzen mit Demokratie, sondern zu verstehen als das Allgemeine, als Gesamtgesellschaft, als System des Ganzen und viskoser Zusammenhang aller Umstände. Lenz’ Metapher vom Rädchen in der Lücke läßt sich lesen als Warnung, das Individuelle und Besondere nur als Rädchen zu begreifen, dessen Lauf von anderen angetrieben wird und dessen Achse feststeht. Das Ganze durchherrscht zwar alle Umstände, und die Lücken unterbrechen nur geringfügig seinen zähen Fluß, sind Augenblicksspielräume von kurzer Dauer und nachlassender Energie. Aber sie entstehen immer wieder neu und zahllos, sind nicht wiederholbar und nicht zu konservieren.Verschlissen zu werden und ersetzbar zu sein wäre jedoch die Bedingung, damit das Räderwerk funktioniert als Kausalverzahnung aller Kräfte. Die Lücke als Rädchen – Lenz scheint zunächst Kants Grundgedanken universaler Kausalität als »unwandelbares Naturgesetz« aller Erfahrung, auch der Freiheit und Willkür, zu teilen, wonach »das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist«.3 Zitiert nach: Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie (1963). Nachgelassene Schriften, hg. von Thomas Schröder, Frankfurt/M. 1996, 68. 3
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Die unbedingte Kausalität der Freiheit, also ihre Selbstbegründung, oder politisch formuliert, das moderne Menschenrecht, den Lebensplatz nicht rechtfertigen zu müssen, nennt Kant gesetzlos im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit der Natur, weil die Erfahrung der Freiheit von ihren Ursachen abgerissen werde und den Verstand davon entlaste, dieser Grundlosigkeit auf den Grund zu gehen. Kants Kritik unbedingter, d. h. willkürlicher oder gesetzloser Befreiung vom »Leitfaden der Regeln« ist freilich politisch nach wie vor aktuell etwa als Kritik des radikalen Neoliberalismus, der von den wachsenden Schwierigkeiten, seine rücksichts- und gedankenlose Praxis zu rechtfertigen, sich zu entlasten versucht mit Ausreden auf Unübersichtlichkeit, Durchwursteln, Globalisierung der Märkte oder sonstige ›invisible hands‹, die das Ganze schon zusammenhalten. Mit dem Pathos vernünftiger Anpassung an vorgeblich unabwendbare Entwicklungen wird Scheinkausalität gerade dafür reklamiert, sich keine vernünftigen Gedanken über das Tun und die Folgen machen zu müssen; Freiheit bestehe deshalb darin, alles Machbare tun zu dürfen, um den Anschluß an das Ganze nicht abreißen zu lassen. Kants Freiheitsbegriff, so Adornos ebenso logische wie politische Interpretation4, erschöpft sich jedoch nicht in der Kritik an willkürlichem Handeln, sondern ist, in der Antinomie von Kausalität und Freiheit, vielmehr selbst Widerstand gegen einen solchen rabiaten und begriffslosen Liberalismus. Denn erkenntnis- und theorielose Willkür ist ebenso blind wie die scheinbar natürliche oder materielle Kausalität, der sie vertraut. Also gibt es Freiheit nur in der Praxis und in ihr nur, wenn sie theoretisch begründet ist und ihre Notwendigkeit vorangetrieben wird als Erfahrungszusammenhang. Die in der Antinomie zwischen Stellenwert und Platz, Kausalität und Freiheit gründende, humane Daseinsgarantie scheint heute jedoch global bedroht von »totalisierenden Umhüllungen« atmosphärischen Terrors (Sloterdijk) und vom Verschwinden öffentlicher Plätze »in einer großen Blase, in der sich alle befinden« (so Gianni Vattimo über das Regime Berlusconis). Haruki Murakami schrieb nach dem 11. September 2001 und mit Reflex auf den Giftgasterror in der Tokyoter U-Bahn5, daß das neue Jahrhundert möglicherweise geprägt sein werde von einem ubiquitären »Untergrundkrieg zwischen verschlossenen und offenen Geistessystemen«, also zwischen totalitärer und freier Mentalität in jeder Stadt, in jedem Konflikt und jeder Beziehung. Peter Sloterdijk6 befürchtet die Schließung offener Systeme durch Klimavergiftung, »Gaspaläste« und »Atmoterrorismus«; die soziologische Konfliktforschung7 warnt vor expandierenden Gewaltmärkten und nuklearem Kleinkriegsterror. Gift und Angst durchdringen alle Räume, Sicherheitskontrollen schließen die letzten Lücken der Rede- und Vgl. ebd., 65 ff. In der Süddeutschen Zeitung vom 12.1.2002. 6 Peter Sloterdijk: Luftbeben – An den Quellen des Terrors. Franfurt/M. 2002, 40 ff. 7 Vgl. z.B. Trutz von Trotha: Die Zukunft der Gewalt, in: Gewalt (Kursbuch 147, März 2002), 161 ff. 4 5
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Bewegungsfreiheit, die dann nur noch zu haben wären als teures, exklusives »Air Design« im Bunker oder Kurort. Kunst und Demokratie als verletzliche, offene Systeme hätten in derlei »totalisierenden Umhüllungen« keine Chance. Totalitarismus-Prognosen und Katastrophenszenarien sind jedoch stets auch ihr eigener Widerspruch. Denn auch sie gedeihen nur in den Spielräumen, deren Zerstörung sie beschwören: nämlich in den »offenen Geistessystemen« der Demokratien, der Wissenschaften, der Literatur und Kunst – also in der »inneren Geräumigkeit«8 jener Bühnen, auf denen Kausalität und Freiheit nicht unverträglich sind. Beispielhaft dafür sind die öffentlichen Karrieren etwa der RisikogesellschaftsTheorie Ulrich Becks und der heiteren Globalisierungsterror-Prognostik Jean Baudrillards, die nicht als letzte Seufzer bedrohten Denkens daherkommen, sondern als Alarmismus und Gegengift. Wenn das dem Betrieb der Welt und den Systemzwängen vernünftig und sinnlich angepaßte Leben schon alles wäre, wären Kunst und Demokratie ziemlich überflüssig. Solch ein Leben unterböte sich selbst und beschränkte sich auf das, was ihm zustößt, ohne je selbst etwas anzustoßen. Das ›Leben im Räderwerk‹ erschöpfte sich darin, Lücken zu schließen und zugewiesene Plätze einzunehmen, statt geistige Bühnen und Handlungsspielräume aufzutun. Die Kausalität sozialer Systeme lebt jedoch von der Fähigheit, sie zu unterbrechen. Und das will etwas heißen: Die Kette aus Erfahrungs- und Erwartungsanpassung zu unterbrechen ist ein Schritt ins Freie und Ungewisse, ist angsterfüllt und führt in ein vermeintliches Chaos, ist aber zugleich ein unglaubliches Geschenk, nämlich die paradoxe, nicht kausale und buchstäblich abwegige Erfahrung, daß das Räderwerk nicht blindes Schicksal ist, sondern selbst anfällig für Lücken und Spielräume. Das liegt an der genuinen Schwäche jeder Totalität, die nämlich auch das einschließen muß, was sie ausschließen möchte, und sich mit ihrer eigenen, unberechenbaren Dynamik vertragen muß.9 Die Dynamik des Ganzen ist immer sozial, auch in ihren asozialen, destruktiven und terroristischen Formen, weil sie selbst Ausdruck der Antinomie von Zwang und Unterbrechung ist. Postsozialistische, unilaterale Weltmachtpolitiker und ihre terroristischen Pendants wissen, daß ihre Taten so oder so neue, unplanbare Beziehungen und Verhältnisse hervorrufen. Totalitarismus kann zwar viel kaputtmachen, aber er verfehlt sein Ziel: die Vollendung bzw. den Stillstand des Ganzen. Und darin, in seiner sozialen Eigenenergie, liegt die Chance des Ganzen, nicht in Schrecken totalitär zu erstarren. Freilich ist diese innere Dynamik nicht das Gleiche wie Dialektik, die die Widersprüche heraustreibt zu höherer Synthese, sondern eher das Gegenteil: Dialektik operiert lückenlos, Dynamik eröffnet neue Kraftfelder. Das ist Gisela von Wysockis schönes Wort für die Bühnenbilder Axel Mantheys. Ein Grundgedanke Michael Hardts und Antonio Negris in ihrer spekulativen Analyse der neuen Weltordnung. Vgl. Hardt/Negri: Empire – Die neue Weltordnung, aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt/New York 2003 (durchges. Studienausgabe), pass. 8 9
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II. Kafka hat zum totalitären, lückenlosen Charakter der Dialektik schon 1911 folgendes notiert: »Sicher ist mein Widerwille gegen Antithesen. Sie kommen zwar unerwartet, aber überraschen nicht, denn sie sind immer ganz nah vorhanden gewesen; wenn sie unbewußt waren, so waren sie es nur am äußersten Rande. Sie erzeugen zwar Gründlichkeit, Fülle, Lückenlosigkeit, aber nur so wie eine Figur im Lebensrad; unsern kleinen Einfall haben wir im Kreis herumgejagt. So verschieden sie sein können, so nuancenlos sind sie, wie von Wasser aufgeschwemmt wachsen sie einem unter der Hand, mit der anfänglichen Aussicht ins Grenzenlose und mit einer endlichen, mittlern, immer gleichen Größe. Sie rollen sich ein, sind nicht auszudehnen, geben einen Anhaltspunkt, sind Löcher im Holz, sind stehender Sturmlauf, ziehn […] Antithesen auf sich herab. Möchten sie nur alle auf sich herabziehn und für immer.«10 Das ist die Unfreiheit lückenloser, totalitärer Umstände und Denkfiguren; auch einer Dialektik, der jeder Widerspruch dazu dient, identifiziert zu werden als abstrakte Negation um der Negation willen. »Dialektik ist die Identität der Widersprüche« heißt es bei dem Stalinisten Louis Althusser mit Hinweis auf Hegel, Lenin und Mao.11 Alles über Antithesen zu identifizieren, ist rastloser Antrieb dieses Denkens, für das der Widerspruch mithin nicht ›nein‹ bedeutet, sondern ›ja‹ – nämlich die Bereitschaft, als Antithese zu funktionieren. Negation als Wiederholungszwang ist das Gegenteil des Innehaltens und Unterbrechens, ihre gebieterische Diskursform gestattet keine Exkursion ins Freie – dorthin, wo nicht schon eine Antithese wartet, um den Ausreißer wieder zurückzubringen ins Laufrad des Lebens. Dieser Unterschied zwischen Diskurs und Exkurs, zwischen dem Prinzip der Dialektik und der Freiheit des Dialogs, ist auch der Unterschied zwischen abstrakter Negation und Antinomie, zwischen Hegels Begriff des Ganzen »als ein Kreis von Kreisen […], deren jeder ein notwendiges Moment ist«12 und Kants Sittengesetz der reinen, ›losen‹ Vernunft. Hegels Kreis des Ganzen funktioniert wie ein Elektronensynchroton, in dem Ideen und Einfälle wie Elementarteilchen im Kreis herumgejagt werden, bis sie jeweils ihre Negation auf sich herabziehen. Kafkas Widerwille gegen Antithesen gründet vor allem darin, daß es aus ihrem Magnetfeld keine Flucht gibt und jedes Argument nur die Funktion eines anderen ist. Denn Antithesen stehen von vornherein im Zwang der Widerrede, ihr Gegenstand ist ihnen ebenso vorgegeben wie ihre Form. 10 Franz Kafka: Tagebücher 1910 –1923, hg. von Max Brod, Frankfurt/M. 1986, 124 (20. Nov. 1911). 11 Vgl. Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt/M. 1968, 137. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften von 1830, § 15. (Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M. 1971, Bd. 8, 58 f.)
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Ein derart geschlossenes Denksystem aus These, Antithese, Synthese wendet seine Dialektik, das Prinzip der Negation als inneren Antrieb, im großen wie im kleinen an, auf Überraschungen und Nuancen gleichermaßen. Deshalb schnurren die Antithesen, die ja zunächst etwas Neues und Anderes, gar »Aussicht ins Grenzenlose« versprechen, wieder zusammen zu einer »endlichen, mittlern, immer gleichen Größe«. Und das ist die stets identische Größe ihres Begriffs im Denken dessen, der so denkt. Überraschungen und Nuancen, Neues und Grenzenloses werden nicht als Besonderheiten eigener Kraft gewürdigt, sondern haben nur einen Stellenwert im Ganzen als Probe auf die, so Hegel, »unwiderstehliche Macht« der Dialektik, »vor welcher nichts […] zu bestehen vermag«.13 Aber vieles entzieht sich ihr und unterläuft sie. Was ist aber, um wieder auf Kants (und Adornos) Praxisbegründung zu kommen, der Erfahrungszusammenhang praktischer Freiheit? Es ist die Erfahrung, daß das Kausalitätsgesetz nicht absolut ist, sondern bedingt, sonst wäre es nicht zu erkennen und nicht zu kritisieren. Im Gegensatz zur deterministischen, stets kausalen Folgerichtigkeit der Natur kann die ansonsten unbestimmbare Erfahrung der Freiheit bestimmt werden als unerwartete Folgenlosigkeit und Unterbrechung der Kausalität. Eine freie Handlung eröffnet neue Freiheiten – so wie Widerrede und Protest die Argumentations- und Handlungsspielräume der Beteiligten nicht verengen, sondern erweitern. Das Gebot des kategorischen Imperativs ist kein Befehl, sondern gebietet Widerstand und Einwände, vermittelt mithin die Erfahrung, tatsächlich frei handeln zu können und das Sittengesetz zu verwirklichen ohne Ausreden auf die Bedingtheit des Tuns durch Zwänge, Notwendigkeiten und andere enge Gründe. Mehr können als müssen – das ist die Kantsche Einheit von Freiheit und Vernunft, nicht zu verwechseln mit dem dialektischen Räderwerk von Freiheit und Notwendigkeit. So interpretiert Adorno die ›Methodenlehre‹ der Kritik der reinen Vernunft, die »von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft« handelt, und dieser Zweck ist bei Kant durchgängig nicht die »Spekulation«, sondern die Praxis. Während »zwar im Sinn der Antinomienlehre […] die Kausalität triumphiert, weil wir im Bereich der Erfahrung nur kausal denken dürfen, […] schaut nun hier unter dem Gesichtspunkt des Primats der Praxis […] der Triumph der Freiheit heraus«14. Durchdachte Praxis, die ihrem Ursprung entspringt und sich, wie Kinder von den Eltern, von ihm löst, ohne ihn fliehen oder leugnen zu müssen, das ist Freiheit. Erfahrungen unterscheiden und begründen zu können stiftet ihren Zusammenhang, aber bricht ihre Kausalität, ihren Determinismus. Mithin ist Freiheit nicht erfahr- und erkennbar als bloßer Unterschied zu Zwang oder als Resultat von Bedingungen, die erst erfüllt sein müssen, sondern nur als ihre eigne Bedingung, nämlich als willkürliche Vorleistung und »konstitutive Unvorsichtigkeit«15 gegen 13 14 15
Ebd., § 81, 175. Theodor W. Adorno: Moralphilosophie [Anm. 3], 89 f. Thomas Kleine-Brockhoff in: DIE ZEIT vom 26.7.1996.
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alles weitere. So verstanden, ist Freiheit der Lückenschlüssel aller Zwänge, Nöte und Kausalitäten, den noch das abgestumpfteste Rädchen als Leerlauf spürt. Die Logik der Lücke unterscheidet sich von der Logik der ›Republik‹ ähnlich antinomisch wie die Freiheit von der Kausalität, d. h., sie gehorcht eigenen Gesetzen und verhält sich nicht, wie Feiertage zu Arbeitstagen, immer gleich zur Republik. Veränderungen des Ganzen, ob Staat oder Betrieb oder Ökosystem, haben unkalkulierbare Veränderungen der Lücken und Freiheiten zur Folge. Lückenschlüssel greifen auch unter veränderten Umständen, aber erschließen etwas anderes als vorher. Deshalb ist Freiheit nicht berechenbar, und man kann stets nur sagen, daß, aber nicht wie die neue Freiheit von der vertrauten sich unterscheidet. Was ist nun der logische Status der Lücke? Hat sie einen Stellenwert, der auch von etwas anderem eingenommen werden könnte als funktionalem Äquivalent (etwa Zeit oder Geld)? Oder hat sie, als Hohlform und Negativ, denselben logischen Status wie die Füllung und das Positiv? So gesehen, ja; aber diese zweiwertigen Logiken kennen keinen Spielraum zwischen plus und minus, keine Lücke zwischen Stelle und Wert. Ihnen fehlt das »Differential der Freiheit« (Adorno), mit dem das strikte Entweder-Oder gelockert und fraktalisiert, dimensional erweitert werden kann. In der binären Logik ist eine Lücke nur eine Leerstelle oder auch eine Planstelle, aber kein Spielraum. Der entsteht erst, wenn die Planstelle gestrichen werden kann, ohne daß sie weg ist, wenn m. a.W. nicht zwischen Position und Negation entschieden werden muß, sondern eine dritte Möglichkeit unterschieden werden kann, die nicht dieser digitalen Logik gehorcht. Die digitale Logik ist lückenlos und trivial, in ihr gibt es nichts, was keine Stelle einnimmt. Die Logik der Lücke ist dagegen nicht-trivial, in ihr ist die Lücke ein auf mehr als drei Wegen zugänglicher Ort, die, anders als die (daher triviale) Dreiwege-Gabel binärer Verästelungen, einander nicht ausschließen, sondern immer wieder treffen und kreuzen. Ich kann ein lückenloses Leben führen oder eine Biographie schreiben, in der jedes Moment einen Stellenwert hat und nichts fehlt. Selbst das Diskontinuierliche, die Brüche und Sprünge, können eingepaßt werden wie eine Folge im Fortsetzungsroman, und alles »Schwindelerregende«16, das diese nichtdigitalen Momente hatten, ist integriert. In solchen Konstruktionen fehlt etwas, das zugleich nicht fehlt, denn der Lebenslauf ist lückenlos. Was fehlt, sind nicht Fehlzeiten und andere Evidenzen, sondern Erfahrungen, denen keine Äquivalenzen entsprechen, die weder an Ereignissen dingfest gemacht noch in Bedeutungen oder Beziehungen integriert werden können. Wie aber kommt dieser Unterschied zwischen Spielraum und Stellenwert zustande, was macht ihn aus? Für Kant haben Freiheit und Zwang zwar denselben logischen Status, Spielraum und Rädchen bedingen einander in der Erkenntnis der »Kausalität des Weltlaufs«, aber sie haben nicht denselben praktischen Status. Das ist ihre Antinomie. Deshalb gibt es Freiheit nicht als blinde Praxis der Ellbogenfreiheit, 16
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1982, 42.
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sondern als Begriff und begründete Kausalitätserschütterung. Ursachen werden fragwürdig und Folgen ungewiß. Die Kausalkette wird einfach dadurch unterbrochen, daß dauernd neue Menschen mit neuen Gründen, Launen und Absichten in den Weltlauf treten und ihren Platz einnehmen, also ihre Lücke zu behaupten suchen, statt sie zu schließen. Die Republik ist kein Wettlauf um freie Lücken, sondern sie hat um so mehr Platz und Spielraum, je mehr Leute ihn einnehmen. So entstehen Spielräume, irritieren einen Moment und entziehen sich der Verfestigung; und so wird aus der Republik erst Demokratie.
III. Die dänische Dichterin Inger Christensen macht den Unterschied zwischen Freiheit und Beschränktheit des Handelns an der Sprache deutlich. In der Prosa des Lebens, sagt sie, »kann unsere logisch-praktische Sprache von Teilen der Wirklichkeit absehen und zu Bedingungen, die wir vorher abgesprochen haben, so tun, als wäre es menschenmöglich, die Wahrheit über die Welt zu sagen«.17 Die Bedingung ist, daß im logisch-praktischen Alltag unter einem Wort stets das gleiche verstanden wird, es die beschränkte Wirklichkeit seines Gegenstands nicht verläßt und auch Ausflüge ins Metaphorische innerhalb der Absprache bleiben. So sagt es überall, in allen Sprachen das gleiche wie ein Naturgesetz, das auch überall auf der Welt die gleiche praktisch-logische Wahrheit sagt. Die Poesie, und Kunst generell, kann diese Bedingung aber nicht akzeptieren, »weil man in der Dichtung gezwungen ist, die Sprache in ihrer ganzen Verbindung zur Wirklichkeit zu benutzen«.18 Die Sprache der Poesie muß mithin auch philosophisches und wissenschaftliches Denken durchwandern und kann zum Beispiel Geometrie nicht den Mathematikern und Logik nicht den Philosophen überlassen, die ihrerseits schon immer in anderen Sprachwelten herumgewandert sind. Die gegenseitige Neugier zwischen Mathematik und Ästhetik beispielsweise dient weniger traditionellem Wissenstransfer, sie gründet vielmehr in einer gemeinsamen Lust am Unbekannten, wie überhaupt die Attraktion verschiedener Sprachen und fremden Wissens nicht die Kenntnis, sondern die Unkenntnis der Sprache und des Wissens der anderen ist. Die Sprachen der anderen bezeichnen und äußern deren Verhältnis zur Wirklichkeit, und deshalb können Poesie, Philosophie und Mathematik sich als verhältnisbildende Maßnahmen verständigen, auch wenn sie voneinander wenig verstehen. Die fraktale Geometrie z. B. erzeugt Bilder der Konstanz und Unberechenbarkeit des Formprinzips, die universell verstanden werden. Die Küstenlinie Englands ist unbeInger Christensen: Der Geheimniszustand, in: Stadt Münster – Preis für Europäische Poesie 1995 an Inger Christensen und Hanns Gössel, hg. von Hermann Wallmann und Norbert Wehr, Münster 1995, 51–56, hier 52. 18 Ebd. 17
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rechenbar und unendlich: Je genauer sie vermessen wird, desto länger wird sie, obwohl Englands Fläche dadurch nicht größer wird. Die Form bleibt sich gleich: ein Fraktal zwischen Linie und Fläche, ähnlich »[…] wie der strand / einen saum schreibt / aus schaltieren und tang«.19 Die »ganze Verbindung« umfaßt auch das, was sonst logisch und praktisch gemeinhin aus dem Relations- und Referenzkontext eines Wortes ausgeschlossen ist, also nicht die Absprache, sondern die Sprache selbst. Und das ist der weitaus größere Teil der Wirklichkeit. In ihrem bekanntesten, theoretisch endlosen Gedicht alfabet hat Inger Christensen versucht, sich der Wirklichkeit mit der ganzen Sprache anzunähern – und zwar in Form der Fibonacci-Spirale, in der jede Zwischensumme Summand der nächsten ist. Denn es bleibt bei unendlicher Annäherung der Sprache an die Wirklichkeit, die vor jedem Wort, das eine neue Verbindung, eine kleine Brücke zu ihr schafft, »sich wegbewegt« und der Sprache stets voraus ist. Während einer Lesung (des Poesievereins Orplid am 7. Januar 1997 im Club Clara 90 in Berlin) sagte Inger Christensen: »Es gibt ja die ganze Welt, die mit a anfängt, und so geht es weiter mit b. In der Fibonacci-Entfaltung steigt die Welt in einer gewaltsamen Bewegung hinauf, und die Sprache, die göttlichste Falle der Natur, fängt, was vorher wegflog.« Der erste Vers des Gedichts alfabet ist einzeilig und wiederholt ein a -Wort: »die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es«.20 Der zweite Vers ist zweizeilig und besteht aus b-Wörtern, der dritte ist dreizeilig aus c-Wörtern. Der vierte Vers hat fünf Zeilen d-Wörter, der fünfte acht Zeilen e-Wörter, der sechste dreizehn Zeilen f-Wörter, der siebte bildet, in Sätze unterteilt, einundzwanzig Zeilen mit g-Wörtern, usw. eben nach der Fibonacci-Reihe.21 Die Erfahrung freien Handelns, also Sprechens, ist es dabei, daß die Wirklichkeit der Sprache in immer größeren Sprüngen enteilt, je mehr diese von ihr einfängt. Die Wirklichkeit ist buchstäblich immer avant la lettre. Die Sprache muß also für den Sprung in unbekannte Gefilde die Kraft und Erfahrung vorangegangener Sprünge zusammennehmen, sich sagen, daß es immer noch mehr Wörter gibt, und sich aufmachen, sie zu finden. Dänisch »findes« (»gibt es«) ist der Wanderstock, das zuverlässige Hilfswort. Ein Beispiel aus alfabet 22:
Inger Christensen: alfabet/alphabet (Auszüge), in Preis für Europäische Poesie [Anm. 17], 23. Ebd. 21 Bislang haben Inger Christensen und ihr Übersetzer Hanns Gössel das alfabet bis n durchwandert, aber sie wollen weiter. – Die F(ibonacci)-Reihe geht so: 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144 233… usw.; d. h. für das Gedicht alfabet: Es gibt z. B. fünf Zeilen d-Wörter, aber schon 233 Zeilen l-Wörter. Der Mathematiker Leonardo Pisano Fibonacci (um 1180 –1250) führte als erster die arabischen Ziffern in Italien ein. 22 Christensen, alfabet [Anm. 19], 29. 19 20
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duerne findes; drømmerne, dukkerne draeberne findes; duerne, duerne; dis, dioxin og dagene; dagene findes; dagene døden; og digtene findes; digtene, dagene, døden
die tauben gibt es; die träumer, die puppen die töter gibt es; die tauben, die tauben; dunst, dioxin und die tage; die tage gibt es; die tage den tod; und die gedichte gibt es; die gedichte, die tage, den tod
Die Wirklichkeit enteilt nicht ins Unsägliche, sondern bildet mit der Sprache ein fortschreitendes Verhältnis nach der Regel des Goldenen Schnitts. Je größer die Sprünge, desto mehr nähert sich der Quotient zwischen benachbarten FibonacciZahlen dem Wert 1,618 …, der Verhältniszahl des Goldenen Schnitts. Je weiter also Sprache und Wirklichkeit zugleich sich annähern und wegbewegen, desto harmonischer und stabiler ihr Verhältnis: Wörter verhalten sich zur Sprache wie diese zur Wirklichkeit: als »universelle Konstante, die den Übergang von Ordnung zu Chaos beschreibt«.23 Jedes gefundene, neu hinzutretende Wort verändert die Ordnung der schon vorhandenen Wörter: Es chaotisiert deren Sprachgrenze, ist aber zugleich eine Insel der Ordnung im Meer der Sprachlosigkeit. Für den Zwang der Poesie, »die Sprache in ihrer ganzen Verbindung zur Wirklichkeit zu benutzen«, bedeutet das eine ewige Gratwanderung und, um im Bilde zu bleiben, Wellenreiterei. Läßt Poesie sich nieder mit einem endlichen Wortschatz in vertrauter Ordnung, werden die Gedichte seßhaft und provinziell. Wirft sie, um leichter wandern zu können, benutzte und alte Worte ab, verliert die Sprache ihre Balance und Stabilität, schwankt das Verhältnis des Sagbaren zum schon Gesagten, und das Gedicht droht in formloses Chaos zu stürzen. Für den »Platz zu handeln« und die Freiheit der Kunst ganz wesentlich ist dabei die Erfahrung, daß die Wirklichkeit von der Sprache ›erwandert‹ wird. Alle neuen, zufällig gruppierten Wörter sind nicht beliebig, auch wenn sie zufällig gewählt wurden. Sie sind gesagt, und was immer sie hervorrufen, ist gemeint. Wie alle Wörter sind sie verbindlich und verantwortlich für die von ihnen hervorgerufene Wirklichkeit. Es gibt wirklich keinen Kontext und keine Assoziation, von der ich mich distanzieren könnte mit der Ausrede, nichts sei gemeint gewesen. Das ist die Freiheit der Wörter und ihr Imperativ. Ich kann bestimmte Lesarten und Meinungen forcieren durch einen entsprechenden Kontext, so daß unerwünschte und nicht gemeinte Assoziationen es schwerer haben und nur als Negation mitschwingen, aber damit fangen Unfreiheit und Selbstzensur an. Wenn ich, aus politischen, moralischen oder ökonomischen Gründen, ablasse von der »ganzen Verbundenheit mit der Wirklichkeit«, willige ich ein in Sprachzensur. Den Zusammenhang der Wörter kann ich auch nicht abwiegeln, als ob er nichts bedeutete und keinen Sinn ergäbe. Denn er lauert oder wartet in den noch ungesagten, nicht gefundenen Sätzen oder Versen, die aus diesen Wörtern gemacht werden müssen. Denn sie drängen sich dem Sinn und dem Gehirn auf und wollen 23
Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung, Stuttgart 1988, 191 ff.
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etwas sagen – also nicht beliebige Sätze oder Nonsense-Verse, sondern verbindliche Sätze, in denen kein Wort durch ein anderes ersetzt werden könnte. Berühmtes Beispiel dafür, wie in einem einst scheinbar sinnlosen Satz, nachdem die Wirklichkeit sich etwas geändert hat, gebieterischer Sinn erwacht, ist Noam Chomskys Satz von vor etwa 40 Jahren: »green ideas are sleeping furiously«. »Grüne Ideen schlafen wütend« ist heute ziemlich sinnvoll.24 Die Welt wird von Sprache, und besonders von Poesie, nicht erfaßt und bezeichnet wie ein Fachgebiet von einer Fachsprache, sondern um neue, manchmal zunächst abwegige Horizonte erweitert. Das gelingt nicht immer, und sprachschwache Gedichte erkennt man daran, daß sie von der »Sinngebungsmaschine« Gehirn (Detlev B. Linke) sofort auf Spur gebracht werden nach Vorgabe der herrschenden Lesart. Manche Worte kommen von ihren Reimverwandten nicht los, andere nicht von ihrem dominanten Sinn. Sie unterbieten und enttäuschen das Gehirn, das rastlos wie die Wirklichkeit selbst Sinn produziert, nicht nur wiederholt. Deshalb kommt es der Sprache beim kleinsten Schritt entgegen und freut sich über jede Nuance und Abweichung. Denn nicht nur außen, in der Welt der Dinge, sondern auch in uns ist die Wirklichkeit ständig aktiv und bereit, Brückenköpfe zur Sprache und zum Weiterwandern zu bilden, man muß den Sprung nur wagen. In Wirklichkeit und im Gedicht gibt es nicht nur Aprikosenbäume »in ländern wo die wärme genau die farbe im fleisch erzeugen wird die aprikosenfrüchte haben«,25
sondern auch »die gleichheit, die einsamkeit gibt es, und die eiderente und die spinne gibt es, und den essig gibt es und die nachwelt, die nachwelt«.26
Man hört beim Sprechen, wie die poetisch formulierte Wirklichkeit der Sprache wiederum vorauseilt. Wenn die Worte nur wandern und zu springen sich trauen, kommt die Welt ihnen auch sprachlich entgegen. Daher die ganze Verbundenheit der Sprache mit der Wirklichkeit - ihre Verbindlichkeit und nicht nur ihre Funktion als Zeichen- und Verbindungssystem. »Zuinnerst weiß man, daß der Anfang eine Brücke ist, die vorher schon gebaut ist, aber erst wenn man in den leeren Raum hinausgeht, kann man die Brücke unter den Füßen spüren. […] aber im selben Augenblick, wo der erste Schritt getan werden muß, zeigt sich, daß die einzelne Landschaft sich wegbewegt, die Brücke sich wegbewegt hat […]. Hier, wenn man versteht, daß die Brücke gebaut werden Das Beispiel ist von Detlef B. Linke; weiterführend Detlef B. Linke: Kunst und Gehirn – Die Eroberung des Unsichtbaren, Hamburg 2001. 25 Christensen: alfabet [Anm. 19], 33. 26 Ebd., 31. 24
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muß, indem man sich bewegt, hier muß man seine Worte mit Bedacht wählen. Und Bedacht bedeutet nicht notwendigerweise Vorsicht, es kann auch Mut und Entschlossenheit, Klarsicht und Großherzigkeit bedeuten. Man kann sich vorschleichen oder kann um sein Leben springen und in beiden Fällen merken, daß man Boden unter den Füßen hat […]. Das einzige, das etwas bedeutet, ist so oder so, ob man seine Worte mit solchem Bedacht wählt, daß die Phänomene den Worten entgegenkommen, damit die Brücke weiterhin betreten werden und der leere Raum zu Landschaft gefüllt werden kann.«27 Worte und Schritte, denen nichts entgegenkommt aus der inneren oder äußeren Wirklichkeit, wären demnach unbedachte, nichtssagende Worte und Auf-derStelle-Treten, während andere zufällige, aber auf Verwirklichung bedachte Worte und Schritte durch diese Verbindung, so Inger Christensen, »notwendig gemacht« und »selbstredend« werden. Jedenfalls ist »Bedacht« selbst schon eine Qualität der Sprache und der Bewegung, ohne die sie, um im Bilde zu bleiben, das unbekannte Widerlager der Brücke und den fremden Boden unter den Füßen nicht treffen würde. ›Die richtigen Worte treffen‹ heißt ja, daß sie unauffällig daherkommen in der Menge, daß man sie nicht am Kongreßschildchen erkennt, sondern auf sie zugehen muß mit dem Impuls, sie zu treffen, bedacht und beweglich zugleich. Die richtigen Worte stellen sich ein in Gesellschaft anderer Worte, derer sie zur Verwirklichung bedürfen.
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Inger Christensen: Geheimniszustand [Anm.17], 53.
Im Licht der Kultur – ein Statement Von Jochen Gerz
Kunst und Demokratie sind in der Moderne ein Zeichen des Fortschritts, der Emanzipation, beide sind in hohem Maße ein Gegenstand von Engagement, man könnte auch sagen: von Obsession. Sie sind nicht nur beide etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt, oder sogar etwas, daß das Kämpferische nobilisiert. Sie sind darüber hinaus beide nur denkbar als eine Aktivität, als Engagement. Soviel zum modernen, inzwischen traditionellen Begriff von Kunst und Demokratie. Beide haben in der Moderne – die sich nicht zuletzt durch sie identifizieren läßt – etwas gemeinsam, und beide sind zugleich distinkt, eigen, und es wäre niemand in der Vergangenheit auf den Gedanken gekommen, sie zusammen zu sehen in einer möglichen Fusion. Demokratie, das hieß: um Demokratie kämpfen und Kunst, das hieß fast durchgängig im 20. Jahrhundert: um Kunst kämpfen. Die Demokraten waren, nicht anders als die Künstler, Avantgardisten. Kann man Avantgardist an und für sich sein? Nein. Sie waren die Avantgarde dessen, was der Mehrheit Meinung war. Sie wußten beide, die Künstler und die Demokraten, daß sie etwas taten, was die Mehrheit nicht teilte und – paradox – was sie für diese Mehrheit taten. Nicht für die Mehrheit einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Gefolgschaft, einer Nation, sondern für alle. Seit einigen Jahren zeichnet sich etwas ab, das sowohl die Kunst wie die Demokratie betrifft und beide in Bewegung setzt in einem Moment, in dem man über beide sagen kann, daß ihre inzwischen fast vorhersehbare Präsenz zu einer saturierten, ja fast gefährlichen Gleichgültigkeit führt. Diese Bewegungen der Kunst und der Demokratie sind nicht voneinander unabhängig, sie bedingen einander jedoch auch nicht. Beide bewegen sich aufeinander zu, sie nähern sich aber einander eher beiläufig. Fast ohne einander zu bemerken, sind sie sich schon recht nahe gekommen. Sie überschneiden sich vielleicht noch nicht, doch sind die Konturen der Demokratie dort am unsichersten und am unerwartetsten, wo sie an den Bereich des Ästhetischen, der Künste, stößt. Stoßen kann man eigentlich nicht sagen, denn dort, wo ein crash zu erwarten wäre, beginnt ein beidseitiges, fast spielerisches und langsames Verfließen. Diese ›Aufeinander-zu-Bewegung‹ ist ein Ineinanderfließen. Aus dem Eigenen, aus Originalem wird ein Gemisch von Versatzformen. Diese Relativierung von Demokratie und Kunst geschieht im Licht der Kultur. Die Kultur ist nicht das Dritte im Bunde, auch nicht das übergeordnete Prinzip, das den Vergleich von beiden, Kunst und Demokratie, erst erlaubt. Im Lichte der Kultur ›enteigentlicht‹ sich alles, wird alles Kultur. Teil des Gleichen werden will alles, auf das das Licht der Kultur fällt. Homogenes und Heterogenes sind wiedervereint, Abstraktion und Realismus, Rechts und Links – im Licht der Kultur regiert ein Bewußtsein, das alle Grenzen überspringt, das nicht nur von hier sein kann und
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nicht nur von jetzt, sondern das immer von überall und von jeder Zeit ist. Bei dem Universalistischen, um dessen Rückkehr es hier geht, handelt es sich nicht um ein jenseitiges, überirdisches, sublimes Prinzip der Welt, sondern um eine Sensibilität der globalen kulturellen Masse, um ein Erkennungszeichen, eine Identifikation der Zeit nach der Moderne, der Zeit im Licht der Kultur. So wie Demokratie und Kunst konstituierend waren für die Identität der Moderne, konstituieren sie heute als selbstverständliche und unscheinbare Pixel der Kultur das globale Bewußtsein. Im Licht der Kultur sind beide, Kunst und Demokratie, zur Welt geworden. Für die Welt zu kämpfen, das könnte einem Künstler nur als eine Reinkarnation von Bewußtsein in den Sinn kommen, und anders geht es auch dem Demokraten nicht. Nur im Licht der Kultur ist es heute möglich, das spezifisch Eigene ohne Verlust in das Ganze zu integrieren. Aus dem, was selbst erst zum Teil existiert als ein Partikel von unendlich vielen anderen, originalen Engagements und Aktivitäten, wird auf diese Weise etwas, das schon immer existiert hat – aus der Utopie wird so eine geschichtslose Gegenwart. Man weiß, daß es die Demokratie gibt, und das gleiche gilt für die Kunst. Das, was es jetzt noch nicht gibt, ist zu spät gekommen. In der Zeit des Übergangs von den avantgardistischen Zukunftsbeschwörungen zur Lakonie all dessen, was es im Licht der Kultur schon gibt, wird von Saturierung gesprochen. Das unbestrittene Dasein von Kunst führt ebenso zu Gleichgültigkeit wie das ungefährdete Dasein von Demokratie zu Absentismus führt. So als sei das Rare, die aussichtslos unterlegene Minderheit, das Objekt der Sehnsucht dessen, was zur Mehrheit wird. Wie sähen Demokratie und Kunst im Licht der Kultur, nach der jetzigen Zwischenzeit, aus, die den Phantomschmerz kennt, jedoch nicht den Verlust und die Trauer? Wie sähen Kunst und Demokratie aus im Zeitalter der Bewußtseinsindustrie? Sie wären ein Einziges. Die Demokratie ästhetisiert sich, und die Kunst strebt schon seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zur Demokratie – La poésie doit être faite par tous (Lautréamont). Zur Demokratie zurück wie zu einem Ursprung. Ursprung von allem? Von allen Autoren, Betrachtern, Künstlern, Kanzlern und Pixeln? Die Utopie war nicht einer für alle, einer als Autor aller Betrachter (niemand war bei der eigenen Bildfindung mehr vom bürgerlichen Künstlerbild seiner Zeit beeinflußt als Hitler), sondern »alle« als Autoren. So wie die Kunst in der Kultur verschwindet, in der ästhetischen Gesellschaft, so entleert sich in der Kultur die Politik. Warum? Die Kultur tötet den obsessionierten Einzelgänger, den sie als historische Endmoräne – Bohémien, Flaneur oder Manifestler – vor sich her schiebt. Ohne diesen Akt hat niemand außer der künstlerischen Einsamkeit eine Legitimität in der Kunst – kein Kunsthistoriker, Museumskurator, Kritiker, Galerist, Sammler und vor allem kein Betrachter der Kunst. Ohne den Tod des bürgerlichen Künstlers kann, im Licht der Kultur, der Betrachter nicht in einer Autorenrepublik neugeboren werden, mit denkwürdiger Stimme – als eine lebendige (das Leben!) Reinkarnation der Kunst aus Autor, Betrachter und Werk.
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NB.: Das Gleiche existiert bereits in den Verfassungen der westlichen Demokratien, existiert gleichzeitig auch de facto in unseren Staaten, wenngleich als leere Formel und Alibi für das Überleben unserer Baronmentalität im Umgang mit der nichtdemokratischen Welt. Auch in der Verfassungsdemokratie führt kein Weg daran vorbei, den Autorenbegriff radikal zu erweitern. Wahlvolk ist potentielles ›Stimmvieh‹, wenn es nur zur Wahl gebraucht wird. Von dort ist es auch im Licht der Kultur zum Staatsvergehen und zum Schweigen der Unschuldslämmer nicht weit.
Abb. 1: Die Bremer Befragung / Sine Somno Nihil, Bremen 1990/1995, Foto: Mark von Rahden. 1993 wurden 50 000 Bremerinnen und Bremer gefragt, wie ein Kunstwerk aussehen soll, dessen Autoren sie sind, und was sie von ihm erwarten. So kam etwas zustande, das vieles sein sollte, denn die Antworten waren alle verschieden: Sie zeigen sowohl die Angst vor der Diktatur, den Wunsch, die Erde zu schützen, wie den Ärger über die Sprache der Politik. Viele zweifeln auch an der Kunst, anders zu werden. Die Bremer Befragung ist ihren Autoren gewidmet und allen, die hier stehen bleiben und etwas sehen, das es nicht gibt.
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Über das Licht, das man Licht auf Weimar nennt, gibt es manches Gerücht. Genaues weiß keiner in Weimar. Es gibt Stimmen, die behaupten, es sei von Anfang an in Weimar gewesen und die politischen Verhältnisse, hier oder im Land, hätten nichts damit zu tun. »Das Licht ist in Weimar wie das Schloß Belvedere« ist ein bekannter Satz von Bernd Kauffmann, dem Intendanten der Kulturstadt Europas GmbH. Was sich zuerst plausibel anhört, ist es bei näherem Hinsehen nicht mehr. Steht das Schloß Belvedere etwa an seinem Platz seit dem Anfang der Zeit? Und Buchenwald? Niemand sagt, daß das Licht zu Weimar gehört wie das Lager Buchenwald. Erstens ist Buchenwald schon seit langem kein Konzentrationslager mehr. Zweitens war der Buchenwald lange Zeit ein gern besuchter Ausflugsort vor den Toren der Stadt. Keiner sagt aber auch: Das Licht ist in Weimar wie die Gedenkstätte Buchenwald. Es gibt Dinge, über die spricht man nicht ohne Grund. Und das Licht auf Weimar, auch wenn es stimmte, daß es in gerader, verbindender Linie von Schloß Belvedere nach Buchenwald strahlt, ist kein zwingender Grund, davon zu sprechen. Man kann es schließlich, wie Martin Walser es erst kürzlich treffend formulierte, nicht dauernd tun. Endlich hatte einer, ein prominenter Mann und ein Dichter zudem, den Mut zum Weggucken gefunden. Abb. 2: Künstlers Traum – Goethe in Buchenwald, Weimar 1999
Kunstkritik als demokratischer Prozess Von Reinold Schmücker
Wolfgang Bartuschat zum 65. Geburtstag
Ohne Urteile über die Qualität von Kunstwerken ist unser Umgang mit Kunst undenkbar. Viele Feuilletons sind heute zwar nach Kräften bemüht, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken: Wirkliche Kunstkritik, die Kunstwerke im Hinblick auf ihre Qualität bewertet und vergleicht, wird immer stärker durch Interviews mit Künstlern oder durch Zusammenfassungen und Paraphrasen der Selbstkommentare von Künstlern verdrängt – wenn nicht sogar durch bloße Abbildungen oder Reproduktionen von Kunstwerken. Und während das »Kunstmarkt«-Ressort expandiert, schmilzt das Feuilleton-Buch immer stärker zusammen. Man lasse sich dadurch aber nicht täuschen: Wenn wir anderen zur Lektüre eines bestimmten Gedichts oder zum Besuch einer bestimmten Ausstellung raten oder sie vor dem Besuch einer bestimmten Theaterinszenierung warnen, fällen wir (meistens) zumindest implizit Werturteile über Kunstwerke. Und spätestens dann, wenn über die Vergabe von Fördermitteln oder zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten der Gestaltung urbanen Raums entschieden werden muß, wenn es über die Aufnahme einer Bewerberin in eine Kunstakademie oder über die Zuerkennung eines künstlerischen Abschlußdiploms zu befinden gilt, erweisen sich auch explizite Urteile über die Qualität von Kunstwerken als unumgänglich. Doch auch der Umstand, daß bestimmte Werke überhaupt Käufer und feuilletonistische Aufmerksamkeit finden, spiegelt Werturteile über Kunstwerke wider; denn dieses Schicksal wird keineswegs allen Kunstwerken zuteil. Der sinkende Stellenwert argumentierender Kunstkritik bezeugt deshalb nicht etwa die Verzichtbarkeit kunstkritischer Werturteile. Vielmehr dokumentiert er das Vordringen einer auf Begründungen verzichtenden Art der Bewertung von Kunst, deren Resultat allein daran ablesbar ist, ob ein Werk Käufer oder feuilletonistische Aufmerksamkeit findet oder nicht. So unverzichtbar kunstkritische Werturteile auch sind, sowenig setzt allerdings die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks dessen kunstkritische Bewertung voraus: Damit mir die Lektüre der Blechtrommel zu einem unvergeßlichen Leseerlebnis wird, muß ich mir nicht etwa klarmachen, daß es sich um einen Roman handelt, der seinem Verfasser zu Recht den Nobelpreis eingetragen hat. Die Überzeugung, daß ich es mit einem gelungenen Werk zu tun habe, kann zwar meine ästhetische Erfahrung stimulieren – wie mich auch umgekehrt die ästhetische Erfahrung zu einem Werturteil über das Werk veranlassen kann. Um ein Werk ästhetisch zu erfahren, bedarf ich dieser Überzeugung aber nicht.
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Was uns unter Umständen zu einer kunstkritischen Bewertung nötigt, ist nicht die Eigenart der ästhetischen Erfahrung, sondern die Begrenztheit von Ressourcen unterschiedlicher Art. Wir können unsere rezeptive Aufmerksamkeit grundsätzlich nicht beliebig vielen Werken schenken und zu einem bestimmten Zeitpunkt oftmals nur ein einziges Werk rezipieren. Ausstellungen können immer nur eine Auswahl von Kunstwerken zeigen. Die Magazine der Kunstmuseen bieten nur begrenzten Platz und können nicht beliebig vergrößert werden. Die Mittel, die privaten und öffentlichen Geldgebern zur Förderung der Kunst zur Verfügung stehen, sind – und sei es durch entsprechende Beschlüsse – begrenzt; deshalb gibt es beispielsweise nur eine begrenzte Zahl von Studienplätzen an Kunsthochschulen. Die Frage, ob Angst essen Seele auf besser ist als Der Himmel über Berlin, stellt sich uns nicht, weil es für die ästhetische Erfahrung eines Films wesentlich wäre, das zu wissen, sondern womöglich deshalb, weil wir um Rat gebeten werden, welchem der beiden Filme man an einem bestimmten Abend den Vorzug geben sollte, an dem man sich nur einen von ihnen ansehen kann – oder, weil es zu entscheiden gilt, an welchen Film Schüler einer bestimmten Klasse im Unterricht herangeführt werden sollen. Ebenso stellt sich einer Kuratorin die Frage, welche von mehreren eingereichten Skulpturen am gelungensten ist, zum Beispiel deshalb, weil ihr die Entscheidung obliegt, welche von ihnen in einer Ausstellung präsentiert werden soll, in der nur ein einziges eingereichtes Werk Platz finden kann. Ob ein bestimmtes Werk gelungen ist – oder gelungener als ein anderes –, muß uns also immer dann interessieren, wenn uns die Begrenztheit von Präsentationsmöglichkeiten, Aufmerksamkeitsressourcen oder Fördermitteln Entscheidungen abverlangt, die sich ohne Kunstbewertung nur völlig willkürlich treffen ließen. Zurückführen läßt sich die Notwendigkeit der Kunstbewertung deshalb letztlich darauf, daß Kunstwerke schon von Haus aus in einem eigentümlichen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen: Indem jedes Kunstwerk darauf angelegt ist, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren, sucht es sie zugleich nicht nur außerkünstlerischen Wahrnehmungsdingen, sondern auch anderen Kunstwerken zu entziehen. Es ist diese Tendenz von Kunstwerken, unsere Aufmerksamkeit tatsächlich zu fesseln und exklusiv für sich zu beanspruchen, die Kunstbewertung auch dann unvermeidlich machte, wenn alle anderen Ressourcen, deren Kunst bedarf, unbegrenzt wären. Wodurch aber zeichnet sich gelungene(re) Kunst aus? Worauf stützt sich ein entsprechendes Urteil, und was bringt es zum Ausdruck? Durch die Kritik verbreiteter Vorstellungen – der Tautologiethese (I), der Exemplifikationsthese (II) und des Subjektivismus (III) – suche ich im folgenden zunächst ein detaillierteres Bild wertender Kunstrezeption zu gewinnen, bevor ich die Grundzüge einer Theorie der Kunstbewertung (IV) skizziere, die auch einen Hinweis auf die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst als solcher gibt.
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I. Wodurch zeichnet sich gelungene Kunst aus? Der Tautologiethese zufolge ist schon die Frage falsch gestellt. Der Kunstbegriff bringe nämlich als solcher bereits eine positive Bewertung eines Wahrnehmungsgegenstandes zum Ausdruck, die das Prädikat ›gelungen‹ nur noch einmal wiederhole: »Der Begriff des Kunstwerks«, so lautet die prägnante Formel, die Adorno für diese Auffassung gefunden hat, »impliziert den des Gelingens. Mißlungene Kunstwerke sind keine«.1 Von gelungener Kunst zu sprechen ist demnach ebenso sinnvoll wie von einem weißen Schimmel. Die Tautologiethese macht darauf aufmerksam, daß der Gebrauch des Kunstbegriffs stets eine wertende Stellungnahme impliziert. Wer ein Artefakt – explizit oder implizit – als Kunstwerk apostrophiert, macht sich eine Bewertung dieses Artefakts zu eigen: Er fällt das Urteil (oder schließt sich ihm an), daß es ein Kunstwerk ist. Denn die Subsumtion eines Artefakts unter den Kunstbegriff ist kein bloß identifizierender oder klassifizierender Akt. Sie bringt vielmehr die positive Bewertung des betreffenden Artefakts in ebenderjenigen Beurteilungshinsicht zum Ausdruck, in der die Bedeutung des Kunstbegriffs besteht.2 Ein Artefakt läßt sich aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob ihm der Rang eines Kunstwerks gebührt. Wir können es vielmehr auch unter einer Vielzahl anderer Aspekte evaluieren, und zwar gerade auch dann, wenn es als Kunstwerk anerkannt ist: Ein Kunstwerk kann zum Beispiel innovativ sein oder epigonal, überladen oder monoton, fragmentarisch oder in sich geschlossen. Über solche Aspekturteile hinaus, die das Werk jeweils unter einem speziellen Aspekt bewerten, können wir jedoch auch ein kunstkritisches Gesamturteil fällen. Denn ein Kunstwerk läßt sich auch als ein Ganzes unter dem allgemeinen Gesichtspunkt Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (1970), hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann (Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt/M. 1973, 280. Vgl. auch Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels – Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt/M. 2000, 329: »Das ästhetische Urteil, das die ästhetische Gelungenheit eines Gegenstands explizit macht, ist deshalb so eng mit der ästhetischen Erfahrung verbunden, weil dieses Urteil nichts anderes behauptet, als daß man am besagten Objekt eine ästhetische Erfahrung machen kann und dieses Objekt deshalb ein ästhetisches Objekt, ein Kunstwerk ist«; Albrecht Wellmer: Das musikalische Kunstwerk, in: Falsche Gegensätze – Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 133–175, hier 154: »Im Begriff des (gelungenen) Kunstwerks […] ist beides so zusammengedacht, daß in der Prozessualität der ästhetischen Erfahrung ein ästhetisches Objekt als Kunstwerk sich konstituiert«; siehe ferner: Benjamin Tilghman: [Rez. von:] Alan H. Goldman, Aesthetic Value, Boulder, Col. 1995, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 57 (1999), 81 f., hier: 81; Sebastian Gardner: [Art.] Aesthetics, in: The Blackwell Companion to Philosophy, hg. von Nicholas Bunnin und E. P. Tsui-James, Oxford 1996, 229 –256, hier 236. 2 Für eine ausführliche Begründung dieser Interpretation des Kunstbegriffs als Beurteilungsbegriff vgl. Reinold Schmücker: Was ist Kunst? – Eine Grundlegung, München 1998, 130 ff. Zum normativen Charakter des Kunstbegriffs siehe auch Karlheinz Lüdeking: Analytische Philosophie der Kunst – Eine Einführung (1988), München 1998. 1
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bewerten, ob es ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient, dessen uns nicht alle Kunstwerke wert erscheinen. Daß wir einem Kunstwerk dieses besondere Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung zubilligen, können wir dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir von dem betreffenden Werk prädizieren, es sei gelungen. Auch durch andere sehr allgemeine Wertprädikate wie ›gut‹ oder ›schön‹ können wir der Zubilligung eines besonderen Maßes an Aufmerksamkeit und Wertschätzung Ausdruck verleihen, wenngleich die unterschiedlichen Wertprädikate jeweils auf andere Begründungen dafür verweisen. (Wo der Bedeutungsunterschied solch allgemeiner Wertprädikate für meine Überlegungen keine Rolle spielt, dient mir deshalb das Prädikat ›gelungen‹ im folgenden zugleich als Stellvertreter für andere vergleichbar allgemeine Wertprädikate.) Sowohl unter speziellen Aspekten als auch im Hinblick auf ihre Qualität als Ganze lassen sich Kunstwerke wiederum nicht nur je für sich, sondern auch vergleichend bewerten. Wenn sich ein vergleichendes Urteil auf einen speziellen Gesichtspunkt bezieht – zum Beispiel auf die Überzeugungskraft von Farbgebung und Linienführung eines Gemäldes oder auf die Prägnanz der Metaphorik eines Gedichts –, dient es oft der genaueren Wahrnehmung und Würdigung der Eigenart der betreffenden Werke oder einem speziellen kunsthistorischen oder kunstwissenschaftlichen Interesse. Ein vergleichendes Aspekturteil kann aber auch die Funktion haben, ein relationierendes Urteil über den Rang der verglichenen Werke zu begründen. Daß sich in Günter Grass’ spätem Roman Ein weites Feld nicht jene barocke Fabulierkunst manifestiert, der Die Blechtrommel ihren Reiz verdankt, könnte ich beispielsweise zur Begründung meiner Überzeugung anführen, daß Ein weites Feld weniger gelungen ist als Die Blechtrommel. Das relationierende Urteil, daß Die Blechtrommel das gelungenere Werk ist, ist aber selbst kein Aspekt-, sondern ein Gesamturteil. Durch solche relationierenden Gesamturteile geben wir an, ob ein bestimmtes Werk ein größeres Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient als bestimmte andere Werke. Wir suchen also den Rang zu bestimmen, der einem Werk in einer gedachten Hierarchie ausgewählter (womöglich sogar sämtlicher) Kunstwerke zukommt. In unserem alltäglichen Umgang mit Kunst überlagern sich häufig diese verschiedenen Formen der Bewertung, so daß uns ihre Differenz oft gar nicht bewußt wird. Der Sache nach fallen sie jedoch nicht zusammen. Denn der Begriff des Kunstwerks impliziert den des Gelingens nur in einem ganz bestimmten Sinn: Indem wir ein Artefakt als Kunstwerk bezeichnen, bringen wir unsere Überzeugung zum Ausdruck, daß sein Urheber nicht bloß ein Artefakt hergestellt hat, sondern ihm ein Kunstwerk gelungen ist. Der Begriff des Kunstwerks schließt dagegen nicht den Begriff jenes Gelingens ein, das uns von einem gelungenen Kunstwerk sprechen läßt. Denn wir können den Begriff des Kunstwerks auch deskriptiv verwenden, d. h. zur Bezeichnung von Artefakten, die kraft eines weitreichenden intersubjektiven Konsenses Kunstwerke sind.3 Indem wir solche Kunstwerke als mißlungen 3
Vgl. Morris Weitz: Die Rolle der Theorie in der Ästhetik (engl. 1956/57), in: Kunst und Kunst-
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bezeichnen, können wir zum Ausdruck bringen, daß sie uns nicht jener besonderen Aufmerksamkeit und Wertschätzung wert erscheinen, die gelungene Kunstwerke verdienen. Diejenigen Kritiker, die Günter Grass’ Roman Ein weites Feld als mißlungen schalten, haben genau dies getan. Keinem von ihnen wäre es aber auch nur im Traum eingefallen – glaube ich –, zu bestreiten, daß der Roman ein Kunstwerk ist. Wäre er ihnen nämlich nicht als ein Kunstwerk erschienen, hätte es gar keinen Grund gegeben, ihn in einer für die Kritik literarischer Werke charakteristischen Weise zu rezensieren und an anderen Kunstwerken zu messen. Erst recht impliziert der Begriff des Kunstwerks nicht irgendein bestimmtes Maß des Gelingens: Dadurch, daß wir ein Artefakt als Kunstwerk bezeichnen, bringen wir nichts darüber zum Ausdruck, ob es sich dabei in unseren Augen um ein Meisterwerk handelt oder um ein ganz und gar durchschnittliches Kunstobjekt. Genausowenig legen wir uns aber auch dadurch, daß wir einem Werk Gelungenheit attestieren, auf einen bestimmten Grad von Gelungenheit fest: Wir können die Titelerzählung von Judith Hermanns erster Anthologie als gelungen erachten, ohne daß wir Sommerhaus, später bereits durch dieses Urteil dieselbe Qualität zusprächen wie Hemingways Short Happy Life of Francis Macomber. Kunstbewertung ist also nicht nur von der Beurteilung der Kunsthaftigkeit eines Artefakts, sondern auch in sich selbst zu unterscheiden: Das kunstkritische Urteil kann ein bloßes Feststellungsurteil sein, durch das wir einem Kunstwerk zuerkennen oder absprechen, daß es ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient. Kunstkritik kann sich jedoch auch in einem Einstufungsurteil manifestieren, das die Qualität eines Werkes in Relation setzt zu derjenigen anderer Werke. Sofern das kunstkritische Urteil ein bloßes Feststellungsurteil ist, gleicht es strukturell dem artefaktkritischen Urteil, daß der zu bewertende Gegenstand ein Kunstwerk ist. Interpretiert man die Tautologiethese als Hinweis auf diese Strukturanalogie von artefaktkritischem Urteil und kunstkritischem Feststellungsurteil, ist sie also durchaus plausibel. Unzutreffend ist sie aber im wörtlichen Sinn. Denn die deskriptive Verwendbarkeit des Kunstbegriffs ermöglicht es uns, von mißlungenen Kunstwerken zu sprechen, ohne ebendadurch den Verdacht zu wecken, es fehle uns an sprachlicher Kompetenz. Artefaktkritische und kunstkritische Bewertung können deshalb nicht identisch sein. Dieser Befund wird zusätzlich durch einen weiteren Unterschied bestätigt, der aus der Ambivalenz des kunstkritischen Urteils folgt. Ein artefaktkritisches Urteil kennt kein Mehr oder Weniger. Es spricht einem Artefakt den Kunststatus entweder zu oder ab. Eines von zwei Artefakten in größerem oder geringerem Maß ein Kunstwerk zu nennen als das andere käme uns kaum in den Sinn: Was sollte eine solche Auskunft auch besagen? Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem kunstkritischen Urteil. Es beschränkt sich zwar manchmal auf die Bejahung oder Verbegriff – Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik, hg. von Roland Bluhm und Reinold Schmücker, Paderborn 2002, 39–52, hier 48; Schmücker: Was ist Kunst? [Anm. 2], 112 ff.
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neinung der Gelungenheit eines Werks. Kunstbewertung muß sich darin aber nicht erschöpfen – auch dann nicht, wenn es ihr um Gesamturteile geht. Sie kann einem Werk vielmehr auch ein bestimmtes Maß an Gelungenheit – mithin einen bestimmten Qualitätsgrad – attestieren (und dabei zumindest implizit immer schon andere Werke als Vergleichsmaßstab heranziehen). Denn Gelungenheit ist – anders als der Status eines Kunstwerks – eine graduierbare Eigenschaft.4 An der Tautologiethese ließe sich deshalb nur um den Preis der kontradiktorischen Annahme festhalten, es gebe eine Eigenschaft, die sowohl graduierbar als auch nichtgraduierbar ist.
II. Anders als die Tautologiethese trägt die Exemplifikationsthese dem Sachverhalt Rechnung, daß wir, wenn wir Kunstwerke als Ganze bewerten, über das Vorliegen graduierbarer Eigenschaften befinden. Ihr zufolge ist ein Kunstwerk um so gelungener, je vortrefflicher es das exemplifiziert, was seinen Kunstcharakter ausmacht – kurz: je vortrefflicher es die Wesenseigenschaft der Kunst exemplifiziert.5 Diese Auffassung hat den Vorzug, daß sie sich ohne weiteres vom relationierenden auf das bloß konstatierende kunstkritische Urteil übertragen läßt: Gelungen ist ein Kunstwerk dann, wenn es das vortrefflich exemplifiziert, was seinen Kunstcharakter ausmacht – kurz: wenn es die Wesenseigenschaft der Kunst vortrefflich exemplifiziert. Die Exemplifikationsthese macht also den Zusammenhang von kunstkritischem Feststellungs- und kunstkritischem Einstufungsurteil unmittelbar deutlich. Die Vorstellung, daß sich die Qualität eines Kunstwerks daraus ableiten läßt, wie vortrefflich das betreffende Werk die Wesenseigenschaft der Kunst exemplifiziert, wirft jedoch gravierendere Probleme auf, als ihre große Popularität vermuten lassen könnte. Zunächst ist daran zu erinnern, daß es bisher keine allgemein anerkannte Definition des Wesens der Kunst gibt, der sich eine solche Wesenseigenschaft entnehmen ließe. Keine Theorie der Kunstbewertung, die sich auf eine ganz bestimmte Wesensbestimmung beruft, kann deshalb derzeit plausibel machen, daß sie allgemeingültig ist. Vielmehr setzt sich jede derartige Theorie dem nur allzu nahelie4 Das verkennt Ruth Sonderegger in ihrer anregenden Untersuchung (Ästhetik des Spiels [Anm. 1], 335), wenn sie die Behauptung, »daß x ein gelungenes ästhetisches Objekt ist«, ausdrücklich mit derjenigen gleichsetzt, »daß x absolut, d. h. wirklich gelungen ist«. Daß diese Gleichsetzung nicht zutrifft, zeigt sich schon daran, daß wir, wenn wir unmißverständlich zum Ausdruck bringen wollen, daß etwas absolut gelungen ist, dies auch so sagen müssen – wenn wir das betreffende Objekt nur als »gelungen« apostrophieren, könnte es nämlich sein, daß es uns lediglich recht gelungen zu sein scheint. Um hingegen unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen, daß jemand komatös ist, genügt dieses eine Wort, weil es keine unterschiedlichen Grade des Komas gibt. 5 Diese Auffassung hat jüngst wieder Hans-Dieter Gelfert vertreten: Im Garten der Kunst – Versuch einer empirischen Ästhetik, Göttingen 1998, 93.
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genden Verdacht aus, sie verabsolutiere das Kunstideal des jeweiligen Theoretikers. Franz von Kutschera räumt den axiomatischen Charakter der von ihm favorisierten Bewertungskriterien sogar ausdrücklich ein: »Welche Kriterien man für den Rang von Kunstwerken anerkennt, hängt natürlich von der Konzeption der Kunst ab, von der man ausgeht. […] Wir haben uns […] für eine Ausdruckstheorie […] der Kunst entschieden. Sie soll im folgenden den Maßstab für die Auswahl von Rangkriterien bilden, und es wird sich zeigen, daß sich aus ihr schon die wichtigsten Kriterien ergeben.«6 So vorbildlich die intellektuelle Redlichkeit ist, die Kutschera seinen methodischen Dezisionismus einbekennen läßt: Wie ein solches Vorgehen zu irgendeinem Katalog von Bewertungskriterien für Kunstwerke führen könnte, der nicht nur für die Anhänger einer bestimmten Theorie Geltung beanspruchen kann, ist nicht zu erkennen. Noch schwerer scheint mir ein zweiter Einwand zu wiegen: Es ist unplausibel, daß wir uns, wenn wir relationierende Urteile über die Qualität von Dingen fällen, allein an Wesenseigenschaften orientieren. Am Beispiel eines Alltagsgegenstandes wird das unmittelbar deutlich. Zweifellos ist es die wesentliche Eigenschaft einer elektrischen Kaffeemaschine, daß sich mit ihr aromatischer Filterkaffee zubereiten läßt. Gesetzt nun den Fall, es gäbe eine Maschine, mit der sich ein noch etwas aromatischerer Filterkaffee zubereiten läßt als mit allen anderen Modellen, die aber im Unterschied zu diesen sehr laute Zubereitungsgeräusche macht: Würden wir eine solche Maschine wirklich als besser bezeichnen als die leiseren Modelle – nur deshalb, weil sie die wesentliche Eigenschaft einer Kaffeemaschine, daß sich mit ihr aromatischer Filterkaffee zubereiten läßt, am vortrefflichsten exemplifiziert? Wohl kaum. Eher würden wir wohl elektrischen Kaffeemaschinen eine komplexere Wesenseigenschaft zuschreiben, die auch ein möglichst geringes Zubereitungsgeräusch umfaßt. Wie aber ließen sich dann noch Grade der Vortrefflichkeit der Exemplifikation der Wesenseigenschaft unterscheiden? Wenn möglichst aromatischer Geschmack des zubereiteten Kaffees und ein möglichst leises Betriebsgeräusch gleichermaßen Bestandteile der Wesenseigenschaft einer elektrischen Kaffeemaschine wären, müßten ja beide bei der Bestimmung der Vortrefflichkeit der Exemplifikation dieser Eigenschaft Berücksichtigung finden. Wie aber wären Kaffeegeschmack und Zubereitungsgeräusch im Verhältnis zueinander zu gewichten? Kommt es bei der Abwägung zwischen ihnen nicht letztlich auf die subjektiven Präferenzen des Urteilenden an? Wird nicht ein lärmempfindlicher Gewohnheitstrinker zu einem anderen Ergebnis kommen als ein Gourmet, dem die geschmackliche Perfektion über alles geht?
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Franz von Kutschera: Ästhetik, Berlin / New York 1989, 217.
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III. Es ist dies der Punkt, an dem der Subjektivist seine grundsätzliche Skepsis gegenüber jedem Versuch, intersubjektive Kriterien für die Bewertung von Kunstwerken dingfest zu machen, artikuliert. Was gelungene Kunst ist, läßt sich in seinen Augen überhaupt nicht transsubjektiv bestimmen, sondern könne nur von jedem einzelnen Kunstrezipienten für sich selbst entschieden werden. Das Urteil über den Wert eines Kunstwerks sei mithin strikt subjektrelativ.7 Diese Auffassung ist insofern im Recht, als sich keine empirischen Eigenschaften angeben lassen, aus denen sich ableiten ließe, daß ein Kunstwerk gelungen (oder mißlungen) ist. Die sprachanalytische Debatte über das ästhetische Urteil8 hat das hinreichend deutlich gezeigt: Der Versuch, Werturteile auf Beschreibungen empirischer Sachverhalte zu reduzieren, muß daran scheitern, daß jedes Wertprädikat ein »Moment positiver oder negativer Empfehlung«9 enthält, das der Beschreibung empirischer Sachverhalte fehlt.10 Wenn wir unser Urteil über den Wert eines bestimmten Kunstwerks begründen, nehmen wir zwar in aller Regel auf empirische Eigenschaften des betreffenden Werkes Bezug. Wir weisen zum Beispiel auf Größenverhältnisse, Farbabweichungen, Anaphern, Reime, grammatische Eigenwilligkeiten usw. hin. Aber aus diesen Eigenschaften folgt kein bestimmter Wert des betreffenden Werks.11 Jemand kann unserer Beschreibung solcher Eigenschaften des Werks vollständig zustimmen und über dessen Wert dennoch anderer Meinung sein.12 Denn der Hinweis auf empirische Eigenschaften eines Werks nimmt erst vor dem Hintergrund geteilter Überzeugungen über die Relevanz solcher EigenVgl. z. B. Curt J. Ducasse: The Philosophy of Art, New York 1929, bes. Kap. 14 f. Vgl. das Resümee von Rüdiger Bittner: Ein Abschnitt sprachanalytischer Ästhetik, in: Das ästhetische Urteil, hg. von Rüdiger Bittner und Peter Pfaff, Köln 1977, 251–279 sowie die in diesem Sammelband dokumentierte Debatte. 9 Alexander Piecha: Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile, Paderborn 2002, 190. 10 Unhaltbar ist deshalb auch die auf Nick Zangwill (The Beautiful, the Dainty, and the Dumpy, in: The British Journal of Aesthetics 35 [1995], 317–330) zurückgehende Supervenienztheorie des Schönen, die die Schönheit eines Kunstwerks als eine ›verdiktive‹ ästhetische Eigenschaft begreift, die durch ›substantielle‹ ästhetische Eigenschaften determiniert sei, die ihrerseits auf nichtästhetischen Eigenschaften supervenieren. Ohnehin wirft Zangwills Versuch, den Wert eines Kunstwerks als Derivat seiner nichtästhetischen Eigenschaften zu konzipieren, mehr Probleme auf, als er zu lösen vermag (vgl. Jakob Steinbrenner: Das Schöne und die Supervenienz, in: Grazer Philosophische Studien 57 [1999], 311–323). Zangwill vermag nämlich weder anzugeben, »welches die relevanten Eigenschaften sind, auf denen die Schönheit letztlich superveniert«, noch der Möglichkeit Rechnung zu tragen, »daß eine hinzutretende Eigenschaft die Schönheit des Gegenstandes zerstört, ungeachtet dessen, daß der Gegenstand weiterhin die geforderten Eigenschaften besitzt« (Steinbrenner, a. a. O., 318 f.). 11 Darauf insistiert zu Recht Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis – Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen, München 2002, 293–296. Siehe auch den Beitrag von Bernd Kleimann in diesem Band. 12 Vgl. dazu auch Piecha: Begründbarkeit ästhetischer Werturteile [Anm. 9], 237. 7 8
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schaften oder Eigenschaftskonstellationen den Charakter eines Arguments an, das einen anderen womöglich von der Richtigkeit unseres Werturteils zu überzeugen vermag.13 Daß wir unsere Werturteile über Kunstwerke überhaupt anderen ›anzusinnen‹ und deshalb zu begründen suchen und daß wir dies in einer Weise tun, die mit gemeinsamen Überzeugungen über die Relevanz von Artefakteigenschaften rechnet, sollte den Subjektivisten allerdings zu einem Zugeständnis bewegen: Auch wenn es keine objektiven Kriterien gibt, anhand deren sich der Wert eines Kunstwerks definitiv feststellen ließe, dürfte es mehr oder weniger weitreichende intersubjektive Konsense geben, auf die wir Bezug nehmen und die wir zugleich aufkündigen oder tradieren, wenn wir über den Wert eines Kunstwerks befinden. Worauf aber beziehen sich solche Konsense? Und worauf bezieht sich das Urteil, das wir als individuelle Rezipienten über den Wert eines Kunstwerks fällen? Nachdem es sich als unplausibel erwiesen hat, daß unser Urteil über die Qualität eines Kunstwerks zum Ausdruck bringt, wie gut das fragliche Werk das Wesen der Kunst exemplifiziert, scheint sich die Antwort wie von selbst zu ergeben: Beurteilen wir nicht, wenn wir Kunst bewerten, ihre ästhetische Qualität?
IV. Ich habe bisher mit Absicht die übliche Redeweise vom ästhetischen Urteil vermieden, weil ich vor einem reduktionistischen Verständnis von Kunstbewertung warnen möchte, das an dieser Stelle naheliegt. Natürlich fließt in ein so allgemeines Werturteil wie das, daß ein bestimmtes Kunstwerk in größerem Maße als ein anderes unsere besondere Wertschätzung verdient, auch die Beurteilung der ästhetischen Qualität des betreffenden Werks ein. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, Kunstbewertung erschöpfe sich darin, über die ästhetische Qualität eines Werks zu befinden. Das ist schon deshalb nicht plausibel, weil es keine genuin ästhetischen Eigenschaften gibt. Ob eine bestimmte Eigenschaft eines Werks dessen ästhetische Qualität ausmacht oder jedenfalls zu dessen ästhetischer Qualität beiträgt, hängt vielmehr davon ab, ob die fragliche Eigenschaft dazu führt oder beiträgt, daß das Werk eine bestimmte Funktion zu erfüllen vermag.14 Denn erst im Hinblick auf Funktionen, die ein Kunstwerk aufgrund seiner Eigenschaften zu erfüllen vermag, Von einer »logische[n] Folgerung« des kunstkritischen Werturteils aus empirischen Eigenschaften des betreffenden Werks kann deshalb allenfalls vor dem Hintergrund »geschmackssoziologische[r] Hypothese[n]« die Rede sein, die als Einstufungskriterien fungieren (vgl. Werner Strube: Sprachanalytische Ästhetik, München 1981, 137–147, hier 147 u. 143). 14 Zum kunstästhetischen Funktionsbegriff vgl. Robert Stecker: Artworks – Definition, Meaning, Value, University Park, Pa. 1997, 31; Reinold Schmücker: Funktionen der Kunst, in: Wozu Kunst? – Die Frage nach ihrer Funktion, hg. von Bernd Kleimann und Reinold Schmücker, Darmstadt 2001, 13–33, hier 20 ff. 13
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erlangt der Hinweis auf empirische Eigenschaften eines Werks werturteilsbegründende Kraft. Die Eigenschaften und Eigenschaftskonstellationen, die wir an einem Kunstwerk ausmachen können, besitzen nämlich nicht schon als solche, als bloße Eigenschaften, irgendeinen Wert, sondern gewinnen allererst im Hinblick auf Funktionen, die zu erfüllen sie das Werk in die Lage versetzen, Bedeutung und Relevanz. Die Frage nach dem Wozu der Kunst, vor allem aber nach dem Wozu eines jeden einzelnen Kunstwerks, ist deshalb nichts, was an die Kunst allererst von außen herangetragen werden müßte oder ihr gar Gewalt antäte. Daß Kunstwerke Funktionen zu erfüllen vermögen – oder wie ich abkürzend statt dessen auch sagen werde: daß sie Funktionen besitzen –, ist vielmehr die zentrale Bedingung der Möglichkeit der Bewertung von Kunst. Daß wir Kunstwerke im Hinblick auf ihre ästhetische Qualität bewerten können, hat deshalb seinen Grund darin, daß sie eine ästhetische Funktion besitzen, d. h. die Funktion, eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen. Unter einer ästhetischen Erfahrung verstehe ich dabei jede auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Gewahrung der Eigenheit dieses Gegenstandes willen erfolgt. Um anzuerkennen, daß Kunstwerke eine solche ästhetische Funktion besitzen, muß man diese Definition aber nicht teilen. Daß jedes Kunstwerk eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen vermag, wird nämlich auch derjenige zugestehen, der meine Explikation einer solchen Erfahrung für falsch oder für unzulänglich hält. Die ästhetische Funktion ist aber nicht kunstspezifisch. Denn die Kunst teilt sie mit anderen Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung, zum Beispiel mit der ästhetisch erfahrenen Natur. Kunstspezifisch ist nur die Funktion von Kunstwerken, eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen, die sich dadurch auszeichnet, daß sie in ein Verstehen einmünden kann und will, das niemals definitiv gelingt. Diese Funktion, die man als kunstästhetische Funktion bezeichnen kann, ist nur Kunstwerken eigentümlich und zeichnet die ästhetische Kunst gegenüber allen anderen Wahrnehmungsgegenständen aus.15 Natürlich kann diese definitorische Bestimmung der kunstästhetischen Funktion nur den Geltungsanspruch einer Hypothese erheben, an deren Stelle jederzeit eine andere treten kann, sofern deren Erklärungskraft größer ist (siehe Schmücker: Was ist Kunst? [Anm. 2], 151–162). Mein Vorschlag stellt allerdings eine Art Minimaldefinition dar, die bewußt von allen detaillierteren Vorschlägen, die Eigenart der Kunst zu bestimmen, abstrahiert. Denn welche Kunstdefinition auch immer man favorisiert: daß Kunstwerke eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen vermögen, die sich von derjenigen, die andere Wahrnehmungsgegenstände hervorrufen können, jedenfalls dadurch unterscheidet, daß sie in den Prozeß eines Verstehens einmünden kann und will, der niemals definitiv gelingt, läßt sich meines Erachtens nicht plausibel bestreiten. Natürlich können wir uns auch bei einem Gemälde oder bei einem Gedicht auf jene besondere Aufmerksamkeitskonzentration beschränken, durch die sich unser Wahrnehmen allererst als ästhetisches Wahrnehmen erweist. Jedes Gemälde oder Gedicht, jedes Werk der Musik oder auch der Architektur, das in ästhetischer Einstellung wahrgenommen wird, kann jedoch daraufhin befragt werden, wie es zu verstehen sei. Von dieser Feststellung, daß jedes Kunstwerk, das wir ästhetisch erfahren, zum Ge15
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Wenn es bei der Kunstbewertung nur um die ästhetische Qualität von Kunstwerken ginge, ließe sich die Frage, wodurch sich gelungene(re) Kunst auszeichnet, jetzt zwar nur sehr abstrakt, aber doch bündig beantworten: Gelungen, so ließe sich sagen, nennen wir solche Kunstwerke, die Eigenschaften besitzen, welche sie in die Lage versetzen, die ästhetische und insbesondere die kunstästhetische Funktion gut zu erfüllen.16 Wir müßten natürlich genauer analysieren, was das für die einzelnen Künste heißt. Wahrscheinlich würden wir dabei zu einer Theorie gelangen, die zeigte, daß es bei den verschiedenen Erscheinungsformen traditioneller und moderner Kunst unterschiedliche Eigenschaften und Eigenschaftskonstellationen der einzelnen Werke sind, die ein »Verweisungsspiel«17 der Signifikanten in Gang zu bringen vermögen, das unser Interesse immer wieder neu auf die Eigenart des Objekts lenkt und uns zugleich zu immer wieder neuen Versuchen, das Objekt zu verstehen, Anlaß geben kann. Eine solche Theorie ist zweifellos außerordentlich wichtig – aber sie ließe uns das, was wir tun, wenn wir Kunst bewerten, nur unzureichend verstehen. Denn es ist nicht so, daß Kunstwerke nur die ästhetische und die kunstästhetische Funktion zu erfüllen vermöchten. Weil sie aber auch andere Funktionen erfüllen können, können wir sie zumeist auch in anderer Hinsicht bewerten – und tun dies in der Tat auch. Wir bewerten Kunstwerke zum Beispiel im Hinblick darauf, wie gut sie bestimmte kunstimmanente Funktionen erfüllen, indem sie etwa zur Fortführung, zur Weiterentwicklung oder auch zur Reflexion derjenigen Themen- und Problemstellungen, Gestaltungsformen und Verfahrensweisen beitragen, die gleichsam die Innenseite der Institution Kunst bilden. Oder wir bewerten sie danach, wie gut sie einen Raum schmücken, wie gut sie Gefühle und Erlebnisse zum Ausdruck bringen oder ihrerseits beim Rezipienten ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Stimmung hervorrufen. Wir messen sie daran, wie gut sie ihre Rezipienten zu einem bestimmten Verhalten motivieren oder ihnen eine reflexive genstand hermeneutischer Bemühung werden kann, zu der weiter gehenden Annahme, daß jedes Kunstwerk vom Rezipienten das Ergreifen dieser Möglichkeit gleichsam verlangt, ist es aber nur noch ein kleiner Schritt: Wenn nämlich der ästhetischen Kunsterfahrung die Möglichkeit eigentümlich ist, in die Frage einzumünden, wie ihr jeweiliger Gegenstand zu verstehen sei, dann ist das Potential ästhetischen Erfahrens, das uns Kunstwerke eröffnen, erst dann ausgeschöpft, wenn sich der Wahrnehmende diese Frage auch tatsächlich stellt. Wer ein Kunstwerk ästhetisch erfährt, ohne sich diese Frage vorzulegen, betrügt sich mithin um das Ganze der ästhetischen Kunsterfahrung. Wer dagegen ein Naturphänomen in ästhetischer Einstellung wahrnimmt, ohne nach einer Bedeutung zu for schen, der läßt das ästhetische Potential des Gegenstands seiner Wahrnehmung nicht notwendigerweise unausgeschöpft. Meine Bestimmung der kunstästhetischen Funktion kommt also mit sparsamen Prämissen aus: Sie bringt nur die Resultate einer Oberflächenphänomenologie der ästhetischen Erfahrung ins Spiel. 16 Vgl. die ähnliche Definition, zu der Monroe C. Beardsley gelangt: »If it be granted that aesthetic experience has value, then ›aesthetic value‹ may be defined as ›the capacity to produce an aesthetic experience of some magnitude‹.« (Aesthetics – Problems in the Philosophy of Criticism, New York / Burlingame 1958, 533.) 17 Vgl. Sonderegger: Ästhetik des Spiels [Anm. 1], 151 u. ö.
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Distanz zu ihrem alltagsweltlichen Lebenskontext ermöglichen. Wir evaluieren, wie gut sie etwas illustrieren oder dokumentieren oder aber eine Erkenntnisfunktion erfüllen, d. h. einem Individuum oder Kollektiv zu einer argumentativ noch nicht gesicherten Einsicht verhelfen. Ja, wir können sie sogar hinsichtlich spezieller politischer, religiöser und ähnlicher weltanschaulicher Funktionen bewerten oder aber im Hinblick darauf, wie gut sie sich zur Therapie von Krankheiten eignen oder zur Ausbildung einer stabilen Ich-Identität beizutragen vermögen. Selbst die Funktion, den gesellschaftlichen Status, den jemand besitzt, anzuzeigen und sichtbar zu machen, kann – ebenso wie eine bestimmte kultische oder ökonomische Funktion – ein Bewertungsmaßstab sein. Kunstbewertung erschöpft sich also nicht notwendigerweise in der ästhetischen Beurteilung von Artefakten.18 Eine Theorie der Kunstbewertung, die Kunstbewertung auf ästhetisches Urteilen reduziert, wird deshalb ihrem Gegenstand nicht gerecht. Denn das Wissen um die Möglichkeit, daß Kunst all diesen (und natürlich einer Reihe weiterer) Funktionen dienen kann, ist uns, wenn wir Kunst bewerten, in der Regel präsent. In unser Urteil über den Wert eines Kunstwerks geht deshalb unser Urteil darüber, welche dieser Funktionen (wie) wichtig ist, stets mit ein. Kunstbewertung ist insofern nichts grundsätzlich anderes als die Bewertung elektrischer Kaffeemaschinen. Nicht alle Kaffeemaschinen sind zum Beispiel in der Lage, den gebrühten Kaffee warmzuhalten oder sich bei Bedarf automatisch zu entkalken. Und nicht alle erlauben es uns, den Brühvorgang zu beobachten. Ob wir eine Kaffeemaschine, die eine oder mehrere dieser Funktionen besitzt, einer anderen vorziehen, die sie nicht hat, hängt nun aber zweifellos auch davon ab, wie wichtig uns gerade diese Funktion erscheint und wie gut die eine oder die andere Kaffeemaschine gerade diese Funktion jeweils erfüllt. Auch wenn der Gedanke befremdlich erscheint: Genau so verhält es sich auch mit der Bewertung von Kunst. Natürlich würden wir ein Artefakt, das die kunstästhetische Funktion nicht zu erfüllen vermag, nicht als Kunstwerk akzeptieren – sowenig, wie wir ein Gerät, mit dem sich kein aromatischer Filterkaffee zubereiten läßt, als Kaffeemaschine durchgehen lassen würden.Welches von zwei Kunstwerken uns aber gelungener erscheint als das andere, hängt nicht nur davon ab, welches kunstästhetisch funktionaler ist, 18 Das gilt zumindest dann, wenn man einen vergleichsweise engen Begriff des Ästhetischen zugrunde legt, wie ich es tue. Martin Seel hat dem Umstand, daß unser Urteil über Kunstwerke nicht auf ein ästhetisches Urteil im engeren Sinn reduziert werden kann, demgegenüber durch einen umfassenderen Begriff des Ästhetischen Rechnung zu tragen gesucht. Ästhetische Erfahrung schließt demnach jedenfalls der Möglichkeit nach ein »korresponsives Urteil« ein, das das Wahrgenommene als »gestaltgebende[n] Teil« einer »Lebenssituation« evaluiert (Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M. 1991, 132 u. 240). Daß ich es vorziehe, mit einem engeren Begriff des Ästhetischen zu operieren als Seel – einem Begriff, der auf keinen Fall alle Hinsichten abdeckt, in denen wir Kunstwerke bewerten –, liegt daran, daß mir kein noch so weit gefaßter Begriff des Ästhetischen der Vielfalt und Heterogenität der Funktionen, die bei der Kunstbewertung eine Rolle spielen, wirklich gerecht werden zu können scheint.
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welches von beiden uns also, wenn wir die Kantische Formel hier einmal als eine sehr allgemeine und vorläufige Bezeichnung der kunstästhetischen Funktionalität von Kunstwerken gelten lassen wollen, ›mehr zu denken‹ gibt. Vielmehr wird jedes allgemeine Werturteil über ein Kunstwerk immer auch diejenige Hierarchisierung von Kunstfunktionen widerspiegeln, die dem Urteilenden vor dem Hintergrund seines jeweiligen Welt- und Selbstverständnisses angemessen erscheint.19 Ästheten werden die kunstästhetische Funktionalität sehr hoch gewichten; tiefreligiöse Menschen wahrscheinlich die religiöse Funktion der Kunst; Kunsthistoriker vermutlich bestimmte kunstimmanente Funktionen. Deshalb kann, was die eine Betrachterin als mißlungen erachtet, einer anderen als beispielhaft gelten – ohne daß sich die beiden über die ästhetische Qualität des betreffenden Werks uneinig sein müßten. Und so, wie sich unser Welt- und Selbstverständnis im Laufe unseres Lebens ändern kann, kann sich natürlich auch unser Urteil über den Wert eines bestimmten Kunstwerks ändern. Nicht nur deshalb also, weil uns die Wahrnehmung neuer Details oder die neue Wahrnehmung von Details zur Revision unseres Urteils über die kunstästhetische Funktionalität eines Werks veranlassen kann, sondern auch aufgrund der prinzipiellen Veränderlichkeit unserer Funktionenhierarchisierungen kann sich unser Urteil über die Qualität ein und desselben Kunstwerks im Laufe des Lebens so grundlegend wandeln, daß mir ein Werk, das ich einst für bedeutend hielt, heute kein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Wertschätzung mehr zu verdienen scheint. Wer im Jugendalter begeistert die Romane Hermann Hesses verschlungen hat, hat diese Erfahrung vermutlich selber gemacht. Auch daß der einen Epoche oder Kultur als maßstabsetzend gilt, was einer anderen nicht als sonderlich gelungen erscheint, ist unter Umständen durch unterschiedliche Funktionenhierarchisierungen bedingt. Daß etwa die Skulptur der klassischen griechischen und römischen Antike, die im Mittelalter außerhalb Italiens keine der späteren Zeit vergleichbare Wertschätzung genoß, in der Renaissanceepoche zum Vorbild plastischer Kunst par excellence avancierte, dürfte sich nicht zuletzt dadurch erklären, daß der Kunst in jener Zeit in viel höherem Maß als im Mittelalter die Funktion eines Mediums menschlicher Selbstverständigung zukam – während sich die Malerei der Präraffaeliten heute sicherlich auch deshalb geringerer Wertschätzung erfreut als im neunzehnten Jahrhundert, weil die mimetischen und religiösen Funktionen der Kunst gegenwärtig weniger hoch im Kurs stehen als im Viktorianismus. Verfehlt scheint es mir deshalb, zwischen einem intrinsischen und einem instrumentellen Wert eines Kunstwerks zu unterscheiden. Denn die Wertschätzung, die wir einem Kunstwerk zuteil werden lassen, ist von unserer Wertschätzung der Wirkungen, die es zeitigt oder zeitigen kann, nicht ablösbar. Vgl. dazu die eingehende Kritik von Robert Stecker (Artworks [Anm. 14], 251– 258) an der entsprechenden Unterscheidung von Malcolm Budd (Music and the Emotions – The Philosophical Theories, London 1985, 29 f.; vgl. jetzt auch ders., Values of Art – Pictures, Poetry and Music, London 1996, 4 –8) und Stephen Davies (The Evaluation of Music, in: What is Music? – An Introduction to the Philosophy of Music, hg. von Philip Alperson, New York 1987, 307–325). 19
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Aus dem Umstand, daß wir Kunstwerke stets vor dem Hintergrund unserer je eigenen Überzeugungen über den relativen Stellenwert unterschiedlicher Kunstfunktionen evaluieren, erhellt, daß der Kunstbewertung in gewisser Hinsicht ein demokratisches Moment innewohnt: Welches von zwei Kunstwerken besser oder gelungener ist als das andere, läßt sich in einem transsubjektiven Sinn tatsächlich nur im Hinblick auf Mehrheiten, d. h. im Hinblick auf mehr oder weniger weitreichende intersubjektive Konsense sagen, auf die wir Bezug nehmen und die wir zugleich entweder aufkündigen oder tradieren, wenn wir über den Wert eines Kunstwerks ein Urteil fällen. Weil diese Konsense nicht zuletzt die Frage betreffen, welcher Rang welchen Kunstfunktionen zukommt, kann die Theorie der Kunstbewertung auch einen Hinweis darauf geben, worin die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst als solcher besteht: Kunst gibt uns immer wieder Anlaß zum Streit darüber, welcher Rang welchen ihrer Funktionen gebührt. Und dieser Streit betrifft – nicht nur, aber auch – die Frage, wie wir leben wollen und wie die Gesellschaft geordnet sein soll, in der wir leben.20 Jede Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensformen zuläßt und deren Ordnung nicht in unhinterfragten Traditionen gründet, muß auf diese Frage immer wieder neu eine Antwort suchen. Dazu gibt ihr zwar nicht nur die Kunst Anlaß (die auch in anderen Hinsichten – beispielsweise als eine Form der Kognition21 – für uns bedeutsam ist). Der Disput über den Wert von Kunstwerken bietet uns aber die Möglichkeit, die Auseinandersetzung über die richtige Lebens- und Gesellschaftsform indirekt zu führen: auf einem Terrain, auf dem sich normative Differenzen ohne unmittelbare Interaktionsfolgen austragen lassen und auf dem die Lösung ethischer und politischer Konflikte deshalb gleichsam experimentell erprobt werden kann. Eine Kunstästhetik, die die Frage nach dem Wert einzelner Kunstwerke für obsolet erachtet, verkennt daher die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst. Sie zieht aus dem Ende der Vorherrschaft von Vollkommenheitsästhetik, Regelpoetik und normativ-metaphysischer Kunstphilosophie den falschen Schluß. Denn die Herstellung eines Minimalkonsenses über die richtige Lebens- und Gesellschaftsform wird um so dringlicher, je stärker der tradierte normative Konsens einer Gesellschaft erodiert. Der Streit um den Wert von Kunstwerken ist deshalb – daran hat Josef Früchtl nachdrücklich erinnert – gerade für pluralistische und in ihren normativen Überzeugungen heterogene Gesellschaften unverzichtbar: »Die zunehmende Ausdifferenzierung, strukturelle Pluralisierung und […] Individualisierung der Gesellschaften des westlichen Typs läßt eine einvernehmliche Antwort darüber, wie man sein Leben zu leben habe, nicht mehr zu. Das hat aber schlichtVgl. das ähnliche Resultat, zu dem Marcus Otto gelangt: Ästhetische Wertschätzung – Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen, Berlin 1993, 271 f. 21 Zur kognitiven Bedeutsamkeit der Kunst siehe den ausgezeichneten Überblick von Oliver R. Scholz: Kunst, Erkenntnis und Verstehen – Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik, in: Wozu Kunst? [Anm. 14], 34–48; vgl. ferner: Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur – Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991; Jakob Steinbrenner: Kognitivismus in der Ästhetik, Würzburg 1996. 20
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weg zur Folge, daß sich auch die ästhetischen Wertvorstellungen und die Kriterien der Kritik pluralisieren. Die Frage, ob man über Geschmack streiten könne, wird nun gesellschaftlich erst richtig relevant. Und die Antwort darauf müßte sein, daß man in dem Maße streiten kann und muß, wie man über die damit verknüpften Lebensformen streiten kann und muß.«22 Wo Kunstbewertung auf den bloßen Akt des Kaufs oder der hervorhebenden Präsentation eines Werkes schrumpft, wird solcher Streit nicht mehr riskiert, sondern vermieden. Das mag demjenigen als eine verlockende Option erscheinen, dem die Pluralisierung der Lebensformen so weit gediehen zu sein scheint, daß wir prinzipiell alle Hoffnung fahren lassen müssen, Dritte von der Angemessenheit unserer Werturteile zu überzeugen. Den durch begrenzte gesellschaftliche Ressourcen bedingten Entscheidungszwang schaffen derartige Schrumpfformen der Kunstkritik aber nicht aus der Welt. Und zumindest in demokratischen Gesellschaften müssen Einstufungsurteile, die durch die Begrenztheit gesellschaftlicher Ressourcen erzwungen werden, möglichst große Überzeugungskraft besitzen, weil anders die durch sie nahegelegte Ressourcenverteilung keine hinreichende Akzeptanz finden wird. Kunstbewertung, die auf Begründungen Verzicht leistet, wird sich deshalb jedenfalls dort als unzulänglich erweisen, wo begrenzte gesellschaftliche Ressourcen Einstufungsurteile erforderlich machen, deren Überzeugungskraft die eines bloßen Willkürakts übersteigt.
Josef Früchtl: Der Schein der Wahrheit – Adorno, die Oper und das Bürgertum, in: Ästhetik der Inszenierung – Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, hg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann, Frankfurt/M. 2001, 164–182, hier 181. 22
Elitismus und Betroffenheitskult Zur ethischen Valenz der Kunst Von Bernd Kleimann
Wie ist es heute aus ethischer Perspektive um die Kunst bestellt? Welchen ethischen Anforderungen unterliegt sie, welche ethischen Wirkungen zeitigt sie? Diesen Fragen – sowie einigen mit ihnen verknüpften Überlegungen – möchte ich im Folgenden nachgehen. Erstens werde ich den idealtypischen Konflikt zwischen einer elitären und einer populären Sicht auf die Kunst kritisch Revue passieren lassen und dabei versuchen, das je partielle Recht dieser beiden Sichten zu begründen. Ein äußerst knapper Exkurs wird die dabei gewonnenen Einsichten auf die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Demokratie beziehen. Zweitens gehe ich auf die strebens- und gerechtigkeitsethischen Rahmenbedingungen der Kunst ein, um die gegenwärtige ethische Situation von Kunstproduktion und -rezeption in groben Zügen zu umreißen.
I. Die Kunst zwischen Elitismus und Betroffenheitskult Die Kunst, so will uns der Elitismus glauben machen, ist eigentlich nur für einen kleinen Kreis von Kennern und Könnern da. Von Oscar Wilde über Theodor W. Adorno bis zu George Steiner ist – vor dem Hintergrund äußerst verschiedener theoretischer Hintergrundannahmen – immer wieder betont worden, daß die Kunst eine Angelegenheit besonders feinsinniger und talentierter Menschen ist. Im Hinblick auf die Kunstproduktion sei es das herausragende, früher gern genial genannte Talent, dessen es bedürfe, um exzeptionelle Werke schaffen zu können. Bezüglich der Kunstrezeption ist die Leitfigur dagegen der kongeniale Kritiker, dessen hermeneutischem Ingenium es vorbehalten sei, große Kunstwerke adäquat zu verstehen und zu bewerten. Trotz überfüllter Konzertsäle und Vernissagen, stark nachgefragter Meisterkurse und Hekatomben von Nachwuchsautoren bleibe die Kunst in ihrem Wesen ein elitäres Phänomen, das vor kulturindustrieller Vermassung und pseudodemokratischer Popularisierung in Schutz zu nehmen sei. Das Credo des künstlerischen Elitismus lautet daher: Kunst ist nicht für alle da. Wer dagegen einer Haltung folgt, die ich im Titel meines Beitrags plakativ als »Betroffenheitskult« apostrophiere, vertritt die Auffassung, die Kunst gehe jeden einzelnen etwas an. Kunst, so lautet diese Gegenthese, ist nur Kunst, sofern sie uns alle – und nicht nur eine elitäre Clique selbsternannter Kunstexperten – betrifft. Mit der klassischen Sentenz des Tua res agitur lasse sich die Bedingung formulieren, der zufolge beliebige Objekte nur dann zu Kunstwerken aufrücken, wenn ihr Zei-
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chengehalt von allen als relevant erlebt wird. Dieses Betroffensein durch den Gehalt von Kunstwerken in Produktion und Rezeption mache die wahre raison d’être aller Kunst aus. Der oberste Glaubenssatz der Priester des Betroffenheitskults lautet daher: Kunst ist für uns alle da. Was ist nun von diesen beiden Positionen zu halten? Nehmen wir zunächst den Elitismus näher in den Blick. 1. Elitismus Die These des Elitismus, Kunst sei keineswegs für alle da, muß zunächst als ein Schlag ins Gesicht all jener erscheinen, die sich intensiv mit Kunstwerken auseinandersetzen, ohne doch schon Kunstexperten zu sein. Sie wirkt zugleich wie ein Affront gegenüber den vielen Künstlern, deren Werke im Kunstbetrieb ein eher randständiges Dasein fristen. Dennoch bin ich der Auffassung, daß der Elitismus nicht so leicht abzutun ist. Vielmehr hat er, wie zu zeigen sein wird, zugleich recht und unrecht. Recht hat er insofern, als er den faktischen Umgang mit der Kunst angemessen auf den Begriff bringt und daher als deskriptive These zu überzeugen vermag. Normativ dagegen ist er von Grund auf verfehlt. Deskriptiv zutreffend ist der Elitismus, da er den kaum zu leugnenden Umstand abbildet, daß Kunstproduktion wie -rezeption an eine Fülle von Voraussetzungen gebunden sind. Talent, technische Fertigkeiten, umfassende Bildung, kunstbezogene Vorerfahrungen, perzeptorische Sensibilität und hermeneutische Phantasie sind einige der Bedingungen, die sowohl für die Produktion gelungener Kunstwerke als auch für das angemessene Verstehen ebensolcher erforderlich sind. Belege dafür sind leicht beizubringen: Schönbergs Gurre-Lieder sind nicht einfach kakophones Gedudel, nur weil ein auf Musikantenstadl und deutsche Schlager abonnierter Hörer sie so erlebt, und ein abstraktes Gemälde wird nicht allein deshalb begeistern, weil ein phantasieloser Pinselschwinger ein paar Quadrate im Stile Mondrians auf die Leinwand setzt. Es bedarf vielmehr besonderer Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse und Eingebungen, um produktiv wie rezeptiv in der Kunst reüssieren zu können, und da erfahrungsgemäß nur eine Minderheit von Personen in den verschiedenen Kunstsparten über diese Voraussetzungen verfügt, hat der Elitismus in deskriptiver Hinsicht einiges für sich. Anders verhält es sich mit ihm in normativer Hinsicht. Seine Forderung, die Kunst müsse wenigen Auserwählten vorbehalten bleiben und dürfe nicht Krethi und Plethi Tür und Tor öffnen, ist von Grund auf verfehlt, da sie das ethische Recht auf freien Zugang zur Kunst verletzt. Auch wer kaum Hammer und Meißel zu halten weiß, darf nicht daran gehindert werden, sich als Bildhauer zu versuchen, und wer von Shakespeare keine Ahnung hat, hat trotzdem alles Recht, lautstark mit einer fragwürdigen Interpretation des Hamlet aufzuwarten. Die Zugänglichkeit der Kunst für alle ist aus ethischer Perspektive ein Muß: Daß ästhetische Gründe natürlich dafür sprechen, untalentierte Aspiranten nicht in Kunstakademien aufzunehmen
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und die haltlosen Deutungen unbegabter Interpreten nicht im Feuilleton abzudrucken, steht auf einem anderen Blatt. Aus ethischen Gründen geboten ist nur, die Verfertigung mißlungener Kunstprodukte und schiefer Interpretationen nicht a limine zu unterbinden. Der Grund dafür liegt in der Funktion, die die Kunst in Gestalt ihrer gelungenen Werke in unserem Leben übernimmt. Sie ist ein unersetzliches, nicht-propositionales Reflexionsmedium, das uns eine Auseinandersetzung mit Sichtweisen beliebiger Gegenstände im Modus des Erfahrens gestattet. Ihre Werke präsentieren im Zusammenspiel von Form und Inhalt komplexe, holistische Sichtweisen, zu denen wir unsere Sichtweisen ins Verhältnis setzen. Indem Kunstwerke durch die formgebundene Art, in der sie ihre Inhalte präsentieren, diese Inhalte in ein bestimmtes Licht rücken (darin sind sie den Metaphern ähnlich), fordern sie die korrespondierenden Einstellungen und Sichten jener heraus, die sich schöpferisch oder verstehend mit ihnen auseinandersetzen. Kunst ist damit eine einzigartige Weise einer nicht-propositionalen Reflexion unserer Einstellungen.1 Da diese Reflexion nun ein elementarer Bestandteil des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ist, der uns dazu befähigt, zu unseren gewöhnlich a tergo wirksamen Überzeugungen in ein kritisches Verhältnis einzutreten, stellt sie eine ethisch schützenswerte Handlungsmöglichkeit dar. Diese Möglichkeit darf daher niemandem durch eine elitäre Einschränkung des Zugangs zur Kunst versperrt werden. Damit zeigt der Elitismus der Kunst ein ›janusköpfiges‹ Antlitz: Aus einer ethisch-normativen Perspektive ist er verfehlt: Wer den Zugang zur Kunstpraxis nur einigen wenigen vorzubehalten sucht, verletzt das moralische Recht auf eine nicht-substituierbare Möglichkeit zur Reflexion eigener Erfahrung. In deskriptiver Perspektive dagegen ist der Elitismus plausibel, da er richtig sieht, daß eine ästhetisch erfolgreiche Kunstpraxis de facto an erhebliche Voraussetzungen geknüpft ist. Während der Elitismus also normativ unbegründet, deskriptiv aber überzeugend ist, verhält es sich mit der Betroffenheitsthese genau umgekehrt.
2. Betroffenheitskult Mit dem plakativen Ausdruck »Betroffenheitskult« bzw. der weniger überspitzten Formulierung »Betroffenheitsthese« möchte ich jene Haltung charakterisieren, der zufolge nur diejenigen Objekte gute Kunstwerke sind, die uns tatsächlich beschäftigen und faszinieren. Die »individualistische Betroffenheitsthese« macht dabei geltend, daß nur Werke, die mir etwas sagen, als Kunstwerke bestehen können, die »universalistische Betroffenheitsthese« vertritt dagegen die Position, daß nur ein Zeichen ein Kunstwerk sein kann, das allen etwas sagt. Zur Reflexivität der Kunst siehe: Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis – Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen, München 2002, 189 ff. 1
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Gemäß der individualistischen Betroffenheitsthese werden Kunstwerke, deren Bedeutung sich dem einzelnen nicht erschließt, als prätentiöse Anmaßungen verworfen. Ein Liebhaber italienischer Lautenklänge würde sich demnach mit Recht angewidert abwenden, wenn er Hiphop-Tracks oder aus Alltagsgeräuschen kombinierte Soundscapes vorgesetzt bekommt. Er dürfte ihnen jederzeit die Anerkennung als Kunstwerke verweigern. Eine solche Einstellung ist nun aber nicht nur borniert im Hinblick auf die Vielfalt artistischer Genres und Kulturen, sondern auch als implizite Stellungnahme zur Semantik des Kunstbegriffs verfehlt. Wer unterstellt, Kunst sei nur das, was ihm oder ihr gefällt, ist blind für das Faktum, daß die Klasse der Kunstwerke nicht diktatorisch von einer Person festgelegt wird. Vielmehr wird die Anerkennung eines Objekts als eines Kunstwerks über begrenzte Konsense gesteuert, die sich unter den Repräsentanten und Experten derjenigen künstlerischen Kultur einstellen, in der diese Objekte ihren Ursprung und ihren Ort haben. Dieser Einwand richtet sich gleichermaßen gegen die universalistische Betroffenheitsthese, die nur als Kunst anerkennen will, was alle betrifft. Kunst ist aber weder das, was nur mir gefällt, noch das, was allen gefällt, sondern das, was den Mitgliedern der mit dem Werk verbundenen künstlerischen Kultur als lohnend erscheint.2 Über die Institutionalisierung der in dieser künstlerischen Kultur verfügbaren Expertise – erfolge diese nun in Techno-Clubs, Posaunenchören oder Musikhochschulen – wird die Anerkennung eines Objekts als eines Kunstwerks auf Dauer gestellt. Es läßt sich daher festhalten, daß die Betroffenheitsthese in deskriptiver Hinsicht weder in ihrer individualistischen noch in ihrer universalistischen Spielart zu überzeugen vermag. Anders verhält es sich im Hinblick auf ihre normative Dimension, die hier keine ethische, sondern eine ästhetische Normativität ist. Faßt man die Betroffenheitsthese als kunstbezogenes Postulat auf, so hat sie recht, denn nur diejenigen Objekte sind gute Kunstwerke, die potenziell alle auf sie vorbereiteten Rezipienten zu faszinieren vermögen. Hingegen werden Gebilde, die uns auch nach langer Auseinandersetzung mit ihnen und der sie prägenden künstlerischen Kultur nichts zu sagen haben, den Kunstwerkstatus wieder verlieren – oder aber ihn gar nicht erst erlangen. Solche Gebilde scheitern daran, daß sie die Funktion der Kunst, ein präsentatives Reflexionsmedium von Erfahrung zu sein, nicht zu erfüllen vermögen. In ästhetisch-normativer Hinsicht ist die Betroffenheitsthese demnach angebracht: Was uns nicht einmal der Möglichkeit nach zu betreffen versteht, ist kein Kunst-, sondern nur Machwerk. Wenn diese Überlegungen richtig sind, löst sich der Widerspruch zwischen Elitismus und Betroffenheitsthese auf, da ersterer als Deskription der Faktizität der Kunstpraxis und letztere als an die Kunstpraxis gerichtetes Postulat zu verstehen ist. Was folgt nun aber aus der Feststellung, daß die Kunst ein faktisch elitäres, potentiell aber allen zugängliches Reflexionsmedium darstellt, für das Verhältnis zwischen Kunst und Demokratie? Hierauf möchte ich in einem kurzen Exkurs eingehen. Zur Semantik des Kunstbegriffs siehe ausführlich: Reinold Schmücker: Was ist Kunst? – Eine Grundlegung, München 1998, insbes. Kap. 4. 2
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3. Exkurs: Zum Verhältnis von Kunst und Demokratie Wie auch immer man den vieldeutigen Begriff der Demokratie verstehen will – die Kunst ist nach der Auffassung des Elitismus intern durch und durch undemokratisch verfaßt. Weder fällt sie ihre Entscheidungen nach dem Modell deliberativ gesteuerter Kompromißbildung, noch kennt sie eine nennenswerte Gewaltenteilung oder eine Institutionalisierung der Repräsentanz divergierender Interessen. Ihre Produktion erfolgt vielmehr durch besondere Einzelpersonen oder Kleinkollektive, die gut daran tun, andere Interessen systematisch zu ignorieren, und auch die Bewertung und Bewahrung ihrer Werke obliegt einem elitären Kreis von Fachleuten und Kennern, die sich in ihrem Urteil berechtigtermaßen nicht der Stimme einer Mehrheit beugen. Was wäre fataler für die Kunst als der Kompromiß? Wenn die Explikation des faktischen Elitismus der Kunst richtig war, so folgt daraus, daß demokratische Verfahrensweisen als Modell für die Kunstpraxis denkbar ungeeignet sind. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn auch wenn die Kunst selbst nicht demokratisch organisiert ist, muß, wie die Analyse der Betroffenheitsthese gezeigt hat, der Zugang zu ihr demokratisch sichergestellt werden. Gerade die deliberativen Prozesse demokratischer Gemeinwesen bedürfen der undemokratischen Kunst aus dem folgenden Grund: Wenn die Kunst ein einzigartiges Medium der nicht-propositionalen Reflexion von Einstellungen ist und wenn demokratische Entscheidungsprozesse auf alle verfügbaren Quellen rekurrieren sollten, in denen sich Einstellungen und daraus folgende Interessen der Mitglieder einer Gesellschaft artikulieren, dann hat die Kunst die Funktion eines wichtigen Mediums der Selbstverständigung gesellschaftlicher Subjekte über die Art und Weise, in der sie leben wollen. Dabei sind es oft gerade die unterdrückten Impulse, Bedürfnisse und Hoffnungen, die sich im Medium des künstlerischen Zeichens Ausdruck verschaffen. Indem sich also eine Gesellschaft die Freiheit zugesteht, exklusive künstlerische Produktions- und Rezeptionsprozesse zuzulassen, unterstützt sie nicht nur das Grundbedürfnis des Menschen nach Erfahrungsartikulation, sondern auch das Bürgerrecht auf eine ungehinderte Verständigung unter Gleichen. Daß dieses Bedürfnis überall dort, wo es mißachtet wird, zu einer politisch-subversiven Aufladung der Kunst führt, ist ein bezeichnender Indikator für die eminent wichtige Funktion der Kunst in einem demokratischen Gemeinwesen. Aus alledem folgt zwar nicht, daß eine liberale Kunstpraxis für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbar wäre3; es folgt aber wohl daraus, daß eine demokratisch verfaßte Gesellschaft auf den Beitrag einer freizügig organisierten, relativ autonomen Kunst nicht verzichten sollte, wenn sie deren Verständigungs- und Selbstverständigungspotentiale als Quellen für demokratische Entscheidungsprozesse nicht austrocknen lassen will. Heißt dies nun, daß die Kunst als Katalysator demokratischer Willensbildung grundsätzlich ethisch schützenswert und in moralischer Hinsicht unanfechtbar ist? 3
Diesen Hinweis verdanke ich Josef Früchtl.
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Eine Antwort auf diese Frage bedarf einer differenzierten Betrachtung der ethischen Situation der Kunst in der Gegenwart. II. Zur ethischen Situation der Kunst heute Zunächst einmal ist die Frage nach der ethischen Situation der Kunst durchaus zweideutig, sofern man die Unterscheidung zwischen einer Strebens- oder Glücksethik auf der einen Seite und einer Sollensethik oder deontologischen Ethik auf der anderen Seite berücksichtigt. Während erstere es mit Formen und Möglichkeiten eines gelingenden Lebens zu tun hat und hypothetische Imperative als Anleitungen zu einem solchen Leben formuliert, hat es letztere mit den notorisch heiklen Fragen nach dem moralisch Gebotenen, Verbotenen und Erlaubten zu tun. Wer nach der ethischen Situation der Kunst fragt, sollte folglich ihren Bezug sowohl zur Orientierung des Handelns am individuell oder kollektiv Guten (Strebensethik) als auch ihren Bezug zur Orientierung am Gerechten bzw. moralisch Gebotenen (Sollensethik oder Moral) in den Blick nehmen.4 Im Folgenden werde ich dieser Unterscheidung dadurch Rechnung tragen, daß ich zunächst die Rolle der Kunst im Kontext einer Ethik gelingenden Lebens umreiße, mich dann der Frage zuwende, inwiefern die Kunst moralisch schützenswert ist, und schließlich die Grenzen aufzeige, die der Freiheit der Kunst durch eine deontologische Moral gesetzt werden. Dabei gehe ich durchgehend davon aus, daß Ethik und Ästhetik keineswegs, wie in der jüngeren Debatte zuweilen behauptet, koinzidieren.5 Vielmehr ist unter den Bedingungen der Moderne für das antike Ideal der kalokagathia oder die mittelalterliche Idee des pulchrum et bonum convertuntur kein Platz mehr. 1. Kunst und die Ethik des gelingenden Lebens Welche Rolle aber spielt die Kunst vor diesem Hintergrund für eine Ethik des gelingenden Lebens? Sie spielt, so meine These, eine Doppelrolle: Erstens ist die Kunsterfahrung gelegentlich selbst eine Gestalt gelingenden Lebens,6 zweitens kann sie zur Gestaltung von Formen eines gelingenden Lebens beitragen, die selbst keine künstlerischen Formen sind. 4 Siehe dazu Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt/M. 1992, 75 ff. und Martin Seel: Das Gute und das Richtige, in: ders./Christoph Menke (Hg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt/M. 1993, 219 ff. – Die eigentlich erforderliche Binnendifferenzierung des Moralischen in die Momente der Gerechtigkeit (des Gebotenen) und der Solidarität (des Supererogatorischen) lasse ich hier unberücksichtigt. 5 Vgl. z. B. Wolfgang Welsch: Ästhet/hik – Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, in: ders.: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, 106 ff. 6 Vgl. Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, 23 und Marcus Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral – Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen, Freiburg/München 1999, 247 ff.
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Kunst als Gestalt gelingenden Lebens. Daß erfüllte ästhetische Erfahrungen selbst Abschnitte eines gelingenden Lebens ausmachen, dürfte allen vertraut sein, die jemals die Erfahrung herausragender Kunstwerke gemacht haben. Dies gilt sowohl für die Kunstproduktion als auch für die Kunstrezeption: Die Lektüre eines fesselnden Romans, das Glück einer überragenden Opernaufführung wie auch der Schaffensrausch des in seine Arbeit versunkenen Malers oder die nachdenkliche Komposition eines zeitkritischen Romans sind intrinsisch wertvolle Perioden des Daseins, die von der erfüllten Prozessualität des Erfahrungsvollzugs zehren. Dabei möchte ich behaupten, daß gerade auch in der Kunstproduktion das beglückende Moment nicht so sehr in der Qualität des Resultats, sondern in der erfüllten Zeit seiner Herstellung liegt. Davon zeugt schon der Umstand, daß es kaum ein Künstler bei einem Werk bewenden läßt. In der Kunstrezeption ist es dagegen die Prägnanz der vom Werk dargebotenen Sichtweisen, deren Erschließung den Erfahrungsprozeß zu einem erfüllten Prozeß werden läßt. Die handlungsentlastete, vollzugsorientierte Auseinandersetzung mit der vom Werk präsentierten Sichtweise wird als intrinsisch wertvoll erlebt, da sie von der Lust an der nicht-propositionalen Erkenntnis des Werkgehalts begleitet wird. Diese Lust stellt sich freilich nur ein, sofern das Werk tatsächlich einen prägnanten Gehalt aufweist und folglich gelungen ist. Die Erfahrung mißlungener Werke ist dagegen nur insofern von Wert, als sie den Blick für künstlerische Qualität schärft und dazu beiträgt, das ästhetisch Mißratene zu meiden. Mit der Annahme, daß die Erfahrung der Kunst eine Gestalt gelingenden Lebens ist, ist nun freilich noch nicht darüber befunden, ob erfüllte Erfahrungen notwendige oder bloß mögliche Momente eines guten Lebens sind.7 Anders gefragt: Kann es ein gelingendes Leben ohne Kunsterfahrung geben? Martin Seel hat diese Frage mit einer Differenzierung zwischen zwei Begriffen eines guten Lebens beantwortet: »So sehr ein reicher Begriff guten Lebens alle ästhetischen Dimensionen mit einschließen wird, so sehr könnte ein bescheidener Begriff auch ohne ästhetische Bestimmungen auskommen«.8 Ich halte diesen Vorschlag für plausibel: Es wäre vermessen, nur ein Leben, das Kunsterfahrungen einschließt, gelingend zu nennen, da das Glück der Kunsterfahrung nur eine Komponente menschlichen Glücks ausmacht. Allerdings bin ich zugleich der Auffassung, daß der reiche Begriff eines gelingenden Lebens methodisch der primäre sein sollte. Aus einem solchen emphatischen Begriff ist meines Erachtens das Glück erfüllter Kunsterfahrung nicht wegzudenken, wie beispielsweise an der ästhetisch-existentiellen Komponente der Architektur ersichtlich wird. Wer sich durchgängig in lebensfeindlichen, abweisenden, häßlichen Räumen und Umgebungen aufhalten müßte, könnte nach meinem Dafürhalten kein im Vollsinne gelungenes Leben führen.
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Vgl. Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral [Anm. 6], 247. Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M. 1991, 331.
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Kunst als Katalysator für nicht-künstlerische Formen gelingenden Lebens. Inwiefern kann die Kunst zur Gestaltung von Situationen und Formen eines gelingenden Lebens beitragen, die selbst keinen künstlerischen Charakter haben? Ich bin der Auffassung, daß sie aufgrund ihrer nicht-propositionalen Reflexionsfunktion in der Lage ist, die Sichtweisen ihrer Produzenten und Rezipienten nachhaltig zu verändern. Das Spektrum der von ihr ausgehenden strebensethisch positiven Wirkungen ist dabei denkbar breit: Es reicht von der Bewußtmachung menschlicher Bedürfnislagen bis zur politischen Aufklärung, von der kulturellen Verständigung bis zur moralischen Sensibilisierung, von der Irritation des Gewohnten bis zur Affirmation des Bestehenden. Diese und weitere Wirkungen machen das nicht-ästhetische Potential der Kunsterfahrung aus, das seine Basis in der nicht-propositionalen Reflexivität der Kunst hat. Allerdings sind die genannten Wirkungen nur Potentiale der Kunst. Ob sie diese Potentiale entfalten kann, liegt nicht in ihrer Macht allein, sondern hängt von einer Vielzahl kunstexterner Faktoren ab. Wer beispielsweise Tragödien konsumiert, ohne auf die tragischen Züge des eigenen Lebens aufmerksam zu werden, läßt die Potentiale der Kunst ebenso ungenutzt wie eine Kultur, die die in ihren artistischen Zeichen gespiegelten sozialen Erosionsprozesse ignoriert. Die durch die nicht-propositionale Reflexion von Einstellungen bewirkte Veränderung des Handelns und Erlebens ist eben nur eine der Kunst innewohnende Möglichkeit, die zu ergreifen die gleiche Entschlußkraft und Willenstärke voraussetzt, wie sie für alle Kursänderungen des Daseins erforderlich ist. Die Kunst kann die Einsicht in vielversprechende Optionen eines Lebens unterstützen, sie kann die Umsetzung dieser Optionen aber nicht selbst leisten. In ihrer Hand liegt es nur, plastische Sichtweisen menschlicher Verhältnisse zu entwickeln und gegebenenfalls einen Fingerzeig zu geben, wie ein besseres Leben aussehen könnte. Da also die Kunsterfahrung in nicht unerheblichem Maße zum guten Leben beizutragen vermag, sie aber diesbezüglich von externen Faktoren abhängt, bin ich nicht der Auffassung, daß das Verhältnis von Kunst und Glück eine liaison dangereuse9 ist: Vielmehr ist es eine liaison fragile, da der Beitrag der Kunst zum Glück oft an den zu hohen Erwartungen zerbricht, die man ihm gegenüber hegt. Vor dem Hintergrund dieser vorsichtigen Diagnose des Beitrags der Kunst zum nicht-ästhetischen Glück werde ich mich nun der Frage zuwenden, inwiefern die Kunst moralischen Schutz genießt.
Vgl. Helmut Hartwig: Kunst und Glück – Eine liaison dangereuse, in: Sinn und Form, H 6 (2002), 824–836. 9
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2. Kunst und moralischer Schutz Daß sowohl die Kunstproduktion als auch die Kunstrezeption in bestimmten Grenzen moralischen Respekt für sich reklamieren kann, ist generell auf die nichtsubstituierbare Reflexionsleistung der Kunst zurückzuführen. Da diese Leistung ein grundlegendes Gut darstellt, steht sie wie andere grundlegende Güter unter dem Schutz der Moral – und zwar auch und gerade dann, wenn sie unmoralische Sichtweisen in künstlerisch gelungener Weise präsentiert. Im engeren Sinne moralisch relevant und dadurch schützenswert ist die Kunst darüber hinaus insofern, als sie zur Ausbildung und Verfeinerung des moralischen Standpunkts beitragen kann, weil die in den Formen ästhetischer Erfahrung angelegte Selbst- und Weltdistanz der für die Einnahme des moralischen Standpunktes unabdingbaren Fähigkeit zum Abstand von den eigenen Interessen entgegenkommt.10 In diesem Moment der Distanzierung lebensweltlicher Sichtweisen beweist sich eine Freiheit der Denkungsart, die für das Absehen vom je persönlichen Standpunkt im Falle moralischer Konflikte eine entscheidende Voraussetzung ist. Freilich ist diese Distanznahme der Kunst durchaus ambivalent, da sie auch in einer Distanzierung vom Standpunkt der Moral selber bestehen kann. Schließlich offenbaren viele künstlerische Darstellungen ein moralisch bedeutsames Potential, da sie für Verlaufsformen, Sichtweisen und Folgen moralischer Konfliktlagen sensibilisieren, indem sie die moralischen Betroffenheiten der Beteiligten prägnant schildern und so ein plastisches Bild der Dramatik solcher Konflikte entwerfen. Sie regen dadurch die moralische Einbildungskraft an und können so zu einer Veränderung moralischer Kriterien beitragen. Freilich ist auch dies nur eine Möglichkeit, deren Ergreifen von der Fähigkeit und Bereitschaft der Kunstbetrachter abhängt, die werkimmanenten Sichtweisen für ihr Handeln zu übernehmen. Was folgt nun aus dem Umstand, daß die Kunst als unersetzliches Reflexionsmedium ein moralisch schützenswertes Gut darstellt, für den moralischen Schutz insbesondere der Kunstproduktion? Zunächst einmal folgt daraus, daß niemand daran gehindert werden darf, sich künstlerisch zu betätigen. Jemandem aus politischen, religiösen, ethnischen oder sonstigen Gründen die Produktion von Kunst zu untersagen, ist moralisch schlicht illegitim. Wer Männer grundsätzlich nicht in Kunstakademien aufnehmen oder den Vertrieb von christlich inspirierten Romanen verbieten wollte, handelte unmoralisch. Hinsichtlich der Wahl der Themen der Kunst gilt ähnliches: Die Kunst sollte sich artikulieren dürfen, worüber immer sie will. Dieser Freiheitsgrundsatz gilt in gewissem Grad auch für die Wahl der Ausdrucksmedien und -formen, für die Art der Veröffentlichung von Kunstwerken sowie für die Gestaltung des Schaffensprozesses. Es wäre moralisch verfehlt, weil ästhetisch falsch, einen zeitgenössischen Vgl. Seel: Ethisch-ästhetische Studien [Anm. 6], 32 und Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral [Anm. 6], 232 u. ö. 10
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Komponisten zu zwingen, nur Sonaten für Streichquartett in c-moll zu schreiben, seine Werke allein im Rundfunk aufführen zu lassen und partout in Achtstundenschichten zu arbeiten. Wie sieht nun der moralische Schutz im Hinblick auf die Kunstrezeption aus? Zunächst einmal besteht er in dem Verbot, jemanden aus politischen, religiösen, ethnischen oder sonstigen Gründen vom Zugang zur Kunst und ihren Institutionen auszuschließen. Versperrten die Berliner Museen und Theater plötzlich vor allen Hamburgern ihre Türen, würde dies zu Recht einen Sturm der Entrüstung auslösen. Moralisch gesehen ist die Kunst für alle da – auch wenn das Eigentumsrecht dem Zugang zur Kunst faktisch oft enge Grenzen setzt. Zum moralischen Schutz der Kunstrezeption gehört weiterhin, daß die Rezipienten in der Wahl der Werke, mit denen sie sich eingehender beschäftigen wollen, frei sind. Die Abwesenheit einer solchen Freiheit wäre die Anwesenheit von Zensur, die – von speziellen Ausnahmefällen abgesehen – moralisch illegitim ist. Unter moralischem Schutz steht fernerhin auch die freie Meinungsbildung über Bedeutung und künstlerische Qualität von Werken und die damit verbundene Artikulation ästhetischer Urteile. Es wäre unhinnehmbar, Kunstfreunden aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Kontostandes oder ihrer Sprachzugehörigkeit eine Artikulation ästhetischer Werturteile und kunstbezogener Interpretationen zu untersagen. Es muß moralisch möglich sein, das eigene Urteil individuell zu bilden und öffentlich zu artikulieren – auch wenn man dabei nicht immer davor gefeit sein wird, sich ästhetisch lächerlich zu machen.
3. Moralische Grenzen der Kunst Daß die Kunst unter dem Schutz der Moral steht, heißt nun aber keineswegs, daß ihr die Moral nicht auch Grenzen setzte. Da die Kunst, wie erläutert, nur ein Gut unter anderen ist, wird vielmehr in all jenen Fällen, in denen künstlerische Interessen mit anderen Interessen konfligieren, eine Güterabwägung erforderlich sein. Im folgenden werde ich einige der Fälle auflisten, in denen diese moralische Güterabwägung zuungunsten der Kunst ausfällt, weil ihre Werke und Verfahren grundlegende moralische Intuitionen und Ansprüche verletzen. Im Hinblick auf die Kunstproduktion schränkt die Moral die künstlerischen Spielräume im Hinblick auf die Umstände der Produktion, die Wahl des Themas und die Art der Darstellung ein. Erstens sorgt sie dafür, daß künstlerische Produktionsweisen, die moralische Grundrechte in eklatanter Weise verletzen, unterbunden und die daraus hervorgehenden Gebilde ungeachtet ihrer ästhetischen Qualität nicht als Kunstwerke akzeptiert werden. Sogenannte »snuff movies«, die die reale Ermordung von Menschen aufzeichnen, sind, selbst wenn man sie als Kunstwerke ausgäbe, nichts weiter als eine brutale Verletzung menschlicher Interessen und daher zu Recht nicht im
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Rahmen von Filmfestivals zu sehen. Ein weniger drastischer, aber nicht minder aufschlußreicher Fall ist der einer Theaterperformance, in deren Verlauf Zuschauer verhöhnt, mit Wasser übergossen und beschimpft werden. Hier wäre zu diskutieren, ob die Kunst die Grenzen des ihr Erlaubten überschritten hat – was generell nicht leicht zu entscheiden ist. Denn wie ist das Verhalten eines Fotografen zu beurteilen, der ein verhungerndes Kind in bewegender, später preisgekrönter Weise ablichtet, aber keine Anstrengungen unternommen hat, das Kind vor dem Hungertod zu retten? Kann das die Weltöffentlichkeit aufrüttelnde Bild die unterlassene Hilfeleistung wettmachen? Und wie verhält es sich mit Gunther von Hagens Präparaten menschlicher Körper und Organe, deren quasi-künstlerische Exposition harsche Kritik an der Verletzung der Würde Toter geerntet hat? In all diesen Fällen muß letztlich wohl eine öffentlich geführte Debatte darüber entscheiden, was moralisch noch zulässig ist und was nicht. Zweitens legt die Moral der Kunst in Bezug auf die Wahl ihrer Themen Fesseln an – freilich nur äußerst lose, da es im Prinzip nichts gibt, was die Kunst nicht thematisieren dürfte. Es gehört vielmehr sogar zu ihren Stärken, eine Auseinandersetzung mit den finstersten Schattenseiten menschlichen Daseins zu erlauben und eine Reflexion des moralisch Verwerflichen im Modus ästhetischer Distanz zu ermöglichen. Moralische Grenzen sind ihr nur dort gesteckt, wo sie massiv in Persönlichkeitsrechte eingreift, wie der Hinweis auf die Fiktionalität von Protagonisten und Handlungen bei Spielfilmen und Romanen belegt. Strengeren Auflagen sieht sich dagegen – drittens – die Art der künstlerischen Darstellung eines Themas gegenüber. Auch wenn es moralisch durchaus legitim ist, den Holocaust zu thematisieren, so ist es doch kaum tolerabel, dies im Stil nationalsozialistischer Propaganda zu tun. Freilich spielt die Kunst bezüglich ihrer Darstellungsweise seit jeher insofern mit dem Feuer, als sie die moralisch provozierenden Möglichkeiten artistischer Darstellung bis an ihre Grenzen auskundschaftet. Der Grat zwischen moralisch unzulässigen und positiv moralisch provozierenden Darbietungen ist dabei bekanntlich äußerst schmal: Ist ein Roman moralisch verwerflich, wenn er den Nationalsozialismus affirmativ aus der Perspektive eines seiner Anhänger schildert? Die Frage läßt sich nur daran entscheiden, ob die Art der Darstellung eine Einsicht in die Inhumanität dieser politischen Haltung zu vermitteln vermag oder aber diese Haltung rückhaltlos glorifiziert. Dies aber läßt sich nur durch eine genaue Betrachtung der künstlerischen Mittel feststellen: Bei der Bestimmung der moralischen Tolerierbarkeit künstlerischer Darbietungen kommt daher alles auf die Feinfühligkeit der Analyse der Machart des Werks an – und das heißt: auf die Rekonstruktion der formgebundenen Sichtweise, die das Werk präsentiert. Wenn der Roman die Inhumanität des Nationalsozialismus aus der Perspektive eines fanatischen Anhängers sehr viel eindringlicher zu erfahren gibt, als es wohlmeinend aufklärenden, mit dem didaktischen Zeigefinger operierenden Werken möglich ist, ist er eventuell ein Meisterwerk. Ist er dagegen nichts weiter als eine fiktionalisierte politische Kampfschrift, wird er als Kunstwerk nicht bestehen können.
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Generell wird in jedem Einzelfall darüber zu debattieren sein, wann etwas noch als Kunstwerk gelten darf und wann ein vermeintliches Kunstgebilde die Grenzen des moralisch Zulässigen hinter sich gelassen hat. Als aufschlußreiche Nebenfolge solcher Debatten darf der Umstand gelten, daß man aus ihrem Ausgang Rückschlüsse auf das moralische Bewußtsein der beteiligten Individuen oder Kollektive ziehen kann. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: der moralischen Limitierung der Kunstrezeption, die im Hinblick auf die Rezeptionssituation, die Wertschätzung von Werken mit moralisch fragwürdiger Genese und das Gefallen an Werken von moralisch intolerabler Machart erfolgt. Erstens ist es nicht moralkonform, in Situationen, die ein entschlossenes Handeln zugunsten anderer Personen verlangen, die handlungsentlastete ästhetische Einstellung eines Kunstrezipienten einzunehmen. Danto hat darauf hingewiesen, »daß es Fälle gibt, bei denen es falsch oder unmenschlich wäre, eine ästhetische Einstellung einzunehmen und bestimmte Realitäten in Distanz zu rücken – zum Beispiel eine Demonstration, bei der Polizisten Demonstranten niederknüppeln, als eine Art Ballett zu sehen, oder explodierende Bomben vom Flugzeug aus, das sie abwirft, als geheimnisvolle Chrysanthemen. Vielmehr muß die Frage sich einstellen, was man tun soll.«11 Entsprechendes gilt auch für den engeren Bezirk der Kunsterfahrung. Wer fasziniert über das Forum Romanum streift, ohne sich um den schwer erkrankten, hilfebedürftigen Mitreisenden zu kümmern, handelt ebenso unmoralisch wie ein Leser, der die spannende Klimax seines Romans der Schlichtung eines handgreiflichen Streits zwischen Jugendlichen in der U-Bahn vorzieht. Zweitens ist es moralisch unstatthaft, Kunstwerke, die auf fragwürdige Weise zustandegekommen sind, in rein ästhetischer Einstellung wahrzunehmen. Bei den erwähnten »snuff movies« ist dies offenkundig, bei der Bewunderung von Tempelbauwerken, deren Errichtung sich dem Leid zahlloser Sklaven verdankt, ist dies weniger deutlich. Dennoch setzt das Bewußtsein empfindlicher moralischer Verstöße der Kunstwertschätzung Grenzen. Drittens und letztens wird auch die Bewunderung von Kunstwerken, deren Machart moralisch intolerabel ist, auf Kritik stoßen. Wer den Nazi-Roman, dessen Form keine Distanzierung von seinem Inhalt ermöglicht, für ein Meisterwerk hält, begibt sich ins moralische Abseits. Daß es in diesen Fällen einer eingehenden Analyse der Darstellungsweise des Werks bedarf, um zu einem begründeten moralischen Urteil zu gelangen, bedeutet nicht, daß sich die Kunst stets auf ihre vermeintliche formale Subtilität herausreden kann: Dort, wo statt künstlerischem Raffinement platte Demagogie herrscht und wo statt komplexer Sichtweisen perfide Parolen ausgegeben werden, findet die Freiheit der Kunst ihr Ende.
Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1991, 47. 11
Die Künstler der Avantgarde und die Demokratie Von Klaus von Beyme Einleitung Die Künstler der Avantgarde der Moderne – der Höhepunkt ihres Schaffens lag etwa zwischen 1905 und 1935 – waren festen Strukturen wie den alten Zünften und einer leidlich gesicherten Auftragslage durch politische, kirchliche und großbürgerliche Mäzene entwachsen und suchten nach einem neuen sozialen Halt. Die Ausdifferenzierung der sozialen Subsysteme und das Ausgeliefertsein an einen unzureichenden Kunstmarkt führte zu starken ideologischen Reorientierungsversuchen. Die Wiederherstellung der Einheit von Kunst und Leben durch Künstlergemeinschaften war gescheitert. Nur wenige Avantgarde-Gruppen wie Die Brücke versuchten eine Weile auch ›Lebensgemeinschaft‹ zu sein. Schon für den Blauen Reiter legte Kandinsky Wert auf die Feststellung, daß es sich nicht um eine Gruppe sondern nur um einen Kreis handelte, der an der Erstellung eines Almanachs arbeitete und notfalls von Kandinsky und Marc – in der Hauptsache von ersterem – »diktatorisch« geleitet werde.1 Die Sezessionen und neuen Gruppen wurden rasch durch Individualisierung, Verbürgerlichung – nach Ablegen der Bohème-Attitüden – sowie Professionalisierung und Kommerzialisierung künstlerischer Tätigkeit gesellschaftlich angepaßt. Nicht besser erging es einem weiteren Postulat der frühen Avantgarde der Moderne um die Jahrhundertwende: der Einheit von künstlerischer Innovation und gesellschaftlicher Erneuerung. Verstärkt wurde vorübergehend das politische Engagement durch eine beispiellose Literarisierung der Kunst der Avantgarde. Im Kampf der Ismen und im Ringen um die Anerkennung eines unverständigen Publikums wurde mehr Literatur zur Kunst und Lebenslage der Künstler produziert als je zuvor. Je abstrakter die Kunst, um so eifriger die Selbstkommentierung von Kandinsky, Malewitsch und Kupka bis zu Mondrian oder Delaunay. In dieser umfangreichen Künstlerliteratur – vor allem bei Dadaisten und Surrealisten – fielen auch zunehmend politische Äußerungen auf. Nur wenige huldigten dem von Kahnweiler überlieferten Wahlspruch Picassos: »Jede Unterhaltung mit dem Piloten ist streng verboten!«2. Der Künstler konnte sich trotz seiner Flucht in Aphorismen und Paradoxien dem Trend gleichwohl nicht 1 Vgl. Wassily Kandinsky / Franz Marc: Der Blaue Reiter (1912), hg. von Klaus Lankheit, München 1965, u. ö., 258. 2 Vgl. Pablo Picasso: Wort und Bekenntnis – Die gesammelten Zeugnisse und Dichtungen. Mit Beiträgen von Daniel-Henry Kahnweiler u. a., Zürich 1954, 100.
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entziehen. Erbarmungslos haben Freunde (Sabartés, Brassai, Apollinaire) ihm Statements entlockt, die später gedruckt worden sind. Ein großer Teil der Künstler in den romanischen Ländern war anfangs anarchoidlinks eingestellt, schon weil die Akademie bis ans Ende des 19. Jahrhunderts in dem Ruf stand, nicht einmal die Französische III. Republik angenommen zu haben. Staatliche Kunstpolitik und die Schaffung neuer Einrichtungen der Selbststeuerung der Künstlerschaft hat diese Opposition nur partiell gemildert. Die Dreyfus-Affaire stärkte den ›Bloc des Gauches‹, der antiklerikal gesonnen war. Als die Ziele der Regierung Waldeck-Rousseau erreicht schienen, zerfiel dieser linke antiklerikale Konsens. Die nationale Rechte von Barrès bis Maurras, die schließlich im ersten Weltkrieg in einer union sacrée endete, erfaßte auch einen Teil der Künstlerschaft. Soweit die Künstler eher einem anarchoiden Syndikalismus à la Georges Sorel huldigten, waren sie ebenfalls gegen die bestehende Republik3. Der Solidarismus als republikanische Ideologie verlor um die Jahrhundertwende an Boden. Escapismus machte sich breit, zumal der Laisser-faire-Liberalismus der herrschenden Radikalen in Frankreich die soziale Lage der Künstler verschlechtert hatte.
I. Die Attitüde des apolitischen Künstlers Enttäuschungen mit politischem Engagement um die Jahrhundertwende und in einer zweiten Welle am Ende des Ersten Weltkrieges blieben nicht folgenlos. Die meisten Künstler unterstrichen, daß sie unpolitisch seien. Soweit sie sich kurzfristig politisch engagiert hatten, hat die Enttäuschung sie in um so größere politische Abstinenz getrieben. Karl Hofer4 war ein typisches Beispiel. Er behauptete nach dem zweiten Weltkrieg, unpolitisch gewesen zu sein. Man könnte es ihm glauben, wenn er die »Welt ehedem« als schön und heiter schilderte, bis es Bomben regnete. Konklusion eines von der Politik enttäuschten Künstlers: »Höflich werden wir gebeten, endlich politisch zu denken, wenn ich aber politisch denke, gelange ich zum absoluten Nihilismus. Darum denke ich lieber menschlich«. Diese Deklaration hat ihn nicht gehindert, Widerstand gegen neue Tendenzen der Politisierung durch die Kommunisten im Nachkriegsdeutschland zu leisten. Ähnlich wie bei Hofer stößt eine eingehendere Analyse politischer Haltungen von Künstlern auf starke Widersprüche zwischen Wort und Tat. Francis Bacon hat in einem Interview, als ihm die unpolitische Haltung der Abstrakten vorgehalten wurde – zu denen er nicht gehörte – erklärt: »[…] unpolitisch soll und darf Kunst sein. Ich bin auch unpolitisch, ich mokiere mich sogar über die Vgl. David Cottington: Cubism and the Shadow of War – The Avant-Garde and Politics in Paris 1905 –1914, New Haven 1998, 15 ff. 4 Karl Hofer: Erinnerungen eines Malers, Berlin-Grunewald 1953, 230. 3
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modische Linksattitüde meiner französischen Freunde […]«5. Aber das richtete sich gegen eine vordergründig politisierte Kunst, denn er fügte hinzu: »[…] inhaltslos, weltlos darf Kunst nicht sein« und setzte sich von der »Privatästhetik« der Abstrakten ab.6 Selten sind Gespräche von Avantgardisten über Politik überliefert worden. Eine Ausnahme stellen die Erinnerungen des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg dar, der sich an eine Debatte im Rotonde in Paris 1917 erinnerte. Es ging hoch her: Léger glaubte an die Vernunft und die sozialistische Einsicht auch bei den Deutschen, um den Krieg zu beenden. Rivera schwadronierte über das Ende Europas und die Zukunft der westlichen Hemisphäre. Modigliani widersprach allen: Sozialisten seien »kahlköpfige Papageien«. Er habe dies auch seinem sozialistischen Bruder gesagt.7 Man sieht: ein ganz normales Stammtischgespräch, aus dem man wenig schließen kann. Modigliani war keineswegs so antisozialistisch, wie er als advocatus diaboli in dieser Runde tat. Die Erklärung des Unpolitischen ist sowenig wörtlich zu nehmen wie manche Äußerung der Avantgardisten zur Kunst. Als Jacques Lipchitz8 in Israel einen Auftrag bekam, auf dem Mount Scopus ein Denkmal zu gestalten, traf er mit Premierminister Ben Gurion zusammen. Dieser kritisierte unsachlich die fliegenden Engel Chagalls. Lipchitz nahm den Kollegen in Schutz: »Mr. Prime Minister, you are a great expert on the Bible and the Bible is full of angels flying in the air […]«. Ben Gurion schien verschnupft. Der Künstler versuchte die Situation zu ›verschlimmbessern‹, indem er die Ignoranz des Politikers leicht nahm – er verstehe schließlich auch nichts von Politik. Ben Gurion wurde schließlich humorvoll: »Oh, in politics I do not know anything either«. Die apolitische Haltung war gespielt – ähnlich wie bei Hofer. Lipchitz9 hat mit seinem entschiedenen Eintreten für den Ausgleich zwischen Juden und Palästinensern durchaus klare rationale politische Vorstellungen demonstriert. Es zeigte sich im transnationalen Vergleich des Verhältnisses von Kunst und Politik, daß in Ländern mit geringer demokratischer Tradition die Pendelausschläge groß waren. Man schwankte zwischen Illusionen, Kunst und Politik zugleich reformieren zu können, und bei Enttäuschungen zum Eskapismus hin und her. In älteren Demokratien war das politische Engagement meist ausgewogener und entspannter. Es schwankte nicht zwischen totaler Apathie und Über-Engagement hin und her. Barbara Hepworth wurde in einem Interview nach ihrem politischen Engagement gefragt. Ihre Antwort: »I mean I have always been involved […]. I was involved in the distress and the strikes, everything. I wasn’t marching but I was in5 6 7 8
Vgl. Fritz J. Raddatz: Süchtig nach Kunst – Bekenntnisse zur Figuration, Regensburg 1995, 21. Vgl. ebd., 22. Vgl. Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre, Leben – Memoiren, 3 Bde. Berlin ²1982, I, 194 f. Jacques Lipchitz: My Life in Sculpture (with Hjorvadur Harvard Anarson), New York 1972,
208. 9
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volved through my work«.10 Ähnlich äußerte sich Henry Moore:11 Man solle eine positive politische Haltung haben. Er hatte mehr Sinn dafür, daß demokratische Formen der Gesellschaft für die Kunst günstiger waren als nichtdemokratische. Eine solche Haltung des distanzierten Engagements wirkte wesentlich reifer als die meisten Äußerungen deutscher Künstler zur Politik. Obwohl die Demokratie als Regierungsform die Partizipation aller Bürger ermöglicht hatte, wurde sie durch die liberale Gesinnung, die den Verfassungspatriotismus des Bürgertums ausmachte, an der Ausübung der Partizipationsrechte gehindert. Typisch war die Meinung Matisses12, die noch nach zwei Weltkriegen geäußert wurde: »Ich halte mich so viel als möglich außerhalb der Politik […] Ich weiß, Delacroix machte ein paar Bilder 1848. Revolution kann manchmal einem Zweck dienen, aber es ist trotz allem unerlässlich, außerhalb der Politik zu bleiben. Man kann liberale Ideen haben, aber der Künstler hat nicht das Recht, etwas von der kostbaren Zeit zu verlieren, die er hat, um das Eigene auszudrücken«.
II. Das gebrochene Verhältnis vieler Avantgarde-Künstler zur Demokratie Die liberale Demokratie hat bei vielen Künstlern kein gefühlsmäßiges Engagement hervorgerufen. Im Gegenteil. Paul Klee13 reproduzierte die elitären Vorurteile seiner Zeit in seinen Tagebüchern: »Die Demokratie nährt mit ihrer Halbbildung redlich den Kitsch. Des Künstlers Macht sollte geistig sein. Die Macht der Majorität aber ist materiell. Wo sich die Welten gelegentlich treffen, herrscht Zufall«. Kirchner14, der seit dem ersten Weltkrieg permanent in der Schweiz lebte, kam zu weit positiveren Urteilen über die Schweizer Demokratie: »Wir sind ein demokratisches Zeitalter, und nur eine Staatsform, die demokratisch ist, kann uns helfen. Ich wünschte oft, wir hätten die Berner Regierung in Berlin. Da stände es heute anders um Deutschland.« Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schuf Klee15 Zeichnungen wie Weib und Tier, die er als »Kritik der bourgeoisen Gesellschaft« ausgab. 1903 in einer depressiven Stimmung radierte er Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend. Vgl. Cindy Nemser: Art Talk – Conversation with Twelve Women Artists, New York 1975, 23. Vgl. Philip James: Henry Moore on Sculpture, New York 1992, 89. 12 Henri Matisse: Écrits et propos sur l´art. Texte, notes et index établis par Dominique Fourcade, Paris 1972, 97, note 48, »Je me tiens autant que possible en dehors de la politique. […] Je sais. Delacroix a fait des tableaux en 1848. Les révolutions peuvent quelquefois servir, mais il faut malgré tout se tenir absolument en dehors de la politique. On peut avoir des idées libérales, mais l’artiste n’a pas le droit de perdre le temps précieux dont il dispose pour s’exprimer«. 13 Paul Klee: Tagebücher, Köln 1957, 205, Nr. 747 (1906). 14 Ernst Ludwig Kirchner: Briefwechsel 1910–1935, 1938, bearb. von Wolfgang Henze in Verbindung mit Annemarie Dube-Heynig u. Magdalena Kraemer-Noble, Stuttgart 1990, 248. 15 Paul Klee: Tagebücher [Anm.13], 153–155, Nr. 514, 519. 10 11
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Er gab offen zu, daß das Werk dem »Trost für meine soziale Stellung« diene. Für die Gegenposition konnte man sich auf ein Diktum von Picasso16 berufen, nach dem der Künstler ein politisches Wesen sei, das ständig im Bewußtsein der zerstörerischen Weltereignisse lebt und sich nach ihnen formt: »Nein, die Malerei ist nicht erfunden worden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind«. Die Weimarer Republik hat einige ›Vernunftdemokraten‹ wie Thomas Mann hervorgebracht. Aber selten war ein entschiedenes Bekenntnis zu Republik und Demokratie, wie es Max Beckmann17 gegenüber seinem Verleger Reinhard Piper schon im Mai 1917 abgab: »[…] So hoffe ich also auf eine deutsche Republik«. Als die Republik schließlich eingeführt wurde, waren viele Künstler in ihren Gefühlen ihr gegenüber ambivalent. Der deutsche Sonderweg zwischen Ost und West blieb Teil der Stimmungslage auch unter Künstlern. Oskar Schlemmer18 hat die gemischten Gefühle zur Gestaltung der jungen Republik in typischer Weise zum Ausdruck gebracht: »Heute scheint es, als werde die Mitte (der Geographie) zum Verhängnis, Vernunft und Not raten zum Westen, Herz und Hoffnung zum Osten. Es ist trostlos zu denken, daß auf Kompromissen der neue Bau ausgeführt werden soll.« Als Schlemmer 1929 am Bauhaus lehrte, kam er als eher unpolitischer Künstler erneut in die Lage, sich mit der Politisierung des Kunstbetriebs auseinanderzusetzen. Hannes Meyer hat nach dem Abgang des liberalen Weltmannes Gropius als Direktor des Bauhauses die Politisierung geduldet, wenn nicht sogar gefördert. Schlemmer beklagte sich in einem Brief an Willy Baumeister, ehe er das Bauhaus zugunsten einer Professur in Breslau verließ. Schlemmer hat der Forderung nach sozialpolitischem Engagement in der Kunst angeblich mit den Worten widerstanden: Er (Hannes Meyer) »solle von Klee verlangen, daß er wie George Grosz tue«19. Die neue ›linke Welle‹ im Bauhaus am Ende der Republik verkannte, daß die Rechte auf die Dauer stärker bleiben sollte. Ein Problem war die geringe Mobilisierungskraft der Weimarer Koalition unter den Künstlern. Die SPD vor allem wurde bei den Radikalen im Umkreis der Dada-Bewegung zum Buhmann par excellence. Carl Einstein20 hat in der Aktion schon 1914 der Sozialdemokratie jede revolutionäre Haltung abgesprochen: »Der Sozialdemokrat, diese Reinkultur des politischen Menschen, dem alles zur öffentZitiert nach: Karl Ludwig Hofmann/Peter Riede (Hg.): Frans Masareel (1889 –1972). Zur Verwirklichung des Traums von einer freien Gesellschaft. Ausstellungskatalog (Saarland-Museum u. a.), Saarbrücken 1989, 5. 17 Vgl. Max Beckmann: Die Realität der Träume in den Bildern – Schriften und Gespräche 1911 bis 1950, München 1990, 19. 18 Oskar Schlemmer: Briefe und Tagebücher, hg. von Tut Schlemmer, Stuttgart 1977, 34. 19 Vgl. ebd., 111. 20 Carl Einstein: Werke, hg. von Rolf-Peter Baacke, Marion Schmid u. a., 3 Bde. Berlin 1980– 1985, 1, 230. 16
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lichen Angelegenheit wurde. Man evolutioniert sich von Protest zu Protest, bis bei sämtlichen Mitgliedern die Theorie gut sitzt. Ein Verein von Rationalisten wird nie revolutionieren; nur etwas mehr ordnen. Sozialdemokratie, Militär und Volksschule, wie sind sie identisch. Das Ende der sozialdemokratischen Tätigkeit wird lediglich die Überfüllung nationalökonomischer Lehrstühle sein«. Die Demokratie wurde von Einstein21 auch zu Beginn der Weimarer Republik ständig lächerlich gemacht. In Der blutige Ernst hat er 1919 erklärt: »Heutiger Demokratien Inhalt, deren Bedeutung im Erschlagen des Ursprünglichen besteht. Demokratie belastet mit Abhängigsein von allen; eine vorgestapelte Masse […] wird als bestimmende Autorität ergaunert«. Solche Sätze hätten ebenso gut von der extremen Rechten stammen können. Ein Teil der extremen Linken verschrieb sich einer revolutionären Phraseologie, ohne ernsthaftes politisches Engagement. Heinrich Vogeler22 kam zu dem Schluß: «Der Krieg hat aus mir einen Kommunisten gemacht, es war für mich nach meinen Kriegserlebnissen nicht mehr tragbar, einer Klasse von Menschen anzugehören, die Millionen Menschen in den Tod treiben aus Gründen, die lediglich in der Profitsucht einzelner ihre Wurzeln haben«. Trotz dieser Andeutung einer Gesellschaftsanalyse war seine politische Überzeugung jedoch eher anarchoid zu nennen, wie bei vielen Künstlern, die nach 1918 nach links ging. Episoden im Arbeiter- und Soldatenrat in Bremen gingen einer Kommune-Gründung in Worpswede voraus. Vogelers Bericht23 klang eher nach linker Jugendbewegung als nach Kommunismus: »In der ganzen Zeit gingen große Wanderungen über den Barkenhoff. Proletarische Jugend, freideutsche, linksradikale Jugend. Wir bauten Unterstände für viele Menschen, saßen abends am Feuer mit ihnen zusammen und diskutierten die nächsten Fragen der Jugend«. Die meisten KP-Mitglieder – was Vogeler erst 1926 wurde – waren seiner Erinnerung nach aber noch ihren anarcho-syndikalistischen Anschauungen verhaftet. Der einzige Landwirtschaftsspezialist in der Kommune, der ihm schließlich auch noch seine Frau ausspannte, neigte sogar noch zur Anthroposophie und ihrem verblasenen ›dreigeteilten Sozialismus‹. Ein anderer Künstler, der einem Soldatenrat angehörte, war Schlichter24 in Karlsruhe. 1920 wurde er mit Grosz, Herzfelde, Baader und Heartfield wegen Beleidigung der Reichswehr zu einer Geldstrafe verurteilt. 1919–29 war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Er zog – ehe er 1927 seine Wende zurück zum Konservatismus und Katholizismus unternahm – sich noch zwei Anklagen wegen Hochverrats und antimilitaristischer Agitation zu. A. a. O., II, 51. Heinrich Vogeler: Werden – Erinnerungen mit Lebenszeugnissen aus den Jahren 1923–1942, Berlin 1989, 233. 23 Ebd., 245. 24 Vgl. Rudolf Schlichter: Autobiographie, hg. von Dirk Heißerer u. a., 3 Bde., Berlin 1991– 1995, Bd. 3: Die Verteidigung des Panoptikums – Autobiographische, zeit- und kunstkritische Schriften sowie Briefe 1930–55, 344. 21 22
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Einige Künstler wie Ludwig Meidner25 verfaßten Aufrufe an ihre Kollegen. Meidners Appell »An alle Künstler, Dichter, Musiker« wurde im Kunstblatt (III, 1919) veröffentlicht. Er ging davon aus, daß nur der Arbeiter den Geist achte, der Bourgeois hingegen sei ehrfurchtslos: »Er liebt nur Spielerei und ästhetisch verbrämte Stupidität«. Als höchste sozialistische Tugend wurde die »Menschenbrüderlichkeit« gepriesen, die Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenliebe verbreite im Einklang mit »Gottes Ordnung in der Welt«. Konkret wurden die Künstler aufgefordert, in eine entschiedene Arbeiterpartei einzutreten. Sie wurde nicht genannt, aber die SPD war ganz sicher nicht gemeint. Ein Teil der anarchoiden Künstlerschaft war politisch eher unentschlossen. Selbst die meisten Dadaisten waren lange unpolitisch. Duchamp26 fand im Rückblick über seine Dada-Zeit in New York: »Mein Leben verlief sehr ruhig und keineswegs aggressiv oder aufrührerisch. Wir standen außerhalb aller sozialen und politischen Ideologien«. Immerhin blieb Duchamp27 seinen antinationalistischen und antimilitaristischen Ansichten treu und war erschüttert, daß der Patriotismus, dem er in Frankreich entflohen war, ihn in Amerika einholte, als die USA in den Krieg eintraten. Eine gewisse politische Zurückhaltung der Ausländer war in Paris wie in New York taktisch angebracht, weil man vielfach in der Furcht vor Ausweisung lebte. Max Ernst hatte Hans Arp, der in einer avantgardistischen Kunstgalerie arbeitete, noch als Dandy »mit einer Schwäche für gekünstelte Manieren« in Erinnerung. Erst 1917 ist es der Dada-Gruppe in der Schweiz gelungen, »ihn zu politischer Stellungnahme zu bewegen«28. Das politische Engagement von Dada war je nach Stadt höchst unterschiedlich. In der Schweiz waren die Künstler geduldet, mußten sich aber politisch zurückhalten. In Paris blieb die Bewegung eher eine ästhetische Revolte gegen den Kubismus, der sich nur langsam politisierte. In Berlin war der Dadaismus hingegen offen revolutionär. Es gehörten auch Kommunisten der Gruppe an.29 Meist waren die Dada-Manifeste spontan, und die Reaktionsgruppen waren kaum organisiert. In Paris wurde erst ab 1922 eine systematische Doktrin entwickelt. Sie führte jedoch zur Absonderung der Surrealisten als neuer Gruppierung. Ernst30 bekannte, ab 1922 den politischen Impetus verloren zu haben. Aber das hieß nicht, daß er konservativ geworden wäre, wie Picabia. Im Gegenteil, er fühlte sich als ›echt Libertärer‹ zum Widerstand gegen alle autoritären Bewegungen – auch die von links – aufgerufen. Ernst hat sich schon wegen seiner prekären Stellung als ›illegaler Einwanderer‹ in Paris politisch zurückgehalten. Das war bis 1930 im Surrealismus noch möglich. Vgl. Uwe M. Schneede: Die zwanziger Jahre – Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, Köln 1979, 41 ff., hier: 43. 26 Vgl. Pierre Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, 70. 27 Vgl. ebd., 86. 28 Vgl. Edouard Roditi: Dialoge über Kunst, Frankfurt/M. ²1991, 78. 29 Vgl. ebd., 80. 30 Vgl. ebd., 82. 25
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Erst in den 30er Jahren fing Breton an, Bekenntniszwang auszuüben. Nach der Einschätzung von Ernst waren die gemeinsamen Aktionen der Surrealisten nicht auf Umsturz, sondern auf Verblüffung und Skandal ausgerichtet. Trotz der Teilnahme an einigen dadaistischen Provokationen blieb der ›Dada-Max‹ immer gemäßigt. Als Ernst31 nach der Flucht in Amerika von der Polizei hochnotpeinlich verhört wurde, hat er sich die Ironie nicht verkneifen können, blieb aber gleichwohl nahe an der Wahrheit. Auf die Frage nach seinen politischen Aktivitäten antwortete er, er lese Zeitungen. Als man aus den Titeln keine Richtung entnehmen konnte, wurde vom Frager insistiert, er müsse doch eine politische Überzeugung (conviction politique) haben. Antwort: »Je suis un libéral modéré.« (»Ich bin gemäßigter Liberaler«.) Im Fragebogen über die Liebe, der in Bretons La révolution surrealiste (Nr. 12, 1929) erschien, hatte Ernst32 sich eher als libertärer Anarchist gebärdet. Um »sozial zu leben«, sah er tausend Hindernisse, »das Geld, die Polizei an der Ecke und die concierge schränken unsere moralischen Möglichkeiten ein«. Die Liebe – nach der nicht ohne inquisitorischen Hintersinn gefragt wurde – schien ihm das bedauernswerteste Opfer dieser Art von Einschränkungen. Das politische Engagement der Dadaisten in Deutschland war radikaler. In Manifesten wurde erklärt, daß der Dadaismus auf Seiten des revolutionären Proletariats stehe. Für die Parteien, die dieses Proletariat zu vertreten glaubten, war diese Botschaft jedoch nicht glaubhaft, weder bei der USPD noch bei der KPD. Huelsenbeck hatte sich vom Zürcher Dada getrennt und war nach Berlin zurückgekehrt, weil er den dortigen politischen Quietismus ablehnte, der sich auf eine rein künstlerische Revolution beschränkte. Daher war ihm auch ein eigenbrötlerischer Künstler wie Schwitters verdächtig und wurde nicht in den Dada-Club aufgenommen.33 Bei Schwitters setzte sich die Politikfremdheit schließlich in noch abgehobeneren politischen Klamauk um als bei den Dadaisten. Schwitters34 proklamierte die Merz-Partei und erklärte sich zum ›Merz-Präsidenten‹. Die gleichen Dadaisten, die die linke Spaßgesellschaft ausgerufen hatten, fanden diese Haltung jedoch nun zu abgehoben. In einem Pamphlet über Die Gesetze der Malerei von 1920 behaupteten Grosz, Hausmann, Heartfield und Schlichter: »Wir führen den historischen Materialismus in die Malerei ein«. Dieser Materialismus war reichlich vordergründig gedacht: »Die Malerei ist Verbildlichung des materiellen Raumes durch die Beziehung der Körper […]. Die materialistische Malerei basiert auf der Plasticität und Festigkeit der Wahrnehmung und nicht auf der Unentschiedenheit der subjektiven Impressionen
31 Vgl. Max Ernst: Écritures, avec cent vingt illustrations extraites de l’œuvre de l’auteur, Paris 1970, 68. 32 Ebd., 173: »Pour vivre socialement, des milliers d’obstacles (tels que l’argent, le flic du coin, la concierge etc.) restreignent continuellement nos possibilités morales«. 33 Vgl. John Elderfield: Kurt Schwitters, Düsseldorf 1987, 39. 34 Vgl. ebd., 68 f.
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oder seelischen Exkurse«.35 Bis auf die letzten zwei Worte hätten auch alle nichtsozialistischen deutschen Expressionisten einen solchen Satz unterschreiben können. Weniger akzeptabel waren jedoch die Exkurse der vier Künstler in die Kunstgeschichte. Mit Michelangelo habe die »individualistische Sauerei«36 begonnen. Abgelehnt wurde der Expressionismus, den Grosz und Schlichter kaum überwunden hatten. Seltsamer Weise wurde die Malerei positiv erst in einem Bogen von Ingres zu de Chirico gesehen – nicht gerade materialistische Vorbilder, sondern eher die Vorbilder des avantgardistischen Neo-Klassizismus und Picassos nach seiner Abkehr vom Kubismus. Bedenklich am politischen Engagement war die Verunglimpfung der Weimarer Republik. Der Dadaismus war damit genauso wenig zimperlich wie die extreme Rechte. In Hausmanns Aufsatz Vom neuen, freien deutschen Reich (1920) wurde selbst der »Arbeiterrat für Kunst« und sogar der Bolschewismus als ›passé‹ verhöhnt.37 Alle Dadaisten hatten das Manifest gegen die Weimarische Lebensauffassung unterschrieben und die Nationalversammlung als Inszenierung eines »von allen Musen umtanzten Staatsbankrotts« attackiert.38 George Grosz39 erinnerte sich rückblickend an eine »Orgie der Verhetzung, und die Republik war schwach, kaum wahrnehmbar«. Das klang so vorwurfsvoll, als habe er an dieser Verhetzung nicht mit spitzer Feder mitgewirkt. Selbst Gropius, der als Chef des Bauhauses später durchaus regime-immanent und loyal wirkte, hat 1919 auf eine Umfrage des Arbeiterrates für Kunst noch Kunst und Politik für unvereinbar angesehen: »Kunst und Staat sind unvereinbare Begriffe. Sie bekämpfen sich aus ihrer Natur heraus.«40 Die Ablehnung der Weimarer Demokratie bei den Künstlern konnte von links wie von rechts her motiviert sein. Nur gelegentlich wurden beide Haltungen konsekutiv eingenommen wie bei Rudolf Schlichter41. Typisch war seine Feststellung: »Dem Ausgang von Reichstags- und Landtagswahlen sah ich mit völliger Interesselosigkeit entgegen. Zudem erschien mir eine Forderung wie die des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts sinnlos […] vollends irrsinnig erschien mir der Glaube an die staatsbürgerliche Vernunft und Einsicht der Wählermassen und völlig krankhaft die deVgl. Hannah Höch: Eine Lebenscollage Bd. 1, 1. Abt. (1889 –1918), 2. Abt. (1919 –1920), hg. von der Berlinischen Galerie, bearb. von Cornelia Thater-Schulz, Berlin 1989, I, 2, 696 f. Das Arbeitspapier von 1920 wurde erstmals mit den Höch-Papieren publiziert und ist in der Grosz-Literatur lange nicht berücksichtigt worden. Vgl. Roland März: Republikanische Automaten, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.): George Grosz, Berlin, New York, Düsseldorf 1995, 155, Anm. 2. 36 Ebd. 37 Vgl. Höch: Eine Lebenscollage [Anm. 35], I, 2, 731–734, bes. 734. 38 Vgl. a. a. O. [Anm. 35], I, 2, 528. 39 George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein – Sein Leben von ihm selbst erzählt, Hamburg 1955, 143. 40 Vgl. Charles Harrison / Paul Wood (Hg.): Art in Theory 1900–1990 – An Anthology of Changing Ideas, Oxford 1992, 1993. deutsch: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, 2 Bde. durchgezählt (ergänzt von Sebastian Zeidler), Stuttgart 1998, 317. 41 Rudolf Schlichter: Autobiographie [Anm. 24], Bd.2: Tönerne Füße (1933), Berlin 1992, 266. 35
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mokratische Doktrin, die mit der Wahnsinnshypothese ›Mensch gleich Mensch und darum Stimme gleich Stimme‹ der Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Vernunft zu dienen glaubte«. Nach Aufgabe der linken Opposition gegen die Demokratie um 1927 glitt er bruchlos in den Antidemokratismus der Konservativen Revolution.
III. Mobilisierung für die Demokratie Nur wenige Künstler setzten sich für die Weimarer Republik ein wie Pechstein. Die »soziale Republik« und die SPD galten ihm als verteidigenswert. Auch bei ihm gab es noch religiöse Hinweise auf die schaffende Phantasie, die »uns Gott im Schaffen näher« bringt. Ein positives Engagement für die Republik gab es in der Novembergruppe, die am 3. Dezember 1918 in Berlin gegründet wurde. Hier wurden »Expressionisten, Kubisten und Futuristen« zum Zusammenschluß aufgerufen – mit allen Künstlern, »welche die alten Formen in der Kunst zerbrochen haben«. Die Traditionalisten hingegen schienen ausgeschlossen – auch wenn sie die Republik akzeptierten. Aber gerade sie hätten nationale Schlenker unterschreiben können wie den pathetischen Satz: »Unsere fleckenlose Liebe gehört dem jungen freien Deutschland«.42 Die Novembergruppe zielte nicht auf exit – wie die Dadaisten – sondern auf voice, auf Anteilnahme und Partizipation an der Neugestaltung der Gesellschaft und vor allem der Kunstszene. Es wurde die Baukunst zu einer öffentlichen Angelegenheit erklärt. Die Gruppe verlangte Mitwirkung an der Umgestaltung der Kunstschulen, der Museen und der Kunstgesetzgebung.43 Die Dadaisten haben anfangs in diesem breiten Frontbündnis mitgewirkt. Hausmann verließ die Novembergruppe bald, Hannah Höch blieb ihr hingegen treu. Sie fand hier kollegialen Halt und fühlte, daß Frauen ernst genommen wurden, obwohl die ›Gleichberechtigungsrhetorik‹ weniger radikal war als im Dadaismus.44 Da die Novembergruppe eine große heterogene Gemeinschaft war, die sich bewußt den Pluralismus auf die Fahnen schrieb, wurden die Grabenkämpfe meist unterschwellig ausgetragen. Nicht wenige Künstler haben von dem neuen Gruppengeist profitiert wie der Immigrant Arthur Segal, der es angesichts der einheimischen Konkurrenz schwer hatte. Er schrieb 1931 an Hannah Höch45, daß er es der Novembergruppe zu verdanken habe, daß er sich als Künstler durchsetzen konnte. Aber er monierte, daß man ihn in der Ausstellungspolitik ständig zu benachteiligen versuchte. Er fühlte sich ausgenutzt, weil man ihn andererseits wegen seines ausgleiVgl. Uwe M. Schneede: Die zwanziger Jahre [Anm.25], 45, 92–95. Vgl. Hannah Höch: Eine Lebenscollage Bd.2, (1921–1945) 1. Abt. mit Texten von Eberhard Roters und Heinz Ohff, 2. Abt. Dokumente, bearb. von Ralf Burmeister und Eckhard Fürlus, hg. vom Künstlerarchiv der Berlinischen Galerie […], Ostfildern-Ruit 1995, 75 f. 44 Vgl. ebd., 85. 45 Vgl. Höch: Lebenscollage [Anm. 43], II, 2, 415. 42 43
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chenden Wesens gern benutzte: »Sonst war ich der Gruppe insofern angenehm, als dass ich für die Schwachen gegen die sich stark Vorkommenden eintrat und verhinderte, dass viele rausgeschmissen wurden.« Die Novembergruppe hat rasch von ihrem politischen Engagement Abstand genommen und wurde eine Vereinigung zur Förderung künstlerischer Standesinteressen. Dagegen war nichts einzuwenden. Aber es zeigte sich bald, daß politisches Engagement selbst unter Linken eher anrüchig wurde. Allzu direkt sichtbares politisches Engagement eines Künstlers wurde selbst von linken Kollegen eher mißbilligt. Griebel46, Mitglied der KPD, der sich als »Mann der Straße« noch in seinen Memoiren apostrophierte, referierte die Meinung seines Kollegen Dix: »Du mit deiner Scheiß-Politik. Setz’ dich lieber auf den Arsch und male«. Griebel folgte dem Rat nicht. Nicht gering war sein Stolz, daß es ihm gelang, einige Anarchisten in schwarzen Samtanzügen zu bekehren.47 Bei soviel Agitation konnte es nicht ausbleiben, daß der Künstler von der Parteilinie oder vom Geschmack der Massen abwich, die er gewinnen sollte. Griebel48 ist mit seinem Standardvortrag Kunst und Kitsch oft kläglich gescheitert, weil die ›Werktätigen‹ sich ihren Kitschgeschmack nicht von einem intellektuellen Agitator ›vermiesen‹ lassen wollten. Felixmüller, der 1920 in die Kommunistische Partei eingetreten war, hat selbst sich bald stark enttäuscht gezeigt: »Schließlich endete die Sache literarisch, wurde zu schöner Geste, die leer blieb, wurde Snob«49. Rudolf Schlichter50 – KP-Mitglied 1919 –1927 – vollzog seine Wende zum Konservatismus schon 1927. Heartfield, Grosz, Herzfelde und Piscator waren der KPD beigetreten, ordneten sich jedoch der Partei nicht in allen Fragen unter.51 Heartfield hat später in der DDR versucht, eine kontinuierliche Parteimitgliedschaft nachzuweisen. Sein erster Antrag auf Aufnahme in die Partei wurde abgelehnt. Linke Künstler wie Dix verstanden den Aktivismus ihrer kommunistischen Freunde kaum, noch allergischer reagierten die unpolitischen Künstler. Sonia Delaunay52 hat sich stark darüber erregt, daß nullités wie Fougeron angeblich Druck auf einzelne Künstler wie Buffet auszuüben begannen und den Kollegen mit kommunistischer Propaganda zusetzten.
46 Otto Griebel: Ich war ein Mann der Strasse – Lebenserinnerungen eines Dresdner Malers, hg. von M. Griebel u. H.-P. Lühr, H-P., Halle 1986. 81, 102. 47 Vgl. ebd., 285. 48 Vgl. ebd., 292. 49 Höch: Lebenscollage [Anm. 35], I, 1, 294. 50 Vgl. Rudolf Schlichter: Autobiographie, Bd. 3 [Anm. 24], 421. 51 Vgl. Hanne Bergius: Das Lachen Dadas – Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen, 1989, 17. 52 Vgl. Sonia Delaunay: Nous irons jusqu´au soleil, Paris 1978, 164.
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IV. Der Rechtsruck am Ende der Weimarer Republik Griebel und Fougeron waren Beispiele für die politisch ›Unentwegten‹. Andere, profiliertere Künstler haben hingegen eine Wende durchgemacht. Grosz suchte räumlichen Abstand zum politischen Engagement und malte in Südfrankreich Landschaften. Auch sein Freund Rudolf Schlichter vollzog seine Umkehr, blieb aber in Berlin. Er kehrte zur katholischen Kirche zurück und löste sich von alten Freunden. Politisch stieß er zur Konservativen Revolution. Einen ihrer profiliertesten Schriftsteller malte er, nämlich Ernst Jünger. In der Schrift Zwischenwelt versuchte er auf verfremdet-sublimierte Weise die Wende zu literarisieren. Seine Krise erklärte er auf Grund des Triebchaos der sexuellen Obsessionen und der Verlorenheit an linke Ideologien. In Zwischenwelt 53 hieß es in einer apokryphen Huldigung an seine Frau »Speedy«, daß er in seinem verblendeten Wahn den Zugang zu seinem besseren Selbst verbarrikadiert« habe und sie damit gezwungen hatte, um sich vor einem ihren gesamten seelischen Bestand gefährdenden Nihilismus zu retten. Eine neue Welle der Politisierung erfaßte die Kunst am Ende der Weimarer Republik. Es gab ab Mitte der 20er Jahre keine Künstlergruppen mehr, die – wie die Surrealisten in Frankreich unter Breton in den 30er Jahren – politisches Engagement einforderten. Die bestehenden Künstlergemeinschaften wie das Bauhaus litten als pluralistische Einrichtung besonders unter dem Politisierungsdruck. Kandinsky verteidigte sich gegen die Behauptung, alle Bauhäusler seien Kommunisten. Als Russe stand er eo ipso unter Verdacht. Kandinsky schrieb an Will Grohmann schon 1924: »Ich habe gar kein Interesse für Politik, bin vollkommen unpolitisch und habe mich nie politisch betätigt (lese nie Zeitungen)«54. Das war sicher zutreffend, was das aktuelle politische Engagement betraf. Aber Analytiker haben aus seinen Schriften und seiner Kunst gleichwohl auf eine latente anarchoide politische Auffassung geschlossen, da er Thomas von Hartmanns Vorstellung über eine ›natürliche Anarchie‹ in seinen Schriften folgte.55 Mit einer gleichsam tiefenpsychologischen Textinterpretation ließ sich freilich so ziemlich die ganze Avantgarde als anarchistisch einstufen. Künstler, die nicht vordergründig politisch organisiert waren, haben wie Moholy-Nagy56 nach dem Rücktritt vom Bauhaus sich in gesellschaftskritischen Bühnenbildern engagiert und wurden damit in politische Tumulte involviert. Sozialisten und Nationalisten gingen aufeinander mit Fäusten los und verbündeten sich nur gemeinsam gegen die »Dekadenz und technologische Manie« seines Bühnenbilds. 53
Vgl. Rudolf Schlichter: Zwischenwelt – Ein Intermezzo (1931), Repr. Berlin (Hentrich) 1994,
97. Vgl. Nina Kandinsky: Kandinsky und ich, München 1976, 100. Vgl. Hubert van den Berg: Avantgarde und Anarchismus – Dada in Zürich und Berlin, Heidelberg 1999, 287 ff., 467. 56 Vgl. Sibyl Moholy-Nagy: Lázló Moholy-Nagy – Ein Totalexperiment, Mainz 1972, 56. 54 55
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Unter dem Einfluß seines Freundes Schwitters wandte er sich politischen Collagen und Fotomontagen zu, die sich gegen Nationalismus und autoritäre Tendenzen richteten. Das Ende war eine beispiellose Emigration der Avantgarde. Ein Teil endete im Eskapismus (wie Dix), aber nur wenige kollaborierten vorübergehend mit dem Nationalsozialismus wie Nolde oder Radziwill.
Böse Menschen haben keine Lieder Kann Musik zur Demokratie erziehen? Von Marie-Luise Raters
Einer treffenden Rekonstruktion zufolge »verbindet« Friedrich Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) »mit dem Gedanken der ästhetischen Erziehung« nicht allein »die Kultivierung der Affekte und des Geschmacks«, sondern auch »die Hoffnung auf die Verwirklichung« von »politischer Freiheit«1. Diese Abhandlung widmet sich der Frage, ob sich ein solches Bildungspotential auch für die Musik behaupten läßt. Birgt auch die Musik ein Potential, ihre Rezipienten vom demokratischen Ideal der Freiheit zu überzeugen und sie vielleicht sogar in die Lage zu versetzen, mit den Möglichkeiten der Freiheit verantwortlich umzugehen? Auf den ersten Blick scheint diese Frage abwegig zu sein. Musik dient der Entspannung oder (falls sie anspruchsvoll wird) dem Ausdruck großer Gefühle. Mit Politik hat Musik hingegen nur in Form von Marschmusik etwas zu tun, wenn sie Hinz und Kunz im montonen Gleichschritt einer Parade vorbeidefilieren läßt. Das ist jedoch definitiv keine Übung in Sachen ›demokratischer Freiheit‹. So in etwa lautet die gängige Meinung zum Verhältnis von Musik und Demokratie. Dann aber behauptet der Initiator der Berliner LoveParade, Dr. Motte, beispielsweise, das Techno-Spektakel einzig aus einem Glauben an ein demokratie-pädagogisches Potential der Musik heraus initiiert zu haben. Die Parade sei unter dem Motto Friede-Freude-Eierkuchen als politische Demonstration angemeldet worden, weil sie für den Frieden in der Welt, für die Freude an unserer Demokratie und (unter dem Stichwort ›Eierkuchen‹) gegen den Hunger in der Welt ein deutliches Zeichen setzen sollte. Ein Scherz? Wohl kaum! In dasselbe Horn stößt kein Geringerer als Bundesinnenminister Schily, wenn er angesichts des Amoklaufs eines Schülers im Erfurter Gutenberg-Gymnasium die Ansicht äußert, daß »die innere Sicherheit« gefährdet würde, wenn zu viele »Musikschulen« geschlossen werden.2 Wie ist es also tatsächlich um das demokratie-pädagogische Potential von Musik bestellt?
1 Vgl. Ursula Franke: Bildung / Erziehung, ästhetische, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Bd. 1 Stuttgart 2000, 696–728, hier 696. 2 Zitiert nach Gerhard Koch: Wonne und Wirklichkeit der Musik, Leitartikel der FAZ vom 22.6. 2002.
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I. Musik mit Texten zur Demokratie Relativ einfach läßt sich diese Frage wohl in denjenigen Fällen entscheiden, in denen die Musik dezidiert als Begleitung eines politisch einschlägigen Textes auftritt. In Kombination mit einem politisch deutlichen Text hat Musik nämlich zweifelsohne ein großes suggestives3 Potential, das sich zu demokratie-pädagogischen Zwecken gut einsetzen läßt. Das prominenteste Beispiel der Musikgeschichte ist vermutlich Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro. Das Libretto geht auf Beaumarchais’ Lustspiel Le mariage de Figaro ou la folle journée zurück. Die Geschichte ist bekannt: Es geht um die Fallen, welche die kluge Kammerfrau Suzanna ihrem adeligen Dienstherrn stellt, damit dieser das ›Jus primae noctis‹ nicht einlöst. Das Stück wurde von Mozart bezeichnenderweise mit dem Hintergedanken in Musik gesetzt, daß das Aufführungsverbot der Wiener Zensurbehörde für das Stück aller Voraussicht nach aufgehoben werden würde, sobald es als Oper daherkommt. Diese Rechnung ging auf: Die Arien wurden Gassenhauer, und die Oper schaffte es trotz ihrer dezidiert antifeudalistischen Botschaft sogar, den Monarchen Kaiser Joseph II. für sich einzunehmen. Heute spielen Musikwerke, die sich der Vermittlung von politischen Inhalten und Botschaften verschrieben haben, vermutlich eine noch sehr viel größere Rolle in den Prozessen der kollektiven Weltanschauungs- und Wertebildungen. Eine exponierte Rolle kommt sicherlich der Rockmusik zu, die allerdings ambivalent zu beurteilen ist. So liegt es auf der Hand, daß die leider blühende Szene von Rockmusik zu rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Texten dem Anliegen einer Erziehung zur Demokratie massiv entgegenwirkt. Glücklicherweise werden solche Mißklänge jedoch deutlich übertönt von Künstlern wie Marius MüllerWesternhagen, Ina Deter, Udo Lindenberg, Heinz Rudolph Kunze, ›Die Prinzen‹ oder Hannes Wader beispielsweise, die sich mit ihren Texten immer wieder ausdrücklich zu Freiheit und Menschenwürde als den beiden zentralen Grundwerten unserer Demokratie bekennen. Viele ihrer Songs eignen sich wegen der hohen musikalischen Qualität und der poetischen Eindringlichkeit und Deutlichkeit, mit der sie ihre demokratischen Botschaften verkünden, unzweifelhaft sogar in besonderem Maße für das Projekt der Erziehung zur Demokratie. Insbesondere mit kritischen Songs zu demokratie-gefährdenden Einstellungen oder Ereignissen erreichen diese Musiker nicht nur in ihrer mittlerweile schon in die Jahre gekommenen eigenen Generation eine enorme Breitenwirkung. Bevorzugte Themen sind deutschtümelnder Rechtsradikalismus, gedankenloses Konsumverhalten, entwürdigende Geschlechterbeziehungen, der Frieden zwischen den Völkern – also 3 Von diesem Potential wußte übrigens schon Platon. In seiner Politeia verbannt er bekanntlich die klagenden und jammernden myxolydischen und syntolydischen Tonarten einerseits und die schlaffen, weichlichen, trunkenen jonischen und lydischen Tonarten andererseits aus der Wächtererziehung mit dem Argument, daß alle vier Tonarten »unbrauchbar selbst für Frauen« seien, »wenn sie tüchtig sein sollen, erst recht also für Männer«. Vgl. Platon: Politeia, 398c–e.
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genau die Themen, die im Rahmen einer Erziehung zu Demokratie und Freiheit im Zentrum stehen sollten. Hannes Wader komponiert einen Sprechgesang für die 20 ermordeten jüdischen »Kinder vom Bullenhuser Damm«, der nachhaltig unter die Haut geht. Heinz Rudolph Kunzes Songphrase »Die kommen immer wieder. Die sind alle noch da« legt dieselbe anti-deutschtümelnde Platte auf. Das gilt auch für ›Die Prinzen‹, die zynisch ein Deutschland besingen, das keiner wollen kann. Viele Teenager unserer Zeit verwechseln die Schönheitsvorgaben der Medien mit einem in Freiheit gewählten Lebensentwurf und reagieren mit Magersucht. Marius Müller-Westernhagen reagiert mit den ästhetischen Mitteln der Karikatur. »Ich bin froh, daß ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ’ne Quälerei. Ich bin froh, daß ich so’n dürrer Hering bin, denn dünn bedeutet frei zu sein«, krakeelt er mit befreiender Selbstdistanz ins Mikrophon. Ina Deters Frauen kommen »langsam, aber gewaltig«. Und schließlich gibt es noch die lustige, verballhornende Musik zu Texten über führende Protagonisten unserer Demokratie. Schon vor Jahrzehnten wollte Udo Lindenberg im »Sonderzug nach Pankow« fahren, um seine Songs im »Republikpalast« vor Erich Honecker »zum Vortrag« zu bringen. Heute konkurriert ein Video-Clip über des Kanzlers Bierkonsum mit einem Steuersong um die Gunst der jungen Hörer. Allein die Tatsache, daß es solche Songs gibt, sagt viel (Erfreuliches!) über unsere Demokratie und ihre freiheitlichen Grundwerte. Bei den genannten Beispielen handelt es sich allerdings sämtlich um Musik, die eine verbal formulierte Botschaft unterstützt, verdeutlicht, intensiviert. Sowohl Mozarts Oper als auch die Songs der Rockmusik können auf das Element des Textes nicht verzichten, wenn sie demokratie-pädadogisch wirken wollen.Wie aber sieht es im Falle von eigenständiger Musik aus, die auf sprachliche Elemente ganz verzichtet oder zumindest weitgehend autonom und unabhängig gegenüber ihren sprachlichen Elementen bleibt? Schließlich ist es fraglich, ob Musikstücke ohne offensichtlichen Textbezug überhaupt Botschaften in die Welt senden können. Der amerikanische Pragmatist John Dewey spricht in seiner Ästhetik Art as Experience aus dem Jahr 1934 sogar von einer spezifischen »Ideologieresistenz« der Musik. Gemeint ist, daß sich die Musik im Gegensatz zu allen anderen Künsten und insbesondere zur Literatur und Architektur nicht zur Übermittlung von Botschaften, gleich welcher Art, und damit auch nicht zu demokratie-pädagogischen Zwecken eigne. Dieses Diktum fällt im Kontext von Deweys Ästhetik auf, weil Dewey in der Kunst durchaus »eine Manifestation, eine Aufzeichnung und Feier des Lebens einer Kultur« sieht, ein »Mittel, um ihre Entwicklung voranzutreiben« und sogar »das letze Urteil über die Qualität einer Zivilisation«4. Einzig die Musik nimmt er aus, mit dem Argument, daß sie keinen Text habe und insofern nicht auf den Intellekt, sondern lediglich auf 4 John Dewey: Art as Experience, (1934). (Auch als: Kunst als Erfahrung, übers. von Christa Velten, Gerhard vom Hofe, Dieter Sulzer, Frankfurt/M. 1980.), in: John Dewey – The Later Works 10, hg. von Jo Ann Boydston, Carbondale / Edwardsville 1987, 329, 275, 241–244. (Die zitierten Passagen sind übersetzt von der Verfasserin.)
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die Emotionen und das Gemüt wirken könne. Jede rein emotionale Einflußnahme ist in Deweys Augen jedoch keine Erziehung, sondern Demagogie und Manipulation. Mit Dewey müßte man demnach zu dem Schluß kommen, daß sich die Songs der Rockmusiker nur wegen ihrer Texte als Mittel der Erziehung zur Demokratie eignen, hingegen man auf die musikalischen Anteile der Songs besser verzichten solle, weil Musik generell den Intellekt nicht fordert und nicht zum Nachdenken anregt, was laut Dewey wiederum dem Demagogismus Tor und Tür öffnet. Deweys Position ist zunächst einmal nachvollziehbar. Vom demagogisch-verdummenden Potential der Musik in Form von Marschmusik war schließlich schon die Rede. Und auch sonst wimmelt es gerade in der jüngeren deutschen Geschichte von demagogisch mißbrauchter Musik. Das prominenteste Beispiel ist vermutlich Lilly Marlen, die allabendlich sehnsüchtig unter der Laterne schmachten mußte, um die Frontsoldaten bei der Stange bzw. an der Waffe zu halten. Wie redlich ist es nun aber, im Zuge einer pars-pro-toto-Argumentation ausgerechnet den Schlager und die Marschmusik heranzuziehen, um der Musik generell ein demokratie-pädagogisches Potential zugunsten der Texte abzusprechen? Schließlich bilden Schlager und Marschmusik nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was die Musik zu bieten hat. Wie sieht es beispielsweise mit der intellektuell äußerst anspruchsvollen Musik der sogenannten Schönberg-Schule aus, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien und Berlin entstand, und die auch nach Schönbergs erzwungener Emigration in die USA im Jahr 1933 kaum an kreativer Lebendigkeit einbüßte? Diese streng durchkonstruierte Musik wird sicherlich niemand auf reinen Gefühlsausdruck reduzieren. Ist diese Musik wegen der intellektuellen Anforderungen, die sie an die Hörer zweifelsohne stellt, die Ausnahme von Deweys Regel zum mangelnden demokratie-pädagogischen Potential der Musik? Mit Thomas Mann und Bernard Bosanquet5 kommen zwei prominente Kunstphilosophen des 20. Jahrhunderts in dieser Frage zu gänzlich entgegengesetzen Auffassungen.
II. Thomas Manns Schreckensvision einer Demokratie der Töne Im 22. Kapitel seines Romans Doktor Faustus behandelt Thomas Mann das Thema Freiheit auf vier verschiedenen, kühn ineinander verwobenen Ebenen6. Den Einstieg des Kapitels bildet ein Gespräch der beiden Protagonisten über die
Zur Biographie des namhaften angelsächsischen Moralphilosophen und Ästhetikers Bernard Bosanquet (1848–1923) vgl. Claudia Moser: Die Erkenntnis- und Realitätsproblematik bei Francis Herbert Bradley und Bernard Bosanquet, Würzburg 1989, 32–36. Dort wird hingewiesen auf Helen Bosanquet: Bernard Bosanquet – A Short Account of His Life, London 1924. 6 Vgl. zu den sich überlagernden Schichten von Thomas Manns Werk generell und insbesondere zu seiner politischen Philosophie auch Reinhard Mehring: Thomas Mann – Künstler und Philosoph, München 2001. 5
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Institution der Ehe.7 Der Humanist Dr. Serenus Zeitblohm und sein Freund, der dämonische Musiker Adrian Leverkühn, diskutieren, ob die Ehe als eine Institution zur freiwilligen Zügelung der sinnlichen Begierde zu betrachten ist. »Das Gespräch ruhte eine Weile«, um dann zur zweiten Ebene, nämlich zur Frage nach der Freiheit als Bedingung für die künstlerische Produktivität überzugehen. »Die Freiheit neigt immer zum dialektischen Umschlag«, so doziert Leverkühn, weil sie sich »sehr bald in der Gebundenheit« erkenne und sich dann »in der Unterordnung unter Gesetz, Regel, Zwang, System« erfülle, womit sie freilich laut Leverkühn längst nicht aufhört, »Freiheit zu sein«. Zeitblohm widerspricht lachend: »Aber in Wirklichkeit ist sie doch dann nicht Freiheit mehr, sowenig wie die aus der Revolution geborene Diktatur noch Freiheit ist«. Damit ist die politische Freiheit angesprochen und die dritte Gesprächsebene erreicht. Was hier im Bereich des Politischen nicht der Fall ist, gilt in der Musik nun ganz sicherlich überhaupt nicht, entgegnet Leverkühn geheimnisvoll, um das Thema Freiheit schließlich im vierten Kontext anzusprechen. Zur Demonstration skizziert er seine Idee von der Befreiung des musikalischen Materials durch das Prinzip völliger Gleichbehandlung im Detail. Die traditionelle Musik bezeichnet Leverkühn als einen »Wildwuchs«, mit dem Argument, daß sich ihre »verschiedenen Elemente« wie »Melodik, Harmonik, Kontrapunkt, Form und Instrumentation« nach dem Prinzip ›einer gegen alle‹ »historisch planlos« in einem anarchistischen Kampf um die Vorherrschaft entwickelt hätten.8 Ihren Höhepunkt habe dieser Kampf um Macht in der Musik der Romantik gehabt. Hier sei es zu »anachronistischen Mißverhältnissen« gekommen, weil sich »Instrumentalklang und Harmonie« durch Verschmelzung so wirkmächtig miteinander verbündet hätten, daß sie die »Melodik« zur bloßen »Funktion der Harmonik« degradieren konnten. Mit solchen Hierarchien soll Leverkühns eigene Musik künftig gründlich aufräumen zugunsten einer ›Demokratie der Töne‹. Seine Vision ist ein Musikstil, in dem »alle Dimensionen gleich« entwickelt und »alle so auseinander hervor« gebracht wären, daß sie schließlich zu einem einzigen organischen Ganzen »konvergieren«. Es soll keine dienenden und keine untergeordneten Momente in seiner Musik mehr geben. Das versteht der Komponist Leverkühn unter einer ›Demokratie der Töne‹ bzw. unter einer sozusagen ›demokratischen Musik‹. »Siehst Du einen Weg Die Rahmenhandlung des Kapitels ist eine Hochzeitsfeier. Das Kapitel beginnt wie folgt: »Als Leverkühn im September 1910, zu der Zeit also, da ich bereits am Gymnasium von Kaisersaschern zu unterrichten begonnen hatte, Leipzig verließ, wandte er sich zunächst ebenfalls der Heimat zu, nach Buchel, um an seiner Schwester Hochzeit teilzunehmen.« Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfurt/M. 1990, 249. 8 Dahinter steht nicht zuletzt die Vision vom Naturzustand, wie sie Thomas Hobbes im Leviathan entwickelt hat. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan, ore the Matter, Form, and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall, and Civill, London 1651. Vor allem aber Friedrich Nietzsche hat Thomas Manns politisches Denken sehr beeinflußt. Vgl. zur Faszination, die Nietzsche auf Thomas Mann ausgeübt hat, Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt/M. 1984, 11, 16, 25 f., 72 f., 124 f., 131 f., 153–161. Vgl. auch Klaus Schröter: Thomas Mann. Hamburg 1964, 40 f., 60 f., 83 f. 7
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dazu?« fragt der Icherzähler des Romans, der humanistische Gymnasiallehrer Dr. phil. Serenus Zeitblom. Auf diese Frage hin entwickelt Leverkühn eine Kompositionsmethode, in deren Zentrum die Idee steht, daß sich »jeder Ton der gesamten Komposition, melodisch und harmonisch«, über »seine Beziehung« zu einer »vorbestimmten Grundreihe auszuweisen« habe. »Keiner dürfte wiederkehren, ehe alle anderen erschienen sind. Keiner dürfte auftreten, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte.« Würde das nicht »unvermeidlich eine arge Verdürftigung und Stagnation der Musik erzeugen«? fragt sein Jugendfreund skeptisch nach. »Wahrscheinlich« antwortet der Künstler, übrigens »mit einem Lächeln, das anzeigte, daß er auf das Bedenken vorbereitet gewesen war«. Zwar bieten die »kontrapunktischen Praktiken« durchaus einige »Techniken der Variation« wie »Umkehrungsfugen, Krebse, und Umkehrungen des Krebses«. Letztlich aber muß Leverkühn einräumen, daß das Anhören dieser Musik ein ganz spezielles Hören wäre: »Ordnung« könne man hören, und allein das gewähre dem Rezipienten »eine ungekannte ästhetische Genugtuung«. Aber das ist noch nicht alles. Nein, Leverkühns musiktheoretische Ausführungen gipfeln in einer Behauptung, die man auf gar keinen Fall überlesen sollte. Sie münden nämlich in die These, daß es bei einer strikten Durchführung einer demokratischen Kompositionsmethode letztlich keine einzige »freie Note«9 mehr gäbe! Diese Behauptung enthält die eigentliche Pointe von Leverkühns scheinbar so unpolitischem musiktheoretischen Exkurs: Das Resultat einer am Vorbild der Demokratie orientierten Methode des Komponierens wäre laut Leverkühn die völlige Unfreiheit jedes einzelnen musikalischen Elements. Auf der Oberflächenebene thematisiert Thomas Mann also erstens die Rahmenbedingungen der künstlerischen Freiheit und zweitens die Freiheit des Junggesellen vor der Eheschließung. Beide Themen sind hier nicht von Interesse. Auf einer weiteren Ebene sind diese Passagen dann jedoch als Kommentar zur Kompositionsmethode der Zwölftontechnik zu lesen, die der Wiener Komponist Arnold Schönberg10 etwa ab 1918 entwickelt hatte. Seine Kenntnisse dieser Kompositionsmethode verdankt Thomas Mann dem Philosophen Theodor W. Adorno11, der, wie Mann: Faustus [Anm. 7], 249–262. – Zuerst in Stockholm erschienen, wurde der Roman, in ersten Notizen bereits ab 1904 in Manns Skizzenbüchern angelegt, erst im amerikanischen Exil ab Frühjahr 1943 niedergeschrieben. 10 Arnold Schönberg; geb. 13.9.1874 in Wien; gest. 13.7.1951 Los Angeles. Aus seinem Werk sind hervorzuheben Verklärte Nacht (Streichsextett op. 4 von 1899); Pelleas und Melisande (Sinfonische Dichtung op.5 von 1903); die Gurrelieder (für Soli, Chor und Orchester, 1910–1911), oder das Monodram Erwartung (op. 17, 1909). Berühmt wurde Schönberg allerdings weniger durch seine Werke, denn als Schöpfer der sogenannten Zwölftontechnik und vor allem als Lehrer. Schönberg war der überaus verehrte Lehrer von Anton von Webern, Alban Berg und Hans Eisler in Wien. Ab 1925 unterrichtete er an der Berliner Akademie der Künste eine Meisterklasse im Fach Komposition. Nach seiner Flucht vor den Nazis war er in Los Angeles wieder als erfolgreicher Kompositionslehrer tätig. 11 Adorno war Kompositionsschüler von Alban Berg, der wiederum der berühmteste und 9
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Thomas Mann selbst in der 1948 niedergeschriebenen Entstehung des Doktor Faustus berichtet, seit 1941 »fast nachbarlich« zur Familie Mann »in Los Angeles« wohnte12. Adorno beriet13 Thomas Mann während der Abfassung seines Romans ausführlich.14 Auch die letzte (und eigentliche!) Bedeutungsdimension der skizzierten musiktheoretischen Reflexionen ist zweifelsohne auf Adornos Einfluß zurückzuführen. Leverkühns Abhandlung geht fließend in Ausführungen über einen dialektischen Umschlag von Freiheit in völlige Unfreiheit in der Gesellschaftsform der Demokratie über. Im selben Jahr 1947 wie der Doktor Faustus ist Adornos und Horkheimers berühmte Schrift zur Dialektik der Aufklärung erstmalig erschienen. Dieser Schrift zufolge muß zwangsläufig »der Fortschritt in Rückschritt«, die »Aufklärung« in »Mythologie« und die »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt« in die »Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen«15 umschlagen. Thomas Manns Ausführungen vom Umschlag von Freiheit in völlige Unfreiheit sind offensichtlich zwar nicht inhaltlich, aber doch in ihrer dialektischen Struktur von dieser Schrift beeinflußt. Was besagen die Passagen jedoch für die Frage nach dem demokratie-pädadgogischen Potential von intellektuell anspruchsvoller Musik? Im Kapitel 22 des Doktor Faustus läßt Thomas Mann seinen Protagonisten eine Strukturgleichheit zwischen der anspruchsvollen Musik der Schönberg-Schule und der Gesellschaftsform der Demokratie behaupten. Die vielschichtigen Ausführungen des Kapitels basieren auf der Prämisse, daß die intellektuell anspruchsvolle Musik der Schönbergschule auf der Mikroebene Strukturen aufweist, die sich in größeren Dimensionen auf der Makroebene demokratisch organisierter Gesellschaften wiedererfolgreichste Schüler von Schönberg war: »Schönberg kannte Adorno seit den zwanziger Jahren. Er wußte, wie genau sich dieser Frankfurter Philosoph und Kompositionsschüler Alban Bergs mit seinen Werken beschäftigt hatte. Die Analysen der Serenade opus 24, des Bläserquintetts und anderer Arbeiten von Schönberg waren berühmt und ließen an bekennendem Jüngertum nichts zu wünschen übrig.« H.H. Stuckenschmidt: Schönberg, Zürich 1974, 450. 12 Vgl. Mann: Entstehung [Anm. 9], 32–34. 13 Dafür hat der Dichter dem Philosophen ein Denkmal gesetzt, indem er den Organisten Kretzschmar in einer berühmten Passage über Beethovens letzte Sonate Op. 118 ein Motiv mit dem Rhythmus von Adornos eigentlichem Namen ›Wiesengrund‹ variieren läßt. (Theodor Wiesengrund-Adorno legte im kalifornischen Exil den deutsch-jüdischen Namen seines Vaters (Wiesengrund) ab und nahm den Namen seiner korsischen Mutter (Adorno) an.) 14 Schönberg hat diese Beratertätigkeit Adorno sehr verübelt. Stuckenschmidt schreibt: »Schönberg, von Natur aus mißtrauisch und durch ein hartes Leben mit dieser Veranlagung bestärkt, war gewiß nicht nur durch die scheinbare Identität mit Adrian Leverkühn, dem fiktiven Erfinder seiner Zwölftontechnik, gekränkt. Hätte er das Buch wirklich gekannt, so wären ihm noch andere Motive darin peinlich gewesen, vor allem das des Teufelspakts, den Leverkühn in seinem paralytischen Wahn geschlossen hat. Die Hauptursache seines Zorns lag darin, daß Thomas Manns Berater in Fragen der modernen Musik der ebenfalls in Los Angeles lebende Dr. Theodor Wiesengrund-Adorno gewesen war.« Vgl. Stuckenschmidt: Schönberg [Anm. 11], 450. 15 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W Adorno: Dialektik der Aufklärung (Amsterdam 1947), Frankfurt/M. ²1984, 5. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es sollen keine inhaltlichen, sondern lediglich strukturelle Parallelen behauptet werden.
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holen. Dreh- und Angelpunkt des Kapitels ist die Auffassung, daß sich in der Musik der Schönbergschule wesentliche Mechanismen und Prinzipien der Demokratie widerspiegeln. Aber eignet sich diese anspruchsvolle Musik deshalb in Thomas Manns Augen auch als Mittel der Erziehung zur Demokratie? Die Antwort ist schnell gegeben: Die Musik der Schönbergschule eignet sich in Manns Augen nicht etwa als Mittel einer Erziehung zur Demokratie, sondern vielmehr als Mittel der Abschrekkung von der Demokratie. Wer will sich schließlich auf ein Modell von Gesellschaft einlassen, das zwangsläufig zur völligen Unfreiheit der Individuen führt? Damit kommt Thomas Mann (wenn auch auf völlig anderem Weg und mit völlig anderer Intention) letztlich also zu demselben Schluß über die intellektuell anspruchsvolle Musik der Schönbergschule, zu dem Dewey über die intellektuell anspruchslose Musik kommt: Sie eignet sich nicht als Mittel der Erziehung zur Demokratie. Muß das nun bedeuten, daß man sich von dem Gedanken der Erziehung zur Demokratie durch Musik (sei sie nun anspruchsvoll oder nicht) verabschieden muß? Nun kann man bei der Diagnose von Thomas Mann schon deshalb nicht stehen bleiben, weil sein Protagonist offensichtlich ein ebenso verzerrtes und falsches Bild von der Demokratie wie von der Musik der Schönbergschule hat.Thomas Mann läßt die Titelfigur seines Romans eine Auffassung von Demokratie entfalten, wie er sie in seinen 1915 und 1918 entstandenen Betrachtungen eines Unpolitischen16 unter eigenem Namen ähnlich vertreten hat. Der Roman stellt die Demokratie als Gesellschaftsform vor, in der alle Menschen in einem banalen Sinne gleich behandelt werden. Hinter dem Etikett ›Dialektik der Freiheit‹ verbirgt sich die Kritik, daß es in einer solchen Gesellschaft keinen Raum für individuelle Kreativität, für individuelle Lebensführung, für individuelle Entscheidungen oder für andere politische Entfaltungsmöglichkeiten von Freiheit geben würde. Nun wäre es ein Thema für sich, danach zu fragen, welche Minimalbedingungen eine demokratische Gesellschaftsform erfüllen sollte.17 Fest steht jedoch, daß Thomas Mann in seinem Roman ein grobes Zerrbild von Demokratie zeichnet, von dem sich der Dichter (das sei der Fairness halber gesagt) zur Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt 1988. Ein populäres Lexikon betont zunächst einmal, daß »der Begriff ›Demokratie‹« heutzutage von nahezu »allen politischen Richtungen in Anspruch genommen« werde, auch von »radikalen Strömungen«. Dann klärt es darüber auf, daß ›Demokratie‹ der griechische Begriff gewesen sei, um die ›Volksherrschaft‹ von der ›Monarchie‹ und der ›Aristrokatie‹ zu unterscheiden. Heute würde die Demokratie hingegen als »Gegensatz zu ›Diktatur‹ begriffen«. (1) Dann erklärt es erstens die Rechtsstaatlichkeit zum Grundprinzip jeder demokratischen Gesellschaft, demzufolge der »Staat die Menschen- und die Bürgerrechte als Grundrechte« jedes einzelnen Bürgers aus dem Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz heraus zu »achten, zu gewährleisten und zu schützen« hat. (2) Als zweites Grundprinzip nennt es das Prinzip der Volkssouveränität, dem zufolge das »Volk Inhaber der Staatsgewalt« ist, welche es im Zuge von »allgemeinen, freien und geheimen Wahlen direkt oder indirekt« ausübt. (3) Drittens ist von Gewaltenteilung und (4) viertens schließlich von der Pressefreiheit die Rede. Vgl. den Artikel Demokratie, in: Meyers Großes Taschenlexikon, Bd. 5, Mannheim / Leipzig, /Wien / Zürich 1992, 112 f. Auf diesen Minimalkonsens über den Begriff der Demokratie legt sich auch die Verfasserin dieser Abhandlung fest. 16 17
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Zeit der Entstehung des Doktor Faustus in seiner Washingtoner Rede Deutschland und die Deutschen18 vom 29. Mai 1945 schon längst distanziert hatte. Ein Zerrbild19 zeichnet Thomas Mann auch von der Kompositionsmethode, die Arnold Schönberg etwa ab 1918 in Wien entwickelt hat. Er skizziert sie schließlich als Methode, die lediglich Ordnungsfanatikern »ästhetische Genugtuung« gewähren könne! Schönbergs Musik (speziell die Oper Moses und Aaron) enthält jedoch viele ausgesprochen schöne und hochinteressante Passagen. Wer sich von Schönbergs Musik selbst nicht überzeugen lassen mag, den überzeugt vielleicht die Musik von Schönbergs Schülern. Ihre hochrangigen Werke und die Vielfalt ihrer Stilbildungen legen ein denkbar deutliches Zeugnis für die Güte und das kreative Potential von Schönbergs variabler Methode ab, die sich keineswegs auf den schlichten Nenner bringen läßt, daß sie lediglich eine banale Ordnung der Gleichheit in die Töne bringen könne. Das bezeugt nicht zuletzt Adorno als der wohl wichtigste ›Ideenlieferant‹ zum Roman Doktor Faustus. Adornos besonderes Interesse gilt der Oper Wozzeck seines Lehrers Alban Berg. Er zeigt sich fasziniert davon, daß »im Falle des Wozzeck, wo der Anspruch des musikalischen Werkes dem literarischen gleicht« (gemeint ist die Textvorlage Büchners), die Musik der hochrangigen »Dichtung gegenüber« keinesfalls »überflüssig« erscheint und keinesfalls »bloße Wiederholung von deren eigenem, hintergründigem Gehalt«20 ist. Adornos Essay über Alban Berg (den Adorno treffend als ›Meister des kleinen Übergangs‹ rühmt) ermöglicht ein erstes Eindringen in die Komplexität, den Tiefgang und den Ideenreichtum dieser wunderbaren Oper21, die in kreativer und kongenialer Anwendung der Schönberg›schen Kompositionsprinzipien entstanden ist, und die heute von den Spielplänen nicht mehr wegzudenken ist. Weder die Demokratie noch die Musik der Schönberg-Schule sind bei näherer Hinsicht also so abschreckend, wie Thomas Mann behauptet. Schönbergs Kompositionsmethode läßt sich ebensowenig auf ein Gleichmachen von Tönen reduzieren, wie der Demokratie-Gedanke auf eine gewaltsame Gleichheit ihrer Mitglieder. Das läßt wieder hoffen, daß intellektuell anspruchsvolle Musik wie die Musik der Schönbergschule vielleicht doch ein demokratie-pädagogisches Potential haben könnte? Nähere Gründe für eine solche Hoffnung finden sich bei dem englischen Moralphilosophen, Politikwissenschaftler und Ästhetiker Bernard Bosanquet. Vgl. Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, Stockholm 1947. Zu den immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zwischen Schönberg und Mann vgl. Roman Karst: Thomas Mann – Ein deutscher Zwiespalt, München ²1987, 282 f. 20 Theodor W. Adorno: Alban Berg – Der Meister des kleinen Übergangs, Wien 1968, 92. Vgl. dazu auch Carl Dahlhaus: Vom Musikdrama zur Literaturoper, München / Salzburg 1983, 249–255, der den Vorwurf zu entkräften versucht, moderne Opern seien »am Text entlang komponiert«. 21 Ein Kritiker schrieb nach dem überraschend großen Erfolg der Uraufführung der Oper im Dezember 1925 enthusiastisch, »Bergs Oper« sei ein »Werk«, »das tiefste Wirkung auf die Massen ausübte, nicht nur, weil der Text ein jedermann ans Herz greifendes Proletarierschicksal entwikkelte, sondern auch, weil die Musik, mag man deren formalen Wunderbau auch nicht gleich er18 19
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III. Bosanquets Modell der Erziehung zur Demokratie durch anspruchsvolle Kunst Bernard Bosanquet gilt neben Francis Bradley als der wirkmächtigste Vertreter des sogenannten Second-Oxford-Hegelianismus. Diese philosophische Richtung hat sich im späten 19. Jahrhundert im englischen Oxford aus einer Opposition sowohl gegen den von Kant geprägten englischen Neuidealismus22 als auch gegen die von Schelling geprägte englische Romantik23 entwickelt. Sie fand ihre Nachfolge im sogenannten Third-Oxford-Idealismus um Robin George Collingwood und Michael Oakeshott einerseits, und im amerikanischen Pragmatismus von John Dewey24, Charles S. Peirce und William James andererseits.25 fassen, in ihrer Empfindungswelt auf derselben Stufe steht wie die Worte.« Vgl. Manfred Wagner: Alban Berg und die Musikblätter des Anbruchs, in: Alban-Berg-Symposion 1980, hg. von Rudolf Klein, Wien 1981, 218. 22 Die sogenannten Englischen Neuidealisten hatten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Scottish School von Thomas Reid formiert. Zugerechnet werden u. a. der Edinburgher Professor für Metaphysik und Logik Sir William Hamilton (1805–1865), der Wissenschaftstheoretiker William Whewell (1794–1866) sowie der Religionsphilosoph Henry Longueville Mansel (1820–1871). Vgl. auch Ralph Barton Perry: Philosophy of the Recent Past – An Outline of European and American Philosophy since 1860, London 1927, 15 sowie Robin George Collingwood: Ruskins Philosophy, in ders.: Essays in the Philosophy of Art, hg. von A. Donagan, Bloomington 1964, 24. Kritisiert wurde der Englische Neuidealismus vor allem von John Stuart Mill in seiner Schrift An Examination of Sir Hamilton’s Philosophy von 1865. Vgl. John Passmore: A Hundred Years of Philosophy, Bungay Suffolk ²1966, Repr. 1986, 29 f. 23 Im Zentrum der englischen Romantik steht die sogenannte Lake-School um die Dichterphilosophen Samuel Taylor Coleridge (1772–1834), William Wordsworth (1770–1850) und Robert Southey (1774–1843). Neben den Lakers (s. u.) werden auch die Dichter John Keats (1795–1821), Percy Bysshe Shelley (1792–1822), George Gordon Noel Lord Byron (1788–1824), Jane Austen (1775–1817), Sir Walter Scott (1771–1832), sowie der Philosoph Thomas Carlyle (1795–1881) und die Literaturkritiker William Hazlitt (1778–1630) und Charles Lamb (1775– 1834) als englische Romantiker bezeichnet. Allerdings haben sich die Dichter der englischen Romantik selbst niemals ›englische Romantiker‹ genannt und sich auch nicht als einheitliche Bewegung in der Kunst verstanden. Vgl. zum Stellenwert der Lakers innerhalb der englischen Romantik auch René Wellek: The Concept of Romanticism in Literary History, in: ders.: Concepts of Criticism, New Haven 1963, 147 f.; Alois Brandl: S.T. Coleridge und die englische Romantik, Berlin 1886 sowie insbesondere Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität – Europäische Romantik und Französische Revolution, Paderborn / München /Wien / Zürich 1989, 180 ff. Behler betont den Einfluß der Französischen Revolution auf die europäische Frühromantik in Deutschland (Friedrich Schlegel, Novalis), England (Wordsworth, Coleridge) und Frankreich (Frau von Stael, Benjamin Constant). (Vgl. ebd., 7.) 24 Insbesondere die pragmatistische Ästhetik von John Dewey ist in wesentlichen Teilen unter dem Einfluß von Bosanquet entstanden. Schon der junge Dewey äußert sich begeistert über Bosanquets ästhetiktheoretische Ansichten, vgl. John Dewey: Review. 189, in: John Dewey – The Early Works (1882–1998), Bd. 4 (1893–1894), hg. von Jo Ann Boydston, Carbondale 1971, 189–197. 25 Vgl. zu den philosophiehistorischen Zusammenhängen demnächst meine Habiliationsschrift zur Gefühlsästhetik des angelsächsischen Idealismus.
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Schon der frühe Bosanquet war ein Anhänger sowohl der Erziehung zu anspruchsvoller Kunst als auch der Erziehung durch anspruchsvolle Kunst.26 Im Jahr 1888 plädiert er für eine breite ästhetische Erziehung in Englands Schulen und für die öffentliche Zugänglichkeit von anspruchsvoller Kunst mit dem Argument, daß grundsätzlich jeder bei entsprechender Ausbildung schöne Kunst würdigen und genießen könne, weil »die Wahrnehmung von Schönheit vor allem anderen einen aufgeweckten Geist«27 voraussetze. Ein Jahr später kehrt er die Perspektive einer Erziehung zur Kunst durch den Gedanken der Erziehung durch Kunst um, indem er die anspruchsvolle Kunst eine der »großen Straßen zur Humanität«28 nennt. In seiner wirkmächtigen History of Aesthetic 29 von 1892 – das Buch ist heute noch ein Standardwerk zur Geschichte der Ästhetik im angelsächsischen Sprachraum – kann Bosanquet dann Schillers Idee der ›ästhetischen Erziehung zur Freiheit‹ gar nicht genug rühmen. Seine Ideen einer Erziehung zur Kunst entfaltet Bosanquet im Detail in seiner späten Ästhetik Three Lectures on Aesthetic 30 von 1915. Bosanquet unterscheidet hier grundsätzlich zwei Spielarten des Schönen, nämlich das ›simple Schöne‹ (easy beauty) und das ›ästhetisch Exzellente‹ (aesthetically excellent). Er interessiert sich ausschließlich für das ästhetisch Exzellente, das er weiterhin in das triumphale Schöne (triumphant beauty) und das schwierig Schöne (difficult beauty) unterteilt. Mit dem Begriff des ‹triumphalen Schönen› bezeichnet er Kunstwerke, die als schöne Kunstwerke anerkannt und »universal in ihrer Anziehung« sind, weil sie erfahrungsgemäß ebenso anstrengungslos und unmittelbar wie die ›simple Schönheit‹ einer Rose beispielsweise gefallen.31 Als Beispiel nennt Bosanquet die Demeter von Knidos. Er hätte auch die Mona Lisa oder das Tadsch Mahal nennen können. Die ›in schwieVgl. zum Stellenwert der Idee der ästhetischen Erziehung beim frühen Bosanquet auch Elizabeth Trott: Bosanquet, Aesthetics and Education – Warding off Stupidity with art, unveröff. Typoskript, vorgetragen am 1. Sept. 1999 im Rahmen der Tagung Bosanquet and the Legacy of British Idealism, Harris Manchaster College, Oxford (GB), 1.– 2.9. 1999. Trott verweist wiederum auf Edith Schell: Bernard Bosanquets Theory of Moral Education, in: Paedagogica Historica, Bd. VI, 1966, 185. 27 »The perception of beauty implies, above all things, an awakened mind.« Bernard Bosanquet: The Home Arts and Industries Association. I. Aim and Objects, in: Charity Organisation Review 4, 1888, 135 ff., hier 135. (Diese bibliographischen Angaben stammen aus: William Sweet: British Idealist Aesthetics – Origins and Themes, in: Bradley Studies, Bd. 7. Nr. 2, Oxford 2001 (Sonderband), 131–161, hier 154.) 28 »The appreciation of beauty in art is one great avenue to the knowledge of humanity.« Bernard Bosanquet: Artistic Handwork in Education, in: The Hour Glass, Bd. 11 (1887), 281–283, zitiert nach Selected Essays, in: The Collected Works of Bernard Bosanquet, Bd. 1, hg. von William Sweet, Bristol 1999, 117–122, hier 119. 29 Bernard Bosanquet: A History of Aesthetic, London 1892, ²1904, Repr. 1966. 30 Bernard Bosanquet: Three Lectures on Aesthetic, London 1915, Repr. New York 1968. 31 It is »prima facie aesthetically pleasant«. Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 84. »There must be a general word for what we consider aesthetically excellent.« (Ebd., 83.) »Triumphant beauty [...] although of the most distinguished quality, is universal in its appeal.« (Ebd., 89 f.) 26
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riger Weise schöne‹ anspruchsvolle Kunst (difficult beauty) muß nach Bosanquet hingegen mindestens eines der folgenden drei Merkmale Kompliziertheit (intricacy), emotionale Spannungsgeladenheit (tension) oder Bandbreite (width) aufweisen. Mit dem ersten Merkmal der Kompliziertheit sind alle Kunstwerke erfaßt, die besonders viele Details, Bedeutungs- und Konstruktionsebenen haben. Als Beispiele bieten sich die Sinfonien von Bruckner und Mahler an, aber auch die großen Dramen Shakespeares oder Die Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. Solche Kunstwerke haben es schwer, ein Publikum zu finden, weil sie in ihrer Detailvielfalt und der Komplexität ihrer internen Bezüge für die meisten Rezipienten schwer zu erfassen sind. Mit dieser Bestandsaufnahme gibt sich Bosanquet jedoch nicht zufrieden. Er gibt einen einfachen, verblüffend praktikablen Hinweis, wie sich derartige ›Kompliziertheitsbarrieren‹ überwinden lassen: Man soll seine Aufmerksamkeit zunächst nur auf ein einziges Detail des komplexen Kunstwerks richten und dann Schritt für Schritt zum nächsten Detail und zu komplexeren Zusammenhängen übergehen, bis man schließlich das Ganze des Kunstwerks in den Blick nehmen und ästhetisch genießen kann. Nach Bosanquet können wir auf diese Weise die wichtige Erfahrung machen, daß »das in schwieriger Weise Schöne« nicht wirklich unzugänglich ist, sondern uns lediglich »in einem einzigen Moment zuviel gibt von dem, was wir sehr genießen würden, wenn wir es nur insgesamt und auf einmal erfassen könnten«.32 Eine solche Erfahrung könne uns helfen, die Berührungsängste vor komplexen Kunstwerken zu überwinden und uns ganz neue Dimensionen des ästhetischen Genießens eröffnen. Der erste Schritt im Rahmen einer anspruchsvollen ästhetischen Erziehung wäre getan. Das zweite Merkmal der emotionalen Spannungsgeladenheit weisen nach Bosanquet solche Kunstwerke auf, in denen Emotionen wie Verzweiflung oder Ekstase thematisiert werden, die an die Grenze dessen gehen, was der Mensch aushalten kann. Es kann um Entscheidungen von großer Tragweite gehen, oder auch um extreme Gefühle wie Erlösungssehnsucht, Verzweiflung oder Todesangst. Picassos Guernica, Gerhard Hauptmanns Die Ratten, Mozarts Requiem oder auch das Tagebuch der Anne Frank bieten sich hier neben vielen anderen, als Beispiele an. Auch solche Kunstwerke haben es laut Bosanquet schwer, weil viele Rezipienten nicht bereit oder nicht in der Lage sind, ihre emotionale Wucht auszuhalten. Und wieder gibt Bosanquet einen Tip zur Annäherung: Er rät, nach Anknüpfungspunkten im eigenen Leben zu suchen. Um für diesen bemerkenswerten didaktischen Hinweis ein Beispiel zu konstruieren: In Shakespeares Hamlet geht es um einen Königssohn, den der Geist seines ermordeten Vaters zur Rache an einem ›schnöden Treuebruch‹ aufruft. Das wird den meisten von uns wohl kaum widerfahren. Aber es geht auch um die Eifersucht eines jungen Mannes auf den neuen Bettgenossen seiner Mutter. Die Gefühle des Hamlet sind nachvollziehbar, wenn wir die Parallelen zu unseren »The difficult beauty simply gives you too much, at one moment, of what you are perfectly prepared to enjoy if only you could take it all in.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 89. 32
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eigenen Lebensvollzügen auffinden. (Könige fühlen auch nicht anders als wir.) Wieder ist uns ein anspruchsvolles Kunstwerk ein Stück vertrauter geworden. Mit dem dritten Merkmal der Bandbreite meint Bosanquet Tabu- und Konventionsbrüche. Seine Beispiele sind die derben Komödien von Aristophanes oder Shakespeare. Bosanquets Vorschlag zur Annäherung lautet, daß wir uns klar machen sollen, daß wir selbst sicherlich schon einmal in Situationen waren, in denen wir uns ebenso peinlich benommen haben wie die Elfenkönigin Titania in Shakespares A Midsummer Nights Dream (sie hat Geschlechtsverkehr mit einem Handwerksburschen in Eselsgestalt), oder wie die Götter in den AmphytrionKomödien von Aristophanes, Kleist (und Handke). Zweifelsohne haben wir uns selbst ebenfalls schon als »kleinliche Insekten« oder als »moralinsaure Besserwisser«33 erleben müssen. Bosanquets Ausführungen münden in die These, daß ›in schwieriger Weise schöne‹ Kunst häufig mit mißlungener Kunst verwechselt würde, weil die Rezipienten nicht in der Lage oder nicht bereit seien, sich den Anforderungen zu stellen, die anspruchsvolle Kunst nun einmal stellt. Er hätte die Musik der Schönbergschule durchaus als Beispiel heranziehen können. Sie erfüllt alle drei seiner Kriterien für anspruchsvolle Kunst. Dementsprechend schwer hatte sie es auch, die Gunst des Publikums zu gewinnen. Eine Wiener Zeitung ereiferte sich nach der Aufführung von Alban Bergs Altenberg-Liedern am 31. März 1913 beispielsweise, daß man die »mißliebige Musik nach der Irrenanstalt Steinhof abschaffen«34 müsse. Das Vorzeigewerk der Schönbergschule ist Alban Bergs Oper Wozzeck. Sie ist geradezu zu ein Paradebeispiel für das Merkmal der Kompliziertheit. Ihre vielfältigen Bedeutungsebenen sind vermutlich bis heute nicht in ihrer Ganzheit erfaßt und »The customary scale of everything is changed, and you yourself perhaps are revealed to yourself as a trifling insect or a moral prig.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 93. Weitere aufschlußreiche Passagen lauten: »In general, one may say that the common mind – and all our minds are common at times – resents any great effort or concentration.« (Ebd., 90). »This difficult beauty goes beyond what is comfortable for the indolent or timid mind.« (Ebd., 91 f.). »Comedy always shocks many people.« (Ebd., 94). »It is the contrast that makes the humour.« (Ebd., 93). »If religion is not a serious thing to you, there is no fun in joking about it.« (Ebd.). 34 »Nach dem Opus 9 von Schönberg mischten sich leider in das wütende Zischen und Klatschen auch die schrillen Töne von Hausschlüsseln und Pfeifchen, und auf der Zweiten Galerie kam zur ersten Prügelei des Abends. Von allen Seiten wurde in wüsten Schreiereien Stellung genommen, und schon in dieser unnatürlich langen Zwischenpause gerieten die Gegner aneinander.« Weiter heißt es: »Die Musik zu diesem lustig-sinnlosen Ansichtskartentext überbietet alles bisher Gehörte, und es ist nur der Gutmütigkeit der Wiener zuzuschreiben, daß sie sich bei ihrem Anhören mit herzlichem Lachen begnügen wollten. Dadurch aber, daß Schönberg inmitten des Liedes abklopfte und in das Publikum die Worte schrie, daß er jeden Ruhestörer mit Anwendung der öffentlichen Gewalt abführen lassen werde, kam es neuerlich zu aufregenden und wüsten Schimpfereien, Abohrfeigungen und Forderungen. Herr von Webern schrie auch von seiner Loge aus, daß man die ganze Bagage herausschmeißen solle, und aus dem Publikum kam die Antwort, daß man die Anhänger der mißliebigen Musik nach der Irrenanstalt Steinhof abschaffen müßte.« Zitiert nach Volker Scherliss: Alban Berg, Hamburg 1975, 53 f. 33
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analysiert.35 Auch das Merkmal der emotionalen Spannungsgeladenheit ist erfüllt; die Oper erzählt mit großer emotionaler Wucht die Tragödie eines gequälten Menschen. Und das Merkmal der Bandbreite ist ebenfalls gegeben. Bergs Oper bricht gleich in doppelter Hinsicht mit Akzeptiertem: Sie ist mit einer für seine Zeit revolutionären Methode komponiert, ihr Protagonist ist ein unverheirateter Vater und somit »ohne den Segen der Kirche«36, und er wird (durch die Gesellschaft) zum Mord getrieben. Bergs Oper zählt zweifelsohne zur Klasse der anspruchsvollen Kunst, und es käme jetzt erstens darauf an, zu erproben, inwieweit Bosanquets Strategien einer Erziehung zu anspruchsvoller Kunst die Annäherung an ein solches Werk tatsächlich erleichtern. Zweitens müßte Jacquettes Frage diskutiert werden, ob es nicht auch Kunstwerke gibt, die so kompliziert, so spannungsgeladen oder so extravagant sind, daß sie »alle menschlichen Kapazitäten übersteigen« und deshalb einfach nur mißlungen sind?37 Schließlich muß eine ästhetische Theorie ja prinzipiell die Möglichkeit offen lassen, daß ein Kunstwerk mißlungen ist. Sie kann nicht alles der »Schwäche des Betrachters« anlasten, von der Bosanquet immer wieder spricht. Drittens müßte die Liste der möglichen Merkmale des schwierig Schönen, die letztlich unabschließbar sein dürfte, vervollständigt werden. So drängt es sich aus heutiger Sicht beispielsweise auf, das Merkmal der ›Wahrnehmungsüberlastung‹ hinzuzufügen. Schließlich ist die Musik der Punk-Band Die einstürzenden Neubauten ja allein schon wegen ihrer (wörtlich!) ohrenbetäubenden Lautstärke schwer zu rezipieren. Dasselbe gilt für Video-Clips, denen man ohne Übung häufig schon wegen des Tempos der Schnitte kaum noch folgen kann. Wie aber steht es mit den Möglichkeiten der Erziehung durch anspruchsvolle Kunst, von denen der frühe Bosanquet ja ebenfalls gesprochen hatte? In der Beantwortung dieser Frage ist man nun leider auf Vermutungen angewiesen, weil ein großer Teil der Vorlesungsreihe verlorengegangen ist, in welcher Bosanquet seine späte Ästhetik entwickelt hat.38 Aus mindestens zwei Gründen ist es jedoch wahrscheinZu kompetenten Werkanalysen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vgl. beispielsweise George Perle: The Operas of Alban Berg, Bd. 1: Wozzeck, Berkely / Los Angeles / London 1980; Peter Petersen: Alban Berg – Wozzeck, in: Musikkonzepte. München 1985; Gerd Ploebsch: Alban Bergs Wozzeck – Dramaturgie und musikalischer Aufbau, Baden-Baden 1968; Hans Ferdinand Redlich: Alban Berg – Versuch einer Würdigung, Wien / Zürich / London 1967; Willi Reich: Alban Berg – Leben und Werk, Zürich 1963; Janet Schmalfeldt: Berg›s Wozzeck – Harmonic Language and Dramatic Design, New Haven / London 1983; Rudolf Stephan: Aspekte der Wozzeck Musik, in: 50 Jahre Wozzeck von Alban Berg – Vorgeschichte und Auswirkungen in der Opernästhetik, hrsg. v. Institut für Wertforschung, Graz 1978, 9–21; Erich Forneberg: Wozzeck von Alban Berg, in: Die Oper – Schriftreihe über musikalische Bühnenwerke, hg. von D. Stoverock, Th. Cornelissen, Berlin 1963. 36 Vgl. 1. Szene, 1. Akt. 37 »Can the difficulty transcend every human capacity?« Dale Jacquette: Bosanquet’s Concept of Difficult Beauty, in: Journal of Aesthetic and Art Criticism, 43 (1984), 79–88, hier 81. 38 Insgesamt ist sogar die Hälfte von Bosanquets später Ästhetik im ersten Weltkrieg verloren gegangen: »Bosanquet gave three subsequent lectures in aesthetics at University College, London, 35
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lich, daß der späte Bosanquet entsprechende Überlegungen angestellt hat. Zum einen bildet der Gedanke der Erziehung durch Kunst einen festen Bestandteil der angelsächsischen Ästhetik39. So empfiehlt bereits der einflußreiche Kunsthistoriker John Ruskin den Zuhörern seiner Lectures on Art 40 von 1870, Zeichenunterricht zu nehmen. Das habe nämlich vielfachen praktischen Nutzwert. So könne exaktes Zeichnen das Wissen über die Dinge erweitern, die Gedächtnis- und Wahrnehmungsfähigkeiten schulen, die Disziplin stärken und den Respekt vor jeder sorgfältig ausgeführten menschlichen Tätigkeit und insbesondere vor der Tätigkeit des Handwerkers hervorrufen. (Der letztgenannte Punkt ist Ruskin der wichtigste, weil er politisch relevant ist.) Ein ungleich schwerwiegenderer Grund für die Annahme, daß sich der späte Bosanquet Gedanken über die Möglichkeiten der Erziehung durch Kunst gemacht hat, besteht darin, daß er die dritte der drei erhalten gebliebenen Vorlesungen ausdrücklich mit einigen Bemerkungen zur Erziehung durch Kunst einleitet.41 Im Zuge dessen gibt er glücklicherweise noch drei Hinweise, durch die wir uns vielleicht ein ungefähres Bild davon machen können, wie diese Theorie ausgesehen haben könnte. Erstens betont Bosanquet, daß sich sein Modell nicht an eine kleine Elite richte, sondern vor allem an die ›einfachen Menschen‹ (ordinary persons) seines Landes. Den Hintergrund bildet seine positive Einstellung zum Gleichheitsideal der Demokratie.42 Schon der junge Bosanquet hatte eine ›Demokratisierung‹ der ästhetischen Reflexion gefordert und damit die Einbeziehung der alltäglichen Formen des menschlichen Schaffens und Gestaltens in die ästhetische Theorie gemeint. Der späte Bosanquets begründet die Ausdehnung seines Adressatenkreises dann mit dem Argument, daß einfache (besser: ungebildete) Menschen mittels der Erziehung durch Kunst auf dasselbe Sensibilitäts- und Urteilsniveau gebracht werden könnten wie »hochbegabte« Menschen, weil schließlich auch die einfachen Menschen über before the end of the First World War, but the manuscript was lost.« Sweet: British Idealist Aesthetics [Anm. 27], 154. 39 Der Gedanke findet sich breit ausformuliert auch bei Dewey: Art as Experience [Anm. 4], 389–395; sowie bei Robin George Collingwood: The Principles of Art, London 1938, 61964, 304. 40 John Ruskin: Lectures on Art. Delivered before the University of Oxford in Hilary Term 1870, Oxford 1887, 96–104. 41 Es heißt: »I will therefore say a word of preface about the education in beauty of the ordinary person who has grown up through the late nineteenth century to the present time.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 76. 42 Auf Bosanquets Auffassung von ›Demokratie‹ kann ich hier nicht weiter eingehen. Der frühe Bosanquet versteht unter dem ›demokratischen Prinzip‹ folgendes: »What was now wanted was, that the rulers should be identified with the people; that their interest and will should be the interest and will of the nation.« Bernard Bosanquet: The Philosophical Theory of the State, London 1899, 41923, 69. Mit Blick auf Bosanquets ästhetische Abhandlungen muß der Hinweis darauf reichen, daß für Bosanquet das ›demokratische Prinzip‹ in einer ästhetischen Theorie wirksam wird, wenn sie Respekt vor allen Arten menschlichen Schaffens und insbesondere vor dem Handwerk und der Fabrikarbeit zeigt. Vgl. dazu Bosanquet: History [Anm.29], 442–447.
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»umfassende und aufrichtige« Lebenserfahrung und über »Selbstdisziplin« als den Ausgangsbedingungen für die Erziehung durch Kunst verfügen würden.43 Hervorzuheben ist zweitens der besondere Stellenwert, den Bosanquet der anspruchsvollen Kunst in seinem demokratischen Projekt der Erziehung durch Kunst einräumt. Bosanquet will einen Kontrapunkt zur »gewöhnlichen ästhetischen Erziehung« im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts setzen, die seinem Zeugnis zufolge von den – in seinen Augen: sentimentalen – Werken der schönheitsfixierten englischen Romantiker dominiert ist. Zur Illustrierung zitiert er einige bemerkenswert kitschige Zeilen aus einem Schulbuch seiner Zeit, die – so Bosanquets bissiger Kommentar – dem Anschein nach nur von einem zurückgebliebenen dreijährigen Kind verfaßt sein können. Aus erzieherischer Perspektive seien solche »in simpler Weise schöne« Kunstwerke (easy beauty) denkbar ungeeignet. Lediglich die Bewohner eines »goldenen Feenlandes«44 könnten von ihnen profitieren. Lebenstüchtig für die Belange einer modernen Gesellschaft im 20. Jahrhundert macht die Beschäftigung mit solchen Kunstwerken anders als die Beschäftigung mit anspruchsvoller Kunst in Bosanquets Augen jedoch nicht. Wichtig ist drittens, daß Bosanquets Modell der Erziehung durch Kunst nicht auf die Vermittlung von Werten oder Wissensgehalten abzielt, sondern auf die Ausbildung von Fähigkeiten. Nach Bosanquet kann jedermann von der Beschäftigung mit anspruchsvoller Kunst profitieren, weil sie uns in die Lage versetzten kann, besser »zu sehen und zu hören«.45
43 »I will therefore say a word of preface about the education in beauty of the ordinary person who has grown up through the late nineteenth century to the present time, and its relation to certain quite recent movements. And I think it applies in some degree to the ordinary person at all time.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 77. »I am not saying that the record of such a person’s experience in the beautiful justifies him for a moment in becoming dogmatic about problems of beauty. What has rather forced itself on me is that the person’s laborious experience and self-education, if broad and sincere, brings him to much the same positions which highly gifted individuals adopt spontaneously from the beginning.« (Ebd., 77). 44 »The training in beauty which comes to the ordinary mind, like that which a man may have picked up for himself during the last half century, is apt to begin in a golden fairyland.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 77. »Thus I suggest that the ordinary man’s education in the beautiful, since say, the sixties, has been on the whole a home-coming from fairyland to simple vision and humanity.« (Ebd., 82). 45 »We are enabled to see and to feel.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 82. Das entspricht der generellen Auffassung von Erziehung beim späten Bosanquet. Einschlägig ist diesbezüglich das Kapitel We are Not Hard Enough on Stupidity seiner späten Ethik. Vgl. Bernard Bosanquet: Some Suggestions in Ethics, London 1918, Repr. 1919, chap. IX, 213–245. Hier wird ›Erziehung‹ folgendermaßen definiert: »It is the special and principal engine for awaking interests and proportioning them to values, so that the area of life may have some tolerable chance of being duly represented in our value-field«. (Ebd., 237). Erziehung richtet sich gegen Dummheit (stupidity) im Sinne einer »Blindheit für Werte« (blindness of values). Deshalb soll kein positiver Wertekanon vermittelt werden, der irgendwann durch einen anderen ersetzt werden könnte, sondern statt dessen die Fähigkeiten der sinnlichen und emotionalen Sensibilität (sensitiveness), des Urteilen und Einschätzen (appreciativeness) und der Einfühlung (sympathy). (Ebd., 220).
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Damit sind einige deutliche Hinweise über die Zielsetzungen gegeben, die der späte Bosanquet mit seinem dem Anspruch nach demokratischen Modell der Erziehung durch Kunst vermutlich verfolgt haben dürfte: Es geht augenscheinlich um die Ausbildung von Fähigkeiten, die für das alltägliche Leben jedes Menschen (nicht nur) im England des frühen 20. Jahrhunderts relevant sind. Es soll sich dabei dezidiert um Fähigkeiten handeln, die sich durch die Beschäftigung mit anspruchsvoller Kunst ausbilden lassen. Was könnten das für Fähigkeiten sein? Ein abschließender Blick auf Bosanquets Ausführungen über die Merkmale anspruchsvoller Kunstwerke kann vielleicht Aufschluß geben. Insofern anspruchsvolle Kunstwerke erstens das Merkmal der Kompliziertheit aufweisen, ist anzunehmen, daß sie die Fähigkeit schulen können, sich in komplizierten und komplexen Gefügen zurechtzufinden. Ein zweites Merkmal anspruchsvoller Kunst ist nach Bosanquet, daß sie uns in emotionaler Hinsicht viel zumutet: Sie konfrontiert uns mit extremen Gefühlen oder mit auswegslosen Situationen. Das könnte heißen, daß wir durch den Kontakt mit anspruchsvoller Kunst lernen können, solche Gefühle oder Situationen auszuhalten, ohne gleich den Kopf oder den Mut zu verlieren. Anspruchsvolle Kunst ist nach Bosanquet drittens durch Tabubrüche, Extravaganzen und Schockierendes gekennzeichnet. Als solche könnte sie eventuell unsere Fähigkeit zur Toleranz und zur Einfühlung in Unvertrautes schulen. In diese Richtung etwa dürfte Bosanquet sein demokratisches Modell der Erziehung durch anspruchsvolle Kunst in den verloren gegangenen Vorlesungsteilen ausbuchstabiert haben. Schon diese Skizze macht deutlich, daß Bosanquets demokratisches Modell der Erziehung durch anspruchsvolle Kunst vermutlich auch beanspruchen konnte, ein Modell der Erziehung zur Demokratie zu sein. Die Voraussetzung ist natürlich, daß es tatsächlich in etwa so ausgesehen hat, wie hier unterstellt wird. Dann aber scheint es der Fall zu sein, daß anspruchsvolle Kunst Fähigkeiten ausbilden kann, die speziell für das Leben in einer Demokratie relevant sind. Wenn man beispielsweise erstens davon ausgeht, daß die modernen demokratischen Gesellschaften (die antike Vorstellung von ›Demokratie‹ soll unberücksichtigt bleiben) pluralistische Gesellschaften sind, dann muß es schließlich ein besonderes Anliegen jeder Demokratie sein, die vielen divergierenden Interessen und Rechte der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen in einen gerechten Ausgleich zu bringen und angemessen zu berücksichtigen. Wer eine demokratische Gesellschaft aktiv gestalten will, muß also über die Kompetenz verfügen, sich in komplexen Gefügen mit diffizilen Beziehungskomplexen und heterogenen Details zurechtzufinden. Wer im Umgang mit der Kompliziertheit anspruchsvoller Kunst gelernt hat, vom Detail ausgehend das Ganze zu sehen und in den Blick zu nehmen, der kann diese Fähigkeit auch einsetzen, um nicht allein seinen partikularen Interessensstandpunkt, sondern auch die Sichtweise anderer Interessengruppen und schließlich der Gesamtheit einer pluralistischen Gesellschaft einzunehmen. Weil zweitens demokratische Gesellschaften pluralistische Gesellschaften sind, muß eine Erziehung zur Demokratie außerdem auch die Ausbildung von Toleranz
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gegenüber Unvertrautem und Andersartigem beinhalten. Diese Fähigkeit fördern anspruchsvolle Kunstwerke, insofern sie das Merkmal der Bandbreite aufweisen. Daß der späte Bosanquet tatsächlich in diese Richtung gedacht hat, äußert sich in einer Passage, in der er es eine »großartige Lektion« nennt, falls sich durch anspruchsvolle Kunst die Einsicht einstellen sollte, daß »alle gute Kunst eine ist«46, und das – so können wir in seinem Sinne ergänzen – jenseits aller nationalistischen und rassistischen Barrieren. Drittens wird den Bürgern in einer demokratischen Gesellschaft ein ungleich höheres Maß an Verantwortung und Entscheidungsbefugnis zugesprochen als in allen autoritär geführten Gesellschaftsformen. In Wirtschaftskrisen, Kriegen und anderen Katastrophen nehmen den Bürgern einer Demokratie kein Monarch und kein Diktator die Entscheidungen ab. Damit sich die Bürger einer Demokratie solchen schwerwiegenden Entscheidungen auch tatsächlich stellen können, müssen sie emotional in besonderem Maße belastbar sein. Möglicherweise kann die Fähigkeit dazu durch anspruchsvolle Kunst gestärkt werden, insofern sie das Merkmal der ›emotionalen Spannungsgeladenheit‹ trägt, das Bosanquet ja auch exponiert. Natürlich sind damit weder alle Merkmale von demokratischen Gesellschaften berücksichtigt, noch sind die Fähigkeiten vollständig ausgelotet, die sich durch anspruchsvolle Kunst entwickeln lassen. Aber obwohl Bosanquets Ausführungen zur ästhetischen Erziehung fragmentarisch geblieben sind und ungeachtet offener Fragen, so lassen sie doch immerhin hoffen, daß es tatsächlich erfolgversprechende Strategien der Annäherung an anspruchsvolle Kunst gibt, und daß sich die Annäherung lohnt, weil sich im Zuge dieser Annäherung Fähigkeiten ausbilden, die man als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert unbedingt braucht. Das sind faszinierende Gedanken, die allerdings auch gleichzeitig die Grenze dessen markieren, was ein Reflektieren über Musik speziell und Kunst generell noch leisten kann. Jetzt käme es auf den Versuch an. Was würde z. B. passieren, wenn man mit einer Gruppe von Jugendlichen den komplizierten Zwölfton-Kanon einstudieren würde, den Alban Berg anläßlich des 50-jährigen Jubiläums des Frankfurter Opernhauses im Sommer 1930 komponiert hat? Der Kanon weist offensichtlich eine Strukturgleichheit zur Demokratie auf: Die Stimmen sind einerseits eigenständig und trotz ihrer formalen Gleichheit jede für sich in ihrer Individualität im Ganzen der Komposition unersetzbar; andererseits aber entfalten sie ihre Individualität und Schönheit nur im Gesamtklang des Ganzen und an der ihnen eigenen Stelle, an die sie der Komponist gesetzt hat. Läßt uns die Einsicht in eine solche Strukturverwandtschaft nun aber tatsächlich die Grundprinzipien, Grundwerte und Organisationsprinzipien unserer Demokratie besser verstehen oder gar höher schätzen? Oder überfrachten wir die Musik mit solchen Ansprüchen? Eine Antwort zu finden, muß der Praxis überlassen bleiben. »It is a great lesson to have learned that all good art is one.« Bosanquet: Three Lectures [Anm. 30], 82. 46
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Notenbeispiel. Alban Berg an das Frankfurter Opernhaus. Komponiert Sommer 1930 zum 50jährigen Jubiläum des Hauses. Als Kanonthema dient die Zwölftonreihe aus Schönbergs Oper »Von heute auf morgen«, zur Erinnerung an die Uraufführung des Werkes in Frankfurt am Main am 1. Februar 1930.
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Über die Grenzen der »Kunstverhältnisse« Von Wolfhart Henckmann
Das Kongreßthema Kunst und Demokratie schließt implizit das Thema Kunstwissenschaft und Demokratieverständnis ein. Somit läßt sich unsere Frage nach den Grenzen der »Kunstverhältnisse« nicht mehr als eine rein theoretische Frage auffassen, sondern verlangt auch eine dem Demokratieverständnis entsprechende Einstellung – die auch darin bestehen kann, Theorien, die sich als gesellschaftliche Kraft innerhalb eines anderen Gesellschaftssystems verstanden haben, in diesem ihrem Selbstverständnis zur Kenntnis zu nehmen, ohne ihr gesellschaftlich-politisches Engagement mitzumachen, aber auch ohne ihnen ein anderes politisches Engagement entgegenzusetzen und sie daran zu messen; es sei also erlaubt, das theoretische und methodologische Selbstverständnis sowie die pragmatischen Intentionen solcher Theorien nachzuzeichnen, so als ginge es um ihre bloßen Schattenrisse. Oder pragmatischer ausgedrückt, es sei erlaubt, an solche Theorien zu erinnern, in Zeiten, in denen sie aus mancherlei Gründen der Vergangenheit überantwortet worden sind, trotzdem aber noch zu unserer weiträumig und liberal verstandenen Gegenwart gehören und auch noch Teil unseres Selbstverständnisses und unserer Selbstverständigung sein sollten. Konkreter gesagt: Ich wende mich im folgenden dem Selbstverständnis einer Kunsttheorie aus den letzten Jahren der ehemaligen DDR zu, und das mit einem Seitenblick auf ein Sachproblem, das gleichermaßen in Ost und West aktuell ist. M. C. Beardsley schrieb 1982, es sei eine »fundamental task in our time: [to give a] coherent account of the relationships between the arts and other components of culture«1. Zu den »anderen Teilen der Kultur«, die mit den Künsten in einer immer wieder neu zu eruierenden Verbindung stehen, gehören auch die Wissenschaften, in unserem Fall speziell die Ästhetik und Kunsttheorie. 1988 hat Peter H. Feist (*1928), seit 1982 Direktor des Instituts für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, unter dem Begriff »Kunstverhältnisse« noch einmal zusammenfassend ein Paradigma kunstwissenschaftlicher Forschung beschrieben,2 dem er und eine Reihe geistesverwandter Kollegen über viele Jahre hinweg gefolgt sind. »Paradigma« hat er ganz unprätentiös verstanden als einen »neuen Forschungsansatz«, der sich primär durch den mit Monroe C. Beardsley: Art and Its Cultural Context, in: Beardsley: The Aesthetic Point of View – Selected Essays, ed. by Michael J. Wreen and Donald M. Callen, Ithaca / London 1982, 352. 2 Peter H. Feist: Neue Überlegungen zum Forschungsgegenstand ›Kunstverhältnisse‹, in: Kunstverhältnisse – Ein Paradigma kunstwissenschaftlicher Forschung, hg. v. Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. Wissenschaftliches Kolloquium, Berlin 1988, 12 –25. 1
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»Kunstverhältnisse« umrissenen Gegenstandsbereich definiert, zugleich jedoch auch durch methodische und begriffliche Erkenntnisformen, die – man kann an die Wissenschaftseinstellung des Aristoteles denken – letztlich durch die objektiven Eigenschaften des zur Diskussion stehenden Gegenstands, nicht hingegen durch Ableitung aus einem vorgegebenen Wissenschaftskonzept bestimmt werden. Der Natur eines solchen Ansatzes, der in einem bestimmten Entwicklungsstadium der Kunstwissenschaft aus der begrifflichen und methodologischen Erfassung des Forschungsgegenstandes hervorgegangen ist, entspricht es, wenn der Ausdruck »Kunstverhältnisse« mit einer gewissen zusammenfassenden Liberalität, will sagen undogmatisch verwendet wird – wenn auch nicht in dem vagen Sinne eines naiven Verständnisses, bei dem man sich irgendwelche Verhältnisse oder Relationen vorstellen darf, die sich von einem beliebigen Standpunkt aus von der Kunst aussagen lassen. Denn der Ausdruck entstammt ursprünglich nicht der Umgangs- oder Bildungssprache, sondern dem wissenschaftlichen Diskurs. In diesem Diskurs ist es jedoch von Bedeutung gewesen, daß im – etwa Ende der siebziger Jahre – neu geprägten Terminus die bestehenden, geschichtlich sich verändernden Kunstverhältnisse wiedererkannt werden können, die dem an Kunst interessierten Publikum aus dem gesellschaftlichen Alltag heraus vertraut sind und die bereits auf der Ebene des lebensweltlichen Kunstverständnisses den Bereich der Kunst von anderen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens abgrenzen – denn die Relationen, von denen Beardsley gesprochen hat, zeichnen sich schon im lebensweltlichen Kunstverständnis ab. Die Aufgabe würde demzufolge darin bestehen, das vorausgesetzte lebensweltliche Kunstverständnis auf den Begriff der Kunstverhältnisse zu bringen und dadurch sowohl diesen Begriff als auch das lebensweltliche Kunstverständnis klarer und verständlicher zu machen. Wie man sieht, wird von vornherein angenommen, daß wechselseitige Beziehungen zwischen dem lebensweltlichen Kunstverständnis und der Kunstwissenschaft bestehen. Im Prozeß der Ausgestaltung dieser wechselseitigen Beziehungen sollten die gesellschaftlich vorgegebenen Kunstverhältnisse nicht nur eine deutlichere, wissenschaftlich begründete Konturierung erhalten haben, sondern sollten dadurch zugleich die Grenzen der Kunstverhältnisse zu anderen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens klarer markiert worden sein. In diesem gesellschaftlich-geschichtlichen Klärungsprozeß hat die Kunstwissenschaft selber eine nicht unwichtige gesellschaftliche Funktion und Verantwortlichkeit übernommen, eine, wenn man so will, kulturpolitische Funktion. Die These, daß die wissenschaftliche Fassung des Begriffs der Kunstverhältnisse abhängig sei von dem historischen Stand der Kunstwissenschaft und dem herrschenden lebensweltlichen Kunstverständnis, läßt sich erhärten, wenn man der Genesis des Begriffs nachzugehen versucht – sie führt in ein vielfältig gestaltetes, aber keineswegs chaotisches, sich unvorhersehbar veränderndes vor-paradigmatisches Stadium. Es blieb als solches im lebensweltlichen Kunstverständnis auch noch nach der Einführung des paradigmatischen Begriffs der Kunstverhältnisse erhalten, und es wird vermutlich auch über die Lebensdauer dieses Paradigmas und der es erset-
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zenden späteren Paradigmen hinaus erhalten bleiben – der Wechsel von Paradigmen gehört zum Alltag der Wissenschaftsgeschichte, der jedoch auf der Ebene des lebensweltlichen Kunstverständnisses normalerweise selten in Erscheinung tritt. Das Paradigma der Kunstverhältnisse grenzt sich indessen nicht nur vom variantenreichen lebensweltlichen Kunstverständnis ab, sondern auch vom kunstwissenschaftlichen Diskurs, der vor der Einführung des neuen Paradigmas bestanden hat. Die wissenschaftsgeschichtliche Grenzziehung wirkt sich unvermeidlich auf das Selbstverständnis des neuen Forschungsansatzes aus. Das wichtigste Moment des neuen Paradigmas bestand in der Abwendung von einem Kunstbegriff, der unter der Kategorie der Widerspiegelung oder Abbildung allzusehr auf den Werkbegriff eingeschränkt war. Dieses Kunstverständnis wurde ersetzt durch den offenen, funktional und kommunikativ konzipierten Begriff des Kunstprozesses. Unter dem Begriff der Kunstverhältnisse geht es demzufolge um die Erkenntnis der geschichtlich sich entwickelnden Strukturierungen des Kunstprozesses im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens. Dadurch ist Beardsleys Korrelation von Kunst und Kultur signifikant überschritten – mehr als das: Es geht nicht so sehr um das Verstehen der etwa im Sinne von Dilthey verstandenen Kulturfunktionen der Kunst, wenn Feist auch zugestanden hat, ursprünglich von der im 19. Jh. entwickelten Idee der Kulturgeschichte ausgegangen zu sein, sondern um die sehr viel realistischeren Funktionen, die die Kunst im gesellschaftlich-geschichtlichen Leben ausübt, und zwar in seiner gegenwärtig gegebenen Gesellschaftsform. Unter dieser Perspektive tritt deutlicher in Erscheinung, daß die Kunst nicht bloß als Objekt ästhetischer Betrachtung fungiert, sondern eine Vielzahl von nicht-ästhetischen gesellschaftlichen Funktionen erfüllt. Das Wissen um all diese verschiedenen Funktionen spielt im gegenwärtigen lebensweltlichen Kunstverständnis schon seit langem eine bedeutsame Rolle. Deshalb kann man sagen, daß das neue Paradigma mit seinem funktionalen und kommunikativen Begriff des Kunstprozesses näher, angemessener und unvoreingenommener an das lebensweltliche Kunstverständnis heranzukommen sucht, als das unter dem zurückgelassenen Kunstparadigma der Fall gewesen ist. Die Abgrenzung des neuen Paradigmas von der vorangegangenen Forschungseinstellung ist also wesentlich durch eine unvoreingenommenere Berücksichtigung des lebensweltlichen Kunstverständnisses motiviert worden. Nichtsdestoweniger stellt auch der Basisbegriff des Kunstprozesses eine Sinndeutung des lebensweltlichen Kunstverständnisses dar, von dem aus nicht abgeschätzt werden kann, wie lange sich das lebensweltliche Kunstverständnis in ihm wiedererkennt und als hinreichend anerkannt empfindet. Das lebensweltliche Kunstverständnis ist einerseits angewiesen auf grundsätzliche Deutungskategorien, die als Legitimationsgrund neuer Paradigmen in Anspruch genommen werden können. Andererseits ist letztlich das lebensweltliche Kunstverständnis selber die Instanz der Beglaubigung solcher grundlegenden Deutungskategorien, ohne daß es über sie jedoch von sich aus ein klares Urteil fällen könnte. Seine Weise der Beglaubigung besteht vielmehr darin, sich in den vorgelegten Deutungskategorien verstanden und anerkannt zu fühlen
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und ihnen praktisch durch Identifikation und Partizipation zuzustimmen, oder aber sich ihm stillschweigend zu entziehen und das gesamte Kategoriengebäude leer zurückzulassen. Hier zeigt sich ein hermeneutischer Grenzbereich, der nicht nur dem Paradigma der Kunstverhältnisse, sondern jedem Paradigma sozusagen kimmerische Grenzen an den in Nebeln verborgenen Rändern der bekannten Welt setzt. I. »Kunstverhältnisse« Der Begriff der Kunstverhältnisse ist als ein Terminus der (im engeren, disziplinären Sinne verstandenen) Kunstwissenschaft eingeführt worden, entstammt damit einer bereits durch Paradigmen und Paradigmenwechsel etablierten wissenschaftlichen Tradition. Von daher ist mit Kunst primär die bildende Kunst gemeint – Baukunst, Malerei, Plastik, die sog. angewandten Künste, Film, Foto, Plakatkunst usw., einschließlich all der neuen, dynamisch sich entfaltenden künstlerischen Aktivitäten im Bereich der bildenden Künste. Die Offenheit für die expandierenden künstlerischen Praktiken macht ein wesentliches Moment des neuen Paradigmas aus. Dadurch wendet es sich implizit gegen eine bestimmte Begrenzung des Forschungsgegenstandes durch vorangegangene Paradigmen, speziell gegen die Ausgrenzung gerade der modernen Strömungen in den bildenden Künsten, die unter den Kategorien des Formalismus und der Dekadenz tabuisiert worden sind. Da der Begriff der Kunst umgangssprachlich, aber auch in Disziplinen wie der Ästhetik und Kunstphilosophie, der Psychologie und Soziologie das gesamte Gebiet künstlerischer Produktionen umfaßt, gleichgültig, in welchen Materialien, zu welchen Zwecken, von welcher weltanschaulichen Position aus, auf welchem künstlerischen Rang und in welchen Epochen sie ausgeführt worden sind, stößt man sogleich auf mehrere, miteinander verschlungene und kontrovers diskutierte Probleme; sie scheinen eine genauere Bestimmung der semantischen Grenze des Kunstbegriffs erforderlich zu machen, damit man überhaupt sinnvoll über die Kunstverhältnisse zu reden vermag. Eine solche semantische Grenzziehung erfolgte jedoch nicht, oder zumindest nicht unvermittelt. Statt dessen folgt man der Regel, daß sich der Kunstbegriff allererst durch die Kunstverhältnisse bestimmt, unter denen von Kunst gesprochen wird und unter denen man Werken und Praktiken begegnet, die als Kunst anerkannt werden – ein zirkuläres Verhältnis, das aber über eine differenzierte innere Erschlossenheit und Verständlichkeit verfügt. Kunst wäre demzufolge aufzufassen als ein historischer, funktional bestimmter Begriff innerhalb des übergreifenden, vielgliedrigen, nach ›außen‹ und in die geschichtlichen Zeiten hinein offenen Zusammenhangs der Kunstverhältnisse. Es käme also darauf an herauszufinden, welche Faktoren und – wenn man an G. Dickies »institutional theory« denkt3 – welche gesellschaftlichen Institutionen in einer bestimmten Epoche an der Festlegung der Grenzen mitwirken, die zwischen den Kunstverhältnissen und 3
George Dickie: Art and the Aesthetic – An Institutional Analysis, Ithaca / London 1974.
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anderen Kulturbereichen (z. B. der Wissenschaft, Moral usw.) bestehen und die aus welchen Gründen auch immer eingehalten werden sollen. Die Grenzwissenschaft, die im angedeuteten Sinn die innere Gliederung und die äußeren Grenzen der Kunstverhältnisse reflektiert und festlegt, gehört mit zu den Faktoren und Institutionen, die Einfluß haben auf die Bestätigung oder Veränderung der bestehenden Grenzen der Kunstverhältnisse. Man könnte deshalb die Theorien, die sich an der Grenzziehung beteiligen, in Anlehnung an Lotman4 zwischen die Pole von Theorien der Identität mit und denen der Opposition zu den bestehenden Kunstverhältnissen einordnen und hätte sogleich eine abstrakte Vorstellung von den Differenzen, die zwischen den beiden Polen ausgetragen werden – unter dem Paradigma der Kunstverhältnisse sollen diese Differenzen konstruktiv harmonisierend ausgeglichen werden. Der Disput zwischen ihnen kann sich nichtsdestoweniger sowohl als Retardierung oder Dynamisierung der Veränderung als auch der Vereinfachung oder Differenzierung der Kunstverhältnisse auswirken, betrifft also sowohl die diachrone als auch die synchrone Dimension der Kunstverhältnisse, und alles erfolgt in Relation zum begrifflich unbefestigten Boden des lebensweltlichen Kunstverständnisses, das sich nicht recht zu entscheiden weiß, welcher Position es sich zuneigen sollte. Das vor-paradigmatische lebensweltliche Kunstverständnis, aus dem der paradigmakonstituierende Begriff der Kunstverhältnisse hervorgegangen ist und das die paradigmageleiteten Forschungen begleitet und herausfordert, läßt sich prima vista, d. h. soweit es sich zeigt, mit wenigen Worten umreißen: es umfaßt die Verhältnisse zwischen Gesellschaft und Kunst in der gesamten Erstreckung des Kunstprozesses von der Produktion über all die verschiedenen gesellschaftlichen Distributionsmedien bis zu den verschiedenen Gebrauchsformen von Kunst. Die sachlichen Horizonte erstrecken sich bis in die Bereiche der Weltkunst und der Weltgeschichte der Kunst – dies alles jedoch im engeren Sinn von Kunst als der bildenden Kunst, wozu auch der immanente Anspruch der bildenden Kunst gehört, paradigmatisch für alle Kunst zu fungieren. Betrachtet man dann das lebensweltliche Kunstverständnis aus der Perspektive der Kunstverhältnisse, werden vor allem drei Aspekte wichtig: – die Einordnung des gesamten Kunstprozesses in die Gesellschaft, so daß einerseits die verschiedenen Funktionen von Kunst freigelegt werden können, ihre ›Polyfunktionalität‹, andererseits auch der Gegensatz zur ästhetisch eingeschränkten ›Autonomie-Kunst‹, die unter dem Bürgerlichkeitsverdacht steht, – der prozessuale und kommunikative Grundzug der Kunst, womit man sich gegen eine substanzialistische Ablösung der Werke von ihrem Produziert- und Rezipiertwerden wendet, aber auch die Eigenweltlichkeit der Kunstwerke in übergreifende und durch die Werke hindurchgehende Prozesse auflöst, Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, hg. mit einem Nachwort und einem Register von Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1973, 432 ff. 4
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– der Totalitätsanspruch des Kunstbegriffs, der im Unterschied zur elitär eingeschränkten Kunst alle künstlerischen Produktionen umfassen soll, also auch den sehr weiten und vielgestaltigen Bereich der angewandten Kunst und nicht zuletzt auch die gesamte Sphäre der in den Print- und elektronischen Medien reproduzierten Kunstwerke; auf diese immer noch viel zu gering eingeschätzte Dimension der Distribution von Kunst hat Feist mehrfach hingewiesen und damit das Anliegen der Demokratisierung der Kunstsphäre von Walter Benjamin aufgenommen. Diese drei, aus der Perspektive des Paradigmas der Kunstverhältnisse akzentuierten Aspekte treten allerdings nicht ohne weiteres hervor, wenn man sich das lebensweltliche Kunstverständnis zu vergegenwärtigen sucht. Andererseits werden sie auch nicht erst durch den paradigmatischen Begriff der Kunstverhältnisse rückprojiziert. Vielmehr verdanken sie sich primär einer bestimmten gesellschaftspolitischen Ausgestaltung und Formierung der Kunstsphäre, durch die eine Überwindung der ästhetisch-elitären Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst zugunsten einer möglichst großen Breitenwirkung humanitär wertvoller Werke sowie eine Einbindung der künstlerischen Produktion in den gesamten gesellschaftlichen Arbeits- und Entwicklungsprozeß erreicht werden sollte. Das Paradigma der Kunstverhältnisse nimmt diese gesellschaftspolitische Formierung ausdrücklich auf. Feist hat immer wieder hervorgehoben, daß die Kunstwissenschaft der Gesellschaft nützen soll, indem sie »nach den besten Methoden [sucht], die ästhetischen Werte jedes Kunstwerks, die besondere Leistung jedes Künstlers und das Unersetzliche seines Beitrages zur Entwicklung der Weltkultur umfassend zu erschließen und möglichst vielen Menschen zugänglich und erlebbar zu machen«5. Ob die Menschen selber solche Bedürfnisse tatsächlich haben, ist ihm nicht wichtig. Sie sollen sie haben, denn künstlerische und ästhetische Bedürfnisse gehören zum Menschenbild einer vollentwickelten sozialistischen Persönlichkeit, und solche Persönlichkeiten braucht die Gesellschaft, wie von der Kulturpolitik ständig in Erinnerung gerufen wurde, damit die Fortschritte auf dem Weg zum Sozialismus und Kommunismus eine humane, menschenwürdige Lebensqualität annehmen können. Hiermit deutet sich eine Grenze zur Kunstsoziologie an. Die Soziologie untersucht als empirische Wissenschaft die faktisch bestehenden gesellschaftlichen Kunstverhältnisse, die Kunstwissenschaft unter dem Paradigma der Kunstverhältnisse versteht sich dagegen als eine für den Fortschritt des Sozialismus mitverantwortliche, aktive Kraft, als ein funktionales Glied innerhalb der im Sinne des Sozialismus umzugestaltenden, weiterzuentwickelnden Kunst- und gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei will sie aber zugleich, ja sogar primär den Ansprüchen der Wissenschaft gerecht werden, um als Wissenschaft verantwortlich auf das lebensweltliche Kunstverständnis einwirken zu können. In seiner programmatischen Schrift von 1966, die den Begriff 5
Peter H. Feist: Prinzipien und Methoden marxistischer Kunstwissenschaft, Leipzig 1966, 30.
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der Kunstverhältnisse noch nicht kennt, der aber noch zwanzig Jahre später attestiert wurde, »nichts an Aktualität eingebüßt«6 zu haben, betonte Feist ausdrücklich das Interesse der von ihm vertretenen Kunstwissenschaft, »den ganzen Reichtum des Erbes der nichtmarxistischen Kunstwissenschaft an Erkenntnissen wie an Methoden auszuschöpfen«, um hinter keiner der bisher entwickelten Methoden und Einsichten zurückzubleiben.7 Auch dies versteht sich im Sinne des anzustrebenden und unausweichlich bevorstehenden Sieges des Sozialismus über das kapitalistische Gesellschaftssystem. Der Maxime der – für die Verwirklichung des Sozialismus erforderlichen – Übernahme des kulturellen Erbes der Menschheit ist er treu geblieben, so daß er, der sich stets als »Mittler« verstanden hat8, dieser Funktion auch im Ost-West-Dialog nachzukommen versucht hat. Mit einer gelegentlich ostentativ wirkenden Beflissenheit ermunterte er seine Leser, auch all das zu berücksichtigen, »was im Bannkreis anderer Methoden vor uns an Klugem gedacht wurde.«9 II. »Literaturverhältnisse« – »Kunstverhältnisse« In der Programmschrift von 1966 wurde die für das marxistische Verständnis der Gesellschaftswissenschaften charakteristische »Nutzung der Ergebnisse einiger anderer Wissenschaften«10, also die interdisziplinäre Forschungsperspektive ausdrücklich hervorgehoben. Dem Nutzungsgebot folgte Feist wenige Jahre später anhand der kollektiv erarbeiteten und von M. Naumann herausgegebenen Schrift Gesellschaft – Literatur – Lesen (1973)11, die Feists Bemühung um eine systematische Konzeption der Kunstwissenschaft als Modell gedient zu haben scheint, nicht minder das zwei Jahre später erschienene Buch Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz (1975)12 von R. Rosenberg, das aus der kollektiven Arbeit von Literaturhistorikern an der elfbändigen, repräsentativen Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart hervorgegangen ist. So stehen hinter Feists Konzeption der Kunstverhältnisse zwei großangelegte, einflußreiche Kollektivwerke, die sein Konzept in die bestätigte Tradition der Kulturwissenschaften der DDR einordnen. Das neue Paradigma versteht sich also weniger als revolutionärer Neuanfang denn als ein evolutionär durch die gesellschaftlich-geschichtlichen und kulturellen Fortschritte bedingter und geforderter neuer Forschungsansatz. Konrad Niemann: Zur Eröffnung, in: Kunstverhältnisse [Anm. 2], 10. Peter H. Feist: Prinzipien [Anm. 5], 28. 8 Vgl. Wieland Förster: Peter H. Feist 60 Jahre, in: Kunstverhältnisse [Anm. 2], 11. 9 Peter H. Feist: Gestaltungsweisen in der sozialistisch-realistischen bildenden Kunst von heute (Humboldt-Vorlesung 1977), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-Sprachw. Reihe 26 (1977), H. 1, VII. 10 Ebd., 30 f. 11 Manfred Naumann (Red.): Gesellschaft, Literatur, Lesen – Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin 1973. (= GLL.) 12 Rainer Rosenberg: Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz, Berlin 1975. 6 7
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Der Begriff der Kunstverhältnisse ist in erster Linie analog zu dem Begriff der Literaturverhältnisse gebildet worden, die vor allem in Naumanns einleitendem Kapitel »Einführung in die theoretischen und methodischen Hauptprobleme«13 dargestellt werden. Naumann schreibt zusammenfassend14: »Die gesellschaftliche Literaturaneignung wiederum steht im Gefüge von Produktion, Vermittlung und Funktion der Literatur innerhalb gesellschaftlich und klassenmäßig bedingter literarischer Verhältnisse, die Teil des gesellschaftlichen und geschichtlichen Gesamtzusammenhangs sind.« Hier werden drei Ebenen angedeutet, die im Verhältnis zueinander relativ selbständig sind, aber funktional im Ganzen der Literaturverhältnisse zusammenwirken: erstens die individuelle Produktion und Rezeption von literarischen Werken; zweitens die alle literarischen Werke umfassende Ebene des Literaturprozesses als einem Gefüge von Produktion, Vermittlung und Rezeption, das in die gesellschaftlich und klassenmäßig bedingten Literaturverhältnisse eingeordnet ist, drittens der gesellschaftliche und geschichtliche Gesamtzusammenhang, von dem die Literaturverhältnisse einen Teil ausmachen – eine Folge zunehmender Erweiterung des Blickfeldes, die vom Konkreten zu immer abstrakteren strukturellen Verhältnissen führt. R. Rosenberg hat die Literaturverhältnisse des Vormärz für die Zeit von 1830 bis 1848 historisch konkretisiert, indem er vor allem das Verhältnis zwischen der zweiten und dritten Ebene, also die Veränderungen der Literaturverhältnisse in Beziehung auf die Veränderungen der allgemeinen ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse untersuchte, und unter diesen wechselseitigen Wirkungsverhältnissen besonders auf die Politisierung der Literatur abhob. Es versteht sich, daß es ihm um die historische Konkretisierung des berühmten Satzes von Engels ging, daß der ideologische Überbau in letzter Instanz von den ökonomischen Verhältnissen bestimmt werde.15 »In letzter Instanz« – diese Formel eröffnet ein weites, sich historisch veränderndes Feld von Vermittlungsinstanzen, deren Funktionsweisen untersucht und gewichtet zu werden verlangen. Genau diese Aufgaben historischer Konkretisierung suchen die Paradigmen der Literatur- und Kunstverhältnisse zu erfüllen. Das Paradigma der Kunstverhältnisse ist vor allem auf die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlich-geschichtlicher Prozesse im Bereich der Kunst ausgelegt. Pointiert gesagt: etwas die gesellschaftlich-geschichtlichen Verhältnisse Transzendierendes oder auch nur Aufhebendes gibt es in der Kunst nicht, bereits die bloße Frage nach etwas Derartigem zieht sich den Verdacht eines Rückfalls in den Idealismus und in eine vor-industrielle Ästhetik zu. Es wird nicht hinreichend klar, ob sich die Literatur- bzw. Kunstverhältnisse, analog zu den Rechtsverhältnissen, von denen Marx an der berühmten Stelle des 13 Naumann [Anm. 11], 17–97. Die für die einzelnen Kapitel von GLL verantwortlichen Autoren sind erst in der dritten Auflage von 1976 namentlich genannt worden. 14 Ebd., 97. 15 Vgl. den Brief von Fr. Engels an W. Borgius vom 25.1.1894, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 39, Berlin 1968, 206.
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Vorworts Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859) spricht, zum Überbau gehören, der sich »über« der realen Basis, d. h. der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse erhebt, oder ob sie zur »gesellschaftlichen Produktion« des Lebens der Menschen gehören,16 wodurch zumindest für das Stadium der sog. entwickelten sozialistischen Gesellschaft, zu der sich die DDR seit 1967 bekannte, nicht nur die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau verflüssigt würde, sondern auch die Theorie von der langsameren oder rascheren Umwälzung des gesamten Überbaus in Abhängigkeit von den Veränderungen der ökonomischen Basis. Die Einführung des Begriffs der Literaturverhältnisse Mitte der siebziger Jahre setzte noch die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau und ihr dialektisches Verhältnis zueinander voraus. Die Kulturpolitik behauptete in den folgenden Jahren jedoch immer nachdrücklicher das Ineinanderübergehen der ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren. Deshalb rückte immer mehr das Grundverhältnis des Menschen zur Natur in den Vordergrund der Untersuchungen, d. h. die Marx’sche Theorie von der Aneignung der Natur durch den Menschen – die Kunst im weiten Sinne sollte als eine der primären, unveräußerlichen Formen der Aneignung der Welt durch den Menschen erwiesen werden,17 und aus dieser primären Aneignungsfunktion, die in der Kunst eine spezifische Form annimmt, sollten alsdann die verschiedenen, wechselseitig aufeinander einwirkenden Kunstgattungen ausdifferenziert werden – eine Aufgabe der (früher als dialektisch bezeichneten) funktionalistisch zu begreifenden Besonderung der Künste. Die Kunstverhältnisse konnten somit doppelsinnig verstanden werden: Zum einen als eine der allgemeinen, primären Formen der Produktionsverhältnisse, denen einige wenige andere gleichrangig nebengeordnet sind und die Grundfunktionen des Gattungswesens des Menschen ausmachen, oder aber als eine den Literatur-, Musik- und anderen, partikularisierten Kunstverhältnissen nebengeordnete Form im Ensemble der Künste, das im Laufe der geschichtlichen Entwicklung aus der primären und allgemeinen Kunstfunktion hervorgegangen ist. So ergibt sich die Frage, ob Feist den Begriff der Kunstverhältnisse im engeren, partikularisierten oder im weiten, fundamentalen Sinn verstanden wissen will, und wie das Verhältnis zwischen dem fundamentalen und dem partikularisierten Begriff zu bestimmen wäre. Seinem Beruf als Kunstwissenschaftler zufolge müßte der Begriff der Kunstverhältnisse als eine den Literatur- und anderen Kunstverhältnissen nebengeordnete Konzeption verstanden werden. Da sich Feist aber schon sehr früh auch als Kulturpolitiker verstanden hat, der in Verantwortung für den gesamten Bereich der Kunstverhältnisse dann auch die Kunst als eine der drei oder vier fundamentalen Aneignungsfunktionen des Menschen verstanden hat18 und 16 Karl Marx: Vorwort, in: Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin 1974, 8. 17 Die letzte wissenschaftliche Entfaltung dieses Problemkreises vor der Wiedervereinigung findet sich in der 1988 fertiggestellten Schrift Zur Aneignungsfunktion der Kunst, hg. v. Peter H. Feist, Kurt Faustmann, Michael Franz, Berlin 1990. 18 Feist beruft sich auf die von Marx erkannte Tatsache, »daß die künstlerische bzw. im wei-
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der sich überdies, im Grunde bereits seit seiner Programmschrift von 1966, für eine allgemeine, integrative Kunstwissenschaft ausgesprochen hat, könnte mit den Kunstverhältnissen auch die sozial-ontologische Konzeption der Kunstverhältnisse gemeint sein. In diesem Problembereich sind die Grenzen der Kunstverhältnisse offen geblieben; es fehlt eine Darstellung, wie sich die bildende Kunst sowie die anderen Kunstgattungen, also das Ensemble der Künste als eine Einheit in der Vielheit, aus der fundamentalen künstlerischen Aneignungsfunktion abgesondert und ausdifferenziert hat, und inwiefern dabei die anderen fundamentalen Aneignungsfunktionen mitgewirkt haben. Michael Franz hat im Sinne der fundamentalen Auffassung der künstlerischen Aneignungsfunktion als einem Glied im Ganzen der Produktionsverhältnisse die Frage nach den Differenzierungsfaktoren abhängig gemacht einerseits vom geschichtlichen Stand der Differenziertheit der ökonomischen und kulturellen Verhältnisse einer Gesellschaft, andererseits von der Differenziertheit der Methoden und des begrifflichen Instrumentariums, mit denen das ausgefächerte Entwicklungsstadium der gesellschaftlichen Verhältnisse adäquat zu erfassen wäre. Dabei hat er auch ausdrücklich auf den relativ selbständigen Differenzierungsfaktor des Individuums hingewiesen19, das die Funktion einer der über die bestehenden Kunstverhältnisse hinaustreibenden Produktivkräfte ausübt. Merkwürdigerweise ist bei ihm kaum mehr von den Erkenntnismitteln der Dialektik die Rede; sie scheint sich als Argumentationsinstrument der Orthodoxie desavouiert zu haben. Auch Feist gibt zu, daß für ihn die Erforschung der Kunstverhältnisse ein Weg sei, »um Schwachstellen in der dialektisch-materialistischen Erklärung von Kunstgeschichte zu überwinden«20. Mit seiner unorthodoxen Annäherung an den fundamentalen Problembereich hat M. Franz die generellen wissenschaftlichen Prämissen angesprochen, die nun historisch konkret für das Ensemble der Künste, und innerhalb der bildenden Kunst für alle einzelnen bildenden Künste angewandt, überprüft, eventuell abgewandelt oder ergänzt werden müßten – die Fortführung dieser Arbeiten scheint durch die bekannten geschichtlichen Ereignisse inzwischen aufgegeben worden zu sein.
teren Sinne ästhetische Aneignung der Welt eine der drei oder vier fundamentalen Aneignungsweisen ist, die zum Gattungswesen des Menschen gehören, ja es ausmachen.« Peter H. Feist: Neue Überlegungen [Anm. 2], 16. 19 Michael Franz: Aneignung – Begriff und Prozeß, in: Zur Aneignungsfunktion [Anm. 17], 15–79. 20 Peter H. Feist: Neue Überlegungen [Anm. 2], 18.
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III. Kunstverhältnisse und Kulturpolitik Oben ist bereits auf die pragmatische Dimension der Kunstverhältnisse hingewiesen worden. Aus seiner problemgeschichtlichen Genesis heraus erhält das Paradigma der Kunstverhältnisse eine folgenreiche zusätzliche Konnotation durch die in den Kulturwissenschaften obligatorische Berücksichtigung von Lenins Aufsatz über Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905).21 Lenin spricht von den »bürgerlichkrämerhaften Literaturverhältnissen«22, aus denen sich die Parteiliteratur befreien müsse. Zwischen der Freiheit der bürgerlichen Literaturverhältnisse und der Freiheit der Parteiliteratur wird eine scharfe Grenze gezogen23: »Zur Festsetzung der Grenze aber zwischen dem, was parteimäßig und was parteiwidrig ist, dient das Parteiprogramm, dienen die taktischen Resolutionen und das Statut der Partei, dient schließlich die ganze Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie, der internationalen freiwilligen Verbände des Proletariats, das in seine Parteien ständig einzelne Elemente oder Strömungen einschließt, die nicht ganz konsequent, nicht ganz rein marxistisch, nicht ganz richtig sind, das aber auch ständig periodische ›Reinigungen‹ seiner Partei vornimmt«. Durch Lenins Aufsatz erhält der für den Begriff der Literaturverhältnisse konstitutive Klassenstandpunkt eine starke normative und kämpferische Bedeutung, wodurch es nicht nur möglich und zugleich verpflichtend wird, zwischen richtiger und falscher Literatur zu unterscheiden, sondern auch die richtige Orientierung kämpferisch durchzusetzen. Die wahrhaft freie Literatur ist die Literatur der Arbeiterklasse, das eigentliche Subjekt der geschichtlich fortschrittlichen Entwicklung, dem die Zukunft gehört. Jegliche Kulturpolitik steht unter der übergreifenden Perspektive des Befreiungskampfes des Proletariats und der Realisierung des Sozialismus als Übergang zum Kommunismus. Von einer generellen Parteilichkeit im Sinne des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse läßt sich eine subjektive Parteilichkeit als Einstellung und Einsatz eines Subjekts für die Sache des Proletariats und eine strategische Parteilichkeit als mehr oder weniger überzeugte Unterordnung unter die Direktiven der Partei unterscheiden. Bezieht man das Prinzip der Parteilichkeit auf die Kunstverhältnisse, so lassen sich sehr unterschiedliche Verbindungen zwischen Parteilichkeit und Kunst denken – von einer vollständigen Instrumentalisierung der Kunst zu parteipolitischen Zwecken angefangen bis hin zu einer vollkommenen Synthese von sozialistischer Weltanschauung und künstlerischer Produktion und Kommunikation. Kunst und Politik müssen sich keineswegs widersprechen, weder im kapitalistischen noch im 21 Wladimir Iljitsch Lenin: Über Kultur und Kunst – Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1960, 59–64. Der Aufsatz gilt nicht allein von der agitatorischen Zeitschriftenliteratur, sondern von der Literatur insgesamt. Er ist darüber hinaus auch auf die Kunst überhaupt ausgedehnt worden, z. B. in: Kunst in der DDR – 1945–1959, hg. von Ullrich Kuhirt, Leipzig 1982, 17. 22 Ebd., 62. 23 Ebd., 62 f.
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sozialistischen Gesellschaftssystem, andererseits kann sich aber auch nicht jede Art von Politik mit jeder Art von künstlerischem Schaffen verbinden. Analog verhält es sich mit der Verbindung zwischen Kunst und Ökonomie, Moral, Religion, Wissenschaft usw. Die geschichtlichen Formationen der Kunstverhältnisse müßten also daraufhin untersucht werden, wie sich in ihnen das Verhältnis zwischen Kunst und Politik in prinzipieller und geschichtlicher Perspektive konkret darstellt. Die Untersuchung kann sich dabei auch nicht auf die Bestimmung der Verbindung in einem bestimmten Kunstwerk oder im Lebenswerk eines Künstlers beschränken, sondern muß alle für solche Verbindungen in Frage kommenden Teilmomente des übergreifenden Kunstprozesses berücksichtigen – ein von seiten des Künstlers völlig unpolitisches Werk kann bekanntlich durchaus politisch instrumentalisiert werden, was für die konkrete Situation, in der dies erfolgt, im Zusammenhang der allgemeinen Kunstverhältnisse ausgesprochen aufschlußreich sein kann. Wenn z. B. Grotewohl die Schriftsteller 1950 auf dem zweiten Schriftstellerkongreß generell zu »Kampfgenossen der Regierung« erklärt, so mag das von seiten der Schriftsteller unterschiedlich aufgefaßt worden sein, wie es auch ein unterschiedliches Licht auf die Erfordernisse des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft und auf die ideologische Auseinandersetzung mit bürgerlichen Kunstvorstellungen wirft; es zeigt aber auch die Einbeziehung der gesellschaftlichen und politischen Institutionen in die konkrete Ausformung der Beziehung zwischen Politik und Kunst. Es mag an der Ausrichtung des Paradigmas der Kunstverhältnisse an dem der Literaturverhältnisse von 1973 sowie an dem als erreicht angesehenen Stadium der entwickelten sozialistischen Gesellschaft liegen, daß Lenins scharfe Akzentuierung der Parteilichkeit und seine Identifikation der Parteilichkeit mit dem gesamten Befreiungskampf der Arbeiterklasse inzwischen abgeschliffen erschien. In GLL ist signifikant weniger von der Parteilichkeit als vielmehr von der »Humanisierungsfunktion« der Literatur die Rede. Hinter der Humanisierungsfunktion steht natürlich nicht der am antiken Bildungsbegriff orientierte »dritte Humanismus«, von dem in den dreißiger Jahren des 20. Jh.s gesprochen wurde, sondern der »reale«, »sozialistische« Humanismus, der durch eine Literatur vermittelt wird, »die den Menschen vorführt, daß ihre Welt erkennbar, durchschaubar und beherrschbar ist; die ihnen zeigt, wie sie ihre eigene, ihre neue Gesellschaft errichten; die in das Denken, Fühlen, und Wollen der Menschen, in ihre Denk- und Empfindungsweisen eingreift, um ihr Bewußtsein auf das Niveau des geschichtlich Notwendigen und Möglichen zu heben, um es mit dem Prozeß zu verbinden, in welchem die fortgeschrittenste Klasse dieses Notwendige und Mögliche wirklich macht, und um es vom Einfluß der Ideologie der untergehenden Klasse zu befreien; die ihr Selbstverständnis von dem Sinn des geschichtlichen und ihres eigenen Lebens befestigt und ihr Wissen um die unendlichen schöpferischen Kräfte der Menschen vertieft«.24 Die Abgrenzung von der »untergehenden Klasse« zeigt, daß nach wie 24
Naumann: Gesellschaft [Anm. 11], 33. (Einführung)
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vor der Klassenstandpunkt des Sozialismus den Sinn der Parteilichkeit bestimmt, wenn der Ausdruck auch nicht verwendet wird. Im öffentlichen Diskurs wurde die Maxime der Parteilichkeit bis zum Ende der DDR vertreten. So heißt es z. B. in dem von E. Pracht geleiteten Kollektivwerk Ästhetik der Kunst (1987)25: »Denn das sozialistische Prinzip der Parteilichkeit, so wie es von Lenin 1905 ausgearbeitet wurde, hat sich in der Praxis, in Anwendung auf alle Bereiche der Kunst historisch bewährt und somit als völlig richtig und unanfechtbar erwiesen.« Die Humanisierungsfunktion wird nicht primär aus den literarischen Werken abgeleitet, sondern umgekehrt wird nur denjenigen Werken die Humanisierungsfunktion zuerkannt, die eine Orientierung des menschlichen Selbstverständnisses und Handelns darstellen, wie sie in einer typischen Situation im Hinblick auf den in sich notwendigen gesellschaftlichgeschichtlichen Fortschritt zum Kommunismus erforderlich ist – das in der konkreten Situation Mögliche ist mit dem menschheitlich Notwendigen zu vermitteln. Die utopische Funktion macht ein konstitutives Moment der Literatur- ebenso wie der Kunstverhältnisse aus; sie zieht eine fundamentale Dynamisierung und eine konkrete, geschichtlich-teleologische Funktionalisierung des gesamten Konzepts der Kunstverhältnisse nach sich. Es zeigt sich, daß das Paradigma der Kunstverhältnisse kongruent ist mit dem weltanschaulichen Standpunkt des sozialistischen Realismus, ja man gewinnt den Eindruck, als sollte der Begriff des sozialistischen Realismus durch den weltanschaulich und kulturpolitisch unauffälligeren Begriff der Kunstverhältnisse abgelöst werden. Womöglich schien dieser Begriff geeignet zu sein, den geschichtlich notwendigen Antagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu überwinden und das Interesse an einer integrativen Kunstwissenschaft um einen entscheidenden, vielleicht aber auch desaströsen Schritt weiterzuführen. Es steht allerdings dahin, ob und auf welche Weise die wissenschaftlichen Potentiale des Paradigmas der Kunstverhältnisse unter den inzwischen veränderten gesellschaftlichen, kulturellen und speziell kunstwissenschaftlichen Verhältnissen zur Entfaltung gebracht werden können, oder ob die weitere Ausgestaltung des Paradigmas (vorerst) an eine finale Grenze gestoßen ist.
25
Erwin Pracht (Leitg.): Ästhetik der Kunst, Berlin 1987, 534.
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